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https://de.wikipedia.org/wiki/Atom
Atom
Atome (von „unteilbar“) sind die Bausteine, aus denen alle festen, flüssigen und gasförmigen Stoffe bestehen. Alle Materialeigenschaften dieser Stoffe sowie ihr Verhalten in chemischen Reaktionen werden durch die Eigenschaften und die räumliche Anordnung ihrer Atome festgelegt. Jedes Atom gehört zu einem bestimmten chemischen Element und bildet dessen kleinste Einheit. Zurzeit sind 118 Elemente bekannt, von denen etwa 90 auf der Erde natürlich vorkommen. Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich in ihrer Größe und Masse und vor allem in ihrer Fähigkeit, mit anderen Atomen chemisch zu reagieren und sich zu Molekülen oder festen Körpern zu verbinden. Die Durchmesser von Atomen liegen im Bereich von 6 · 10−11 m (Helium) bis 5 · 10−10 m (Cäsium), ihre Massen in einem Bereich von 1,7 · 10−27 kg (Wasserstoff) bis knapp 5 ·10−25 kg (die derzeit schwersten synthetisch hergestellten Kerne). Atome sind nicht unteilbar, wie zum Zeitpunkt der Namensgebung angenommen, sondern zeigen einen wohlbestimmten Aufbau aus noch kleineren Teilchen. Sie bestehen aus einem Atomkern und einer Atomhülle. Der Atomkern hat einen Durchmesser von etwa einem Zehn- bis Hunderttausendstel des gesamten Atomdurchmessers, enthält jedoch über 99,9 Prozent der Atommasse. Er besteht aus positiv geladenen Protonen und einer Anzahl von etwa gleich schweren, elektrisch neutralen Neutronen. Diese Nukleonen sind durch die starke Wechselwirkung aneinander gebunden. Die Hülle besteht aus negativ geladenen Elektronen. Sie trägt mit weniger als 0,06 Prozent zur Masse bei, bestimmt jedoch die Größe des Atoms. Der positive Kern und die negative Hülle sind durch elektrostatische Anziehung aneinander gebunden. In der elektrisch neutralen Grundform des Atoms ist die Anzahl der Elektronen in der Hülle gleich der Anzahl der Protonen im Kern. Diese Zahl legt den genauen Aufbau der Hülle und damit auch das chemische Verhalten des Atoms fest und wird deshalb als chemische Ordnungszahl bezeichnet. Alle Atome desselben Elements haben die gleiche chemische Ordnungszahl. Sind zusätzliche Elektronen vorhanden oder fehlen welche, ist das Atom negativ bzw. positiv geladen und wird als Ion bezeichnet. Die Vorstellung vom atomaren Aufbau der Materie existierte bereits in der Antike, war jedoch bis in die Neuzeit umstritten. Der endgültige Nachweis konnte erst Anfang des 20. Jahrhunderts erbracht werden und gilt als eine der bedeutendsten Entdeckungen in Physik und Chemie. Einzelne Atome sind selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht zu erkennen. Eine direkte Beobachtung einzelner Atome ist erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit Feldionenmikroskopen möglich, seit einigen Jahren auch mit Rastertunnelmikroskopen und hochauflösenden Elektronenmikroskopen. Die Atomphysik, die neben dem Aufbau der Atome auch die Vorgänge in ihrem Inneren und ihre Wechselwirkungen mit anderen Atomen erforscht, hat entscheidend zur Entwicklung der modernen Physik und insbesondere der Quantenmechanik beigetragen. Erforschungsgeschichte Die Vorstellung vom atomaren Aufbau der Materie existierte bereits in der Antike, allerdings nur in Form von spekulativen philosophischen Überlegungen. Aufgrund ihrer extrem geringen Größe sind einzelne Atome selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht zu erkennen. Dennoch konnte Johann Loschmidt schon Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund makroskopischer Eigenschaften der Gase ungefähr abschätzen, wie groß und schwer ein solches hypothetisches Atom sein müsste. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war umstritten, ob es Atome wirklich gibt. Der endgültige Nachweis ihrer Existenz gilt als eine der bedeutendsten Entdeckungen in Physik und Chemie. Einen entscheidenden Beitrag lieferte Albert Einstein 1905, indem er die bereits seit langem bekannte, im Mikroskop direkt sichtbare Brownsche Bewegung kleiner Körnchen quantitativ dadurch erklärte, dass sie von zufällig gehäuften Stößen von Atomen oder Molekülen aus der Umgebung herrührte. Erst seit wenigen Jahrzehnten erlauben Feldionenmikroskope und Rastertunnelmikroskope, seit einigen Jahren zudem auch Elektronenmikroskope, einzelne Atome direkt zu beobachten. Philosophische Überlegungen Das Konzept des Atomismus, nämlich dass Materie aus Grundeinheiten aufgebaut ist – „kleinsten Teilchen“, die nicht immer weiter in kleinere Stücke zerteilt werden können – existiert seit Jahrtausenden, genauso wie das Gegenkonzept, Materie sei ein beliebig teilbares Kontinuum. Doch diese Ideen beruhten zunächst ausschließlich auf philosophischen Überlegungen und nicht auf empirischer experimenteller Untersuchung. Dabei wurden den Atomen verschiedene Eigenschaften zugeschrieben, und zwar je nach Zeitalter, Kultur und philosophischer Schule sehr unterschiedliche. Eine frühe Erwähnung des Atomkonzepts in der Philosophie ist aus Indien bekannt. Die Nyaya- und Vaisheshika-Schulen entwickelten ausgearbeitete Theorien, wie sich Atome zu komplexeren Gebilden zusammenschlössen (erst in Paaren, dann je drei Paare). In der griechischen Philosophie ist die Atomvorstellung erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. bei Leukipp überliefert. Sein Schüler Demokrit systematisierte sie und führte den Begriff () ein, was etwa „das Unzerschneidbare“ bedeutet, also ein nicht weiter zerteilbares Objekt. Diese Bezeichnung wurde Ende des 18. Jahrhunderts für die damals hypothetischen kleinsten Einheiten der chemischen Elemente der beginnenden modernen Chemie übernommen, denn mit chemischen Methoden lassen sich Atome in der Tat nicht „zerschneiden“. Experimentell arbeitende Naturwissenschaftler machten sich Ende des 18. Jahrhunderts die Hypothese vom Atom zu eigen, weil diese Hypothese im Rahmen eines Teilchenmodells der Materie eine elegante Erklärung für neue Entdeckungen in der Chemie bot. Doch wurde gleichzeitig die gegenteilige Vorstellung, Materie sei ein Kontinuum, von Philosophen und auch unter Naturwissenschaftlern noch bis ins 20. Jahrhundert hinein aufrechterhalten. Naturwissenschaftliche Erforschung Im Rahmen der wissenschaftlichen Erforschung konnte die Existenz von Atomen bestätigt werden. Es wurden viele verschiedene Atommodelle entwickelt, um ihren Aufbau zu beschreiben. Insbesondere das Wasserstoffatom als das einfachste aller Atome war dabei wichtig. Einige der Modelle werden heute nicht mehr verwendet und sind nur von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Andere gelten je nach Anwendungsbereich als noch heute brauchbare Näherung. In der Regel wird das einfachste Modell genommen, welches im gegebenen Zusammenhang noch ausreicht, um die auftretenden Fragen zu klären. Viele der im Folgenden genannten Entdeckungen (sofern nach 1900) wurden mit dem Nobelpreis für Physik oder Chemie ausgezeichnet. Bestätigung der Atomhypothese Robert Boyle vertrat 1661 in seinem Werk The Sceptical Chymist die Meinung, die Materie sei aus diversen Kombinationen verschiedener corpuscules aufgebaut und nicht aus den vier Elementen der Alchemie: Wasser, Erde, Feuer, Luft. Damit bereitete er die Überwindung der Alchemie durch den Element- und Atombegriff der modernen Chemie vor. Daniel Bernoulli zeigte 1740, dass der gleichmäßige Druck von Gasen auf die Behälterwände, insbesondere das Gesetz von Boyle und Mariotte, sich durch zahllose Stöße kleinster Teilchen erklären lässt. Damit wurde seine Forschung zum Vorläufer der kinetischen Gastheorie und statistischen Mechanik. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Vorstellung von Atomen genutzt, um die wohlbestimmten Winkel an den Kanten und Ecken der Edelsteine auf die verschiedenen möglichen Schichtungen von harten Kugeln zurückzuführen. Nachdem Antoine Lavoisier 1789 den heutigen Begriff des chemischen Elements geprägt und die ersten Elemente richtig identifiziert hatte, benutzte 1803 John Dalton das Atomkonzept, um zu erklären, wieso Elemente immer in Mengenverhältnissen kleiner ganzer Zahlen miteinander reagieren (Gesetz der multiplen Proportionen). Er nahm an, dass jedes Element aus gleichartigen Atomen besteht, die sich nach festen Regeln miteinander verbinden können und so Stoffe mit anderen Materialeigenschaften bilden. Außerdem ging er davon aus, dass alle Atome eines Elements die gleiche Masse hätten, und begründete damit den Begriff Atomgewicht. Die Beobachtungen zum chemischen und physikalischen Verhalten von Gasen konnte Amedeo Avogadro 1811 dahingehend zusammenfassen, dass zwei ideale Gase bei gleichen Werten von Volumen, Druck und Temperatur des Gases immer aus gleich vielen identischen Teilchen („Molekülen“) bestehen. Die Moleküle bestehen bei elementaren Gasen wie Wasserstoff, Sauerstoff oder Stickstoff immer aus zwei Atomen des Elements (Avogadrosches Gesetz). 1866 konnte Johann Loschmidt die Größe des einzelnen Luftmoleküls bestimmen, indem er mit einer von James C. Maxwell aus der kinetischen Gastheorie gewonnenen Formel die von George Stokes gemessenen Werte für die innere Reibung in Luft auswertete. Damit konnte er auch das Gewicht bzw. die Masse eines Luftmoleküls bestimmen. Außerdem erhielt er die nach ihm benannte Loschmidtsche Zahl als Anzahl der Luftmoleküle pro Kubikzentimeter (unter Normalbedingungen). Infolge der Arbeiten von Avogadro und Stanislao Cannizzaro wurde angenommen, dass Atome nicht als einzelne Teilchen auftreten, sondern nur als Bestandteile von Molekülen aus mindestens zwei Atomen. Doch 1876 gelang August Kundt und Emil Warburg der erste Nachweis eines einatomigen Gases. Sie bestimmten den Adiabatenexponenten von Quecksilber-Dampf bei hoher Temperatur und erhielten einen Wert, wie er nach der kinetischen Gastheorie nur für Teilchen in Gestalt echter Massenpunkte auftreten kann. Ab 1895 kamen entsprechende Beobachtungen an den neu entdeckten Edelgasen hinzu. Nach Erscheinen seiner Dissertation über die Bestimmung von Moleküldimensionen schlug Albert Einstein im selben Jahr 1905 ein Experiment vor, um die Hypothese von der Existenz der Atome anhand der Zitterbewegung kleiner Partikel in Wasser quantitativ zu prüfen. Nach seiner Theorie müssten die Partikel aufgrund der Unregelmäßigkeit der Stöße durch die Wassermoleküle kleine, aber immerhin unter dem Mikroskop sichtbare Bewegungen ausführen. Es war Einstein dabei zunächst nicht bekannt, dass er damit die seit 1827 bekannte Brownsche Bewegung von Pollen quantitativ erklärt hatte, für deren Ursache schon 1863 Christian Wiener erstmals Molekularstöße angenommen hatte. Nach Einsteins Formeln hängt die Stärke der Zitterbewegung von der Masse der stoßenden Moleküle ab, und auf dieser Grundlage bestimmte der französische Physiker Jean Perrin die Molekülmasse experimentell und fand ähnliche Ergebnisse wie Loschmidt. Diese Arbeiten trugen entscheidend zur allgemeinen Anerkennung der bis dahin so genannten „Atomhypothese“ bei. Teilbarkeit und Aufbau der Atome Joseph John Thomson entdeckte 1897, dass die Kathodenstrahlen aus Teilchen bestimmter Ladung und Masse bestehen und dass deren Masse kleiner als ein Tausendstel der Atommasse ist. Diese Teilchen wurden als Elektronen bezeichnet und erwiesen sich als ein Bestandteil aller Materie, was dem Konzept des Atoms als unzerteilbarer Einheit widersprach. Thomson glaubte, dass die Elektronen dem Atom seine Masse verliehen und dass sie im Atom in einem masselosen, positiv geladenen Medium verteilt seien wie „Rosinen in einem Kuchen“ (Thomsonsches Atommodell). Die kurz zuvor von Henri Becquerel entdeckte Radioaktivität wurde von Marie Curie als eine Strahlung direkt aus den einzelnen Atomen angesehen und 1903 von Ernest Rutherford und Frederick Soddy mit Umwandlungen verschiedener Atomsorten ineinander in Verbindung gebracht. Ein solcher Prozess widersprach aber der in der Chemie erfolgreichen Grundannahme, die Atome seien unveränderlich. Rutherford und Soddy konnten 1908 nachweisen, dass aus den α-Teilchen, die die Alphastrahlung bilden, Helium-Atome werden. Zusammen mit seiner Forschergruppe beschoss Ernest Rutherford 1909 eine Goldfolie mit α-Teilchen. Er stellte fest, dass die meisten der Teilchen die Folie fast ungehindert durchdrangen, einige wenige aber um sehr viel größere Winkel abgelenkt wurden als nach Thomsons Modell möglich wäre. Rutherford schloss daraus, dass fast die ganze Masse des Atoms in einem sehr viel kleineren, elektrisch geladenen Volumen in der Mitte des Atoms konzentriert sei und schuf damit die grundlegende Vorstellung vom Aufbau des Atoms aus Atomkern und Atomhülle. Dies Rutherfordsche Atommodell ist seither gültig. Die stark abgelenkten α-Teilchen waren diejenigen, die einem Kern zufällig näher als etwa ein Hundertstel des Atomradius gekommen waren. Die Ladungszahl des Atomkerns entpuppte sich als die chemische Ordnungszahl des betreffenden Elements, und α-Teilchen erwiesen sich als die Atomkerne des Heliums. Der Chemiker Frederick Soddy stellte 1911 fest, dass manche der natürlichen radioaktiven Elemente aus Atomen mit unterschiedlichen Massen und unterschiedlicher Radioaktivität bestehen mussten. Der Begriff Isotop für physikalisch verschiedene Atome desselben chemischen Elements wurde 1913 von Margaret Todd vorgeschlagen. Da die Isotope desselben Elements an ihrem chemischen Verhalten nicht zu unterscheiden waren, entwickelte der Physiker J.J. Thomson ein erstes Massenspektrometer zu ihrer physikalischen Trennung. Damit konnte er 1913 am Beispiel von Neon nachweisen, dass es auch stabile Elemente mit mehreren Isotopen gibt. 1918 fand Francis William Aston mit einem Massenspektrometer von erheblich größerer Genauigkeit heraus, dass fast alle Elemente Gemische aus mehreren Isotopen sind, wobei die Massen der einzelnen Isotope immer (nahezu) ganzzahlige Vielfache der Masse des Wasserstoffatoms sind. Rutherford wies 1919 in der ersten beobachteten Kernreaktion nach, dass durch Beschuss mit α-Teilchen aus den Kernen von Stickstoffatomen die Kerne von Wasserstoffatomen herausgeschossen werden können. Diesen gab er den Namen Proton und entwickelte ein Atommodell, in dem die Atome nur aus Protonen und Elektronen bestehen, wobei die Protonen und ein Teil der Elektronen den kleinen, schweren Atomkern bilden, die übrigen Elektronen die große, leichte Atomhülle. Die Vorstellung von Elektronen im Atomkern stellte sich jedoch als problematisch heraus und wurde 1932 endgültig fallengelassen, nachdem von James Chadwick das Neutron als ein neutraler Kernbaustein mit etwa gleicher Masse wie das Proton nachgewiesen wurde. Damit entstand das heutige Atommodell: Der Atomkern ist zusammengesetzt aus so vielen Protonen, wie die Ordnungszahl angibt, und zusätzlich so vielen Neutronen, dass die betreffende Isotopenmasse erreicht wird; die Atomhülle besteht aus so vielen Elektronen, dass das ganze Atom neutral wird. Aufbau der Atomhülle Die beobachteten Eigenschaften (wie Größe, Stabilität, Reaktionsweisen, Absorption und Emission von Licht) der Atomhülle konnten im Rahmen der klassischen Physik keine Erklärung finden. Erst unter Einbeziehung von neuartigen Quantisierungsregeln mithilfe der Planck-Konstante konnte Niels Bohr 1913 erklären, wie es in den optischen Spektren reiner Elemente zu den Spektrallinien kommt, die für das jeweilige Element absolut charakteristisch sind (Spektralanalyse nach Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff 1859). Im Franck-Hertz-Versuch konnte die quantisierte Energieaufnahme und -abgabe an Quecksilberatomen experimentell bestätigt werden. Das Bohrsche Atommodell war zwar nur für Systeme mit lediglich einem Elektron (damals nur Wasserstoff und ionisiertes Helium) gültig, bildete jedoch im Laufe des folgenden Jahrzehnts das Fundament für eine Reihe von Verfeinerungen. Sie führten im Schalenmodell zu einem ersten Verständnis des Aufbaus der Elektronenhüllen aller Elemente und damit auch zum physikalischen Verständnis des chemischen Periodensystems. Damit wurde das Bohrsche Atommodell zur Grundlage des populären Bildes vom Atom als einem kleinen Planetensystem. 1925 entwickelte Werner Heisenberg zusammen mit Max Born, Pascual Jordan, Wolfgang Pauli u. a. die Matrizenmechanik. 1926 ersetzte Erwin Schrödinger die Quantisierungsregeln durch seine Wellenmechanik. Sie beschreibt die Elektronen nicht als Massenpunkte auf bestimmten ebenen Bahnen, sondern als in drei Dimensionen ausgedehnte stehende Materiewelle. Beide Formen einer neuen „Quantenmechanik“ konnten das Spektrum des Wasserstoffatoms richtig erklären. Als Folge dieser Beschreibungen ist es unter anderem unzulässig, einem Elektron gleichzeitig genaue Werte für Ort und Impuls zuzuschreiben. Dieser Sachverhalt wurde 1927 von Heisenberg in der Unschärferelation formuliert. Demnach können statt der Bewegung auf bestimmten Bahnen nur Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Wertebereiche von Ort und Impuls angegeben werden, eine Vorstellung, die nur schwer zu veranschaulichen ist. Den quantisierten Umlaufbahnen des Bohrschen Modells entsprechen hier „Atomorbitale“. Sie geben unter anderem an, wie sich in der Nähe des Atomkerns die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen konzentriert, und bestimmen damit die wirkliche Größe des Atoms. Die Beschreibung der Eigenschaften der Atome gelang mit diesen ersten vollständig quantenmechanischen Atommodellen sehr viel besser als mit den Vorläufermodellen. Insbesondere ließen sich auch bei Atomen mit mehreren Elektronen die Spektrallinien und die Struktur der Atomhülle in räumlicher und energetischer Hinsicht darstellen, einschließlich der genauen Möglichkeiten, mit den Atomhüllen anderer Atome gebundene Zustände zu bilden, also die aus der Chemie bekannten stabilen Moleküle. Daher wurde das Bohrsche Atommodell zugunsten des quantenmechanischen Orbitalmodells des Atoms verworfen. Das Orbitalmodell ist bis heute Grundlage und Ausgangspunkt genauer quantenmechanischer Berechnungen fast aller Eigenschaften der Atome. Das Orbitalmodell bei einem Atom mit mehr als einem Elektron ist physikalisch als eine Näherung zu bezeichnen, nämlich als eine Ein-Teilchen-Näherung, die jedem einzelnen Elektron ein bestimmtes Orbital zuschreibt. Ein so gebildeter Zustand des Atoms wird als Konfiguration bezeichnet und gehört in der Quantenmechanik zu der einfachsten Art von Mehrteilchenzuständen. Genauere Modelle berücksichtigen, dass nach den Regeln der Quantenmechanik die Hülle auch in einem Zustand sein kann, der durch Superposition verschiedener Konfigurationen entsteht, wo also mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitsamplituden gleichzeitig verschiedene Elektronenkonfigurationen vorliegen (Konfigurationsmischung). Hiermit werden die genauesten Berechnungen von Energieniveaus und Wechselwirkungen der Atome möglich. Wegen des dazu nötigen mathematischen Aufwands werden jedoch, wo es möglich ist, auch weiterhin einfachere Atommodelle genutzt. Zu nennen ist hier neben dem Schalenmodell unter anderen das Thomas-Fermi-Modell, in dem die Elektronenhülle pauschal wie ein im Potentialtopf gebundenes ideales Elektronengas („Fermigas“) behandelt wird, dessen Dichte wiederum zusammen mit der Kernladung die Form des elektrostatischen Potentialtopfs bestimmt. Aufbau des Atomkerns Zur Entdeckung des Atomkerns und seiner Zusammensetzung aus Protonen und Neutronen siehe den Abschnitt „Teilbarkeit und Aufbau der Atome“ oben. Hier folgen Stichworte zur Erforschung weiterer Eigenschaften der Kerne. Bindungsenergie Die Bindungsenergie der Nukleonen ist Ursache der hohen Energie der Quanten der radioaktiven Strahlung. Sie übersteigt die chemische Bindungsenergie von Molekülen um fünf bis sechs Größenordnungen. Ab 1935 war hierbei erstmals eine grobe Modellvorstellung erfolgreich, das Tröpfchenmodell von C.F. von Weizsäcker und Hans Bethe. Damit wurde für Kerne ab etwa 10 Nukleonen die anfängliche Zunahme der mittleren Bindungsenergie bis etwa durch die wachsende Anzahl erklärt, in der die Nukleonen sich aufgrund der eigentlichen Kernkräfte mit ihren jeweiligen Nachbarn binden, und danach die Abnahme der mittleren Bindungsenergie aufgrund der zunehmenden elektrostatischen Abstoßung, die alle Protonen untereinander betrifft. Kernfusion und Kernspaltung Da das Maximum der mittleren Bindungsenergie bei mittelschweren Kernen liegt, bedeutet es Energiefreisetzung sowohl, wenn sehr leichte Kerne fusionieren, als auch wenn sehr schwere Kerne spalten. Die Fusion von Wasserstoff zu Helium wurde 1938 als Energiequelle der Sterne identifiziert. Die Spaltung nach Neutroneneinfang wurde erstmals 1938 an Urankernen (des Isotops U-235) durch Otto Hahn und Fritz Strassmann nachgewiesen. Danach wurde die Kernforschung erheblich intensiviert und führte 1945 zu den ersten Atombomben, 1952 den Wasserstoffbomben und ab Mitte der 1950er Jahre zur Nutzung der Atomenergie zur Energieversorgung. Schalenmodell und vereinheitlichtes Modell Sehr viel detaillierter als das Tröpfchenmodell ist das 1949 von J.H.D. Jensen und Maria Goeppert-Mayer aufgestellte Schalenmodell der Kerne. Ähnlich wie das Schalenmodell der Atome nimmt es für je ein Nukleon ein bestimmtes Orbital in einem gemeinsamen kugelsymmetrischen Potentialtopf an. Damit kann eine Fülle von Daten über die Grundzustände und angeregten Zustände der Kerne erklärt werden, zum Beispiel ihr Kernspin, ihr magnetisches Dipol- und elektrisches Quadrupolmoment, sowie über ihre Zerfalls- und Reaktionsweisen. Aage Bohr, Ben Mottelson und James Rainwater gelang es Anfang der 1960er Jahre, dies Einzelteilchenmodell mit den Aspekten kollektiver Bewegung zu verbinden, womit auch die Abweichungen von der Kugelgestalt in bestimmten Bereichen der Nukleonenzahlen verständlich wurden. Ursprung der Kernkräfte Die kurzreichweitigen Kernkräfte konnten in den 1970er Jahren auf die Starke Wechselwirkung zwischen Quarks zurückgeführt werden. Aufbau von Proton und Neutron Ab den 1950er Jahren konnten Atome und vor allem die Atomkerne durch die Entwicklung verbesserter Teilchenbeschleuniger und Teilchendetektoren beim Beschuss mit Teilchen sehr hoher Energie untersucht werden. Ende der 1960er Jahre zeigte sich in der „tiefinelastischen Streuung“ von Elektronen an Atomkernen, dass auch Neutronen und Protonen keine unteilbaren Einheiten sind, sondern aus Quarks zusammengesetzt sind. Einige fortgeschrittene Experimente mit Atomen 1951 entwickelte Erwin Müller das Feldionenmikroskop und konnte damit von einer Nadelspitze erstmals ein Abbild erzeugen, das auf direkte Weise so stark vergrößert war, dass einzelne Atome darin sichtbar wurden (wenn auch nur als verschwommene Flecken). 1953 entwickelte Wolfgang Paul die magnetische Ionenfalle (Paulfalle), in der einzelne Ionen gespeichert und mit immer höherer Genauigkeit untersucht werden können. Hier kann ein einzelnes Atom auch durch sein Fluoreszenzlicht direkt visuell sichtbar gemacht und fotografiert werden. 1985 entwickelte eine Arbeitsgruppe um Steven Chu die Laserkühlung, ein Verfahren, die Temperatur einer Ansammlung von Atomen mittels Laser­strahlung stark zu verringern. Im selben Jahr gelang es einer Gruppe um William D. Phillips, neutrale Natriumatome in einer magneto-optischen Falle einzuschließen. Durch Kombination dieser Verfahren mit einer Methode, die den Dopplereffekt nutzt, gelang es einer Arbeitsgruppe um Claude Cohen-Tannoudji, geringe Mengen von Atomen auf Temperaturen von einigen Mikrokelvin zu kühlen. Mit diesem Verfahren können Atome mit höchster Genauigkeit untersucht werden; außerdem ermöglichte es auch die experimentelle Realisierung der Bose-Einstein-Kondensation. Anfang der 1980er Jahre wurde von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer das Rastertunnelmikroskop entwickelt, in dem eine Nadelspitze eine Oberfläche mittels des Tunneleffekts so fein abtastet, dass einzelne Atome sichtbar werden. Damit wurde es auch möglich, Atome einzeln an bestimmte Plätze zu setzen. In den 1990er Jahren konnten Serge Haroche und David Wineland in Experimenten die Wechselwirkung eines einzelnen Atoms mit einem einzelnen Photon erfolgreich untersuchen. In den 2000er Jahren wurde die Handhabbarkeit einzelner Atome unter anderem genutzt, um einen Transistor aus nur einem Metallatom mit organischen Liganden herzustellen. Seit Ende der 1980er Jahre werden durch Vielfachanregung mit einem Laserimpuls Rydberg-Atome erzeugt. In einem Rydberg-Atom ist ein Elektron in einem so hohen Energiezustand angeregt, dass es den Atomkern, teilweise auch den gesamten Atomrumpf, bestehend aus dem Atomkern und den restlichen Elektronen, in weitem Abstand umkreist und sein Verhalten sich damit dem eines klassischen Teilchens nähert. Rydberg-Atome können über 100.000-mal größer sein als nicht angeregte Atome. Da sie extrem empfindlich auf äußere Felder reagieren, kann man mit ihnen z. B. die Wechselwirkung eines einzelnen Atoms mit einem einzelnen Photon im Detail untersuchen. Sind zwei oder mehr Elektronen in solchen Zuständen angeregt, spricht man von planetarischen Atomen. Klassifizierung Elemente, Isotope, Nuklide Die Unterscheidung und Bezeichnung verschiedener Atomsorten geht zunächst vom Aufbau des Atomkerns aus, während der Zustand der Hülle gegebenenfalls durch zusätzliche Symbole angegeben wird. Kennzahlen sind die Protonenzahl (Ordnungszahl, Kernladungszahl) Z, die Neutronenzahl N des Kerns, und die daraus gebildete Massenzahl A=Z+N. Je nach ihrer Protonenzahl gehören die Atome zu einem der 118 bekannten chemischen Elemente, von Wasserstoff mit Z=1 bis Oganesson mit Z=118. Davon sind 91 in natürlichen Vorkommen entdeckt worden, 27 nur nach künstlicher Herstellung durch Kernreaktionen. Die Ordnung der Elemente wird im Periodensystem – wichtig für die Chemie – graphisch veranschaulicht. Darin werden die Elemente mit aufsteigender Ordnungszahl in Form einer Tabelle angeordnet. Jede Zeile wird als Periode des Periodensystems bezeichnet und endet, wenn das jeweilige Orbital mit Elektronen voll besetzt ist (Edelgas). In den nächsten Zeilen wiederholt sich aufgrund der schrittweisen Elektronenbesetzung der nächsten Orbitale der chemische Charakter der Elemente. So stehen Elemente mit ähnlichen chemischen Eigenschaften in einer Spalte untereinander; sie bilden eine Gruppe des Periodensystems. Atome eines Elements, die sich in der Neutronenzahl unterscheiden, gehören zu verschiedenen Isotopen des Elements. Insgesamt bestehen die 118 Elemente aus etwa 2800 Isotopen, wovon 2500 künstlich erzeugt wurden. Isotope werden nach dem chemischen Element und der Massenzahl bezeichnet. Für die schwereren Wasserstoffisotope gibt es die speziellen Namen „Deuterium“ und „Tritium“. Das Symbol für ein bestimmtes Isotop des Elements hat die Form , oder X-A (Beispiele: , , Pb-208). Die Angabe der Protonenzahl Z ist redundant, da sie schon durch die Ordnungszahl des Elements gegeben ist. Nuklid ist die ganz allgemeine Bezeichnung für Atomarten, unabhängig davon, ob sie zum gleichen Element gehören oder nicht. Die Nuklidkarte oder Isotopenkarte – wichtig für die Kernphysik und ihre Anwendungen – ist eine Tabelle, in der jede Atomart einen eigenen Platz erhält. Dazu wird auf einer Achse die Anzahl der Protonen, auf der anderen die der Neutronen aufgetragen. Häufig wird die Stabilität und bei instabilen Nukliden auch die Art der Umwandlung oder die Größenordnung der Halbwertszeit durch bestimmte Farben und gegebenenfalls auch Teilung des dem Isotop zugewiesenen Platzes dargestellt. Stabile und instabile (radioaktive) Atome Der Atomkern eines Nuklids kann entweder im energetischen Grundzustand oder in einem der verschiedenen Anregungszustände vorliegen. Wenn darunter relativ langlebige, sogenannte metastabile Zustände sind, werden diese als Isomere bezeichnet und als eigene Nuklide gezählt (Symbol , o. ä.). Nach dieser Definition sind mit dem Stand von 2003 insgesamt etwa 3200 Nuklide bekannt. In der Kernphysik werden Nuklide mit unterschiedlichen Protonenzahlen, aber gleicher Massenzahl als Isobare bezeichnet. Seltener werden unter dem Namen Isotone Nuklide mit verschiedenen Protonenzahlen, aber gleicher Neutronenzahl zusammengefasst. Nur etwa 250 Isotope von 80 Elementen haben einen stabilen Kern. Alle anderen Atome sind instabil und wandeln sich über kurz oder lang in Atome eines stabilen Isotops um. Da sie dabei im Allgemeinen ionisierende Strahlung erzeugen, heißen sie auch Radioisotope oder Radionuklide. Auf der Erde wurden in den natürlichen Vorkommen neben allen 250 stabilen Isotopen 30 Radioisotope gefunden, die sich auf 10 radioaktive Elemente verteilen und die natürliche Radioaktivität verursachen. Viele weitere kurzlebige Isotope existieren im Inneren von Sternen, insbesondere während der Supernova-Phase. Seltene und theoretische Formen Als Rydberg-Atom wird ein Atom bezeichnet, in dem ein Elektron in einem so hohen Energiezustand angeregt ist, dass es den Atomkern, teilweise auch den gesamten Atomrumpf, bestehend aus dem Atomkern und den restlichen Elektronen, in weitem Abstand umkreist und sein Verhalten damit dem eines klassischen Teilchens ähnelt. Rydberg-Atome können über 100.000-mal größer sein als nicht angeregte Atome. Da sie extrem empfindlich auf äußere Felder reagieren, kann man mit ihnen z. B. die Wechselwirkung mit einem einzelnen Photon im Detail untersuchen. Sind zwei oder mehr Elektronen in solchen Zuständen angeregt, spricht man von planetarischen Atomen. Im teils übertragenen Sinn werden als exotische Atome auch solche Systeme bezeichnet, die in physikalischer Hinsicht gewisse Ähnlichkeiten zu den gewöhnlichen Atomen aufweisen. In ihnen kann z. B. eines der Protonen, Neutronen oder Elektronen durch ein anderes Teilchen derselben Ladung ersetzt worden sein. Wird etwa ein Elektron durch ein schwereres Myon ersetzt, bildet sich ein myonisches Atom. Als Positronium wird ein exotisches Atom bezeichnet, in dem ein Elektron statt an ein Proton an ein Positron, das ist das positiv geladene Antiteilchen des Elektrons, gebunden ist. Auch Atome, die gänzlich aus Antiteilchen zur normalen Materie aufgebaut sind, sind möglich und für sich allein sogar ebenso stabil wie die entsprechenden „normalen“ Atome. So wurden erstmals 1995 am Genfer CERN Antiwasserstoffatome künstlich hergestellt und nachgewiesen. An solchen exotischen Atomen lassen sich unter anderem fundamentale physikalische Theorien über die Symmetrie zwischen Teilchen und Antiteilchen überprüfen. Des Weiteren wird der Name Atom manchmal auch für Zwei-Teilchen-Systeme verwendet, die nicht durch elektromagnetische Wechselwirkung zusammengehalten werden, sondern durch die starke Wechselwirkung. Bei einem solchen Quarkonium handelt es sich um ein kurzlebiges Elementarteilchen vom Typ Meson, das aus einem Quark und einem Antiquark aufgebaut ist. Ein Quarkonium-Atom lässt sich in seinen verschiedenen metastabilen Zuständen so durch Quantenzahlen klassifizieren wie das Wasserstoffatom. Entstehung Etwa eine Sekunde nach dem Urknall kamen wegen sinkender Temperatur die ständigen Umwandlungen zwischen den Elementarteilchen zur Ruhe, übrig blieben Elektronen, Protonen und Neutronen. In den darauf folgenden drei Minuten verbanden sich in der primordialen Nukleosynthese die vorhandenen Neutronen mit Protonen zu den einfachsten Kernen: Deuterium, Helium, in geringerem Umfang auch Lithium und möglicherweise in noch kleineren Mengen Beryllium und Bor. Die übrigen Protonen (86 Prozent) blieben erhalten. Die ersten neutralen Atome mit dauerhaft gebundenen Elektronen wurden erst 380.000 Jahre nach dem Urknall in der Rekombinationsphase gebildet, als das Universum durch Expansion so weit abgekühlt war, dass die Atome nicht sogleich wieder ionisiert wurden. Die Kerne aller schwereren Atome wurden und werden durch verschiedene Prozesse der Kernfusion erzeugt. Am wichtigsten ist die stellare Nukleosynthese, durch die in Sternen zunächst Helium, anschließend auch die schwereren Elemente bis zum Eisen gebildet werden. Elemente mit höheren Kernladungszahlen als Eisen entstehen in explosionsartigen Vorgängen wie im r-Prozess in Supernovae und im s-Prozess in AGB-Sternen, die kurz vor dem Ende ihrer Lebensdauer sind. Kleine Mengen verschiedener Elemente und Isotope werden auch dadurch gebildet, dass schwere Kerne wieder geteilt werden. Das geschieht durch radioaktive Zerfälle (siehe Zerfallsreihe), die u. a. für einen Teil des Vorkommens von Helium und Blei verantwortlich sind, und Spallationen, die für die Entstehung von Lithium, Beryllium und Bor wichtig sind. Vorkommen und Verteilung Im beobachtbaren Universum liegen die Atome mit einer mittleren Dichte von 0,25 Atome/m³ vor. Nach dem Urknallmodell (Lambda-CDM-Modell) bilden sie etwa 4,9 Prozent der gesamten Energiedichte. Die übrigen 95,1 Prozent, deren Natur noch weitgehend unklar ist, setzen sich aus etwa 27 Prozent dunkler Materie und 68 Prozent dunkler Energie zusammen, sowie kleinen Beiträgen von Neutrinos und elektromagnetischer Strahlung. Im Inneren einer Galaxie wie etwa der Milchstraße ist im interstellaren Medium (ISM) die Dichte der Atome wesentlich höher und liegt zwischen 104 und 1011 Atome/m3. Die Sonne befindet sich in der weitgehend staubfreien lokalen Blase, daher ist die Dichte in der Umgebung des Sonnensystems nur etwa 103 Atome/m3. In festen Himmelskörpern wie der Erde beträgt die Atomdichte etwa 1029 Atome/m3. In der Verteilung der Elemente dominiert im Universum Wasserstoff mit rund drei Viertel der Masse, danach folgt Helium mit etwa einem Viertel. Alle schwereren Elemente sind viel seltener und machen nur einen kleinen Teil der im Universum vorhandenen Atome aus. Ihre Häufigkeiten werden von den verschiedenen Mechanismen der Nukleosynthese bestimmt. Im Sonnensystem sind Wasserstoff und Helium vorwiegend in der Sonne und den Gasplaneten enthalten. Dagegen überwiegen auf der Erde die schweren Elemente. Die häufigsten Elemente sind hier Sauerstoff, Eisen, Silicium und Magnesium. Der Erdkern besteht vorwiegend aus Eisen, während in der Erdkruste Sauerstoff und Silicium vorherrschen. Bestandteile des Atoms Die beiden Hauptbestandteile eines Atoms sind der Atomkern und die Atomhülle. Die Hülle besteht aus Elektronen. Sie trägt mit weniger als 0,06 Prozent zur Masse des Atoms bei, bestimmt aber dessen Größe und dessen Verhalten gegenüber anderen Atomen, wenn sie einander nahekommen. Der Kern besteht aus Protonen und Neutronen, ist im Durchmesser zehn- bis hunderttausendmal kleiner als die Hülle, enthält aber mehr als 99,9 Prozent der Masse des Atoms. Atomkern Aufbau Die in einem Atom vorhandenen Protonen und Neutronen, zusammen auch als Nukleonen bezeichnet, sind aneinander gebundenen und bilden den Atomkern. Die Nukleonen zählen zu den Hadronen. Das Proton ist positiv geladen, das Neutron ist elektrisch neutral. Proton und Neutron haben einen Durchmesser von etwa 1,6 fm (Femtometer) und sind selber keine Elementarteilchen, sondern nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik aus den punktförmigen Quarks aufgebaut. Jeweils drei Quarks binden sich durch die starke Wechselwirkung, die durch Gluonen vermittelt wird, zu einem Nukleon. Die starke Wechselwirkung ist darüber hinaus für den Zusammenhalt der Nukleonen im Atomkern verantwortlich, insbesondere ist die Anziehung bis zu etwa 2,5 fm Abstand deutlich stärker als die gegenseitige elektrische Abstoßung der Protonen. Unterhalb von etwa 1,6 fm wird die starke Wechselwirkung der Hadronen jedoch stark abstoßend. Anschaulich gesprochen verhalten sich die Nukleonen im Kern also etwa wie harte Kugeln, die aneinander haften. Daher steigt das Volumen des Kerns proportional zur Nukleonenzahl (Massenzahl) . Sein Radius beträgt etwa  fm. Der leichteste Atomkern besteht aus nur einem Proton. Mehrere Protonen stoßen sich zwar gemäß der Elektrostatik ab, können zusammen mit einer geeigneten Anzahl von Neutronen aber ein stabiles System bilden. Doch schon bei kleinen Abweichungen von dem energetisch günstigsten Zahlenverhältnis ist der Kern instabil und wandelt sich spontan um, indem aus einem Neutron ein Proton wird oder umgekehrt und die frei werdende Energie und Ladung als Betastrahlung abgegeben wird. Kerne mit bis zu etwa 20 Protonen sind nur bei einem Verhältnis von nahezu 1:1 von Neutronenzahl und Protonenzahl stabil. Darüber steigt in den stabilen Atomkernen das Verhältnis von 1:1 bis auf etwa 1,5:1, weil bei größeren Protonenzahlen wegen ihrer elektrostatischen Abstoßung die Anzahl der Neutronen schneller anwachsen muss als die der Protonen (Details siehe Tröpfchenmodell). Die Bindungsenergie liegt in stabilen Kernen (abgesehen von den leichtesten) oberhalb von 7 MeV pro Nukleon (siehe Abbildung) und übertrifft damit die Bindungsenergie der äußeren Elektronen der Atomhülle oder die chemische Bindungsenergie in stabilen Molekülen um das ca. 106-fache. Kerne mit bestimmten Nukleonenzahlen, die als Magische Zahl bezeichnet werden, beispielsweise Helium-4, Sauerstoff-16 oder Blei-208, sind besonders stabil, was mit dem Schalenmodell des Atomkerns erklärt werden kann. Oberhalb einer Zahl von 82 Protonen (also jenseits von Blei) sind alle Kerne instabil. Sie wandeln sich durch Ausstoßen eines Kerns He-4 in leichtere Kerne um (Alphastrahlung). Dies wiederholt sich, zusammen mit Betastrahlung, so lange, bis ein stabiler Kern erreicht ist; mehrere Zerfallsstufen bilden eine Zerfallsreihe. Auch zu den Protonenzahlen 43 (Technetium) und 61 (Promethium) existiert kein stabiler Kern. Daher kann es insgesamt nur 80 verschiedene stabile chemische Elemente geben, alle weiteren sind radioaktiv. Sie kommen auf der Erde nur dann natürlich vor, wenn sie selber oder eine ihrer Muttersubstanzen eine genügend lange Halbwertzeit haben. Masse Da der Großteil der Atommasse von den Neutronen und Protonen stammt und diese etwa gleich schwer sind, wird die Gesamtzahl dieser Teilchen in einem Atom als Massenzahl bezeichnet. Die genaue Masse eines Atoms wird oft in der atomaren Masseneinheit u angegeben; ihr Zahlenwert ist dann etwa gleich der Massenzahl. Kleinere Abweichungen entstehen durch den Massendefekt der Atomkerne. Die atomare Masseneinheit ergibt sich aus der Definition der SI-Einheit des Mols in der Art und Weise, dass ein Atom des Kohlenstoffisotops 12C (im Grundzustand inklusive seiner Hüllenelektronen) eine Masse von exakt 12 u besitzt. Damit beträgt 1 u gleich 1,66053904 · 10−27 kg. Ein Atom des leichtesten Wasserstoffisotops hat eine Masse von 1,007825 u. Das schwerste stabile Nuklid ist das Bleiisotop 208Pb mit einer Masse von 207,9766521 u. Da makroskopische Stoffmengen so viele Atome enthalten, dass die Angabe ihrer Anzahl als natürliche Zahl unhandlich wäre, erhielt die Stoffmenge eine eigene Einheit, das Mol. Ein Mol sind etwa 6,022 · 1023 Atome (oder auch Moleküle oder andere Teilchen; die betrachtete Teilchenart muss immer mitgenannt werden). Die Masse von 1 Mol Atomen der Atommasse X u ist daher exakt X g. Daher ist es in der Chemie üblich, Atommassen statt in u auch indirekt in g/mol anzugeben. Bildung und Zerfall In welcher Art ein instabiler Atomkern zerfällt, ist für das jeweilige Radionuklid typisch. Bei manchen Nukliden können die (untereinander völlig gleichen) Kerne auch auf verschiedene Arten zerfallen, so dass mehrere Zerfallskanäle mit bestimmten Anteilen beteiligt sind. Die wichtigsten radioaktiven Zerfälle sind Alpha-Zerfall, bei dem sich aus zwei Protonen und zwei Neutronen des Kerns durch die starke Wechselwirkung ein Helium-Atomkern bildet, der ausgestoßen wird, Beta-Zerfall, bei dem mittels der schwachen Wechselwirkung ein Neutron des Kerns in ein Proton oder umgekehrt umgewandelt wird und ein Elektron und ein Antineutrino beziehungsweise ein Positron und ein Neutrino erzeugt und ausgesendet werden, Gamma-Zerfall, bei dem ein angeregter Kern durch elektromagnetische Wechselwirkung Gammastrahlung erzeugt und in ein niedrigeres Energieniveau gelangt, bei gleichbleibender Protonen- und Neutronenzahl. Die Energien der Strahlungen sind für das jeweilige Nuklid charakteristisch, ebenso wie die Halbwertszeit, die angibt, wie lange es dauert, bis die Hälfte einer Probe des Nuklids zerfallen ist. Durch Anlagerung eines Neutrons kann sich ein Kern in das nächstschwerere Isotop desselben Elements verwandeln. Durch den Beschuss mit Neutronen oder anderen Atomkernen kann ein großer Atomkern in mehrere kleinere Kerne gespalten werden. Einige schwere Nuklide können sich auch ohne äußere Einwirkung spontan spalten. Größere Atomkerne können aus kleineren Kernen gebildet werden. Dieser Vorgang wird Kernfusion genannt. Für eine Fusion müssen sich Atomkerne sehr nahekommen. Diesem Annähern steht die elektrostatische Abstoßung beider Kerne, der sogenannte Coulombwall, entgegen. Aus diesem Grund ist eine Kernfusion (außer in bestimmten Experimenten) nur unter sehr hohen Temperaturen von mehreren Millionen Grad und hohen Drücken, wie sie im Inneren von Sternen herrschen, möglich. Die Kernfusion ist bei Nukliden bis zum Nickel-62 eine exotherme Reaktion, so dass sie im Großen selbsterhaltend ablaufen kann. Sie ist die Energiequelle der Sterne. Bei Atomkernen jenseits des Nickels nimmt die Bindungsenergie pro Nukleon ab; die Fusion schwererer Atomkerne ist daher endotherm und damit kein selbsterhaltender Prozess. Die Kernfusion in Sternen kommt daher zum Erliegen, wenn die leichten Atomkerne aufgebraucht sind. Atomhülle Aufbau und Bindungsenergie Die Atomhülle besteht aus Elektronen, die aufgrund ihrer negativen Ladung an den positiven Atomkern gebunden sind. Sie wird oft auch als Elektronenhülle bezeichnet. Bei einem neutralen Atom mit Elektronen beträgt die durchschnittliche Bindungsenergie je Elektron etwa . Sie nimmt daher mit steigender Teilchenzahl erheblich zu, im Gegensatz zur durchschnittlichen Bindungsenergie pro Nukleon im Kern, die ab der Massenzahl sogar abnimmt. Zur Erklärung wird angeführt, dass zwischen Nukleonen nur Bindungskräfte kurzer Reichweite wirken, die kaum über die benachbarten Teilchen hinausreichen, während die Hülle durch die elektrostatische Anziehungskraft gebunden ist, die vom -fach geladenen Kern aus alle Elektronen erfasst. Abgesehen von der Masse, die zu über 99,95 Prozent im Atomkern konzentriert ist, ist die Atomhülle für praktisch alle äußeren Eigenschaften des Atoms verantwortlich. Der Begriff Atommodell bezieht sich daher im engeren Sinn meist nur auf die Hülle (siehe Liste der Atommodelle). Ein einfaches Atommodell ist das Schalenmodell, nach dem die Elektronen sich in bestimmten Schalen um den Kern anordnen, in denen jeweils für eine bestimmte Anzahl Elektronen Platz ist. Allerdings haben diese Schalen weder einen bestimmten Radius noch eine bestimmte Dicke, sondern überlappen und durchdringen einander teilweise. Besser getrennt sind sie auf der Skala der Bindungsenergie der Elektronen. Interpretation grundlegender Atomeigenschaften im Rahmen des Schalenmodells Die Atomhülle bestimmt die Stärke und Abstandsabhängigkeit der Kräfte zwischen zwei Atomen. Im Abstandsbereich mehrerer Atomdurchmesser polarisieren sich die gesamten Atomhüllen wechselseitig, sodass durch elektrostatische Anziehung anziehende Kräfte, die Van-der-Waals-Kräfte, entstehen. Sie bewirken vor allem die Kondensation der Gase zu Flüssigkeiten, also einen Wechsel der Aggregatzustände. Die (näherungsweise) Inkompressibilität der Flüssigkeiten und Festkörper hingegen beruht darauf, dass alle Atome bei starker Annäherung einander stark abstoßen, sobald sich ihre Hüllen im Raum merklich überschneiden und daher verformen müssen. Außer im Fall zweier Wasserstoff­atome, die jeweils nur ein Elektron in der Hülle haben, spielt die elektrostatische Abstoßung der beiden Atomkerne dabei nur eine geringe Rolle. In einem mittleren Abstandsbereich zwischen dem Vorherrschen der schwach anziehenden Van-der-Waals-Kräfte und der starken Abstoßung kommt es zwischen zwei oder mehr zueinander passenden Atomhüllen zu einer besonders starken Anziehung, der chemischen Bindung. Bei Atomen bestimmter Elemente kann diese Anziehung zu einem stabilen Molekül führen, das aus Atomen in zahlenmäßig genau festgelegter Beteiligung und räumlicher Anordnung aufgebaut ist. Die Moleküle sind die kleinsten Stoffeinheiten der chemischen Verbindungen, also der homogenen Materialien in all ihrer Vielfalt. Vermittelt über die Hüllen ihrer Atome ziehen auch Moleküle einander an. Ein fester Körper entsteht, wenn viele Moleküle sich aneinander binden und dabei, weil es energetisch günstig ist, eine feste Anordnung einhalten. Ist diese Anordnung regelmäßig, bildet sich ein Kristallgitter. Infolge dieser Bindung ist der feste Körper nicht nur weitgehend inkompressibel wie eine Flüssigkeit, sondern im Unterschied zu dieser auch auf Zug belastbar und deutlich weniger leicht verformbar. Verbinden sich Atome metallischer Elemente miteinander, ist ihre Anzahl nicht festgelegt und es können sich nach Größe und Gestalt beliebige Körper bilden. Vor allem chemisch reine Metalle zeigen dann meist auch eine große Verformbarkeit. Verbindungen verschiedener Metalle werden Legierung genannt. Die Art der Bindung von Metallatomen erklärt, warum Elektronen sich fast frei durch das Kristallgitter bewegen können, was die große elektrische Leitfähigkeit und Wärmeleitfähigkeit der Metalle verursacht. Zusammengefasst ergeben sich aus der Wechselwirkung der Atomhüllen miteinander die mechanische Stabilität und viele weitere Eigenschaften der makroskopischen Materialien. Aufgrund des unscharfen Randes der Atomhülle liegt die Größe der Atome nicht eindeutig fest. Die als Atomradien tabellierten Werte sind aus der Bindungslänge gewonnen, das ist der energetisch günstigste Abstand zwischen den Atomkernen in einer chemischen Bindung. Insgesamt zeigt sich mit steigender Ordnungszahl eine in etwa periodische Variation der Atomgröße, die mit der periodischen Variation des chemischen Verhaltens gut übereinstimmt. Im Periodensystem der Elemente gilt allgemein, dass innerhalb einer Periode, also einer Zeile des Systems, eine bestimmte Schale aufgefüllt wird. Von links nach rechts nimmt die Größe der Atome dabei ab, weil die Kernladung anwächst und daher alle Schalen stärker angezogen werden. Wenn eine bestimmte Schale mit den stark gebundenen Elektronen gefüllt ist, gehört das Atom zu den Edelgasen. Mit dem nächsten Elektron beginnt die Besetzung der Schale mit nächstkleinerer Bindungsenergie, was mit einem größeren Radius verbunden ist. Innerhalb einer Gruppe, also einer Spalte des Periodensystems, nimmt die Größe daher von oben nach unten zu. Dementsprechend ist das kleinste Atom das Heliumatom am Ende der ersten Periode mit einem Radius von 32 pm, während eines der größten Atome das Caesium­atom ist, das erste Atom der 5. Periode. Es hat einen Radius von 225 pm. Erklärung der Atomeigenschaften im Rahmen des Orbitalmodells Die dem Schalenmodell zugrundeliegenden Elektronenschalen ergeben sich durch die Quantisierung der Elektronenenergien im Kraftfeld des Atomkerns nach den Regeln der Quantenmechanik. Um den Kern herum bilden sich verschiedene Atomorbitale, das sind unscharf begrenzte Wahrscheinlichkeitsverteilungen für mögliche räumliche Zustände der Elektronen. Jedes Orbital kann aufgrund des Pauli-Prinzips mit maximal zwei Elektronen besetzt werden, dem Elektronenpaar. Die Orbitale, die unter Vernachlässigung der gegenseitigen Abstoßung der Elektronen und der Feinstruktur theoretisch die gleiche Energie hätten, bilden eine Schale. Die Schalen werden mit der Hauptquantenzahl durchnummeriert oder fortlaufend mit den Buchstaben K, L, M,… bezeichnet. Genauere Messungen zeigen, dass ab der zweiten Schale nicht alle Elektronen einer Schale die gleiche Energie besitzen. Falls erforderlich, wird durch die Nebenquantenzahl oder Drehimpulsquantenzahl eine bestimmte Unterschale identifiziert. Sind die Orbitale, angefangen vom energetisch niedrigsten, so weit mit Elektronen besetzt, dass die gesamte Elektronenzahl gleich der Protonenzahl des Kerns ist, ist das Atom neutral und befindet sich im Grundzustand. Werden in einem Atom ein oder mehrere Elektronen in energetisch höherliegende Orbitale versetzt, ist das Atom in einem angeregten Zustand. Die Energien der angeregten Zustände haben für jedes Atom wohlbestimmte Werte, die sein Termschema bilden. Ein angeregtes Atom kann seine Überschussenergie abgeben durch Stöße mit anderen Atomen, durch Emission eines der Elektronen (Auger-Effekt) oder durch Emission eines Photons, also durch Erzeugung von Licht oder Röntgenstrahlung. Bei sehr hoher Temperatur oder in Gasentladungen können die Atome durch Stöße Elektronen verlieren (siehe Ionisationsenergie), es entsteht ein Plasma, so z. B. in einer heißen Flamme oder in einem Stern. Da die Energien der Quanten der emittierten Strahlung je nach Atom bzw. Molekül und den beteiligten Zuständen verschieden sind, lässt sich durch Spektroskopie dieser Strahlung die Quelle im Allgemeinen eindeutig identifizieren. Beispielsweise zeigen die einzelnen Atome ihr elementspezifisches optisches Linienspektrum. Bekannt ist etwa die Natrium-D-Linie, eine Doppellinie im gelben Spektralbereich bei 588,99 nm und 589,59 nm, die auch in nebenstehender Abbildung mit D-1 bezeichnet wird. Ihr Aufleuchten zeigt die Anwesenheit von angeregten Natrium-Atomen an, sei es auf der Sonne oder über der Herdflamme bei Anwesenheit von Natrium oder seinen Salzen. Da diese Strahlung einem Atom auch durch Absorption dieselbe Energie zuführen kann, lassen sich die Spektrallinien der Elemente sowohl in Absorptions- als auch in Emissionsspektren beobachten. Diese Spektrallinien lassen sich auch verwenden, um Frequenzen sehr präzise zu vermessen, beispielsweise für Atomuhren. Obwohl Elektronen sich untereinander elektrostatisch abstoßen, können in einem neutralen Atom zusätzlich bis zu zwei weitere Elektronen gebunden werden, wenn es bei der höchsten vorkommenden Elektronenenergie noch Orbitale mit weiteren freien Plätzen gibt (siehe Elektronenaffinität). Chemische Reaktionen, d. h. die Verbindung mehrerer Atome zu einem Molekül oder sehr vieler Atome zu einem Festkörper, werden dadurch erklärt, dass ein oder zwei Elektronen aus einem der äußeren Orbitale eines Atoms (Valenzelektronen) unter Energiegewinn auf einen freien Platz in einem Orbital eines benachbarten Atoms ganz hinüberwechseln (Ionenbindung) oder sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dort aufhalten (kovalente Bindung durch ein bindendes Elektronenpaar). Dabei bestimmt die Elektronegativität der Elemente, bei welchem Atom sich die Elektronen wahrscheinlicher aufhalten. In der Regel werden chemische Bindungen so gebildet, dass die Atome die Elektronenkonfiguration eines Edelgases erhalten (Edelgasregel). Für das chemische Verhalten des Atoms sind also Form und Besetzung seiner Orbitale entscheidend. Da diese allein von der Protonenzahl bestimmt werden, zeigen alle Atome mit gleicher Protonenzahl, also die Isotope eines Elements, nahezu das gleiche chemische Verhalten. Nähern sich zwei Atome über die chemische Bindung hinaus noch stärker an, müssen die Elektronen eines Atoms wegen des Pauli-Prinzips auf freie, aber energetisch ungünstige Orbitale des anderen Atoms ausweichen, was einen erhöhten Energiebedarf und damit eine abstoßende Kraft nach sich zieht. Wechselwirkung zwischen Kern und Hülle Mit großer Genauigkeit wird die Wechselwirkung zwischen Kern und Hülle schon durch den einfachen Ansatz beschrieben, in dem der Kern eine punktförmige Quelle eines elektrostatischen Felds nach dem Coulomb-Gesetz darstellt. Alle genannten Atommodelle beruhen hierauf. Aufgrund zusätzlicher Effekte, die in erweiterten Modellen behandelt werden, sind nur extrem kleine Korrekturen nötig, die unter dem Namen Hyperfeinstruktur zusammengefasst werden. Zu berücksichtigen sind hier drei Effekte: erstens die endliche Ausdehnung, die jeder Kern besitzt, zweitens eine magnetische Dipolwechselwirkung, wenn sowohl Kern als auch Hülle eine Drehimpulsquantenzahl von mindestens ½ haben, und drittens eine elektrische Quadrupolwechselwirkung, wenn beide Drehimpulsquantenzahlen mindestens 1 sind. Die endliche Ausdehnung des Kerns – verglichen mit einer theoretischen Punktladung – bewirkt eine schwächere Anziehung derjenigen Elektronen, deren Aufenthaltswahrscheinlichkeit bis in den Kern hineinreicht. Betroffen sind nur s-Orbitale (Bahndrehimpuls Null). Bei Atomen mittlerer Ordnungszahl liegt die Korrektur der Bindungsenergie in der Größenordnung von 1 Prozent. Die magnetischen Dipol- bzw. elektrischen Quadrupol-Momente von Hülle und Kern bewirken eine Kopplung mit der Folge, dass die Gesamtenergie eines freien Atoms je nach Quantenzahl seines Gesamtdrehimpulses äußerst geringfügig aufgespalten ist. Im H-Atom beträgt die Aufspaltung etwa ein Millionstel der Bindungsenergie des Elektrons (siehe 21-cm-Linie). Anschaulich gesprochen hängt die Energie davon ab, in welchem Winkel die Achsen der beiden magnetischen Dipolmomente bzw. elektrischen Quadrupolmomente von Kern und Hülle zueinander stehen. Auch bei Atomen in Flüssigkeiten und Festkörpern machen sich diese Wechselwirkungen in entsprechend modifizierter Form bemerkbar. Trotz der Kleinheit der dadurch verursachten Effekte haben sie eine große Rolle in der Atom- und Kernforschung gespielt und sind in besonderen Fällen auch bei modernen Anwendungen wichtig. Beobachtung Indirekte Beobachtung Indirekte Möglichkeiten, Atome zu erkennen, beruhen auf der Beobachtung der von ihnen ausgehenden Strahlung. So kann aus Atomspektren beispielsweise die Elementzusammensetzung entfernter Sterne bestimmt werden. Die verschiedenen Elemente lassen sich durch charakteristische Spektrallinien identifizieren, die auf Emission oder Absorption durch Atome des entsprechenden Elements in der Sternatmosphäre zurückgehen. Gasentladungslampen, die dasselbe Element enthalten, zeigen diese Linien als Emissionslinien. Auf diese Weise wurde z. B. 1868 Helium im Spektrum der Sonne nachgewiesen – über 10 Jahre, bevor es auf der Erde entdeckt wurde. Ein Atom kann ionisiert werden, indem eines seiner Elektronen entfernt wird. Die elektrische Ladung sorgt dafür, dass die Flugbahn eines Ions von einem Magnetfeld abgelenkt wird. Dabei werden leichte Ionen stärker abgelenkt als schwere. Das Massenspektrometer nutzt dieses Prinzip, um das Masse-zu-Ladung-Verhältnis von Ionen und damit die Atommassen zu bestimmen. Die Elektronenenergieverlustspektroskopie misst den Energieverlust eines Elektronenstrahls bei der Wechselwirkung mit einer Probe in einem Transmissionselektronenmikroskop. Beobachtung einzelner Atome Eine direkte Abbildung, die einzelne Atome erkennen lässt, wurde erstmals 1951 mit dem Feldionenmikroskop (oder Feldemissionsmikroskop) erzielt. Auf einem kugelförmigen Bildschirm, in dessen Mittelpunkt sich eine extrem feine Nadelspitze befindet, erscheint ein etwa millionenfach vergrößertes Bild. Darin sind die obersten Atome, die die Spitze bilden, nebeneinander als einzelne Lichtpunkte zu erkennen. Dies kann heute auch im Physikunterricht an der Schule vorgeführt werden. Das Bild entsteht in Echtzeit und erlaubt z. B. die Betrachtung der Wärmebewegung einzelner Fremdatome auf der Spitze. Auch das Rastertunnelmikroskop ist ein Gerät, das einzelne Atome an der Oberfläche eines Körpers sichtbar macht. Es verwendet den Tunneleffekt, der es Teilchen erlaubt, eine Energiebarriere zu passieren, die sie nach klassischer Physik nicht überwinden könnten. Bei diesem Gerät tunneln Elektronen durch einen nur Nanometer breiten Spalt zwischen einer elektrisch leitenden Spitze und der elektrisch leitenden Probe. Bei Seitwärtsbewegungen zur Abrasterung der Probe wird die Höhe der Spitze so nachgeregelt, dass immer derselbe Strom fließt. Die Bewegung der Spitze bildet die Topographie und Elektronenstruktur der Probenoberfläche ab. Da der Tunnelstrom sehr stark vom Abstand abhängt, ist die laterale Auflösung viel feiner als der Radius der Spitze, manchmal atomar. Eine tomographische Atomsonde erstellt ein dreidimensionales Bild mit einer Auflösung unterhalb eines Nanometers und kann einzelne Atome ihrem chemischen Element zuordnen. Aufbauend auf einer um 2010 entwickelten Atom-Licht-Schnittstelle ist es 2020 gelungen, Fotos einzelner Atome zu machen, die weniger als einen Tausendstel Millimeter über einer lichtleitenden Glasfaser schweben. Dadurch ist es unter Laborbedingungen nun möglich, Effekte wie die Absorption und Aussendung von Licht kontrollierter als bisher zu untersuchen. Dies kann bei der Entwicklung neuartiger optischer Glasfaser-Netzwerke helfen. Literatur Weblinks HydrogenLab: Wie sieht ein Atom aus? Übersicht über die verschiedenen Atommodelle Geschichtlicher Überblick zum Atombegriff aus naturphilosophischer Perspektive von Brigitte Falkenburg im Online-Lexikon naturphilosophischer Grundbegriffe. Einzelnachweise Atomphysik Physikalische Chemie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Isar
Isar
Die Isar ist ein für Wasserfahrzeuge über Floßgröße nicht schiffbarer Fluss in Tirol (Österreich) und Bayern (Deutschland), der nach einem 292 km langen Lauf südlich von Deggendorf von rechts in die Donau mündet. Sie entspringt in den Alpen im Tiroler Teil des Karwendels im Hinterautal, wechselt nach etwa 22 km unterhalb von Scharnitz über die Staatsgrenze nach Bayern, wo sie noch in den Alpen erst durch Mittenwald, dann durch Krün, Wallgau und im sogenannten Isarwinkel durch Lenggries und Gaißach fließt. Das Alpenvorland erreicht sie am Beginn des Mittellaufs bei Bad Tölz, an ihm folgen dann die Städte Geretsried, Wolfratshausen, München, Freising und Moosburg. Der Unterlauf fließt durch Landshut, Dingolfing, Landau an der Isar sowie Plattling. Fünf Kilometer südlich von Deggendorf mündet die Isar in die Donau. Die frühere Ausprägung als typischer Gebirgs- und Voralpenfluss mit breitem, sich ständig verlagerndem Flussbett, ausgedehnten Schotterbänken und verzweigten Flussarmen weist sie nur noch in einzelnen Bereichen des Oberlaufs auf. Nach der Donau, dem Inn und dem Main ist die Isar mit ihrem größtenteils in Bayern liegenden Einzugsgebiet von 8964,57 km² der viertgrößte Fluss dieses Bundeslandes. Der wichtigste Nebenfluss ist die in Moosburg zufließende Amper, gefolgt von der in Wolfratshausen mündenden Loisach. Etymologie Nach derzeitigem Forschungsstand ist der Name des Flusses auf die hypothetische indogermanische Wurzel *es oder *is mit der Bedeutung „(fließendes) Wasser“ zurückzuführen, die sich in heutigen Sprachen auf den festen Aggregatzustand des Wassers („Eis“) verengt hat. Ersturkundlich wird der Fluss im Jahr 763 als Isura im Traditionsbuch des Hochstifts Freising genannt. Von dieser Wurzel leiten sich eine Reihe weiterer Flussnamen ab: Jizera oder Iser (Tschechien), Izera (Polen) Isère (Frankreich) Isère, Oise, früher Isara (Frankreich) Isel (Österreich) IJssel (Niederlande) Yser (französisch), IJzer (niederländisch) (Belgien) Eisack (ital.: Isarco) (Südtirol, Italien) Isen (Bayern, Deutschland) Eis (Rheinland-Pfalz, Deutschland) Auch die Bezeichnung Ister für den unteren Flussabschnitt der Donau hat vermutlich den gleichen Ursprung. Das die gleiche Wurzel enthaltende „Eisach“ („Wasserlauf“) als Name mehrerer Gebirgsbäche im Alpenraum muss sich nicht notwendigerweise auf „eiskaltes“ Wasser beziehen. Die Interpretation Hans Bahlows, dass sich das Wort Isar von es, as oder os ableiten lasse und damit als „Sumpfwasser“ zu interpretieren sei, ist in Fachkreisen höchst umstritten, da es sich bei den Namensträgern um fließende Gewässer handelt. Als veraltet gilt jedenfalls die Deutung, wonach sich der Name Isar aus den keltischen Worten ys (schnell, reißend) und ura (Wasser, Fluss) zusammensetzt. Nach einer anderen Interpretation soll ys gleichzeitig für hoch und tief stehen und damit die Vertikale bezeichnen. Geografie Die Isar entwässert einen großen Teil der Bayerischen Alpen sowie Teile des Karwendels nach Norden zur Donau und damit letztlich zum Schwarzen Meer hin. Insgesamt umfasst das Einzugsgebiet nicht ganz 9.000 km². Da der Niederschlag im Winter vor allem in den Alpen zumeist als Schnee fällt, führt die Isar während der Schneeschmelze im Frühsommer besonders viel Wasser. Mit einem mittleren Abfluss von rund 176 m³/s ist sie mit mittelgroßen deutschen Flüssen wie dem Main (211 m³/s) vergleichbar. Verlauf der Ur-Isar Die Isar ist ein Schmelzwasserausfluss des Isar-Loisach-Gletschers der Würm-Kaltzeit. Ein kaltzeitlicher Fließweg dieser „Ur-Isar“ verlief ab Gaißach südlich von Bad Tölz nach Nordosten in Richtung Holzkirchen. Zunächst folgte sie dann einer ungefähren Linie Holzkirchen – Helfendorf – Aßling bis Wasserburg am Inn, wo sie in den „Ur-Inn“ mündete. Später wandte sie sich nach Norden, folgte etwa der Linie Holzkirchen – Egmating – Markt Schwaben – Erding und traf bei Moosburg nördlich von München auf die Loisach. Der genaue Verlauf der Ur-Isar ist aber unsicher. In römischer Zeit mündete die Isar in die Donau bei der Ortschaft Moos am östlichen Rand des holozänen Mündungsfächers, wo auch ein römisches Kastell im Umfeld des früheren Flussübergangs angelegt wurde. Der ehemalige Verlauf der Isar kann mittelbar anhand der durch fluviatile Erosion geschaffenen Lücken der donauparallelen Römerstraße von Regensburg nach Passau nachvollzogen werden (siehe Bayernatlas). Die Ortsnamen Isarau und Kurzenisarhofen erinnern daran, dass auch nach der bajuwarischen Ortsnamenbezeichnung die Isar eher am Ostrand des Mündungsfachers entlangfloss. Eine Verlagerung nach Westen im Mündungsbereich im Verlaufe des Mittelalters kann auch durch die Verlegung von Plattling nach einem Hochwasser um 1379 an das neue linke Flussufer nachvollzogen werden. Die romanische Kirche St. Jakob markiert das ehemals weiter östlich gelegene Ortszentrum von Plattling. Vor 15.000 Jahren kam es in Bad Tölz zu einem Durchbruch durch einen Molasse-Riegel, wobei sich dort die Isar ihre heutige Fließrichtung nach Norden schuf. Sie floss am Ende der Würmeiszeit in den Wolfratshausener See, den sie zum Verlanden brachte. Quellflüsse Die offiziell als Isar-Ursprung bezeichneten Quellen bzw. Bäche befinden sich im Hinterautal zwischen den beiden mittleren Karwendelketten, der Gleirsch-Halltal-Kette im Süden und der Hinterautal-Vomper-Kette im Norden, auf Der Lafatscher Bach entspringt als längster Quellbach der Isar etwa fünf Kilometer südöstlich beim Hallerangerhaus im Gemeindegebiet von Absam. Die wird daher ebenfalls als Isarquelle bezeichnet. Die Längenangabe der Isar von 292,26 Kilometern bezieht sich auf diese Quelle. Verlauf und Nebenflüsse Innerhalb des Karwendels fließt die Isar nach Westen. Wenige Kilometer, bevor sie am Westrand des Gebirges den Ort Scharnitz erreicht, münden der Gleirschbach und der Karwendelbach ein und der Fluss wendet sich nach Norden und passiert die Talenge der Scharnitzer Klause sowie die österreichisch-deutsche Grenze. Am südlichen Ortsrand von Mittenwald mündet von Westen auf der Südseite des Wettersteingebirges die Leutascher Ache ein, die bis zu dieser Stelle fast ebenso lang wie der Lauf der Isar ist. Zwischen Mittenwald und Krün wird die Isar am Stauwehr Krün erstmals gestaut, ihr Wasser hier größtenteils abgezweigt und durch die Isarüberleitung dem Kraftwerk Obernach am Walchensee zugeführt. Bei Wallgau wendet sich der Flusslauf nach Osten in den Isarwinkel, wo als Zuflüsse aus dem Karwendel die Dürrach und der Walchen, der als Ache natürlicher Abfluss des Achensees ist und zusammen mit diesem die östliche Begrenzung des Karwendelgebirges bildet, einmünden. Dürrach und Walchen erreichen den Fluss heutzutage im Sylvensteinspeicher, der 1955 bis 1959 zum Zweck von Hochwasserschutz und Energiegewinnung angelegt wurde. Das Wasser des aus dem Rißtal kommenden Rißbachs wird bei der Oswaldhütte () an der Straße Vorderriß (Bayern) – Hinterriß (Tirol) gestaut und in den insgesamt fast sieben Kilometer langen Rißbachstollen eingeleitet, in welchem das Wasser dem Kraftwerk Niedernach zugeführt wird. Ab dem Sylvensteinspeicher fließt die Isar in nördlicher Richtung durch die Bayerischen Voralpen und ab Bad Tölz durch die würmzeitliche Moränenlandschaft des Alpenvorlandes bis in die Münchner Schotterebene. Zwischen Sylvensteinsee und Lenggries erreichen von links die Jachen und in Gaißach von rechts die Große Gaißach die Isar. Der Abfluss des Walchensees, dessen Wasser heute zu annähernd 100 % durch das Walchenseekraftwerk in den Kochelsee gelangt, ist damit die Loisach. Diese fließt von Lermoos in Tirol entlang der Nordseite des Wettersteingebirges nach Garmisch, dann durch den Kochelsee und mündet schließlich bei Wolfratshausen in die Isar. In München wird wieder Wasser von der Isar in den Mittleren-Isar-Kanal abgezweigt. Er führt rechts der Isar durch das Erdinger Moos und speist sieben Wasserkraftwerke, bevor er hinter Moosburg wieder in die Isar mündet. Bei Freising erreicht die Isar den Nordrand der Schotterebene und fließt vor diesem nach Osten. Hier führt ihr die Dorfen Wasser aus dem Erdinger Moos zu. Nahe der Nordoststrecke der Ebene mündet vor Moosburg von rechts die Sempt. Hinter Moosburg mündet von links der größte Nebenfluss, die Amper, die als Ammer nahe der österreichischen Grenze südwestlich von Schloss Linderhof entspringt und erst nach Durchfließen des Ammersees den Namen Amper führt. Von Moosburg fließt die Isar in einem Urstromtal durch das von der Tertiärzeit geprägte Unterbayerische Hügelland nordostwärts zum Donautal. Nach insgesamt 292,26 Flusskilometern, davon 270,36 km in Deutschland, mündet die Isar, die ein mittleres Sohlgefälle von 2,9 ‰ aufweist, südöstlich von Deggendorf auf 312 m über Normalnull, also ungefähr 848 Höhenmeter unterhalb ihrer Quelle, in der Gemeinde Moos in die Donau. Inseln Die meisten kleinen Inseln und Kiesbänke der Isar werden durch die jährlichen Hochwasser immer wieder in Umfang und Form verändert. Einige Inseln im unmittelbaren Bereich von größeren Städten wurden im 19. Jahrhundert verbaut und so gegen Abtrag gesichert: die Museumsinsel und die Praterinsel in München sowie die Hammerinsel, die Mühleninsel und das Mitterwöhr in Landshut. Geschichte Die Isar wurde vermutlich schon in vorgeschichtlicher Zeit als Handelsweg genutzt, um Waren aus dem Bereich der Alpen und aus Italien mit Hilfe von Flößen zur Donau zu transportieren. Eine schon bestehende Handelsstraße aus dem Inntal über den Seefelder Sattel ins nördliche Alpenvorland wurde von den Römern ab 195 n. Chr. zur Via Raetia ausgebaut. Der Markt Mittenwald an der Isar konnte sich so von einem römischen Posten zu einem wichtigen Umschlagplatz für Handelswaren im Werdenfelser Land entwickeln. Brücken über die Isar sind erst seit dem Mittelalter nachgewiesen. Die Städte München und Landshut wurden im Mittelalter im Zusammenhang mit Brückenbauten über die Isar gegründet, dabei ging es immer auch um Lenkung von Handelswegen und damit die Erringung von Macht und wirtschaftlichem Einfluss. Der weitere Ausbau der Städte erzeugte eine stete Nachfrage nach Holz und Kalk, die zu einem Aufschwung der Flößerei (vor allem im Oberland) führte. Seit dem 17. Jahrhundert wurden auch Waren wie Südfrüchte, Gewürze, Baumwolle und Seide vom Bozener Markt bzw. dem Venezianischen Markt in Mittenwald über die Isar bis nach Wien und Budapest transportiert. Auf dem Höhepunkt der Flößerei im 19. Jahrhundert landeten in München über 8.000 Flöße pro Jahr an. Seit dem Mittelalter wurden unter anderem Wassermühlen durch die Wasserkraft der Isar angetrieben, die einen gleichmäßigen Wasserstand brauchten. Deshalb wurde in München und in Niederbayern (Klötzlmühlbach und Längenmühlbach) Wasser aus dem Fluss in kleinere Mühlkanäle abgeleitet. Die Münchner Stadtbäche dienten als Kanäle zugleich der Versorgung der Bevölkerung mit Brauchwasser und speisten die Gräben vor den mittelalterlichen Stadtmauern. Während der jährlichen Hochwasser kam es immer wieder zu Überschwemmungen und Unglücksfällen in den anliegenden Städten und Gemeinden. So stürzte 1813 in München ein Vorgängerbau der heutigen Ludwigsbrücke ein und brachte so über 100 auf der Brücke stehenden Schaulustigen den Tod; beim Hochwasser 1899 stürzten ebenfalls in München die Luitpoldbrücke und die Max-Joseph-Brücke ein. Seit 1806, in Niederbayern seit etwa 1900, begann man die Ufer zu befestigen und den Fluss zu kanalisieren, damit dieser sich tiefer in sein Bett eingrub und danach seltener übers Ufer trat. Weitere umfangreiche, regulierende Maßnahmen wurden seit den 1920er Jahren durchgeführt, um aus Wasserkraft elektrische Energie zu erzeugen. Mit dem Bau des Walchenseekraftwerks im Jahr 1924 wurde massiv in den natürlichen Oberlauf der Isar eingegriffen. Seitdem leitet das Stauwehr Krün fast vollständig das Isarwasser zum Walchensee um. 1951 verlor die Isar zusätzlich auch fast vollständig das Wasser des Rißbachs, welches seitdem ebenfalls zum Walchensee weitergeleitet wird. Weiteres Wasser verlor der Oberlauf der Isar mit dem Bau des Achenseekraftwerks 1927 – der Achensee entwässert nun primär nicht mehr über die Seeache/Walchen und Isar, sondern nach Süden über den Inn. Dem Achenseekraftwerk wird seit den 1950er Jahren Wasser aus der Dürrach zugeleitet, was einen weiteren Wasserverlust der Isar bedeutete. Die Isar wurde deshalb im oberen Teil immer mehr zur Flussleiche, so dass es einer dringenden Besserung der Situation bedurfte. Deshalb wurde schließlich mit dem damals höchst umstrittenen Bau des Sylvensteinspeichers (Fertigstellung 1959) begonnen, um einen konstanteren Wasserspiegel der Isar zu erreichen. Der zusätzlich gewährleistete Hochwasserschutz war hingegen nur ein sekundäres Ziel. In Landshut wurde 1955 die Flutmulde Landshut fertiggestellt, die bei Hochwasser einen Teil des Wassers aufnimmt. Weitere Wasserkraftwerke mit Staustufen entstanden bis in die 1980er Jahre, etwa 1984 das Wasserkraftwerk Landau. In jüngster Zeit erst versucht man durch verschiedene Maßnahmen der Isar zumindest in Teilbereichen ihren ursprünglichen Wildflusscharakter zurückzugeben. Etwa durch den Isar-Plan in München sowie die Renaturierung der Isarufer bei Landau und seit 2016 bei Dingolfing. Am Unterlauf der Isar zwischen Moosburg und Plattling wurde vor allem im 16. und 17. Jahrhundert Gold aus den Flussablagerungen gewaschen. Davon zeugen noch Ortsnamen wie Golding (Gemeinde Gottfrieding) und Goldern (Gemeinde Niederaichbach). Die dabei gewonnenen Mengen an Edelmetall waren jedoch gering und wirtschaftlich nicht von großer Bedeutung. Das Gold wurde hauptsächlich zur Ausprägung von Flussgolddukaten verwendet. Sie sind durch die Umschrift EX AURO ISARE (= aus dem Gold der Isar) erkennbar. Auf der Isar wurde der moderne Kanusport begründet. Alfred Heurich befuhr 1905 die Isar zwischen Bad Tölz und München mit seinem selbstgebauten Faltboot in Form eines Kajaks zum ersten Mal. Schnell wurde diese Sportart in ganz Europa populär. Natur- und Umweltschutz Seit den 1920er Jahren wird das Wasser der Isar zur Erzeugung elektrischer Energie genutzt, mit weitreichenden Folgen nicht nur für die einheimische Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch für den Menschen. Um die insgesamt 28 Kraftwerke mit der notwendigen Wasserkraft zu versorgen, wird das Flusswasser mehrfach abgeleitet, kanalisiert und aufgestaut. So wurde beispielsweise nördlich von Mittenwald ab 1923 das gesamte Wasser der Isar dem Walchensee für den Betrieb des Walchenseekraftwerks zugeführt. Erst seit 1990 lässt man einen Restanteil von vier Kubikmetern pro Sekunde ins natürliche Flussbett abfließen, so dass die Isar in diesem Bereich nicht mehr trocken fällt. Auch der Bau des Sylvensteinsees zum Hochwasserschutz und zuvor schon zahlreiche regulierende Maßnahmen, die schon seit dem frühen 19. Jahrhundert vor allem im Bereich der Städte durchgeführt worden waren, veränderten nachhaltig den Wildflusscharakter. In der Mitte der 1980er Jahre dachte man um und wollte nun Hochwasserschutz, Ökologie und den Erholungswert des Flusses für die Anrainer besser in Einklang bringen. Der Isar-Plan wurde von 1995 bis 2011 im Rahmen einer offenen Planung unter intensiver Einbindung von Verbänden, politischen Gremien und Bürgern verwirklicht. Seit der Fertigstellung des Sylvensteinsees ist die Isar flussabwärts des Speichers nur noch selten über die Ufer getreten. Besondere Ausnahmen waren die großen Hochwässer 1999, 2002, 2005 und 2013. Damals fasste selbst das tief eingeschnittene Flussbett die Wassermenge nicht mehr, weshalb an vielen Orten zwischen München und Moosburg die Auwälder zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder überschwemmt und mit Sedimenten angereichert wurden. Die Eintiefung des Flussbetts ist eine Folge der vielen Stauseen wie der seitlichen Uferbefestigungen. Die Stauseen halten das natürliche Geschiebe des Oberlaufs zurück, die Verbauungen hindern die Isar daran, ihre Ufer abzutragen, weshalb auch diese Geschiebequelle versiegt ist. So verstärkt sich die Erosion in der Flusssohle, und die Isar schneidet sich immer tiefer in die Landschaft ein. In manchen Bereichen, so etwa auf Höhe von Geretsried, hat die Sohle nun schon die unter den Schotterablagerungen liegende, weichere Obere Süßwassermolasse erreicht („Sohldurchschlag“). Hier droht nun eine schnelle weitere Eintiefung, mit Folgen nicht nur für den Isarlauf, denn mit dem Flussniveau wird auch der Grundwasserspiegel in der Umgebung weiter absinken. In jüngster Zeit wird versucht durch verschiedene Maßnahmen der Renaturierungsökologie der Isar ihre Ursprünglichkeit wiederzugeben. So wurde zum Beispiel seit Mai 2000 ein acht Kilometer langer Teilbereich der Flusslandschaft im südlichen Stadtgebiet von München renaturiert. Dazu wurde das Flussbett aufgeweitet, die Ufer wurden abgeflacht und Kiesinseln sowie naturnahe Sohlrampen angelegt. Auch die vorhandenen Deiche wurden erhöht, verbreitert und durch den Einbau einer Dichtwand verstärkt. Bei der Verlängerung der Konzession für das Wasserkraftwerk Mühltal wurden mit Bescheid vom 28. Juni 1995 Auflagen erteilt, die eine eigenständige Regeneration der natürlichen Fließgewässerfunktionen begünstigen sollen. So wurde für die Ausleitungsstrecke ein Mindestwasserabfluss von 15 m³/s – nach vorher 5 m³/s – gefordert und die Entfernung von Uferverbauungen auf mehr als sieben Kilometern Länge. Wegen der Entfernung der Verbauungen haben die Hochwasser in den Jahren 1999, 2002 und 2005 dazu geführt, dass die Isar nun auf mehreren Hundert Metern Länge ihr Flussbett deutlich ausgeweitet hat und wieder Elemente einer alpin geprägten Flusslandschaft zeigt. Trotz besseren Schutzes vor Hochwasser ist die Flusslandschaft der Isar heute wieder naturnäher. Dieses wichtige Naherholungsgebiet im Großraum München hat an Attraktion für die Besucher gewonnen. Durch Aufrüstung verschiedener Klärwerke entlang der Isar ist auch die Wasserqualität gestiegen. Das Flusswasser gehört derzeit der Gewässergüteklasse II an, gilt also als mäßig belastet. Hoch ist allerdings nach wie vor die Keimzahl. Gemeinsam mit einer Reihe anderer Städte und Gemeinden entlang der Isar hatte sich die Stadt München 1998 zum Ziel gesetzt die Wasserqualität so weit zu verbessern, dass die Isar offiziell zum Baden freigegeben werden kann. Das Ziel wurde bisher nur zum Teil erreicht: Am Isaroberlauf wurden Klärwerke in Betrieb genommen, die durch Behandlung des Abwassers mit ultraviolettem Licht die Zahl der Keime drastisch reduzieren, so dass die Stadt München 2005 die Warntafeln entfernen konnte, welche vor dem Infektionsrisiko mit Keimen beim Baden warnten. Somit kann die EG-Richtlinie für Badegewässer während der Betriebszeit der UV-Desinfektionsanlagen zwischen 15. April und 30. September meist eingehalten werden. Jedoch kann die Isar im Bereich des Stadtgebiets nicht als Badegewässer ausgewiesen werden, da aufgrund der Einträge durch Niederschläge, insbesondere bei Starkregen, die Wasserqualität zu sehr einbrechen kann. Die Farbe der Isar ist grün. Dies lässt sich auf die Mineralien zurückführen, die der Fluss mit sich führt. Weil der Anteil an Feinstsedimenten sehr gering ist, wie in Schnee oder Gletschereis, wird das Sonnenlicht gefiltert und abgespiegelt, was die Isar nahe der Quelle bläulich erscheinen lässt. Bei Zunahme der aufgelösten Mineralstoffe, bei denen es sich in der Isar häufig um Kalkgesteine handelt, verwandelt sich die Färbung von den Alpen bis zur Mündung ins Grünliche. Entlang der Isar wurden eine Reihe von Natur-, Landschafts- sowie für einzelne Kiesbänke auch Vogelschutzgebiete ausgewiesen, beispielsweise das Naturschutzgebiet „Vogelfreistätte Mittlere Isarstauseen“ nordöstlich von Moosburg. Dieses Naturschutzgebiet ist eine bedeutende Raststätte für durchziehende Wasservögel. Über 260 verschiedene Vogelarten wurden bislang nachgewiesen, darunter auch gefährdete Arten wie die Flussseeschwalbe und das Blaukehlchen. Das Naturschutzgebiet Isarauen zwischen Hangenham und Moosburg befindet sich nordöstlich von Freising im Mündungsgebiet der Moosach und einiger Bachläufe. Das Landschaftsschutzgebiet „Untere Isar“ und das Naturschutzgebiet „Isarmündung“ umfassen die Auenlandschaft im Isarmündungsgebiet. Das europäische Schutzgebiet „Oberes Isartal“ befindet sich entlang eines Hundert Kilometer langen Flussabschnitts der Isar zwischen der Landesgrenze bei Scharnitz im Karwendelgebirge und München. Dieses Fauna-Flora-Habitat-Gebiet (FFH-Gebiet) ist mit circa 4.700 Hektar eines der größten in Bayern. Um die Schönheit des Isartales zu erhalten, gründete Gabriel von Seidl bereits 1902 den Isartalverein. Um dieses Ziel zu erreichen, kaufte die erste Münchner Bürgerinitiative über 90 Hektar Land und betreut heute insgesamt über 330 Kilometer Wander- und Radwege. Die Konzentration von Mikroplastik steigt im Gewässerverlauf deutlich an. In einer 2018 veröffentlichten Studie der Universität Bayreuth wurde gezeigt, dass die Plastikkonzentration von 8,3 Partikel/m3 bei Baierbrunn auf 87,9 Partikel/m3 bei Moosburg ansteigt. Die Fische in der Isar bei Moosburg können mit Malachitgrün belastet sein. 2019 wurden bei zwei Regenbogenforellen insgesamt 336 Mikrogramm pro Kilo festgestellt. Fauna und Flora Der Bestand von Fauna und Flora hängt direkt mit der Gestaltung der Flusslandschaft zusammen, auf die der Mensch seit dem 19. Jahrhundert starken Einfluss nimmt. Durch Aufstauungen an zahlreichen Wehren wurde die Fließgeschwindigkeit stark herabgesetzt, was auch zur Erhöhung der Wassertemperatur führte. Fischarten, die sauerstoffreiches und kühleres Wasser als Lebensraum benötigen, wurden durch Arten aus dem Stillwasserbereich verdrängt. Durch die verringerte Fließgeschwindigkeit werden auch die Kiesbänke nur noch selten umgeschichtet, so dass diese zuwachsen. Vogelarten, die offene Kiesflächen als Brutplatz benötigen, finden hier keinen Lebensraum mehr. Durch verschiedene Maßnahmen wie die Ausweisung von Naturschutzgebieten, das Einrichten von verbesserten Fischpässen an Stauwehren oder das Erhöhen der Restwassermenge werden neue Rahmenbedingungen geschaffen, um die Lebensbedingungen für viele zum Teil seltene Tierarten und Pflanzen zu verbessern. Neuere Untersuchungen an der Ammer (Amper) belegen allerdings auch, dass der Rückgang des Äschenbestandes mit der ansteigenden Population der Gänsesäger zusammenhängt. Dieser als gefährdet eingestufte Entenvogel hat sich auf die Jagd nach kleinen Fischen spezialisiert. Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, ein ursprünglich vorhandenes ökologisches Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn dieses nachhaltig gestört wurde. Ein vergleichbarer Zusammenhang zwischen den geschützten Kormoranen und den Fischbeständen führt immer wieder zu Diskussionen zwischen Fischereivereinen und Vogelschützern. 1976 wurde der Biber im Isardelta wieder angesiedelt. Von dort aus breiteten die Tiere sich flussaufwärts aus. Ein Exemplar lebte sogar jahrelang mitten in München unmittelbar am Deutschen Museum. Auch nach dem August-Hochwasser 2005 konnte man frische Biberbiss-Spuren an Bäumen in Isarnähe sehen. Ein Teil der typischen Isarfische ist in seinem Bestand bedroht, wie zum Beispiel der Huchen oder der Wels. Neben diesen Arten kommen in der Isar vor allem Forellen und Barsche sowie Koppe, Hecht, Nerfling, Rotauge, Rotfeder, Rutte, Schleie, Barbe und Zander vor. Als einer der bedeutendsten Nebenflüsse der Donau lassen sich im unteren Flussbereich der Isar typische Fischarten der Donau nachweisen, so beispielsweise das Donaubachneunauge oder der Sterlet. Die Verbreitung des Donaubachneunauges in Deutschland ist unter Wissenschaftlern allerdings umstritten; möglicherweise handelt es sich hier um eine Verwechslung mit dem Ukrainischen Bachneunauge. Insgesamt sind etwa 50 einheimische Fischarten bekannt. Von der Quelle bis zur Mündung lässt sich die Isar in drei Flussregionen aufteilen: die Forellenregion von der Quelle bis Lenggries, die Äschenregion von Lenggries bis Moosburg und die Barbenregion von Moosburg bis zur Mündung. Neben verbreiteten Vögeln wie Möwen, Schwänen oder Stockenten bietet die Isar auch anderen, weniger häufig vorkommenden Arten einen Lebensraum. So lassen sich Wasseramsel, Eisvogel, Graureiher und Flussregenpfeifer beobachten. Selten geworden sind die Fluss-Seeschwalbe und der Flussuferläufer; sie gelten als gefährdet. Ihre Nester liegen sehr gut getarnt inmitten des Gerölls der Kiesbänke und werden von Erholungssuchenden, die trotz Verbots die Kiesflächen (ausgewiesene Vogelschutzgebiete) betreten, meist nicht wahrgenommen. So werden die dort brütenden Vögel besonders während der Brutzeit massiv und nachhaltig gestört. Die als Vogelschutzgebiet gekennzeichneten Bereiche dürfen jeweils im Zeitraum vom 15. März bis zum 10. August nicht betreten werden. Vor allem im Ufer- und Böschungsbereich, aber auch auf den Kiesbänken kommen neben Wasserfröschen und Zauneidechsen auch Blindschleichen vor. Die Schlangen sind durch die Kreuzotter sowie durch die Ringel- und die Schlingnatter vertreten. In den noch verbliebenen natürlichen Lebensräumen und Auenlandschaften kommen vor allem an der unteren Isar die gefährdeten Amphibienarten Wechselkröte, Kreuzkröte, Europäischer Laubfrosch und Springfrosch vor. Eine Besonderheit stellt der in Bayern vom Aussterben bedrohte Moorfrosch dar, von dem im Isarmündungsgebiet noch eine kleine isolierte Population vorkommt. Besonders im oberen, aber teilweise auch im mittleren Flussabschnitt entstehen durch Bodenerosion und Sedimentation immer wieder neue Flussaufschüttungen. Diese noch offenen Schotterflächen werden zuerst von Pionierpflanzen besiedelt, welche mit den schwierigen Bedingungen dort gut zurechtkommen; dazu gehören das Alpen-Leinkraut, das gelb blühende Habichtskraut und die Deutsche Tamariske. Wird eine Kiesbank nicht von Hochwasser wieder abgetragen, siedeln sich nach einigen Jahren auch Weiße Silberwurz, Wacholder und schließlich auch verschiedene Weidenarten an. Bei einer weiteren Entwicklung entstehen so nach und nach lichte Kiefernwälder. Wirtschaft Die Isar hat keine Bedeutung für die Binnenschifffahrt und somit für den Warenverkehr, da der Fluss über seinen gesamten Verlauf hinweg nicht schiffbar ist. Früher wurden auf der Isar Holz und andere Güter in beträchtlichen Mengen von Mittenwald über München bis an die Donau geflößt. Seit dem Aufkommen von Eisenbahn und Kraftfahrzeugen wird dieser Transportweg so gut wie nicht mehr genutzt. Parallel zum Fluss entstand die Isartalbahn im südlichen Bereich und die Bahnstrecke München–Landshut–Plattling im nördlichen Bereich. Erhebliche wirtschaftliche Bedeutung erlangt der Fluss durch seine Wasserkraft, die zur Stromerzeugung unter anderem durch die Isar-Amper-Werke genutzt wird. Der Umfang der so erzeugten Energie erreicht allerdings nicht einmal mehr ein Prozent des heutigen Strombedarfes in Bayern. Durch die Kühlung des Kernkraftwerks Isar trug die Isar jedoch indirekt zur Energieerzeugung in großem Umfang bei; als noch beide Kernkraftwerksblöcke in Betrieb waren, deckten sie etwa 40 Prozent des bayerischen Strombedarfs. Energie Herkömmliche Wasserkraftwerke benötigen einen gleichmäßig hohen Wasserstand, damit die Energieerzeugung in niederschlagsarmen Monaten nicht zum Erliegen kommt. Dies wurde durch den Bau von mehreren Kanälen sichergestellt, die den Verlauf der Isar begleiten und den größeren Anteil des Flusswassers mit sich führen. Südlich von München versorgt der Mühltalkanal das Wasserkraftwerk Mühltal mit Wasser. Im Stadtgebiet von München liegen am Isar-Werkkanal drei zwischen 1900 und 1930 erbaute Kraftwerke (Isarwerke 1–3) der Stadtwerke München sowie zwei Kraftwerke von E.ON. Aus dem Werkkanal wird bei der Marienklause das Wasser für den Auer Mühlbach ausgeleitet, an dem drei weitere, kleinere Wasserkraftwerke liegen. Am Stauwehr Oberföhring am Nordrand von München zweigt der Mittlere-Isar-Kanal Richtung Erding ab und fließt erst nach über 60 Kilometern wieder zurück ins Flussbett. Ein Kraftwerk am Stauwehr mit einer Leistung von einem Megawatt nutzt das in der Isar verbleibende Wasser. Die Kraftwerke entlang der Isar erzeugen im Durchschnitt etwa zwei Milliarden Kilowattstunden elektrische Energie im Jahr. Auch der Sylvensteinsee, der 1956 als Hochwasserschutz südlich von Bad Tölz fertiggestellt wurde, wird zur Energiegewinnung genutzt. Der Stausee ist in der Lage, maximal 124 Millionen Kubikmeter Wasser zwischenzuspeichern. Das Kernkraftwerk Isar östlich von Landshut nutzte das Wasser der Isar zur Kühlung. Durch die Kühlung des Reaktors von Isar II verdunsteten 800 Liter Flusswasser pro Sekunde im Kühlturm; die markante Wasserdampffahne war oft über 100 km hinweg aus den Bayerischen Alpen zu sehen. Bei der Kühlung des 2011 stillgelegten Siedewasserreaktors von Isar I ging i. d. R. kein Wasser für den Fluss verloren, da es um drei Grad Celsius erwärmt wieder in das Flussbett zurückgeleitet wurde. Aus diesem Grund wurde die vorhandene Zellenkühleranlage erweitert und 2009 in Betrieb genommen. Tourismus Neben der bayerischen Landeshauptstadt und einer Reihe weiterer sehenswerter Städte entlang der Isar sind zahlreiche Isarlandschaften und Naturschutzgebiete von touristischer Bedeutung: So zum Beispiel der Isarwinkel oder die Pupplinger Au südlich von München. Vom Ursprung bis zur Mündung wird die Isar vom Isarradweg, einem relativ einfach zu fahrenden Fernradweg, begleitet. Seit einigen Jahrzehnten erlebt auch die Flößerei eine Renaissance im touristischen Sektor. Jährlich fahren in den Sommermonaten bis zu 50.000 Touristen auf großen, bis zu 20 Tonnen schweren Flößen von Wolfratshausen über eine Strecke von 25 Kilometern bis zum Floßkanal in München-Thalkirchen. Die Wehre der Kraftwerke werden dabei durch Schleusenrutschen überwunden. Die Rutsche im Mühltal südlich vom Kloster Schäftlarn überwindet auf einer Länge von 360 Metern rund 18 Höhenmeter und gilt damit als die längste Floßgasse der Welt. Die mit Musikkapelle, Tischen und Bänken, Bewirtungsmöglichkeit mit Bier und Brotzeit und auch einer Bordtoilette ausgestatteten Flöße werden nach der Ankunft am Zielort in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, auf Lkws flussaufwärts gebracht und dort für die nächste Fahrt wieder zusammengesetzt. Das Befahren der Isar mit Kanus oder ähnlich kleinen und wendigen Booten ist über Teilstrecken problemlos möglich. Allerdings stellt die aktuell (2018) steigende Zahl solcher Flussfahrten für Flora und Fauna ein Problem dar. Bei hoher Wasserführung können an der Wittelsbacher Brücke in München Stehende Wellen zum Flusssurfen oder Playboating genutzt werden. An einigen Stellen entlang der Isar wird nackt gebadet, so beispielsweise nördlich von Wolfratshausen im Bereich der Pupplinger Au. Im südlichen Stadtgebiet von München sind sogar FKK-Gelände offiziell ausgewiesen. Viele Münchner lassen sich allerdings – unabhängig von offiziellen Ausweisungen – auch im inneren Stadtbereich nackt am Ufer oder auf den Kiesinseln von der Sonne bräunen. Die Isar in Kunst, Literatur und Musik Die ältesten Darstellungen der Isar entstanden vor religiösem Hintergrund. So stellt ein Altarbild aus dem Jahre 1480 in der Jakobskirche in Lenggries das Martyrium des Apostels Jakobus dar. Der unbekannte Künstler verlegte die Enthauptung, die in Jerusalem stattfand, an das Ufer der Isar. Im 19. Jahrhundert entdeckten Künstler der Münchner Schule - wie Wilhelm Scheuchzer, Joseph Wenglein und Wilhelm von Kobell – die Isar als Motiv für ihre Bilder. Dank der realistischen Darstellung der Motive haben ihre Gemälde auch einen historischen Wert für die Dokumentation der Flussumgebung vor ihrer massiven Verbauung. In seinem Heimatroman Der Jäger von Fall setzte Ludwig Ganghofer den Bewohnern des Isarwinkels ein Denkmal für ihre Heimatliebe und machte damit auch die Flusslandschaft der Isar überregional bekannt. Aber auch die neuere Literatur enthält Geschichten und Fakten über den Alpenfluss. Carmen Rohrbach beschreibt in ihrem Buch Der grüne Fluss eindrucksvoll ihre Wanderung von den Quellen bis zur Flussmündung. Der Liedermacher und bayrische Bluessänger Willy Michl schildert in seiner Hymne Isarflimmern die Schönheit des Alpenflusses: „(…) Sommersonne auf weißem Kies, daneben der smaragdgrüne Fluss, wenn dann noch die Zeit still steht – dann ist das Isarflimmern im Paradies.“ In der Hymne „Isarmärchen“ der Münchner Volkssängerin Bally Prell findet sich eine Liebeserklärung an die Isar, die prägend die bayerische Landeshauptstadt durchzieht. So lautet der Refrain: „… und wenn der blaue Himmel lacht … rauscht die Isar ihr uraltes Liedlein dazu, schön wie ein Märchen, mein München bist Du“. Der Münchner Komponist Quirin Amper Jr. beschreibt den Verlauf des Flusses in seiner Suite für großes Orchester, volkstümliche Gruppen und Erzähler Die Isar von der Quelle bis zur Mündung in die Donau. Mit der Buch- und Veranstaltungsreihe „Die neue Isar“ hat Ralf Sartori im Rahmen des „Nymphenspiegel Kulturforums“ ein umfassendes Isar-Kulturprojekt initiiert, das mittels der auf unbegrenzte Dauer angelegten Isarbuchreihe, die Isar ganzheitlich – literarisch und fachlich – durch Beiträge einer Vielzahl hochkarätiger und wechselnder Autoren reflektiert, in Form eines Buchflusses, der jährlich mit einem weiteren Isarband erscheint. Flankiert wird diese Reihe durch eine Vielzahl von Isarführungen, Isarfesten und Kunstprojekten am Fluss. Literatur Stadt Dingolfing (Hrsg.): Die Isar. Landschaft, Stadt, Kultur. Ausstellungskatalog, Dingolfing 2005. Christian Magerl, Detlev Rabe (Hrsg.): Die Isar. Wildfluss in der Kulturlandschaft. Kiebitz Buch, Vilsbiburg 1999, ISBN 3-9804048-5-4. Bernhard Setzwein: An den Ufern der Isar – Ein bayerischer Fluss und seine Geschichte. Koehler und Amelang, München/Berlin 1993, ISBN 3-7338-0174-1. Franz X. Bogner. Die Isar aus der Luft. Rosenheimer Verlag, Rosenheim 2008, ISBN 978-3-475-53969-5. Walter Binder: Flusslandschaft Isar im Wandel der Zeit. Bayerisches Landesamt für Umwelt, 2011. Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft: Flusslandschaft Isar von der Landesgrenze bis Landshut – Leitbilder, Entwicklungsziele, Maßnahmenhinweise. 2001, ISBN 3-930253-85-2. Christine Rädlinger: Neues Leben für die Isar: von der Regulierung zur Renaturierung der Isar in München. Hrsg. Landeshauptstadt München, Baureferat, Franz Schiermeier Verlag, München 2012, ISBN 978-3-9814521-5-0. Christine Rädlinger (mit Beiträgen von Karl Hafner, Matthias Junge und Adele Nebel): Geschichte der Isar in München. Hrsg. Stadtarchiv München, Franz Schiermeier Verlag, München 2012, ISBN 978-3-943866-11-7. Christian Pehlemann: Isar-Aspekte. Von der Quelle, Oberen Isar über München zur Isar-Mündung. Druckerei & Verlag Steinmeier, ISBN 978-3-939777-66-3. Peter Klimesch: Münchner Isarbuch. 4. erweiterte Auflage 2020, ISBN 978-3-00-058337-7. GDT Gesellschaft für Naturfotografie: Wilde Isar. Naturschätze zwischen Hochgebirge, Stadt und Auenlandschaft. Knesebeck Verlag, München 2020, ISBN 978-3-95728-445-7. Weblinks Homepage des Isartalvereins Isargeschichten - Virtuelles Museum zur Geschichte der Isar Wasserwirtschaftsamt München Hochwassernachrichtendienst: Wasserstände der Isar Wasserwirtschaftsamt Landshut Zeitgenössischer Stummfilm über den Ausbau des Kraftwerkes der Mittleren Isar bei München Kleiner Fluss, große Geschichten Isar-Kaleidoskop auf BR.de Einzelnachweise Fluss in Europa Fluss in Bayern Fluss in Tirol Karwendel Fließgewässer im Landkreis Garmisch-Partenkirchen Fließgewässer im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen Fließgewässer im Landkreis München Fließgewässer im Landkreis Freising Gewässer im Landkreis Landshut Gewässer im Landkreis Dingolfing-Landau Gewässer im Landkreis Deggendorf
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https://de.wikipedia.org/wiki/Merkur%20%28Planet%29
Merkur (Planet)
Der Merkur ist mit einem Durchmesser von knapp 4880 Kilometern der kleinste, mit einer durchschnittlichen Sonnenentfernung von etwa 58 Millionen Kilometern der sonnennächste und somit auch schnellste Planet im Sonnensystem. Er hat mit einer maximalen Tagestemperatur von rund +430 °C und einer Nachttemperatur bis −170 °C die größten Oberflächen-Temperaturschwankungen aller Planeten. Aufgrund seiner Größe und seiner chemischen Zusammensetzung zählt er zu den erdähnlichen Planeten. Wegen seiner Sonnennähe ist er von der Erde aus schwer zu beobachten, da er nur einen maximalen Winkelabstand von etwa 28° von der Sonne erreicht. Freiäugig ist er nur maximal eine Stunde lang entweder am Abend- oder am Morgenhimmel zu sehen, teleskopisch hingegen auch tagsüber. Details auf seiner Oberfläche sind ab einer Fernrohröffnung von etwa 20 cm zu erkennen. In 46 % der Zeit ist Merkur der am nächsten bei der Erde befindliche Planet. Benannt ist der Merkur nach dem Götterboten Mercurius, dem römischen Gott der Händler und Diebe. Sein astronomisches Symbol ist ☿. Himmelsmechanik Umlaufbahn Als sonnennächster Planet hat Merkur auf einer Umlaufbahn mit der großen Halbachse von 0,387 AE (57,9 Mio. km) – bei einer mittleren Entfernung zum Sonnenzentrum von 0,403 AE (60,4 Mio. km) – mit knapp 88 Tagen auch die kürzeste Umlaufzeit. Mit einer numerischen Exzentrizität von 0,2056 ist die Umlaufbahn des Merkur stärker elliptisch als die aller anderen großen Planeten des Sonnensystems. So liegt sein sonnennächster Punkt, das Perihel, bei 0,307 AE (46,0 Mio. km) und sein sonnenfernster Punkt, das Aphel, bei 0,467 AE (69,8 Mio. km). Ebenso ist die Neigung seiner Bahnebene gegen die Erdbahnebene mit 7° größer als die aller anderen Planeten. Eine dermaßen hohe Exzentrizität und Bahnneigung sind ansonsten eher typisch für Zwergplaneten wie Pluto und Eris. Periheldrehung Für eine komplette Periheldrehung von 360° benötigt der Merkur rund 225.000 Jahre bzw. rund 930.000 Umläufe und erfährt so je Umlauf ein um rund 1,4″ gedrehtes Perihel. Bereits die newtonsche Mechanik sagt voraus, dass der gravitative Einfluss der anderen Planeten das Zweikörpersystem Sonne-Merkur stört. Durch diese Störung führt die große Bahnachse der Merkurbahn eine langsame rechtläufige Drehung in der Bahnebene aus. Der Merkur durchläuft also streng genommen keine Ellipsen-, sondern eine Rosettenbahn. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Astronomen in der Lage, diese Veränderungen, insbesondere die Lage des Merkurperihels, mit großer Genauigkeit zu messen. Urbain Le Verrier, der damalige Direktor des Pariser Observatoriums, bemerkte, dass die Präzession (Drehung) des Perihels für Merkur 5,74″ (Bogensekunden) pro Jahr beträgt. Dieser Wert konnte allerdings nicht völlig mit der klassischen Mechanik von Isaac Newton erklärt werden. Laut der newtonschen Himmelsmechanik dürfte er nur 5,32″ betragen, der gemessene Wert ist also um 0,43″ pro Jahr zu groß, der Fehler beträgt also 0,1″ (bzw. 29 km) pro Umlauf. Darum vermutete man neben einer verursachenden Abplattung der Sonne noch einen Asteroidengürtel zwischen dem Merkur und der Sonne oder einen weiteren Planeten, der für diese Störungen verantwortlich sein sollte. Die Existenz dieses weiteren Planeten galt als so wahrscheinlich, dass mit Vulkan bereits ein Name festgelegt wurde. Dennoch konnte trotz intensiver Suche kein entsprechendes Objekt innerhalb der Merkurbahn gefunden werden. Dies wurde zunächst auf die große Nähe zur Sonne zurückgeführt, die eine visuelle Entdeckung des Planeten erschwerte, da die Sonne ihn überstrahlte. Die Suche nach Vulkan erübrigte sich erst dann vollständig, als die Allgemeine Relativitätstheorie die systematische Abweichung zwischen der berechneten und der beobachteten Bahn nicht mit einem zusätzlichen Massenkörper erklärte, sondern mit relativistischer Verzerrung der Raumzeit in Sonnennähe. Der anhand der ART berechnete Überschuss von 43,03″ (Unsicherheit: 0,03″) je Jahrhundert stimmt gut mit der beobachteten Differenz von 42,96″ (Unsicherheit: 0,94″) überein. Schwarzschildradius der Sonne Halbparameter der Merkurbahn große Halbachse der Merkurbahn numerische Exzentrizität der Merkurbahn Mögliche zukünftige Entwicklung Konstantin Batygin und Gregory Laughlin von der University of California, Santa Cruz sowie davon unabhängig Jacques Laskar vom Pariser Observatorium haben durch Computersimulationen festgestellt, dass das innere Sonnensystem auf lange Sicht nicht stabil ist. In ferner Zukunft – in einer Milliarde Jahren oder mehr – könnte Jupiters Anziehungskraft Merkur aus seiner jetzigen Umlaufbahn herausreißen, indem ihr Einfluss nach und nach Merkurs große Bahnexzentrizität weiter vergrößert, bis der Planet in seinem sonnenfernsten Punkt die Umlaufbahn der Venus kreuzt. Daraufhin könnte es vier Szenarien geben: Merkur stürzt in die Sonne; er wird aus dem Sonnensystem geschleudert; er kollidiert mit der Venus oder mit der Erde. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Möglichkeiten eintrifft, bevor sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen wird, liegt jedoch nur bei rund 1 %. Rotation Die Achse von Merkurs rechtläufiger Rotation steht fast senkrecht auf seiner Bahnebene. Deswegen gibt es auf dem Merkur keine Jahreszeiten mit unterschiedlicher Tageslänge. Allerdings variiert die Sonneneinstrahlung aufgrund der Exzentrizität der Bahn beträchtlich: Im Perihel trifft etwa 2,3-mal so viel Energie von der Sonne auf die Merkuroberfläche wie im Aphel. Dieser Effekt, der beispielsweise auf der Erde wegen der geringen Exzentrizität der Bahn klein ist (7 %), führt zu Jahreszeiten auf dem Merkur. Radarbeobachtungen zeigten 1965, dass der Planet nicht, wie ursprünglich von Giovanni Schiaparelli 1889 angenommen, eine einfache gebundene Rotation besitzt, das heißt, der Sonne immer dieselbe Seite zuwendet (so, wie der Erdmond der Erde immer dieselbe Seite zeigt). Vielmehr besitzt er als Besonderheit eine gebrochen gebundene Rotation und dreht sich während zweier Umläufe exakt dreimal um seine Achse. Seine siderische Rotationsperiode beträgt zwar 58,646 Tage, aber aufgrund der 2:3-Kopplung an die schnelle Umlaufbewegung mit demselben Drehsinn entspricht der Merkurtag – der zeitliche Abstand zwischen zwei Sonnenaufgängen an einem beliebigen Punkt – auf dem Planeten mit 175,938 Tagen auch genau dem Zeitraum von zwei Sonnenumläufen. Nach einem weiteren Umlauf geht die Sonne dementsprechend am Antipodenort auf. Durchläuft der Merkur den sonnennächsten Punkt seiner ziemlich stark exzentrischen Bahn, das Perihel, steht das Zentralgestirn zum Beispiel immer abwechselnd über dem Calorisbecken am 180. Längengrad oder über dessen chaotischem Antipodengebiet am Nullmeridian im Zenit. Während des Merkurs höchsten Bahngeschwindigkeiten im Perihelbereich ist die Winkelgeschwindigkeit seiner Bahnbewegung größer als die seiner Rotation, sodass die Sonne am Merkurhimmel eine rückläufige Schleifenbewegung vollführt. Zur Erklärung der Kopplung von Rotation und Umlauf wird unter Caloris Planitia (der „heißen“ Tiefebene) eine Massekonzentration ähnlich den sogenannten Mascons der großen, annähernd kreisförmigen Maria des Erdmondes, angenommen, an der die Gezeitenkräfte der Sonne die vermutlich einst schnellere Eigendrehung des Merkurs zu dieser ungewöhnlichen Resonanz heruntergebremst haben. Planet ohne Mond Der Merkur hat keinen Mond. Die Existenz eines solchen wurde auch niemals ernsthaft in Erwägung gezogen. Es besteht jedoch seit Mitte der 1960er Jahre von verschiedenen Wissenschaftlern die Hypothese, dass der Merkur selbst einmal ein Mond der Venus war. Anlass zu der Annahme gaben anfangs nur einige Besonderheiten seiner Umlaufbahn. Später kamen seine spezielle Rotation sowie die zum Erdmond analoge Oberflächengestalt von zwei auffallend unterschiedlichen Hemisphären hinzu. Mit dieser Annahme lässt sich auch erklären, warum die beiden Planeten als einzige im Sonnensystem mondlos sind. Am 27. März 1974 glaubte man, einen Mond um den Merkur entdeckt zu haben. Zwei Tage, bevor Mariner 10 den Merkur passierte, fing die Sonde an, starke UV-Emissionen zu messen, die kurz darauf aber wieder verschwanden. Drei Tage später tauchten die Emissionen wieder auf, schienen sich aber vom Merkur fortzubewegen. Einige Astronomen vermuteten einen neu entdeckten Stern, andere wiederum einen Mond. Die Geschwindigkeit des Objekts wurde mit 4 km/s berechnet, was etwa dem erwarteten Wert eines Merkurmondes entsprach. Einige Zeit später konnte das Objekt schließlich als Stern 31 Crateris identifiziert werden. Aufbau Merkur gleicht äußerlich dem planetologisch-geologisch inaktiven Erdmond, doch das Innere entspricht anscheinend viel mehr dem der geologisch sehr dynamischen Erde. Atmosphäre Der Merkur hat keine Atmosphäre im herkömmlichen Sinn, denn sie ist dünner als ein labortechnisch erreichbares Vakuum, ähnlich wie die Atmosphäre des Mondes. Die „atmosphärischen“ Bestandteile Wasserstoff H2 (22 %) und Helium (6 %) stammen sehr wahrscheinlich aus dem Sonnenwind, wohingegen Sauerstoff O2 (42 %), Natrium (29 %) und Kalium (0,5 %) vermutlich aus dem Material der Oberfläche freigesetzt wurden (die Prozentangaben sind ungenaue Schätzungen für die Volumenanteile der Gase). Der Druck der Gashülle beträgt nur etwa 10−15 Bar am Boden von Merkur und die Gesamtmasse der Merkuratmosphäre damit nur etwa 1000 Kilogramm. Aufgrund der hohen Temperaturen und der geringen Anziehungskraft kann der Merkur die Gasmoleküle nicht lange halten, sie entweichen durch Photoevaporation stets schnell ins All. Bezogen auf die Erde wird jener Bereich, für den dies zutrifft, Exosphäre genannt; es ist die Austauschzone zum interplanetaren Raum. Eine ursprüngliche Atmosphäre als Entgasungsprodukt des Planeteninnern ist dem Merkur längst verloren gegangen; es gibt auch keine Spuren einer früheren Erosion durch Wind und Wasser. Allerdings enthält die Exosphäre geringe Anteile von Wasserdampf, wie Messungen der Merkur-Sonde Messenger zwischen 2011 und 2015 ergaben. Er könnte entweder aus den Schweifen vorbeiziehender Kometen oder aus den Wassereisvorkommen auf den Böden von Kratern in den Polarregionen des Planeten stammen. Das Fehlen einer richtigen Gashülle, welche für einen gewissen Ausgleich der Oberflächentemperaturen sorgen würde, bedingt in dieser Sonnennähe extreme Temperaturschwankungen zwischen der Tag- und der Nachtseite. Gegenüber den Nachttemperaturen, die bis auf −173 °C sinken, wird die während des geringsten Sonnenabstands beschienene Planetenseite bis auf +427 °C aufgeheizt. Während des größten Sonnenabstands beträgt die höchste Bodentemperatur bei der großen Bahnexzentrizität des Merkur noch rund +250 °C. Oberfläche Wegen der schwierigen Erreichbarkeit auf der sonnennahen Umlaufbahn und der damit verbundenen Gefahr durch den intensiveren Sonnenwind haben bislang erst zwei Raumsonden, Mariner 10 und Messenger, den Planeten besucht und eingehender studiert. Bei drei Vorbeiflügen in den 1970er Jahren konnte Mariner 10 lediglich etwa 45 % seiner Oberfläche kartieren. Die Merkursonde Messenger hatte gleich bei ihrem ersten Vorbeiflug im Januar 2008 auch einige von Mariner 10 nicht erfasste Gebiete fotografiert und konnte die Abdeckung auf etwa 66 % erhöhen. Mit ihrem zweiten Swing-by im Oktober 2008 stieg die Abdeckung auf rund 95 %. Die mondähnliche, von Kratern durchsetzte Oberfläche aus rauem, porösem, dunklem Gestein reflektiert das Sonnenlicht nur schwach. Die mittlere sphärische Albedo beträgt 0,06, das heißt, die Oberfläche streut im Durchschnitt 6 % des von der Sonne praktisch parallel eintreffenden Lichtes zurück. Damit ist der Merkur im Mittel noch etwas dunkler als der Mond (0,07). Anhand der zerstörerischen Beeinträchtigung der Oberflächenstrukturen untereinander ist, wie auch bei Mond und Mars, eine Rekonstruktion der zeitlichen Reihenfolge der prägenden Ereignisse möglich. Es gibt in den abgelichteten Gebieten des Planeten keine Anzeichen von Plattentektonik; Messenger hat aber zahlreiche Hinweise auf vulkanische Eruptionen gefunden. Krater Die Oberfläche des Merkur ist mit Kratern übersät. Die Verteilung der Einschlagstrukturen ist gleichmäßiger als auf dem Mond und dem Mars; demnach ist das Alter seiner Oberfläche gleichmäßig sehr hoch. Mit ein Grund für die hohe Kraterdichte ist die äußerst dünne Atmosphäre, die ein ungehindertes Eindringen von Kleinkörpern gestattet. Die große Anzahl der Krater je Fläche – ein Maß für das Alter der Kruste – spricht für eine sehr alte, das heißt, seit der Bildung und Verfestigung des Merkurs von vor etwa 4,5 bis vor ungefähr 4 Milliarden Jahren sonst wenig veränderte Oberfläche. Wie auch beim Mond zeigen die Krater des Merkurs ein weiteres Merkmal, das für eine durch Impakt entstandene Struktur als typisch gilt: Das hinausgeschleuderte und zurückgefallene Material, das sich um den Krater herum anhäuft; manchmal in Form von radialen Strahlen, wie man sie auch als Strahlensysteme auf dem Mond kennt. Sowohl diese speichenartigen Strahlen als auch die Zentralkrater, von denen sie jeweils ausgehen, sind aufgrund des relativ geringen Alters heller als die Umgebung. Die ersten Beobachtungen der Strahlen des Merkurs machte man mit den Radioteleskopen Arecibo und Goldstone und mithilfe des Very Large Array (VLA) des nationalen Radioobservatoriums der Vereinigten Staaten (siehe auch Astrogeologie). Der erste Krater, der durch die Raumsonde Mariner 10 während ihrer ersten Annäherung erkannt wurde, war der 40 km breite, aber sehr helle Strahlenkrater Kuiper (siehe Bild rechts). Der Krater wurde nach dem niederländisch-US-amerikanischen Mond- und Planetenforscher Gerard Kuiper benannt, der dem Mariner-10-Team angehörte und noch vor der Ankunft der Sonde verstarb. Nördlich des Äquators liegt Caloris Planitia, ein riesiges, kreisförmiges, aber ziemlich flaches Becken. Mit einem Durchmesser von etwa 1550 km ist es das größte bekannte Gebilde auf dem Merkur. Es wurde vermutlich vor etwa 3,8 Milliarden Jahren von einem über 100 km großen Einschlagkörper erzeugt. Der Impakt war so heftig, dass durch die seismischen Schwingungen um den Ort des Einschlags mehrere konzentrische Ringwälle aufgeworfen wurden und aus dem Innern des Planeten Lava austrat. Die von Messenger neu entdeckten vulkanischen Strukturen finden sich insbesondere im Umfeld und auch im Inneren des Beckens. Das Beckeninnere ist von dem Magma aus der Tiefe anscheinend aufgefüllt worden, ähnlich wie die Marebecken des Mondes. Den Boden des Beckens prägen viele konzentrische Furchen und Grate, die an eine Zielscheibe erinnern und ihm Ähnlichkeit mit dem annähernd vergleichbar großen Multiringsystem auf dem Mond geben, in dessen Beckenzentrum das Mare Orientale liegt. Das ziemlich flache Caloris-Becken wird von den Caloris Montes begrenzt, einem unregelmäßigen Kettengebirge, dessen Gipfelhöhen lediglich etwa 1 km erreichen. Ebenen Auch andere flache Tiefebenen ähneln den Maria des Mondes. Mare (Mehrzahl: Maria, deutsch ‚Meere‘) ist in der Selenologie – der „Geologie“ des Erdtrabanten – der lateinische Gattungsname für die glatten und dunklen Basaltflächen, die zahlreiche Krater und Becken des Mondes infolge von aus Bodenspalten emporgestiegener und erstarrter Lava ausfüllen. Die glatten Ebenen des Merkurs sind aber nicht dunkel wie die „Mondmeere“. Insgesamt sind sie anscheinend auch kleiner und weniger zahlreich. Sie liegen alle auf der Nordhalbkugel im Umkreis des Caloris-Beckens. Ihre Gattungsbezeichnung ist Planitia, lateinisch für Tiefebene. Dass sich die mareähnlichen Ebenen auf dem Merkur nicht wie die Maria des Mondes mit einer dunkleren Farbe von der Umgebung abheben, wird mit einem geringeren Gehalt an Eisen und Titan erklärt. Damit ergibt sich jedoch ein gewisser Widerspruch zu der hohen mittleren Dichte des Planeten, die für einen verhältnismäßig sehr großen Metallkern spricht, der vor allem aus Eisen besteht. Dunkle Böden wurden durch Messenger im Caloris-Becken nur als Füllung kleinerer Krater gefunden, und obwohl für deren Material ein vulkanischer Ursprung vermutet wird, zeigen die Messdaten, anders als bei solchem Gestein zu erwarten ist, ebenfalls nur einen sehr geringen Anteil an Eisen. Das Metall ist in Merkurs Oberfläche zu höchstens 6 Prozent enthalten. Besonderheiten Zwei Formationen findet man ausschließlich auf der Merkuroberfläche: Erstens ein eigentümlich chaotisch wirkendes Gelände unregelmäßig geformter, bis etwa 1 km hoher Hügel, das von Tälern zerschnitten ist, das sich dem Caloris-Becken genau gegenüber befindet. Als Entstehungsursache wird eine Bündelung der seismischen Schwingungen des großen Einschlages angenommen, durch die das ursprüngliche Relief des Antipodengebietes zerstört wurde. Das betroffene Gebiet ist etwa fünfmal so groß wie Deutschland und ist demnach mindestens von gleicher Größe wie das nur zu rund einem Drittel erkundete Caloris-Becken. Zweitens bis zu mehrere hundert Kilometer lange Steilstufen, die die größten Höhenunterschiede (2 km) auf dem Merkur aufweisen. Diese Strukturen werden in der Astrogeologie als Rupes (lat. Böschung, Steilwand) bezeichnet. Sie ziehen sich in sanften Windungen quer durch Ebenen und Krater. Es handelt sich um Überschiebungen der Kruste. Die dadurch seitlich versetzten Kraterteile zeigen an, dass sie auch horizontal gegeneinander verschoben wurden. Diese Überschiebungen sind vermutlich durch ein Schrumpfen des gesamten Planeten entstanden. Der in der Planetengeologie profilierte amerikanische Geologe Robert G. Strom hat den Umfang der Schrumpfung der Merkuroberfläche auf etwa 100.000 km² abgeschätzt. Das entspricht einer Verringerung des Planetenradius um bis zu etwa 2 km. Neuere Schätzungen, die wesentlich auf den Messungen der Raumsonde Messenger beruhen, kommen auf einen deutlich höheren Wert von etwa 7 km Kontraktion. Als Ursache der Kontraktion wird die Abkühlung des Planeten im Anschluss an eine heiße Phase seiner Entstehung gesehen, in der er ähnlich wie die Erde und der Mond von vielen großen Asteroideneinschlägen bis zur Glutflüssigkeit aufgeheizt worden sein soll. Dieser Abschnitt der Entwicklung nahm demnach erst vor etwa 3,8 Milliarden Jahren mit dem „Letzten Schweren Bombardement“ seinen Ausklang, während dessen Nachlassens die Kruste langsam auskühlen und erstarren konnte. Einige der gelappten Böschungen wurden offenbar durch die ausklingende Bombardierung wieder teilweise zerstört. Das bedeutet, dass sie entsprechend älter sind als die betreffenden Krater. Der Zeitpunkt der Merkurschrumpfung wird anhand des Grades der Weltraum-Erosion – durch viele kleinere, nachfolgende Einschläge – vor ungefähr 4 Milliarden Jahren angenommen, also während der Entstehung der mareähnlichen Ebenen. Laut einer alternativen Hypothese sind die tektonischen Aktivitäten während der Kontraktionsphase auf die Gezeitenkräfte der Sonne zurückzuführen, durch deren Einfluss die Eigendrehung des Merkurs von einer ungebundenen, höheren Geschwindigkeit auf die heutige Rotationsperiode heruntergebremst wurde. Dafür spricht, dass sich diese Strukturen wie auch eine ganze Reihe von Rinnen und Bergrücken mehr in meridionale als in Ost-West-Richtung erstrecken. Nach der Kontraktion und der dementsprechenden Verfestigung des Planeten entstanden kleine Risse auf der Oberfläche, die sich mit anderen Strukturen, wie Kratern und den flachen Tiefebenen überlagerten – ein klares Indiz dafür, dass die Risse im Vergleich zu den anderen Strukturen jüngeren Ursprungs sind. Die Zeit des Vulkanismus auf dem Merkur endete, als die Kompression der Hülle sich einstellte, sodass dadurch die Ausgänge der Lava an der Oberfläche verschlossen wurden. Vermutlich passierte das während einer Periode, die man zwischen die ersten 700 bis 800 Millionen Jahre der Geschichte des Merkurs einordnet. Seither gab es nur noch vereinzelte Einschläge von Kometen und Asteroiden. Eine weitere Besonderheit gegenüber dem Relief des Mondes sind auf dem Merkur die sogenannten Zwischenkraterebenen. Im Unterschied zu der auch mit größeren Kratern gesättigten Mondoberfläche kommen auf dem Merkur zwischen den großen Kratern relativ glatte Ebenen mit Hochlandcharakter vor, die nur von verhältnismäßig wenigen Kratern mit Durchmessern von unter 20 km geprägt sind. Dieser Geländetyp ist auf dem Merkur am häufigsten verbreitet. Manche Forscher sehen darin die ursprüngliche, verhältnismäßig unveränderte Merkuroberfläche. Andere glauben, dass ein sehr früher und großräumiger Vulkanismus die Regionen einst geglättet hat. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich in diesen Ebenen die Reste größerer und auch vieler doppelter Ringwälle gleich solchen des Mondes noch schwach abzeichnen. Möglichkeit des Vorhandenseins von Eis und kleinen organischen Molekülen Für die Polregionen des Merkurs lassen die Ergebnisse von Radaruntersuchungen die Möglichkeit zu, dass dort kleine Mengen von Wassereis existieren könnten. Da des Merkurs Rotationsachse mit 0,01° praktisch senkrecht auf der Bahnebene steht, liegt das Innere einiger polnaher Krater stets im Schatten. In diesen Gebieten ewiger Nacht sind dauerhafte Temperaturen von −160 °C möglich. Solche Bedingungen können Eis konservieren, das z. B. durch eingeschlagene Kometen eingebracht wurde. Die hohen Radar-Reflexionen können jedoch auch durch Metallsulfide oder durch die in der Atmosphäre nachgewiesenen Alkalimetalle oder andere Materialien verursacht werden. Im November 2012 veröffentlichte Messungen der Raumsonde Messenger weisen auf Wassereis im Inneren von Kratern am Merkurnordpol hin, die ständig im Schatten liegen. Außerdem wurden Spuren von organischen Molekülen (einfache Kohlenstoff- und Stickstoffverbindungen) gefunden. Da diese Moleküle als Grundvoraussetzungen für die Entstehung von Leben gelten, rief diese Entdeckung einiges Erstaunen hervor, da dies auf dem atmosphärelosen und durch die Sonne intensiv aufgeheizten Planeten nicht für möglich gehalten worden war. Es wird vermutet, dass diese Spuren an Wasser und organischer Materie durch Kometen, die auf dem Merkur eingeschlagen sind, eingebracht wurden. Indizien im Detail Die Radiowellen, die vom Goldstone-Radioteleskop des NASA Deep Space Network ausgesandt wurden, hatten eine Leistung von 450 Kilowatt bei 8,51 Gigahertz; die vom VLA mit 26 Antennen empfangenen Radiowellen ließen helle Punkte auf dem Radarschirm erscheinen, Punkte, die auf depolarisierte Reflexionen von Wellen vom Nordpol des Merkurs schließen lassen. Die Studien, die mit dem Radioteleskop von Arecibo gemacht wurden, das Wellen im S-Band (2,4 GHz) mit einer Leistung von 420 kW ausstrahlte, gestatteten es, eine Karte von der Oberfläche des Merkurs anzufertigen, die eine Auflösung von 15 km hat. Bei diesen Studien konnte nicht nur die Existenz der bereits gefundenen Zonen hoher Reflexion und Depolarisation nachgewiesen werden, sondern insgesamt 20 Zonen an beiden Polen. Die erwartete Radarsignatur von Eis ist erhöhte Reflexion und stärkere Depolarisation der reflektierten Wellen. Silikatgestein, das den größten Anteil der Oberfläche ausmacht, zeigt dieses nicht. Andere Untersuchungsmethoden der zur Erde zurückgeworfenen Strahlen legen nahe, dass die Form dieser Zonen kreisförmig sind, und dass es sich deshalb um Krater handeln könnte. Am Südpol des Merkurs scheinen sich Zonen hoher Reflexion mit dem Chao Meng-Fu Krater und kleinen Gebieten zu decken, in denen ebenfalls bereits Krater identifiziert wurden. Am Nordpol gestaltet sich die Situation etwas schwieriger, weil sich die Radarbilder mit denen von Mariner 10 offenbar nicht decken lassen. Es liegt deshalb nahe, dass es Zonen hoher Reflexion geben kann, die sich nicht mit der Existenz von Kratern erklären lassen. Die Reflexionen der Radarwellen, die das Eis auf der Oberfläche des Merkurs erzeugt, sind geringer als die Reflexionen, die sich mit reinem Eis erzeugen ließen; eventuell liegt es am Vorhandensein von Staub, der die Oberfläche des Kraters teilweise überdeckt. Nomenklatur der Oberflächenstrukturen In der planetaren Nomenklatur der Internationalen Astronomischen Union (IAU) sind für die Bezeichnung von Oberflächenstrukturen auf dem Merkur folgende Konventionen festgelegt: Ferner wurde die einzige Hochebene (Catuilla Planum) nach dem quechuanischen Wort für (den Planet) Merkur benannt. Für die 32 benannten Albedomerkmale – Gebiete mit besonderem Rückstrahlvermögen – wurde ein Großteil der Namen aus der Merkurkartierung von Eugène Michel Antoniadi übernommen. Innerer Aufbau Der Merkur ist ein Gesteinsplanet wie die Venus, die Erde und der Mars und ist von allen der kleinste Planet im Sonnensystem. Sein Durchmesser beträgt mit 4878 km nur knapp 40 Prozent des Erddurchmessers. Er ist damit sogar kleiner als der Jupitermond Ganymed und der Saturnmond Titan, dafür aber jeweils mehr als doppelt so massereich wie diese sehr eisreichen Trabanten. Das Diagramm zeigt, wie stark die mittlere Dichte der erdähnlichen Planeten einschließlich des Erdmondes bei ähnlicher chemischer Zusammensetzung mit dem Durchmesser im Allgemeinen ansteigt. Der Merkur allerdings hat mit 5,427 g/cm³ fast die Dichte der weit größeren Erde und liegt damit für seine Größe weit über dem Durchmesser-Dichte-Verhältnis der anderen. Das zeigt, dass er eine „schwerere“ chemische Zusammensetzung haben muss: Sein sehr großer Eisen-Nickel-Kern soll zu 65 Prozent aus Eisen bestehen, etwa 70 Prozent der Masse des Planeten ausmachen und einen Durchmesser von etwa 3600 km haben. Jüngere Forschungsergebnisse zeigen sogar einen Kerndurchmesser von 4100 km, rund 84 Prozent des Planetendurchmessers, womit der Kern größer als der Erdmond wäre. Auf den wohl nur 600 km dünnen Mantel aus Silikaten entfallen rund 30 Prozent der Masse, bei der Erde sind es 62 Prozent. Die Kruste ist mit einigen 10 km relativ dick und besteht überwiegend aus Feldspat und Mineralien der Pyroxengruppe, ist also dem irdischen Basalt sehr ähnlich. Die dennoch etwas höhere Gesamtdichte der Erde resultiert aus der kompressiveren Wirkung ihrer starken Gravitation. Ursache des hohen Eisengehalts Des Merkurs relativer Gehalt an Eisen ist größer als der jedes anderen großen Objektes im Sonnensystem. Als Erklärung werden verschiedene Hypothesen ins Feld geführt, die alle von einem ehemals ausgeglicheneren Schalenaufbau und einem entsprechend dickeren, metallarmen Mantel ausgehen: So geht eine Theorie davon aus, dass der Merkur ursprünglich ein Metall-Silikat-Verhältnis ähnlich dem der Chondrite, der meistverbreiteten Klasse von Meteoriten im Sonnensystem, aufwies. Seine Ausgangsmasse müsste demnach etwa das 2,25-fache seiner heutigen Masse gewesen sein. In der Frühzeit des Sonnensystems, vor etwa 4,5 Milliarden Jahren, wurde der Merkur jedoch – so wird gemutmaßt – von einem sehr großen Asteroiden mit etwa einem Sechstel dieser Masse getroffen. Ein Aufschlag dieser Größenordnung hätte einen Großteil der Planetenkruste und des Mantels weggerissen und lediglich den metallreichen Kern übrig gelassen. Eine ähnliche Erklärung wurde zur Entstehung des Erdmondes im Rahmen der Kollisionstheorie vorgeschlagen. Beim Merkur blieb jedoch unklar, weshalb nur ein so geringer Teil des zersprengten Materials auf den Planeten zurückfiel. Nach Computersimulationen von 2006 wird das mit der Wirkung des Sonnenwindes erklärt, durch den sehr viele Teilchen verweht wurden. Von diesen Partikeln und Meteoriten, die nicht in die Sonne fielen, sind demnach die meisten in den interstellaren Raum entwichen und 1 bis 2 Prozent auf die Venus sowie etwa 0,02 Prozent auf die Erde gelangt. Eine andere Theorie schlägt vor, dass der Merkur sehr früh in der Entwicklung des Sonnensystems entstanden sei, noch bevor sich die Energieabstrahlung der jungen Sonne stabilisiert hat. Auch diese Theorie geht von einer etwa doppelt so großen Ursprungsmasse des innersten Planeten aus. Als der Protostern sich zusammenzuziehen begann, könnten auf dem Merkur Temperaturen zwischen 2500 und 3500 K (Kelvin), möglicherweise sogar bis zu 10.000 K geherrscht haben. Ein Teil seiner Materie wäre bei diesen Temperaturen verdampft und hätte eine Atmosphäre gebildet, die im Laufe der Zeit vom Sonnenwind fortgerissen worden sei. Eine dritte Theorie argumentiert ähnlich und geht von einer langanhaltenden Erosion der äußeren Schichten des Planeten durch den Sonnenwind aus. Nach einer vierten Theorie wurde der Merkur kurz nach seiner Bildung von einem oder mehreren Protoplaneten gestreift, die doppelt bis viermal so schwer waren wie er – wobei er große Teile seines Gesteinsmantels verlor. Magnetfeld Trotz seiner langsamen Rotation besitzt der Merkur eine Magnetosphäre, deren Volumen etwa 5 Prozent der Magnetosphäre der Erde beträgt. Es hat mit einer mittleren Feldintensität von 450 Nanotesla an der Oberfläche des Planeten ungefähr 1 Prozent der Stärke des Erdmagnetfeldes. Die Neigung des Dipolfeldes gegen die Rotationsachse beträgt rund 7°. Die Ausrichtung der Magnetpole entspricht der Situation der Erde, das heißt, dass beispielsweise der magnetische Nordpol des Merkurs im Umkreis seiner südlichen Rotationsachse liegt. Die Grenze der Magnetosphäre befindet sich in Richtung der Sonne lediglich in einer Höhe von etwa 1000 Kilometern, wodurch energiereiche Teilchen des Sonnenwinds ungehindert die Oberfläche erreichen können. Es gibt keine Strahlungsgürtel. Insgesamt ist Merkurs Magnetfeld asymmetrisch. Es ist auf der Nordhalbkugel stärker als auf der Südhalbkugel, sodass der magnetische Äquator gegenüber dem geografischen Äquator rund 500 Kilometer nördlich liegt. Dadurch ist die Südhalbkugel für den Sonnenwind leichter erreichbar. Möglicherweise wird Merkurs Dipolfeld ganz ähnlich dem der Erde durch den Dynamo-Effekt zirkulierender Schmelzen im Metallkern erzeugt; dann müsste seine Feldstärke aber 30-mal stärker sein, als von Mariner 10 gemessen. Einer Modellrechnung zufolge (Ulrich Christensen 2007 im Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung Katlenburg-Lindau) werden große Teile eines im Inneren entstehenden, fluktuierenden Feldes durch elektrisch leitende und stabile Schichtungen des äußeren, flüssigen Kerns stark gedämpft, sodass an der Oberfläche nur ein relativ schwaches Feld übrig bleibt. Eigentlich sollte der Merkur aufgrund seiner geringen Größe – ebenso wie der wesentlich größere und bereits erstarrte Mars – seit seiner Entstehung schon längst zu stark abgekühlt sein, um in seinem Kern Eisen oder ein Eisen-Nickel-Gemisch noch flüssig halten zu können. Aus diesem Grund wurde eine Hypothese aufgestellt, welche die Existenz des Magnetfeldes als Überbleibsel eines früheren, mittlerweile aber erloschenen Dynamo-Effektes erklärt; es wäre dann das Ergebnis erstarrter Ferromagnetite. Es ist aber möglich, dass sich zum Beispiel durch Mischungen mit Schwefel eine eutektische Legierung mit niedrigerem Schmelzpunkt bilden konnte. Durch ein spezielles Auswertungsverfahren konnte bis 2007 ein Team amerikanischer und russischer Planetenforscher um Jean-Luc Margot von der Cornell-Universität anhand von Radarwellen die Rotation des Merkurs von der Erde aus genauer untersuchen und ausgeprägte Schwankungen feststellen, die mit einer Größe von 0,03 Prozent deutlich für ein teilweise aufgeschmolzenes Inneres sprechen. Entwicklungsetappen Nach der herkömmlichen Theorie zur Entstehung des Planetensystems der Sonne ist der Merkur wie alle Planeten aus einer allmählichen Zusammenballung von Planetesimalen hervorgegangen, die sich zu immer größeren Körpern vereinten. In der letzten Phase der Akkretion schluckten die größeren Körper die kleineren und in dem Bereich des heutigen Merkurorbits bildete sich binnen etwa 10 Millionen Jahren der sonnennächste Planet. Mit der Aufheizung des Protoplaneten, also des „Rohplaneten“, durch den Zerfall der radioaktiven Elemente und durch die Energie vieler großer und andauernder Einschläge während des Aufsammelns der kleineren Brocken begann das, was man mangels eines merkurspezifischen Begriffes als geologische Entwicklung bezeichnen kann. Der bis zur Glut erhitzte Körper differenzierte sich durch seine innere Gravitation chemisch in Kern, Mantel und Kruste. Mit dem Ausklingen des Dauerbombardements konnte der entstandene Planet beginnen, sich abzukühlen, und es bildete sich aus der äußeren Schicht eine feste Gesteinskruste. In der folgenden Etappe sind anscheinend alle Krater und andere Spuren der ausklingenden Akkretion überdeckt worden. Die Ursache könnte eine Periode von frühem Vulkanismus gewesen sein. Dieser Zeit wird die Entstehung der Zwischenkraterebenen zugeordnet sowie die Bildung der gelappten Böschungen durch ein Schrumpfen des Merkurs zugeschrieben. Das Ende des Schweren Bombardements schlug sich in der Entstehung des Caloris-Beckens und den damit verbundenen Landschaftsformen im Relief als Beginn der dritten Epoche eindrucksvoll nieder. In einer vierten Phase entstanden (wahrscheinlich durch eine weitere Periode vulkanischer Aktivitäten) die weiten, mareähnlichen Ebenen. Die fünfte und seit etwa 3 Milliarden Jahren noch immer andauernde Phase der Oberflächengestaltung zeichnet sich lediglich durch eine Zunahme der Einschlagkrater aus. Dieser Zeit werden die Zentralkrater der Strahlensysteme zugeordnet, deren auffällige Helligkeit als ein Zeichen der Frische angesehen werden. Die Abfolge der Ereignisse hat im Allgemeinen eine überraschend große Ähnlichkeit mit der Geschichte der Oberfläche des Mondes; in Anbetracht der ungleichen Größe, der sehr verschiedenen Orte im Sonnensystem und den damit verbundenen unterschiedlichen Bedingungen war das nicht zu erwarten. Erforschung Der Merkur ist mindestens seit der Zeit der Sumerer (3. Jahrtausend v. Chr.) bekannt. Die Griechen der Antike gaben ihm zwei Namen, Apollo, wenn er am Morgenhimmel die Sonne ankündigte, und Hermes, wenn er am Abendhimmel der Sonne hinterherjagte. Die griechischen Astronomen wussten allerdings, dass es sich um denselben Himmelskörper handelte. Nach nicht eindeutigen Quellen hat Herakleides Pontikos möglicherweise sogar schon geglaubt, dass der Merkur und auch die Venus um die Sonne kreisen und nicht um die Erde. 1543 veröffentlichte Nikolaus Kopernikus sein Werk De revolutionibus orbium coelestium (lat.: Über die Umschwünge der himmlischen Kreise), indem er die Planeten ihrer Geschwindigkeit nach in kreisförmigen Bahnen um die Sonne anordnete, womit der Merkur der Sonne am nächsten war. Die Römer benannten den Planeten wegen seiner schnellen Bewegung am Himmel nach dem geflügelten Götterboten Mercurius. Erdgebundene Erforschung Die Umlaufbahn des Merkurs bereitete den Astronomen lange Zeit Probleme. Kopernikus etwa schrieb dazu in De revolutionibus: „Der Planet hat uns mit vielen Rätseln und großer Mühsal gequält als wir seine Wanderungen erkundeten“. 1629 gelang es Johannes Kepler mithilfe von Beobachtungsdaten seines Vorgängers Tycho Brahe erstmals einen sogenannten Merkurtransit für den 7. November 1631 (auf etwa einen halben Tag genau) vorherzusagen. Als Pierre Gassendi diesen Durchgang vor der Sonne beobachten konnte, stellte er feste, dass der Merkur nicht wie von Ptolemäus im 2. Jahrhundert geschätzt ein Fünfzehntel des Sonnendurchmessers maß, sondern um ein Vielfaches kleiner war. Nach der Erfindung des Fernrohrs entdeckte Giovanni Battista Zupi im Jahre 1639, dass der Merkur Phasen zeigt wie der Mond, und bewies damit seinen Umlauf um die Sonne. Als Sir Isaac Newton 1687 die Principia Mathematica veröffentlichte und damit die Gravitation beschrieb, konnten die Planetenbahnen nun exakt berechnet werden. Der Merkur jedoch wich immer von diesen Berechnungen ab, was Urbain Le Verrier (der Entdecker des Planeten Neptun) 1859 dazu veranlasste, einen weiteren noch schnelleren sonnennäheren Planeten zu postulieren: Vulcanus. Erst Albert Einsteins Relativitätstheorie konnte diese Abweichungen in Merkurs Umlaufbahn richtig erklären. Die ersten, nur sehr vagen Merkurkarten wurden von Johann Hieronymus Schroeter skizziert. Die ersten detaillierteren Karten wurden im späten 19. Jahrhundert, etwa 1881 von Giovanni Schiaparelli und danach von Percival Lowell angefertigt. Lowell meinte, ähnlich wie Schiaparelli bei seinen Marsbeobachtungen auf dem Merkur Kanäle erkennen zu können. Besser, wenn auch immer noch sehr ungenau, war die Merkurkarte von Eugène Michel Antoniadi aus dem Jahr 1934. Antoniadi ging dabei von der geläufigen, aber irrigen Annahme aus, dass der Merkur eine gebundene Rotation von 1:1 um die Sonne aufweist. Für seine Nomenklatur der Albedomerkmale bezog er sich auf die Hermes-Mythologie. Audouin Dollfus übernahm sie großteils für seine genauere Karte von 1972. Die Internationale Astronomische Union (IAU) billigte diese Nomenklatur für heutige Merkurkarten auf der Grundlage der Naherkundung. Für die topografischen Strukturen wurde ein anderes Schema gewählt. So bekamen die den Maria des Mondes ähnlichen Tiefebenen den Namen des Gottes Merkur in verschiedenen Sprachen. Im Koordinatensystem des Merkurs werden die Längengrade von Ost nach West zwischen 0 und 360° gemessen. Der Nullmeridian wird durch den Punkt definiert, der am ersten Merkurperihel nach dem 1. Januar 1950 die Sonne im Zenit hatte. Die Breitengrade zwischen 0° und 90° werden nach Norden positiv und nach Süden negativ gezählt. Gesteinsbrocken des Merkurs, die durch den Einschlag größerer Asteroiden ins All geschleudert wurden, können als Meteoriten im Laufe der Zeit auch die Erde erreichen. Als mögliche Merkurmeteoriten werden der Enstatit-Chondrit Abee und der Achondrit NWA 7325 diskutiert. Erforschung mit Raumsonden Der Merkur gehört zu den am wenigsten erforschten Planeten des Sonnensystems. Dies liegt vor allem an den für Raumsonden sehr unwirtlichen Bedingungen in der Nähe der Sonne, wie der hohen Temperatur und intensiven Strahlung, sowie an zahlreichen technischen Schwierigkeiten, die bei einem Flug zum Merkur in Kauf genommen werden müssen. Selbst von einem Erdorbit aus sind die Beobachtungsbedingungen zu ungünstig, um den Planeten mit Teleskopen zu beobachten. Der Spiegel des Hubble-Weltraumteleskops nähme durch die Strahlung der Sonne großen Schaden, wenn er auf einen dermaßen sonnennahen Bereich ausgerichtet würde. Der mittlere Sonnenabstand des Merkurs beträgt ein Drittel desjenigen der Erde, sodass eine Raumsonde über 91 Millionen Kilometer in den Gravitationspotentialtopf der Sonne fliegen muss, um den Planeten zu erreichen. Von einem stationären Startpunkt bräuchte die Raumsonde keine Energie, um in Richtung Sonne zu fallen. Da der Start aber von der Erde erfolgt, die sich mit einer Orbitalgeschwindigkeit von 30 km/s um die Sonne bewegt, verhindert der hohe Bahndrehimpuls der Sonde eine Bewegung Richtung Sonne. Daher muss die Raumsonde eine beträchtliche Geschwindigkeitsänderung aufbringen, um in eine Hohmannbahn einzutreten, die in die Nähe des Merkurs führt. Zusätzlich führt die Abnahme der potenziellen Energie der Raumsonde bei einem Flug in den Gravitationspotentialtopf der Sonne zur Erhöhung ihrer kinetischen Energie, also zu einer Erhöhung ihrer Fluggeschwindigkeit. Wenn man dies nicht korrigiert, ist die Sonde beim Erreichen des Merkurs bereits so schnell, dass ein sicherer Eintritt in den Merkurorbit oder gar eine Landung erheblich erschwert werden. Für einen Vorbeiflug ist die hohe Fluggeschwindigkeit allerdings von geringerer Bedeutung. Ein weiteres Hindernis ist das Fehlen einer Atmosphäre; dies macht es unmöglich, treibstoffsparende Aerobraking-Manöver zum Erreichen des gewünschten Orbits um den Planeten einzusetzen. Stattdessen muss der gesamte Bremsimpuls für einen Eintritt in den Merkurorbit mittels der bordeigenen Triebwerke durch eine Extramenge an mitgeführtem Treibstoff aufgebracht werden. Diese Einschränkungen sind mit ein Grund dafür, dass der Merkur vor Messenger nur mit der einen Raumsonde Mariner 10 erforscht wurde. Eine dritte Merkursonde BepiColombo wurde am 20. Oktober 2018 gestartet. Mariner 10 Die Flugbahn von Mariner 10 wurde so gewählt, dass die Sonde zunächst die Venus anflog, dann in deren Anziehungsbereich durch ein Swing-by-Manöver Kurs auf den Merkur nahm. So gelangte sie auf eine merkurnahe Umlaufbahn um die Sonne, die mit einer Trägerrakete vom Typ Atlas-Centaur nur auf diese Weise erreicht werden konnte; ohne den Swing-by an der Venus hätte Mariner 10 eine deutlich größere und teurere Titan IIIC benötigt. Der schon lange an der Erforschung des innersten Planeten interessierte Mathematiker Giuseppe Colombo hatte diese Flugbahn entworfen, auf welcher der Merkur gleich mehrmals passiert werden konnte, und zwar immer in der Nähe seines sonnenfernsten Bahnpunktes – bei dem die Beeinträchtigung durch den Sonnenwind am geringsten ist – und am zugleich sonnennächsten Bahnpunkt von Mariner 10. Die anfänglich dabei nicht vorhergesehene Folge dieser himmelsmechanischen Drei-Körper-Wechselwirkung war, dass die Umlaufperiode von Mariner 10 genau zweimal so lang geriet wie die vom Merkur. Bei dieser Bahneigenschaft bekam die Raumsonde während jeder Begegnung ein und dieselbe Hemisphäre unter den gleichen Beleuchtungsverhältnissen vor die Kamera und erbrachte so den eindringlichen Beweis für die genaue 2:3-Kopplung von Merkurs Rotation an seine Umlaufbewegung, die nach den ersten, ungefähren Radarmessungen Colombo selbst schon vermutet hatte. Durch dieses seltsame Zusammentreffen konnten trotz der wiederholten Vorbeiflüge nur 45 Prozent der Merkuroberfläche kartiert werden. Mariner 10 flog im betriebstüchtigen Zustand von 1974 bis 1975 dreimal am Merkur vorbei: Am 29. März 1974 in einer Entfernung von 705 km, am 21. September in rund 50.000 km und am 16. März 1975 in einer Entfernung von 327 km. Zusätzlich zu den herkömmlichen Aufnahmen wurde der Planet im infraroten sowie im UV-Licht untersucht, und über seiner den störenden Sonnenwind abschirmenden Nachtseite liefen während des ersten und dritten Vorbeifluges Messungen des durch die Sonde entdeckten Magnetfeldes und geladener Partikel. Messenger Eine weitere Raumsonde der NASA, Messenger, startete am 3. August 2004 und schwenkte im März 2011 als erste Raumsonde in einen Merkurorbit ein, um den Planeten mit ihren zahlreichen Instrumenten eingehend zu studieren und erstmals vollständig zu kartografieren. Die Raumsonde widmete sich dabei der Untersuchung der geologischen und tektonischen Geschichte Merkurs sowie seiner Zusammensetzung. Weiterhin suchte die Sonde nach dem Ursprung des Magnetfeldes, bestimmte die Größe und den Zustand des Planetenkerns, untersuchte die Polarkappen des Planeten und erforschte die Exosphäre sowie die Magnetosphäre. Um sein Ziel zu erreichen, flog Messenger eine sehr komplexe Route, die ihn in mehreren Fly-by-Manövern erst zurück zur Erde, dann zweimal an der Venus sowie dreimal am Merkur vorbeiführte. Der erste Vorbeiflug am Merkur fand am 14. Januar 2008 um 20:04 Uhr MEZ statt und der zweite am 6. Oktober 2008. Dabei wurden bereits Untersuchungen der Oberfläche durchgeführt und Fotos von bisher unbekannten Gebieten aufgenommen. Der dritte Vorbeiflug, durch den die Geschwindigkeit der Sonde verringert wurde, erfolgte am 30. September 2009. Da die Sonde kurz vor der Passage unerwartet in den abgesicherten Modus umschaltete, konnten für geraume Zeit keine Beobachtungsdaten gesammelt und übertragen werden. Die gesamte Reise nahm etwa 6,5 Jahre in Anspruch. Die darauf folgende Mission im Merkurorbit ist in Jahresabschnitte geteilt, welche jeweils am 18. März beginnen. Vom 18. März 2011 bis 18. März 2012 wurden während der sogenannten primären Mission die wichtigsten Forschungen vorgenommen; anschließend begann die erste erweiterte Mission, welche bis zum 18. März 2013 lief. Danach wurde die Mission noch einmal bis März 2015 verlängert. Gegen Ende der Mission wurde die Sonde in Umlaufbahnen um den Planeten gebracht, deren niedrigster Punkt nur 5,3 km über der Oberfläche lag. Der verbleibende Treibstoff für die Triebwerke der Sonde wurde genutzt, um dem bremsenden Effekt der schwachen, aber doch vorhandenen Atmosphäre entgegenzuwirken. Die letzte dieser Kurskorrekturen erfolgte am 25. März 2015. Am 30. April 2015 stürzte die Sonde dann auf die erdabgewandte Seite des Merkurs. BepiColombo Die europäische Raumfahrtorganisation ESA und die japanische Raumfahrtbehörde JAXA erforschen den sonnennächsten Planeten mit der kombinierten Merkursonde BepiColombo. Das gemeinsame Unternehmen ist nach dem Spitznamen des 1984 verstorbenen Giuseppe Colombo benannt und besteht aus zwei am Ziel getrennt eingesetzten Orbitern: einem Fernerkundungsorbiter für eine 400 km × 1500 km messende polare Umlaufbahn und einem Magnetosphärenorbiter für einen polaren Merkurumlauf von 400 km × 12.000 km. Die Komponenten werden sich jeweils der Untersuchung des Magnetfeldes sowie der geologischen Zusammensetzung in Hinsicht der Geschichte des Merkurs widmen. Die Sonde startete am 20. Oktober 2018, ihre Reise zum Merkur wird mit Ionentriebwerken und Vorbeiflügen an den inneren Planeten unterstützt und soll 2025 in eine Umlaufbahn eintreten. Am Ziel wird die Sonde Temperaturen von bis zu 250 °C ausgesetzt sein und soll mindestens ein Jahr lang (d. h. über vier Merkurjahre) Daten liefern. Beobachtung Immer nur nahe der Sonne Der Merkur kann sich als innerster Planet des Sonnensystems nur bis zu einem Winkel von maximal 28 Grad (größte Elongation) von der Sonne entfernen und ist daher schwierig zu beobachten. Dem in Frauenburg tätigen Nikolaus Kopernikus war es beispielsweise nie gelungen, den Merkur zu beobachten. Der Merkur kann in der Abend- oder Morgendämmerung als orangefarbener Lichtpunkt mit einer scheinbaren Helligkeit von etwa 1 mag bis maximal −1,9 mag in der Nähe des Horizonts mit bloßem Auge wahrgenommen werden. Bei Tagbeobachtungen ist er – je nach Sichtverhältnissen – ab einer Fernrohröffnung von etwa 10 bis 20 cm gut zu erkennen. Durch die Horizontnähe wird seine Beobachtung mit Teleskopen sehr erschwert, da sein Licht eine größere Strecke durch die Erdatmosphäre zurücklegen muss und durch Turbulenzen, Lichtbrechung und Absorption gestört wird. Der Planet erscheint meist als verwaschenes, halbmondförmiges Scheibchen im Teleskop. Auch mit leistungsfähigen Teleskopen sind kaum markante Merkmale auf seiner Oberfläche auszumachen. Da die Merkurbahn stark elliptisch ist, schwanken die Werte seiner größten Elongation zwischen den einzelnen Umläufen von 18 bis 28 Grad. Bei der Beobachtung des Merkurs sind – bei gleicher geographischer nördlicher oder südlicher Breite – die Beobachter der Nordhalbkugel im Nachteil, denn die Merkur-Elongationen mit den größten Werten finden zu Zeiten statt, bei denen für einen Beobachter auf der Nordhalbkugel die Ekliptik flach über dem Horizont verläuft und der Merkur in der hellen Dämmerung auf- oder untergeht. In den Breiten Mitteleuropas ist er dann mit bloßem Auge nicht zu sehen. Die beste Sichtbarkeit verspricht eine maximale westliche Elongation (Morgensichtbarkeit) im Herbst, sowie eine maximale östliche Elongation (Abendsichtbarkeit) im Frühling. In großer Höhe über dem Horizont kann der Merkur mit bloßem Auge nur während einer totalen Sonnenfinsternis gesehen werden. Wegen der großen Bahnneigung zieht der Planet nur alle paar Jahre vor der Sonnenscheibe vorbei (siehe nächster Abschnitt). Hingegen kann er gerade deshalb manchmal doppelsichtig werden, indem er mit freiem Auge sowohl in der hellen Morgen- wie in der hellen Abenddämmerung beobachtbar sein kann. Dies ist in den Tagen um die Untere Konjunktion möglich, wenn er nicht knapp an der Sonne vorbeizieht, sondern bis zu 8° nördlich von ihr. Merkurtransit Aufgrund der Bahneigenschaften des Merkurs und der Erde wiederholen sich alle 13 Jahre ähnliche Merkursichtbarkeiten. In diesem Zeitraum finden im Allgemeinen auch zwei sogenannte Transits oder Durchgänge statt, bei denen der Merkur von der Erde aus gesehen direkt vor der Sonnenscheibe als schwarzes Scheibchen zu sehen ist. Ein solcher Transit des Merkurs ist sichtbar, wenn er bei der unteren Konjunktion – während er die Erde beim Umlauf um die Sonne auf seiner Innenbahn überholt – in der Nähe eines seiner beiden Bahnknoten steht, also die Erdbahnebene kreuzt. Ein solches Ereignis ist aufgrund der entsprechenden Geometrie nur zwischen dem 6. und dem 11. Mai oder zwischen dem 6. und dem 15. November möglich, da die beiden Bahnknoten am 9. Mai oder am 11. November von der Erde aus gesehen vor der Sonne stehen. Der letzte Merkurdurchgang fand am 11. November 2019 statt, der nächste folgt am 13. November 2032. Sichtbarkeit In der folgenden Tabelle sind die speziellen Konstellationen des Merkurs für das Jahr 2021 angegeben. Östliche Elongation bietet Abendsichtbarkeit, westliche Elongation Morgensichtbarkeit: Kulturgeschichte In der altägyptischen Mythologie und Astronomie galt der Merkur hauptsächlich als Stern des Seth. Sein Name Sebeg (auch Sebgu) stand für eine weitere Erscheinungsform der altägyptischen Götter Seth und Thot. Im antiken Griechenland bezog man den Planeten auf den Gott und Götterboten Hermes, assoziierte ihn aber auch mit den Titanen Metis und Koios. Der zumeist nur in der Dämmerung und dann auch nur schwer zu entdeckende, besonders rastlose Planet wurde auch als Symbol für Hermes als Schutzpatron der Händler, Wegelagerer und Diebe gesehen. Bei den Römern entsprach Hermes spätestens in der nachantiken Zeit dem Mercurius, abgeleitet von mercari (lat. für Handel treiben). Der von ihnen nach dem Merkur benannte Wochentag dies Mercurii ist im Deutschen der Mittwoch. In der Zuordnung der Wochentage besteht die namentliche Verbindung des Merkurs mit dem Mittwoch noch im Französischen (mercredi), im Italienischen (mercoledì), im Spanischen (miércoles), im Rumänischen (miercuri) und im Albanischen (e mërkurë). Den Germanen wird als Entsprechung des Gestirns der Gott Odin bzw. Wotan zugeschrieben, dem ebenso der Mittwoch (im Englischen wednesday, im Niederländischen woensdag) zugeordnet wurde. Im Altertum und in der Welt der mittelalterlichen Alchemisten hat man dem eiligen Wandelstern als Planetenmetall das bewegliche Quecksilber zugeordnet. In vielen Sprachen basiert der Name des Metalls heute noch auf diesem Wortstamm (englisch mercury, französisch mercure). Rezeption in Literatur, Film und Musik In der Musik hat Gustav Holst dem Merkur in seiner Orchestersuite The Planets (Die Planeten, 1914–1916) den dritten Satz gewidmet: Mercury, the Winged Messenger (Merkur, der geflügelte Bote). Die 43. Sinfonie (Hob I:43) von Joseph Haydn trägt den Beinamen "Merkur". Der Beiname "Merkur" stammt nicht von Haydn, sondern taucht erstmals erst im Jahre 1839 auf. Der Ursprung ist unbekannt. In der Unterhaltungsliteratur schrieb Isaac Asimov im Jahr 1956 für seine Lucky-Starr-Reihe den Science-Fiction-Roman Lucky Starr and the Big Sun of Mercury. Darin startet auf dem Planeten der lebensfeindlichen Temperaturextreme ein Projekt neuer Energiegewinnungs- und -transportmethoden für den wachsenden Energiebedarf der Erde, das jedoch von Sabotage betroffen ist. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1974 unter dem Titel Im Licht der Merkur-Sonne. In dem Film Sunshine, von Regisseur Danny Boyle im Jahr 2007 in die Kinos gebracht, dient eine Umlaufbahn um den Merkur als Zwischenstation für ein Raumschiff, dessen Fracht die Sonne vor dem Erlöschen bewahren soll. Der im Jahr 2012 erschienene Roman 2312 von Kim Stanley Robinson handelt in eben jenem Jahr 2312, unter anderem in Merkurs Hauptstadt Terminator, die sich ständig auf Schienen entlang des Äquators bewegt und plötzlich mit gezielten Meteoroiden angegriffen wird. Siehe auch Liste der Planeten des Sonnensystems Liste der Entdeckungen der Planeten und ihrer Monde Literatur Lexikon der Astronomie. 2 Bände. Herder, Freiburg / Basel / Wien 1989, ISBN 3-451-21632-9. ABC-Lexikon Astronomie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin / Oxford 1995, ISBN 3-86025-688-2. David Morrison: Planetenwelten. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin 1999, ISBN 3-8274-0527-0. Planeten und ihre Monde. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin 1997, ISBN 3-8274-0218-2. Der NASA-Atlas des Sonnensystems. Knaur, München 2002, ISBN 3-426-66454-2. Holger Heuseler, Ralf Jaumann, Gerhard Neukum: Zwischen Sonne und Pluto. BLV, München / Wien / Zürich 1999, ISBN 3-405-15726-9. Edward J. Tarbuck, Frederick K. Lutgens: Ciencias de la Tierra. Una Introducción a la Geología Física. Prentice Hall, Madrid 2000, ISBN 84-8322-180-2. Hielo en Mercurio. In: Joan Pericay: El Universo. Enciclopedia de la Astronomía y el Espacio. Band 5. Editorial Planeta-De Agostini, Barcelona 1997, S. 141–145. Stardate, Guide to the Solar System. Publication der University of Texas at Austin McDonald Observatory, . Our Solar System, A Geologic Snapshot. NASA (NP-157). Mai 1992. Weblinks NASA: Mariner 10 Bilder von Mercury (englisch) NASA: Merkuratlas (englisch) Solarviews: Merkur J. A. Dunne, E. Burgess: The voyage of Mariner 10: Missions to Venus and Mercury, Prepared by Jet Propulsion Laboratory, California Institute of Technology, 1978, (NASA-SP-424) (englisch) Merton E. Davies, Stephen E. Dwornik, Donald E. Gault, Robert G. Strom: Atlas of Mercury, Prepared for the Office of Space Sciences, National Aeronautics and Space Administration Scientific and Technical Information Office, 1978, (NASA-SP-423) (englisch) Raumfahrer.net: Messenger entdeckt Wassereis auf dem Merkur scinexx.de: Innerer Kern ist doch fest 18. April 2019 Medien Einzelnachweise Planet des Sonnensystems
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https://de.wikipedia.org/wiki/Primaten
Primaten
Die Primaten (Primates) oder Herrentiere sind eine zu der Überordnung der Euarchontoglires gehörige Ordnung innerhalb der Unterklasse der Höheren Säugetiere. Ihre Erforschung ist Gegenstand der Primatologie. Der Ausdruck „Affen“ wird bisweilen für diese Ordnung verwendet, ist aber missverständlich, da Affen nur eine Untergruppe darstellen. Primaten werden in die beiden Unterordnungen der Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini) und Trockennasenprimaten (Haplorrhini) eingeteilt, wobei letztere auch die Menschenaffen (Hominidae) inklusive des Menschen (Homo sapiens) mit einschließen. Die Bezeichnung stammt vom lateinischen primus (der Erste) und bezieht sich auf den Menschen als „Krone der Schöpfung“. Verbreitung Mit Ausnahme des Menschen, der eine weltweite Verbreitung erreicht hat, sind die Verbreitungsgebiete anderer Primaten größtenteils auf die Tropen und Subtropen Amerikas, Afrikas und Asiens beschränkt. Auf dem amerikanischen Doppelkontinent reicht ihr heutiges Verbreitungsgebiet vom südlichen Mexiko bis ins nördliche Argentinien. Die Arten auf den Karibischen Inseln, die Antillenaffen (Xenotrichini), sind ausgestorben, heute gibt es dort nur vom Menschen eingeschleppte Tiere. In Afrika sind sie weit verbreitet, die größte Artendichte erreichen sie in den Regionen südlich der Sahara. Auf der Insel Madagaskar hat sich eine eigene Primatenfauna (ausschließlich Feuchtnasenprimaten) entwickelt, die Lemuren. In Asien umfassen die Verbreitungsgebiete der Primaten die Arabische Halbinsel (der dort lebende Mantelpavian wurde jedoch möglicherweise vom Menschen eingeschleppt), den indischen Subkontinent, die Volksrepublik China, Japan und Südostasien. Die östliche Grenze ihres Vorkommens bilden die Inseln Sulawesi und Timor. In Europa kommt frei lebend eine einzige Art vor, der Berberaffe in Gibraltar, doch ist auch diese Population wahrscheinlich vom Menschen eingeführt. Nicht-menschliche Primaten fehlen im mittleren und nördlichen Nordamerika, dem größten Teil Europas, den nördlichen und zentralen Teilen Asiens, dem australisch-ozeanischen Raum sowie auf abgelegenen Inseln und in den Polarregionen. Anders als andere Säugetiergruppen sind Primaten nicht im großen Ausmaß vom Menschen in anderen Regionen sesshaft gemacht worden, außer den bereits erwähnten Mantelpavianen auf der Arabischen Halbinsel und den Berberaffen in Gibraltar betrifft das nur kleine Gruppen, beispielsweise eine Population der Grünen Meerkatze, die von afrikanischen Sklaven auf die Karibikinsel Saint Kitts mitgebracht wurde, oder eine Gruppe Rhesusaffen in Florida. Merkmale Obwohl die Primaten eine relativ klar definierte Säugetierordnung sind, gibt es relativ wenig Merkmale, die bei allen Tieren dieser Ordnung und sonst bei keinem anderen Säugetier zu finden sind. Dennoch lassen sich laut dem Biologen Robert Martin neun Merkmale der Primatenordnung festhalten: Der große Zeh ist opponierbar (Ausnahme: Mensch) und die Hände sind zum Greifen geeignet. Die Nägel an den Händen und Füßen der meisten Arten sind flach (keine Krallen). Zudem haben Primaten Fingerabdrücke. Die Fortbewegung ist von den Hinterbeinen dominiert, der Schwerpunkt liegt näher an den hinteren Gliedmaßen. Die olfaktorische Wahrnehmung ist unspezialisiert und bei tagaktiven Primaten reduziert. Die visuelle Wahrnehmung ist hochentwickelt. Die Augen sind groß und nach vorn gerichtet (Stereoskopie). Die Weibchen haben geringe Wurfgrößen. Schwangerschaft und Abstillen dauern länger als bei anderen Säugetieren vergleichbarer Größe. Die Gehirne sind verhältnismäßig größer als bei anderen Säugetieren und weisen einige einzigartige anatomische Merkmale auf. Die Backenzähne sind relativ unspezialisiert und es gibt maximal drei; sowie maximal zwei Schneidezähne, einen Eckzahn, und drei Prämolare. Es gibt weitere (für Systematiker nützliche) subtile anatomische Besonderheiten, die sich jedoch nur schwer funktionell einordnen lassen. Körpergröße Die kleinste Primatenart ist der Berthe-Mausmaki mit weniger als 10 Zentimetern Kopfrumpflänge und maximal 38 g Gewicht. Am größten sind die bis zu 275 kg schweren Gorillas. Generell sind Feuchtnasenprimaten mit einem Durchschnittsgewicht um 500 g kleiner als die Trockennasenprimaten mit einem Durchschnittsgewicht von 5 kg. Dies gründet auch auf den unterschiedlichen Aktivitätszeiten (siehe unten). Einige Arten haben einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus, wobei die Männchen mancher Arten doppelt so schwer wie die Weibchen sein können und sich auch in der Fellfarbe unterscheiden können (zum Beispiel beim Mantelpavian). Behaarung Der Körper der meisten Primaten ist mit Fell bedeckt, dessen Färbung von weiß über grau bis zu braun und schwarz variieren kann. Die Handflächen und Fußsohlen sind meistens unbehaart, bei manchen Arten auch das Gesicht oder der ganze Kopf (zum Beispiel Uakaris). Am wenigsten behaart ist der Mensch. Gesicht Die größten Augen aller Primaten haben die Koboldmakis. Bei den größtenteils nachtaktiven Feuchtnasenprimaten ist zusätzlich eine lichtreflektierende Schicht hinter der Netzhaut, das Tapetum lucidum vorhanden. Namensgebender Unterschied der beiden Unterordnungen ist der Nasenspiegel (Rhinarium), der bei den Feuchtnasenprimaten feucht und drüsenreich ist und sich in einem gut entwickelten Geruchssinn widerspiegelt. Die Trockennasenprimaten hingegen besitzen einfache, trockene Nüstern und ihr Geruchssinn ist weit weniger gut entwickelt. Zähne Die ältesten gefundenen fossilen Primaten besaßen eine Zahnformel von 2-1-4-3, das bedeutet pro Kieferhälfte zwei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren, insgesamt also 40 Zähne. Die maximale Zahnformel der rezenten Primaten lautet jedoch 2-1-3-3, die beispielsweise bei den Gewöhnlichen Makis und Kapuzinerartigen auftritt. Manche Gattungen haben ernährungsbedingt weitere Zähne eingebüßt, so besitzen die Wieselmakis keine Schneidezähne im Oberkiefer. Die wenigsten Zähne aller lebenden Arten hat mit 18 das Fingertier, das keine Eckzähne und nur mehr einen Schneidezahn pro Kieferhälfte besitzt. Die Altweltaffen, einschließlich des Menschen, haben die Zahnformel 2-1-2-3, also 32 Zähne. Die Form insbesondere der Backenzähne gibt Aufschluss über die Ernährung. Vorwiegend fruchtfressende Arten haben abgerundete, insektenfressende Arten haben auffallend spitze Molaren. Bei Blätterfressern haben die Backenzähne scharfe Kanten, die zur Zerkleinerung der harten Blätter dienen. Gliedmaßen Da die meisten Primatenarten Baumbewohner sind, sind ihre Gliedmaßen an die Lebensweise angepasst. Die Hinterbeine sind fast immer länger und stärker als die Vorderbeine (Ausnahmen sind die Gibbons und die nicht-menschlichen Menschenaffen) und tragen den größeren Anteil der Bewegung. Besonders ausgeprägt ist das bei den springenden Primaten und beim Menschen. Bei Arten, die sich hangelnd durch die Äste bewegen, ist der Daumen zurückgebildet (beispielsweise bei den Klammeraffen und Stummelaffen). Feuchtnasenprimaten haben an der zweiten Zehe eine Putz- oder Toilettenkralle, die der Fellpflege dient. Die Unterseite der Hände und Füße ist unbehaart und mit sensiblen Tastfeldern versehen. Schwanz Für viele baumbewohnende Säugetiere ist ein langer Schwanz ein wichtiges Gleichgewichts- und Balanceorgan, so auch bei den meisten Primaten. Jedoch kann der Schwanz rückgebildet sein oder ganz fehlen. Mit Ausnahme der Menschenartigen, die generell schwanzlos sind, ist die Schwanzlänge kein Verwandtschaftsmerkmal, da Stummelschwänze bei zahlreichen Arten unabhängig von der Entwicklung vorkommen. Sogar innerhalb einer Gattung, der Makaken, gibt es schwanzlose Arten (zum Beispiel der Berberaffe) und Arten, deren Schwanz länger als der Körper ist (zum Beispiel der Javaneraffe). Einen Greifschwanz haben nur einige Gattungen der Neuweltaffen ausgebildet (die Klammerschwanzaffen und die Brüllaffen). Dieser ist an der Unterseite unbehaart und mit sensiblen Nervenzellen ausgestattet. Lebensweise Lebensraum Man vermutet, dass sich die Primaten aus baumbewohnenden Tieren entwickelt haben und noch heute sind viele Arten reine Baumbewohner, die kaum jemals auf den Boden kommen. Andere Arten sind zum Teil terrestrisch (auf dem Boden lebend), dazu zählen beispielsweise Paviane und Husarenaffen. Nur wenige Arten sind reine Bodenbewohner, darunter der Dschelada und der Mensch. Primaten finden sich in den verschiedensten Waldformen, darunter tropische Regenwälder, Mangrovenwälder, aber auch Gebirgswälder bis über 3000 m Höhe. Obwohl man diesen Tieren generell nachsagt, wasserscheu zu sein, finden sich Arten, die gut und gerne schwimmen, darunter der Nasenaffe oder die Sumpfmeerkatze, die sogar kleine Schwimmhäute zwischen den Fingern entwickelt hat. Für einige hemerophile Arten (Kulturfolger) sind auch Städte und Dörfer Heimat geworden, zum Beispiel den Rhesusaffen und den Hanuman-Langur. Aktivitätszeiten Vereinfacht gesagt sind Feuchtnasenprimaten meist nachtaktiv (Ausnahmen: Indri, Sifakas und Varis), während Trockennasenprimaten meist tagaktiv sind (Ausnahmen: Koboldmakis und Nachtaffen). Die unterschiedlichen Aktivitätszeiten haben sich auch im Körperbau niedergeschlagen, so sind in beiden Untergruppen nachtaktive Tiere durchschnittlich kleiner als tagaktive. Eine weitere Anpassung an die Nachtaktivität stellt der bessere Geruchssinn der Feuchtnasenprimaten dar. Vergleichbar mit anderen Säugetieren ist die Tatsache, dass Arten, die sich vorwiegend von Blättern ernähren, längere Ruhezeiten einlegen, um den niedrigen Nährwert ihrer Nahrung zu kompensieren. Fortbewegung Primaten verwenden unterschiedliche Arten der Fortbewegung, die sich in verschiedenen Anpassungen im Körperbau widerspiegeln und auch vom Lebensraum abhängig sind. Es lassen sich folgende Formen unterscheiden: Klettern und Springen: Hierfür werden vorwiegend die senkrechten Stämme genutzt. Springfähige Primaten haben besonders starke hintere Gliedmaßen. Langsames Klettern: Diese Form ist insbesondere für Loris typisch, die behäbig durch die Äste klettern und sich mit festem Klammergriff halten. Schwinghangeln: Bei dieser Methode wird der Körper mit Hilfe kräftiger Arme durch das Geäst geschwungen. Schwinghangeln lässt sich beispielsweise bei Spinnenaffen und Orang-Utans beobachten, perfektioniert bei Gibbons (Brachiation). Vierbeiniges Gehen in den Bäumen: Bei dieser Form der Fortbewegung werden vorwiegend waagrechte Äste benutzt. Vierbeiniges Gehen am Boden: Während Paviane Zehen und Finger plantar bzw. palmar am Boden aufsetzen, stützen sich Gorillas und Schimpansen auf die Rückseite der zweiten Fingerglieder (sogenannter Knöchelgang). Bipedie: Den zweibeinigen, aufrechten Gang auf dem Boden praktizieren mehrere Primatenarten zeitweise, in Reinform kommt diese Methode nur beim Menschen und dessen Vorfahren (Hominini) vor. Sozialverhalten Primaten haben in den meisten Fällen ein komplexes Sozialverhalten entwickelt. Reine Einzelgänger sind selten, auch bei Arten, die vorwiegend einzeln leben (zum Beispiel der Orang-Utan), überlappen sich die Reviere von Männchen und Weibchen, und bei der Fortpflanzung werden Tiere aus solchen überlappenden Territorien bevorzugt. Andere Arten leben in langjährigen monogamen Beziehungen (zum Beispiel Indriartige oder Gibbons). Vielfach leben Primaten jedoch in Gruppen. Diese können entweder Harems- oder Einzelmännchengruppen sein, wo ein Männchen zahlreiche Weibchen um sich schart, oder gemischte Gruppen, in denen mehrere geschlechtsreife Männchen und Weibchen zusammenleben. In Gruppen etabliert sich meist eine Rangordnung, die durch Alter, Verwandtschaft, Kämpfe und andere Faktoren bestimmt ist. Vermutlich im Zusammenhang mit dem zunehmenden Gehirnvolumen ist die elterliche Fürsorge relativ hoch entwickelt. Auch die Kommunikation und Interaktion spielt eine bedeutende Rolle. Etliche Arten haben eine Vielzahl von Lauten, die zur Markierung des Territoriums, zur Suche nach Gruppenmitgliedern, zur Drohung oder zur Warnung vor Fressfeinden dienen kann. Besonders bekannt sind die Urwaldkonzerte der Brüllaffen und die Duettgesänge der Gibbonpärchen. Der Mensch ist der einzige, der wirklich ein hochkomplexes Lautsystem (Sprache) benutzt. Auch Körperhaltungen und Grimassen können eine Kommunikationsform darstellen, eine weitere wichtige Form der Interaktion ist die gegenseitige Fellpflege. Bei den Feuchtnasenprimaten spielt der Geruchssinn eine bedeutendere Rolle, oft wird das Revier mit Duftdrüsen oder Urin markiert. Mit der Soziologie der Primaten befasste sich im 20. Jahrhundert insbesondere der deutsche Psychiater Detlev Ploog. Ernährung Unter den Primaten besteht eine erhebliche Variabilität in der Ernährungsweise. Folgende Verallgemeinerungen lassen sich dennoch treffen: Alle Primaten greifen auf mindestens ein Nahrungsmittel mit hohem Proteingehalt und auf mindestens ein Nahrungsmittel mit hohem Kohlenhydratgehalt zurück. Insekten bzw. Pflanzengummi und Früchte sind die Hauptprotein- bzw. Kohlenhydratquelle von Halbaffen. Insekten und junge Blätter bzw. Früchte sind meist die Hauptprotein- bzw. Kohlenhydratquelle der Affen und Menschenartigen. Die meisten Primaten ernähren sich stärker von bestimmten Nahrungsmitteln als von anderen. Wissenschaftler verwenden die Begriffe Frugivoren, Folivoren, Insektivoren und Gumnivoren, um Arten zu bezeichnen, die sich vorrangig von Früchten, Blättern, Insekten bzw. Pflanzengummi ernähren. Insektivoren sind meist kleiner als Frugivoren, und Frugivoren sind kleiner als Folivoren. Dies liegt daran, dass kleinere Tiere relativ mehr Energie benötigen als größere. Sie brauchen schnell verfügbare, qualitativ hochwertige Nahrung, während größere Tiere nicht so eingeschränkt sind, da sie es sich erlauben können, qualitativ minderwertige Nahrung langsamer aufzunehmen. Vermutlich waren die Vorfahren der Primaten Insektenfresser, die Mehrzahl der Arten ist heute jedoch vorrangig Pflanzenfresser. Früchte stellen für viele Arten den Hauptbestandteil der Nahrung dar, ergänzt werden sie durch Blätter, Blüten, Knollen, Pilze, Samen, Nüsse, Baumsäfte und andere Pflanzenteile. Viele Arten sind jedoch Allesfresser, die neben pflanzlicher auch tierische Nahrung zu sich nehmen, insbesondere Insekten, Spinnen, Vogeleier und kleine Wirbeltiere. Zu den Gattungen, die gelegentlich Jagd auf größere Säugetiere (Hasen, kleine Primaten, junge Paarhufer) machen, gehören Paviane und Schimpansen. Primaten gehören zu den wenigen Wirbeltieren, die das wichtige Vitamin C nicht selbst produzieren können. Sie müssen es deshalb mit der Nahrung aufnehmen. Folivore Arten weisen besondere Anpassungen auf: so haben die Stummelaffen einen mehrkammerigen Magen, in welchem Mikroorganismen die Zellulose abbauen. Dieses Konzept ähnelt dem der Wiederkäuer oder mancher Känguruarten. Andere, wie die Brüllaffen oder die Gorillas, haben einen vergrößerten Dickdarm, der demselben Zweck dient. Reine Fleischfresser sind selten unter den Primaten, dazu gehören beispielsweise die insektenfressenden Koboldmakis und Bärenmakis. Da das Nahrungsangebot für Folivoren dazu tendiert, zeitlich und räumlich uniform und vorhersehbar zu sein, sind ihre Aktionsräume meist kleiner als die von Frugivoren und Insektivoren. Fortpflanzung Generell zeichnen sich Primaten durch eine lange Trächtigkeitsdauer, eine lange Entwicklungszeit der Jungen und eine eher hohe Lebenserwartung aus. Die Jungtiere werden in der Regel von der Mutter umhergetragen und halten sich hierzu als aktive Traglinge in deren Fell fest. Die Strategie dieser Tiere liegt darin, viel Zeit in die Aufzucht der Jungtiere zu investieren, dafür ist die Fortpflanzungsrate gering. Die kürzeste Tragzeit haben Katzenmakis mit rund 60 Tagen, bei den meisten Arten liegt sie zwischen vier und sieben Monaten. Die längste Trächtigkeitsdauer haben der Mensch und die Gorillas mit rund neun Monaten. Bei den meisten Arten überwiegen Einzelgeburten, und auch bei den Arten, die üblicherweise Mehrfachgeburten aufweisen (darunter Katzenmakis, Galagos und Krallenaffen) liegt die Wurfgröße selten über zwei oder drei Neugeborenen. Systematik und Stammesgeschichte Äußere Systematik Die Primaten gehören innerhalb der Plazentatiere zu den Euarchontoglires, einer aufgrund molekulargenetischer Untersuchungen festgelegten Überordnung. Ihre nächsten Verwandten sind die Riesengleiter (Dermoptera). Die Spitzhörnchen (Scandentia), die früher manchmal den Primaten zugerechnet wurden, zeigen zwar im Schädelbau und im Verhalten Ähnlichkeiten, diese sind aber entweder generelle Merkmale der Säuger oder konvergente Entwicklungen, sodass sie heute in eine eigene Ordnung, Scandentia, gestellt werden. Das nachfolgende Diagramm gibt die vermuteten Entwicklungsverhältnisse innerhalb dieser Überordnung wieder: Innere Systematik Die Primaten umfassen mehr als 500 Arten, man teilt sie heute in zwei Unterordnungen, die Trockennasenprimaten (Haplorrhini) und die Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini). Die Feuchtnasenprimaten teilen sich in die Lemuren (Lemuriformes), die ausschließlich auf Madagaskar leben, und die Loriartigen (Lorisiformes), zu denen Loris und Galagos gehören. Bei den Trockennasenprimaten stehen die Koboldmakis den anderen Arten gegenüber, die als Affen (Anthropoidea oder Simiae) bezeichnet werden und sich wiederum in die Neuweltaffen und die Altweltaffen teilen. Früher wurden die Feuchtnasenprimaten und die Koboldmakis als Halbaffen (Prosimiae) zusammengefasst (teilweise inklusive der Riesengleiter und der Spitzhörnchen); diese wurden den „Echten“ Affen gegenübergestellt. Stammesgeschichte Die ältesten zweifelsfrei den Primaten zuzuordnenden Fossil­funde stammen aus dem frühen Eozän (vor rund 55 Millionen Jahren). Diese Funde, wie diejenigen des Trockennasenprimaten Teilhardina, dokumentieren jedoch bereits die Aufspaltung in die beiden Unterordnungen, daher liegt der Ursprung der Primaten vermutlich in der Oberkreide­zeit vor rund 80 bis 90 Millionen Jahren. Es existieren einige Funde aus der Oberkreide und dem Paläozän wie Purgatorius oder die Plesiadapiformes, die manchmal als früheste bekannte Primaten bezeichnet werden. Ihre Stellung ist jedoch umstritten, viele Autoren sehen in ihnen eine gänzlich eigene Säugetierordnung. Die Funde aus dem Eozän werden den Adapiformes und den Omomyidae, einer den Koboldmakis ähnlichen Familie zugeordnet und sind aus Afrika, Asien, Europa und Nordamerika bekannt. Während die Primaten in Nordamerika im Oligozän ausstarben, entwickelten sie sich auf den anderen Kontinenten weiter. Die heutigen Primaten Amerikas, die Neuweltaffen, sind seit rund 35 Millionen Jahren fossil belegt, älteste bekannte Gattung ist Perupithecus. Aus dem Miozän sind Vorfahren der meisten heutigen Familien bekannt, eine Ausnahme bilden die Primaten Madagaskars, was aber wohl auf eine schlechte Fossilienfundrate zurückzuführen ist. In Europa starben die nichtmenschlichen Primaten – aus der Familie der Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae) – im Pleistozän aus. In beispielloser Weise hat sich der Mensch (Homo sapiens) innerhalb der letzten 100.000 Jahre über die gesamte Welt ausgebreitet, sodass heute – mit Ausnahme des antarktischen Kontinents, wo dauerhafte Wohnsiedlungen fehlen – überall auf der Erde Primaten zu finden sind. Primaten und Menschen Die folgenden Kapitel befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Menschen und anderen Primaten, wobei der Mensch selbst weitestgehend unbeachtet bleibt. Forschungsgeschichte Zu den frühesten im Mittelmeerraum bekannten Primaten zählten der Berberaffe Nordafrikas und der Mantelpavian Ägyptens. Der karthagische Seefahrer Hanno († 440 v. Chr.) brachte von seiner Afrikareise die Felle von drei „wilden Frauen“ mit, vermutlich Schimpansen. Aristoteles schreibt über Tiere, die sowohl Eigenschaften des Menschen als auch Eigenschaften der „Vierfüßer“ teilen und unterteilt sie in (Menschen-)Affen, „Affen mit Schwanz“ ( kēboi, vermutlich Meerkatzen oder Makaken) und Paviane ( kynokephaloi). Den Pavianen attestierte er eine hundeähnliche Schnauze und Zähne und prägte so den Begriff der Hundsaffen. Im 2. Jahrhundert nach Christus sezierte Galenos von Pergamon Berberaffen und schlussfolgerte daraus die menschliche Anatomie; bis ins 16. Jahrhundert hinein waren seine Forschungen für die Medizin bestimmend. Die Vorstellungen von Primaten im Mittelalter waren überlagert von Fabelwesen wie behaarten, geschwänzten Menschen und Halbwesen ähnlich dem Satyr. Pan, der Gattungsname der Schimpansen, abgeleitet vom bocksfüßigen Hirtengott Pan, geht auf solche Vorstellungen zurück. 1641 kam erstmals ein lebendiger Schimpanse nach Holland und wurde vom niederländischen Arzt Nicolaes Tulpius (1593–1674), der durch seine Verewigung in Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp berühmt wurde, untersucht und unter dem Titel „Indischer Satyr“ veröffentlicht. Als Begründer der Primatologie gilt der englische Arzt und Zoologe Edward Tyson (1650–1708), der 1699 eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dem von ihm untersuchten „Orang-Utan oder Homo sylvestris“ – in Wahrheit einem Schimpansen aus Angola – und dem Menschen feststellte. Carl von Linné schuf die grundsätzlich heute noch gültige Systematik der Tiere, er teilte in der zehnten Auflage seiner Systema Naturae (1758) die Primaten in vier Gattungen: Homo (Mensch), Simia (Menschenaffen und andere Affen), Lemur (Lemuren und andere „niedere“ Affen) und Vespertilio (Fledermäuse) – in früheren Auflagen hatte er auch noch die Faultiere zu den Primaten gerechnet. Ganz mochte man sich mit der Einordnung der Menschen unter die Primaten nicht abfinden, so teilte Johann Friedrich Blumenbach diese Gruppe in die „Bimana“ (Zweihänder, also Menschen) und „Quadrumana“ (Vierhänder, also nicht-menschliche Primaten). Diese Einteilung spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass Menschenaffen in jener Zeit oft mit einem Stock dargestellt wurden, da das zweifüßige Gehen ohne Hilfe dem Menschen vorbehalten war. Im 19. Jahrhundert wurde die Evolutionstheorie entwickelt und Thomas Henry Huxley band mit seinem Werk Evidence as to Man’s Place in Nature (1863) den Menschen konsequent in die Evolutionsvorgänge ein, was noch jahrzehntelange Diskussionen anheizen sollte, ob der Mensch denn wirklich vom Affen abstamme. Der britische Zoologe St. George Mivart (1827–1900), ein konservativer Katholik und Autodidakt, versuchte einerseits, Darwins und Huxleys Thesen zu widerlegen, unter anderem mit der Behauptung, die Erde existiere für die beschriebenen Evolutionsprozesse noch nicht lang genug, andererseits aber modifizierte er die Einteilung Linnés, indem er die Fledermäuse von den Primaten abtrennte und die bis vor kurzem gültige Einteilung in Halbaffen und Affen durchführte. Mivart etablierte auch eine Merkmalsliste der Primaten, in der er unter anderem ausgebildete Schlüsselbeine, einen Greiffuß mit gegenüberstellbarer Großzehe und einen freihängenden Penis mit dahinterliegendem Skrotum anführte. Ab dem 20. Jahrhundert spaltete sich die Forschungsgeschichte in zahlreiche Bereiche auf, die hier stichwortartig wiedergegeben werden: Paläontologie: Mit Hilfe von Fossilien wurde versucht, die genauen Abstammungsverhältnisse innerhalb der Primaten zu ermitteln. Besonders intensiv wurde versucht, die Stammesgeschichte des Menschen nachzuvollziehen und den lang gesuchten „Missing Link“ zu seinen direkten tierischen Vorfahren zu finden. Systematik: Mit Hilfe von DNA-Vergleichen und anderer Vergleichsmethoden wurden die stammesgeschichtlichen Beziehungen der verschiedenen Primatengruppen genauer analysiert. Kladistische Systematiken wurden entwickelt, die dem früheren „Fortschrittsvorurteil“ der klassischen Systematik gegenüberstehen. Zwei grundlegende Korrekturen in der Systematik sind dadurch entstanden: Die traditionelle Einteilung in Halbaffen und Affen wurde zugunsten der Gruppierung in Feuchtnasenprimaten und Trockennasenprimaten aufgegeben. Die zweite Änderung betrifft den Menschen, der früher – vielleicht als letztes Überbleibsel einer traditionell zugestandenen Sonderrolle – in einer eigenen Familie (Hominidae) den Menschenaffen (Pongidae) gegenübergestellt wurde, heute allerdings zweifelsfrei als Mitglied der Menschenaffen (Hominidae) eingeordnet wird. Verhaltensforschung: Anstatt rein äußerlicher Beschreibungen rückte das Verhalten der Tiere in den Mittelpunkt. Verhaltensweisen und Sozialformen wurden exakter analysiert, viele Forscher verbrachten mehrere Jahre in der Nähe der Tiere, um genaue Freilandstudien durchführen zu können. Zu den bekanntesten Forscherinnen zählen Dian Fossey und Jane Goodall. In diesen Bereich gehört auch die Intelligenz- und Lernforschung. Anhand ihrer Fähigkeiten, Aufgabenstellungen zu lösen (zum Beispiel eine Frucht aus einer mit Schnallen verschlossenen Schachtel zu holen) oder mittels Symbolkärtchen oder Gebärdensprache in eine Kommunikation mit Menschen zu treten, soll die Intelligenz und das Lernverhalten der Tiere ermittelt werden. In jüngster Zeit untersucht zudem die Primatenarchäologie die Geschichte der frühesten belegbaren materiellen Kultur bei Primaten, das heißt deren Werkzeuggebrauch. Erhaltungsbiologie: Angesichts der zum Teil drastisch zurückgehenden natürlichen Lebensräume vieler Arten werden Fragen des Naturschutzes und der Errichtung geeigneter Schutzgebiete immer brennender. Generell lässt sich in den letzten Jahrzehnten ein Rückgang der Forschung mit anatomischen und physiologischen Fragestellungen und ein Aufschwung in Freilandforschung und Verhaltensbiologie erkennen. In Japan besteht seit 1956 das Japanische Affenzentrum und seit 1967 das Primate Research Institute in Kyoto. Kulturelle Bedeutung Die Menschenähnlichkeit im Körperbau und mehrere Angewohnheiten haben oft zu mythischen Vorstellungen beigetragen. Zu diesen Angewohnheiten zählen das morgendliche Aalen in der Sonne, das als religiöse Sonnenverehrung gedeutet wurde, die Schreie und Gesänge und die vermutete eheliche Treue mancher Arten. In verschiedenen Religionen wurden manche Arten zu heiligen Tieren erklärt. Der altägyptische Gott Thot wurde manchmal in Gestalt eines Pavians dargestellt. Im ägyptischen Totenbuch wird von den Pavianen berichtet, sie sitzen am Bug der Todesbarke und der Tote kann sich an sie wenden und beim Totengericht um Gerechtigkeit im Totenreich bitten. Paviane genossen deshalb Schutz und wurden sogar mumifiziert. In Indien gelten Rhesusaffen und Hanuman-Languren als heilig. Im Epos Ramayana helfen Affen, geführt von Hanuman, dem Prinzen Rama bei der Befreiung seiner Gattin aus den Fängen des Dämonenfürsten Ravana. Der affengestaltige Gott Hanuman gehört heute zu den populärsten Göttern des Hinduismus. In verschiedenen Regionen der Erde genossen gewisse Primaten aufgrund mythischer Vorstellungen Schutz vor der Bejagung, so zum Beispiel der Indri auf Madagaskar. In der chinesischen Kultur wurden die Duettgesänge der Gibbons mit der angeblichen Melancholie dieser Tiere in Verbindung gebracht, was sich in Gedichten und Gemälden niedergeschlagen hat. Bekannt ist das buddhistische Symbol der drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. Primaten als Haustiere Die ältesten Belege über Primaten als Haustiere stammen aus dem Alten Ägypten, wo Bilder zeigen, wie Paviane an der Leine geführt wurden und mit Kindern spielten. Aus dem alten China sind Gibbons als Haustiere bekannt. Über Jahrtausende hinweg wurden Primaten als Haustiere gehalten, auch heute ist dies noch mancherorts üblich. Gehalten werden vor allem Menschenaffen und kleinere Arten wie Totenkopfaffen – bekannt war der Schimpanse Michael Jacksons. Problematisch ist dabei, dass diese Tiere selten gezüchtet, sondern meistens als Jungtiere gefangen werden, was oft mit der Tötung der Mutter einhergeht. Unter dem Aspekt des Tierschutzes werden Primaten als Haustiere generell abgelehnt, da eine artgerechte Haltung kaum möglich ist und es auch zur Übertragung von Krankheiten – in beide Richtungen – kommen kann. Primaten als Nutztiere Unter den Primaten finden sich keine klassischen Nutztiere. Im Bereich der medizinischen Forschung und der Erprobung von Kosmetika werden Primaten vielfach für Tierversuche benutzt. Am bekanntesten ist wohl der Rhesusfaktor, der 1940 am Rhesusaffen entdeckt wurde. Früher hat die Suche nach Versuchstieren die Populationen zum Teil drastisch dezimiert; heute stammen die Tiere für diese Zwecke meist aus eigener Züchtung. Ein weiteres Einsatzgebiet von Primaten war die Raumfahrt. Der erste war 1958 „Gordo“, ein Totenkopfaffe, der an Bord einer Redstone-Rakete ins All befördert wurde. Es folgten weitere Totenkopfaffen, Rhesusaffen und Schimpansen in den Raumfahrtprogrammen der USA, Frankreichs und der Sowjetunion. In den USA gab es Projekte, bei denen Kapuzineraffen als Hilfen für körperlich behinderte Menschen ausgebildet wurden. Bedrohung Das größte Artensterben in jüngerer Vergangenheit hat auf Madagaskar stattgefunden. Die Insel, die erst vor rund 1500 Jahren von Menschen besiedelt wurde, ist Heimat zahlreicher endemischer Tierarten, darunter fünf Primatenfamilien. Mindestens acht Gattungen und fünfzehn Arten sind seither dort ausgestorben, höchstwahrscheinlich aufgrund der Bejagung, möglicherweise gekoppelt mit klimatischen Veränderungen. Zu den dort ausgerotteten Primaten zählen vorrangig größere, bodenlebende Arten, darunter die Riesenlemuren Megaladapis und der gorillagroße Archaeoindris sowie die Palaeopropithecidae („Faultierlemuren“) und Archaeolemuridae („Pavianlemuren“). Global betrachtet ist die Situation vieler Primatenarten besorgniserregend. Als vorrangig waldbewohnende Tiere sind sie den Gefahren, die mit den großflächigen Abholzungen der Wälder einhergehen, drastisch ausgeliefert. Die Verbreitungsgebiete vieler Arten machen nur mehr einen Bruchteil ihres historischen Vorkommens aus. Die Jagd tut ein Übriges: Gründe für die Bejagung sind unter anderem ihr Fleisch, das verzehrt wird, und ihr Fell. Hinzu kommt die Tatsache, dass sie Plantagen und Felder verwüsten, sowie die – weitgehend illegale – Suche nach Haustieren. Dabei werden meist die Mütter erlegt, um halbwüchsige Tiere einfangen zu können. Obwohl die International Union for Conservation of Nature keine Primatenart als in den letzten 200 Jahren ausgestorben listet, gilt eine Reihe als stark gefährdet. Zu den bedrohtesten Primaten zählen beispielsweise die Spinnenaffen und die Löwenäffchen Südamerikas, der auf Java endemische Silbergibbon, mehrere Stumpfnasenarten und der Sumatra-Orang-Utan. Einer im Juni 2019 veröffentlichten Untersuchung zufolge geht der Bestand von 75 % der Primaten-Arten zurück und 60 % sind vom Aussterben bedroht. Zu den Hauptgründen gehört die zunehmende Entwaldung. Zwischen 2001 und 2015 wurde 47 % der Waldfläche in Südostasien abgeholzt, in Süd- und Mittelamerika und in Südasien liegt dieser Wert bei 26 % und in Afrika verschwand 7 % der Waldfläche. Durch den vom Menschen verursachten Klimawandel bedingte Änderungen des Ausmaßes und der Intensität von Extremwetterereignissen – darunter Wirbelstürme und Dürren – wirken sich negativ auf die weltweite Primatenpopulation aus. So zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2019, dass 16 % der Primaten-Taxa für Wirbelstürme anfällig sind (insbesondere in Madagaskar) und 22 % für Dürren (vor allem auf der malaysischen Halbinsel, in Nordborneo, auf Sumatra und in den tropischen Feuchtwäldern Westafrikas). Weblinks Primate Info Net (englisch) The Primata – Fakten und Links zu zahlreichen Arten (englisch) EUPRIM-Net: European Primate Network (englisch) Literatur Louis de Bonis: Vom Affen zum Menschen 1 & 2. Spektrum Compact 2004,1. Verlag Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 2004, ISBN 3-936278-70-9. Thomas Geissmann: Vergleichende Primatologie. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-43645-6. Colin Groves: Primate Taxonomy. Smithsonian Institution Press, Washington 2001, ISBN 1-56098-872-X. Andreas Paul: Von Affen und Menschen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-13869-4. Detlev Ploog: Soziologie der Primaten. In: Psychiatrie der Gegenwart. Band I.2. Berlin/Heidelberg/New York 1980, S. 379–544. Daris Swindler: Introduction to the Primates. University of Washington Press, Washington 1998, ISBN 0-295-97704-3. Thomas S. Kemp: The Origin and Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-850761-5. Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Quedlinburg
Quedlinburg
Quedlinburg ([], plattdeutsch Queddelnborg, offizieller Beiname auch Welterbestadt Quedlinburg) ist eine Stadt an der Bode nördlich des Harzes im Landkreis Harz (Sachsen-Anhalt). 922 urkundlich zum ersten Mal erwähnt und 994 mit dem Stadtrecht versehen, war die Stadt vom 10. bis zum 12. Jahrhundert Sitz der zu Ostern besuchten Königspfalz weltlicher Herrscher und fast 900 Jahre lang eines (zunächst geistlichen, nach der Reformation freiweltlichen) Damenstifts. Quedlinburgs architektonisches Erbe steht seit 1994 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes und macht die Stadt zu einem der größten Flächendenkmale in Deutschland. In der historischen Altstadt mit ihren kopfsteingepflasterten Straßen, verwinkelten Gassen und kleinen Plätzen befinden sich über 2100 Fachwerkhäuser aus acht Jahrhunderten. Am Markt liegt das Renaissance-Rathaus mit der Roland-Statue, südlich davon der Schlossberg mit der romanischen Stiftskirche und dem Domschatz als Zeugnissen des Quedlinburger Damenstifts. Auch der Münzenberg mit der romanischen Klosterkirche St. Marien und im Tal dazwischen die romanische Kirche St. Wiperti, der sich anschließende Abteigarten und der Brühl-Park gehören zum Weltkulturerbe. Geographie Lage Die Stadt liegt im nördlichen Harzvorland durchschnittlich , 50 km südwestlich der Landeshauptstadt Magdeburg. Die unmittelbar angrenzenden Höhen erreichen etwa . Die Stadt liegt im Flussbett der Bode, mit dem größeren Teil westlich des Flusses. Das Stadtgebiet hat eine Fläche von 78,14 Quadratkilometern. Geologie Quedlinburg liegt inmitten des Quedlinburger Sattels, einem Schmalsattel, der das Stadtgebiet von Nordwesten nach Südosten durchquert. Dazu gehört der Quedlinburger Schlossberg mit seiner Verlängerung über den Münzenberg-Strohberg, die nördlich gelegene Hamwarte und die südlicher gelegene Altenburg. Weiter im Süden liegt die Harznordrandstörung. Parallel zum Nordrand des herausgehobenen Harzes sind die mesozoischen Gesteinsschichten daran aufgebogen und teilweise abgebrochen. Die wechselnden Lagen von unterschiedlich widerständigen mesozoischen Gesteinen (Jura, Kreide, Muschelkalk) bilden teilweise freipräparierte Schichtrippen, die als markante Höhenzüge von der Bode quer durchschnitten werden. Der markanteste Höhenzug ist die Teufelsmauer. Während der Elster- und der Weichsel-Kaltzeit hatte das Eis den Harzrand erreicht, während die Region in der letzten Kaltzeit (Saale-Kaltzeit) nicht mit Eis bedeckt war. Während der Hochglazialphasen bildeten sich äolische Decken. Diese großflächig aufgewehten Lössschichten überlagerten die älteren Fest- und Lockergesteine und wurden später zu Schwarzerdeböden hoher Güte umgewandelt. Es sind dies die südlichen Ausläufer der fruchtbaren Magdeburger Börde. Klima Die Stadt befindet sich in der gemäßigten Klimazone. Die durchschnittliche Jahrestemperatur in Quedlinburg beträgt 8,8 °C. Die wärmsten Monate sind Juli und August mit durchschnittlich 17,8 beziehungsweise 17,2 °C und die kältesten Januar und Februar mit 0,1 beziehungsweise 0,4 °C im Mittel. Der meiste Niederschlag fällt im Juni mit durchschnittlich 57 Millimeter, der geringste im Februar mit durchschnittlich 23 Millimeter. Der Harz liegt als Hindernis in der von Südwesten kommenden Westwinddrift. Durch die Höhe (Brocken mit ) werden die Luftmassen zum Aufsteigen gezwungen und regnen sich dabei ab. Die nordöstliche Seite liegt im Regenschatten des Harzes. In diesem Gebiet befindet sich Quedlinburg mit einem der geringsten Jahresniederschläge in Deutschland von nur 438 Millimetern (zum Vergleich: Köln annähernd 798 Millimeter). Da die Monate Dezember, Januar und Februar absolut die niedrigsten Niederschlagswerte besitzen und die stark abnehmende Tendenz bereits im Spätherbst beginnt, kann von einer Quedlinburger „Wintertrockenheit“ gesprochen werden. Bei der 2010 erstmals durchgeführten Gesamtauswertung der 2100 Messstationen des Deutschen Wetterdienstes wurde festgestellt, dass Quedlinburg im August 2010 mit 72,4 Liter je Quadratmeter (= mm) der trockenste Ort in Deutschland war. Frostfreie Tage gibt es pro Jahr 177, während an 30 Tagen Dauerfrost herrscht. Eine geschlossene Schneedecke ist an weniger als 50 Tagen vorhanden und die Sonnenscheindauer liegt bei 1422 Stunden jährlich. Daten der Klimastation Quedlinburg Stadtgliederung Die historische Kernstadt gliedert sich in den ehemaligen Königsbesitz mit dem Westendorf, dem Burgberg, der St.-Wiperti-Kirche sowie dem Münzenberg. Nördlich davon liegt die 994 gegründete Altstadt und östlich die im 12. Jahrhundert gegründete Neustadt. Dazwischen wurde im 13./14. Jahrhundert die Steinbrücke angelegt und die Word trockengelegt. Nördlich der Altstadt befindet sich das mittelalterliche Vorstadtviertel Gröpern. Um diesen mittelalterlichen Kern wurde am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Gürtel aus Villen im Jugendstil gebaut. Im Zuge der Industrialisierung entstanden außerhalb dieses Gürtels neue Ortsteile, so die Kleysiedlung, das Neubaugebiet in der Süderstadt (19./20. Jahrhundert) und das auf dem Kleers (1980er Jahre). Neben dieser Kernstadt gehören zu Quedlinburg noch die Ortsteile Münchenhof (vier Kilometer nördlich), Gersdorfer Burg (drei Kilometer südöstlich), Morgenrot (vier Kilometer östlich) und Quarmbeck (vier Kilometer südlich) sowie seit dem 1. Januar 2014 wieder Bad Suderode und Gernrode mit den Ortsteilen Haferfeld und dem Forsthaus Sternhaus. Am 1. Juli 2014 ist das neue Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt in Kraft getreten. In dessen § 14 (2) wird den Gemeinden die Möglichkeit gegeben, den Ortsteilen, die vor der Eingemeindung Städte waren, diese Bezeichnung zuzuerkennen. Die Stadt Quedlinburg hat von dieser Regelung Gebrauch gemacht. Ihre geänderte Hauptsatzung stammt vom 12. März 2015. Im § 1 (3) werden die Ortsteile und Ortschaften mit ihren amtlichen Namen aufgeführt. Nachbargemeinden Quedlinburg ist eine Stadt im Landkreis Harz und grenzt an acht sachsen-anhaltische Städte und Gemeinden (im Uhrzeigersinn, im Nordosten beginnend): Gemeinde Harsleben, Stadt Wegeleben, Gemeinden Ditfurt und Selke-Aue, Städte Ballenstedt und Thale. Geschichte Frühe Besiedlungen Die ersten Siedlungsspuren reichen bis in die Altsteinzeit zurück. Die Gegend war fast durchgehend besiedelt. Die ertragreichen Böden machten die Gegend für Siedler während des Neolithikums besonders interessant, was sich durch über 55 Siedlungsreste dieser Epoche allein in der Stadt und der näheren Umgebung nachweisen lässt. So befinden sich auf den markanten Bergspitzen wie dem Moorberg, der Bockshornschanze oder dem Brüggeberg, die an den Seitenwänden des Bodetals aufgereiht wie auf einer Kette aufragen, neolithische Begräbnishügel. Etwa zwei Kilometer nordwestlich von Quedlinburg, westlich der Wüstung Marsleben, konnte 2005 eine Kreisgrabenanlage der Stichbandkeramik untersucht werden, die der Kreisgrabenanlage von Goseck in Alter, Ausdehnung und Form nicht nachsteht. Am Ende des 8. Jahrhunderts häufen sich urkundliche Nachrichten über Ortschaften in der Umgebung Quedlinburgs: Marsleben, Groß Orden, Ballersleben (alle wüst), Ditfurt und Weddersleben. Die Wipertikirche als Filiale der Abtei Hersfeld ist wahrscheinlich um 835/863 gegründet worden. Königliche Osterpfalz vom 10. bis 12. Jahrhundert Bedeutung erlangte Quedlinburg, als es im 10. Jahrhundert die Königspfalz wurde, in der die ottonischen Herrscher das Osterfest feierten. Erstmals wurde es als villa quae dicitur Quitilingaburg in einer Urkunde König Heinrichs I. vom 22. April 922 erwähnt. Später bestimmte Heinrich den Ort zu seiner Grablege. Nach seinem Tod im Jahr 936 in Memleben wurde sein Leichnam nach Quedlinburg überführt und in der Pfalzkapelle auf dem Schlossberg bestattet. Seine Witwe Königin Mathilde ließ sich von Heinrichs Sohn und Nachfolger Otto I. die Gründung eines Damenstiftes mit der Aufgabe der Totenmemorie bestätigen. Dreißig Jahre lang stand sie ihrer Stiftsgründung selbst als Leiterin vor, ohne Äbtissin geworden zu sein. Otto I. besuchte Quedlinburg in unregelmäßigen Abständen zur Feier des Osterfestes und zu den Gedenktagen seines Vaters. Im Jahr 941 entging er dabei nur knapp einem Mordanschlag durch seinen jüngeren Bruder Heinrich. Auf dem Oster-Hoftag 966 wurde Ottos Tochter Mathilde als Äbtissin mit der Leitung des Damenstiftes betraut. Zwei Jahre später, am 14. März 968, starb ihre Großmutter und wurde an der Seite ihres Gemahls bestattet. Ihr Grab und ihr steinerner Sarkophag sind erhalten geblieben, während Heinrichs Grablege leer ist. Der größte und glanzvollste Hoftag Ottos des Großen fand 973 statt. Unter den internationalen Teilnehmern befanden sich Boleslav I., Herzog von Böhmen, und Mieszko I., Herzog der Polanen, die dem Kaiser den Treueeid leisteten. Kurz darauf starb Otto I. Sein Sohn Otto II. besuchte in seiner zehnjährigen Regentschaft nur zweimal Quedlinburg. Nach dessen Tod 983 war Otto III. erst drei Jahre alt. Sein Onkel Heinrich der Zänker wollte sich in Quedlinburg selbst zum König erheben und entführte den jungen König. Vor allem das Eingreifen von Ottos Großmutter Adelheid, der zweiten Gemahlin Ottos I., und seiner Mutter Theophanu, der Gemahlin Ottos II., zwang Heinrich zwei Jahre später, dem jungen Otto III. in Quedlinburg zu huldigen. Otto III. verlieh 994 dem Stift das Markt-, Münz- und Zollrecht, noch unter dem Vorstand seiner Tante, der Äbtissin Mathilde. Damit war eine wichtige Bedingung für die weitere städtische Entwicklung Quedlinburgs geschaffen. Von der weiteren reichspolitischen Bedeutung Quedlinburgs im 11. und 12. Jahrhundert zeugen die vor Ort verfassten, später so genannten Quedlinburger Annalen. Diese verzeichnen im Jahre 1009 erstmals in schriftlichen Quellen Litua, den Namen Litauens. Für die Zeit vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, als Quedlinburg die Osterpfalz der ostfränkisch/deutschen Herrscherhäuser war, sind 69 urkundlich nachweisbare Aufenthalte eines Königs oder Kaisers gezählt worden. In den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung erhielt das Damenstift auch weit entfernte Orte, wie das 170 km entfernte Soltau, die Kirche St. Michael des Volkmarskellers (956), Duderstadt (974), Potsdam (993) und Gera (999), aber auch andere Schätze. Zu den 48 von Otto I. geschenkten Orten kamen unter Otto II. elf, unter Otto III. zehn und unter späteren Herrschern noch weitere 150 Orte hinzu. Aufstrebende Stadt im Spätmittelalter und der Frühneuzeit 1326 schloss sich die Stadt mit Halberstadt und Aschersleben zum Halberstädter Dreistädtebund zusammen, der 150 Jahre andauerte. In den folgenden vier Jahrhunderten nahm Quedlinburg einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wie in anderen Städten (Braunschweig, Halberstadt) der Region waren das Gewandschneider- und das Kaufmannswesen besonders intensiv. Um 1330 wurde die Altstadt mit der im 12. Jahrhundert gegründeten Neustadt belehnt; beide agierten fortan immer geschlossen als Stadt Quedlinburg. Zum wirtschaftlichen Erfolg gesellte sich 1336 ein politischer, als die Stadt in einem regionalen Konflikt zwischen dem Halberstädter Bischof und dem Grafen von Regenstein letzteren gefangen setzen konnte. Die Stadt erlangte größere Unabhängigkeit von der Stadtherrin, der Äbtissin des Damenstiftes, und durfte in der Folge ihre Verteidigungsanlagen massiv ausbauen. Das neue Selbstbewusstsein wurde in Form von vielen Städtebündnissen nach außen hin demonstriert. Der Plan des Stadtrates, sich von den Befugnissen der Äbtissin Hedwig von Sachsen zu befreien, mündete 1477 in einen gewaltsamen Konflikt. Die Quedlinburger versuchten, Hedwig mit Waffengewalt aus der Stadt zu vertreiben. Daraufhin bat diese ihre Brüder, die Wettiner Herzöge Ernst und Albrecht, um Hilfe. Die entsandten Truppen stürmten die Stadt ohne eigene Verluste, während 80 Quedlinburger fielen. Die Bürgerschaft unterwarf sich daraufhin und schied aus sämtlichen Bündnissen aus. Der um 1435 vor dem Haus der Gewandschneider auf dem Marktplatz aufgestellte Roland, Symbol der Marktfreiheit und Zeichen städtischer Unabhängigkeit, wurde gestürzt und zerschlagen. 1569 ließ der Rat diese Rolandsfigur im Hof des Ratskellers wieder neu aufstellen und 1869 wurden die Bruchstücke der Rolandstatue vor dem Rathaus aufgestellt. 2013 wurde die Figur gesäubert und komplettiert. Während des Bauernkriegs wurden vier Klöster der Stadt, das Prämonstratenserkloster St. Wiperti, das Benediktinerinnenkloster St. Marien, das Franziskanerkloster in der Altstadt und das Augustinerkloster in der Neustadt, zerstört. Die Reformation wurde in Quedlinburg im Jahr 1539 durchgesetzt und das Stift in ein evangelisches Freies weltliches Stift umgewandelt. Den größten städtebaulichen Aufschwung nahm die Stadt ab dem Dreißigjährigen Krieg. Die meisten der 2159 erhaltenen Fachwerkhäuser sind in dieser Zeit entstanden. Zwei Stadtbrände verwüsteten 1676 und 1797 große Teile der Stadt. 1698 besetzten brandenburgische Truppen die Stadt, womit fortan Preußen Schutzmacht war. 1802 wurde das seit 936 bestehende Damenstift aufgelöst. Die Stiftsgebäude auf dem Schlossberg gingen in den Besitz des preußischen Staates über. Aufstrebendes Pflanzenzuchtzentrum vom 18. bis 20. Jahrhundert Im Laufe des 18. und besonders des 19. Jahrhunderts entwickelte sich durch die Pflanzenzucht und Saatgutvermehrung ein beachtlicher Wohlstand, der städtebaulich auch in einer Reihe von Jugendstil-Villen seinen Ausdruck fand. Als die erste Zuckerfabrik des Regierungsbezirks Magdeburg 1834 von G. Chr. Hanewald in Quedlinburg eingerichtet wurde, führte dies zur raschen Entwicklung landwirtschaftlicher Zuliefer- und Großbetriebe. Die Entwicklung von Zuchtverfahren, der Anschluss an das Eisenbahnnetz und die Separation (1834–1858) sind Stationen zu einer weltwirtschaftlichen Bedeutung im Saatzuchtbereich. Neben der Zucht von Zier- und landwirtschaftlichen Pflanzen wuchs seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Gemüsezucht. Von 1815 bis 1938 war Quedlinburg eine Garnisonsstadt. Von 1865 bis 1888 wurden Fragmente der ältesten bekannten illustrierten biblischen Handschrift (Quedlinburger Itala) aus dem 5. Jahrhundert in Quedlinburg gefunden. 20. Jahrhundert Im beginnenden 20. Jahrhundert waren die Saatzuchtfirmen die größten Arbeitgeber. 1907 sprach Rosa Luxemburg vor 800 Quedlinburger Saatzucht-Arbeitern. 1911 wurde Quedlinburg, das bis dahin Sitz des Kreises Quedlinburg war, kreisfreie Stadt. Während des Ersten Weltkrieges wurden bis zu 17.000 Kriegsgefangene zur Arbeit in der Landwirtschaft gezwungen und in einem Kriegsgefangenenlager auf dem Ritteranger nordöstlich der Stadt untergebracht. Dieses Lager wurde seit September 1914 eingerichtet und bestand über den Krieg hinaus als Notunterkunft zaristischer Soldaten, bis es im Juni 1922 niedergebrannt wurde. Im selben Jahr fand in Quedlinburg eine Feier zum tausendsten Jahrestag der ersten urkundlichen Erwähnung (922) statt. Ein verheerendes Hochwasser der Bode zerstörte 1926 alle Brücken und legte die Infrastruktur lahm. Immer wieder behinderten spätere Hochwasser die Wiederaufbauarbeiten. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Tausendjahrfeier (936–1936) des Todestages König Heinrichs I. von den Nationalsozialisten in Gestalt der SS als ein propagandistisches Geschenk angesehen. Heinrich Himmler entwickelte ab 1936 einen Kult um den König und wurde selbst als eine Reinkarnation Heinrichs angesehen, was ihm geschmeichelt haben soll, wie sein Leibarzt Felix Kersten berichtet. In Quedlinburg wurden die Wipertikrypta und die Kirche St. Servatii beschlagnahmt und zu Weihestätten der SS umfunktioniert. Himmlers persönliches Erscheinen (bis 1939) zu den jährlichen Feierlichkeiten am 2. Juli, die bis 1944 stattfanden, wurde zum Beispiel 1937 propagandistisch mit Nachrichten über das Auffinden der verlorenen Gebeine Heinrichs I. aufgewertet. Nach dem Krieg wurden bei einer Öffnung des (neuen) Sarkophags die von der SS vorgezeigten „Funde“ als plumpe Fälschungen entlarvt. Am Morgen nach den Zerstörungen der „Reichspogromnacht“ legte der Ladenbesitzer Sommerfeld seine Eisernen Kreuze aus dem Ersten Weltkrieg (EK 1 und 2) in sein zerstörtes Schaufenster und ein Schild: „Der Dank des Vaterlandes ist Dir gewiss.“ Bald darauf begann die Verschleppung jüdischer Bewohner. Im Stadtgebiet befanden sich drei Außenstellen von Konzentrationslagern: das Kreisgerichtsgefängnis und je ein Gefangenenlager in der Kleersturnhalle und im Fliegerhorst in Quarmbeck. Seit 1943/1944 wurden in Quedlinburg über 8000 Verwundete in den Sporthallen und Notlazaretten versorgt. In der Woche, bevor am 19. April 1945 amerikanische Truppenverbände (RCT 18) die Stadt fast kampflos einnehmen konnten, gelang es, Teile der V 2, die auf dem Quedlinburger Bahnhof auf Waggons lagerten, aus der Stadt zu bringen. Dies verhinderte eine Bombardierung; so beschränkten sich die Kriegszerstörungen auf Artillerietreffer. Nach sechs Wochen übergaben die amerikanischen Truppen die Stadt an britische. Die nach weiteren zwei Wochen erfolgte Übergabe an die Sowjetarmee, begründet sich nicht, wie vor Ort immer wieder vermutet, mit der Aufteilung Berlins, sondern mit dem erst 2020 bekannt gewordenen Gebietstausch 1945 im Harz, bei dem die Stromversorgung Niedersachsens eine zentrale Rolle spielte. Die Informationen darüber wurden 1945 von englischer wie sowjetischer Seite verheimlicht, um weitere Massenfluchten zu verhindern. Nach dem Krieg war Quedlinburg Teil des 1945 gegründeten Landes Sachsen-Anhalt, seit 1952 des Bezirkes Halle in der DDR. Die Demonstrationen vom 17. Juni 1953 konnten in Quedlinburg und Thale nur durch den Einsatz von Streitkräften der Sowjetarmee unterbunden werden. Obwohl es kaum nennenswerte Kriegszerstörungen gab, reichten die Bemühungen durch die DDR bei weitem nicht aus, den drohenden natürlichen Verfall der Altstadt zu stoppen. Durch den Einsatz erfahrener polnischer Restauratoren aus Toruń () konnten nur punktuell Häuser wiederhergestellt werden. Seit 1957 wurde St. Wiperti restauriert und 1959 neugeweiht. Die ursprünglichen Planungen der DDR in den 1960er Jahren, die historische Altstadt vollständig niederzureißen und durch einen zentralen Platz und sozialistische Plattenbauten zu ersetzen, scheiterten an Geldmangel. Versuche, die Plattenbauweise den historischen Verhältnissen anzupassen, sind im Bereich des Marschlinger Hofes, in Neuendorf und in der Schmalen Straße nördlich des Marktes zu sehen. Dafür wurde die sogenannte Hallesche Monolithbauweise (HMB) modifiziert und als Hallesche Monolithbauweise Typ Quedlinburg (HMBQ) umgesetzt. Erst nach der Wiedervereinigung 1990 wurden zielstrebig Fachwerkbauwerke restauriert. Im Herbst 1989 demonstrierten in kaum einer anderen Stadt, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele Menschen wie in Quedlinburg. Gewaltlose Demonstrationen während der „Wende“ fanden in Quedlinburg immer am Donnerstag statt. Die Demonstration am 2. November 1989 mit 15.000 Teilnehmern war trotz provozierenden Verhaltens der SED-Größen vor Ort ein Beispiel der Gewaltlosigkeit. Die größte Demonstration mit über 30.000 Teilnehmern fand am 9. November 1989 statt. Keiner der Teilnehmer ahnte, dass zur gleichen Zeit die Mauer geöffnet wurde. Die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit wurde am 12. Dezember 1989 aufgelöst, nachdem die Klarnamendatei und die brisantesten Akten (beispielsweise zu Kirchenangelegenheiten) in den Tagen vorher vernichtet worden waren. Am 6. Januar 1990 fand zum Dank für den überwältigenden Empfang beim Überschreiten der Grenze ein großes Stadtfest mit zahlreichen Würdenträgern und 50.000 Gästen statt. Bei einem Spontanbesuch sagte Helmut Kohl im Januar 1990 der Stadt Hilfsgelder zur Sicherung der extrem gefährdeten Bausubstanz zu, und das Bundesland Niedersachsen spendete im Frühjahr 100.000 Dachziegel für Sofortmaßnahmen. Ein gesellschaftlicher Tiefpunkt waren im Herbst 1992 ausländerfeindliche Übergriffe in der Quedlinburger Neustadt. Eine Antwort von Quedlinburger Einwohnern war die Gründung der noch aktiven Präventionsmaßnahme „Altstadtprojekt“. Eine geplante NPD-Demonstration 15 Jahre später wurde durch eine betont bunte Demonstration engagierter Quedlinburger verhindert. Von den 1945 geraubten zwölf Teilen des Domschatzes kehrten 1993 zehn aus den USA zurück in die Quedlinburger Domschatzkammer. Zwei Beutestücke bleiben weiterhin verschollen. Zur Tausendjahrfeier der Verleihung des Markt-, Münz- und Zollrechtes wurden große Teile der Quedlinburger Altstadt und der Königshofkomplex am 17. Dezember 1994 auf Antrag Deutschlands auf die Liste der Welterbestätten der UNESCO gesetzt, als ein Ensemble, das die Ansprüche gemäß dem Kriterium IV erfüllt, „ein herausragendes Beispiel eines Typus von Gebäuden oder architektonischen Ensembles oder einer Landschaft, die bedeutsame Abschnitte in der menschlichen Geschichte darstellen“. (IV). Gerhard Schröder besuchte 1999 mit dem französischen Premierminister Lionel Jospin und 2001 mit dem spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar die Stadt. Seit 2000 Das schwedische Königspaar, Carl XVI. Gustaf und seine Frau Silvia, besuchte 2005 die Quedlinburger Stiftskirche. Seit 2006 ist der Bahnhof Quedlinburg an das Netz der Selketalbahn angeschlossen. Nach mehrjährigen Restaurierungen ist die Krypta der Stiftskirche seit März 2009 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit Alles Klara spielte von 2011 bis 2017 erstmals eine Vorabendserie der ARD in Quedlinburg und Umgebung. Von 2011 bis 2014 wurden umfassende Neugestaltungsarbeiten am Marktplatz, im Bereich der Breiten Straße und der Steinbrücke vorgenommen. Im Vorfeld dieser Arbeiten wurden bei archäologischen Grabungen Pflasterreste eines Marktes entdeckt, die in das 10. Jahrhundert datiert werden. Im Jahr 2014 wurde seitens des Stadtrates beschlossen, dem einzigartigen Stadtnamen die allgemeine Bezeichnung Welterbestadt voranzustellen. Nach Genehmigung durch den zuständigen Landkreis und die UNESCO Deutschland gilt seit 29. März 2015 die Bezeichnung Welterbestadt Quedlinburg. Seit dem Frühjahr 2015 ist die ehemalige Krypta der St.-Marien-Kirche auf dem Münzenberg nach fast 500 Jahren wieder zugänglich. Erstmals wurden am 26. Mai 2017 vor dem Haus Steinweg 81 Stolpersteine für Berta und Bruno Sommerfeld verlegt, die hier zeitweise lebten und nach ihrer Deportierung 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurden. Derzeit sind drei Stolpersteine in Quedlinburg verlegt. Während des Bundestagswahlkampf 2017 sprach Angela Merkel auf dem Quedlinburger Marktplatz. Im Juni 2018 fand die Frühjahrskonferenz der Innenminister unter Bundesinnenminister Horst Seehofer in Quedlinburg statt. Einwohnerentwicklung Da Quedlinburg lange Zeit nicht über seine mittelalterlichen (Stadtmauer)-Grenzen hinauswuchs, blieb die Einwohnerzahl vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert bei maximal 8.000 bis 10.000 Personen. Erst mit der Industrialisierung begann die Zahl zu wachsen und erreichte den höchsten Wert 1950 mit 35.426/35.555 Einwohnern. Danach sank sie von 1950 bis 1990 um 21 Prozent (7459) kontinuierlich ab und lag bereits 1975 wieder unter 30.000. Seit der gewaltlosen Revolution und der Grenzöffnung 1989/1990 verlor die Stadt wegen hoher Arbeitslosigkeit, des Wegzugs vieler Einwohner in das Umland und des Geburtenrückgangs erneut 20 Prozent ihrer Bewohner (5.500 Personen). Am 30. Juni 2006 betrug die amtliche Einwohnerzahl für Quedlinburg nach Fortschreibung des Statistischen Landesamtes Sachsen-Anhalt 22.481 (nur Hauptwohnsitze und nach Abgleich mit den anderen Landesämtern). Zum 1. Januar 2011 vergrößerte sich die Stadt zunächst durch die Eingemeindung der Stadt Gernrode sowie der Gemeinden Bad Suderode und Rieder von 78,14 km² auf 141,82 km²; die Bevölkerungszahl stieg von etwas über 21.000 auf über 28.000. Diese Eingliederung musste jedoch wegen eines Formfehlers am 19. Februar 2013 aufgrund einer Gerichtsentscheidung wieder rückgängig gemacht werden. Bad Suderode und Gernrode gehören seit dem 1. Januar 2014 wieder zu Quedlinburg. Bevölkerungsprognose Die Bertelsmann-Stiftung, Wegweiser Demographischer Wandel, liefert Daten zur Entwicklung der Einwohnerzahl von 2959 Kommunen in Deutschland (Publikation Januar 2006). Für Quedlinburg wird ein Absinken der Bevölkerung zwischen 2003 und 2020 um 14,1 % (3281 Personen) vorausgesagt. Prognose der absoluten Bevölkerungsentwicklung von 2003 bis 2020 für Quedlinburg (Hauptwohnsitze): Im Rahmen der Fortschreibung des WelterbeManagementPlans wurde 2011 eine eigene Prognose aufgestellt. Zum Stichtag 31. Dezember 2010 wohnten 21.016 Einwohner mit Hauptwohnsitz in Quedlinburg (mit Gebietsstand zu diesem Stichtag). Im Jahressaldo verlor die Stadt im Laufe 2011 insgesamt 69 Einwohner. Unter Einschluss der Zu- und Abwanderungen wurde damit seit 2001 ein durchschnittlicher Negativsaldo von 150 bis 180 Einwohnern jährlich konstatiert. Die Prognose für 2025 liegt nach dieser Erhebung bei 16.200 bis 17.300 Einwohner (in den Grenzen von 2010). Altersstruktur Die folgende Übersicht zeigt die Altersstruktur vom 31. Dezember 2007. Einige Zahlen spiegeln 6, andere über 20 Jahrgänge wider. Religionen Christentum Der überwiegende Teil der Quedlinburger Bevölkerung gehört keiner Religionsgemeinschaft an. Die ehemals fünf protestantischen Gemeinden umfassen rund 16 % der Stadtbevölkerung; sie haben sich in der Evangelischen Kirchengemeinde Quedlinburg zusammengeschlossen, die zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland gehört. Etwa vier Prozent der Stadtbevölkerung gehören zur katholischen St.-Mathildis-Gemeinde, einer Pfarrei im Bistum Magdeburg. Weitere christliche Gemeinden gehören zu den Siebenten-Tags-Adventisten, der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde (Baptisten) oder anderen evangelischen Freikirchen sowie zur Neuapostolischen Kirche. Darüber hinaus leben in der Stadt Mitglieder der Blankenburger Gemeinde der alt-katholischen Kirche. Judentum Bereits im 11./12. Jahrhundert sollen sich jüdische Kaufleute in Quedlinburg angesiedelt haben. Seit dem frühen 13. Jahrhundert sind sie urkundlich fassbar. Sie fungierten als unabhängige Kreditgeber der Quedlinburger Äbtissin und anderer lokaler Magnaten. Im Jahr 1514 mussten alle Juden Quedlinburg verlassen. Zwar waren im 18. Jahrhundert drei Schutzjuden erlaubt, aber erst nach der Auflösung des Stiftes 1802 siedelten sie sich wieder in Quedlinburg an. Von 1933 bis 1945 lebten weniger als 100 „Nichtarier“ in Quedlinburg. Von diesen kamen mindestens 13 gewaltsam zu Tode, 14 gelang die Emigration und 34, überwiegend „Halbjuden“, überlebten und starben eines natürlichen Todes. Die anderen Schicksale sind unbekannt. Eine jüdische Gemeinde gibt es seit der NS-Zeit nicht mehr in Quedlinburg. Politik Liste der (Ober-)Bürgermeister seit 1800 Stadtrat An der Spitze der Stadt stand seit dem 13. Jahrhundert der Rat mit zunächst zwölf, später dreimal zwölf Ratsherren (abwechselnd zwölf pro Jahr). Den Vorsitz hatte ein Bürgermeisterpaar, bestehend aus einem Bürgermeister der Alt- und einem der Neustadt. Bis zum 19. Jahrhundert gab es also drei Altstädter und drei Neustädter Bürgermeister, die sich abwechselten. Dann wurde das Amt auf eine Person beschränkt. Von 1890 bis 2000 trugen die Bürgermeister den Titel Oberbürgermeister. Als Vertretung der Bürger gibt es eine Stadtvertretung, die in Quedlinburg die Bezeichnung Stadtrat trägt. Die Mitglieder der Bürgerschaft werden von den Bürgern der Stadt auf fünf Jahre gewählt. Die Mehrheitsverhältnisse in der Quedlinburger Bürgerschaft sind sehr unübersichtlich. 2009 wurde der Stadtrat noch für die Kernstadt Quedlinburg allein gewählt. Durch die Eingemeindung der Ortschaften Rieder (2011–2013) sowie Gernrode und Bad Suderode (2011–2013 sowie seit 2014) vergrößerte sich der Stadtrat zeitweilig auf bis zu 45 Sitze. Bei der Kommunalwahl am 25. Mai 2014 wurde der erste Stadtrat gewählt, bei dem Kandidaten auch aus den neuen Ortsteilen direkt antraten. Zusätzlich wurde für Gernrode und Bad Suderode ein Ortschaftsrat gewählt. Die Kommunalwahl am 26. Mai 2019 führte zu folgendem Ergebnis: Das Wahlergebnis der vorangegangenen Wahlen war (sortiert nach prozentualer Reihenfolge der letzten Wahl): Die Wahlbeteiligung 2014 von 40,0 % zählt zu den niedrigsten Werten in Deutschland. Wappen Quedlinburg führte seit Jahrhunderten ein Wappen, doch liegen keine Zeugnisse dafür vor, dass dieses Hoheitszeichen rechtmäßig verliehen wurde. Das Wappenbuch des Heraldikers Johann Siebmacher führt im Jahr 1605 die Wappen der Reichsstädte und anderer Städte vor; ein Quedlinburger Wappen nennt er nicht. Auch finden sich in den Archiven keine historiografischen Hinweise auf eine Wappenverleihung. Es ist darum anzunehmen, dass Quedlinburg im Laufe seiner Stadtgeschichte aus dem ursprünglichen Siegelbild ein in Gewohnheitsrecht getragenes Wappen entwickelte. Das erklärt auch die Tatsache, dass das Wappenbild im Laufe der Jahrhunderte häufig wechselte und von einem verbindlichen Erscheinungsbild nicht die Rede sein kann. Das bis 1998 gebräuchliche Wappenbild fand bei der Landesregierung keine Zustimmung und wurde deshalb in seiner Gestaltung verändert. Diese Änderungen betrafen allerdings lediglich Details und kaum die heraldische Erscheinung. Begründet wurde die gestalterische Modifizierung damit, dass es gerade die veränderten Details seien, die aus einem Bild ein korrektes Wappenbild machen würden. Vorbild des Adlers war das 1882 von Adolf Matthias Hildebrandt gestaltete Wappenbild aus dem „Urkundenbuch der Stadt Quedlinburg“. Der innere Schild wurde in seiner Grafik den aktuellen heraldischen Gepflogenheiten und überlieferten stilistischen Formen angepasst. Die grafische Ausführung und Dokumentation erfolgte durch den Heraldiker Jörg Mantzsch. Blasonierung: Die Farben der Stadt sind Schwarz-Gelb. Flagge Die Flagge der Stadt besteht aus den Farben der Stadt in Streifen mit einem aufgesetzten Stadtwappen. Städtepartnerschaften Quedlinburg hat seit 1961 eine Städtepartnerschaft mit dem kleinen Ort Aulnoye-Aymeries in Nordostfrankreich und seit 1991 eine Städteunion mit den vier historisch bedeutsamen Städten Herford in Nordrhein-Westfalen sowie Celle, Hann. Münden und Hameln in Niedersachsen. Gemeinsam mit diesen wurde ein sogenanntes Städteunionshaus (Hohe Straße 8) eingerichtet, in dem regelmäßig Treffen stattfinden. Seit 2000 gibt es einen Städtekontakt mit Torbay in Großbritannien. Kultur und Sehenswürdigkeiten Museen, Galerien und Archive Städtische Museen Quedlinburg Die Ausstellung des Schlossmuseums zeigt die Entwicklung des Burgberges mit dem Damenstift und Facetten der Stadtgeschichte. Herausragende Exponate sind der bronzezeitliche Hortfund vom Lehof, die Goldscheibenfibel aus Groß Orden (wüst), der sogenannte Raubgrafenkasten und eine mittelalterliche Balliste. Seit 2002 wird im sogenannten Ottonenkeller eine Ausstellung zur Rezeption der ottonischen Zeit während des Nationalsozialismus gezeigt. Im 1570 erbauten Klopstockhaus wurde 1724 der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock geboren. Klopstock wurde durch sein Wirken zu einem Begründer der klassischen deutschen Literatur und war weit über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt. An das Museum im Klopstockhaus angeschlossen sind eine Bibliothek und ein Archiv. Das Fachwerkmuseum Ständerbau zählt zu den ältesten Fachwerkhäusern in Quedlinburg. Neuere Untersuchungen ergaben als Datierung das Fällungsjahr 1325. Älter sind Gebäudeteile von Klink 6/7 von 1289 (d), Hölle 11 von 1301 (d), Breite Str. 12/13 1330 (d). Die Ausstellung zeigt die Geschichte des Ständer- und Fachwerkbaus vom 14. bis zum 20. Jahrhundert und einzelne Stile des Quedlinburger Fachwerkbaus anhand von Modellen. Andere Museen und Galerien Die 1986 eröffnete Lyonel-Feininger-Galerie zeigt Werke des New Yorker Bauhaus-Künstlers Lyonel Feininger (1871–1956), die vom Quedlinburger Hermann Klumpp, einem Schüler des Bauhauses, vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten bewahrt worden waren. Die Sammlung, eine der umfangreichsten geschlossenen Bestände von Grafiken, Radierungen, Lithographien und Holzschnitten des Künstlers, dokumentiert seine Schaffensperioden von 1906 bis 1937. Daneben befinden sich drei weitere Galerien in der Stadt: Galerie Weißer Engel, Galerie im Kunsthoken und die „Galerie im kleinen Kunsthaus“. Im Mitteldeutschen Eisenbahn- und Spielzeugmuseum befinden sich über 3.000 Ausstellungsobjekte zum Thema Historisches Spielzeug aus der Zeit um 1900 und eine Sammlung historischer Modelleisenbahnen der Spuren I, 0, S und H0, vor allem von Märklin, aber auch ausländische Modelleisenbahnen. Das „Museum für Glasmalerei und Kunsthandwerk“, untergebracht im restaurierten Wordspeicher, einem Speichergebäude des 17. Jahrhunderts, bietet eine Ausstellung zur Bedeutung und Geschichte der Quedlinburger Glasmalerei sowie eine Schauwerkstatt und einen interaktiven Erlebnisraum. Das „Münzenbergmuseum“ zeigt die Geschichte des mittelalterlichen Marienklosters auf dem Münzenberg und die Siedlungs- und Sozialgeschichte dieses Viertels in der Frühen Neuzeit. Kirchen Romanische Kirchen Die Stiftskirche St. Servatii thront weithin sichtbar auf dem Schlossberg über der Stadt. Der jetzige, vierte Kirchenbau an gleicher Stelle wurde nach einem Brand im Jahr 1070 begonnen und im Jahr 1129 geweiht. Der romanische Kirchenraum ist durch den niedersächsischen Stützenwechsel und einen imposanten, innen und außen verlaufenden Relieffries gekennzeichnet. Der Hohe Chor wurde unter der Äbtissin Jutta von Kranichfeld bis 1320 im gotischen Stil umgebaut. Bei der umfassenden Restaurierung unter Ferdinand von Quast 1863 bis 1882 erhielt die Kirche zwei romanische Türme mit stilwidrigen rheinischen Helmen. In der Zeit von 1936 bis 1945 war die Kirche durch die SS unter dem Reichsführer SS Heinrich Himmler besetzt und profaniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die beschädigten Turmhelme durch stilistisch besser passende Pyramidendächer ersetzt. In den beiden Schatzkammern ist der Quedlinburger Domschatz mit den 1945 gestohlenen und 1992 aus Texas zurückgekehrten Teilen zu sehen. Gezeigt werden unter anderem das Servatiusreliquiar, das Katharinenreliquiar, Fragmente der Quedlinburger Itala, der mit Goldblech beschlagene Servatius- oder Äbtissinnenstab und der Knüpfteppich aus dem 12. Jahrhundert. Die St.-Wiperti-Kirche wurde als katholische Filialkirche 1959 neugeweiht. Reste des Altarraums reichen bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts zurück. In diesen Bau wurde in der Zeit um das Jahr 1020 die romanische Krypta eingefügt. 1146 wurde der gesamte Kanonikerkonvent (seit 961/964) in einen Prämonstratenserkonvent umgewandelt. Dieses Kloster überstand in vier Jahrhunderten mehrere Zerstörungen (1336, 1525), bevor es im Zuge der Reformation spätestens 1546 aufgehoben wurde. Die Kirche wurde als evangelische Pfarrkirche der Münzenberg- und Westendorfgemeinde genutzt. Mit der Auflösung des Damenstiftes 1802 wurde die Wipertikirche zunächst verpachtet, später verkauft und als Scheune genutzt. Von 1936 bis 1945 wurde sie ebenfalls als nationalsozialistische Weihestätte profaniert. In den Jahren 1954 bis 1958 wiederhergerichtet, wird sie seit 1959 in den Sommermonaten für das sonntägliche Hochamt genutzt. 1995 wurde ein Förderverein gegründet, der die bauliche und historische Substanz betreut. Die Reste der St.-Marien-Kirche auf dem Münzenberg werden nicht als Sakralraum genutzt. Sie sind aber durch eine private Initiative von Siegfried Behrens und seiner Ehefrau wieder zugänglich gemacht worden. Die 1525 aufgegebene romanische Kirche ist 986 auf Intervention der Äbtissin Mathilde als Klosterkirche eines Benediktinerinnenklosters gegründet worden. 1017 wurde sie nach einem Brand in Gegenwart Heinrichs II. neu geweiht. Nach den Zerstörungen im Bauernkrieg war das Kloster verlassen worden, und seit den 1550er-Jahren siedelten sich einfache Leute (Musikanten etc.) auf dem Münzenberg an. Diese zersiedelten das ehemalige Klostergelände mit vielen kleinen Häusern, sodass der Kirchenraum in 17 einzelne Gebäude aufgeteilt war. Ein Großteil der Kirche wurde wieder in der ursprünglichen Form zugänglich gemacht und der weiteren Verantwortung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz übergeben. Die Stiftskirche, die Wipertikirche und die Marienkirche sind die Quedlinburger Stationen auf der südlichen Route der Straße der Romanik. Gotische Kirchen St. Aegidii im Norden der Altstadt, eine spätgotische dreischiffige Kirche mit ihren wuchtigen, festungsartigen Türmen, wurde erstmals 1179 erwähnt. Die evangelische Kirchengemeinde Quedlinburg nutzt sie aus denkmaltechnischen Gründen zurzeit nur selten. Aus dem gleichen Grund sind die Besuchsmöglichkeiten eingeschränkt. Die Marktkirche St. Benedikti mit der angeschlossenen Kalandskapelle ist auf romanischen Resten errichtet und wurde 1233 erstmals erwähnt. Sie wird von der evangelischen Kirchengemeinde als Pfarrkirche genutzt. Der Bau ist eine Hallenkirche mit achteckigen Pfeilern, einem spätgotischen Chor aus dem 14. Jahrhundert und einem Taufstein aus dem Jahr 1648. Dach und Dachstuhl der Kirche sind als Fauna-Flora-Habitat (FFH) für die Große-Mausohr-Fledermäuse ausgewiesen. St. Nikolai in der Neustadt wurde 1222 erstmals erwähnt und ist mit ihren 72 Meter hohen Türmen und ihrem hohen dreischiffigen Bau ein imposantes Beispiel für einen frühgotischen Kirchenraum. Ob der romanische Vorgängerbau auf eingerammten Ellernpfählen errichtet wurde, um in dem morastigen Untergrund Halt zu finden, konnten archäologische Untersuchungen bisher weder bestätigen noch widerlegen. Nach chronikalischen Nachrichten des 13. Jahrhunderts hüteten zwei Schäfer auf der so genannten Pfannenwiese ihre Herden und fanden dabei einen Schatz, den sie zum Bau der Kirche stifteten. Deshalb sind zwei Ecken des Turmes mit Figuren eines Schäfers und seines Hundes geschmückt. Die Hallenkirche besitzt verschiedenartig gegliederte Pfeiler, einen einschiffigen Chor und Doppeltürme. St. Blasii in der Altstadt, von der nur noch die gotischen Türme (mit Spolien eines romanischen Vorgängerbaus) stehen, während das Kirchenschiff aus dem Barock stammt, wurde wegen fehlender Nutzung durch eine eigene Kirchengemeinde der Stadt übergeben und wird vor allem als Konzert- und Ausstellungsraum genutzt. Komplett erhalten sind die hölzernen Bankeinbauten des 16./17. Jahrhunderts. Neugotische Kirchen St. Mathilde im Neuendorf wurde von 1856 bis 1858 nach Plänen des Mitarbeiters der Kölner Dombauhütte Friedrich von Schmidt errichtet. 1858 von Bischof Konrad Martin (Paderborn) konsekriert und Mathilde, der Ehefrau König Heinrichs I. geweiht, ist sie die Pfarrkirche der katholischen Gemeinde. In der Süderstadt wurde 1906 St. Johannis errichtet, die sich auf dem Gebiet des ehemaligen Hospitals mit der alten St.-Johannes-Kapelle befindet. Die bereits im 13. Jahrhundert erwähnte St.-Johannis-Kapelle ist in den Jakobsweg eingebunden. Sie war einst die Kirche eines weit vor der Stadt Quedlinburg gelegenen Hospitals. Historische Bauwerke und Plätze Quedlinburger Fachwerkbau Der größte Teil des Hausbestandes im historischen Stadtkern sind Fachwerkhäuser, die in besonderer Weise dem städtebaulichen Denkmalschutz unterstehen. Sie wurden aufgrund ihrer Formen in fünf große Bereiche unterteilt. Danach wurden mindestens 11 (1 Prozent) Fachwerkhäuser vor 1530 errichtet, weitere 70 (5 Prozent) zwischen 1531 und 1620, mehr als 439 (33 Prozent) zwischen 1621 und 1700, mehr als 552 (42 Prozent) zwischen 1700 und 1800 und 255 (19 Prozent) im 19. und 20. Jahrhundert erbaut. Insgesamt sind das mehr als 1327 Fachwerkhäuser in Quedlinburg. Zum Vergleich haben sich in Wernigerode 624, in Stolberg 354 und in Osterwieck 353 Fachwerkbauten erhalten. In den vergangenen Jahren konnte die Bauforschung mit Hilfe von Dendrochronologie über zwanzig bisher bauzeitlich unbekannte Häuser und Dachstühle aus der Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert identifizieren. Von 1989 bis 2005 gelang durch verschiedene Förderprogramme die Sanierung von etwa 650 der insgesamt 1200 denkmalgeschützten Quedlinburger Fachwerkhäuser. Besonders um die Förderung verdient gemacht hat sich die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Ein Denkmalpflegeplan, der 2012 veröffentlicht wurde, spricht von 2119 Fachwerkbauten, von denen 1689 als Baudenkmale eingestuft sind. Insgesamt gelten 2050 der 3562 Gebäude als ortsbildprägend. Von 1990 bis 2010 hat Quedlinburg über 120 Millionen Euro Fördermittel aus Landes-, Bundes- und EU-Töpfen erhalten. Die Finanzlage der Stadt gilt als angespannt. Einzeldenkmale Das 1989 veröffentlichte Denkmalverzeichnis der Stadt Quedlinburg führt über 1200 Einzeldenkmale auf. Bei den folgenden besonders markanten Bauwerken handelt es sich infolgedessen nur um eine geringe Auswahl: Fachwerkbauten Auf etwa 400 Fachwerkhäusern sind Inschriften angebracht, die meist die Bauherren und – als Quedlinburger Besonderheit – die ausführenden Handwerker nennen. Gildehaus Zur Rose, Breite Straße 39 (farbenreiches Fachwerkhaus von 1612) So genannte Börse, Steinweg 23 (repräsentatives Fachwerkhaus von 1683) Ehemaliger Gast- und Kaufmannshof Weißer Engel, Lange Gasse 33, Eckfachwerkbau von 1623, im Fachwerkoberstock einzigartige Decke mit elf Stuckreliefs (Szenen aus dem Alten Testament) Um 1660 entstand der Kaufmannshof in der Breiten Straße 34. Das Lohgerberhaus an der Westseite des Markts entstand in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Im Jahr 1701 entstand das Haus Grünhagen auf der Ostseite des Marktplatzes. Mittelalterliche Fachwerkbauten: Klink 6/7 (1289 d), Breite Straße 12/13 (1330 d) Das Wohnhaus Schmale Straße 47 entstand im Stil der Spätgotik bereits um 1485, die Gebäude Schmale Straße 33 und 7 entstanden im Barock. Die Schlossmühle Quedlinburg (erster urkundlicher Nachweis 1412, seit 1997 Hotel) Steinbauten Steinerner Rathausbau (13./14. Jahrhundert) mit Rolandstatue und weiterem plastischen Schmuck Hagensches Freihaus – Quedlinburger Stadtschloss, Bockstraße 6 / Klink 11 (Steinbau, erbaut 1564–1566) Salfeldtsches Palais, Kornmarkt 5 (im Besitz der Deutschen Stiftung Denkmalschutz) Höllenhof, Hölle 11 (Profanbau erbaut 1215/1301 d, 3. Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege 2008) Jugendstilbauten Ambitionierter Jugendstilbau Steinbrücke 11 von 1903 vom Architekten Max Schneck Mittelalterliche Wehrbauten Der Ring der mittelalterlichen Stadtmauer mit seinen Stadttürmen ist in weiten Teilen noch zu sehen. Von den mittelalterlichen Stadttoren, dem Hohen Tor, dem Gröperntor, dem Öringertor und dem Pölkentor hat sich dagegen keines erhalten, wogegen das ehemalige Kaiser-Tor als Stadtturm erhalten ist. Der Schreckensturm ist der größte erhaltene Turm. Der durch sein grünes Dach leicht erkennbare Lindenbeinsche Turm ist mit einer Galerie versehen und für Besucher geöffnet. Zwei Türme sind zu Wohnungen ausgebaut, darunter der Kaiserturm. Einige Türme sind in Privathand, zum Teil in schlechtem baulichen Zustand. Dazu zählen unter anderen der Gänsehirtenturm, der Kuhhirtenturm, der Schweinehirtenturm, der Kruschitzkyturm, der Pulverturm, der Mertensturm und der Spiegelsturm. Von den im Felde um die Stadt befindlichen ehemals elf Wachtürmen, die entlang des Landgrabens oder der Landwehr an wichtigen strategischen Positionen erbaut waren, sind sechs, hier Feldwarten genannte Türme erhalten: die Bicklingswarte, die Lethwarte, die Altenburgwarte, die Gaterslebener Warte, die Steinholzwarte und die Seweckenwarte. Durch Steinraub weitgehend verschwunden sind die Warte auf dem Lehof, die Aholzwarte, die Heidbergwarte, die Anamberger Warte und die Sültenwarte. Sie waren umgeben von befestigten Höfen, die den auf den Feldern arbeitenden Bauern und Hirten als Fliehburg dienten. Die Warttürme wurden auf Bergen an der Gemarkungsgrenze als Frühwarnsystem errichtet und meldeten Gefahren mittels Rauch- und Feuerzeichen an den Turm der Marktkirche in der Stadt. Parks und Naturdenkmäler Der größte Park ist der Brühl, ein altes Waldstück, das bereits um 1179 als broil genannt und im 16./17. Jahrhundert planmäßig angelegt wurde. Der Brühlpark ist Bestandteil des 40 Gartenanlagen umfassenden Projektes Gartenträume Sachsen-Anhalt. Zwischen Brühl und Schlossberg wurde 2006 der Historische Abteigarten wieder neu gestaltet und mit einem Demeter-Garten versehen. Als weiterer Park steht der Worthgarten im unmittelbaren Stadtbereich Spaziergängern offen. In der Süderstadt wurde der ehemalige Johannisfriedhof im 19. Jahrhundert zur Parkanlage Johannishain umgestaltet. Als Ausflugsziele in der Nähe sind die Altenburg, der Lehof, das Steinholz, der 1913 erworbene Eselstall und die Hamwarte zu nennen. Die dort im 19. Jahrhundert befindlichen Ausflugslokale sind vollständig verschwunden. Theater und Musik Das Nordharzer Städtebundtheater ist mit je zwei Spielstätten in Halberstadt und in den Städtischen Bühnen Quedlinburg sowie mit Sommerbespielung im Bergtheater Thale aktiv. Weitere Theaterbesuche sind in der Waldbühne Altenbrak, der Seebühne Magdeburg und der Schlossbühne Wolfenbüttel möglich. Der 1981 von Kirchenmusikdirektor Gottfried Biller gegründete Quedlinburger Musiksommer bietet in den Sommermonaten wöchentlich ein Konzert innerhalb einer thematischen Konzertreihe in der Stiftskirche St. Servatii in Quedlinburg an. Von den verschiedenen Chören seien genannt: der Fritz-Prieß-Chor, der Quedlinburger Oratorienchor und der Ökumenische Jugendchor. Regelmäßige Veranstaltungen Mittlerweile weist Quedlinburg ein zunehmend angenommenes Veranstaltungsprogramm auf. Als größtes Ereignis kristallisiert sich zur Zeit der Advent in den Höfen heraus, bei dem 2006 an jedem Wochenende über 50.000 Besucher und 2007 zum Besuch von Gotthilf Fischer 75.000 in die Stadt kamen. Traditionell am zweiten und dritten Adventswochenende laden bis zu 24 sonst größtenteils geschlossene Höfe zum Geschenkekaufen, Essen, Glühweintrinken und Verweilen ein. Die Reihe der Veranstaltungen beginnt im Frühjahr mit dem sogenannten Kaiserfrühling zu Ostern und Pfingsten, einem mittelalterlichen Spektakel in der historischen Altstadt. Mitte Mai folgt die in ganz Deutschland verbreitete Lange Nacht der Museen. Das Programm Zauber der Bäume, eine Kunst- und Musikinstallationen im Brühlpark findet am ersten Samstag des Monats Juli statt. Über den Sommer verteilt, von Juni bis September, finden die verschiedenen Aufführungen des Quedlinburger Musiksommers statt. Meist im August findet das Gildefest der Quedlinburger Kaufmannsschaft statt. Am zweiten Wochenende im September wird der Tag des offenen Denkmals für Deutschland in Quedlinburg eröffnet. In der Stadt sind über 70 Quedlinburger Denkmäler für Besucher kostenlos geöffnet, die sonst meist verschlossen sind, und es wird eine Quedlinburger Blumenmesse am Mathildenbrunnen in der Neustadt veranstaltet. Daneben laden alle drei Monate die Quedlinburger Dixieland- und Swingtage ein, bei denen von einem Konzertort zu nächsten gefahren wird, um die Musik zu hören; weiterhin findet monatlich eine so genannte Milonga, ein Tanzabend mit argentinischem Tango statt, der von Braunschweiger Milongueras ausgerichtet wird. Im Sommer 2009 fand erstmals das weltweit ausgetragene kostenlose Musikfestival Fête de la Musique statt. Sport 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Tansania ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Infrastruktur Verkehr Straßenverkehr Die Stadt liegt am Knotenpunkt der Bundesstraßen 79 und 6 sowie an der A 36 (Braunschweig – Bernburg (Saale)). Der nördliche Anschluss (Quedlinburg-Zentrum) zur A 36 über der mittelalterlichen Siedlung Marsleben (wüst) ist seit 2006 unter Verkehr; der Lückenschluss zwischen Quedlinburg-Zentrum und Quedlinburg-Ost wurde am 1. Dezember 2007 unter Verkehr gestellt. Die Autobahn A 14 ist 40 Kilometer in östlicher, die A 2 50 Kilometer in nördlicher und die A 7 75 Kilometer in westlicher Richtung von der Stadt entfernt. Schienenverkehr Die 1863 als Durchgangsbahnhof gebaute Station Quedlinburg ist seit 2006 Verknüpfungspunkt zwischen der Eisenbahnstrecke Halberstadt–Thale und den Harzer Schmalspurbahnen, die auf der Trasse der umgespurten Bahnstrecke Quedlinburg–Frose bis Gernrode und weiter über die Selketalbahn und Harzquerbahn zur Brockenbahn verkehren. Quedlinburg war seit 1863 Durchgangsbahnhof des Nordharzer Eisenbahnnetzes an der Verbindung von Halberstadt zum Harzrand bei Thale. Auf dieser Verbindung verkehrt stündlich der Regional-Express der Abellio Rail Mitteldeutschland von Magdeburg über Halberstadt nach Thale. Freitags, samstags und sonntags werden einzelne Züge als Harz-Berlin-Express nach Berlin verlängert. Der frühere Verkehr auf der Nebenstrecke über Quarmbeck, Gernrode, Ballenstedt, Ermsleben nach Aschersleben, der ältesten regelspurigen Nebenbahn des Harzes, des sogenannten Balkans wurde 2004 eingestellt. 2006 wurde der Abschnitt Gernrode–Quedlinburg als Schmalspurbahn reaktiviert. Diese Stichstrecke Frose–Ballenstedt war 1868 von den Magdeburg-Halberstädter Eisenbahnen (MHE) auf Drängen des Herzogs von Anhalt errichtet worden, der sein Schloss in Ballenstedt erreichen wollte. Nachdem die Deutsche Bahn AG den normalspurigen Streckenabschnitt nach Aschersleben über Gernrode stillgelegt hatte, wurde am 18. April 2005 mit den Arbeiten zur Verlängerung der Selketalbahn von Gernrode nach Quedlinburg begonnen. Dafür wurde zunächst der Endbahnhof Gernrode zu einem Durchgangsbahnhof umgebaut. Die Selketalbahn der HSB wurde bis Ende Dezember 2005 um 8,5 Kilometer von Gernrode nach Quedlinburg verlängert. Am 4. März 2006 fuhr der erste Schmalspurzug der Harzer Schmalspurbahnen in den Bahnhof Quedlinburg ein, und seit dem 26. Juni 2006 gibt es einen planmäßigen Zugbetrieb der Harzer Schmalspurbahnen bis Quedlinburg mit mindestens zwei Dampfzugpaaren am Tag. Busverkehr Der öffentliche Personennahverkehr wird unter anderem durch den PlusBus und TaktBus des Landesnetzes Sachsen-Anhalt erbracht. Folgende Verbindungen führen ab Quedlinburg: Linie 140: Quedlinburg ↔ Hoym ↔ Reinstedt ↔ Aschersleben Linie 230: Quedlinburg ↔ Westerhausen ↔ Blankenburg ↔ Wernigerode Linie 240: Quedlinburg ↔ Gernrode ↔ Ballenstedt ↔ Meisdorf ↔ Aschersleben Die Harzer Verkehrsbetriebe (HVB) betreibt weitere Linien ab Quedlinburg sowie den Stadtverkehr in Quedlinburg. Der Bahnhofsvorplatz ist die zentrale Haltestelle für Fernbuslinien des Unternehmens Flixbus. Flugverkehr In den 1920er Jahren wurde im zwei Kilometer südlich gelegenen Quarmbeck ein Regionalflughafen eröffnet, der in den 1930er Jahren zum Militärflugplatz ausgebaut und in Römergraben umbenannt wurde. Während der DDR-Zeit bestand dort ein sowjetischer Truppenstützpunkt. Der Flugbetrieb wurde eingestellt. Südwestlich in vier Kilometer Entfernung befindet sich der Flugplatz Ballenstedt, der über eine 800 Meter lange Asphaltbahn verfügt und zum Nachtflugbetrieb zugelassen ist. Als kleiner Sonderlandeplatz (für Flugzeuge bis 5700 Kilogramm zugelassen) befindet sich drei Kilometer nördlich von Aschersleben der Flugplatz Aschersleben. Etwa 22 Kilometer nordöstlich von Quedlinburg befindet sich der seit dem 1. September 2006 wieder aktivierte Flughafen Magdeburg-Cochstedt. Die nächstgelegenen internationalen Flughäfen sind 90 Kilometer südöstlich der Flughafen Leipzig/Halle und 120 Kilometer nordwestlich der Flughafen Hannover. Bildungswesen Historische Entwicklung Die ersten Nachweise einer Lateinschule der Benediktikirche und der Nikolaikirche reichen bis 1303 zurück. Seit den 1530er-Jahren sind die Rektoren bekannt. Die Lateinschule der Altstadt führte seit 1623 den Namen Gymnasium illustre und seit 1776 die Bezeichnung Fürstliches Gymnasium. Daneben gab es bis 1787 auch acht sogenannte deutsche Schulen, die Elementarkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelten. Auch eine Mädchenschule wurde bereits 1539 genannt. Im 19. Jahrhundert wurden eine katholische Privatschule, mehrere höhere Mädchenschulen und eine jüdische Privatschule gegründet. Neben dem altsprachlichen Gymnasium und der Oberrealschule entwickelte sich ein neusprachliches Lyceum. Zu DDR-Zeiten wurden die Schulen zu zehn sogenannten Polytechnischen Oberschulen vereinheitlicht, die in zehn Klassen die mittlere Reife vermittelten. Das Abitur konnte in zwei weiteren Jahren auf der Erweiterten Oberschule (EOS) im Konvent („GutsMuths-Gymnasium“) erworben werden. Grundausbildung Im Jahr 2022 gab es in Quedlinburg fünf Grundschulen, zwei Förderschulen (Sine-Cura-Schule für Geistigbehinderte und David-Sachs-Schule für Lernbehinderte), zwei Sekundarschulen (Bosse- und Bansischule), ein Gymnasium und die Kreismusikschule. Die Kleersgrundschule (ab dem Schuljahr 2008/2009: Integrationsschule Am Kleers) ist im Rahmen der Errichtung des Neubaugebietes Kleers in den 1980er-Jahren entstanden und führt seit 1991 ihren Namen. Seit 2004 ist sie eine integrative Schule mit Kooperationsklassen, integrativen Klassen und einer umfangreichen Nachmittagsbetreuung, die bei mehreren Landeswettbewerben in den Bereichen Schülerzeitung und Schülertheater siegte. Die Bosseschule (von 1983 bis 1991: Maxim-Gorki-Oberschule) liegt als Sekundarschule inmitten der Altstadt und ist seit 1955 nach dem deutschen Politiker Robert Bosse benannt. Die Schule nimmt seit 2005 an einem Modellversuch Produktives Lernen teil, der eine Verknüpfung von Unterricht und betrieblicher Praxis erreichen soll. Durch die Schließung der Carl-Ritter-Sekundarschule im Jahr 2004 musste die Bosseschule räumlich umgebaut werden, um einen Teil der zusätzlichen Schüler aufnehmen zu können. Die Schule nutzt Teile des ehemaligen Franziskanerklosters. In der Sekundarschule Ernst Bansi werden vor allem Schüler aus dem südlichen Teil Quedlinburgs und den umliegenden Orten beschult. Das GutsMuths-Gymnasium besteht aus zwei Gebäuden: dem 1903 gebauten denkmalgeschützten Hauptgebäude im Konvent und dem Erxleben-Haus in der Süderstadt, welches von 1991 bis 1998 als Süderstadt-Gymnasium und bis 2004 als Dorothea-Erxleben-Gymnasium bezeichnet wurde. Beide Schulen fusionierten im Jahre 2004. In der Süderstadt sind die Klassen 5 bis 9 und im Konvent die Oberstufenklassen 10 bis 12 untergebracht. Seit 2006 trägt die Schule den Titel Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage. Seit 2007 ist sie eine Ganztagsreferenzschule in Sachsen-Anhalt. Die Musikschule Johann Heinrich Rolle, Außenstelle der Kreismusikschule Harz und Mitglied im Verband deutscher Musikschulen (VdM), ist 1952 aus dem seit 1945 bestehenden Landeskonservatorium hervorgegangen. Die musikalische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen ist ihr Hauptziel. Dafür werden in Quedlinburg und an den betreuten Außenstellen Thale, Ballenstedt und Harzgerode ungefähr 560 Schüler in 30 Fächern instrumental und vokal unterrichtet. Weiterführende Bildungsmöglichkeiten Weiterführende Bildung ermöglichen die Berufsbildende Schule, die Volkshochschule, die Landesfachschule für Gartenbau, das Deutsche Fachwerkzentrum und eine Reihe von Bildungswerken, wie das Regionale Kompetenzzentrum Harz des Europäischen Bildungswerkes für Beruf und Gesellschaft e. V., das Bildungszentrum für das Hotel- und Gaststättengewerbe Ostharz GmbH, das Bildungswerk der Wirtschaft Sachsen-Anhalt e. V. und die Kreishandwerkerschaft Harzland-Staßfurt. Die Berufsbildende Schule führt seit 2007 den Namen des Quedlinburger Firmengründers und Saatzüchters Johann Peter Christian Heinrich Mette (1735–1806). Die amerikanische Texas Tech University bietet in Quedlinburg (Deutsch-)Kurse für ihre Studenten an. Die Landesfachschule für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, Fachbereich Gartenbau des Ministeriums für Landwirtschaft und Umwelt befindet sich in Quedlinburg. Sie bietet ein- und zweijährige Fachschulausbildungen (staatlich geprüfter Techniker, Wirtschafter, hauswirtschaftlicher Betriebsleiter) in den Bereichen Garten- und Landschaftsbau und Hauswirtschaft sowie Vorbereitungskurse auf die Meisterprüfung in den genannten Bereichen an. Wegen zu geringer Schülerzahlen wurde sie 2013 geschlossen. Seit 1999 bildet das IBB – Institut für Berufliche Bildung, A. Gesche an der Berufsfachschule für Kosmetik staatlich geprüfte Kosmetiker/-innen aus. Außerdem bietet das IBB pflegerische, kosmetische und kaufmännische Weiterbildungen sowie Berufsausbildungen an der Berufsfachschule Altenpflege und Altenpflegehilfe und der staatlich anerkannten Schule für Podologie (Podologe/Podologin) an. Das Deutsche Fachwerkzentrum Quedlinburg wurde 2002 als Trägerverein der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, des Landes Sachsen-Anhalt und der Stadt Quedlinburg unter Mithilfe der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gegründet. Das Zentrum betreut ökologische Sanierungen und Bauforschungen und ermöglicht Jugendlichen ein Freiwilliges Jahr in der Denkmalpflege in einer Jugendbauhütte. In der Kreisbibliothek Quedlinburg stehen 52.000 Medien zur Ausleihe. Freizeit- und Sportanlagen In der Stadt gibt es ein 1903 eröffnetes Hallenbad und eine 2004 eröffnete moderne Dreifelderhalle. Für den Schulsport stehen eine Reihe von Sporthallen zur Verfügung, die zum Teil schon älter sind, so wurde die Kleersturnhalle 1910 erbaut. Die größten öffentlichen Sportplätze befinden sich am Moorberg südlich der Stadt und an der Lindenstraße, nordöstlich der Stadt. Im Jahr 2001 wurde das in den 1950er Jahren gebaute Freibad unweit des letztgenannten Sportplatzes geschlossen und eingeebnet, es wird seit 2021 an gleicher Stelle wieder errichtet. Die Judo-Halle auf dem Gelände der Polizei ist teilweise für den Breitensport zugänglich. Gesundheitswesen Das Harzklinikum Dorothea Christiane Erxleben befindet sich am östlichen Stadtrand. Das 1907 eingeweihte Krankenhaus wurde in den 1990er-Jahren zum Haus der Schwerpunktversorgung ausgebaut, es ist zudem Lehrkrankenhaus des Universitätsklinikums der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das Klinikum mit 481 stationären und 50 teilstationären Betten besitzt zwölf stationäre Fachbereiche und drei tagesklinische Einrichtungen. Das Hauttumorzentrum des Klinikums ist neben dem Dessauer das einzige zertifizierte in Sachsen-Anhalt. Jährlich werden ca. 20.000 stationäre und 20.000 ambulante Patienten betreut. Friedhöfe Größter kommunaler Friedhof ist der 1906 eingerichtete Städtische Zentralfriedhof am Badeborner Weg. Er befindet sich im Südosten der Stadt und sein Wegenetz ist sternförmig auf die Kapelle ausgerichtet. Während des Ersten Weltkrieges wurden hier über 700 verstorbene kriegsgefangene Soldaten und ein Großteil der über 160 gefallenen Quedlinburger begraben. Das Gleiche geschah im Zweiten Weltkrieg mit mindestens 110 Kriegsgefangenen und einer unbekannten Zahl Quedlinburger. In dieser Zeit wurde das Krematorium (gebaut 1928) auch zur Verbrennung von mindestens 912 Opfern des KZ Langenstein-Zwieberge benutzt. Die historischen kirchlichen Friedhöfe befanden sich im unmittelbaren Umfeld der jeweiligen Kirche. Sie lagen innerhalb der Stadtmauern an folgenden Stellen: St.-Aegidii-Friedhof nordöstlich der Kirche, er ist bis auf einzelne späte Grabsteine fast vollständig verschwunden der St.-Benedikti-Kirchhof liegt unter der neuzeitlichen Pflasterung und wird zum Teil als Parkplatz genutzt (ein Mausoleum ist erhalten) der St.-Nikolai-Kirchhof ist eine Grünanlage ein weiterer Friedhof der St.-Nikolai-Gemeinde lag zwischen der östlichen Bebauung (im nördlichen Teil) der Ballstraße und der Stadtmauer (diese Grünanlage ist als privates Gartengelände erhalten). Alle innerhalb der Stadtmauern gelegenen Friedhöfe wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgelassen. Nach Landrecht legten die aus hygienischen Gründen in der Folge neue Friedhöfe vor den Toren der Stadt an. Friedhof der Marktkirchgemeinde in der Weststraße (seit 1843, Kapelle 1915) Friedhof der Blasiikirchgemeinde an der Zwergkuhle (neuerrichtet 1841 bis 1843) Friedhof der Aegidiigemeinde am Ziegelhohlweg (Mitte 19. Jahrhundert) Friedhof der Katholischen Gemeinde Weststraße (seit 1868) Wiperti- und Servatiikirchhof links und rechts der Wipertistraße (Kapelle 1934/1935). An dieser Stelle befindet sich eine Quedlinburger Besonderheit: die in den Felsen des Kapellenberges eingehauene dreistöckige terrassenförmige Gruftanlage mit über zwanzig Grüften auf jeder Etage und Seite des Berges. Darüber hinaus wurde der Friedhof der jüdischen Gemeinde Quedlinburgs im 19. Jahrhundert von der Straße Weingarten an die Stelle der heutigen Anlage des Jüdischen Friedhof Quedlinburgs an der Zwergkuhle verlegt. Wirtschaft Ortsansässige Unternehmen Zu Zeiten der Industrialisierung wuchs auch in Quedlinburg die wirtschaftliche Kraft. Im Süden der Stadt siedelten sich zahlreiche Betriebe, Unternehmen und Firmen an, die besonders in den Bereichen Metallverarbeitung oder landwirtschaftliche Samenzucht zu Hause waren. Der Zuwachs der Beschäftigten in dieser Zeit kam in dem neu gebauten Wohngebiet der Süderstadt unter. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle diese Werke zwangsenteignet und in staatliche Formen wie Volkseigener Betrieb oder Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft überführt. Größter Arbeitgeber wurde das Werk Mertik, der Nachfolgebetrieb von Hartmann & Söhne, in dem zwischenzeitlich mehr als 3000 Menschen beschäftigt waren. Als weiterer ehemaliger Betrieb ist der VEB Union zu nennen, in dem Schnellkochtöpfe (auch für den Export) und Essgeschirre für die Nationale Volksarmee hergestellt wurden. Das ehemalige volkseigene Gut August Bebel erzeugte Saatgut für den landwirtschaftlichen Bedarf und Spezial-Kulturen. Die 1874 gegründete Farbenfabrik Wilhelm Brauns, seit 1959 VEB Farb-Chemie Quedlinburg, produzierte bis 2004 Farb- und Klebstoffe. Viele dieser Betriebe, deren Produktion fast ausschließlich auf die Mitgliedsstaaten des sozialistischen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe ausgerichtet war, gingen nach der Wiedervereinigung 1990 in die Insolvenz. Die leeren Betriebs- und Lagerhallen stehen zum Teil noch. Am Beginn der Hölle, in der Nähe des Marktplatzes, befindet sich seit einiger Zeit die Pflanzenfärberei Rubia, die auf traditionelle Weise Stoffe aus Naturfasern mit Pflanzenfarbstoffen färbt. Eines der wenigen Unternehmen, das die Marktanpassung geschafft hat, ist die Walzengießerei & Hartgusswerk Quedlinburg GmbH, die 1865 gegründet wurde und eine der wenigen Gießereien in Sachsen-Anhalt ist. Die Nachfolgeeinrichtungen der 1945 enteigneten Saatzuchtbetriebe wurden nach 1990 zu Teilinstituten der Bundesanstalt für Züchtungsforschung an Kulturpflanzen (BAZ), einer dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zugeordneten Forschungseinrichtung, umgewandelt. Von den neun Teilinstituten der BAZ befinden sich fünf in Quedlinburg. Es sind dies das Institut für gartenbauliche Kulturen, das Institut für Epidemiologie und Resistenzressourcen, das Institut für Resistenzforschung und Pathogendiagnostik, das Institut für Pflanzenanalytik und das Forschungs- und Koordinierungszentrum für pflanzengenetische Ressourcen. Seit Jahresbeginn 2008 hat das neu gegründete Julius Kühn-Institut – Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen (JKI), entstanden aus der Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA), der BAZ und der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL), seinen Hauptsitz in Quedlinburg. Neben der Funktion des Hauptsitzes dieser Forschungseinrichtung, sind nun sechs Forschungsschwerpunkte: Epidemiologie und Pathogendiagnostik, Ökologische Chemie, Pflanzenanalytik und Vorratsschutz, Resistenzforschung und Stresstoleranz, Sicherheit biotechnologischer Verfahren bei Pflanzen, Züchtungsforschung an gartenbaulichen Kulturen und Obst und Züchtungsforschung an landwirtschaftlichen Kulturen in Quedlinburg angesiedelt. Auch privatwirtschaftliche Unternehmen wie satimex Quedlinburg, Quedlinburger Saatgut oder International Seeds Processing (ISP) konnten sich etablieren. Wirtschaftsbereiche Die Wirtschaftsbereiche unterteilen sich in: 2 Prozent Landwirtschaft, 19,29 Prozent Industrie und 78,71 Prozent Dienstleistungsbereich. Die Landwirtschaft ist spezialisiert auf Saatzucht, die Industrie auf Baugewerbe mit Spezialleistungen für Restaurierung und Sanierung, Bauelementefertigung, Holzverarbeitung, Metallverarbeitung und Pharmazie sowie Druckerei, der Dienstleistungssektor vornehmlich auf Tourismus. Tourismus Der Tourismus stellt für Quedlinburg eine der wichtigsten wirtschaftlichen Größen dar, und so zählt die Schaffung einer modernen touristischen Infrastruktur zu den Hauptvorhaben. An Übernachtungskapazitäten in Quedlinburg stehen den auswärtigen Gästen 62 Beherbungsbetriebe (Pensionen, Hotels) mit über 10 Betten und eine Jugendherberge zur Verfügung. Die Anzahl der Übernachtungen ist stark saisonabhängig, mit Spitzenwerten um Ostern, von Mai bis Juli, von September bis Oktober und zum Advent/Jahreswechsel. Größte Schwächezeit ist von Januar bis März. In den Spitzenzeiten sind die Kapazitäten in Quedlinburg und im ganzen Vorharz sehr stark ausgelastet. Insgesamt stehen 3110 Betten zur Verfügung, die für 473.145 Übernachtungen genutzt wurden. Die meisten Hotels wurden nach 1994 neu gebaut oder vollständig saniert. Seit 1994 ist Quedlinburg Teil der südlichen Route der Straße der Romanik, einer touristischen Straße zu den romanischen Denkmälern Sachsen-Anhalts. Zudem ist es ein Standort der Frauenorte. Die St.-Johannes-Kapelle ist seit 2003 eine Station der deutschen Verlängerung des Jakobsweges. Ganz in der Nähe verlaufen die Deutsche Fachwerkstraße und die Deutsche Alleenstraße. Seit dem 12. November 2008 ist die Stadt staatlich anerkannter Erholungsort. Der Reiseführer 1000 places to see before you die nennt Quedlinburg „ein Märchen aus Fachwerk“; der Reiseführer Lonely Planet spricht von einem „ungeschliffenen Juwel“, und die Stadt selbst hat sich 2006 den Leitspruch „Quedlinburg – Wiege Deutschlands“ gegeben (bis 1990 „Blumenstadt Quedlinburg“, bis 2006 „Neugierig auf …?“). Um den Tourismus zu fördern, wird seit 2015 in der Stadt ein WLAN installiert, welches vor allem in den Einkaufsstraßen empfangbar ist. Es wird durch das Projekt Freifunk Harz realisiert. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt Zu den bekannten Persönlichkeiten, die in Quedlinburg geboren wurden, zählen unter anderen Dorothea Erxleben (1715–1762), die als erste deutsche Frau in Medizin promovierte, Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), der Begründer der Erlebnisdichtung und des deutschen Irrationalismus, Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759–1839), der als Begründer des modernen Sportunterrichts und Vater der Gymnastik gilt, und auch der Begründer der wissenschaftlichen Erdkunde, Carl Ritter (1779–1859). Aus neuerer Zeit sind zu nennen: der Dichter und Maler Fritz Graßhoff (1913–1997), der Schriftsteller Volker von Törne (1934–1980), die ehemalige Präsidentin des Bundesrechnungshofes (1993–2001) Hedda von Wedel (* 1942), der Filmregisseur Leander Haußmann (* 1959, u. a. Sonnenallee, Stasikomödie) sowie die deutsch-israelische Übersetzerin Ruth Achlama (* 1945). Ehrenbürger Zahlreiche Persönlichkeiten wurden zu Ehrenbürgern der Stadt Quedlinburg ernannt, zum Teil abhängig von den politischen Verhältnissen. So wurden in der Zeit des Nationalsozialismus am 20. April 1933 Adolf Hitler (1889–1945) und am 1. Juni 1937 Heinrich Himmler (1900–1945) die Ehrenbürgerwürde verliehen und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sofort wieder aberkannt. Zu den bekanntesten Personen, die durch die Stadt Quedlinburg das Ehrenbürgerrecht erhielten, zählen: 1895 Otto von Bismarck (1815–1898), der erste deutsche Kanzler, 1910 Julius Wolff (1834–1910), ein Dichter und Schriftsteller, und 1998 Gottfried Kiesow (1931–2011), Vorstandsvorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Medien, Literatur und Filme Die Mitteldeutsche Zeitung ist mit einer Lokalredaktion in Quedlinburg vertreten. Weiterhin die lokal erscheinenden Blätter SuperSonntag, Wochenspiegel und Harzer Kreisblatt. Regionalprogramm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) mit Regionalbüro in Halberstadt. Der Sender des Regionalfernsehens Harz (RFH) kann über das örtliche Kabelnetz hauptsächlich im Harzkreis empfangen werden. Die Handlung einiger Romane ist in Quedlinburg und Umgebung angesiedelt. So handelt Wilhelm Raabes Der Schüdderump (1869) auf der fruchtbaren Erde des geschichtsträchtigen Quedlinburger Landes. Weiterhin spielt der erste Teil von Theodor Fontanes Roman Cécile (1887) in Quedlinburg und Thale, ebenso die verschiedenen Romane zu Dorothea Christiane Erxleben und Julius Wolffs Roman Der Raubgraf. Eine Geschichte aus dem Harzgau (1884). Weiterhin von Gerhard Beutel Der Stadthauptmann von Quedlinburg (Berlin 1972), von Helga Glaesener Du süße sanfte Mörderin (München 2000) oder zehn Romane von Christian Amling (Quitilinga History Land, 2005 bis 2018) über den fiktiven Privatdetektiv Irenäus Moll. Aufgrund der historischen Bausubstanz bietet sich Quedlinburg als Hintergrund für verschiedene Film- und Fernsehprojekte an. Mehrere Folgen (64, 67–70, 76) der Serie Ärger im Revier auf RTL II stammen aus Quedlinburg. Von 2012 bis 2017 wurde die ARD-Vorabendserie Heiter bis tödlich: Alles Klara in der Stadt und ihrer Umgebung gedreht, mit 48 Folgen in drei Staffeln. Die folgende Liste zeigt eine Auswahl von teilweise in Quedlinburg gedrehten Filmen: Sonstiges An lokal produzierten kulinarischen Spezialitäten sind Imkererzeugnisse, wie reiner Rapshonig, Senfprodukte und Edelbrand aus regionalen Früchten, und das einzige noch in Quedlinburg gebraute Bier Pubarschknall der Brauerei Lüdde zu nennen. Das Hochseeschiff (Typ XD) MS Quedlinburg war im August 1967 auf der Warnow-Werft in Rostock vom Stapel gelaufen und fuhr bis Februar 1991 für den VEB Deutsche Seereederei Rostock. Am 4. Mai 2004 wurde im Hauptbahnhof Magdeburg der ICE Nr. 242 (Baureihe 402/ICE 2) auf den Namen Quedlinburg getauft und am 24. September 2008 auf dem Flughafen Frankfurt Main ein Flugzeug (Bombardier CRJ700) der Lufthansa CityLine. Ein Airbus A320 der Lufthansa ist ebenfalls auf den Namen Quedlinburg getauft worden. Eine 126 Tonnen schwere Diesellok (Bauart Voith Maxima 40 CC) erhielt am 27. Mai 2011 den Namen Quedlinburg, da sie für den Transport vom neugebauten Verladebahnhof bei Quedlinburg aus vorgesehen ist. Im Jahr 2018 erschien das von dem österreichischen Spieleautor Wolfgang Warsch entwickelte Spiel Die Quacksalber von Quedlinburg bei Schmidt Spiele, das zum Kennerspiel des Jahres 2018 gewählt wurde. Panoramen Quellen-, Literatur- und Kartenverzeichnis Quelleneditionen Codex diplomaticus Quedlinburgensis, bearb. von Anton Ulrich von Erath. Frankfurt am Main 1764. Quellen zur städtischen Verwaltungs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte von Quedlinburg vom 15. Jh. bis zur Zeit Friedrichs d. Grossen, 1. Teil, bearb. von Hermann Lorenz (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen; 42). Halle/Saale 1916. Urkundenbuch der Stadt Quedlinburg, bearbeitet von Karl Janicke (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und der angrenzenden Gebiete, Band 2), Abt. 1 und 2, Halle/Saale 1873 und 1882. Hermann Lorenz: Die urkundlichen Eintragungen in die Ratsrechnungen der Stadt Quedlinburg von 1454 bis 1509. In: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 39 (1906), S. 194–255. Karlheinz Wauer: Häuserbuch der Stadt Quedlinburg von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1950 (Schriftenreihe der Stiftung Stoye; 57–59), Marburg 2014. Literatur Zu einer ausführlichen Bibliographie vgl. Brigitte Schröder, Heinz Stoob: Bibliografie zur deutschen historischen Städteforschung Band 1. Köln 1986, S. 352–354, Nr. 4359–4381. Adolf Brinkmann: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Stadt Quedlinburg, Band 1 und 2, Berlin 1922 und 1923. Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalt Band 7.1.: Landkreis Quedlinburg Stadt Quedlinburg, erarbeitet von Falko Grubitzsch et al., Halle/Saale 1998, ISBN 3-910147-67-4. Johann Heinrich Fritsch: Geschichte des vormaligen Reichsstifts und der Stadt Quedlinburg, Band 1 und 2, Quedlinburg 1828. Selmar Kleemann: Kulturgeschichtliche Bilder aus Quedlinburgs Vergangenheit. Quedlinburg 1922. Digitalisat Hermann Lorenz: Werdegang von Stift und Stadt Quedlinburg. Quedlinburg 1922. Hans-Hartmut Schauer: Das städtebauliche Denkmal Quedlinburg und seine Fachwerkbauten. Berlin 1990, ISBN 3-345-00233-7. Hans-Hartmut Schauer: Quedlinburg Fachwerkstadt Weltkulturerbe. Berlin 1999, ISBN 3-345-00676-6. Thomas Wozniak: Quedlinburg im 14. und 16. Jahrhundert – Ein sozialtopographischer Vergleich (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Bd. 11). Akademie-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-05-006049-1. Thomas Wozniak: Quedlinburg. Kleine Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2014, ISBN 3-7917-2605-6. Thomas Wozniak, Clemens Bley (Hrsg.): 1100 Jahre Quedlinburg. Geschichte – Kultur – Welterbe. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2023, ISBN 978-3-7319-1225-5. Förderverein Historische Sammlungen Quedlinburg e. V. (Hrsg.): Quedlinburger Annalen. Heimatkundliches Jahrbuch für Stadt und Region Quedlinburg, 1. Jahrgang (1998) ff. Peter Kasper: Das Reichsstift Quedlinburg (936–1810) Konzept-Zeitbezug-Systemwechsel; V&R unipress, Göttingen, 2014; ISBN 978-3-8471-0209-0. Karten Quedlinburg, östlich am Harz, an der Bode, Regierungsbezirk Magdeburg, in: Meyers Gazetteer, mit Eintrag aus Meyers Orts- und Verkehrslexikon, Ausgabe 1912, sowie einer historischen Landkarte der Umgebung von Quedlinburg (meyersgaz.org). Gustav Brecht: Das Gebiet des vormaligen Reichsstiftes Quedlinburg mit Angabe der Wüstungen, des Landgrabens und der wichtigsten Flurnamen, Beilage UB Stadt Quedlinburg, Band 2, Halle 1882, S. XCIX. Ulrich Reuling, Daniel Stracke: Deutscher Historischer Städteatlas (DHStA) Nr. 1 Quedlinburg (Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte – Münster). Hrsg. von Wilfried Ehbrecht, Peter Johanek, Jürgen Lafrenz. Kartographie von Thomas Kaling, Dieter Overhageböck. Münster 2006, ISBN 3-87023-272-2. Topografische Karten des Landesamtes für Landesvermessung und Datenverarbeitung Sachsen-Anhalt, TK 25 Blätter 4132 (Halberstadt), 4232 (Quedlinburg), 4133 (Wegeleben) und 4233 (Ballenstedt), 2. Auflage, 1997; TK 50 Blätter L 4332 (Quedlinburg) und 4132 (Halberstadt), 2. Auflage, 1998. Geologische Karte der Preußischen Geologischen Landesanstalt, Lieferung 240 Blatt 2307 (Halberstadt) Berlin 1928 und Blatt 2381 (Quedlinburg), Berlin 1927. Weblinks Offizielle Website der Stadt Welterbestadt Quedlinburg Video-Weblinks (RealVideo, 14 Min.). Einzelnachweise Ort im Landkreis Harz Ort an der Bode Hansestadt Ehemalige kreisfreie Stadt in Sachsen-Anhalt Staatlich anerkannter Erholungsort in Sachsen-Anhalt Ehemaliger Residenzort in Sachsen-Anhalt Ehemalige Kreisstadt in Sachsen-Anhalt Welterbestätte in Europa Welterbestätte in Deutschland Weltkulturerbestätte Archäologischer Fundplatz in Sachsen-Anhalt Stadt in Sachsen-Anhalt Ersterwähnung 922 Stadtrechtsverleihung 994
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https://de.wikipedia.org/wiki/Relativit%C3%A4tstheorie
Relativitätstheorie
Die Relativitätstheorie befasst sich mit der Struktur von Raum und Zeit sowie mit dem Wesen der Gravitation. Sie besteht aus zwei maßgeblich von Albert Einstein entwickelten physikalischen Theorien: der 1905 veröffentlichten speziellen Relativitätstheorie und der 1916 abgeschlossenen allgemeinen Relativitätstheorie. Die spezielle Relativitätstheorie beschreibt das Verhalten von Raum und Zeit aus der Sicht von Beobachtern, die sich relativ zueinander bewegen, und die damit verbundenen Phänomene. Darauf aufbauend führt die allgemeine Relativitätstheorie die Gravitation auf eine Krümmung von Raum und Zeit zurück, die unter anderem durch die beteiligten Massen verursacht wird. Der in der physikalischen Fachsprache häufige Ausdruck relativistisch bedeutet üblicherweise, dass eine Geschwindigkeit nicht vernachlässigbar klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit ist; die Grenze wird oft bei zehn Prozent gezogen. Bei relativistischen Geschwindigkeiten gewinnen die von der speziellen Relativitätstheorie beschriebenen Effekte zunehmende Bedeutung, die Abweichungen von der klassischen Mechanik können dann nicht mehr vernachlässigt werden. In diesem Artikel werden die grundlegenden Strukturen und Phänomene lediglich zusammenfassend aufgeführt. Für Erläuterungen und Details siehe die Artikel Spezielle Relativitätstheorie und Allgemeine Relativitätstheorie sowie die Verweise im Text. Zum Begriff der Relativität als solcher siehe Relativität. Bedeutung Die Relativitätstheorie hat das Verständnis von Raum und Zeit revolutioniert und Zusammenhänge aufgedeckt, die sich der anschaulichen Vorstellung entziehen. Diese lassen sich jedoch mathematisch präzise in Formeln fassen und durch Experimente bestätigen. Die Relativitätstheorie enthält die newtonsche Physik als Grenzfall. Sie erfüllt damit das Korrespondenzprinzip. Das Standardmodell der Teilchenphysik beruht auf der Vereinigung der speziellen Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu einer relativistischen Quantenfeldtheorie. Die allgemeine Relativitätstheorie ist neben der Quantenphysik eine der beiden Säulen des Theoriengebäudes Physik. Es wird allgemein angenommen, dass eine Vereinigung dieser beiden Säulen zu einer Theory of Everything (Theorie von allem) im Prinzip möglich ist. Trotz großer Anstrengungen ist solch eine Vereinigung jedoch noch nicht vollständig gelungen. Sie zählt zu den großen Herausforderungen der physikalischen Grundlagenforschung. Die spezielle Relativitätstheorie Das Relativitätsprinzip Die beiden folgenden Feststellungen lassen sich als Axiome der Relativitätstheorie interpretieren, aus denen alles Weitere hergeleitet werden kann: Messen verschiedene Beobachter die Geschwindigkeit eines Lichtstrahls relativ zu ihrem Standort, so kommen sie unabhängig von ihrem eigenen Bewegungszustand zum selben Ergebnis. Dies ist das sogenannte Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die physikalischen Gesetze haben für alle Beobachter, die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, also keiner Beschleunigung unterliegen, dieselbe Gestalt. Diesen Umstand nennt man Relativitätsprinzip. Das Relativitätsprinzip an sich ist wenig spektakulär, denn es gilt auch für die newtonsche Mechanik. Aus ihm folgt unmittelbar, dass es keine Möglichkeit gibt, eine absolute Geschwindigkeit eines Beobachters im Raum zu ermitteln und damit ein absolut ruhendes Bezugssystem zu definieren. Ein solches Ruhesystem müsste sich in irgendeiner Form von allen anderen unterscheiden – es würde damit aber im Widerspruch zum Relativitätsprinzip stehen, wonach die Gesetze der Physik in allen Bezugssystemen dieselbe Gestalt haben. Nun beruhte vor der Entwicklung der Relativitätstheorie die Elektrodynamik auf der Annahme des Äthers als Träger elektromagnetischer Wellen. Würde ein solcher Äther als starres Gebilde den Raum füllen, dann würde er ein Bezugssystem definieren, in dem im Widerspruch zum Relativitätsprinzip die physikalischen Gesetze eine besonders einfache Form hätten und welches überdies das einzige System wäre, in dem die Lichtgeschwindigkeit konstant ist. Jedoch scheiterten alle Versuche, die Existenz des Äthers nachzuweisen, wie beispielsweise das berühmte Michelson-Morley-Experiment von 1887. Durch die Aufgabe der konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit und die Verwerfung der Ätherhypothese gelang es Einstein, den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Relativitätsprinzip und der aus der Elektrodynamik folgenden Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aufzulösen. Nicht zufällig waren es Experimente und Überlegungen zur Elektrodynamik, die zur Entdeckung der Relativitätstheorie führten. So lautete der unscheinbare Titel der einsteinschen Publikation von 1905, die die spezielle Relativitätstheorie begründete, Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Relativität von Raum und Zeit Raum- und Zeitangaben sind in der Relativitätstheorie keine universell gültigen Ordnungsstrukturen. Vielmehr werden der räumliche und zeitliche Abstand zweier Ereignisse oder auch deren Gleichzeitigkeit von Beobachtern mit verschiedenen Bewegungszuständen unterschiedlich beurteilt. Bewegte Objekte erweisen sich im Vergleich zum Ruhezustand in Bewegungsrichtung als verkürzt und bewegte Uhren als verlangsamt. Da jedoch alle relativ zueinander gleichförmig bewegten Beobachter gleichermaßen den Standpunkt vertreten können, sich in Ruhe zu befinden, beruhen diese Beobachtungen auf Gegenseitigkeit, das heißt, zwei relativ zueinander bewegte Beobachter sehen die Uhren des jeweils anderen langsamer gehen. Außerdem sind aus ihrer Sicht die Meterstäbe des jeweils anderen kürzer als ein Meter, wenn sie längs der Bewegungsrichtung ausgerichtet sind. Die Frage, wer die Situation korrekter beschreibt, ist hierbei prinzipiell nicht zu beantworten und daher sinnlos. Diese Längenkontraktion und Zeitdilatation lassen sich vergleichsweise anschaulich anhand von Minkowski-Diagrammen nachvollziehen. In der mathematischen Formulierung ergeben sie sich aus der Lorentz-Transformation, die den Zusammenhang zwischen den Raum- und Zeitkoordinaten der verschiedenen Beobachter beschreibt. Diese Transformation lässt sich direkt aus den beiden obigen Axiomen und der Annahme, dass sie linear ist, herleiten. Die meisten dieser relativistisch erklärbaren Phänomene machen sich erst bei Geschwindigkeiten bemerkbar, die im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit nennenswert groß sind. Solche Geschwindigkeiten werden von massebehafteten Körpern im Alltag nicht annähernd erreicht. Lichtgeschwindigkeit als Grenze Kein Objekt und keine Information kann sich schneller bewegen als das Licht im Vakuum. Nähert sich die Geschwindigkeit eines materiellen Objektes der Lichtgeschwindigkeit, so strebt der Energieaufwand für eine weitere Beschleunigung über alle Grenzen, weil die kinetische Energie mit zunehmender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit immer steiler ansteigt. Zum Erreichen der Lichtgeschwindigkeit müsste unendlich viel Energie aufgebracht werden. Dieser Umstand ist eine Folge der Struktur von Raum und Zeit und keine Eigenschaft des Objekts, wie beispielsweise eines lediglich unvollkommenen Raumschiffes. Würde sich ein Objekt mit Überlichtgeschwindigkeit von A nach B bewegen, so gäbe es immer einen relativ zu ihm bewegten Beobachter, der eine Bewegung von B nach A wahrnehmen würde, wiederum ohne dass die Frage, wer die Situation korrekter beschreibt, einen Sinn gäbe. Das Kausalitätsprinzip wäre dann verletzt, da die Reihenfolge von Ursache und Wirkung nicht mehr definiert wäre. Ein solches Objekt würde sich übrigens für jeden Beobachter mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen. Vereinigung von Raum und Zeit zur Raumzeit Raum und Zeit erscheinen in den Grundgleichungen der Relativitätstheorie formal fast gleichwertig nebeneinander und lassen sich daher zu einer vierdimensionalen Raumzeit vereinigen. Dass Raum und Zeit auf verschiedene Weise in Erscheinung treten, ist eine Eigenheit der menschlichen Wahrnehmung. Mathematisch lässt der Unterschied sich auf ein einziges Vorzeichen zurückführen, durch das sich die Definition eines Abstandes im euklidischen Raum von der Definition des Abstands in der vierdimensionalen Raumzeit unterscheidet. Aus gewöhnlichen Vektoren im dreidimensionalen Raum werden dabei sogenannte Vierervektoren. In der Raumzeit gibt es aufgrund der Relativität von Längen und Zeitspannen drei klar unterscheidbare Bereiche für jeden Beobachter: Im Zukunftslichtkegel liegen alle Punkte, die der Beobachter mittels eines Signals mit maximal Lichtgeschwindigkeit erreichen kann. Der Vergangenheitslichtkegel umfasst alle Punkte, von denen aus ein Signal mit maximal Lichtgeschwindigkeit den Beobachter erreichen kann. Alle restlichen Punkte heißen „vom Beobachter raumartig getrennt“. In diesem Bereich kann der gewählte Beobachter Zukunft und Vergangenheit nicht definieren. Praktische Anwendung finden die Raumzeit-Vierervektoren beispielsweise in Berechnungen der Kinematik schneller Teilchen. Äquivalenz von Masse und Energie Einem System mit der Masse m lässt sich auch im unbewegten Zustand eine Energie E zuordnen, und zwar nach , wobei c die Geschwindigkeit des Lichtes ist. Diese Formel ist eine der berühmtesten in der Physik. Oft wird irreführend behauptet, sie habe die Entwicklung der Atombombe ermöglicht. Die Wirkungsweise der Atombombe kann jedoch mit ihr nicht erklärt werden. Allerdings konnte schon 1939 kurz nach der Entdeckung der Kernspaltung mit dieser Formel und den schon bekannten Massen der Atome durch Lise Meitner die enorme Freisetzung von Energie abgeschätzt werden. Diese Massenabnahme tritt auch schon bei chemischen Reaktionen auf, war jedoch dort wegen ihrer Kleinheit mit den damaligen Messmethoden nicht bestimmbar, anders als im Fall von Kernreaktionen. Magnetfelder in der Relativitätstheorie Die Existenz magnetischer Kräfte ist untrennbar mit der Relativitätstheorie verknüpft. Eine isolierte Existenz des coulombschen Gesetzes für elektrische Kräfte wäre nicht mit der Struktur von Raum und Zeit verträglich. So sieht ein Beobachter, der relativ zu einem System statischer elektrischer Ladungen ruht, kein Magnetfeld, anders als ein Beobachter, der sich relativ zu ihm bewegt. Übersetzt man die Beobachtungen des ruhenden Beobachters über eine Lorentz-Transformation in die des Bewegten, so stellt sich heraus, dass dieser neben der elektrischen Kraft eine weitere, magnetische Kraft wahrnimmt. Die Existenz des Magnetfeldes in diesem Beispiel lässt sich daher auf die Struktur von Raum und Zeit zurückführen. Unter diesem Gesichtspunkt wirkt auch die im Vergleich zum Coulombgesetz komplizierte und auf den ersten Blick wenig plausible Struktur des vergleichbaren biot-savartschen Gesetzes für Magnetfelder weniger verwunderlich. Im mathematischen Formalismus der Relativitätstheorie werden das elektrische und das magnetische Feld zu einer Einheit, dem vierdimensionalen elektromagnetischen Feldstärketensor, zusammengefasst, ganz analog zur Vereinigung von Raum und Zeit zur vierdimensionalen Raumzeit. Die allgemeine Relativitätstheorie Gravitation und die Krümmung der Raumzeit Die allgemeine Relativitätstheorie führt die Gravitation auf das geometrische Phänomen der gekrümmten Raumzeit zurück, indem sie feststellt: Energie krümmt die Raumzeit in ihrer Umgebung. Ein Gegenstand, auf den nur gravitative Kräfte wirken, bewegt sich zwischen zwei Punkten in der Raumzeit stets auf einer sogenannten Geodäte. Entzieht sich bereits die vierdimensionale Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie einer anschaulichen Vorstellbarkeit, so gilt das für eine zusätzlich gekrümmte Raumzeit erst recht. Zur Veranschaulichung kann man jedoch Situationen mit reduzierter Anzahl von Dimensionen betrachten. So entspricht im Fall einer zweidimensionalen gekrümmten Landschaft eine Geodäte dem Weg, den ein Fahrzeug mit geradeaus fixierter Lenkung nehmen würde. Würden zwei solche Fahrzeuge am Äquator einer Kugel nebeneinander exakt parallel Richtung Norden starten, dann würden sie sich am Nordpol treffen. Ein Beobachter, dem die Kugelgestalt der Erde verborgen bliebe, würde daraus auf eine Anziehungskraft zwischen den beiden Fahrzeugen schließen. Es handelt sich aber um ein rein geometrisches Phänomen. Gravitationskräfte werden daher in der allgemeinen Relativitätstheorie gelegentlich auch als Scheinkräfte bezeichnet. Da der geodätische Weg durch die Raumzeit von ihrer Geometrie und nicht von der Masse oder sonstigen Eigenschaften des fallenden Körpers abhängt, fallen alle Körper im Gravitationsfeld gleich schnell, wie bereits Galilei feststellte. Dieser Umstand wird in der newtonschen Mechanik durch die Äquivalenz von träger und schwerer Masse beschrieben, die auch der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegt. Die mathematische Struktur der allgemeinen Relativitätstheorie Während viele Aspekte der speziellen Relativitätstheorie in ihrer einfachsten Formulierung auch mit geringen mathematischen Kenntnissen nachvollziehbar sind, ist die Mathematik der allgemeinen Relativitätstheorie deutlich anspruchsvoller. Die Beschreibung einer gekrümmten Raumzeit erfolgt mit den Methoden der Differentialgeometrie, die die euklidische Geometrie des uns vertrauten flachen Raumes beinhaltet und erweitert. Zur Beschreibung von Krümmung wird zur Anschauung meist ein gekrümmtes Objekt in einen höherdimensionalen Raum eingebettet. Zum Beispiel stellt man sich eine zweidimensionale Kugeloberfläche üblicherweise in einem dreidimensionalen Raum vor. Krümmung kann jedoch ohne die Annahme eines solchen Einbettungsraumes beschrieben werden, was in der allgemeinen Relativitätstheorie auch geschieht. Es ist beispielsweise möglich, Krümmung dadurch zu beschreiben, dass die Winkelsumme von Dreiecken nicht 180° entspricht. Die Entstehung der Krümmung wird durch die einsteinschen Feldgleichungen beschrieben. Dabei handelt es sich um Differentialgleichungen eines Tensorfeldes mit zehn Komponenten, die nur in speziellen Fällen analytisch, das heißt in Form einer mathematischen Gleichung, lösbar sind. Für komplexe Systeme wird daher üblicherweise mit Näherungsmechanismen gearbeitet. Uhren im Gravitationsfeld In der allgemeinen Relativitätstheorie hängt der Gang von Uhren nicht nur von ihrer relativen Geschwindigkeit ab, sondern auch von ihrem Ort im Gravitationsfeld. Eine Uhr auf einem Berg geht schneller als eine im Tal. Dieser Effekt ist zwar im irdischen Gravitationsfeld nur gering, er wird jedoch beim GPS-Navigationssystem zur Vermeidung von Fehlern bei der Positionsbestimmung über eine entsprechende Frequenzkorrektur der Funksignale berücksichtigt. Kosmologie Während die spezielle Relativitätstheorie bei Anwesenheit von Massen nur in Gebieten der Raumzeit gilt, die so klein sind, dass die Krümmung vernachlässigt werden kann, kommt die allgemeine Relativitätstheorie ohne diese Einschränkung aus. Sie kann somit auch auf das Universum als Ganzes angewandt werden und spielt daher in der Kosmologie eine zentrale Rolle. So wird die Expansion des Weltalls, die die Astronomen beobachten, durch die friedmannschen Lösungen der einsteinschen Feldgleichungen in Kombination mit einer sogenannten kosmologischen Konstanten angemessen beschrieben. Danach begann diese Expansion mit dem Urknall, der nach den jüngsten Untersuchungen vor 13,7 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Er kann auch als der Beginn von Raum und Zeit angesehen werden, bei dem das gesamte Universum auf einem Raumgebiet vom Durchmesser der Planck-Länge konzentriert war. Schwarze Löcher Eine weitere Vorhersage der allgemeinen Relativitätstheorie sind Schwarze Löcher. Diese Objekte haben eine so starke Gravitation, dass sie sogar Licht „einfangen“ können, sodass es nicht wieder aus dem schwarzen Loch herauskommen kann. Einstein konnte sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden und meinte, es müsse einen Mechanismus geben, der die Entstehung solcher Objekte verhindert. Heutige Beobachtungen aber belegen, dass es solche Schwarzen Löcher im Universum tatsächlich gibt, und zwar als Endstadium der Sternentwicklung bei sehr massereichen Sternen und in den Zentren von Galaxien. Gravitationswellen Die allgemeine Relativitätstheorie erlaubt die Existenz von Gravitationswellen, lokalen Deformationen der Raumzeit, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Sie entstehen bei der Beschleunigung von Massen, allerdings sind sie nur sehr klein. Daher konnten Gravitationswellen lange Zeit nur indirekt bestätigt werden, etwa durch Beobachtungen an Doppelsternsystemen mit Pulsaren. Russell Hulse und Joseph Taylor erhielten dafür 1993 den Nobelpreis für Physik. Erst beim LIGO-Experiment, am 14. September 2015 um 11:51 MESZ, gelang der direkte Nachweis, was im Jahr 2017 ebenfalls durch einen Nobelpreis für Physik gewürdigt wurde. Entstehungsgeschichte Spezielle Relativitätstheorie Ausgehend von den Problemen der verschiedenen Äthertheorien des 19. Jahrhunderts und der maxwellschen Gleichungen setzte eine kontinuierliche Entwicklung mit folgenden Hauptstationen ein: dem Michelson-Morley-Experiment (1887), das keine Relativbewegung zwischen Erde und Äther (Ätherdrift) aufzeigen konnte; der Kontraktionshypothese von George FitzGerald (1889) und Hendrik Antoon Lorentz (1892), mit der das Michelson-Morley-Experiment erklärt werden sollte; der Lorentz-Transformation von Lorentz (1892, 1899) und Joseph Larmor (1897), die eine Veränderung der Zeitvariablen beinhaltete, und mit der generell die negativen Ätherdriftexperimente erklärt werden sollten; dem Relativitätsprinzip (1900, 1904), der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (1898, 1904), und der Relativität der Gleichzeitigkeit (1898, 1900) durch Henri Poincaré, der jedoch am Äthergedanken festhielt; sowie dem Erreichen der vollen Kovarianz der elektrodynamischen Grundgleichungen durch Lorentz (1904) und Poincaré (1905) in der lorentzschen Äthertheorie. Dies kulminierte in der speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins (1905) durch eine durchsichtige Ableitung der gesamten Theorie aus den Postulaten des Relativitätsprinzips und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, und der endgültigen Überwindung des Ätherbegriffs durch Reformulierung der Begriffe von Raum und Zeit. Die dynamische Betrachtungsweise von Lorentz und Poincaré wurde durch die kinematische Einsteins ersetzt. Schließlich folgte die mathematische Reformulierung der Theorie durch Einbeziehung der Zeit als vierte Dimension durch Hermann Minkowski (1907). Allgemeine Relativitätstheorie Während an der Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie eine Reihe von Wissenschaftlern beteiligt war – wobei Einsteins Arbeit von 1905 sowohl ein Ende als auch einen Neuanfang darstellte –, war die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie, was ihre grundlegenden physikalischen Aussagen betraf, praktisch die alleinige Errungenschaft Einsteins. Diese Entwicklung begann 1907 mit dem Äquivalenzprinzip, wonach träge und schwere Masse äquivalent sind. Daraus leitete er die gravitative Rotverschiebung ab und stellte fest, dass Licht im Gravitationsfeld abgelenkt wird, wobei er die dabei entstehende Verzögerung, die sogenannte Shapiro-Verzögerung, bedachte. 1911 führte er mit verfeinerten Methoden diese Grundgedanken weiter. Diesmal vermutete er auch, dass die Lichtablenkung im Gravitationsfeld messbar ist. Der von ihm zu dieser Zeit vorhergesagte Wert war jedoch noch um einen Faktor 2 zu klein. Im weiteren Verlauf erkannte Einstein, dass Minkowskis vierdimensionaler Raumzeitformalismus, welchem Einstein bislang skeptisch gegenüberstand, eine sehr wichtige Bedeutung bei der neuen Theorie zukam. Auch wurde ihm nun klar, dass die Mittel der euklidischen Geometrie nicht ausreichten, um seine Arbeit fortsetzen zu können. 1913 konnte er mit der mathematischen Unterstützung Marcel Grossmanns die im 19. Jahrhundert entwickelte nichteuklidische Geometrie in seine Theorie integrieren, ohne jedoch die vollständige Kovarianz, d. h. die Übereinstimmung aller Naturgesetze in den Bezugssystemen, zu erreichen. 1915 waren diese Probleme nach einigen Fehlschlägen überwunden, und Einstein konnte schließlich die korrekten Feldgleichungen der Gravitation ableiten. Nahezu gleichzeitig gelang dies auch David Hilbert. Einstein errechnete den korrekten Wert für die Periheldrehung des Merkurs, und für die Lichtablenkung das Doppelte des 1911 erhaltenen Wertes. 1919 wurde dieser Wert erstmals bestätigt, was den Siegeszug der Theorie in Physikerkreisen und auch in der Öffentlichkeit einleitete. Danach versuchten sich viele Physiker an exakten Lösungen der Feldgleichungen, was in der Aufstellung diverser kosmologischer Modelle und in Theorien wie die der Schwarzen Löcher mündete. Weitere geometrische Theorien Nach der Erklärung der Gravitation als geometrisches Phänomen lag es nahe, auch die anderen damals bekannten Grundkräfte, die elektrische und die magnetische, auf geometrische Effekte zurückzuführen. Theodor Kaluza (1921) und Oskar Klein (1926) nahmen dazu eine zusätzliche in sich geschlossene Dimension des Raumes mit so kleiner, nämlich subatomarer Länge an, dass diese Dimension uns verborgen bleibt. Sie blieben jedoch mit ihrer Theorie erfolglos. Auch Einstein arbeitete lange vergeblich daran, eine solche einheitliche Feldtheorie zu schaffen. Nach der Entdeckung weiterer Grundkräfte der Natur erlebten diese sogenannten Kaluza-Klein-Theorien eine Renaissance – allerdings auf der Basis der Quantentheorie. Die heute aussichtsreichste Theorie zur Vereinigung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie dieser Art, die Stringtheorie, geht von sechs oder sieben verborgenen Dimensionen von der Größe der Planck-Länge und damit von einer zehn- beziehungsweise elfdimensionalen Raumzeit aus. Experimentelle Bestätigungen Der erste Erfolg der speziellen Relativitätstheorie war die Auflösung des Widerspruches, der als Anlass für ihre Entdeckung angesehen werden kann: der Widerspruch zwischen dem Ergebnis des Michelson-Morley-Experiments und der Theorie der Elektrodynamik. Seither hat sich die spezielle Relativitätstheorie in der Interpretation unzähliger Experimente bewährt. Ein überzeugendes Beispiel ist der Nachweis von Myonen in der Höhenstrahlung, die auf Grund ihrer kurzen Lebensdauer nicht die Erdoberfläche erreichen könnten, wenn nicht aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit die Zeit für sie langsamer ginge, beziehungsweise sie die Flugstrecke längenkontrahiert erführen. Dieser Nachweis gelang zum Teil bei den Ballonflügen in die Stratosphäre des Schweizer Physikers Auguste Piccard in den Jahren 1931 und 1932, die unter Mitwirkung von Einstein vorbereitet wurden. Hingegen gab es zur Zeit der Veröffentlichung der allgemeinen Relativitätstheorie nur einen einzigen Hinweis für ihre Richtigkeit, die Periheldrehung des Merkurs. 1919 stellte Arthur Stanley Eddington bei einer Sonnenfinsternis eine Verschiebung der scheinbaren Position der Sterne nahe der Sonne fest und lieferte mit diesem sehr direkten Hinweis auf eine Krümmung des Raums eine weitere Bestätigung der Theorie. Weitere experimentelle Tests sind im Artikel zur allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben. Die Relativitätstheorie hat sich bis heute in der von Einstein vorgegebenen Form gegen alle Alternativen, die insbesondere zu seiner Theorie der Gravitation vorgeschlagen wurden, behaupten können. Die bedeutendste war die Jordan-Brans-Dicke-Theorie, die jedoch aufwändiger war. Ihre Gültigkeit ist bisher nicht widerlegt worden. Der Bereich, den der entscheidende Parameter nach heutigem experimentellem Stand einnehmen kann, ist jedoch stark eingeschränkt. Rezeption und Interpretation Wahrnehmung in der Öffentlichkeit Die neue Sichtweise der Relativitätstheorie bezüglich Raum und Zeit erregte nach ihrer Entdeckung auch in der Allgemeinheit Aufsehen. Einstein wurde zur Berühmtheit und die Relativitätstheorie erfuhr ein erhebliches Medienecho. Verkürzt auf das geflügelte Wort Alles ist relativ wurde sie zuweilen in die Nähe eines philosophischen Relativismus gerückt. Im April 1922 wurde ein Film mit dem Titel Die Grundlagen der Einsteinschen Relativitätstheorie uraufgeführt, in dem Einsteins spezielle Relativitätstheorie mit vielen Animationen dem Publikum verständlich gemacht werden sollte. Kritik an der Relativitätstheorie speiste sich aus verschiedenen Quellen, wie Unverständnis, Ablehnung der fortschreitenden Mathematisierung der Physik und teilweise auch Ressentiments gegen Einsteins jüdische Abstammung. Ab den 1920er Jahren versuchten in Deutschland einige wenige offen antisemitische Physiker, namentlich die Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark, der Relativitätstheorie eine deutsche Physik entgegenzusetzen. Wenige Jahre nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ ging Stark mit einem Artikel in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps vom 15. Juli 1937 gegen die im Land verbliebenen Anhänger der Relativitäts- und Quantentheorie in die Offensive. Unter anderem denunzierte er Werner Heisenberg und Max Planck als weiße Juden. Heisenberg wandte sich direkt an Himmler und erreichte seine volle Rehabilitierung; nicht zuletzt mit Blick auf die Bedürfnisse der Rüstungsentwicklung blieb die Relativitätstheorie erlaubt. Auch viele führende Vertreter der hergebrachten klassischen Physik lehnten Einsteins Relativitätstheorie ab, darunter Lorentz und Poincaré selbst und auch Experimentalphysiker wie Michelson. Wissenschaftliche Anerkennung Die Bedeutung der Relativitätstheorien war anfänglich umstritten. Der Nobelpreis für Physik 1921 wurde Einstein im Jahr 1922 für seine Deutung des photoelektrischen Effekts zugesprochen. Allerdings sprach er in seiner Preisrede dann über die Relativitätstheorien. Literatur und Film Physikalische Einführungen und Diskussion Max Born: Die Relativitätstheorie Einsteins. Bearbeitet von Jürgen Ehlers und Markus Pössel. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-67904-9. Albert Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Springer Verlag 2009, 24. Auflage (1. Auflage 1916). Albert Einstein, Leopold Infeld: Die Evolution der Physik. Zsolnay, Hamburg 1950, Rowohlt, Reinbek 1987, ISBN 3-499-18342-0. Albert Einstein: Grundzüge der Relativitätstheorie. Vieweg 1963; Neuausgabe: Springer, Berlin 2002, ISBN 3-540-43512-3 (Originaltitel Meaning of relativity). Jürgen Freund: Relativitätstheorie für Studienanfänger – ein Lehrbuch. vdf Hochschulverlag, Zürich 2004, ISBN 3-7281-2993-3. Hubert Goenner: Spezielle Relativitätstheorie und die klassische Feldtheorie. Elsevier – Spektrum Akademischer Verlag, München 2004, ISBN 3-8274-1434-2. Holger Müller, Achim Peters: Einsteins Theorie auf dem optischen Prüfstand – Spezielle Relativitätstheorie. In: Physik in unserer Zeit 35, Nr. 2, 2004, , S. 70–75. Wolfgang Nolting: Grundkurs Theoretische Physik. Band 4. Spezielle Relativitätstheorie, Thermodynamik. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-42116-5. Hans Stephani: Allgemeine Relativitätstheorie. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1991, ISBN 3-326-00083-9. Torsten Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2006, ISBN 3-8274-1685-X. 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Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Meiner, Hamburg 2001, ISBN 3-7873-1410-5. John Earman: World Enough and Space-Time. Absolute versus relational theories of space and time. MIT, Cambridge, Mass. 1989, ISBN 0-262-05040-4. John Earman (Hrsg.): Foundations of space-time theories. University of Minnesota Press, Minneapolis, Minn. 1977, ISBN 0-8166-0807-5. Lawrence Sklar: Space, Time, and Spacetime. University of California Press, 1977, ISBN 0-520-03174-1. R. Torretti: Relativity and Geometry. Pergamon, Oxford 1983, ISBN 0-08-026773-4. M. Friedman: Foundations of Space-Time Theories. Relativistic physics and philosophy of science. Princeton University Press, Princeton, NJ 1983, ISBN 0-691-07239-6. John Earman: Bangs, Crunches, Whimpers and Shrieks. Singularities and acausalities in relativistic spacetimes. Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-19-509591-X. H. Brown: Physical Relativity. 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(Das Drehbuch basiert auf dem Bestseller Bis Einstein kam von David Bodanis.) Weblinks Tempolimit Lichtgeschwindigkeit – Visualisierung der Phänomene der Relativitätstheorie Einstein Online (deutsche Version) E. F. Taylor and J. A. Wheeler: Spacetime Physics 2nd Edition, New York, W. H. Freeman and Co., 1992. ISBN 0-7167-2327-1. Standardwerk zur Speziellen Relativitätstheorie (englisch) Zur technischen Anwendung der Relativitätstheorie in GPS-Systemen Online-Kurs „Spezielle Relativitätstheorie“ (mit GeoGebra, ausgezeichnet mit dem österreichischen Bildungssoftware-Preis L@rnie 2005) J. R. Lucas: Homepage mit zahlreichen Publikationen zur Philosophie der Zeit, Raumzeit und Relativität, darunter der Volltext von Reason and Reality, 2006 Andrew Hamilton: Yuri Balashov: , Rice University, Houston, Texas 1999 Einzelnachweise Albert Einstein Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sirius
Sirius
Sirius, Bayer-Bezeichnung α Canis Majoris (Alpha Canis Majoris, α CMa), auch Hundsstern, früher auch Aschere oder Canicula genannt, ist ein Doppelsternsystem des Sternbildes „Großer Hund“. Er ist der hellste Stern am Nachthimmel, beinahe doppelt so hell wie der zweithellste Stern Canopus. Von allen Himmelsobjekten erscheinen nur Sonne, Mond sowie die Planeten Venus, Jupiter, Mars und Merkur heller. Im Wintersechseck markiert Sirius die südlichste Ecke. Seine hellere Komponente besitzt eine scheinbare Helligkeit von −1,46 mag. Die Helligkeit seines Begleiters, des Weißen Zwerges Sirius B, beträgt hingegen nur 8,5 mag. Mit 8,6 Lichtjahren Entfernung ist Sirius eines der nächsten Gestirne. Das geschätzte Alter beträgt zwischen 225 und 250 Millionen Jahre. Physikalische Eigenschaften Sirius A Sirius A ist ein Hauptreihenstern vom Spektraltyp A1 mit der Leuchtkraftklasse V und dem Zusatz m für „metallreich“. Seine Masse ist etwa 2,1-mal so groß wie die der Sonne. Interferometrische Messungen zeigen, dass sein Durchmesser das 1,7fache des Sonnendurchmessers beträgt. Sirius’ Leuchtkraft ist 25-mal so groß wie die der Sonne. Die Oberflächentemperatur beträgt knapp 10.000 K (Sonne: 5.778 K). Die durch die Rotation des Sterns verursachte Dopplerverbreiterung der Spektrallinien erlaubt es, eine Untergrenze für die Rotationsgeschwindigkeit am Äquator zu bestimmen. Sie liegt bei 16 km/s, woraus eine Rotationsdauer von etwa 5,5 Tagen oder weniger folgt. Diese niedrige Geschwindigkeit lässt keine messbare Abplattung der Pole erwarten. Im Gegensatz dazu rotiert die ähnlich große Wega mit 274 km/s sehr viel schneller, was eine erhebliche Ausbuchtung am Äquator zur Folge hat. Das Lichtspektrum von Sirius A zeigt ausgeprägte metallische Linien. Dies deutet auf eine Anreicherung von schwereren Elementen als Helium hin, wie etwa das spektroskopisch besonders leicht beobachtbare Eisen. Das Verhältnis von Eisen zu Wasserstoff ist in der Atmosphäre etwa dreimal so groß wie in der Atmosphäre der Sonne (entsprechend einer Metallizität von [Fe/H] = 0,5). Es wird vermutet, dass der in der Sternatmosphäre beobachtete hohe Anteil von schwereren Elementen nicht repräsentativ für das gesamte Sterninnere ist, sondern durch Anreicherung der schwereren Elemente auf der dünnen äußeren Konvektionszone des Sterns zustande kommt. Die Gas- und Staubwolke, aus der Sirius A gemeinsam mit Sirius B entstand, hatte laut gängigen Sternmodellen nach etwa 4,2 Millionen Jahren das Stadium erreicht, in dem die Energiegewinnung durch die langsam anlaufende Kernfusion die Energiefreisetzung infolge Kontraktion um die Hälfte übertraf. Nach zehn Millionen Jahren schließlich stammte die gesamte erzeugte Energie aus der Kernfusion. Sirius A ist seither ein gewöhnlicher, Wasserstoff verbrennender Hauptreihenstern. Er gewinnt bei einer Kerntemperatur von etwa 22 Millionen Kelvin seine Energie hauptsächlich über den Bethe-Weizsäcker-Zyklus. Wegen der starken Temperaturabhängigkeit dieses Fusionsmechanismus wird die erzeugte Energie im Kern größtenteils durch Konvektion transportiert. Außerhalb des Kerns geschieht der Energietransport durch Strahlung, lediglich knapp unterhalb der Sternoberfläche setzt wieder konvektiver Transport ein (siehe auch Sternaufbau). Sirius A wird seinen Vorrat an Wasserstoff innerhalb der nächsten knappen Jahrmilliarde verbrauchen, danach den Zustand eines Roten Riesen erreichen und schließlich als Weißer Zwerg von etwa 0,6 Sonnenmassen enden. Sirius B Sirius B, der lichtschwache Begleiter von Sirius A, ist der dem Sonnensystem nächstgelegene Weiße Zwerg. Er ist nur etwa so groß wie die Erde und wegen seiner Nähe einer der bestuntersuchten Weißen Zwerge überhaupt. Er spielte bei der Entdeckung und Beschreibung Weißer Zwerge eine wichtige Rolle. Die Beobachtung wird dadurch erschwert, dass er durch die große Helligkeit von Sirius A überstrahlt wird. Sirius B hat 98 % der Masse der Sonne, aber nur 2,7 % ihrer Leuchtkraft. Entdeckung Friedrich Bessel bemerkte 1844 bei der Auswertung langjähriger Beobachtungsreihen eine Unregelmäßigkeit in der Eigenbewegung des Sirius, welche er als den Einfluss eines Doppelsternpartners mit einer Umlaufdauer von etwa einem halben Jahrhundert deutete. Zwar war vier Jahrzehnte zuvor von William Herschel die Existenz von physisch zusammengehörigen Doppelsternen gezeigt worden, aber alle bisher bekannten hatten zwei oder mehr sichtbare Komponenten. Dass der vermutete Begleiter von Sirius bisher von niemandem gesehen worden war, schreckte Bessel nicht ab: „Dass zahllose Sterne sichtbar sind, beweiset offenbar nichts gegen das Dasein zahlloser unsichtbarer“. Christian Peters konnte 1851 in seiner Habilitationsschrift die Umlaufperiode des Begleiters zu 50,093 Jahren und seine Masse zu mehr als sechs Jupitermassen bestimmen, eine starke Exzentrizität der Umlaufbahn feststellen und eine Ephemeride seiner erwarteten Positionen geben. Trotz dieser Hilfestellung gelang niemandem die Beobachtung, bis am 31. Januar 1862 Alvan Graham Clark, ein Sohn des Bostoner Instrumentenbauers Alvan Clark, eine gerade fertiggestellte Objektivlinse an Sirius prüfte und feststellte: „Vater, Sirius hat einen Begleiter.“ Peters bestritt zunächst die Identität des von Clark entdeckten Sterns mit dem von ihm berechneten Begleiter des Sirius. Da Sirius B sich auf seiner Umlaufbahn damals zunehmend von Sirius A entfernte, konnte er nunmehr auch von zahlreichen anderen Beobachtern ausfindig gemacht und vermessen werden. Weißer Zwerg Nach mehrjährigen Positionsmessungen, aus denen sich auch die Abstände der beiden Sterne vom gemeinsamen Schwerpunkt und damit ihr Massenverhältnis ergaben, stellte Otto von Struve 1866 fest, dass der Begleiter etwa halb so schwer war wie Sirius selbst. Bei gleichem Aufbau wie Sirius hätte der Begleiter damit immerhin 80 % von dessen Durchmesser und deshalb eine nur wenig geringere Helligkeit haben müssen. Weil der Begleiter aber nur die achte Größenklasse erreichte, also 10.000-mal leuchtschwächer als Sirius war, schloss Struve, „dass die beiden Körper von sehr unterschiedlicher physischer Beschaffenheit sind“. Über Jahrzehnte hinweg blieb Sirius B eine bloße Kuriosität. Nachdem die Anwendung der Spektralanalyse auf das Sternenlicht die Einteilung der Sterne in Spektralklassen erlaubt hatte, konnten Ejnar Hertzsprung und Henry Russell ab etwa 1910 systematische Zusammenhänge zwischen der Spektralklasse eines Sterns und seiner Leuchtkraft aufdecken. Im Hertzsprung-Russell-Diagramm bildeten die (damals untersuchten) Sterne zwei Gruppen: „Zwerge“ und „Riesen“. Nicht in das Schema passte jedoch schon damals der Stern 40 Eridani B, ein schwacher Begleiter von 40 Eridani: Er war gemessen an seiner Spektralklasse viel zu lichtschwach. 1915 konnte ein Spektrum von Sirius B aufgenommen werden, das ihn im HR-Diagramm in die Nähe von 40 Eridani B rückte und zeigte, dass die beiden offenbar Angehörige einer neuen Sternklasse waren. Ihre geringe Leuchtkraft trotz hoher Temperatur zeugte von einer geringen abstrahlenden Oberfläche, also einem kleinen Radius und damit einer immensen Dichte. Arthur Eddington hatte ab den 1920er Jahren detaillierte und erfolgreiche Sternmodelle erarbeitet, indem er Gaskugeln betrachtete, in denen der Gravitationsdruck der Gasmassen im Gleichgewicht mit dem Gasdruck und dem Strahlungsdruck stand. Die sogenannten „Weißen Zwerge“ konnte er mit seinen Modellen jedoch nur teilweise beschreiben, bis Ralph Fowler 1926 das erst kurz zuvor entdeckte Pauli-Prinzip mit einbezog. Im Inneren eines Weißen Zwerges ist das Gas vollständig ionisiert, besteht also aus Atomkernen und freien Elektronen. Da die Elektronen dem Pauli-Prinzip unterliegen, können keine zwei Elektronen in allen Quantenzahlen übereinstimmen. Dies bedeutet insbesondere, dass Elektronen in einem bereits stark komprimierten Elektronengas sich bei Erhöhung des äußeren Drucks nur dann weiter einander annähern können, wenn ein Teil der Elektronen auf höhere Energieniveaus ausweicht. Bei der Kompression muss also wegen dieses als Entartungsdruck bezeichneten Widerstands zusätzliche Energie aufgewendet werden. Während die Atomkerne den Hauptanteil der Sternmasse liefern, tragen die Elektronen mit dem quantenmechanisch bedingten Entartungsdruck zur Stabilisierung des Sterns bei. Eine Konsequenz daraus ist, dass der Radius eines Weißen Zwerges mit steigender Masse abnimmt, während der Radius eines gewöhnlichen Sternes mit wachsender Masse zunimmt. Subrahmanyan Chandrasekhar zeigte 1931, dass ein Weißer Zwerg oberhalb einer Grenzmasse von etwa 1,4 Sonnenmassen („Chandrasekhar-Grenze“) nicht mehr stabil sein kann. Gravitative Rotverschiebung Albert Einstein hatte im Zuge seiner Vorarbeiten zur allgemeinen Relativitätstheorie bereits 1908 vorhergesagt, dass Photonen, die mit der Wellenlänge λo von einem massereichen Körper ausgesandt werden, bei einem höher im Gravitationsfeld befindlichen Beobachter mit einer größeren, also rotverschobenen Wellenlänge eintreffen. Einige Versuche, diesen Effekt an Spektrallinien der Sonne zu beobachten, scheiterten zunächst wegen seiner Geringfügigkeit. Die Wellenlängenverschiebung, ausgedrückt als eine Geschwindigkeit in km/s (so als ob es sich um einen Dopplereffekt aufgrund einer Relativbewegung handeln würde), beträgt 0,6·M/R, wobei M und R die Masse und der Radius des Körpers sind, ausgedrückt als Vielfache der Sonnenmasse und des Sonnenradius. Da sich das Verhältnis M/R auch bei sehr massereichen Sternen wenig gegenüber der Sonne ändert, schien ein Nachweis des Effekts bis in die 1920er Jahre hinein aussichtslos zu sein. Bei Weißen Zwergen jedoch nimmt der Radius mit wachsender Masse ab. Es handelt sich daher um massereiche Objekte mit kleinem Radius, die eine deutliche Rotverschiebung zeigen sollten. Eddington, der bereits 1919 die relativistische Lichtablenkung im Gravitationsfeld der Sonne nachgewiesen hatte, sah darin eine Chance, die von ihm vermutete außerordentliche Dichte Weißer Zwerge zu bestätigen. Die Wahl fiel auf Sirius B, weil er Bestandteil eines Doppelsternsystems war. Daher war seine Masse bekannt, und durch Vergleich mit dem Spektrum von Sirius A war es außerdem möglich, den gravitativen Anteil der Rotverschiebung von der durch die Radialgeschwindigkeit des Systems erzeugten Dopplerverschiebung zu unterscheiden. Ausgehend von den damals angenommenen Werten für Temperatur und Radius erwartete Eddington eine Rotverschiebung von etwa +20 km/s. Walter Adams konnte im Jahre 1925 Spektren von Sirius B aufnehmen, die vermeintlich nur wenig durch Licht von Sirius A überlagert waren, und erhielt eine Verschiebung von +21 km/s. J. H. Moore bestätigte 1928 die Messung mit einem Wert von (21 ± 5) km/s. In den folgenden Jahrzehnten konnten die theoretischen Modelle Weißer Zwerge erheblich verbessert werden. Es stellte sich heraus, dass Eddington die Temperatur von Sirius B stark unterschätzt und den Radius daher überschätzt hatte. Die Theorie verlangte nun das Vierfache der von Eddington berechneten Rotverschiebung. Erneute Messungen ergaben in der Tat im Jahre 1971 eine Rotverschiebung von (+89 ± 16) km/s. Die Autoren erklärten Adams’ Ergebnis damit, dass damals wegen der starken Lichteinstreuung von Sirius A auch Spektrallinien vermessen worden waren, von denen mittlerweile bekannt war, dass sie zu Sirius A gehören. Der aktuelle Wert für die gravitative Rotverschiebung von Sirius B beträgt (80,42 ± 4,83) km/s; das Auflösungsvermögen des Hubble-Weltraumteleskops hatte es im Jahre 2004 ermöglicht, ein hochaufgelöstes Spektrum von Sirius B ohne nennenswerte Einstreuungen von Sirius A aufzunehmen. Entwicklung Nach den aktuellen Szenarien zur Sternentwicklung entstanden Sirius A und B vor etwa 240 Millionen Jahren gemeinsam als Doppelsternsystem. Sirius B war ursprünglich mit fünf Sonnenmassen und der 630-fachen Leuchtkraft der Sonne viel schwerer und leuchtkräftiger als Sirius A mit nur zwei Sonnenmassen. Wegen seiner großen Masse und der damit einhergehenden hohen Fusionsrate hatte Sirius B nach etwa 100 Millionen Jahren den Großteil des Wasserstoffs in seinem Kern zu Helium verbrannt (Wasserstoffbrennen). Die Fusionszone verlagerte sich in eine Schale um den ausgebrannten Kern und Sirius B blähte sich zu einem Roten Riesen auf. Schließlich versiegte auch diese Energiequelle, so dass Sirius B begann, das erzeugte Helium zu Kohlenstoff und Sauerstoff zu fusionieren (Heliumbrennen). Er verlor seine nur noch schwach gebundenen äußeren Schichten wegen des starken einsetzenden Sternwindes und büßte so etwa vier Fünftel seiner ursprünglichen Masse ein. Übrig blieb der hauptsächlich aus Kohlenstoff und Sauerstoff bestehende ausgebrannte Kern, in dem praktisch keine Energieerzeugung mehr stattfand. Da die Kernmaterie nun vollständig ionisiert war und der innere Druck zur Stabilisation fehlte, brauchten die Atomkerne und freien Elektronen wesentlich weniger Platz. Der Kern konnte daher auf enorme Dichte zusammenschrumpfen, bis der Entartungsdruck der Elektronen ein weiteres Komprimieren verhinderte. Sirius B befindet sich nun seit etwa 124 Millionen Jahren in diesem Stadium und kühlt langsam aus. Eigenschaften Gegenüber der wesentlich helleren Komponente Sirius A hat der Begleitstern Sirius B nur eine scheinbare Helligkeit von 8,5 mag. Er besitzt knapp eine Sonnenmasse und ist damit einer der massereichsten bekannten Weißen Zwerge (die meisten Weißen Zwerge konzentrieren sich in einem engen Bereich um 0,58 Sonnenmassen, nur geschätzte 2 % oder weniger überschreiten eine Sonnenmasse). Mit einer Oberflächentemperatur von rund 25.000 K ist Sirius B viel heißer als die Sonne oder Sirius A. Trotz dieser hohen Temperatur beträgt seine Helligkeit nur ein Zehntausendstel derjenigen von Sirius A. Die Kombination der beobachteten Temperatur und Helligkeit mit Modellrechnungen ergibt einen Durchmesser von 0,00864 Sonnendurchmessern (ca. 12.020 km). Sirius B ist also sogar etwas kleiner als die Erde (mittlerer Durchmesser 12.742 km). Die Schwerkraft auf der Oberfläche von Sirius B ist knapp 400.000-mal so hoch wie auf der Erde (log g = 8,556), seine mittlere Dichte beträgt 2,38 Tonnen/cm3, die Dichte in seinem Zentrum 32,36 Tonnen/cm3. Sirius B besteht aus einer vollständig ionisierten Mischung aus Kohlenstoff und Sauerstoff, umgeben von einer dünnen Atmosphäre ionisierten Wasserstoffs. Wegen der starken Oberflächenschwerkraft sind fast alle schwereren Verunreinigungen der Atmosphäre in den Kern abgesunken, so dass das Spektrum von Sirius B praktisch ausschließlich Wasserstofflinien aufweist. Da die heiße Wasserstoffatmosphäre für Röntgenstrahlung durchsichtig ist, können Röntgenemissionen beobachtet werden, die aus tieferen, heißeren Schichten stammen. Sirius B besitzt praktisch kein Magnetfeld. Sirius C In den 1920er Jahren beobachteten mehrere Astronomen wiederholt einen schwachen Stern etwa der 12. Größenklasse in unmittelbarer Nähe von Sirius A, verloren diesen möglichen neuen Begleiter dann aber wieder. Französische Astronomen konnten 1999 auf einer Aufnahme mit abgeblendetem Sirius A dessen Umgebung näher auf schwache Sterne untersuchen. Sie fanden einen Hintergrundstern passender Helligkeit, an dem Sirius in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbeigezogen war und der offenbar von den damaligen Beobachtern gesehen worden war. Beim Vergleich mit einer früheren Aufnahme konnten die Astronomen außerdem bis in eine Nähe von 30 Bogensekunden keinen Begleitstern finden, der sich durch eine mit Sirius A gemeinsame Eigenbewegung verraten hätte. Eine Untersuchung von Unregelmäßigkeiten in der Umlaufbewegung von Sirius A und B deutet darauf hin, dass sich im Sirius-System eine dritte Komponente, deren Masse auf nur etwa 0,06 Sonnenmassen eingeschätzt wird, mit einer Umlaufdauer von etwa 6 Jahren befinden könnte. Da es um Sirius B keine stabile Umlaufbahn mit einer Umlaufzeit von mehr als 4 Jahren gibt, kann der potenzielle Sirius C nur um Sirius A kreisen. Sirius A und B als Doppelsternsystem Das Sternensystem Sirius besteht aus den zwei oben beschriebenen Sternen, die sich mit einer Periode von 50,052 Jahren um ihren gemeinsamen Massenschwerpunkt bewegen. Wie bei allen Doppelsternen bewegt sich jeder der beiden Sterne jeweils auf einer Ellipse um diesen Schwerpunkt; für jede der beiden Ellipsen fällt einer ihrer Brennpunkte mit dem Schwerpunkt zusammen. Da Sirius A mehr als doppelt so schwer ist wie Sirius B, liegt der Schwerpunkt des Systems näher an Sirius A. Aus praktischen Gründen wird üblicherweise nur die relative Bahn von Sirius B bezüglich Sirius A dargestellt, der daher einen festen Punkt im Diagramm einnimmt. Diese relative Bahn ist ebenfalls eine Ellipse, nun aber mit Sirius A in einem ihrer Brennpunkte. Könnte ein irdischer Beobachter senkrecht auf die Bahnebene des Doppelsternsystems blicken, so sähe er diese Ellipse mit einer 7,501″ langen großen Halbachse und einer Exzentrizität von 0,5923. Unter Berücksichtigung der Entfernung von Sirius folgen daraus für die große Halbachse eine Länge von knapp 20 Astronomischen Einheiten (AE) oder knapp drei Milliarden Kilometern, ein kleinster Abstand von 8 AE und ein größter Abstand von 31,5 AE. Der kleinste bzw. größte Abstand würde diesem Beobachter unter einem Winkel von 3,1″ bzw. 11,9″ erscheinen. Da die Bahn jedoch um 136,62° gegen die Sichtlinie geneigt ist, sieht der Beobachter die Bahn in Schrägansicht, die sich wiederum als Ellipse, aber mit etwas größerer Exzentrizität darstellt. Die Abbildung zeigt diese scheinbare Bahn, wie sie von der Erde aus gesehen erscheint. Obwohl Sirius A in einem Brennpunkt der relativen Umlaufbahn von Sirius B liegt, befindet er sich wegen der Schrägansicht nicht in einem Brennpunkt der im Diagramm dargestellten perspektivisch verkürzten Ellipse. Aufgrund der Schrägansicht erscheinen dem Beobachter die größtmöglichen und kleinstmöglichen Winkelabstände, die Sirius B auf dieser scheinbaren Bahn durchläuft, etwas kleiner als die oben angegebenen unverzerrten Werte. Sirius B passierte auf seiner wahren Bahn den geringsten Abstand zu Sirius A (das Periastron) das letzte Mal im Jahre 1994, erreichte auf der scheinbaren Bahn den verkürzungsbedingt geringsten Abstand jedoch bereits 1993. Während sich Sirius B im Zustand des roten Riesen befand, könnte sich durch Massenübertritt die Metallizität seines Begleiters Sirius A erhöht haben. Dies wäre eine Erklärung, warum Sirius A mehr Metalle (Elemente schwerer als Helium) in seiner Hülle enthält, als dies für einen Hauptreihenstern zu erwarten wäre. So liegt der Gehalt an Eisen z. B. 7,4-mal über dem der Sonne. Vom Infrarot-Satelliten IRAS gemessene Werte zeigen für das Sirius-System eine höhere infrarote Strahlung als erwartet. Das könnte auf Staub in diesem System hinweisen und wird als ungewöhnlich in einem Doppelsternsystem betrachtet. Umgebung: Der nächste Nachbarstern Prokyon ist von Sirius A+B 5,24 Lichtjahre entfernt. Die weiteren größeren Nachbarsternsysteme sind mit Entfernungen von 7,8 Lj Epsilon Eridani, 8,6 Lj die Sonne und 9,5 Lj Alpha Centauri. Bewegung Eigenbewegung Sirius weist eine relativ große Eigenbewegung von 1,3″ im Jahr auf. Davon entfallen etwa 1,2″ auf die südliche und 0,55″ auf die westliche Richtung. Sirius und Arktur waren die ersten Sterne, an denen eine Eigenbewegung festgestellt wurde, nachdem sie über Jahrtausende hinweg als unbeweglich („Fixsterne“) galten. Im Jahre 1717 bemerkte Edmond Halley beim Vergleich der von ihm selbst gemessenen Sternpositionen mit den im Almagest überlieferten antiken Koordinaten, dass Sirius sich seit der Zeit des Ptolemäus um etwa ein halbes Grad (einen Vollmonddurchmesser) nach Süden verschoben hatte. Sirius-Supercluster Im Jahre 1909 machte Hertzsprung darauf aufmerksam, dass auch Sirius aufgrund seiner Eigenbewegung wohl als ein Mitglied des Ursa-Major-Stroms anzusehen sei. Dieser Sternstrom besteht aus etwa 100 bis 200 Sternen, die eine gemeinsame Bewegung durch den Raum zeigen und vermutlich zusammen als Mitglieder eines offenen Sternhaufens entstanden, dann aber weit auseinanderdrifteten. Untersuchungen aus den Jahren 2003 und 2005 ließen jedoch Zweifel aufkommen, ob Sirius ein Mitglied dieser Gruppe sein kann. Das Alter der Ursa-Major-Gruppe musste auf etwa 500 (± 100) Millionen Jahre heraufgesetzt werden, während Sirius nur etwa halb so alt ist. Damit wäre er zu jung, um zu dieser Gruppe zu gehören. In der Umgebung der Sonne lassen sich neben dem Ursa-Major-Strom noch andere Bewegungshaufen unterscheiden, unter anderem der Hyaden-Supercluster sowie der Sirius-Supercluster. Letzterer umfasst neben Sirius und der Ursa-Major-Gruppe auch weit verstreut liegende Sterne wie Beta Aurigae, Alpha Coronae Borealis, Zeta Crateris, Beta Eridani und Beta Serpentis. Die Bezeichnung „Supercluster“ beruht auf der Vorstellung, dass auch diese großen Sterngruppen jeweils gemeinsam entstanden sind und – obwohl inzwischen weit auseinandergedriftet – eine erkennbare gemeinsame Bewegung beibehalten haben. Sirius wäre dann, wenn nicht Mitglied der Ursa-Major-Gruppe, so doch des umfassenderen Sirius-Superclusters. Das Szenario eines gemeinsamen Ursprungs der Sterne in einem solchen Supercluster ist jedoch nicht unumstritten; insbesondere kann es nicht erklären, warum es in einem Supercluster Sterne sehr unterschiedlichen Alters gibt. Eine alternative Deutung geht davon aus, dass der Hyaden- und der Siriusstrom nicht aus Sternen jeweils gemeinsamer Herkunft bestehen, sondern aus Sternen ohne Verwandtschaft, denen Unregelmäßigkeiten im Gravitationsfeld der Milchstraße ein gemeinsames Bewegungsmuster aufgeprägt haben. Es wäre dann nicht von „Superclustern“, sondern von „dynamischen Strömen“ zu sprechen. Vorbeiflug am Sonnensystem Sirius wird auf seinem Kurs, von einem gegenwärtigen Abstand von 8,6 Lj. aus, in etwa 64.000 Jahren mit ca. 7,86 Lichtjahren seine größte Annäherung zum Sonnensystem erreicht haben. Seine scheinbare Helligkeit wird dann bei −1,68 mag liegen (heute −1,46 mag). Sichtbarkeit Die scheinbare Position von Sirius am Himmel ist abhängig vom Beobachtungsort auf der Erde und wird von der Erdpräzession sowie der Eigenbewegung des Sirius zusätzlich beeinflusst. So ist beispielsweise in der heutigen Zeit Sirius vom Nordpol bis zum 68. nördlichen Breitengrad nicht zu sehen, während Sirius vom Südpol bis zum 67. südlichen Breitengrad ständig am Himmel steht und nicht untergeht. Damit verbunden nimmt vom 67. nördlichen Breitengrad ausgehend die maximal sichtbare Höhe über dem Horizont bis in die Region des Äquators je Breitengrad um einen Höhengrad auf etwa 83° zu, um sich bis zum Südpol wieder auf etwa 30° zu reduzieren. Zusätzlich ändert sich je Breitengrad der Aufgangsort von Sirius. Am 67. nördlichen Breitengrad taucht Sirius am Horizont in südöstlicher Lage (172°) auf, am Äquator dagegen fast im Osten (106°). Die unterschiedlichen Sichtbarkeitsverhältnisse wirken sich auf die Beobachtungsdauer am Himmel aus, die zwischen knapp sechs Stunden am 67. nördlichen Breitengrad und der ständigen Präsenz am Südpol je nach Ortslage veränderliche Werte aufweist. Ähnliche Bedingungen gelten hinsichtlich des Breitengrads für den Sonnenaufgang, der gegenüber dem Vor- und Folgetag zeitlich variiert. Die Region, in der Sirius nicht gesehen werden kann, wird sich in den folgenden Jahren weiter in südlicher Richtung ausdehnen. Im Jahr 7524 n. Chr. verlagert sich die Grenze der Nicht-Sichtbarkeit bis zum 52. Breitengrad auf die Höhe Berlins. In etwa 64.000 Jahren, wenn Sirius die größte Annäherung erreicht haben wird, kehrt sich dieser Trend um. In Deutschland wird er dann das ganze Jahr über sichtbar sein und nicht mehr untergehen. Sirius ist wegen seiner Helligkeit auch für den zufälligen Himmelsbetrachter ein auffälliger Stern. Sein grelles bläulich-weißes Licht neigt schon bei geringer Luftunruhe zu starkem und oft farbenfrohem Flackern. In gemäßigten nördlichen Breiten ist er ein Stern des Winterhimmels, den er wegen seiner Helligkeit dominiert. Während er den Sommer über am Tageshimmel steht und mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, wird er gegen Ende August erstmals in der Morgendämmerung sichtbar. Im Herbst ist er ein Stern der zweiten Nachthälfte, im Winter geht er schon am Abend auf. Um den Jahreswechsel kulminiert Sirius gegen Mitternacht und ist daher die ganze Nacht über zu sehen. Sein Aufgang fällt im Frühling bereits vor den Sonnenuntergang und kann nicht mehr beobachtet werden. Ab Mai hat sich auch sein Untergang in die helle Tageszeit verlagert, so dass er bis in den Spätsommer gar nicht mehr sichtbar ist. Ein Beobachter kann in großer Höhe Sirius auch am Tage mit bloßem Auge sehen, wenn die Sonne schon nahe am Horizont steht und sich der Stern an einem Standort mit sehr klarem Himmel hoch über dem Horizont befindet. Helligkeitsvergleich mit anderen Sternen Wega wird etwa 235.000 n. Chr. Sirius mit einer errechneten Helligkeit von −0,7 mag als hellsten Stern am Himmel ablösen, ehe dann 260.000 n. Chr. Canopus mit −0,46 mag wieder als zweithellster Stern Sirius auf Rang drei verdrängen wird. Die Entwicklung der Helligkeit von Sirius im Vergleich zu anderen hellen Sternen im Zeitraum zwischen 100.000 v. Chr. und 100.000 n. Chr. ist im folgenden Diagramm und der dazugehörigen Tabelle dargestellt: {| class="wikitable" style="text-align:center" |- ! width="16%"| Jahr ! width="12%"| Sirius ! width="12%"| Canopus ! width="12%"| Wega ! width="12%"| Arcturus ! width="12%"| Prokyon ! width="12%"| Altair ! width="12%"| α Cen |- | −100.000 | −0,66 | −0,82 | +0,33 | +0,88 | +0,88 | +1,69 | +2,27 |- | −75.000 | −0,86 | −0,80 | +0,24 | +0,58 | +0,73 | +1,49 | +1,84 |- | −50.000 | −1,06 | −0,77 | +0,17 | +0,30 | +0,58 | +1,27 | +1,30 |- | −25.000 | −1,22 | −0,75 | +0,08 | +0,08 | +0,46 | +1,03 | +0,63 |- | 0 | −1,43 | −0,72 | 0,00 | −0,02 | +0,37 | +0,78 | −0,21 |- | 25.000 | −1,58 | −0,69 | −0,08 | +0,02 | +0,33 | +0,49 | −0,90 |- | 50.000 | −1,66 | −0,67 | −0,16 | +0,19 | +0,32 | +0,22 | −0,56 |- | 75.000 | −1,66 | −0,65 | −0,25 | +0,45 | +0,37 | −0,06 | +0,30 |- | 100.000 | −1,61 | −0,62 | −0,32 | +0,74 | +0,46 | −0,31 | +1,05 |} Sirius in der Geschichte Namensherkunft Die früheste überlieferte Erwähnung von Sirius (, Seirios) findet sich im 7. Jahrhundert v. Chr. bei Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage. Die Herkunft des Namens unterliegt mehreren Deutungen: Leukosia (Die Weiße) ist in der griechischen Mythologie eine der Sirenen (Seirenes). Eine mögliche Verbindung zu Sirius mit der Benennung als Das gleißend weiße Licht ist ebenso Inhalt kontroverser Diskussionen wie auch die Anwendung der Begriffe gleißend heiß und sengend für Seirios. Schließlich wird eine weitere Gleichsetzung mit der indogermanischen Wurzel *tueis-ro für „erregt sein“ oder „funkeln“ angenommen. Einige Wissenschaftler bestreiten allerdings diese Ableitung. Sirius im Blickwinkel anderer Kulturen Die scheinbare Helligkeit des Sirius war im Altertum unwesentlich geringer und lag bei −1,41 mag. Die Entfernung betrug 8,8 Lichtjahre. Als besonders auffälliger Stern findet sich Sirius seit prähistorischen Zeiten in den Mythen, Religionen und Gebräuchen zahlreicher Kulturen, welche hier nur knapp angerissen werden können. Ägypten Ob die Bedeutung „die Spitze“ ausschließlich mit dem Sternbild Sopdet in Verbindung gebracht wurde, bleibt dabei unklar. Während sich die Verehrung auf Sirius konzentrierte, verblassten die beiden anderen Sterne in ihrer Bedeutung immer mehr. Bezüglich der Nilflut nahm Sirius im Verlauf der ägyptischen Geschichte einen wichtigen Rang ein. Herodot gibt die Zeit um den 22./23. Juni als Beginn der Nilflut an. Einträge in ägyptischen Verwaltungsdokumenten bestätigen Herodots Angaben. Historische und astronomische Rekonstruktionen belegen, dass die erste morgendliche Sichtbarkeit von Sirius im Nildelta um 2850 v. Chr. und im südlichsten Ort Assuan um 2000 v. Chr. mit dem 22./23. Juni zusammenfiel. Sirius galt deshalb im 3. Jahrtausend v. Chr. als Verkünder der Nilflut und genoss in der ägyptischen Religion eine noch größere Bedeutung. Im weiteren Verlauf der ägyptischen Geschichte erfolgten die heliakischen Aufgänge von Sirius erst nach dem Eintreffen der Nilflut. In der griechisch-römischen Zeit Ägyptens wurde den veränderten Bedingungen mythologisch Rechnung getragen. Nun war es Salet, die mit einem Pfeilschuss die Nilflut auslöste; ihre Tochter Anukket sorgte anschließend für die Abschwellung des Nils. Der heliakische Aufgang des Sirius erfolgt in der heutigen Zeit in Assuan am 1. August und im Nildelta am 7. August. Sumer und Mesopotamien Bei den Sumerern nahm Sirius im 3. Jahrtausend v. Chr. in der sumerischen Religion schon früh mehrere zentrale Rollen ein. Als Kalenderstern erfüllte er mit der Bezeichnung MULKAK.SI.SÁ eine wichtige Funktion im landwirtschaftlichen Zyklus. Als MULKAK.TAG.GA (Himmelspfeil) galt Sirius als eine Hauptgottheit der Sieben und unterstand dem herrschenden Gottesstern über die anderen Himmelsobjekte, der Venus, die als Göttin Inanna verehrt wurde. In den Akitu-Neujahrsprozessionen galt Sirius schließlich als Zieher über die Meere und erhielt entsprechende Opfergaben. Nahezu in unveränderter Form fungierte er auch später bei den Babyloniern und Assyrern, die Sirius zusätzlich gemäß der MUL.APIN-Tontafeln als Signalgeber für den Zeitpunkt der Schaltjahre bestimmten. Griechenland, Rom und Deutschland Bei den Griechen und Römern war Sirius mit Hitze, Feuer und Fieber verbunden. Die Römer nannten die heißeste Zeit des Jahres (üblicherweise vom frühen Juli bis Mitte August) die „Hundstage“ (lat. dies caniculares, Tage des Hundssterns). Im deutschen Volksglauben wurden die Hundstage ab dem 15. Jahrhundert als Unglückszeit angesehen. Sirius galt bei den Griechen als Wegbereiter der Tollwut. Nordamerika und China Auch bei vielen nordamerikanischen Volksstämmen wird Sirius mit Hunden oder Wölfen assoziiert. Bei den Cherokee beispielsweise sind Sirius und Antares die Hundssterne, welche die Enden des „Pfades der Seelen“ (der Milchstraße) bewachen: Sirius das östliche Ende am Winterhimmel, Antares das westliche Ende am Sommerhimmel. Eine aus der Welt scheidende Seele muss genug Futter mit sich tragen, um beide Hunde zu besänftigen, wenn sie nicht ewig auf dem Pfad der Seelen herumirren will. Die Pawnee bezeichnen Sirius als Wolfstern. Bei den Chinesen bildeten Sterne der heutigen Konstellationen Achterdeck und Großer Hund ein Pfeil und Bogen darstellendes Sternbild. Der Pfeil zielte direkt auf den „Himmelswolf“ (), nämlich Sirius. Südsee-Inseln In Polynesien und Mikronesien dienten die helleren Sterne des Südhimmels, insbesondere Sirius, seit prähistorischen Zeiten der Navigation bei den Überfahrten zwischen den verstreuten Inselgruppen. Nahe am Horizont konnten helle Sterne wie Sirius als Richtungsanzeiger verwendet werden (wobei sich mehrere Sterne im Laufe einer Nacht in dieser Rolle gegenseitig ablösten). Sterne konnten auch zur Feststellung der geographischen Breite benutzt werden. So zieht Sirius mit seiner Deklination von 17° Süd senkrecht über Fidschi mit der geographischen Breite 17° Süd hinweg und man musste nur so lange nach Süden oder Norden fahren, bis Sirius durch den Zenit ging. Sirius und die Dogon Der französische Ethnologe Marcel Griaule studierte ab 1931 zwei Jahrzehnte lang die Volksgruppe der Dogon im westafrikanischen Mali. Die umfangreichen Schöpfungsmythen der Dogon, die Griaule in hauptsächlich per Dolmetscher geführten Gesprächen mit vier hochrangigen Stammesangehörigen sammelte, enthalten angeblich Angaben über einen merkwürdigen Begleiter von Sirius: der Stern Sirius (sigu tolo) wird vom kleineren Begleiter po tolo umkreist. Po tolo hat seinen Namen von po, dem kleinsten den Dogon bekannten Getreidekorn (Digitaria exilis). Po tolo bewegt sich auf einer ovalen Bahn um Sirius; Sirius steht nicht im Zentrum dieser Bahn, sondern exzentrisch. Po tolo braucht 50 Jahre, um die Bahn einmal zu durchlaufen und dreht sich einmal im Jahr um sich selbst. Wenn po tolo nahe bei Sirius steht, wird Sirius heller. Wenn der Abstand am größten ist, flackert Sirius und kann als mehrere Sterne erscheinen. Po tolo ist der kleinste Stern und überhaupt das kleinste für die Dogon denkbare Ding. Er ist aber gleichzeitig so schwer, dass alle Menschen nicht ausreichen würden, ihn hochzuheben. Ein drittes Mitglied des Siriussystems ist der Stern emme ya tolo (benannt nach einer Sorghumhirse), der etwas größer als po tolo aber nur ein Viertel so schwer ist. Er umkreist Sirius auf einer größeren Bahn und ebenfalls einmal in 50 Jahren. Die Ähnlichkeit dieser Beschreibungen mit Sirius B und einem eventuellen Sirius C ist umso erstaunlicher, als nichts davon mit bloßem Auge erkennbar ist. Zahlreiche unterschiedliche Spekulationen versuchen die Herkunft dieser angeblichen Kenntnisse zu erklären. In der Populärliteratur finden sich zwei Hauptströmungen: Eine hauptsächlich in afrozentrischer Literatur vertretene Ansicht sieht die Dogon sogar als Überbleibsel einer einstigen hochentwickelten, wissenschaftlich geprägten afrikanischen Zivilisation. Robert Temple andererseits vertrat in seinem Buch Das Sirius-Rätsel (The Sirius Mystery) die Vermutung, außerirdische Besucher aus dem Sirius-System hätten vor etwa 5000 Jahren den Anstoß für den Aufstieg der ägyptischen und der sumerischen Zivilisation gegeben. Die in wissenschaftlichen Kreisen bevorzugte Erklärung geht von der Kontaminierung der Dogon-Mythologie mit modernen astronomischen Erkenntnissen aus. Die anthropologische Variante nimmt an, dass die Kontamination (wenn auch nicht absichtlich) durch Griaule selbst geschehen sei. Der niederländische Anthropologe Walter van Beek arbeitete selbst mit den Dogon und versuchte Teile des Materials von Griaule zu verifizieren. Er konnte jedoch große Teile der von Griaule wiedergegebenen Mythen nicht bestätigen, unter anderem Sirius als Doppelsternsystem. Van Beek vertritt die Ansicht, dass die von Griaule publizierten Mythen nicht einfach Wiedergaben von Erzählungen seiner Gewährsleute seien, sondern in einem komplexen Zusammenspiel zwischen Griaule, seinen Informanten und den Übersetzern zustande gekommen sind. Ein Teil von ihnen sei das Ergebnis von Missverständnissen sowie Überinterpretation durch Griaule. Eine mögliche Erklärung bezieht sich auf angenommene Kontakte der Dogon mit europäischen Besuchern. Sie weist darauf hin, dass die Dogon-Erzählungen den astronomischen Kenntnisstand ab etwa 1926 widerspiegeln (während Griaule erst ab 1931 bei den Dogon zu arbeiten begann): die Umlaufperiode, der elliptische Orbit und die große Masse von Sirius B waren bereits im 19. Jahrhundert bekannt, sein geringer Durchmesser ab etwa 1910, ein möglicher dritter Begleiter wurde in den 1920er Jahren vermutet, die hohe Dichte von Sirius B wurde 1925 nachgewiesen. Die Beobachtung der gravitativen Rotverschiebung an Sirius B ging als Aufsehen erregende Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie durch die populäre Presse. Als Quellen kommen beispielsweise Missionare in Betracht, worauf auch biblische und christliche Motive in der Dogon-Mythologie hinweisen. Missionarische Aktivitäten bei den Dogon fanden ab 1931 statt, allerdings sind bisher keine Missionare nachweisbar, die konkret als Quelle in Frage kämen. Sirius als roter Stern Sirius erscheint dem Betrachter grell bläulichweiß. Im Sternkatalog des von Claudius Ptolemäus um 150 n. Chr. verfassten Almagest findet sich Sirius, der Hauptstern des Sternbilds Großer Hund, dennoch mit dem Eintrag: Während nach Beschreibung und Koordinaten eindeutig Sirius gemeint ist, stimmt die genannte rötliche Färbung nicht mit Sirius’ blau-weißer Farbe überein. Seit dem 18. Jahrhundert knüpfen sich daran Spekulationen, ob Sirius tatsächlich während der letzten 2000 Jahre seine Farbe geändert haben könnte. In diesem Fall würde Ptolemäus’ Bemerkung wertvolles Beobachtungsmaterial sowohl allgemein zur Sternentwicklung als auch speziell zu den Vorgängen in der Sonnenumgebung liefern. Es lässt sich auch unter Beziehung unabhängiger Quellen jedoch nicht eindeutig entscheiden, ob Sirius in der Antike als rot wahrgenommen wurde oder nicht. Ein assyrischer Text aus dem Jahre 1070 v. Chr. beschreibt Sirius als „rot wie geschmolzenes Kupfer.“ Sirius wird von Aratos in seinem Lehrgedicht Phainomena sowie von dessen späteren Bearbeitern als rötlich bezeichnet. Bei Plinius ist Sirius „feurig“ und bei Seneca sogar röter als Mars. Auch der frühmittelalterliche Bischof Gregor von Tours bezeichnet Sirius in seinem Werk De cursu stellarum ratio (ca. 580 n. Chr.) noch als roten Stern. Andererseits bezeichnet Manilius Sirius als „meerblau“, und vier antike chinesische Texte beschreiben die Farbe einiger Sterne als „so weiß wie [Sirius]“. Darüber hinaus wird Sirius oft als stark funkelnd beschrieben; ein eindrucksvolles Funkeln setzt aber die vollen Spektralfarben eines weißen Sterns voraus, während das mattere Funkeln eines roten Sterns kaum Aufmerksamkeit erregt hätte. Fünf andere von Ptolemäus als rot bezeichnete Sterne (u. a. Beteigeuze, Aldebaran) sind auch für den heutigen Betrachter rötlich. Nach heutigem Verständnis der Sternentwicklung ist ein Zeitraum von 2000 Jahren bei weitem nicht ausreichend, um bei den betreffenden Sterntypen sichtbare Veränderungen bewirken zu können. Demnach ist weder ein Aufheizen von Sirius A von einigen tausend Kelvin auf die heutigen knapp 10.000 K, noch eine Sichtung von Sirius B in seiner Phase als Roter Riese denkbar. Alternative Erklärungsversuche konnten bislang allerdings auch nicht vollständig überzeugen: Eine zwischen Sirius und der Erde durchziehende interstellare Staubwolke könnte eine erhebliche Rötung des Lichts durchscheinender Sterne verursacht haben. Eine solche Wolke hätte aber Sirius’ Licht auch so stark schwächen müssen, dass er allenfalls als unauffälliger Stern dritter Größenklasse erschienen wäre und seine Helligkeit nicht ausgereicht hätte, um im menschlichen Auge einen Farbeindruck hervorzurufen. Spuren einer solchen Wolke wurden nicht gefunden. Die irdische Atmosphäre rötet das Licht tiefstehender Gestirne ebenfalls, schwächt es aber nicht so stark ab. Da der heliakische Aufgang des Sirius für viele antike Kulturen ein wichtiger kalendarischer Fixpunkt war, könnte die Aufmerksamkeit besonders dem tiefstehenden und dann rötlich erscheinenden Sirius gegolten haben. Diese Farbe könnte Sirius dann als kennzeichnendes Attribut beibehalten haben. Theoretische Rechnungen deuten an, dass die Atmosphäre in der Tat das Licht eines Sterns ausreichend röten kann, ohne die Helligkeit unter die Farbwahrnehmungsschwelle zu drücken. Praktische Beobachtungen konnten bisher aber keinen ausgeprägten Rötungseffekt feststellen. „Rötlich“ könnte ein lediglich symbolisches Attribut sein, das Sirius mit der von seinem heliakischen Erscheinen angekündigten Sommerhitze in Verbindung bringt. Konjunktionen und Bedeckungen Da sich Sirius weit südlich der Ekliptik befindet, kann sich keiner der Planeten unseres Sonnensystems ihn auf einem Abstand von unter 30 Grad nähern. Allerdings gibt es einige Kleinplaneten mit stark geneigter Bahn, welche am Himmel in der Nachbarschaft von Sirius erscheinen und ihn sogar bedecken können. Am 19. Februar 2019 bedeckte der 16,7 mag helle Kleinplanet Jürgenstock Sirius für Beobachter im karibischen Raum und am 9. Oktober 2022 zog der 8,7m helle Asteroid Pallas 8,5 Bogenminuten nördlich an Sirius vorbei. Am 27. Februar 2023 zog Pallas in 2,6° nordwestlichem Abstand an Sirius vorbei. Am 19. Februar 2037 wird man den Kleinplaneten Aethra 3,2° südöstlich von Sirius finden. Trivia Friedrich Wilhelm Herschel definierte Anfang des 19. Jahrhunderts das Siriometer als die Entfernung von der Sonne zum Sirius. Die Einheit konnte sich jedoch nicht durchsetzen und wird heute nicht mehr verwendet. Siehe auch Sehungsbogen des Sirius im Alten Ägypten Bezugsorte der kalendarischen Sothis-Aufgänge im Alten Ägypten Liste von Sternen Mount Canicula Sirius Knoll Literatur chronologisch Noah Brosch: Sirius Matters (= Astrophysics and Space Science Library.Band 354). Springer, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-1-402-08319-8 (englisch), ([email protected]). Jay B. Holberg: Sirius – Brightest Diamond in the Night Sky. Springer, Berlin u. a. 2007, ISBN 978-0-387-48941-4. (englisch, kulturgeschichtlicher und astrophysikalischer Überblick) Erich Sams: Sirius – Der Wächter am Tor. Glanz und Elend des Fixsterns Sirius in den alten Religionen. Pro Literatur, Mering 2007, ISBN 978-3-86611-312-1. Michael Grant und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. dtv, München 2003, ISBN 3-423-32508-9. Mary Barnett: Götter und Mythen des alten Ägypten. Gondrom, Bindlach 1998, ISBN 3-8112-1646-5. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen – Die Götter- und Menschheitsgeschichten. dtv, München 1994, ISBN 3-423-30030-2. Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie – Quellen und Deutung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, ISBN 3-499-55404-6. (17. Auflage 2007, nach der im Jahre 1955 erschienenen amerikanische Penguin-Ausgabe). Weblinks Astronews Hubblesite Größenvergleich mit anderen Himmelskörpern Sirius als Unglücksbote in Deutschland Anmerkungen Einzelnachweise Sumerische Mythologie Hauptreihenstern Weißer Zwerg Stern im Gliese-Jahreiß-Katalog Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schnabeltier
Schnabeltier
Das Schnabeltier (Ornithorhynchus anatinus, ) ist ein eierlegendes Säugetier aus Australien. Es ist die einzige lebende Art der Familie der Schnabeltiere (Ornithorhynchidae). Zusammen mit den vier Arten der Ameisenigel bildet es das Taxon der Kloakentiere (Monotremata), die sich stark von allen anderen Säugetieren unterscheiden. Merkmale Allgemeines Der Körperbau des Schnabeltiers ist flachgedrückt und stromlinienförmig, es hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem flach gebauten Biber und hat auch einen vergleichsweise platten Schwanz. Der Körper und der Schwanz sind mit braunem, wasserabweisendem Fell bedeckt. Die Füße tragen Schwimmhäute. Die Körperlänge der Schnabeltiere beträgt rund 30 bis 40 Zentimeter, der Schwanz, der als Fettspeicher verwendet wird, ist 10 bis 15 Zentimeter lang. Schnabeltiere erreichen ein Gewicht von 0,5 bis 2,5 Kilogramm, wobei Männchen rund ein Drittel größer als Weibchen werden. Wie bei allen Kloakentieren münden bei ihnen beide Ausscheidungs- und die Geschlechtsorgane in einer gemeinsamen Öffnung, der „Kloake“. Im Vergleich mit anderen Säugetieren ist die Körpertemperatur des Schnabeltieres mit rund 32 Grad Celsius sehr niedrig. Ob dieses Faktum typisch für eierlegende Säugetiere war oder eine spezielle Anpassung an die Lebensweise darstellt, lässt sich aufgrund der wenigen überlebenden Arten der Kloakentiere kaum beantworten. Kopf und Schnabel Der deutsche Name des Tieres deutet sein auffälligstes Kennzeichen bereits an, den biegsamen Schnabel, der in der Form dem einer Ente ähnelt und dessen Oberfläche etwa die Beschaffenheit von glattem Rindsleder hat. Erwachsene Schnabeltiere haben keine Zähne, sondern lediglich Hornplatten am Ober- und Unterkiefer, die zum Zermahlen der Nahrung dienen. Bei der Geburt besitzen die Tiere noch dreispitzige Backenzähne, verlieren diese jedoch im Laufe ihrer Entwicklung. Um den Schnabel effektiv nutzen zu können, ist die Kaumuskulatur der Tiere modifiziert. Die Nasenlöcher liegen auf dem Oberschnabel ziemlich weit vorn; dies ermöglicht es dem Schnabeltier, in weitgehend untergetauchtem Zustand nach dem „Schnorchel“-Prinzip zu atmen. Der Bau des Unterkiefers zeigt Ähnlichkeiten mit reptilienartigen Vorfahren. Im Gegensatz zu diesen sind die drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), die bei Reptilien Teile des Kiefers bilden, allerdings fix im Schädel integriert. Dabei handelt es sich um ein Merkmal, das alle Säugetiere gemeinsam haben. Die Ohröffnung befindet sich jedoch im Vergleich zu anderen Säugern sehr nahe am Unterkiefer. Auch haben Schnabeltiere im Unterschied zu allen anderen Säugetieren zusätzliche Knochen im Schultergürtel. Giftsporne Die männlichen Schnabeltiere gehören zu den wenigen giftigen Säugetieren. Sie haben rund 15 Millimeter lange Giftsporne in Knöchelhöhe an den Hinterbeinen. Diese scheiden ein Gift aus, das in Drüsen im Hinterleib produziert wird. Weibliche Tiere haben bei ihrer Geburt ebenfalls Spornanlagen, verlieren diese jedoch im ersten Lebensjahr. Da das Gift nur während der Paarungszeit produziert wird, nimmt man an, dass es in erster Linie bei Kämpfen um ein paarungsbereites Weibchen eingesetzt wird. Das Gift enthält ein Peptid, das aminoterminal dem C-type natriuretic peptide (CNP, ein vasodilatatives Peptid mit bloß indirekt natriuretischer Wirkung) homolog ist. Weitere fünf Proteine und Peptide wurden im Gift des Schnabeltieres identifiziert: defensin-like peptide (DLPs), Ornithorhynchus venom C-type natriuretic peptide (OvCNPs), Ornithorhynchus nerve growth factor, Hyaluronidase und l-to-d-peptide Isomerase. Das Gift ist für Menschen nicht tödlich, verursacht aber sehr schmerzhafte Schwellungen, die auch mit hohen Dosen an Morphium kaum zu lindern sind und mehrere Monate bestehen können. Aus der Zeit, als die Tiere noch wegen des Schnabeltierfells gejagt wurden, gibt es Berichte, wonach Hunde, die angeschossene Tiere fangen sollten, durch das Gift starben. Wie das Gift auf andere Schnabeltiere wirkt, ist nicht bekannt; da es aber nicht zur Verteidigung gegenüber Fressfeinden, sondern bei Rivalenkämpfen eingesetzt wird, ist seine Wirkungsweise vermutlich nicht auf den Tod, sondern auf Verletzung ausgelegt. Karyotyp und Genom Das Genom des Schnabeltiers ist innerhalb des Zellkerns in 21 Autosomen und 10 Geschlechtschromosomen sowie im Genom des Mitochondriums organisiert. 2004 wurde eine weitere Besonderheit des Schnabeltiers entdeckt: Es besitzt 10 Geschlechtschromosomen, die Weibchen 10 X-Chromosomen und die Männchen 5 X- und 5 Y-Chromosomen, während die meisten anderen Säugetierarten (einschließlich des Menschen) derer nur zwei haben (XX im weiblichen und XY im männlichen Individuum). In manchen Aspekten ähnelt das Chromosomensystem dieser Tiere dem der Vögel, die sich jedoch unabhängig von den Säugern entwickelten. Das vollständige Genom eines weiblichen Tiers aus New South Wales wurde erstmals 2007 analysiert; es besteht aus 1.995.607.322 Basenpaaren. Die genaue Anzahl der Gene (zunächst auf 18.600 geschätzt) ist noch unbekannt. Das Schnabeltier teilt unter anderem typische Proteine der Milchproduktion mit anderen Säugetieren, besitzt jedoch auch spezielle, mit der Fortpflanzung durch Eier assoziierte Gene. Die Giftproteine des Schnabeltieres entwickelten sich unabhängig vom Giftsystem der Reptilien (Toxicofera). Auffallend ist ein großer Anteil von Genen, die für Rezeptor-Proteine zur geruchlichen Wahrnehmung unter Wasser codieren. Das Genom eines männlichen Tieres (mit den bis dato noch nicht sequenzierten Y-Chromosomen) wurde 2021 veröffentlicht. Die 5 X- und 5 Y-Chromosomen (X1Y1 bis X5Y5) sind in einem Ring organisiert, der im Laufe der Monotrematen-Evolution in Stücke auseinandergebrochen zu sein scheint. Keines ist homolog zu einem der Geschlechtschromosomen der Plazentalier (wie Mensch und Maus). Bei Ameisenigeln wurden nur 9 Geschlechtschromosomen gefunden. Die bisherigen Befunde zu den Genen für die Dotter- und Milchproduktion wurden bestätigt und erweitert: Neben den Casein-Genen, die denen der Plazentalier (wie Mensch und Rind) entsprechen, gibt es offenbar weitere, deren Funktion bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht geklärt werden konnte. Von den drei Genen, die bei Reptilien inklusive Vögeln für die Dotterproduktion verantwortlich sind (den Vitellogenin-Genen), gibt es bei Schnabeltieren nur noch eines, das funktional ist. Vier für die Zahnentwicklung nötige Gene fehlen, schließlich hat das Schnabeltier keine Zähne. Das Gen für das Gift der Männchen scheint homolog zu Genen des Immunsystems anderer Säuger zu sein; bei den Ameisenigeln ging es im Laufe ihrer Entwicklung offenbar verloren.<ref >Yang Zhou, Linda Shearwin-Whyatt, Guojie Zhang et al.: Platypus and echidna genomes reveal mammalian biology and evolution, in: Nature, 6. Januar 2021, doi:10.1038/s41586-020-03039-0. Dazu: Carly Cassella: Now We Know Why Platypus Are So Weird – Their Genes Are Part Bird, Reptile, And Mammal, auf: sciencealert, 8. Januar 2021 Extraordinary Diversity: Unusual Sex Chromosomes of Platypus, Emu and Duck, auf SciTechDaily, 7. Januar 2021. Quelle: Universität Wien Researchers Sequence Platypus and Echidna Genomes, auf: sci-news, 7. Januar 2021 Doug Gimesy: Wie das Schnabeltier zu zehn Sex-Chromosomen kam, auf: orf.at, 7. Januar 2021</ref> Verbreitung Schnabeltiere bewohnen Süßwassersysteme des östlichen und südöstlichen Australien. Sie bevorzugen saubere, stehende oder fließende Gewässer. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich über die Bundesstaaten Queensland, New South Wales, Victoria und die Insel Tasmanien. Auf der Känguru-Insel wurden sie erfolgreich angesiedelt. Lebensweise Allgemeines Schnabeltiere sind nachtaktive Einzelgänger. Sie können ausgezeichnet schwimmen und verbringen den Großteil ihres Lebens im Wasser. Unter Wasser werden sowohl die Augen als auch die Ohröffnungen geschlossen. Zur Vorwärtsbewegung unter Wasser paddeln sie mit den Vorderbeinen, während die Hinterbeine und der flache Schwanz zur Steuerung dienen. Wenn sie sich nicht im Wasser befinden, ziehen sie sich in Erdbaue zurück. Diese sind meist an Uferböschungen gelegen, der Eingang befindet sich knapp über der Wasseroberfläche und ist durch Pflanzen verborgen. Schnabeltiere graben ihre Baue mit den kräftigen Vorderpfoten, wobei sie die Schwimmhäute nach oben klappen können. Eine Besonderheit stellt hierbei auch der Einsatz ihres breiten Schwanzes als Transportmedium dar, unter dem Schnabeltiere Baumaterial wie Zweige klemmen können und diese so eingerollt zum Bau befördern, wobei der Schnabel auf dem Weg für andere Aufgaben frei bleibt. Sie haben meist mehrere Baue, die sie abwechselnd benutzen. Bei kaltem Wetter fallen Schnabeltiere manchmal für mehrere Tage in eine Kältestarre, den so genannten Torpor. Falls erforderlich, können sich Schnabeltiere an Land unerwartet zügig fortbewegen. Dabei sind jeweils das linke Vorder- und rechte Hinterbein bzw. das rechte Vorder- und linke Hinterbein in der Bewegung exakt synchron; dieser Kreuzgang ist auch von vielen Echsen bekannt. Ernährung Schnabeltiere sind Fleischfresser, ihre Nahrung besteht vorwiegend aus Krabben, Insektenlarven und Würmern. Sie suchen ihre Nahrung unter Wasser. Dazu holen sie tief Luft und tauchen unter; auf diese Weise können sie rund zwei Minuten unter Wasser bleiben. Sie finden ihre Nahrung im Wasser schwimmend oder indem sie mit ihrem Schnabel im Schlamm wühlen oder Steine damit umdrehen. Während die Augen unter Wasser geschlossen sind, verwenden Schnabeltiere Elektrorezeptoren und Mechanorezeptoren am Schnabel, um Beute zu finden. Diese Sensoren zählen zu den wirksamsten unter allen Säugetieren. Mit Hilfe ihrer Elektrorezeptoren können sie die schwachen elektrischen Felder fühlen, die bei der Muskelbewegung der Beutetiere entstehen; die Tastkörperchen reagieren auf feinste Wellenbewegungen. Da beide Wahrnehmungsfunktionen eng miteinander gekoppelt sind, können Schnabeltiere anhand des Zeitunterschieds zwischen elektrischem und taktilem Impuls den Aufenthaltsort und die Entfernung der Beutetiere genau bestimmen und zielgenau zuschnappen. Drei Variablen sind von essentieller Bedeutung für das Ausmachen der Beute: die Stärke der elektrischen Ausgangssignale, die Ausbreitung der Signale im Wasser und die Sensibilität des Schnabeltiers. Eine Amplituden- und Frequenzanalyse ergab, dass sich die jeweiligen Werte nach Beutetieren stark unterscheiden: So wird der Wurm Lubricus ssp. bei einer Amplitude von 3 μV/cm bei gleichwertiger Frequenz von (3 Hz) und Riesenwanzen (Belostomatidae) bei einer Amplitude von 800 μV/cm und einer Frequenz von 20 Hz gejagt. Damit haben Schnabeltiere ein effizientes Suchsystem entwickelt, dessen genaue Einzelheiten allerdings bis heute nicht völlig geklärt sind. Haben sie Nahrung gefunden, wird diese in Backentaschen verstaut und erst gefressen, nachdem die Tiere zur Oberfläche zurückgekehrt sind. Fortpflanzung Außerhalb der Paarungszeit leben Schnabeltiere einzelgängerisch. Zur Paarung, die im australischen Spätwinter oder Frühling (Juli bis Oktober) erfolgt, nähert sich das Weibchen dem Männchen und streift immer wieder sein Fell, danach packt das Männchen mit seinem Schnabel den Schwanz des Weibchens und sie schwimmen im Kreis. Die Paarung erfolgt ebenfalls im Wasser, indem das Männchen seinen Penis in die weibliche Kloake einführt. Zur Aufzucht der Jungen gräbt das Weibchen größere, manchmal bis zu 20 Meter lange Erdbaue. Den „Kessel“ am Ende polstert es mit weichen Pflanzenteilen aus. Zum Transport wird das Nistmaterial mit dem unter den Rumpf geklappten Schwanz eingeklemmt. Rund 12 bis 14 Tage nach der Begattung legt das Weibchen meist drei weiße, weiche Eier. Mit ihrem großen Dotter und der pergamentartigen Schale ähneln diese mehr Reptilien- als Vogeleiern. Die Eier werden rund 10 Tage lang bebrütet; die Jungtiere kommen nackt und mit geschlossenen Augen aus dem Ei und sind rund 25 Millimeter groß. Nach dem Schlüpfen werden sie mit Muttermilch ernährt, die von Drüsen im Brustbereich (umgebildete Schweißdrüsen), dem Milchfeld, abgesondert wird. Da die Weibchen keine Zitzen haben, lecken die Jungen die Milch aus dem Fell der Mutter. Das Männchen beteiligt sich nicht an der Aufzucht. Die Jungtiere bleiben etwa fünf Monate im mütterlichen Bau, werden jedoch auch danach noch von der Mutter ernährt. Schnabeltiere erreichen die Geschlechtsreife mit rund zwei Jahren. Das höchste bekannte Alter eines Exemplars in Gefangenschaft betrug 17 Jahre, die Lebenserwartung in der freien Natur ist nicht bekannt; Schätzungen belaufen sich auf fünf bis acht Jahre. Natürliche Feinde Zu den natürlichen Feinden der Schnabeltiere gehören der Murray-Dorsch, große Greifvögel, der Buntwaran und Rautenpythons; auch eingeschleppte Raubtiere wie Rotfüchse machen gelegentlich Jagd auf Schnabeltiere. Die Goldbauch-Schwimmratte, die in Körperbau und Lebensweise dem Schnabeltier ähnelt, bezieht manchmal deren Baue und verzehrt Jungtiere. Schnabeltiere und Menschen Nach einer Legende der Aborigines sind Schnabeltiere die Nachkommen eines Entenweibchens und eines Schwimmrattenmännchens. Von der Mutter haben sie demnach den Schnabel und die Schwimmhäute an den Füßen, vom Vater das braune Fell. Forschungsgeschichte Im späten 18. Jahrhundert sahen die ersten europäischen Siedler diese Tiere. Als sie ein Fell nach London schickten, hielt man es dort zunächst für einen Scherz, für das Werk eines geschickten Präparators. Die erste wissenschaftliche Beschreibung der Tiere wurde im Jahr 1799 von George Shaw in London vorgenommen. Er stützte seine Untersuchung auf einen Balg und ein paar Zeichnungen, die ihm vermutlich von Captain John Hunter von der Königlichen Marine nach England geschickt wurden, der als Gouverneur der Strafkolonie in New South Wales lebte. Dennoch war Shaws Erstbeschreibung erstaunlich zutreffend. Später begannen sich Biologen für das Tier zu interessieren. Die Erforschung der Schnabeltiere war aufgrund der Tatsache, dass sie sich nur äußerst schwer in menschlicher Gefangenschaft halten ließen, erschwert, und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Details über ihre Fortpflanzung bekannt. Bedrohungsstatus Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Schnabeltiere wegen ihres Felles gejagt. In manchen Regionen Australiens, zum Beispiel in South Australia, sind sie verschwunden, in anderen durch menschliche Besiedlung und Flussregulierungen selten geworden. Wie auch für andere Tierarten stellen scharfsehnige Fangnetze und blockierende Köcher für Schnabeltiere eine besondere Gefahr dar, da sie sich darin verfangen und verletzen können und diesen Hindernissen beim Durchqueren ihres natürlichen Lebensraumes oft nicht ausweichen können. Diese Risiken können durch den Einsatz tier- und umweltverträglicher Fischereimethoden reduziert werden. Schnabeltiere bevorzugen sauberes Wasser und meiden menschliche Nähe generell; dennoch findet man sie manchmal bei menschlichen Siedlungen, während sie in Gewässern, die ihnen eigentlich behagen müssten, nicht vorkommen. Schnabeltiere sind heute vollständig geschützt; aufgrund ihrer Ansprüche an den Lebensraum werden sie in Australien als „häufig, aber gefährdet“ (common, but vulnerable) eingestuft. Haltung Privatpersonen dürfen keine Schnabeltiere halten, Tiergärten brauchen eine Sondergenehmigung. Die Haltung dieser Tiere wird aufgrund der hohen Ansprüche an den Lebensraum als schwierig eingestuft; im 19. Jahrhundert gingen noch fast alle in menschlicher Gefangenschaft gehaltenen Tiere ein. Erst in jüngerer Zeit gelang es, die notwendigen Erkenntnisse für eine artgerechte und erfolgreiche Haltung zu gewinnen. Von diesen Schwierigkeiten zeugt auch die Tatsache, dass es – von einem Einzelfall und Erstzucht 1943 im Zoo Victoria abgesehen – erst ab 1998 öfter möglich wurde, die Tiere in Gefangenschaft zu züchten. Das Privileg der Haltung ist heute nur wenigen Institutionen, darunter dem Zoo Victoria und Sydney, vorbehalten. Aufgrund des hohen Nahrungsbedarfs sind besonders die Kosten für das Futter enorm hoch. Die speziell für die Haltung von elektrischen Wellen isolierten Anlagen gewähren den Besuchern oft einen Unterwassereinblick. Der Export lebender Tiere aus Australien ist gänzlich verboten. In Europa kommen lediglich Rotterdam und Leipzig als potenzielle ehemalige Halter in Betracht. Schnabeltiere in der Kultur Das Schnabeltier gilt als Inbegriff des biologischen Kuriosums, was zum Beispiel im Buchtitel Kant und das Schnabeltier von Umberto Eco zum Ausdruck kommt. Bekannt wurde auch Robert Gernhardts gleichnamiges Gedicht, veröffentlicht u. a. in Reim und Zeit, Reclam, Stuttgart 2001. In der Einleitung zum Film Dogma aus dem Jahr 1999 wird das Schnabeltier als Beispiel dafür angeführt, dass Gott Humor haben muss. Die Gattung des Schnabeltiers wurde einem jüngeren Publikum durch die Disney Sendung Phineas und Ferb näher gebracht. Die Sendung geht in manchen Episoden auf die Kuriositäten der Schnabeltiere ein. 2022 veröffentliche das französische Instrumental Metal Projekt Orbital Platypus ihr gleichnamige Debütalbum bei welchem das Schnabeltier nicht nur im Namen steckt (engl. platypus) sondern auch auf dem Albumcover zu sehen ist. Systematik und Entwicklungsgeschichte Das Schnabeltier gilt als ein lebendes Fossil. Anders als die modernen Säugetiere und die Beutelsäuger legen die Kloakentiere Eier, eines der als urtümlich betrachteten Merkmale, das ihnen die Bezeichnung „Ursäuger“ eingebracht hat. Schnabeltiere und ihre Verwandten, die Ameisenigel, teilen drei charakteristische Säugetiermerkmale: die drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel), das Vorhandensein von Haaren und die Ernährung der Jungtiere mit Milch. Obwohl die frühesten Säugetiere wahrscheinlich eierlegend waren, sind die Schnabeltiere nicht die Vorfahren der Beutel- oder Plazentatiere, sondern stellen einen spezialisierten Seitenzweig dar. Die fossile Geschichte der Schnabeltierverwandten ist dürftig belegt. Die ältesten bekannten Fossilien stammen aus der Kreidezeit und wurden im südöstlichen Australien gefunden. Es handelt sich um Kieferknochen der Gattungen Steropodon und Teinolophos, die wohl nahe Verwandte des rezenten Schnabeltiers darstellen. Die Kieferknochen trugen noch Backenzähne, waren aber von der Größe her mit denen der heutigen Tiere vergleichbar. Auch eine Gattung aus dem Miozän, Obdurodon, hatte noch Zähne. In Argentinien wurden Zähne aus der Periode des Paläozän gefunden, die denen Obdurodons ähneln und sehr eindeutig als Zähne einer nahe verwandten Art erkennbar sind; sie waren allerdings doppelt so groß. Das zugehörige Tier wurde Monotrematum sudamericanum genannt, es ist bislang der einzige außeraustralische Fund eines Schnabeltierverwandten. Von der Gattung Ornithorhynchus sind die ältesten Funde rund 4,5 Millionen Jahre alt, vom heutigen Schnabeltier fand man bis jetzt keine Hinweise, die älter als 100.000 Jahre alt sind. Der jüngste Fund eines 70 Millionen Jahre alten Kiefers in Südamerika dagegen belegt, dass die Schnabeltiere bereits in der Kreidezeit in Gondwana lebten. Das hier beschriebene Material besteht aus einem fragmentarischen rechten Kiefer, der den unteren Backenzahn 2 bewahrt und das für Kloakentiere charakteristische Dilambdodon-Muster zeigt. Der Backenzahn wurde aus Schichten der Chorrillo-Formation (obere Kreidezeit, frühes Maastrichtium) gesammelt, die in der südwestlichen Provinz Santa Cruz, Patagonien, Argentinien, anstehen. Das Exemplar wurde Patagorhynchus pascuali genannt. Literatur M. L. Augee: Platypus and Echidnas. The Royal Zoological Society, New South Wales 1992, ISBN 0-9599951-6-1. Ronald Strahan: Mammals of Australia. Smithsonian Press, Washington DC 1996, ISBN 1-56098-673-5. N. G. Taylor, P. R. Manger, J. D. Pettigrew, L. S. Hall: Electromagnetic potentials of a variety of platypus prey items: an amplitude and frequency analysis. In: L. M. Augee: Platypus and Echidnas. 1992, ISBN 0-9599951-6-1, S. 216–224. T. R. Grant: Fauna of Australia. 16. Ornithorhynchidae Walter Fiedler (Hrsg.): Säugetiere. In: Grzimeks Tierleben. Band 10, Droemer Knaur, München 1967 (Bechtermünz, Augsburg 2000, ISBN 3-8289-1603-1). Ann Moyal: Platypus. The Extraordinary Story of How a Curious Creature Baffled the World. Smithsonian Press, Washington DC 2001, ISBN 1-56098-977-7. Ulrich Zeller: Die Entwicklung und Morphologie des Schädels von Ornithorhynchus anatinus. (Mammalia: Prototheria: Monotremata), In: Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft: Abhandlungen der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft. Band 545, Kramer, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-7829-2548-3 (zugleich Habilitationsschrift an der Georg-August-Universität Göttingen). Weblinks Fauna of Australia – Ornithorhynchidae. Von T. R. Grant. In: Australian Biological Resources Study (ABRS). Monografie (englisch) als PDF-Datei Bericht über die Geschlechtschromosomen (englisch) Schematische Darstellung der Giftsporne Artikel in der FAZ-Sonntagszeitung zur Entdeckungsgeschichte des Schnabeltiers Schnabeltier-Genom offengelegt (Pressemitteilung der Uni Münster) Margarete Blümel: Das Schnabeltier – Säuger, Vogel, Reptil Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 8. Januar 2021 (Podcast) Einzelnachweise Kloakentiere Organismus mit sequenziertem Genom Lebendes Fossil
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https://de.wikipedia.org/wiki/Man%20Ray
Man Ray
Man Ray [] (* 27. August 1890 in Philadelphia, Pennsylvania; USA; † 18. November 1976 in Paris; eigentlich Emmanuel Rudnitzky oder Emmanuel Radnitzky) war ein US-amerikanischer Fotograf, Filmregisseur, Maler und Objektkünstler. Man Ray zählt zu den bedeutenden Künstlern des Dadaismus und Surrealismus, wird aber aufgrund der Vielschichtigkeit seines Werkes allgemein der Moderne zugeordnet und gilt als wichtiger Impulsgeber für die moderne Fotografie und Filmgeschichte bis hin zum Experimentalfilm. Seine zahlreichen Porträtfotografien zeitgenössischer Künstler dokumentieren die Hochphase des kulturellen Lebens im Paris der 1920er Jahre. Leben Kindheit und frühe Jahre Man Ray wurde als erstes von vier Kindern russisch-jüdischer Eltern, Melech (Max) Rudnitzky und Manya geb. Luria, in Philadelphia geboren. Auf seiner Geburtsurkunde wurde der Junge als „Michael Rudnitzky“ eingetragen, doch nach Aussage seiner Schwester Dorothy wurde er von der Familie „Emmanuel“ bzw. „Manny“ genannt. Die Familie nannte sich später „Ray“, um ihren Namen zu amerikanisieren. Auch Man Ray selbst zeigte sich in späteren Jahren sehr bedeckt, was seine Herkunft betraf. Zusammen mit seinen Geschwistern erhielt der junge Emmanuel eine strenge Erziehung. Der Vater arbeitete zu Hause als Schneider und die Kinder wurden in die Arbeit mit einbezogen; schon früh lernten sie nähen und sticken und das Zusammenfügen unterschiedlichster Stoffe in Patchwork-Technik. Diese Erfahrung sollte sich später in Man Rays Werk widerspiegeln: Der spielerische Umgang mit verschiedenen Materialien findet sich in vielen seiner Assemblagen, Collagen und anderen Bilder, überdies zitierte er gern Utensilien aus dem Schneiderhandwerk, zum Beispiel Nadeln oder Garnspulen, in seiner Bildsprache. 1897 zog Man Rays Familie nach Williamsburg, Brooklyn. Dort begann der eigensinnige Junge mit sieben Jahren erste Buntstiftzeichnungen anzufertigen, was von den Eltern nicht für gut befunden wurde, so dass er seine künstlerischen Neigungen lange geheim halten musste. „Ich werde von nun an die Dinge tun, die ich nicht tun soll“ wurde sein früher Leitsatz, dem er lebenslang folgen sollte. Im höheren Schulalter durfte er jedoch Kurse in Kunst und Technischem Zeichnen belegen und beschaffte sich bald das Rüstzeug für seine Künstlerlaufbahn. Nach dem Abschluss der High-School wurde Emmanuel ein Stipendium für ein Architekturstudium angeboten, das er allerdings trotz Zuredens seiner Eltern ablehnte, da eine technische Ausbildung seinem festen Entschluss, Künstler zu werden, zuwiderlief. Zunächst versuchte er sich, eher unbefriedigend, in Porträt- und Landschaftsmalereien; schließlich schrieb er sich 1908 an der National Academy of Design und der Art Students League in Manhattan, New York, ein. Wie er später einmal sagte, belegte er die Kurse für Aktmalerei eigentlich nur, weil er „eine nackte Frau sehen wollte“. Der didaktisch konservative, zeitintensive und ermüdende Unterricht war nichts für den ungeduldigen Studenten. Auf Anraten seiner Lehrer gab er das Studium alsbald auf und versuchte selbstständig zu arbeiten. New York 1911–1921 Im Herbst 1911 trug sich Man Ray an der Modern School of New Yorks Ferrer Center, einer liberal-anarchisch orientierten Schule, ein; dort wurde er im Folgejahr aufgenommen und besuchte Abendkurse im Kunstbereich. Am Ferrer Center konnte er dank der unkonventionellen Lehrmethoden endlich frei und spontan arbeiten. Die teilweise radikalen, von freiheitlichen Idealen geprägten Überzeugungen seiner Lehrer sollten entscheidenden Einfluss auf seinen späteren künstlerischen Werdegang, u. a. seine Zuwendung zum Dada, haben. In der Folgezeit arbeitete der Künstler – er hatte mittlerweile seinen Vor- und Nachnamen auf „Man Ray“ simplifiziert – als Kalligraf und Landkartenzeichner für einen Verlag in Manhattan. In Alfred Stieglitz’ bekannter „Galerie 291“ kam er zum ersten Mal mit Werken von Rodin, Cézanne, Brâncuși sowie Zeichnungen und Collagen von Picasso in Berührung und fühlte sich diesen europäischen Künstlern auf Anhieb stärker verbunden als ihren amerikanischen Zeitgenossen. Über Alfred Stieglitz fand Man Ray schnell Zugang zu dem völlig neuen Kunstgedanken der europäischen Avantgarde. Er erprobte in kürzester Abfolge wie besessen verschiedene Malstile: Beginnend mit den Impressionisten, gelangte er bald zu expressiven Landschaften, die einem Kandinsky ähnelten (kurz bevor dieser den Schritt zur Abstraktion vollzog), um schließlich zu einer eigenen futuristisch-kubistischen Figuration zu finden, die er abgewandelt sein Leben lang beibehielt. Einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterließ die Armory Show, eine umfangreiche Kunstausstellung, die Anfang 1913 in New York stattfand. Schon allein die Größe der europäischen Gemälde überwältigte ihn. Man Ray sagte später dazu: „Ich habe sechs Monate nichts getan – so lange habe ich gebraucht, um zu verdauen, was ich gesehen hatte.“ Bei der in seinen Augen „zweidimensionalen“ Kunst seines Geburtslandes hingegen „[…] habe er geradezu eine Abneigung gegenüber Gemälden gehabt, bei denen kein Raum für eigene Überlegungen blieb.“ Ebenfalls im Frühjahr 1913 verließ Man Ray sein Elternhaus und zog in eine Künstlerkolonie in Ridgefield, New Jersey, wo er der belgischen Dichterin Adon Lacroix, bürgerlich Donna Lecoeur, begegnete; im Mai 1913 heirateten die beiden. Etwa 1914/15 kaufte sich Man Ray einen Fotoapparat, um seine eigenen Werke reproduzieren zu können. Am 31. März 1915 veröffentlichte er eine Ausgabe von The Ridgefield Gazook, einem von ihm selbst entworfenen anarchisch-satirischen Pamphlet, das bereits Grundzüge der späteren Dadazeitschriften aufwies, sowie A Book of Diverse Writings mit Texten von Donna und Illustrationen von ihm. Im Herbst 1915 hatte Man Ray seine erste Einzelausstellung in der New Yorker Daniel Gallery, bei der er sechs Gemälde verkaufte. Vermutlich traf er dort auf Marcel Duchamp, der in Amerika gerade durch sein Aufsehen erregendes Bild Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2, das er in der Armory Show gezeigt hatte, bekannt geworden war. Es waren vor allem Duchamps revolutionäre Ideen und Theorien, die Man Ray unvermittelt, aber nachhaltig beeindruckten. Duchamp und Man Ray wurden bald gute Freunde. Entwicklung des eigenen Stils Man Ray war fasziniert von Duchamps Werk, insbesondere von dessen Darstellungen simpler, technisch „absurder“, unlogischer Maschinen mit ihren pseudomechanischen Formen, die eine scheinbare „geheimnisvolle“ Funktion vortäuschten, ebenso wie von Duchamps Manier, einfache Alltagsgegenstände als objet trouvés zu Kunstobjekten zu erklären, die er Readymades nannte. Ein weiterer wichtiger Impulsgeber war Francis Picabia mit seinem Gedankengang zur „Überhöhung der Maschine“: „Die Maschine ist zu mehr geworden als nur zu einer Beigabe des Lebens […] sie ist wirklich ein Teil des menschlichen Lebens – vielleicht sogar seine Seele.“ Vermutlich gegen Ende des Jahres 1915 begann auch Man Ray, mit solchen Objekten zu experimentieren und vollzog langsam den Schritt von der zweidimensionalen zur dreidimensionalen Kunst. Alsbald schuf Man Ray erste Assemblagen aus Fundstücken, so z. B. das Self Portrait von 1916, das aus zwei Klingeln, einem Handabdruck und einem Klingelknopf ein Gesicht bildete. Nun begann Man Ray sich auch regelmäßig an Ausstellungen zu beteiligen; so wurde der Sammler Ferdinand Howald auf den Nachwuchskünstler aufmerksam und begann ihn mehrere Jahre als Mäzen zu fördern. Auf Marcel Duchamps Anregung hin befasste sich Man Ray sehr bald auch intensiv mit Fotografie und Film. Gemeinsam mit Duchamp, dessen Werk Man Ray in etlichen Fotografien dokumentierte, entstanden in New York zahlreiche Foto- und Filmexperimente. Um 1920 erfanden Marcel Duchamp und Man Ray das Kunstgeschöpf Rose Sélavy. Der Name war ein Wortspiel aus „Eros c’est la vie“, Eros ist das Leben. Rose Sélavy war der als Frau verkleidete Duchamp selbst, der unter diesem Namen Werke signierte, während ihn Man Ray dabei fotografierte. Zunehmend interessierte sich der Künstler für das Unbewusste, Scheinbare und das angedeutet Mystische, welches hinter dem Dargestellten und „Nicht-Dargestellten“ verborgen schien. Im Verlauf des Jahres 1917 experimentierte er mit allen verfügbaren Materialien und Techniken und entdeckte neben dem Glasklischeedruck (Cliché verre) die Aerographie, eine frühe Airbrushtechnik, für sich, indem er Fotopapier mit Farbe, respektive mit Fotochemikalien, besprühte. Eine frühe Aerographie nannte er Suicide (1917), eine Thematik, mit der sich Man Ray – wie viele andere Dadaisten und Surrealisten aus seinem Bekanntenkreis auch – oft beschäftigte (vgl. Jacques Rigaut). Man Ray machte sich schnell mit den Techniken in der Dunkelkammer vertraut. Geschah dies anfangs noch aus dem einfachen Beweggrund, seine Gemälde zu reproduzieren, fand er im fotografischen Vergrößerungsprozess bald eine Ähnlichkeit zur Aerographie und entdeckte die kreativen Möglichkeiten dieser „Lichtmalerei“. Die Rayographie Einhergehend mit der Arbeit in der Dunkelkammer, experimentierte Man Ray um 1919/20 mit Fotogrammen. Wie er sagte, habe er bei der Entdeckung der Technik „vollkommen mechanisch und intuitiv“ gehandelt. Das „Fotografieren ohne Kamera“ entsprach ganz seinem Wunsch, die Metaphysik, die er bereits in seinen Malereien und Objekten suchte, „automatisch und wie eine Maschine einfangen und reproduzieren zu können“. In einem Brief an Katherine Dreier schrieb er: „Ich versuche meine Fotografie zu automatisieren, meine Kamera so zu benutzen, wie ich eine Schreibmaschine benützen würde – mit der Zeit werde ich das erreichen.“ Dieser Gedanke geht mit der Methode des „Automatischen Schreibens“, die André Breton für den Surrealismus adaptierte, einher. Obwohl die Idee, Gegenstände auf lichtempfindlichem Papier zu arrangieren und zu belichten, so alt ist wie die Geschichte der Fotografie selbst – bereits Fox Talbot hatte 1835 erste Fotogramme geschaffen –, belegte Man Ray das von ihm weiterentwickelte Verfahren sofort mit dem Begriff Rayographie. In der Folgezeit produzierte er etliche solcher „Rayographien“ wie am Fließband: Fast die Hälfte seines gesamten Œuvres an Rayographien beziehungsweise „Rayogrammen“ entstand in den ersten drei Jahren nach der Entdeckung „seiner Erfindung“. Bereits Anfang 1922 hatte er alle technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit am Fotogramm ausprobiert. Später, in Paris, veröffentlichte er Ende 1922 eine limitierte Auflage mit zwölf Rayographien unter dem Titel Les Champs délicieux (Die köstlichen Felder); das Vorwort dazu schrieb Tristan Tzara, der darin noch einmal deutlich auf den Neologismus „Rayographie“ hinwies. Die Zeitschrift Vanity Fair griff diese „neue“ Art der Fotokunst in einem ganzseitigen Beitrag auf. Von diesem Moment an sollten Man Rays fotografische Arbeiten die Runde in sämtlichen europäischen Avantgarde-Zeitschriften machen. So kam es zu zahlreichen Reproduktionen der Cliché verre – Arbeiten Man Rays aus dessen New Yorker Zeit (die Originale hatte Man Ray auf 18 × 24 cm großen Glasnegativen angefertigt). Man Ray legte sich in seiner gesamten Künstlerlaufbahn nie auf ein bestimmtes Medium fest: „Ich fotografiere, was ich nicht malen möchte, und ich male, was ich nicht fotografieren kann“, sagte er einmal. Durch die vielfältigen Möglichkeiten der Fotografie hatte die Malerei zwar vorerst ihren künstlerischen Zweck für ihn erfüllt. Er zog damit seinem Vorbild Duchamp gleich, der bereits 1918 sein letztes Gemälde anfertigte; letztlich durchzog aber das ewige Vexierspiel aus Malerei und Fotografie Man Rays Gesamtwerk. Er selbst erklärte dazu widersprüchlich: „Vielleicht war ich nicht so sehr an der Malerei interessiert, wie an der Entwicklung von Ideen.“ Vom „Foto-Objekt“ zum „Objekt-Foto“ In den Jahren 1918–1921 entdeckte Man Ray, dass ihm Foto- und Objektkunst vorläufig als beste Mittel dienten, seine Ideen zu formulieren. Tatsächlich hatte Man Ray 1921 die traditionelle Malerei vorübergehend ganz aufgegeben und experimentierte ausschließlich mit den Möglichkeiten des Arrangierens und „De-Arrangierens“ von Gegenständen. Im Unterschied zu Duchamp tat er dies durch die bewusste „Zweckentfremdung“ von Gegenständen oder durch die Darstellung eines bekannten Gegenstands in einem anderen Zusammenhang. Meistens fotografierte er diese Objekte und versah sie mit Titeln, die bewusst andere Assoziationen hervorriefen; so beispielsweise die kontrastreiche Fotografie eines Schneebesens mit dem Titel Man und analog dazu Woman (beide 1918), bestehend aus zwei Reflektoren, die als Brüste gesehen werden können und einer mit sechs Wäscheklammern versehenen Glasscheibe als „Rückgrat“. Eines der bekanntesten Objekte in Anlehnung an Duchamps Ready-mades war das spätere Cadeau (1921): Ein mit Reißnägeln gespicktes Bügeleisen, das als humorvolles „Geschenk“ für den Musiker Erik Satie gedacht war, den Man Ray bei einer Ausstellung in Paris in der Buchhandlung und Galerie Librairie Six kennenlernen sollte. Auch wenn die Ehe mit Adon Lacroix, die ihn mit französischer Literatur und Werken von Baudelaire, Rimbaud oder Apollinaire bekannt gemacht hatte, nur von kurzer Dauer war – die Ehe wurde 1919 geschieden –, befasste sich der Künstler weiterhin mit französischer Literatur. Der Einfluss wird in Man Rays Fotografie The Riddle oder The Enigma of Isidore Ducasse von 1920 besonders deutlich, die ein mit Sackleinen verschnürtes Paket zeigt, dessen Inhalt dem Betrachter jedoch verborgen bleibt. Die Lösung des Rätsels konnte nur über die Kenntnis der Schriften des französischen Autors Isidore Ducasse, der auch als Comte de Lautréamont bekannt war, erfolgen. Man Ray nahm jene berühmt gewordene Stelle aus dem 6. Gesang der „Gesänge des Maldoror“ als Ausgangspunkt, in der Lautréamont als Metapher für die Schönheit eines Jünglings „das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ beschrieben hatte. Das Interesse der Dadaisten an dem 50 Jahre zuvor verstorbenen Ducasse war durch André Breton geweckt worden, der in den Schriften frühes dadaistisch-surreales Gedankengut sah. Das Sujet des in Stoff gehüllten Gegenstandes kann indes auch als Reflexion Man Rays auf seine Kindheit in der Schneiderwerkstatt des Vaters interpretiert werden; das Objekt „an sich“ hatte Man Ray nur zum Zweck der Fotografie geschaffen. Société Anonyme Inc. & New York Dada Am 29. April 1920 gründete Man Ray zusammen mit Marcel Duchamp und der Künstlerin Katherine Dreier die Société Anonyme Inc. als Vereinigung zur Förderung moderner Kunst in Amerika. Im April 1921 erfolgte die Veröffentlichung von New York Dada zusammen mit Duchamp. In New York galt Man Ray mittlerweile als Hauptvertreter des wenig beachteten amerikanischen Dadaismus; wann genau er mit der europäischen Dada-Bewegung in Berührung gekommen war, ist unbekannt, vermutlich entstand um 1919/20 ein brieflicher „Dreiecks-Kontakt“ zwischen Marcel Duchamp, der allerdings nie aktiv im Dada tätig war, und Tristan Tzara, dem Wortführer und Mitbegründer der Bewegung. In einem Brief an Tzara klagte Man Ray über die Ignoranz der New Yorker Kunstszene: „… Dada kann nicht in New York leben. New York ist Dada und wird keinen Rivalen dulden […] es ist wahr: Alle Anstrengungen es publik zu machen wurden getan, aber da ist niemand der uns unterstützt.“. Man Ray konstatierte später, „es habe nie so etwas wie New York-Dada gegeben, weil die Idee des Skandals und der Provokation als eines der Prinzipien von Dada dem amerikanischen Geist völlig fremd gewesen sei.“ Man Rays Ambivalenz zu Amerika und seine Begeisterung für Frankreich sowie der drängende Wunsch, endlich der progressiven europäischen Kunstwelt anzugehören, gipfelten schließlich im Juli 1921 in dem Entschluss des Künstlers, seinen Freunden Marcel Duchamp und Francis Picabia nach Frankreich zu folgen. Die Pariser Jahre 1921–1940 Man Ray kam am 22. Juli 1921 in Frankreich an. Duchamp machte ihn in Paris im beliebten Dadaistentreff Café Certa in der Passage de l’Opéra sogleich mit André Breton, Louis Aragon, Paul Éluard und dessen Frau Gala (die spätere Muse und Ehefrau des spanischen Künstlers Salvador Dalí) und Jacques Rigaut bekannt. Die Europäer akzeptierten Man Ray, der bald fließend französisch sprach, schnell als einen der Ihren. Man Ray verbrachte anfangs viel Zeit damit, die Metropole Paris zu erkunden, konzentrierte sich aber schon bald auf das Zentrum der Pariser Kunstszene: Montparnasse. In den Cafés der Rive Gauche, am Boulevard du Montparnasse, traf er auf die unterschiedlichsten Künstler: Matisse, Diego Rivera, Piet Mondrian, Salvador Dalí, Max Ernst, Yves Tanguy, Joan Miró und viele andere mehr. Die meisten von ihnen fanden später als Porträts Einzug in Man Rays fotografisches Werk. Gegen Ende des Jahres zog Man Ray in das berühmte Künstlerhotel Hôtel des Ecoles am Montparnasse. Anfang November nahm Man Ray zusammen mit Max Ernst, Hans Arp und Marcel Duchamp an einer Sammelausstellung in der Galerie des Kunsthändlers Alfred Flechtheim in Berlin teil. Man Ray, der nicht selbst nach Berlin reiste, schickte dafür ein Bild von Tristan Tzara mit einer Axt über dem Kopf und auf einer Leiter sitzend, neben ihm das übergroße Bildnis eines Frauenaktes (Porträt Tristan Tzara / Tzara und die Axt, 1921). Auf Bestreben Tzaras, der den neuen Dada-Künstler aus Amerika für „seine Bewegung“ etablieren wollte, fand noch im Dezember des Jahres in der Librairie Six die erste Ausstellung Man Rays in Paris statt. Um die gleiche Zeit entstand Man Rays „offizielle Photographie“ der mittlerweile untereinander zerstrittenen Dadaisten. In der von Egozentrikern durchsetzten Dada-Gruppe, die sich in exzessiven Ausschweifungen erging, fand Man Ray längst nicht die Unterstützung, die er sich erhoffte, zumal bildende Künstler in dieser von Literaten beherrschten Szene wenig Beachtung fanden. Die Dadaisten hatten Dada in ihrer Absurdität bereits lakonisch-scherzhaft für tot erklärt: „Man liest überall in den Zeitschriften, dass Dada schon lange tot ist […] es wird sich zeigen ob Dada wahrhaftig tot ist oder nur die Taktik geändert hat;“ und so wurde Man Rays erste Ausstellung mit den Dadaisten eher zu einer Farce; auch der Mangel an Verkäufen machten dem Künstler insgeheim zu schaffen. Verursacht durch eine Kontroverse, die der rebellische André Breton in Vorbereitung seiner „Surrealistischen Manifeste“ entfacht hatte, und einem damit verbundenen Disput Bretons mit Tzara, Satie, Eluard und weiteren Dadaisten kam es am 17. Februar 1922 mit einem Zensurbeschluss gegen Breton zur Spaltung zwischen Dadaisten und Surrealisten. Unter den 40 Unterzeichnern des Beschlusses befand sich auch Man Ray. Dies war das erste und letzte Mal, dass Man Ray Stellung zu einer künstlerischen Doktrin bezog. Die Fotografie Erfolglos in der Malerei fasste Man Ray Anfang 1922 den Entschluss, sich ernsthaft der Fotografie zu widmen. Obwohl er seit seiner Ankunft in Paris schon zahlreiche Porträts von Picabia, Tzara, Cocteau und vielen anderen Protagonisten der Pariser Kunstszene angefertigt hatte, wollte er sich nun die Porträtfotografie als Einnahmequelle sichern und gezielt Auftraggeber suchen. „Ich habe jetzt meine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, ein Atelier zu mieten und es einzurichten, damit ich effizienter arbeiten kann. Ich wollte ja Geld machen – nicht auf Anerkennung warten, die vielleicht kommt oder sich vielleicht nie einstellt.“ Dieser Entschluss ging mit dem drängenden Wunsch einher, sich von der bisherigen belastenden Situation „im Wettkampf mit den anderen Malern“ zu befreien. Seine ersten Auftragsarbeiten kamen selbstverständlich aus der Kunstszene: Picasso, Georges Braque, Juan Gris, Henri Matisse und viele andere ließen sich im Frühjahr/Sommer 1922 von ihm ablichten. Noch immer lebte und arbeitete Man Ray in einem Hotelzimmer und so beklagte er in einem Brief an seinen Freund und Förderer Ferdinand Howald: „Ich lebe und arbeite immer noch in einem Hotelzimmer, das sehr eng und teuer ist. Aber die Ateliers hier sind unmöglich – ohne Wasser oder Licht für die Nacht, wenn man nicht einen sehr hohen Preis zahlen kann, und auch dann muss man erst eines finden.“ Im Juli 1922 fand Man Ray schließlich ein geeignetes Wohnatelier mit Küche und Bad in der Rue Campagne Première 31. Schnell wurde sein neues Studio zu einem beliebten Treffpunkt der Maler und Schriftsteller. Eine weitere wichtige Auftragsquelle wurden die angloamerikanischen Emigranten und so entstanden im Laufe der Zeit zahlreiche Porträts durchreisender Künstler, vornehmlich Schriftsteller wie James Joyce oder Hemingway, die sich u. a. in literarischen Salons, wie dem von Gertrude Stein und Alice B. Toklas, oder in Sylvia Beachs renommierter Buchhandlung Shakespeare and Company trafen. Zwar war dies die etablierte Pariser Literaturszene, jedoch hat Man Ray mit Ausnahme von Marcel Proust auf dem Totenbett, den er auf ausdrücklichen Wunsch Cocteaus fotografierte, keinen der führenden französischen Schriftsteller verewigt. Bald wurden auch die Pariser Aristokraten auf den ungewöhnlichen Amerikaner aufmerksam: Das verwackelte Porträt der exzentrischen Marquise Casati, einer früheren Geliebten des italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio, das die Marquise mit drei Augenpaaren zeigt, wurde trotz der Bewegungsunschärfe zu einer der signifikantesten Fotografien Man Rays. Die Marquise war ob des verwackelten Fotos so begeistert, dass sie gleich Dutzende von Abzügen bestellte, die sie an ihren Bekanntenkreis verschickte. Zu dieser Zeit entdeckte Man Ray die Aktfotografie für sich und fand in Kiki de Montparnasse, bürgerlich Alice Prin, einem beliebten Modell der Pariser Maler, seine Muse und Geliebte. Kiki, die Man Ray im Dezember 1922 in einem Café kennengelernt hatte und die bis 1926 seine Lebensgefährtin war, avancierte schnell zum Lieblingsmodell des Fotografen; in den 1920er Jahren entstanden unzählige Fotografien von ihr, darunter eine der berühmtesten von Man Ray: Das surrealistisch-humorvolle Foto Le Violon d’Ingres (1924), das den nackten Rücken einer Frau (Kiki) mit Turban zeigt, auf dem sich die beiden aufgemalten f-förmigen Öffnungen eines Violoncellos befinden. Die Fotografie wurde zu einer der am meisten publizierten und reproduzierten Arbeiten Man Rays. Den Titel Le Violon d’Ingres (Die Violine von Ingres) als französisches Idiom für „Hobby“ oder „Steckenpferd“ wählte Man Ray mutmaßlich in doppeldeutiger Anspielung auf den Maler Jean-Auguste-Dominique Ingres, der sich bevorzugt dem Violinenspiel und der Aktmalerei gewidmet hatte. Ingres’ Gemälde La Grande Baigneuse (Das Türkische Bad) war offenkundig Vorlage für Man Rays geistreiches Fotorätsel. Der Film Man Ray hatte bereits in New York zusammen mit Marcel Duchamp einige experimentelle Kurzfilme gedreht; so zeigte der „anrüchigste“ Streifen eine Schamhaarrasur der exzentrischen Dadakünstlerin Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven. Später in Paris brachte ihn Tristan Tzara sofort mit diesem Film in Verbindung und stellte Man Ray bei einem Dada-Ereignis, das sich sinnigerweise Soirée du cœur à barbe (Der Abend des Bartherzens) nannte, prahlerisch als „prominenten amerikanischen Filmemacher“ vor. An diesem Abend im Juli 1923 führte Man Ray seinen ersten 35-mm-Film in „Spielfilmlänge“ vor: den dreiminütigen schwarzweißen Stummfilm Retour à la raison (Rückkehr zum Grund), eine Auftragsarbeit von Tzara. Der Film zeigt stakkatoartig animierte Rayographien: Tanzende Nadeln, Salzkörner, eine Reißzwecke und andere Gegenstände, die Man Ray auf dem Filmstreifen verteilt und dann belichtet hatte, und schließlich Schriftfragmente, sich drehende Papierrollen und Eierkartons. Der Film endet mit dem sich drehenden Torso von Kiki de Montparnasse, auf dem sich ein Fensterkreuz als Lichterspiel abzeichnet. Der Experimentalfilm fand viel Beachtung und Man Rays Studio in der Rue Campagne Première 31 wurde bald Anlaufstelle für viele Filmenthusiasten und Rat suchende Jungfilmer. 1924 trat Man Ray selbst als „Darsteller“ auf: In den Filmen Entr’acte und Cinè-sketch von René Clair spielte er an der Seite von Duchamp, Picabia, Eric Satie und Bronia Perlmutter, Clairs späterer Frau. 1926 kam endlich ein finanzieller Erfolg für Man Ray: Der amerikanische Börsenspekulant Arthur S. Wheeler und dessen Frau Rose traten mit der Absicht, ins Filmgeschäft einzusteigen, an den Künstler heran. Die Wheelers wollten Man Rays Filmprojekte „ohne Auflagen“ fördern, nur sollte ein Film innerhalb eines Jahres fertiggestellt sein. Arthur Wheeler sicherte Man Ray eine Summe von 10.000 Dollar zu. Kurzum übergab Man Ray alle kommerziellen Aufträge an seine neue Assistentin Berenice Abbott und konzentrierte sich ob der neugewonnenen künstlerischen Freiheit völlig auf das neue Filmprojekt. Im Mai 1926 begann Man Ray mit den Dreharbeiten in Biarritz. Im Herbst kam schließlich der fast zwanzigminütige mit Jazzmusik von Django Reinhardt unterlegte Film Emak Bakia in Paris zur Aufführung; die Premiere in New York fand im darauf folgenden Frühjahr statt. Man Ray skizzierte sein Werk als „Pause für Reflexionen über den gegenwärtigen Zustand des Kinos.“ Emak Bakia basierte ohne bestimmte Handlung auf Improvisationen, die mit Rhythmik, Geschwindigkeit und Licht spielen und somit auf das Medium Film an sich reflektieren. Der Film sollte ein cinepoeme, eine „visuelle Poesie“ sein, wie Man Ray auch im Untertitel betonte. Der Film wurde ambivalent aufgenommen. Man Ray, der zumeist alles genau einplante, hatte für mögliche Kritiker bereits eine passende Erklärung: „Man kann sich auch mit der Übersetzung des Titels ‚Emak Bakia‘ befassen: Das ist ein hübscher alter baskischer Ausdruck und bedeutet: Gib uns eine Pause.“ Die Kritiker gewährten Man Ray diese Pause und ignorierten den Film. Das Medium Film galt zu der Zeit nicht als Kunst und so blieb Emak Bakia außerhalb der New Yorker Avantgarde unbekannt. Etwa einen Monat nach seinem enttäuschenden New Yorker Filmdebüt kehrte Man Ray nach Paris zurück. Mit seinem Assistenten Jacques-André Boiffard produzierte er noch zwei weitere surreale Filme ähnlicher Art: L’Étoile de mer (1928) und Le Mystère du château de dés (1929). Mit Einführung des Tonfilms und des Aufsehen erregenden Erfolges von Buñuels und Salvador Dalís L’Age d’Or (Das goldene Zeitalter) verlor Man Ray jedoch weitgehend das Interesse an dem Medium. 1932 verkaufte er seine Filmkamera. Während seiner „Exilzeit“ in Hollywood Anfang der 1940er sollte er sich noch ein letztes Mal kurz dem Film zuwenden. Anfang der 1930er Jahre widmete sich Man Ray fast ausschließlich der Fotokunst, nachdem er der Malerei wieder einmal eine klare Absage erteilt hatte: „Malerei ist tot, vorbei […] ich male nur noch manchmal um mich gänzlich von der Nichtigkeit der Malerei zu überzeugen.“. Die Rayographie – er verwandte den Begriff mittlerweile für sein gesamtes fotografisches Œuvre – kam für Man Ray mittlerweile der Malerei gleich. Vergleichsweise ähnlich arbeiteten zu der Zeit nur Raoul Hausmann, El Lissitzky, Moholy-Nagy und Christian Schad. Modefotografie, Solarisation, Farbe Neben progressiven Publikationen wie VU oder Life, die sich vornehmlich der künstlerischen Fotografie widmeten und große Bildstrecken veröffentlichten, wurden bald auch Modezeitschriften wie Vogue oder Harper’s Bazaar auf den erfindungsreichen Fotokünstler aufmerksam. Bereits 1922 hatte Man Ray Modefotografien für den Modeschöpfer Paul Poiret angefertigt. Ab 1930 machte er schließlich regelmäßig Modeaufnahmen für Vogue und Harper’s. Bekannte Aufnahmen aus der Zeit zeigen beispielsweise die Modeschöpferinnen Coco Chanel oder Elsa Schiaparelli (ca. 1934/35). Im Zuge der „realen“ Modefotografie verließ Man Ray dabei den rein abstrakten Fotogramm-Stil und konzentrierte sich auf surreal-traumhafte Arrangements, die er mit experimentellen Techniken mischte: so arbeitete er in der Zeit oft mit Spiegelungen und Doppelbelichtungen. Eine bekannte Serie war das Portfolio electricité (1931) als edle Werbepublikation für die Pariser Elektrizitätswerke CPDE. Die Mappe entstand in Zusammenarbeit mit Lee Miller, einer jungen, gut aussehenden ambitionierten und ehrgeizigen Amerikanerin, die fest entschlossen war, Man Rays Schülerin zu werden. Miller war im Februar 1929 auf ein Empfehlungsschreiben von Edward Steichen nach Paris gekommen und arbeitete bald mit Man Ray vor und hinter der Kamera zusammen. Mit ihr perfektionierte Man Ray seine bis dato streng geheim gehaltene Technik der Solarisation und Pseudo-Solarisation (Sabattier-Effekt) und erreichte durch die scharfe kontrastreiche Trennung des Effektes völlig neue Möglichkeiten in der Bildsprache. Lee Miller überzeugte auch als Modell vor der Kamera: Die eleganten Akte und Modefotos mit der schönen, unterkühlt wirkenden Blondine glichen durch die neue akzentuierende, aber nicht völlig abstrahierende Solarisationstechnik anatomischen Studien. Zu dieser Zeit experimentierte Man Ray auch mit der Farbfotografie, dabei entdeckte er eines der ersten Verfahren, um druckfähige Papierabzüge von Farbnegativen herzustellen. 1933/34 veröffentlichte das surrealistische Künstlermagazin Minotaure ein Farbbild Man Rays, zwei Jahre bevor der erste Kodachrome-Film auf den Markt kam. In Minotaure hatte Man Ray zuvor Les Larmes als schwarzweiße Bildstrecke veröffentlicht. Lee Miller Die Zusammenarbeit mit Lee Miller hatte eine irritierende Wirkung auf Man Ray. Im Gegensatz zu seinen früheren Modellen und Geliebten, wie der unbefangenen Kiki, war Miller sexuell unabhängig, intelligent und sehr kreativ. Aus der Faszination für Lee entwickelte sich bald eine merkwürdig obsessiv-destruktive Liebesbeziehung, die sich auch in Man Rays Werk niederschlug. Seine Sujets drehten sich zunehmend um sadomasochistische Phantasien, bekamen sexualfetischistischen Charakter und spielten mit dem Gedanken der weiblichen Unterwerfung, angedeutet bereits in seinem berühmten Object of Destruction (1932), einem Metronom, das in seiner bekanntesten Version mit einer Fotografie von Lee Millers Auge versehen war und im Original in Stücke geschlagen wurde, bis hin zu seinem bekanntesten Ölbild A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux (Die Sternwartenstunde – Die Liebenden, 1932–1934), das mutmaßlich Lees Lippen zeigt, aber die Assoziation mit einer überdimensionalen Vagina weckt, die über einer Landschaft schwebt. Der Künstler zerstört „sein“ Modell, reduziert oder idealisiert es, wie schon in früheren Arbeiten, zum Objekt seiner Begierde. Man Ray war zunehmend fasziniert von den Schriften des Marquis de Sade; einige seiner Arbeiten weisen direkt auf de Sades Gedankengut hin, so z. B. ein Porträt von Lee Miller mit einem Drahtkäfig über dem Kopf, ein Frauenkopf unter einer Glasglocke oder Fotografien mit gefesselten, entpersonalisierten Frauenkörpern. Letztlich scheiterte die künstlerische wie private Beziehung zwischen Man Ray und Lee Miller, 1932 kehrte Miller nach New York zurück. Sie wurde später eine berühmte Kriegsfotografin. Das Ende der Pariser Jahre Mit dem Weggang Lee Millers vollzog sich ein kreativer Einbruch in Man Rays Schaffen. In den Folgejahren bis zu seiner Flucht nach Amerika 1940 machte er eher durch Ausstellungen, die sein internationales Renommee als Künstler festigten, als durch stilistische Innovationen auf sich aufmerksam. Seine kommerziellen Modefotografien waren zwar perfekt und routiniert in Szene gesetzt, dennoch lieferten sie keine wirklichen neuen kreativen Impulse. Neben dem aufkommenden modernen Fotojournalismus mit seinen „neuen“ innovativen Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Chim und Robert Capa in ihrer politischen Emotionalität wirkten Man Rays kühle Studioproduktionen mittlerweile „statisch“ und überkommen. Bald verdrängten lebendige Straßenreportagen, wie die des sehr viel jüngeren Robert Doisneau oder die eines Brassaï, der anfangs ebenso surrealistische Ansätze verfolgt hatte, Man Rays Kunstfotografie aus den Magazinen. Der Surrealist Louis Aragon zog auf einem Pariser Kultursymposium 1936 einen direkten Vergleich zwischen dem „Schnappschußfotografen“ Henri Cartier-Bressons und dem Studiofotografen Man Ray: „… er (Man Ray) verkörpert das Klassische in der Fotografie […] eine Atelierkunst mit allem was dieser Begriff bedeutet: vor allem der statische Charakter der Fotografie […] im Unterschied dazu die Fotografien meines Freundes Cartier, die im Gegensatz zu der friedlichen Nachkriegszeit steht und wirklich durch ihren beschleunigten Rhythmus zu dieser Zeit der Kriege und Revolutionen gehört.“ Man Ray beobachtete diese Entwicklung ebenso wie Aragon, schloss sich aber dem „neuen“ Trend der schnelllebigen realistischen Fotografie letztlich nicht an; vielmehr zog er sich noch mehr in seine eigene Traumwelt zurück. Zeitweise gab er die Fotografie – mit Ausnahme einiger kommerzieller Modefotos – sogar völlig auf und wandte sich wieder der Malerei zu. Er fühlte sich in der Entscheidung bestätigt, als A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux bei einer großen Retrospektive surrealistischer Kunst im New Yorker Museum of Modern Art großen Anklang fand. Das Gemälde war Man Ray so wichtig, dass er es immer wieder in zahlreichen Fotografien einbrachte: Modefotos, Selbstporträts und Aktaufnahmen. Der Bildhauer Alberto Giacometti machte Man Ray um 1934 mit der jungen Künstlerin Meret Oppenheim bekannt. Oppenheim stand ihm Modell in der Fotoserie Érotique voilée (1934). Die berühmteste Aufnahme zeigt Oppenheim nackt, mit von Druckerschwärze beschmierter Hand vor einer Kupferstichpresse. Ungefähr zu dieser Zeit entstanden auch zwei weitere wichtige Arbeiten: Die Bücher Facile (1935) und La Photographie n’est pas l’art (1937). Facile entstand mit Man Rays altem Freund Paul Éluard und dessen zweiter Frau Nusch. Das Buch bestach durch feinste, teils solarisierte teils invertierte oder doppelbelichtete Aktfotografien von Nusch Eluard und ein neuartiges Layout, welches, ausgewogen zwischen Text und Bild, viel meditative Weißfläche ließ, um das Gefühl von Unendlichkeit zu evozieren. Neben Nusch Eluard ist nur ein Paar Handschuhe abgebildet. Das andere Werk La Photographie n’est pas l’art war eher eine Mappe, die in der Zusammenarbeit mit Breton entstand. Es sollte eine fotografische Antithese zu Man Rays Fotografien der 1920er Jahre werden: Zeichneten sich diese durch die Abbildung „schöner“ Dinge aus, so lieferte La Photographie n’est pas l’art mit harten, teilweise abstoßenden und verstörenden Sujets eine sarkastische Antwort auf die durch Krieg und Zerfall bedrohte Gesellschaft der ausgehenden 1930er Jahre. Die fatalen Auswirkungen des Nationalsozialismus zeigten sich bald in Paris. Spätestens ab 1938 hatte sich die Situation in der einstmals gastfreundlichen Metropole drastisch verändert; die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung eskalierte in Gewalttaten gegenüber allem „Ausländischen“. Für Man Ray, den Einwanderer mit jüdischen Vorfahren, war dies nicht mehr der Ort, an dem er noch vor fast zwanzig Jahren so freundlich empfangen wurde. Das Ende seiner Pariser Zeit war gekommen. Den letzten großen Auftritt, bevor er nach Amerika ging, hatte er 1938 bei der Exposition Internationale du Surréalisme in Georges Wildensteins Galerie Beaux-Arts in Paris, die für ihn den ganz persönlichen Höhepunkt des Surrealismus markierte. Von nun an wurde Man Rays Bildsprache zunehmend düsterer und pessimistischer. Ein wichtiges malerisches Resümee auf seine „schönen Pariser Zeiten“ sollte das Gemälde Le Beau Temps werden, das 1939 kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und seiner Abreise nach Amerika entstand. Es ist sowohl autobiografische Bilanz wie künstlerische Situationsbeschreibung. Das Bild hat einen ähnlichen Aufbau wie viele Werke der Pittura metafisica: Das Bild ist nicht nur eine Bilanz seines bisherigen Œuvres, sondern es weist auch zugleich etliche autobiografische Elemente auf; der Minotaurus ist beispielsweise ein stilistischer Fingerzeig auf Picasso, mit dem Man Ray befreundet war und den er zeitlebens bewunderte. Mit Picasso, Dora Maar, den Eluards, sowie Lee Miller und Roland Penrose hatte Man Ray zusammen mit seiner damaligen Geliebten Adrienne viele glückliche Stunden im Süden Frankreichs verbracht. Die Tür schließlich ist eine Anspielung auf André Breton, der Auseinandersetzung mit dem Surrealismus und dessen Verklausulierung einer „Tür zur Realität“. Für Man Ray schien sie den schmerzhaften Eintritt in eine neue Realität zu bedeuten oder ein Symbol für „Die Tür hinter sich schließen“. Sehr bald nach Fertigstellung des Werkes sollte eine Odyssee quer durch Europa beginnen. Nach einer fehlgeschlagenen Flucht aus Paris per Flugzeug gelangte er schließlich per Zug über Spanien nach Portugal. Am 8. August 1940 schiffte er sich in Lissabon an Bord der Excambion nach New York ein. Im Exil in Amerika 1940–1951 Im Spätsommer 1940 kam Man Ray im Hafen von New York an. Obwohl noch amerikanischer Staatsbürger, war er in seinem Geburtsland ein Fremder. Er ließ nicht nur seine Freunde und seinen Status als Künstler in Paris zurück, sondern auch seine wichtigsten Werke der letzten zwanzig Jahre: Fotografien, Negative, Objekte und zahlreiche Gemälde, einschließlich seines Meisterwerkes A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux. Die meisten Arbeiten hatte er wohl bei Freunden versteckt, dennoch sind zahlreiche Arbeiten im Krieg zerstört worden oder verschollen. Bei seiner Ankunft wurde Man Ray von einer tiefen Depression erfasst. Überdies erregte sein Reisegefährte und Freund, der exaltierte Salvador Dalí, sofort die Aufmerksamkeit der Fotoreporter, während er in Bedeutungslosigkeit versank. Dalí hatte es die ganzen Jahre zuvor verstanden, seinen Namen und seine Kunst auch in Übersee publik zu machen, wohingegen sich Man Ray fast ausschließlich in Europa aufgehalten hatte; so war es nicht verwunderlich, dass die Amerikaner so gut wie nichts über ihn wussten. Bei einer Ausstellungsbeteiligung im Museum of Modern Art im Dezember 1940 wurden lediglich drei alte Fotoarbeiten aus den 1920er Jahren von ihm gezeigt, die neben einer Vielzahl neuerer Arbeiten der „Daheimgebliebenen“ Edward Weston und Alfred Stieglitz wenig Beachtung fanden. Ungeachtet des fehlenden künstlerischen Ruhms fand Man Ray zwar schnell Aufträge als kommerzieller Fotograf, der Kampf indes, als Künstler jemals wieder Anerkennung zu finden, sollte Man Ray für den Rest seines Lebens beschäftigen. Ohne Förderer oder respektable Galerie sah die Situation für ihn als Künstler in New York schlecht aus und so hielt ihn dort nichts. Hatte der frankophile Man Ray zunächst New Orleans in Erwägung gezogen, folgte er wohl dem allgemeinen Ruf, dem damals viele Europäer folgten, nach Hollywood zu gehen. Während des Krieges unterstützte Los Angeles, vor allem die ansässigen Filmstudios, mehr als jede andere US-amerikanische Stadt die Kunstszene. Bereits im November 1940 traf Man Ray in Hollywood ein. Da dort bereits einstige Kollegen von ihm wie Luis Buñuel und Fritz Lang erfolgreich arbeiteten, hoffte auch er wieder im Filmgeschäft Fuß zu fassen; doch dies sollte sich als Irrtum erweisen: An „Kunst“ in Man Rays Sinne waren die kommerziell orientierten Studiobosse nicht interessiert. Seine Karriere beim Film sah er damit bald beendet. Enttäuscht rekapitulierte Man Ray später in seiner Autobiografie, dass er „… die Kamera in dem Wissen beiseite legte, dass sein Ansatz beim Filmen ein vollkommen anderer war als das, was die Industrie und die Öffentlichkeit von ihm erwartete“. Dennoch blieb er elf Jahre in Hollywood und arbeitete als inoffizieller Berater bei Filmprojekten mit oder steuerte Objekte oder Gemälde als Requisiten bei. Sein einziger erwähnenswerter Beitrag blieb Ruth, Roses and Revolvers (1945), eine Drehbuch-Episode für den zwei Jahre später fertiggestellten Film Dreams That Money Can’t Buy von Hans Richter, an dem auch Alexander Calder, Marcel Duchamp, Max Ernst und Fernand Léger mitwirkten. Man Ray widmete sich in diesen Jahren wieder verstärkt der Malerei, nur gelegentlich griff er noch zum Fotoapparat und wenn, dann war seine zweite Frau Juliet das Hauptmotiv. Juliet Browner, die Man Ray 1940 in Hollywood kennengelernt hatte, war jung und lebendig und inspirierte ihn stets zu neuen Ideen. Von Juliet entstanden zahlreiche Porträtserien, die er sein Leben lang ergänzte. Einen ähnlich starken Einfluss auf den Künstler hatten zuvor nur seine erste Frau Adon Lacroix, Kiki de Montparnasse und Lee Miller. Mitte der 1940er Jahre begann Man Ray vereinzelt Vorlesungen über Dadaismus und Surrealismus zu halten. In der Zeit entstanden zahlreiche Objekte, die Man Ray Objects Of My Affection nannte. Zehn dieser Objekte stellte er 1946 bei der Ausstellung Pioneers of Modern Art in America im New Yorker Whitney-Museum aus. Die neuen Arbeiten zeugten von Humor und einer gewissen Selbstironie, so bezeichnete Man Ray das Object Silent Harp (1944), das aus einem Geigenhals bestand, als „Violon d’Ingres eines frustrierten Musikers. Er kann Farbe so selbstverständlich hören, wie er Töne sehen kann.“. Am 24. Oktober 1946 heirateten er und Juliet Browner in einer Doppelhochzeit zusammen mit Max Ernst und Dorothea Tanning in Beverly Hills. Um 1947 erhielt Man Ray die frohe Botschaft aus Paris, dass sein Haus in Saint-Germain-en-Laye und zahlreiche seiner Arbeiten vom Krieg verschont worden waren. Zusammen mit Juliet machte er sich im Sommer auf den Weg nach Paris, um den Fundus zu sichten. Bis auf das Gemälde Le Beau Temps verschiffte Man Ray alle Arbeiten nach Hollywood. Im Herbst desselben Jahres kehrte er nach Amerika zurück. 1948 kombinierte er die aus Paris überführten Arbeiten mit dem neuen abstrakt-geometrischen Gemäldezyklus Equations for Shakespeare für eine Ausstellung unter dem Titel Paintings Repatriated from Paris in der William Copley Gallery in Los Angeles. Genau genommen waren die Equations for Shakespeare eine Neuaufnahme einer bereits vor zehn Jahren in Paris begonnenen Serie. Für die Ausstellung in der Copley Gallery entstand der aufwendige Katalog To Be Continued Unnoticed der als ungebundene Mappe nebst Ausstellungsverzeichnis auch zahlreiche Reproduktionen von Werkzeichnungen, Objekten und Fotoarbeiten sowie Ausstellungskritiken früherer Jahre im charakteristischen Nonsens-Stil der damaligen Dada-Zeitschriften in einem konzeptionellen Kontext zusammenfasste. Die Ausstellungseröffnung am 13. Dezember 1948 war ein großes Ereignis und erinnerte noch einmal an die „guten“ Pariser Jahre. Zahlreiche internationale bildende Künstler, Schriftsteller und Filmemacher zählten zu den Gästen des Café Man Ray, wie die Vernissage in Anspielung auf die Pariser Kaffeehäuser genannt wurde. Man Rays Ausstellung war zugleich Höhepunkt und Abschluss seines Schaffens in Los Angeles. Ungeachtet des respektablen Erfolgs an der Westküste empfand Man Ray die Resonanz des Publikums in den USA als zu gering und so lag es nahe, dass er 1951 wieder nach Paris zurückkehrte. Rückkehr nach Paris 1951–1976 Im Mai 1951 bezog Man Ray mit seiner Frau Juliet eine Pariser Studiowohnung in der Rue Férou, die er bis zu seinem Lebensende bewohnte. In den Folgejahren wurde es trotz intensiver Ausstellungsbeteiligungen in Europa und Übersee ruhiger um den Künstler, der sich nun bevorzugt der abstrakten Variationen respektive der Reproduktion früherer Arbeiten (unter anderem Cadeau, Reproduktion 1974) widmete und gelegentlich mit der Farbfotografie experimentierte. Auch die Porträtfotografie verfolgte er weiterhin; so entstanden in den 1950er/1960er Jahren u. a. Fotografien von Juliette Gréco, Catherine Deneuve und anderen Künstlerkollegen. Zu dieser Zeit entstanden auch Arbeiten in Acryl, wie die so genannten Natural Paintings zwischen 1957 und 1965, in denen er mit zufälligen Anordnungen pastoser Acrylaufstriche experimentierte (Decembre ou le clown, Othello II, 1963). 1958 nahm er an der Ausstellung Dada, Dokumente einer Bewegung im Kunstverein Düsseldorf und an einer Dada-Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam teil. Im Folgejahr 1959 arbeitete er als kinematografischer Berater an der kurzen filmischen Dokumentation Paris la belle von Pierre Prévert mit. 1960 war er auf der Photokina in Köln vertreten; auf der Biennale von Venedig erhielt er 1961 die Goldmedaille für Fotografie. 1963 legte Man Ray in London seine Autobiografie Self-Portrait vor. Zum fünfzigsten Jubiläum des Dadaismus 1966 nahm Man Ray an einer großen Dada-Retrospektive teil, die in Paris im Musée National d’Art Moderne, im Kunsthaus Zürich und im Civico Museo d’Arte Contemporanea in Mailand gezeigt wurde. 1966 erhielt Man Ray seine erste große Retrospektive im Los Angeles County Museum of Art. Anlässlich seines 85. Geburtstages fand 1974 eine von Roland Penrose und Mario Amaya organisierte Einzelausstellung mit 224 Werken unter dem Motto Man Ray Inventor-Painter-Poet im New York Cultural Center statt, die anschließend 1975 im Institute of Contemporary Arts in London, der Alexander Iolas Gallery in Athen und schließlich im Palazzo delle Esposizioni in Rom gezeigt wurde. Man Ray starb am 18. November 1976 in Paris. Er wurde auf dem Cimetière Montparnasse beigesetzt. Die Inschrift seines Grabsteins lautet: “unconcerned, but not indifferent” (unbekümmert, aber nicht gleichgültig). Im Jahr 1984 widmete der Kunstverein Ingolstadt Man Ray eine Ausstellung. Seine Frau Juliet Browner Man Ray kümmerte sich bis zu ihrem Tod 1991 um den Nachlass von Man Ray und spendete zahlreiche seiner Arbeiten an Museen. Sie gründete die Stiftung „Man Ray Trust“. Die Stiftung besitzt eine große Sammlung von Originalarbeiten und hält die Urheberrechte des Künstlers. Juliet wurde neben Man Ray beigesetzt. Werke Fotografien Man – Woman, 1918 Dust Raising, 1920 The Enigma of Isidore Ducasse (The Riddle), 1920 Larmes (Glass Tears), versch. Versionen, 1920–1933 KEEP SMILING – dadaphoto, 1921 Marquise Casati, 1922 Kiki im Café, etwa 1923 Le Violon d’Ingres, 1924 Noire et blanche, 1926 Mr and Mrs Woodman, 1927–1945 La Prière, 1930 L’œuf et le coquillage, 1931 Nature Morte, Silbergelatineabzug, 1933; ex: Ambroise Vollard Érotique voilée, 1934 Dora Maar, 1936 Space Writings, 1937 Selfportrait, 1963 La Télévision, 1975 Ferner: Diverse Porträtfotografien (-serien) berühmter Personen aus Kunst und Kultur, die größtenteils in den 1920er Jahren entstanden sind Zahlreiche, teilweise unbetitelte Fotoserien, die das Bild A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux im Hintergrund zeigen Malerei Ramapo Hills, 1914/15 Arrangement of Forms, No. 1, 1915 The Revolving Doors, 1916/17, zehn Serigrafien La Volière (Aviary), 1919 Une nuit à Saint-Jean-de-Luz, 1929 A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux, 1932–1934 La Fortune, 1938 Le Rebus, 1938 Imaginary Portrait of D.A.F. de Sade 1938 Le Beau Temps, 1939 Juliet 1943 Objekte Lampshade, 1919 Obstruction, 1920 Schachspiel (Chessboard), 1920 (Neufassung 1945) The Object to be Destroyed, 1921 (Object of Destruction, 1932, Lost Object 1945; Indestructible Object, 1958; Last Object, 1966; Perpetual Motif, 1972) Catherine Barometer, 1920 Cadeau, 1921, Bügeleisen mit Reißnägeln (Neufassung 1971) Table for Two, 1944, Holztisch Silent Harp, 1944, Geigenhals, Spiegel und Gitter mit Pferdehaaren Optical Hopes and Illusions, 1945, hölzerner Banjorahmen mit Ball und Spiegel Viele Objekte Man Rays entstanden einzig zu dem Zweck fotografiert zu werden und wurden anschließend zerstört Filmografie 1923: Le retour à la raison 1923: Rue Campagne-Première 1924: À quoi rêvent les jeunes films 1927: Emak Bakia 1928: L’Étoile de mer 1929: Corrida 1929: Les mystères du château de Dé 1930: Autoportrait ou Ce qui manque à nous tous 1933: Poison 1935: Essai de simulation de délire cinématographique 1935: L’atelier du Val de Grâce 1937: Course landaise 1937: La Garoupe 1938: Ady 1938: Dance 1940: Juliet Rezeption Man Ray blieb vielen Menschen rätselhaft, schwer zugänglich und fand erst spät Beachtung. Allein der Umfang seines vielschichtigen Gesamtwerks erschwert eine formale Erschließung und somit die Kategorisierung in bestimmte Stile. Er vereinigte nahezu sämtliche Richtungen der modernen Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts, weshalb er oft verallgemeinernd als „Modernist“ oder „Erneuerer des Modernismus“ bezeichnet wurde. Man Ray war neben Marcel Duchamp und Francis Picabia zwar die treibende Kraft des New York Dada, stand aber schon dort deutlich an der Schwelle zum Surrealismus. André Breton bezeichnete Man Ray als einen „Prä-Surrealisten“, weil viele seiner Werke richtungsweisend für die spätere Bewegung waren. Obwohl Man Ray zeitlebens viele Schriftstücke mit kunsttheoretischen Ansätzen und Betrachtungen verfasste, war er selbst nie wirklich an einer Manifestation respektive am dogmatischen Überbau einer bestimmten Kunstrichtung interessiert oder beteiligt. Mit dieser teilweise aus der Not geborenen „Außenseiterposition“ und dem drängenden Wunsch, sich ständig neu zu erfinden, folgte er wahrscheinlich seinem Freund und Mentor Duchamp. Der französische Museumsdirektor und Ausstellungsmacher Jean-Hubert Martin skizzierte Man Ray als „einen unermüdlichen Wanderer im grenzenlosen Reich der Kreativität. […] In der Fotografie hat er alles ausprobiert ohne sich jemals in Konventionen einschließen zu lassen. Sein Werk ist unglaublich vielfältig und quantitativ bis heute nicht voll erfasst. […] Seine zahlreichen Objekt-Assemblagen, die aus allem möglichen zusammengesetzt sind, wirken anregend für die Phantasie.“ Typisch für Man Rays Werk ist die Idee der ständigen mechanischen Wiederholung und Reproduktion, auch in kommerzieller Hinsicht, womit er ein grundlegendes Prinzip Andy Warhols sowie der Pop Art im Allgemeinen vorwegnimmt. Mit Warhol hat Man Ray auch biographische Gemeinsamkeiten: beide stammten aus armen Immigrantenfamilien und verkehrten später in höheren Gesellschaftskreisen, von denen sie zumeist ihre Aufträge bezogen, waren aber im Wesentlichen Einzelgänger. Man Ray war einer von Warhols Helden, so dass Warhol, als er es sich leisten konnte, eine Reihe seiner Fotografien, Gemälde und frühen Bücher erwarb. Der Turiner Galerist Luciano Anselmino (1943-1979) vermittelte den Kontakt zwischen Man Ray und Andy Warhol. Seine „Galleria ll Fauno“ war auf Surrealismus und Pop Art spezialisiert und stellte Künstler wie Max Ernst, Marcel Duchamp, Man Ray und Andy Warhol aus. Am 30. November 1973 fotografierte Andy Warhol Man Ray in seinem Atelier in Paris. Man Ray war damals 83 Jahre alt. Laut Timothy Baum hatte Man Ray noch nie von Andy Warhol gehört. Luciano Anselmino beauftragte Andy Warhol zunächst mit einer Grafikserie mit dem Porträt von Man Ray, später mit drei verschiedenen Porträts von Man Ray auf drei verschiedenen großen Leinwänden in Acryl und Siebdruck. Die Werke wurden ab 1974 in der Galerie Il Fauno - Alexander Iolas in Mailand ausgestellt. Bedeutung für die Fotografie Man Ray kam von der Malerei zur Fotografie und hob dabei die Grenzen zwischen der „dokumentarisch-utilitaristischen“ und der „kreativen“ Fotografie auf: Zum einen lieferte er als Zeitzeuge wichtige Fotodokumente aus den „Kinderjahren“ der modernen zeitgenössischen Kunst des 20. Jahrhunderts, zum anderen erweiterte er durch seine Experimentierfreude das Spektrum der damaligen „Lichtbildnerei“, in einer Zeit, als man glaubte, „alles sei schon durchfotografiert worden.“ Er porträtierte fast sämtliche bedeutenden Personen des kulturellen Zeitgeschehens im kreativen Zenit des Paris der 1920er Jahre und schuf damit ein Œuvre wie vor ihm nur Nadar. Man Ray löste mit seiner Vielfalt der Techniken, der Fotocollage, dem Rayogramm – respektive der Solarisation – einen wichtigen Impuls für den Surrealismus aus. Indem er die gewöhnliche Bedeutung der Objekte aufhob und ihnen eine traumhaft-sinnliche, sogar erotische Komponente zukommen ließ, unterschied er sich von seinen europäischen Zeitgenossen wie Moholy-Nagy oder Lissitzky, die, ganz dem Gedanken des Bauhauses und des Konstruktivismus folgend, das nüchterne gegenstandslose Abbild suchten. Der Kunsttheoretiker Karel Teige bezeichnete ihn hingegen als „zweitrangigen kubistischen Maler, der dank der Mode jener Zeit zum Dadaisten wurde, aufhörte zu malen und begann, metamechanische Konstruktionen – den suprematischen Konstruktionen der Russen Rodtschenko und Lissitzky ähnlich – zu konstruieren um sie schließlich mit genauer Kenntnis des fotografischen Handwerks zu fotografieren.“. Womit Man Rays Dilemma, dass die Fotografie lange nicht als „Kunst“ angesehen wurde, deutlich wird: Die von Literaten beherrschten Dadaisten schätzen ihn als Freund und Dokumentaristen, die künstlerische Anerkennung als Maler und Fotograf verwehrten sie ihm jedoch. Während ihn die meisten zeitgenössischen amerikanischen Künstlerkollegen und Kritiker wie Thomas Hart Benton eher distanziert-abwertend als „Handwerker“ betrachteten – da ja die Fotografie „untrennbar“ mit der Mechanik verbunden sei und allenfalls Alfred Stieglitz, Paul Strand und Edward Steichen anerkannten – war einzig Georgia O’Keeffe, die sich selbst mit den Möglichkeiten der Fotografie befasste, bereit ihn als „jungen Maler mit ultramodernen Tendenzen“ hervorzuheben. Der Kritiker Henry McBride nannte ihn anlässlich einer Ausstellung in der Vallentine Gallery in New York „… einen Ursprungs-Dadaisten und den einzigen von Bedeutung, den Amerika produziert hat.“ Für viele Fotografen und Filmemacher war Man Ray Berater, Entdecker, Lehrmeister und spiritus rector zugleich: unter ihnen finden sich bekannte Namen wie Eugène Atget, Berenice Abbott, Bill Brandt oder Lee Miller. Bedeutung für den Film Man Ray produzierte nur vier kurze Filme in den 1920ern, die, neben Buñuels und Salvador Dalís Aufsehen erregenden Werken Ein andalusischer Hund (1928) und L’Age d’Or (Das goldene Zeitalter), als Pionierarbeiten des poetisch-surrealistischen Experimentalfilms gelten. Darüber hinaus wirkte er zumeist beratend bei anderen Filmproduktionen mit. Durch seine Bekanntschaften mit René Clair, Jean Cocteau und anderen Filmschaffenden Anfang der 1930er Jahre hat sich Man Ray auch mit dem poetischen Realismus des französischen Films auseinandergesetzt. Der stilistische Einfluss Man Rays auf die Kinematographie findet sich in zahlreichen Kunstfilmen wieder; so unter anderem bei Marcel Carné, Jean Genet oder Jean Renoir oder in den Undergroundfilmen der Nachkriegszeit von beispielsweise Kenneth Anger, Jonas Mekas oder Andy Warhol. Bedeutung für die Malerei In der Malerei rekapitulierte und reproduzierte Man Ray innerhalb kürzester Zeit, explizit von 1911 bis 1917, fast sämtliche Stile seiner Zeitgenossen: Angefangen beim Impressionismus führte ihn die fast zwanghafte Suche nach einer eigenen Ikonografie zu futurokubistischen Stilelementen, die sich teilweise auch in Picabias Werken wiederfinden. Man Ray stand damit malerisch an einen Scheideweg, der kennzeichnend für den beginnenden Präzisionismus als erste „eigene“ amerikanische Kunstrichtung und als Trennung von der europäischen Moderne zugleich war. Man Ray beschritt jedoch nicht den tradierten Weg des Tafelbildes. Der Prozess seiner Bildfindung glich eher einem seriellen Prozess, der getrieben war von der Suche „nach einem System, das den Pinsel ersetzen, ihn sogar übertreffen könnte.“ Zwischen 1917 und 1919 führte Man Ray mit Hilfe von Spritzpistolen und Schablonen die von ihm weiterentwickelte Aerographie als „maschinelles“ multifunktionales Stilmittel in die Malerei ein. Damit nahm er das Konzept der Warholschen Serigrafien und ihrer beliebigen Reproduzierbarkeit vorweg. In dem lyrisch abstrahierten kubistischen Werk Revolving Doors (1916/17) zeigt Man Ray in Collagen aus transparenten Papieren chromatische Überlagerungen, die einem konstruktivistischen Prinzip folgen und scheinbare „Standbilder“ eines kinetischen Kunst-Apparates sind, wie er später, 1930, unabhängig von Man Ray im Bauhaus als „Licht-Raum-Modulator“ bei Moholy-Nagy zu finden ist. Die Revolving Doors legte Man Ray 1926 als Serie auf. Im Gegensatz zu seinen signifikanten Fotografien und Objekten wirkt Man Rays malerisches Werk weniger „verspielt“ und unzugänglicher und gipfelt letztlich in seinem surrealen Meisterstück A l’heure de l’observatoire – Les Amoureux (1932–1934), von dem Man Ray so angetan war, dass er es selbst immer wieder rezipierte. Seine späteren Werke schöpfen aus dem synthetischen Kubismus, greifen Ideen seiner New Yorker Jahre auf oder lehnen sich in Bildern wie La Fortune II an René Magrittes verschlüsselte Tautologien und die bühnenhaften Kompositionen der Pittura metafisica an. An die malerischen Tendenzen der Moderne nach 1945 konnte Man Ray indes nicht anknüpfen. Kritiker wie der Surrealismusexperte René Passeron stuften Man Rays Bedeutung für die Malerei gleichwohl als weniger relevant ein: „Wäre Man Ray nur Maler gewesen, so würde er bestimmt nicht zu den wichtigsten bildenden Künstlern des Surrealismus gehören.“ Ehrungen 2017 wurde eine auf Kuba heimische Spinne nach ihm benannt: Spintharus manrayi. Literatur Schriften von Man Ray (Auswahl) Alphabet for Adults. Copley Gallery, Beverly Hills, 1948. Analphabet. Nadada Editions, New York, 1974. Les Champs délicieux. Société Generale d’Imprimerie, 1922. New York Dada. Im Eigenverlag mit Marcel Duchamp, New York, 1921. A Note on the Shakespearean Equations. Copley Gallery, Beverly Hills, 1948. La Photographie n’est pas l’art. GLM, Paris, 1937. Man Ray, Selbstportrait. Eine illustrierte Autobiographie. Neuauflage, Schirmer/Mosel, München 1998, ISBN 978-3-88814-149-2. Monografien Merry Foresta, Stephen C. Foster, Billy Klüver, Julie Martin, Francis Naumann, Sandra S. Phillips, Roger Shattuck und Elisabeth Hutton Turner: Man Ray 1890–1976. Sein Gesamtwerk. Edition Stemmle, Schaffhausen 1989, ISBN 978-3-7231-0388-3. Man Ray Photograph. Neuauflage, Schirmer/Mosel, München 1997, ISBN 978-3-88814-187-4. Arturo Schwarz: Man Ray: The Rigour of Imagination. Rizzoli International, New York 1977. Patterson Sims (Vorwort), Francis M. Naumann: Conversion to Modernism: The Early Works of Man Ray. Rutgers University Press, New Brunswick u. a. 2003, ISBN 978-0-8135-3148-9, . Herbert R. Lottman: Man Ray’s Montparnasse. Verlag Harry N. Abrams, New York 2001, ISBN 978-0-8109-4333-9, (englisch). Man Ray, Manfred Heiting, Emmanuelle de L’Écotais: Man Ray 1890–1976. Neuauflage, Taschen Verlag, Köln 2004, ISBN 978-3-8228-3483-1. Man Ray – Aus Fundstücken des Alltags. In: Markus Stegmann: Architektonische Skulptur im 20. Jahrhundert. Historische Aspekte und Werkstrukturen, Dissertation, Wasmuth, Tübingen 1995, ISBN 978-3-8030-3071-9, S. 69–73. stern Spezial Fotografie: Man Ray. teNeues Verlag, 2004, ISBN 978-3-570-19444-7. Arthur Lubow: Man Ray : the artist and his shadows, New Haven : Yale University Press, 2021, ISBN 978-0-300-23721-4 Film Liebe am Werk: Lee Miller & Man Ray. (OT: L’amour à l’œuvre – Lee Miller et Man Ray.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2019, 26:22 Min., Buch und Regie: Stéphanie Colaux und Agnès Jamonneau, Produktion: Bonne Compagnie, arte France, Reihe: Liebe am Werk (OT: L’amour à l’œuvre. Couples mythiques d’artistes), Erstsendung: 28. April 2019 bei arte, Inhaltsangabe von ARD. Weblinks Man Ray Trust – Official Site (englisch) Datenbanken Man Ray in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen Bibliotheken Fotos Man Ray Photo (französisch, englisch) Verschiedenes Dada in New York (englisch) Man Ray – Filme auf ubu.com (englisch) Linksammlung. artcyclopedia.com Anmerkungen, Einzelnachweise und Quellen Soweit nicht anders vermerkt, basiert der Hauptartikel auf den chronologisch voneinander abweichenden Monografien und Werkbetrachtungen von Merry Foresta, Stephen C. Foster, Billy Klüver, Julie Martin, Francis Naumann, Sandra S. Phillips, Roger Shattuck und Elisabeth Hutton Turner, die teilweise in gekürzter Fassung in der englischsprachigen Originalausgabe Perpetual Motif: The Art of Man Ray erschienen sind (deutsche Ausgabe: Man Ray – Sein Gesamtwerk), Edition Stemmle, Zürich, 1989, ISBN 3-7231-0388-X. Anmerkungen zur Technik basieren auf Floris M. Neusüss: Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts. DuMont, Köln 1990, ISBN 3-7701-1767-0. Fotokünstler Fotograf (Paris) Fotograf (Vereinigte Staaten) Fotograf (20. Jahrhundert) Aktfotograf Künstler des Dadaismus Surrealismus Maler des Surrealismus Maler (Paris) Maler (Vereinigte Staaten) Filmregisseur Person (Stummfilm) Siebdruckkünstler (Vereinigte Staaten) Künstler (documenta) Teilnehmer einer Biennale di Venezia Künstler im Beschlagnahmeinventar „Entartete Kunst“ ’Pataphysik US-Amerikaner Geboren 1890 Gestorben 1976 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Immunologie
Immunologie
Die Immunologie oder Immunbiologie ist die Lehre von den biologischen und biochemischen Grundlagen der körperlichen Abwehr von Krankheitserregern wie Bakterien, Viren und Pilzen sowie anderen körperfremden Stoffen wie beispielsweise biologischen Toxinen und Umweltgiften, und darüber hinaus von Störungen und Fehlfunktionen dieser Abwehrmechanismen. Sie ist damit eine Teildisziplin der Biologie. Forschungsgegenstand ist das Immunsystem, ein System von zellulären und molekularen Prozessen, welche die Erkennung und Inaktivierung von Krankheitserregern und körperfremden Substanzen realisieren. Diese Prozesse werden unter dem Begriff Immunantwort zusammengefasst. Aufgrund der zentralen Rolle des menschlichen Immunsystems bei einer Vielzahl von Erkrankungen ist die Immunologie in der Medizin für das Verständnis, die Prävention, die Diagnostik und die Therapie von Krankheiten von großer Bedeutung. Es gibt verschiedene Teilgebiete der Immunologie. Die Immunchemie untersucht die Struktur von Antigenen, Antikörpern und die chemischen Grundlagen der Immunreaktionen. Die Immungenetik untersucht die genetische Variabilität von Immunreaktionen, bzw. die Mechanismen der Erzeugung von Antikörpern, T-Zell-Rezeptoren und antigenpräsentierenden Komplexen. Die Immunpathologie und die klinische Immunologie untersuchen Störungen des Immunsystems, die beispielsweise im Falle von Allergien, bei der Bildung von Tumoren und bei Autoimmunkrankheiten auftreten. Geschichte Frühe Beobachtungen Die ältesten bekannten Aufzeichnungen, die Hinweise auf immunologisch relevante Phänomene enthalten, stammen aus dem Jahr 430 vor Christus. Der Geschichtsschreiber Thukydides stellte damals während der sogenannten Attischen Seuche in Athen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges fest, dass nur Menschen für die Versorgung der Erkrankten in Frage kamen, welche die Krankheit selbst bereits durchgestanden und überlebt hatten. Aus der Zeit um das Jahr 100 vor Christus sind erste Berichte aus China zu einer gezielten Übertragung der Pocken auf gesunde Menschen zum Zweck der Vorbeugung bekannt. Weite Verbreitung erlangte dieses Verfahren, bei dem Eiter von leicht Erkrankten mit einer Nadel auf Gesunde übertragen wurde, unter der Bezeichnung „Variolation“ seit dem 15. Jahrhundert vor allem in China, Indien und der Türkei. Durch Mary Wortley Montagu, die Ehefrau des britischen Botschafters in Konstantinopel, die ihren Sohn auf diese Weise impfen ließ, gelangte die Variolation ab etwa 1722 nach England und verbreitete sich in den folgenden Jahren auch im Rest Europas. Zur gleichen Zeit erfuhr der englische Landarzt Edward Jenner von Ärzten, mit denen er in Kontakt stand, dass Personen anscheinend nicht auf eine Pocken-Variolation ansprachen, wenn sie vorher an Kuhpocken erkrankt waren. Nach intensiver Beobachtung dieses Phänomens impfte er am 14. Mai 1796 den gesunden achtjährigen Jungen James Phipps mit Gewebsflüssigkeit, die er einer Pustel von einer mit Kuhpocken infizierten Milchmagd entnommen hatte. Nachdem der Junge den leichten Verlauf der Kuhpocken überstanden hatte, unterzog ihn Jenner mit einer echten Pocken-Variolation. Er entwickelte keine Pockensymptome, auch gegen wiederholte Variolationen und Pockenausbrüchen erwies er sich als immun. Im Vergleich zur Variolation bot Jenners Verfahren ("Vakzination") einige entscheidende Vorteile: Die mit Kuhpocken geimpften Personen wiesen nicht die für Pocken typischen Pusteln und die daraus resultierenden Narben auf, es gab keinen tödlichen Verlauf der Impfung und die geimpften Personen stellten selbst kein Ansteckungsrisiko dar. Edward Jenner gilt deshalb heute als Begründer der Immunologie. Beginn immunologischer Forschung Ein Meilenstein in der Entwicklung der Immunologie, der den Beginn der gezielten Forschung markierte, war die Entwicklung eines Impfstoffes gegen die Tollwut im Jahr 1885 durch Louis Pasteur. Am 6. Juli 1885 impfte er damit den neunjährigen Joseph Meister, der zwei Tage zuvor von einem tollwütigen Hund gebissen worden war. Joseph Meister wurde damit der erste Mensch in der Geschichte der Medizin, der eine Tollwutinfektion überlebte. Innerhalb eines Jahres wurde diese Impfung bei 350 weiteren infizierten Personen angewendet, von denen keiner an Tollwut verstarb. Bereits drei Jahre vorher entdeckte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose und kurze Zeit später die Tuberkulin-Reaktion, die auf der Basis der Immunantwort den Nachweis einer Tuberkulose-Infektion ermöglichte. 1888 entdeckten Pierre Paul Émile Roux und Alexandre Émile Jean Yersin das Diphtherie-Toxin. Zwei Jahre später konnten Emil Adolf von Behring und Shibasaburo Kitasato sogenannte Antitoxine im Serum von Patienten nachweisen, welche die Diphtherie überstanden hatten. Emil Adolf von Behring begann auch damit, diese Antiseren zur Behandlung von Diphtherie einzusetzen. Er erhielt für seine Forschungsergebnisse den 1901 erstmals verliehenen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Der belgische Bakteriologe Jules Baptiste Vincent Bordet entdeckte 1898, dass eine Erhitzung des Serums auf 55 Grad Celsius zwar kaum Auswirkungen auf die Eigenschaft des Serums hatte, an bestimmte chemische Stoffe zu binden, die bakterienzerstörende Wirkung des Serums ging jedoch verloren. Er postulierte aufgrund dieser Entdeckung die Existenz einer hitzeempfindlichen Komponente im Serum, die für die Wirkung des Serums auf Bakterien notwendig war, und nannte diese Komponente „Alexin“. Paul Ehrlich beschäftigte sich in den folgenden Jahren mit der Untersuchung dieser Komponente und führte den noch heute verwendeten Begriff „Komplement“ ein. Entstehung von zwei Denkrichtungen Zum Beginn des 20. Jahrhunderts teilte sich die immunologische Forschung in zwei Betrachtungsweisen. Die Humoralimmunologen, die prominentesten von ihnen Paul Ehrlich und Emil Adolf von Behring, vertraten die Ansicht, dass die Grundlagen der Infektionsabwehr in Substanzen im Blutserum, also den Antitoxinen zu suchen seien. Diese Theorie war um 1900 und in den folgenden Jahrzehnten die vorherrschende Auffassung. Daneben entwickelte sich die Ansicht der Zellularimmunologen, insbesondere basierend auf den Arbeiten von George Nuttall sowie Ilja Iljitsch Metschnikow ab etwa 1883/1884. Metschnikow konnte anhand von Untersuchungen zur Wirkung von weißen Blutkörperchen auf Bakterien die Bedeutung körpereigener zellulärer Prozesse für die Abwehr von Krankheitserregern nachweisen. Wie sich später zeigen sollte, sind beide Aspekte gleichermaßen am Wirken des Immunsystems und an der Immunantwort beteiligt. Es dauerte allerdings bis etwa 1940, bis die Auffassungen der Zellularimmunologen allgemeine Anerkennung fanden und die Annahme, dass Antikörper der Hauptmechanismus der Immunabwehr wären, aufgegeben wurde. Im Jahr 1901 entdeckte Karl Landsteiner das AB0-Blutgruppensystem und leistete damit einen weiteren wichtigen Beitrag zum Verständnis des Immunsystems. Clemens Peter Freiherr von Pirquet stellte 1906 fest, dass Patienten bei einer wiederholten Gabe von Pferdeserum eine heftige Reaktion auf die zweite Behandlung zeigten. Er prägte für diese Überempfindlichkeitsreaktion den Begriff „Allergie“. Emil von Dungern und Ludwik Hirszfeld veröffentlichten 1910 ihre Ergebnisse zur Vererbung der Blutgruppen und damit erstmals Ergebnisse zur Genetik von Komponenten des Immunsystems. In dieser Arbeit schlugen die beiden auch die Bezeichnung „AB0“ als neue Nomenklatur vor – international verbindlich wurde diese jedoch erst 1928 eingeführt. 1917 beschrieb Karl Landsteiner erstmals das Konzept der Haptene, kleiner Moleküle, die bei Kopplung an ein Protein eine Immunreaktion mit Bildung spezifischer Antikörper auslösen können. Lloyd Felton gelang 1926 die Aufreinigung von Antikörpern aus Serum. In den 1930er Jahren konnte dann Michael Heidelberger zeigen, dass es sich bei Antikörpern hinsichtlich ihrer chemischen Natur um Proteine handelt. Darüber hinaus gelang ihm gemeinsam mit Elvin A. Kabat der Nachweis, dass Antikörper der Gamma-Fraktion der im Serum vorhandenen Globuline entsprechen. Im gleichen Zeitraum entwickelte John Marrack erstmals eine Theorie zur spezifischen Erkennung von Antigenen durch Antikörper. Entwicklung der modernen Immunologie Peter Alfred Gorer entdeckte in den 1930er Jahren bei Studien mit Mäusen zur Abstoßung von transplantierten Tumoren die H-2-Antigene der Maus und damit den ersten Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC). Ebenfalls durch Untersuchungen zur Transplantatabstoßung konnten Peter Medawar und Thomas Gibson wichtige Funktionen von Immunzellen aufklären. Damit begann die endgültige Anerkennung der zellulären Immunologie. Im Jahr 1948 fand Astrid Fagraeus heraus, dass Antikörper durch die B-Zellen im Plasma produziert werden. Ein Jahr später veröffentlichten Frank Macfarlane Burnet und Frank Fenner ihre Hypothese der immunologischen Toleranz, die wenige Jahre später von Jacques Miller mit der Entdeckung der Elimination autoreaktiver T-Zellklone im Thymus bewiesen wurde. 1957 beschrieb Frank Macfarlane Burnet die Klon-Selektionstheorie als das zentrale Prinzip der adaptiven Immunität. Der Brite Alick Isaacs und der Schweizer Jean Lindenmann entdeckten 1957 bei der Untersuchung der Auswirkungen von Virusinfektionen auf Zellkulturen, dass die Zellen für die Dauer einer Virusinfektion weitestgehend resistent gegenüber einer zweiten Infektion durch ein anderes Virus waren. Sie isolierten aus den infizierten Zellkulturen ein Protein, das sie Interferon (IFN) nannten. Zum Ende der 1960er und zum Beginn der 1970er Jahre entdeckten dann John David und Barry Bloom unabhängig voneinander den Makrophagen migrationsinhibierenden Faktor (Macrophage migration inhibitory factor, MIF) und eine Reihe weiterer Substanzen, die von Lymphozyten abgegeben werden. Dudley Dumonde prägte für diese Substanzen den Begriff „Lymphokine“. Stanley Cohen, der 1986 für seine Entdeckung der Wachstumsfaktoren NGF und EGF den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin bekam, begann in den frühen 1970er Jahren zusammen mit Takeshi Yoshida, die Funktionen der als Lymphokine bezeichneten Faktoren zu untersuchen. Sie erkannten dabei, dass diese Substanzen zu einer Gruppe von hormon-ähnlichen Botenstoffen gehören, die von vielen verschiedenen Zellen des Immunsystems gebildet werden. Stanley Cohen schlug deshalb 1974 den Begriff „Zytokine“ vor, der sich mit der Entdeckung weiterer dieser Stoffe schnell durchsetzte. Mittlerweile sind neben den genannten Faktoren über 100 weitere Zytokine bekannt und in ihrer Struktur und Funktion detailliert untersucht. Die Zeit um 1960 wird allgemein als Beginn der modernen Immunologie angesehen. Rodney Porter gelang es zwischen 1959 und 1961, die Struktur von Antikörpern aufzuklären. Zur gleichen Zeit entdeckte Jean Dausset den Haupthistokompatibilitätskomplex des Menschen, den so genannten „Human Leukocyte Antigen“-Komplex (HLA-Komplex). Ab etwa 1960 wurden von einer Reihe von Wissenschaftlern auch die Grundlagen der zellulären Immunologie aufgeklärt, was unter anderem zur Differenzierung und Beschreibung der B- und T-Lymphozyten und der Entdeckung ihrer jeweiligen Funktionen durch Jacques Miller führte. Damit setzte sich die Einteilung der Immunabwehr in einen humoralen und einen zellulären Bereich durch. In den folgenden Jahrzehnten wurden unter anderem die verschiedenen Antikörper-Subtypen entdeckt und hinsichtlich ihrer Funktion untersucht. 1975 beschrieben Georges Köhler und César Milstein die Gewinnung monoklonaler Antikörper. Aufgrund der weitreichenden Folgen dieser Entdeckung für die Grundlagenforschung sowie die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen erhielten sie 1984 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Weitere wichtige Erkenntnisse betrafen die genetischen Grundlagen der Immunologie wie die Beschreibung der MHC-Restriktion durch Rolf Zinkernagel im Jahr 1974, die Identifizierung von Immunglobulin-Genen 1985 durch Susumu Tonegawa und von T-Zell-Rezeptor-Genen durch Leroy Hood ebenfalls ab etwa 1985. Seit 2002 besteht die European Autoimmunity Standardisation Initiative. In Deutschland gab es im Jahr 2019 in Deutschland nur sechs Fachärzte für Immunologie. Forschungsgegenstand Zentraler Forschungsgegenstand der Immunologie ist das Immunsystem der Säugetiere. Dabei handelt es sich um ein komplexes System von Molekülen und Zellen, durch das die Erkennung und Inaktivierung von körperfremden Strukturen realisiert wird. Die Reaktionen dieses Systems auf solche Strukturen werden unter dem Begriff Immunantwort zusammengefasst. Die Organe des Körpers, die für die Immunantwort zuständig sind, werden zusammen mit den Lymphgefäßen als lymphatisches System bezeichnet. Für das Funktionieren der Immunantwort ist darüber hinaus der Blutkreislauf von entscheidender Bedeutung. Die Forschung in der Immunologie befasst sich vorrangig mit medizinischen und klinischen Aspekten der Immunantwort, also beispielsweise ihrer Fehlregulation bei bestimmten Erkrankungen sowie ihrer gezielten Beeinflussung zur Behandlung von Krankheiten. Ein weiteres wichtiges Forschungsgebiet ist die Anwendung von immunologischen Methoden für analytische und diagnostische Zwecke. Die Immunologie lässt sich nach dem untersuchten Teilaspekt, der verwendeten Methodik und der Betrachtungsebene in verschiedene Teildisziplinen untergliedern. Zelluläre Immunologie Die zelluläre Immunologie befasst sich mit den Zellen des Immunsystems und den von ihnen ausgehenden Reaktionen. Zu den Zellen des angeborenen Immunsystems gehören beispielsweise die Neutrophilen Granulozyten, die auch als Fresszellen bezeichneten Makrophagen, sowie die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen). Das adaptive Immunsystem umfasst auf zellulärer Ebene die B-Lymphozyten und die T-Lymphozyten. Im Gegensatz zum angeborenen Immunsystem kann das adaptive Immunsystem eine spezifische Reaktion gegen bestimmte körperfremde Strukturen ausbilden, allerdings erst nach einem erstmaligen Kontakt. Für das angeborene Immunsystem ist ein solcher Erstkontakt nicht notwendig. Humorale Immunologie Die humorale Immunologie beschäftigt sich mit den auf Proteinen basierenden Prozessen des Immunsystems. Zu diesen gehört, im Rahmen der angeborenen Immunantwort, das Komplementsystem. Im adaptiven Teil des Immunsystems sind Antikörper für die humorale Immunantwort zuständig. Ein weiteres wichtiges Forschungsthema der humoralen Immunologie sind die Zytokine. Dabei handelt es sich um Proteine, die die Regulation des Immunsystems und die Kommunikation seiner verschiedenen Komponenten steuern. Weitere Teildisziplinen Die Immunchemie untersucht die Struktur und Eigenschaften von Antigenen und Antikörpern sowie die chemischen Grundlagen der Immunantwort. Eine wichtige Anwendung der Immunchemie sind diagnostische und analytische Verfahren auf der Basis der Antigen-Antikörper-Reaktion, wie zum Beispiel die Immunhistochemie. Die Immungenetik beschäftigt sich mit den genetischen Grundlagen des Immunsystems, also beispielsweise der genetisch bedingten Variabilität von Immunreaktionen sowie den Mechanismen der Erzeugung von Antikörpern, T-Zell-Rezeptoren und antigenpräsentierenden Komplexen. Die Immunpathologie und die klinische Immunologie widmen sich den medizinischen Aspekten der Immunologie. Invertebratenimmunologie Aus historischen Gründen beschäftigt sich die Immunologie hauptsächlich mit dem Immunsystem von Wirbeltieren (Vertebraten), insbesondere dem der Säugetiere. Dies liegt vor allem an den medizinischen Ursprüngen der Immunologie und hat dazu geführt, dass auch in Lehrbüchern und anderen Veröffentlichungen die Immunologie oft nur mit der Immunabwehr bei Säugetieren als Forschungsgegenstand dargestellt wird. Ein Teilbereich der immunologischen Forschung widmet sich jedoch auch dem Immunsystem von wirbellosen Tieren (Invertebraten). Dieses ist im Vergleich zum Immunsystem der Wirbeltiere gekennzeichnet durch das Fehlen eines adaptiven Immunsystems und damit durch weitestgehend unspezifische Abwehrvorgänge, durch das Vorhandensein von differenzierten biochemischen Abwehrmechanismen in Form von antimikrobiellen Faktoren sowie durch ausgeprägte anatomische Strukturen zur mechanischen Verhinderung des Eindringens von Krankheitserregern und körperfremden Substanzen. Innerhalb des zellulären Immunsystems der wirbellosen Tiere nehmen phagozytierende Zellen eine zentrale Rolle ein. Ziel dieser Forschung ist es zum einen, die Evolution des Immunsystems und damit auch seine Funktionen besser zu verstehen. Durch den Vergleich der Abwehrmechanismen verschiedener Tiere ist es möglich zu erkennen, welche Teilaspekte ihnen gemeinsam sind und wie sich diese entwickelt haben. Man spricht deshalb auch von vergleichender Immunologie. Weitere Bereiche, auf die sich die Forschung zur Immunologie der Invertebraten auswirkt, sind die Ökotoxikologie sowie die Schädlingsbekämpfung und Hygiene. Innerhalb der biomedizinischen Forschung ermöglicht das Verständnis der Immunabwehr von wirbellosen Tieren, diese in Teilbereichen als Modellorganismen zu nutzen. Einzelne biochemische Komponenten des Immunsystems von Invertebraten lassen sich möglicherweise auch zu therapeutischen und diagnostischen Zwecken einsetzen. Pathophysiologische Aspekte Das Immunsystem ist an einer Vielzahl von Krankheiten und anderen klinisch bedeutsamen Vorgängen direkt oder indirekt beteiligt. Diese lassen sich anhand der zugrundeliegenden Mechanismen unterscheiden. Abwehr von Krankheitserregern Bei Infektionen mit Bakterien, Viren, Protozoen oder Pilzen erfolgt im Normalfall eine Abwehr des Eindringens und der Ausbreitung der Krankheitserreger durch das Immunsystem. Unter bestimmten Bedingungen kann die Immunreaktion jedoch versagen oder nur ungenügend sein, so dass sich eine Infektion ausbreitet und vom Immunsystem nicht mehr angemessen kontrolliert wird. Dies kann dazu führen, dass eine Infektion chronisch wird, die Krankheitserreger also ständig im Körper verbleiben und dauerhaft oder schubweise entsprechende Symptome verursachen. Eine schwere generalisierte Infektion, also die Ausbreitung von einem lokalen Infektionsort über die Blutbahn im gesamten Körper, wird als Sepsis bezeichnet. Aufgrund massiver Reaktionen des Körpers verläuft diese oft tödlich. Fehlgeleitete oder überschießende Immunantwort Den so genannten Autoimmunerkrankungen liegt eine fehlgeleitete Reaktion des Immunsystems gegen körpereigene Strukturen zugrunde. Diese Reaktionen können entweder zur irreversiblen Zerstörung von körpereigenem Gewebe führen oder körpereigene Moleküle wie zum Beispiel Rezeptoren und Hormone in ihrer Funktion beeinträchtigen. Zu den Autoimmunerkrankungen zählen beispielsweise der Diabetes mellitus Typ 1, die Hashimoto-Thyreoiditis, die Myasthenia gravis, der Morbus Basedow sowie die meisten entzündlich-rheumatischen Krankheiten, unter anderem die Rheumatoide Arthritis. Bei Allergien, auch als Überempfindlichkeitsreaktion bezeichnet, kommt es zu einer überschießenden Reaktion des Immunsystems auf bestimmte körperfremde Strukturen. Voraussetzung für die Entstehung einer Allergie ist ein harmlos verlaufender Erstkontakt mit dem als Allergen bezeichneten Fremdstoff. Durch diesen Erstkontakt kommt es zur so genannten Sensibilisierung, das heißt der Ausprägung einer spezifischen Immunantwort. Jeder erneute Kontakt mit dem Allergen kann dann zu einer übermäßig starken Reaktion des Immunsystems führen. Allergien sind besonders häufig gegen pflanzliche Pollen, Tierhaare, Lebensmittelbestandteile und Medikamente. Eine Mischform aus Allergie und Autoimmunerkrankung ist die Zöliakie, bei der es zu einer Kreuzreaktion auf das in den meisten Getreidesorten enthaltene Kleber-Eiweiß Gluten und bestimmte Strukturen im Dünndarmgewebe kommt. Unzureichende Immunantwort und Immuninsuffizienz Zu den Erkrankungen, die durch eine ungenügende Immunabwehr (Immuninsuffizienz) gekennzeichnet sind, zählen beispielsweise das erworbene Immunschwäche-Syndrom AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome), das durch eine Infektion mit dem HI-Virus ausgelöst wird. Schwere angeborene Immunschwächeerkrankungen, bei denen gleichzeitig („kombiniert“) der humorale und der zelluläre Teil des adaptiven Immunsystems betroffen sind, werden unter der Bezeichnung Severe Combined Immunodeficiency (SCID) zusammengefasst. Patienten mit einer angeborenen oder erworbenen Immunschwäche besitzen eine hohe Anfälligkeit für Infektionserkrankungen, die mit fortschreitender Immunschwäche in der Regel auch zum Tod führen. Auch bei Krebserkrankungen spielt das Immunsystem eine wichtige Rolle. Patienten mit einer Immunschwäche, zum Beispiel durch eine immunsuppressive Behandlung nach einer Organtransplantation oder durch eine HIV-Infektion, zeigen eine deutlich erhöhte Häufigkeit bestimmter Krebserkrankungen. Das Immunsystem ist dabei für die Kontrolle entarteter Zellen verantwortlich, so dass diese inaktiviert werden, bevor ein manifester Tumor entstehen kann. Das Teilgebiet der Immunologie, das sich mit den immunologischen Vorgängen bei der Entstehung, dem Verlauf und der Bekämpfung von Tumoren befasst, ist die Tumorimmunologie. Die Krebsimmuntherapie umfasst eine Reihe immunologischer Therapieansätze. Immunantwort gegen Transplantate und Implantate Von entscheidender Relevanz sind immunologische Prozesse bei der Transplantation von Spenderorganen. Da transplantierte Organe vom Immunsystem als körperfremd erkannt werden, kommt es zu einer entsprechenden Immunantwort. Unbehandelt führt diese zur Abstoßung und damit dem Funktionsverlust des betreffenden Organs. Umgekehrt können aber auch, zum Beispiel bei einer Stammzelltransplantation, in einem Transplantat enthaltene Immunzellen eine Immunreaktion gegen den Empfängerorganismus verursachen, man spricht dann von der Graft-versus-Host-Reaktion. In der Folge ist zum Erhalt des Organs eine lebenslange Behandlung der betroffenen Patienten mit so genannten Immunsuppressiva notwendig, also Medikamenten, welche die kurz- und langfristig vorhandenen Immunreaktionen unterdrücken. Ähnlich wie bei der Transplantation von fremden Organen oder Geweben ist das Immunsystem auch an der Reaktion des Körpers gegen Implantate entscheidend beteiligt. Implantate bestehen beispielsweise aus Metallen oder Kunststoffen und werden für vielfältige Aufgaben eingesetzt, unter anderem zum vorübergehenden oder dauerhaften Ersatz von Knochen oder Blutgefäßen, als plastische Implantate zur Ausformung bestimmter Körperstrukturen und zum Zahnersatz, sowie zum Ersatz oder zur Unterstützung von körpereigenen Organen bei ihrer Funktion, wie zum Beispiel Cochleaimplantate oder Herzschrittmacher. Da Implantate aus körperfremdem Material bestehen, sind sie vielfältigen Prozessen der Immunabwehr ausgesetzt, insbesondere einer chronisch vorhandenen Entzündungsreaktion. Die immunologische Verträglichkeit dieser Materialien ist damit ein wichtiger Aspekt ihrer Biokompatibilität und trägt entscheidend zur dauerhaften Funktion des Implantats bei. Therapeutische Anwendungen Immunmodulation Eine Reihe von therapeutischen Anwendungen, die auf Erkenntnissen und Prinzipien der Immunologie beruhen, lassen sich unter dem Begriff Immunmodulation zusammenfassen. Dies betrifft alle Therapieansätze, die auf einer gezielten Beeinflussung von bestimmten Prozessen oder Komponenten des Immunsystems beruhen. Weit verbreitet sind beispielsweise Impfungen, bei denen durch die Gabe von Antigenen das Immunsystem zur Ausbildung einer Immunantwort gegen diese Antigene angeregt wird. Impfungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Prävention von Infektionskrankheiten. Darüber hinaus gibt es erste Erfolge hinsichtlich einer Impfung gegen krebsassoziierte Viren wie beispielsweise das humane Papillomvirus. Auf dem gleichen Prinzip wie Impfungen beruht die als Krebsimmuntherapie bezeichnete Sensibilisierung des Immunsystems auf tumorspezifische Strukturen bei Krebserkrankungen. Ein weiterer Ansatz aus dem Bereich der Immunmodulation wird mit den Begriffen Hyposensibilisierung beziehungsweise „Spezifische Immuntherapie (SIT)“ bezeichnet. Ziel dabei ist, eine so genannte Immuntoleranz des Körpers gegen bestimmte Antigene zu erreichen. Das bedeutet, dass vorhandene Abwehrreaktionen des Körpers gegen diese Antigene verringert werden. Erreicht werden soll dies durch die wiederholte Gabe der entsprechenden Antigene mit schrittweiser Steigerung der Dosis. Von therapeutischer Relevanz ist die Hyposensibilisierung bei allergischen Erkrankungen. Darüber hinaus gibt es Studien zur Anwendung bei Autoimmunkrankheiten. Unter dem Begriff Immunsuppression werden Therapien zusammengefasst, deren Ziel die Unterdrückung von unerwünschten immunologischen Prozessen ist. Möglich ist dies durch Medikamente, die in verschiedene Prozesse der Immunabwehr eingreifen. Angewandt werden diese Medikamente vor allem zur Verhinderung der Abstoßung von transplantierten Organen. Darüber werden immunsuppressive Therapien auch bei Autoimmunerkrankungen getestet. Eine Immunstimulation, also die Anregung des Immunsystems und die Verstärkung der Immunantwort, ist ebenfalls möglich. Dazu können beispielsweise bestimmte körpereigene Proteine therapeutisch eingesetzt werden, die eine Rolle bei der Regulation des Immunsystems spielen. Am häufigsten werden hierzu bestimmte Zytokine verwendet. Von Relevanz sind entsprechende Therapien insbesondere bei Virusinfektionen. Therapeutische Antikörper Eine weitere wichtige Anwendung immunologischer Prinzipien zur Behandlung von Krankheiten sind therapeutische Antikörper. Dabei handelt es sich um Antikörper, also Globulin-Proteine des Immunsystems, die biotechnologisch hergestellt werden und gezielt gegen bestimmte Strukturen im Körper gerichtet sind. Diese Strukturen, für die vorher eine Relevanz bei bestimmten Erkrankungen nachgewiesen wurde, werden durch die therapeutischen Antikörper in ihrer Wirkung blockiert oder neutralisiert. Oft handelt es sich bei diesen Zielstrukturen um Proteine auf der Oberfläche von Zellen, wie zum Beispiel Transportproteine, Signalproteine oder Rezeptoren, aber auch um lösliche Proteine im Serum wie Zytokine oder Hormone. Therapeutische Antikörper sind mittlerweile unter anderem zugelassen zur Behandlung von verschiedenen Krebserkrankungen, von Autoimmunerkrankungen, von Allergien sowie zur Verhinderung der Abstoßung von Transplantaten. Antiseren Antikörper werden darüber hinaus auch als Antiserum gegen bestimmte Giftstoffe eingesetzt. Zur Gewinnung dieser Antiseren werden Tieren wie beispielsweise Pferden kleine Mengen der entsprechenden Gifte injiziert. Diese Tiere entwickeln daraufhin spezifische Antikörper in ihrem Blut, welche die Giftstoffe in ihrer Wirkung neutralisieren. Nach der Gewinnung und Reinigung der entsprechenden Antikörper aus dem Blut dieser Tiere können diese zur akuten Behandlung von Vergiftungen, beispielsweise nach Schlangenbissen, eingesetzt werden. Entsprechend gewonnene Antiseren werden darüber hinaus auch zur sogenannten passiven Immunisierung gegen bestimmte Infektionskrankheiten verwendet, wenn für eine aktive Immunisierung durch eine reguläre Impfung nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht oder kein Impfstoff für eine aktive Immunisierung verfügbar ist. Tierische Antiseren rufen jedoch bei wiederholter Anwendung selbst eine Immunreaktion hervor. Aus diesem Grund wird in der Regel eine aktive Immunisierung bevorzugt, wenn diese möglich ist. Als Notfallmaßnahme erfolgt eine passive Immunisierung bei Verdacht auf eine Tollwutinfektion. Immunologische Diagnostik Immunologische Labormethoden spielen eine große Rolle bei der Diagnostik von Erkrankungen und in der biomedizinischen Grundlagenforschung. Als Immunassays werden alle Verfahren bezeichnet, die zum qualitativen oder quantitativen Nachweis von bestimmten Strukturen in Flüssigkeiten die spezifische Erkennung von Antigenen durch Antikörper nutzen. Immunassays werden zur Identifikation von Krankheitserregern ebenso genutzt wie zur Untersuchung von Körperflüssigkeiten auf das Vorhandensein von bestimmten körpereigenen Proteinen, die bei Krankheiten als spezifische Biomarker gelten. Für eine Reihe von Erkrankungen, insbesondere Allergien, Autoimmunerkrankungen und Infektionen, ist als Teil der Diagnose und zur Verlaufskontrolle der Nachweis von spezifischen Antikörpern möglich. Immunassays werden aber beispielsweise auch als Schwangerschaftstests verwendet. Weitere Anwendungen in der Medizin sind die Identifizierung von Giftstoffen und Rauschdrogen, die Überwachung von Arzneistoffen im Körper (Drug monitoring), oder der Nachweis bestimmter Dopingsubstanzen in der Sportmedizin. Außerhalb der medizinischen Diagnostik werden Immunassays beispielsweise in der Umwelt-, Lebensmittel- und Agraranalytik eingesetzt, unter anderem zum Nachweis von Umweltgiften, von Allergenen in Lebensmitteln oder von genetisch veränderten Organismen. Bei Organtransplantationen, bei der Übertragung von Knochenmark und bei Blutspenden wird durch die molekulargenetische Charakterisierung bestimmter Histokompatibilitätsmarker eine möglichst große Übereinstimmung zwischen Spender und Empfänger sichergestellt. Die Immunhistochemie nutzt Antikörper zum Anfärben spezifischer Strukturen in mikroskopischen Präparaten und ist damit eine wichtige Anwendung immunologischer Prinzipien in der pathologischen Diagnostik. Bei der Durchflusszytometrie und der Magnetic Cell Separation (MACS) werden Antikörper verwendet, um auf Zellen bestimmte Oberflächenstrukturen nachzuweisen und dadurch Zellgemische aufzutrennen oder hinsichtlich ihrer Zusammensetzung zu analysieren. Für die klinische Diagnostik ist dies beispielsweise in der Hämatologie für die Untersuchung der Zellverteilung im Blut von Bedeutung. Literatur Lothar Rink, Andrea Kruse, Hajo Haase: Immunologie für Einsteiger. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2011, ISBN 978-3-82-742439-6 Barbara Bröker, Christine Schütt, Bernhard Fleischer: Grundwissen Immunologie. Springer Spektrum, Berlin 2019, ISBN 978-3-662-58329-6 Charles Janeway, Paul Travers, Mark Walport, Mark Shlomchik: Immunologie. 5. Auflage, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1079-7; Onlineversion, 5th edition, 2001, (englisch) Werner Luttmann, Kai Bratke, Michael Küpper, Daniel Myrtek: Der Experimentator: Immunologie. 2. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2006, ISBN 3-8274-1730-9 Arnold Hilgers, Inge Hoffmann: Gesund oder krank. Das Immunsystem entscheidet. Springer, Berlin 1995, ISBN 3-540-59226-1 Ivan M. Roitt, Jonathan Brostoff, David K. Male: Kurzes Lehrbuch der Immunologie. 3. Auflage. Thieme, Stuttgart 1995, ISBN 3-13-702103-0 Abul K. Abbas, Andrew H. Lichtman: Cellular and Molecular Immunology. Saunders (W.B.) Company, Philadelphia 2005, ISBN 1-4160-2389-5 Hans Schadewaldt: Die Anfänge der Immunbiologie: Emil Behrings Serumtherapie. In: Heinz Schott (Hrsg.): Meilensteine der Medizin. Harenberg Verlag, Darmstadt 1996, S. 375–380, 597 f. und 660 f. David E. Normansell: The Principles and Practice of Diagnostic Immunology. Wiley-VCH, Weinheim 1994, ISBN 1-56081-534-5 Jules A. Hoffmann, Charles A. Janeway Jr., Shunji Natori: Phylogenetic Perspectives in Immunity, The Insect Host Defense. RG Landes Company, Austin TX 1994, ISBN 1-57059-043-5 Valerie J. Smith: Invertebrate Immunology: Phylogenetic, Ecotoxicological and Biomedical Implications. In: Comparative Haematology International. 1/1991. Springer London, S. 61–76, Weblinks Deutsche Gesellschaft für Immunologie (DGfI) Microbiology and Immunology On-line (englisch) NCBI Bookshelf: Immunobiology – The Immune System in Health and Disease (englisch) Einführung in die Immunologie Videoaufzeichnungen einer Vorlesung. Von TIMMS, Tübinger Internet Multimedia Server der Universität Tübingen. Einzelnachweise Medizinisches Fachgebiet
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https://de.wikipedia.org/wiki/Erkelenz
Erkelenz
Erkelenz ist eine Stadt im Rheinland. Sie liegt rund 15 Kilometer südwestlich von Mönchengladbach am Nordrand der Kölner Bucht auf halbem Weg zwischen Niederrhein und Niedermaas. Sie ist eine mittlere kreisangehörige Stadt und die größte im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen. Während die Stadt auf mehr als 1000 Jahre Geschichte und Tradition zurückblickt, werden seit 2006 bis in das Jahr 2030 die östlich gelegenen Teile des Stadtgebietes durch den Braunkohletagebau Garzweiler II der RWE Power AG zerstört. Über fünftausend Menschen aus zehn Ortschaften müssen deshalb umgesiedelt werden. Die Dörfer Pesch, Borschemich und Immerath wurden eingeebnet. Als Ersatz wurden Immerath (neu) bei Kückhoven, Pesch an einer Straße in Kückhoven und Borschemich (neu) an dem Stadtteil Erkelenz-Nord angelegt. Die Räumung des Weilers Lützerath wurde im Januar 2023 durch Klimaschutzaktivisten verzögert. Geographie Landschaft Das Landschaftsbild ist von der flachwelligen bis fast ebenen Jülich-Zülpicher Börde geprägt, deren fruchtbarer Lössboden überwiegend landwirtschaftlich genutzt wird. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche umfasst 20 Prozent des Stadtgebietes, 75 Prozent werden landwirtschaftlich genutzt und nur zwei Prozent sind bewaldet. Der Wahnenbusch, das größte zusammenhängende Waldgebiet, erstreckt sich südlich der Stadt bei Tenholt und umfasst 25 Hektar. Im Norden beginnt die wald- und wasserreiche Landschaft der Schwalm-Nette-Platte, eines Teilgebiets des Niederrheinischen Tieflandes. Im Westen, jenseits des Stadtgebietes, liegt 30 bis 60 Meter tiefer die Rurniederung. Der Übergang wird vom Baaler Riedelland eingenommen. Bäche haben hier eine abwechslungsreiche Landschaft von Berg und Tal geschaffen. Im Osten befindet sich das Niersquellgebiet bei Kuckum und Keyenberg. Südlich steigt die Landschaft zur Jackerather Lößschwelle hin an. Der niedrigste Punkt misst (Niersgebiet im Nordosten und Nähe Ophover Mühle im Südwesten) und der höchste Punkt (Stadtgrenze bei Holzweiler/Immerath im Süden). Klima Das Klima wird vom atlantischen Golfstrom im Übergang zwischen ozeanischem und kontinentalem Klima beeinflusst. Es herrschen Südwestwinde vor und Niederschläge gibt es zu allen Jahreszeiten. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt etwa 710 mm, wobei August der niederschlagsreichste und September der niederschlagsärmste Monat ist. Die Sommer sind warm und die Winter mild. Im Juli liegt die mittlere Temperatur bei 19 °C, im Januar bei 3 °C. Die Dauer der kalten Periode mit einem Temperatur-Minimum unter 0 °C beträgt im langjährigen Mittel 50 Tage, die Anzahl der Sommertage mit Temperaturen über 25 °C liegt bei 30 Tagen, wobei es zusätzlich acht Tropentage mit Tagestemperaturen von mehr als 30 °C und Nachttemperaturen über 20 °C geben kann und insgesamt an 20 Tagen mit Gewittern zu rechnen ist. Der Frühling, der nach der Blüte von Kirsche, Apfel, Birne bemessen wird, zieht zwischen dem 29. April und dem 5. Mai ein. Der Hochsommer, der mit der Ernte des Winterroggens einsetzt, beginnt zwischen dem 10. und 16. Juli. Geologie Die Erkelenzer Börde ist der nördliche Ausläufer der Jülicher Börde und wird aus einer Lößplatte gebildet, die hier im Durchschnitt eine Mächtigkeit von über elf Metern besitzt. Darunter stehen Kiese und Sande der eiszeitlichen Hauptterrasse an, angelagert von Rhein und Maas. Eingebettet in den Löß sind stellenweise Linsen aus Mergel, die bis in das 20. Jahrhundert hinein zur Kalk-Gewinnung zum Teil auch durch Anlegen von Schächten und Stollen unter Tage abgebaut wurden. Im Tertiär bildete sich entlang von Verwerfungslinien der Erkelenzer Horst. Östlich des Horstes verläuft die Venloer Scholle, westlich die Rurscholle, im Süden die Erftscholle und der Jackerather Horst. Ein kleinerer Abschnitt des Horstes wird vom Wassenberger Horst eingenommen. Mächtige Braunkohlenflöze aus dem Tertiär und Steinkohlenflöze aus dem Karbon befinden sich im Untergrund. Der Erkelenzer Horst gehört zum Erdbebengebiet Kölner Bucht. Stadtgebiet Das Stadtgebiet hat eine Ausdehnung in Ost-West-Richtung von 20 und in Nord-Süd-Richtung von elf Kilometern. Es grenzt an folgende Gemeinden: Stadt Wegberg (8 Kilometer nördlich, Kreis Heinsberg), kreisfreie Stadt Mönchengladbach (15 Kilometer nordöstlich), Stadt Jüchen (14 Kilometer östlich, Rhein-Kreis Neuss), Gemeinde Titz (zwölf Kilometer südöstlich, Kreis Düren), Stadt Linnich (elf Kilometer südwestlich, Kreis Düren), Stadt Hückelhoven (sieben Kilometer westlich, Kreis Heinsberg), Stadt Wassenberg (elf Kilometer nordwestlich, Kreis Heinsberg). Die Stadtgrenze zu den Städten Mönchengladbach und Jüchen ist auch zugleich die Grenze zwischen den Regierungsbezirken Köln und Düsseldorf. Laut Hauptsatzung ist die Stadt Erkelenz in folgende neun Stadtbezirke mit insgesamt 46 Dörfern und Weilern eingeteilt (Einwohner: Stand 30. Juni 2017): Stadtbezirk 1: Erkelenz mit den in ihr aufgegangenen Orten Oestrich und Buscherhof sowie Borschemich, Borschemich (neu), Bellinghoven und Oerath, insgesamt 20.556 Einwohner Stadtbezirk 2: Gerderath mit Fronderath, Gerderhahn, Moorheide und Vossem, insgesamt 5198 Einwohner Stadtbezirk 3: Schwanenberg mit Geneiken, Genfeld, Genhof, Grambusch und Lentholt, insgesamt 2291 Einwohner Stadtbezirk 4: Golkrath mit Houverath, Houverather Heide, Hoven und Matzerath, insgesamt 2061 Einwohner Stadtbezirk 5: Granterath und Hetzerath mit Commerden, Genehen, Scheidt und Tenholt, insgesamt 3409 Einwohner Stadtbezirk 6: Lövenich mit Katzem und Kleinbouslar, insgesamt 4120 Einwohner Stadtbezirk 7: Kückhoven, insgesamt 2322 Einwohner Stadtbezirk 8: Keyenberg und Venrath mit Berverath, Etgenbusch, Kaulhausen, Kuckum, Mennekrath, Neuhaus, Oberwestrich, Terheeg, Unterwestrich und Wockerath, insgesamt 3884 Einwohner Stadtbezirk 9: Holzweiler und Immerath (neu) mit Lützerath und Pesch (2010 abgerissen), insgesamt 2245 Einwohner Geschichte Vor- und Frühgeschichte Aus dem gesamten heutigen Stadtgebiet liegen Funde von Feuersteinschlagplätzen der älteren bis jüngeren Steinzeit vor. Bei Gut Haberg, gelegen nördlich von Lövenich, existiert eine überregional bedeutende Fundstelle. In der Nähe von Kückhoven wurde 1990 ein Holzbrunnen entdeckt, der zu einer Siedlung der Bandkeramiker gehörte und um 5100 v. Chr. erbaut wurde. Damit stellt er eines der ältesten Holzbauwerke der Welt dar. Nördlich der alten Ortslage von Erkelenz, am heutigen Marienweg, lagen drei Brandgräber, nordwestlich bis südlich zahlreiche Trümmerstätten. Römische Ziegel, Hypokaustenziegel und Scherben stammen vom Markt südlich des Rathauses. Hier in der Südwestecke und östlich vom Chor der katholischen Pfarrkirche stieß man auf mit Feldsteinen eingefasste Urnengräber aus der frühen fränkischen Zeit von 300 bis 500 n. Chr. Am Süd- und Südostrand des Marktes fand man auch Kugeltöpfe im Stil der Badorfer Keramik aus karolingischer Zeit. 1906 entdeckte man in Kleinbouslar eine römische Jupitersäule aus dem Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. Der Erkelenzer Chronist Mathias Baux schrieb im 16. Jahrhundert, dass „Die bussche sein in middelen tiden utgerodet und der boden to fruchtbarm lande gemacht, so dat uth der rouwer wildtnisse ein kornreicher gelends und overall ein lustig paradis woirden is.“ Aus der Sicht des Mathias Baux waren die mittleren Zeiten das 8. Jahrhundert, was sich mit der Entstehung des karolingischen Reiches deckt. Unter der heutigen katholischen Pfarrkirche lagen beigabenlose fränkische und mittelalterliche Gräber sowie Bruchstücke von Badorfer Keramik und römischen Ziegeln. Ortsname Eine fiktive Erka wurde von Mathias Baux in dessen frühneuzeitlicher Stadtchronik, als mythologische Gründerin und somit als Namensgeberin von Erkelenz ersonnen. Die heutige Ortsnamenforschung aber ordnet Erkelenz den für das linksrheinische Gebiet charakteristischen Ortsnamen mit dem galloromanischen Suffix -(i)acum zu. Der erstmals im Jahre 966 n. Chr. in einer von Otto dem Großen besiegelten, allerdings nur in einer Abschrift aus dem 11. Jahrhundert erhaltenen Urkunde als herklenze bezeugte Ortsname geht damit auf ein *fundus herculentiacus ‚herkulentisches Gut (Gut des Herculentius)‘ zurück. Aus dem adjektivischen Personennamen entwickelte sich der heutige Ortsname. Eine Siedlungskontinuität von der Römer- bis zur Frankenzeit ist archäologisch aber nicht nachweisbar. Daher wurde früher auch postuliert, dass der Name nicht römischen, sondern althochdeutschen Ursprungs sei und das Wort linta ‚Linde‘ enthalte. Grundherrschaft Am 17. Januar 966 erhielt das Marienstift zu Aachen durch Tausch mit dem lothringischen Grafen Immo unter anderen den im Mühlgau in der Grafschaft des Eremfred gelegenen Ort Erkelenz und den Nachbarort Oestrich. Kaiser Otto der Große bestätigte diesen Tausch in der genannten Urkunde bei einem Hoftag in Aachen. Das Stift war nunmehr Eigentümer des gesamten Grund und Bodens in Erkelenz und den umliegenden Dörfern mit der Besonderheit, dass die Landesherrschaft von den Grafen ausgeübt wurde. Später wurden die Güter innerhalb des Stiftes zwischen Propst und Kapitel aufgeteilt. Die Höfe wurden nicht selbst bewirtschaftet, sondern verpachtet. Erst 1803 verlor das Stift diese Eigentumsrechte, als Frankreich die Säkularisation im Rheinland durchführte. Stadtrecht Erkelenz hat im Jahr 1326 von Graf Rainald II. von Geldern das Stadtrecht erhalten, so ist es in der Stadtchronik des Mathias Baux nachzulesen. Eine Urkunde über die Stadtrechtsverleihung existiert aber nicht, weswegen zum Teil statt eines festen Datums ein langjähriger Stadtwerdungsprozess angenommen wird, der sich bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts hingezogen haben soll. Dem steht aber entgegen, dass bereits für das Jahr 1331 ein Schöffensiegel genannt wird, und auch erscheint Erkelenz am 1. Dezember 1343 auf dem geldrischen Städtetag. Im Jahre 1359 wird Erkelenz dann in einer Urkunde als geldrische Stadt bezeichnet und führt den geldrischen Löwen und die geldrische Rose in Siegel und Wappen. Landesherrschaft Seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert hatten mit Gerhard III. von Wassenberg, der identisch ist mit Gerhard I. von Geldern, die Grafen von Geldern die Landesherrschaft auch in Erkelenz inne. Sie waren vom Reich bestellte Vögte und übten Gerichtsbarkeit, Marktschutz und Militärhoheit aus. Kaiser Ludwig der Bayer erhob Geldern 1339 unter Rainald II. dann zum Herzogtum, das in vier Quartiere aufgeteilt war. Erkelenz und seine umliegenden Dörfer gehörten zum Oberquartier Geldern mit dem Hauptort Roermond und war eine Exklave Gelderns im Herzogtum Jülich. Sie bildete mit den nicht isoliert gelegenen weiteren Dörfern Wegberg, Krüchten und Brempt das Amt Erkelenz, an dessen Spitze der Amtmann (Drossard) stand. Verwaltet wurde das Amt in Personalunion von dem Drosten des Amtes Krickenbeck, sein Stellvertreter in Erkelenz war ein Vogt. Die städtische Verfassungs- und Verwaltungsform stimmte mit der der anderen geldrischen Städte überein. Sieben Schöffen, die wie auch die Bürgermeister in Stadt oder Land begütert sein mussten, und zehn gemeine Ratsmitglieder stellten für die Amtsperiode von einem Jahr zwei Kandidaten für den Stadtbürgermeister und zwei Kandidaten für den Landbürgermeister zur Wahl, auserkoren wurden sie aber nur von den Schöffen, die somit eigentlich die Politik in der Stadt betrieben, während der Rat nur repräsentative Aufgaben erfüllte. Schon bald nach der Stadterhebung begann man mit der backsteinernen Befestigung der Stadt, die vermutlich bereits eine leichtere Umwallung besaß, wie sie seit unvordenklichen Zeiten zum Schutz der Siedlungen gebräuchlich und mit der im 11. Jahrhundert begonnen worden war. Zwar wird die Burg erst 1349 urkundlich genannt, die Stadt scheint sich aber aus dem Schutz der Burg heraus mit dem in unmittelbarer Nähe verlaufenden Pangel als ältestgenannter Straße („in deme Pandale“, 1398) entwickelt zu haben. Auch wird der nahegelegene Johannismarkt „alder mart“ (1420) und der entferntere, heute nur Markt genannte Platz „niewer mart“ (1480) genannt. Zudem ist die Burg offensichtlich in die nachfolgend errichteten Stadtmauern einbezogen worden, so dass sie schon bei der Stadtrechtsverleihung im Jahre 1326 vorhanden gewesen sein dürfte. Es ist auch kaum anzunehmen, dass ein unbefestigter Ort zur Stadt erhoben wurde. Letztlich ist 1355 als erstes und stärkstes das an der Kölner Heerbahn, die von Roermond kommend in Erkelenz über die Theodor-Körner-Straße, Mühlenstraße und Wockerath nach Köln führt, gelegene Brücktor (Brückstraße) unweit der Burg entstanden. In einer Fehde Eduards von Geldern, der ein Sohn Herzogs Rainald II. und Widersacher seines älteren Bruders Rainald III. war, eroberte Graf Engelbert III. von der Mark im Jahre 1371 die nur unzureichend befestigte Stadt und zerstörte sie teilweise. Der kinderlose Eduard fiel im selben Jahr auf dem Schlachtfeld zu Baesweiler im Kampf auf Seiten seines Schwagers, des Herzogs Wilhelm II. von Jülich, gegen Herzog Wenzel I. von Brabant. Als in diesem Jahr auch sein Bruder Rainald III. ohne Nachkommen starb, entwickelten sich um Erbe und Besitz des Herzogtums Geldern immer wieder neue kriegerische Auseinandersetzungen, unter denen Erkelenz als geldrische Exklave in Jülicher Land durch Kriegslasten, Einquartierungen, Raub und Plünderungen besonders zu leiden hatte. Entsprechend den strategischen Bedürfnissen der jeweiligen Landesherren wurde der Bau der Erkelenzer Festungswerke vorangebracht. Im Jahre 1416 entstand unter Rainald IV. von Geldern das dem Brücktor auf der anderen Seite der Stadt gegenüberliegende Maartor (Aachener Straße), das sich gegen das südlich der Stadt gelegene Jülich richtete. 1423 fiel das Herzogtum Geldern und damit auch die Stadt Erkelenz an Arnold von Egmond, 1425 an Adolf von Jülich-Berg. Nachdem dessen Neffe und Nachfolger, Gerhard II. von Jülich-Berg, in der Hubertusschlacht bei Linnich Arnold von Egmond besiegt hatte, wurde 1454 das Oerather Tor (Roermonder Straße) fertiggestellt, das gegen Roermond gerichtet war. Trotz laufender aufwendiger Arbeiten an den Befestigungswerken konnte die Stadt es sich leisten, 1458 sogleich mit dem Bau eines neuen, heute noch erhaltenen Kirchturmes zu beginnen, nachdem im Jahr zuvor der Turm der alten romanischen Kirche eingestürzt war. Im Jahre 1473 gelangte die Stadt an Karl den Kühnen von Burgund, der auf seinen Kriegszügen gegen Lothringen 1476 persönlich in Erkelenz die Huldigungen der Bürgerschaft entgegennahm. 1481 fiel die Stadt an Maximilian I. von Österreich, 1492 an den Sohn Arnolds von Egmond, Karl von Egmond, der sich im selben Jahr ebenfalls persönlich in Erkelenz einfand. Zu dieser Zeit war die Festung Erkelenz schon so stark, dass Maximilian I. seine ihm gegen Geldern verbündeten Herzöge von Jülich und Kleve anwies, sich nicht auf einen Beschuss der Stadt einzulassen, sondern sie mit Hilfe von Sturmbrücken zu nehmen. Ein Heer von Herzog Wilhelm IV. von Jülich, es bestand aus 3000 Fußknechten mit 1000 Pferden, nahm Erkelenz am 21. August 1498 auf diese Weise – ein Stadttor war heimlich geöffnet worden. 1500 fiel die Stadt wieder zurück an Karl von Egmont, so dass im Jahre 1514 das dem Oerather Tor gegenüberliegende Bellinghovener Tor (Kölner Straße) entstand, das eine Lücke gegen Jülich schloss. In die Stadtmauer mit ihren vier Torburgen waren 14 Wehrtürme eingelassen, und in ihrem Vorfeld lag noch ein doppelter, durch einen Wall getrennter Wassergraben. Sie galt als uneinnehmbar. Im Jahre 1538 fiel Geldern an Wilhelm von Jülich, Kleve und Berg. In diese Zeit fällt der große Stadtbrand von 1540, als am 21. Juni des Jahres in großer Sommerhitze ein Brand ausbrach, dem die Stadt bis auf wenige Häuser am Brücktor und in der Maarstraße fast vollständig zum Opfer fiel. Hilfe kam von den benachbarten geldrischen Städten Roermond und Venlo. Kaiser Karl V. der 1543 nach der Einnahme von Düren und Jülich auf seinem Zug mit einem 30.000 Mann starken Heer nach Roermond persönlich in Erkelenz weilte, beendete die geldrischen Erbfolgekriege im Frieden von Venlo. Die Stadt kam nun mit dem aufgelösten Herzogtum Geldern an das spanische Haus Habsburg und wurde Teil der spanischen Niederlande, dem damals reichsten Land Europas. So konnte, wie die Inschrift auf einem Stein neben dem Eingang bezeugt, bereits 1546 das bei dem Stadtbrand zerstörte Rathaus durch das heute noch erhaltene Bauwerk ersetzt werden. Dauerhafter Friede kehrte aber nicht in das Land ein und mehrmals suchten dazu noch Seuchen die Stadt heim. 1580 wurde sie durch die Pest fast entvölkert. Im Spanisch-Niederländischen Krieg nahmen im Jahre 1607 niederländische Truppen die Stadt ein und brandschatzten sie. Nachdem Erkelenz dann 1610 im Jülich-Klevischen Erbfolgekrieg erfolglos belagert worden war, vermochte im Französisch-Niederländischen Krieg schließlich das Heer des französischen Königs Ludwig XIV. zusammen mit den Truppen des Erzbischofs von Köln erst beim vierten Sturmangriff mit inzwischen erfundenen Kanonen die Stadt am Abend des 9. Mai 1674 einzunehmen, als zwei der vier Tore gefallen waren. An diesem Tag hörte sie auf, Festung zu sein. 400 Tote soll es bei den Angreifern gegeben haben, sechs bei den Verteidigern. Die Eroberer zwangen die Bürger, Breschen in die Mauern zu schlagen und sprengten das Bellinghovener und das Oerather Tor, die beide ihnen den freien Durchzug in die Niederlande versperrten. Im Spanischen Erbfolgekrieg wurde sie 1702 von preußischen Truppen besetzt, die sie erst 1713 wieder räumten. Im Frieden von Utrecht 1714 erhielt Herzog Johann Wilhelm von Jülich und Kurfürst von der Pfalz Erkelenz, dem es aber erst 1719 huldigte. Die Stadt verlor so ihre jahrhundertealte Zugehörigkeit zum Oberquartier Geldern. Von 1727 bis 1754 war die Herrlichkeit Erkelenz an den kurpfälzischen Geheimrat Freiherrn Johann Bernhard von Francken verpfändet, der sich auch zeitweise in der Stadt aufhielt. Von 1794 bis 1815 gehörte sie mit den linksrheinischen Ländern zu Frankreich und erhielt eine ständige französische Besatzungstruppe. Erkelenz bildete zunächst eine Munizipalität, ab 1800 eine Mairie (Bürgermeisterei) und war seit 1798 Sitz des Cantons Erkelenz im Arrondissement Crefeld, das Teil des Départements de la Roer war. Im Jahre 1815 wurde der König von Preußen neuer Landesherr. In den Jahren 1818/19 brach man die baufällig gewordene Stadtmauer und Stadttore ab. Anstelle der Stadtmauern entstanden die heutigen vier Promenadenstraßen, benannt nach den jeweiligen Himmelsrichtungen. Von 1816 bis zur Kommunalreform 1972 war Erkelenz Sitz des Landkreises Erkelenz. Industrialisierung Um 1825 ließ sich Andreas Polke aus Ratibor in der Stadt nieder und gründete eine Stecknadelfabrik. Der benachbarte Aachener Raum war zu damaliger Zeit in diesem Gewerbe führend. 1841 beschäftigte Polke in seiner Manufaktur 73 Arbeiter, darunter 35 Kinderarbeiter unter 14 Jahren; für die schulpflichtigen unter ihnen unterhielt er eine Fabrikschule. Stecknadeln wurden bis etwa 1870 in Erkelenz gefertigt. 1852 wurde Erkelenz an die Bahnstrecke Aachen–Mönchengladbach angeschlossen und erhielt außer einem Bahnhof für die Personenbeförderung einen Güterbahnhof mit Rangiergleisen, Ablaufberg und Drehscheibe. Das erhöhte Verkehrsaufkommen zum Bahnhof Erkelenz machte den chausseeartigen Ausbau der aus vier Himmelsrichtungen auf die Stadt zulaufenden Straßen erforderlich, und in den Jahrzehnten darauf erfolgte auch über die mittelalterlichen Stadtgrenzen hinaus die Bebauung entlang der heutigen Kölner Straße in Richtung Bahnhof. Im 19. Jahrhundert existierte vor allem in den umliegenden Dörfern die Handweberei an Webstühlen. Die industrielle Epoche begann in Erkelenz zunächst mit der Einführung mechanischer Webstühle für die Tuchfabrikation. Im Jahre 1854 gegründet und 1878 am heutigen Parkweg ansässig war die Rockstoff-Fabrik I. B. Oellers, eine mechanische Weberei, in der zeitweise 120 Arbeiter und 20 kaufmännische Angestellte tätig waren. Seit 1872 existierte die mechanische Plüschweberei Karl Müller (Ecke Kölner Straße – Heinrich Jansen Weg), die in Erkelenz 60 und im Bergischen und im Rhöngebiet weitere 400 Handweber für den Erkelenzer Hauptbetrieb beschäftigte. Im Jahre 1897 entstand an der Neußer Straße die Textilfabrik Halcour, die im Jahre 1911 67 männliche und 22 weibliche Mitglieder in ihrer betriebseigenen Krankenkasse führte. Der eigentliche Schritt in das Industriezeitalter fand 1897 statt, als der Industriepionier Anton Raky die Zentrale der von ihm gegründeten Internationalen Bohrgesellschaft nach Erkelenz verlegte, im lokalen Sprachgebrauch die Bohr genannt. Für den Standort war der günstige Bahnanschluss zum Ruhrgebiet und Aachener Revier entscheidend. In den folgenden Jahren zogen nun von außerhalb Industriearbeiter und Ingenieure nach Erkelenz, so dass sich Wohnungsnot entwickelte, die erst durch Gründung eines gemeinnützigen Bauvereins entschärft werden konnte. Zwischen Innenstadt und Eisenbahnlinie entstand ein neuer Stadtteil, im Volksmund wegen der fremd anmutenden Türmchen an manchen Häusern Kairo (sprich: Ka-i-ro) genannt. 1909 beschäftigte die Bohrgesellschaft 50 Angestellte und 460 Arbeiter, im Kriegsjahr 1916 bereits 1600 Mitarbeiter. Als die Stadt am 10. Mai 1898 auf dem Markt eine Bronzestatue des Kaisers Wilhelm I., ein Werk des Bildhauers Arnold Künne, aufstellte, wurde das Denkmal auf Initiative von Raky von Bogenlampen mit elektrischem Licht angestrahlt. Das markierte in Erkelenz die Einführung der Elektrizität im öffentlichen Raum. Im selben Jahr leuchteten in der Bahnhofstraße (heute Kölner Straße) die ersten elektrischen Straßenlampen und die ersten Hausanschlüsse wurden verlegt. Gründerzeitliche Hausfassaden sind Zeugnisse der Entwicklung der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In den beiden folgenden Jahrzehnten baute die Stadt an der heutigen Bernhard-Hahn-Straße das Wasserwerk mit dem weithin sichtbaren Wasserturm, das Elektrizitätswerk, den Schlachthof (Architekt Walter Frese) und die Badeanstalt. An der Südpromenade wurde ein großes Schulgebäude für das Gymnasium errichtet. Die Gründung einer Kornbrennerei, einer Brauerei, einer Mälzerei und einer Molkerei dienten als neuer Absatz für die Landwirtschaft. Im Jahre 1910 errichtete Arnold Koepe in der ehemaligen Plüschweberei Karl Müller eine mechanische Werkstatt zur Herstellung von Förderwagen im Bergbau. Im Jahre 1916 übernahm Ferdinand Clasen den Betrieb und gründete 1920 aus dieser Firma die Erkelenzer Maschinenfabrik an der Bernhard-Hahn-Straße, die zeitweise 200 Mitarbeiter hatte. Die Weltkriege und die Zwischenkriegszeit Während des Ersten Weltkrieges geriet auch die örtliche Wirtschaft durch Einberufungen, Vorbehalt des Eisenbahnverkehrs für Truppentransport und Beförderung von Kriegsmaterial sowie den Marsch großer Truppenteile durch die Stadt und den damit verbundenen Lasten zum Erliegen. Zur Behebung des Arbeitskräftemangels wurden Kriegsgefangene, meist Russen, die in einem auf dem Gelände der Internationalen Bohrgesellschaft 1915 errichteten Kriegsgefangenenlager interniert waren, vorwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt. Um den Bedarf des Krieges an Metall zu decken, mussten die Bürger ihre diesbezüglichen Gerätschaften und die Kirchen einen Teil ihrer Glocken gegen geringe Entschädigung abliefern. Der verlorene Krieg kostete 142 zum Militärdienst eingezogenen Erkelenzer Bürgern das Leben, weitere 155 wurden zum Teil schwer verwundet. Nach diesem Krieg, der auch das Ende des Kaiserreiches brachte, waren zwischen 1918 und 1926 in Erkelenz 2000, bis zum 19. November 1919 französische und ab dem 1. Dezember 1919 belgische Besatzungssoldaten stationiert. An der Neusser und an der Tenholter Straße wurden Baracken als Mannschaftsquartiere erstellt und für die Unteroffiziere und Offiziere außer beschlagnahmten Quartieren auch Wohnungen am Freiheitsplatz, an der Graf-Reinald-Straße und in der Glück-auf-Straße gebaut. Da anfangs des Krieges auch Gold und Silber hergegeben werden mussten und die Goldwährung durch Papiergeld ersetzt worden war, verteuerten sich trotz Zwangswirtschaft alle Waren zu kaum erschwinglichen Papiergeldpreisen, so dass sich der Bestand an Papiergeld schließlich erschöpfte und den Kommunalbehörden gestattet wurde, eigenes Papiergeld zu drucken. 1921 ließ die Stadt als Notgeld Papiergeldscheine im Einzelwert von 50 und 75 Pfennig mit einem Gesamtwert von 70.000 Papiermark drucken. Dieses Notgeld wurde zum Teil in Umlauf gebracht und 1922 wieder eingelöst. Als Franzosen und Belgier im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten, um Kohle und Stahl in ihre Länder abzutransportieren, kam es in dem später als Ruhrkampf bekannt gewordenen Widerstand auch in Erkelenz zum passiven Widerstand, insbesondere der Eisenbahner, in dessen Verlauf die belgische Geheimpolizei 14 Männer mit ihren Familien auswies und zum Teil mit Gewalt bei Nacht und Nebel in nicht besetztem Gebiet aussetzte. Bereits zu Beginn der Besetzung hatten Frankreich und Belgien erfolglos versucht, das Rheinland für einen Anschluss an ihre Länder zu gewinnen, den nunmehr aufgeflammten Widerstand nahmen sie zum Anlass, es jetzt mit Gewalt zu versuchen. Separatistentrupps, die sich mit Waffengewalt in verschiedenen rheinischen Städten festgesetzt hatten, riefen in Aachen die Rheinische Republik aus. Am 21. Oktober 1923 erschien ein solcher Trupp auch in Erkelenz, hisste mit Waffengewalt unter dem Schutz der Belgier am Rathaus und auf dem Landratsamt die „rheinische Fahne“ und forderte die Gemeinde- und Staatsbeamten auf, nunmehr der Rheinischen Republik zu dienen. Beamte und Bürgerschaft aber lehnten ab und holten die Separatistenfahne am folgenden Tag wieder ein. Unter größtem Jubel der Bevölkerung rückten die Besatzungstruppen ein Jahr später als nach dem Versailler Vertrag vorgesehen am 31. Januar 1926 ab. Die Glocken aller Kirchen läuteten die mitternächtliche Befreiungsstunde ein und in diesem Jahr feierte Erkelenz auch die 600-jährige Verleihung seiner Stadtrechte. Nach Hitlers sogenannter Machtergreifung am 30. Januar 1933 und nach den Reichstags- und Kommunalwahlen im März 1933 beantragten die Nationalsozialisten in Erkelenz unter Führung des Kreisleiters NSDAP Kurt Horst zuerst wie fast überall in den neuen Gemeindeparlamenten, Straßen und Plätze nach ihnen genehmen Größen umzubenennen. So gab es in Erkelenz seit April 1933 einen Adolf-Hitler-Platz (Johannismarkt), einen Hermann-Göring-Platz (Martin-Luther-Platz) und eine Horst-Wessel-Straße (Brückstraße). Im Mai 1933 drängten sie den amtierenden demokratischen Bürgermeister Ernst de Werth unter Androhung von „Schutzhaft“ aus dem Amt, ernannten Adolf Hitler als Ehrenbürger und verfolgten politisch Andersdenkende, Gewerkschafter und Geistliche. Im Juli 1933 wurde am Amtsgericht Erkelenz wie an allen Amtsgerichten im Deutschen Reich ein sogenanntes Erbgesundheitsgericht eingerichtet, dessen Aufgabe in der Zwangssterilisation körperlich und geistig Behinderter bestand. Ab 1941 wurde im Rahmen der später als Aktion T4 bekanntgewordenen Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus eine systematische „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durchgeführt, in die auch das Haus Nazareth in Immerath verstrickt war, wobei auch als „asozial“ oder „minderwertig“ bezeichnete Personen ermordet wurden. Im April 1933 hatte die NSDAP wie überall in Deutschland einen „Judenboykott“ organisiert. Während der Novemberpogrome 1938 (der sogenannten „Reichskristallnacht“) kam es schließlich zu antijüdischen Gewalttaten. Von kommandierten SS- und SA-Leuten wurde die Synagoge an der Westpromenade verwüstet, jüdische Männer verhaftet, jüdische Wohnhäuser und Geschäfte in der Stadt geplündert und demoliert. Im März/April 1941 wurden überall in Deutschland die Juden aus ihren Wohnungen vertrieben und in sogenannten Judenhäusern konzentriert, wohin sie von ihrem häuslichen Eigentum nur das Nötigste mitnehmen durften. So zwangen die Nationalsozialisten auch am 1. April 1941 die noch in der Stadt Erkelenz verbliebenen Juden, ihre Wohnungen zu verlassen und Quartier im Spiess-Hof, einem Gehöft in Hetzerath, zu nehmen, von wo aus sie 1942 über das Ghetto Izbica in die Vernichtungslager deportiert wurden. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Erkelenz mit dem Vordringen der Alliierten auf die deutsche Westgrenze Mitte September 1944 wie viele andere Ortschaften im Aachener Gebiet allmählich geräumt. Lange Flüchtlingsströme bewegten sich ostwärts über den Rhein, auch das Vieh der Bauern wurde teilweise weggetrieben. Gleichzeitig wurden Tausende Zivilisten, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zum Schanzen von Panzergräben in das Gebiet gebracht, unter Aufsicht bewaffneter SA aus Sachsen, die zahlreiche Übergriffe und Plünderungen vornahm. Im Zuge der Rurfront wurden zwei Kilometer westlich der Stadt in einem halben Bogen um sie Panzergräben ausgehoben, Minenfelder ausgelegt und Infanteriestellungen mit einem weit verzweigten Grabensystem einer starken Igelstellung ausgebaut. Der erste große Bombenteppich ging am 8. Oktober 1944 auf die Stadt nieder. Beim zweiten Bombenangriff am 6. Dezember 1944 starben 44 Menschen. Zwischen den Bombardierungen waren tagsüber und oft auch nachts Jagdbomber tätig. Seit Dezember 1944 lag die Stadt auch in Reichweite alliierten Granatbeschusses. Bei einem weiteren Bombenangriff am 16. Januar 1945 wurden 31 Menschen getötet, davon alleine 16 in einem Bunker an der Anton-Raky-Allee. Bei der SS-Kampftruppe reichte man das Kommando von oben nach unten weiter und setzte sich ebenso wie die örtlichen Parteifunktionäre, die in tagelangen Feuern ihre Akten verbrannt hatten, rechtzeitig ab. Der vierte und schwerste Luftangriff auf die inzwischen von Zivilisten fast verlassene Stadt erfolgte am 23. Februar 1945. Etwa 90 viermotorige Bomber flogen sie in zwei Wellen an. Folgende Gebäude, die bis dahin den Krieg überstanden hatte, wurden zerstört: die Kirchen, die Stadthalle, das Gericht, die Badeanstalt, das Krankenhaus, die Schulen, der Kindergarten und nur der Turm der katholischen Pfarrkirche blieb schwer beschädigt stehen. Drei Tage später, am 26. Februar 1945, nahmen das 406. und das 407. Infanterieregiment der 102. US-Infanteriedivision der 9. US-Armee im Zuge der Operation Grenade die Stadt und die umliegenden Ortschaften ein. Am Ende dieses Krieges war Erkelenz weitgehend zerstört und zählte im damaligen Kreis Erkelenz 300 Tote durch Bomben, 1312 Gefallene und 974 Verwundete. Die Nachkriegszeit Beim Einmarsch der alliierten Truppen mussten die Einwohner umliegender Dörfer ihre Häuser verlassen und wurden interniert. Die verlassenen Wohnungen und Häuser wurden geplündert. Die Lebensmittelversorgung brach zusammen. Befreite, ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter, bewaffneten sich mit herumliegendem Kriegsmaterial und machten die Gegend durch Übergriffe auf Zivilisten unsicher. Ende März 1945 lebten in Erkelenz etwa 25 Einwohner; in der sich mit zurückkehrenden Evakuierten allmählich wieder füllenden Stadt fehlte es an allem Nötigsten. Anfang Juni 1945 lösten Briten die Amerikaner ab. Einige der führenden Nationalsozialisten, die sich unter den Zurückkehrenden befanden, konnten verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Sogenannte „Persilscheine“ waren begehrt. Der große Teil der bedeutungslosen Nationalsozialisten und Mitläufer wurde zu Enttrümmerungs- und Aufräumarbeiten in der Stadt zwangsverpflichtet. Aber auch die übrigen Bürger, insbesondere Bauern, denen noch ein Pferd oder Ochse nebst einem Karren geblieben war, zog man zu Hand- und Spanndiensten heran und auch die Jugend war aufgerufen, in freiwilligen Arbeitseinsätzen beim Wiederaufbau der Stadt zu helfen. Der größte Teil der Arbeiten geschah in Selbsthilfe und die sich gerade erst wieder organisierende Verwaltung achtete nur auf die Einhaltung der allernötigsten Bauvorschriften. Die ersten allgemeinen Gemeindewahlen fanden am 15. September 1946 statt. Von 1947 an erreichten mit Lebensmitteln und sonstigen Sachen gefüllte ‚CARE-Pakete’ aus den USA, die Stadt. Außer den zurückkehrenden Ortsansässigen mussten zunehmend Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten aufgenommen werden, so dass in den 1950er Jahren mit dem ‚Flachsfeld’ ein neuer Stadtteil entstand. Ebenso wuchs die Stadt in dieser Zeit auf den Feldern zwischen dem von nur wenigen Häusern begleiteten Buscherhof und der Oerather Mühle mit dem ‚Marienviertel’ um ein neues großes Stadtviertel, dessen Straßen zu beiden Seiten des alten, zur Marienwallfahrt in Holtum führenden Marienweges fast alle Namen von ostdeutschen Städten tragen. Erst in den Jahren 1956 und 1957 nahm die Bevölkerung unter großer Anteilnahme die letzten Heimkehrer aus Krieg und Kriegsgefangenschaft auf dem Erkelenzer Bahnhof in Empfang. Erkelenz heute Mit dem Neubau eines Jungen-Gymnasiums am heutigen Schulring begann 1965/1966 die Errichtung eines weiteren Viertels, das heute allgemein Schulviertel genannt wird. Neben weiteren, zwischenzeitlich erschlossenen kleineren Wohn- und Gewerbegebieten wächst seit den 1990er Jahren auf dem Oestricher Kamp ein großer Stadtteil mit eigener Grundschule heran, der von der sogenannten Nordtangente (Düsseldorfer Straße) abgeschlossen wird. Das an den Schulring angrenzende, zunächst für die Familien von in Deutschland stationierten britischen Soldaten gebaute und später nach deren Abzug als Übergangsheim für Spätaussiedler und Asylsuchende dienende Wohnviertel Bauxhof verlor 2007 seine letzte Funktion. Die Wohnanlage mit einer ursprünglichen Kapazität von bis zu 1200 Bewohnern wurde 2008 aufgelöst und teilweise abgerissen. Die Genehmigung des Tagebaus Garzweiler II am 31. März 1995 stellte die Stadt vor neue Herausforderungen, da ein großer Teil des Stadtgebietes abgebaggert werden soll. Unter dem Dach der „Vereinten Initiativen“ sammelte sich der Bürgerprotest der betroffenen Ortsteile. Verschiedene Klagen der Stadt Erkelenz gegen den Tagebau in den Jahren 1997 bis 2001 vor dem Verwaltungsgericht Aachen und im Instanzenzug vor dem Oberverwaltungsgericht Münster wurden ebenso abgewiesen wie eine Verfassungsbeschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof Münster. Im Hinblick auf die anstehenden Umsiedlungen mussten somit neue Baugebiete erschlossen werden, so erfolgten die ersten Spatenstiche 2005 im Oerather Mühlenfeld und 2007 in „Immerath (neu)“ bei Kückhoven und „Borschemich (neu)“, das nördlich der Nordtangente entsteht. Die Stadtteile Keyenberg (neu), Berverath (neu), Kuckum (neu), Unterwestrich (neu) und Oberwestrich (neu) werden zwischen Borschemich und Rath-Anhoven (Stadt Wegberg) angelegt. Die ersten Häuser sind erbaut (Stand Dezember 2018). Stand Januar 2022 war Lützerath besetzt, die Räumung erfolgte im Januar 2023. Eingemeindungen In ihrer heutigen Form ist die Stadt Erkelenz aufgrund des Neugliederungsgesetzes Aachen vom 21. Dezember 1971 (Aachen-Gesetz) entstanden. Nach diesem Gesetz wurden unter anderem der bisherige Kreis Erkelenz und der Selfkantkreis Geilenkirchen-Heinsberg am 1. Januar 1972 zusammengelegt. Erkelenz verlor seinen Kreissitz an Heinsberg und wurde mit den Gemeinden Borschemich, Gerderath, Golkrath, Granterath, Hetzerath, Holzweiler, Immerath, Keyenberg, Kückhoven, Lövenich, Schwanenberg und Venrath sowie den Orten Geneiken und Kuckum zusammengeschlossen. Die Stadtfläche vergrößerte sich von 25,22 auf 117,35 Quadratkilometer. Bevölkerungsentwicklung Bei einer Schatzung im Jahre 1510 waren in Stadt und Kirchspiel Erkelenz 496 Hausgenossen gezählt worden und bis um 1800 stieg die Bevölkerungszahl der ländlichen Stadtgemeinde nicht wesentlich über 3000 Einwohner an. Mit Beginn der Industrialisierung Anfang und dem Eisenbahnbau Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Einwohnerzahl allmählich zu. Einen deutlichen Schub gab es um die Wende zum 20. Jahrhundert, als sich die Internationale Bohrgesellschaft in Erkelenz niederließ. Kriegsbedingt stagnierte die Einwohnerzahl um 1945 und war auch rückläufig. Bei Kriegsende 1945 gab es in der weitgehend evakuierten Kernstadt nur etwa 150 Einwohner. In den 1950er und 1960er Jahren stieg die Bevölkerungszahl insbesondere durch den Zuzug von Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten stark an. Die Wohngebiete Flachsfeld und Marienviertel entstanden. In der nach der kommunalen Neugliederung 1972 vergrößerten Stadt gab es in den 1990er Jahren einen weiteren Anstieg der Bevölkerungszahl aufgrund des Zuzugs von Spätaussiedlern aus osteuropäischen Staaten. Im Berichtsjahr 2016 betrug der Anteil des weiblichen Geschlechts 51 Prozent an der Gesamtbevölkerung (43.388). Nichtdeutsche waren 6,5 Prozent. In die Altersgruppe von 0 bis 18 Jahre fielen 16,5 Prozent, in die Altersgruppe von 18 bis 65 Jahre 62,4 Prozent und in die Altersgruppe von 65 Jahre und darüber 21 Prozent. Während die Bevölkerung im Berichtszeitraum 1972 bis 2007 ausschließlich durch Zuzug beständig um insgesamt 10.607 Einwohner angewachsen war, sank sie seitdem bis einschließlich 2010 um 0,7 Prozent ab. Im Berichtsjahr 2016 betrug der Anteil der Geborenen 0,9 Prozent und der Gestorbenen 1,2 Prozent, der Zugezogenen 6,4 Prozent und der Fortgezogenen 6,1 Prozent, so dass sich für das Berichtsjahr insgesamt ein Wachstum von + 0,08 Prozent ergibt. Die meisten Zugezogenen kamen aus Hückelhoven und Mönchengladbach (jeweils 11 Prozent) und die meisten Fortgezogenen gingen auch nach Hückelhoven (11 Prozent) und Mönchengladbach (jeweils 18 Prozent). Religion Die Stadt Erkelenz ist (mit Ausnahme der evangelischen Gemeinde Schwanenberg) überwiegend römisch-katholisch. Die katholische Pfarre ist nach St. Lambertus benannt. Im Laufe der Jahrhunderte wechselte die Bistumszuordnung mehrmals. Bis 1559 gehörte Erkelenz zum Bistum Lüttich, bis 1801 zum Bistum Roermond, von 1801 bis 1821 zum Bistum Aachen, von 1821 bis 1930 zum Erzbistum Köln und seither zum neuen Bistum Aachen. 1651 zur Zeit der Gegenreformation errichteten Franziskaner in der Stadt ein Kloster. Die zugehörige Kirche war dem Hl. Antonius von Padua geweiht, im Volksmund Paterskirche genannt. Beide wurden im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. Heute erinnern nur noch der Franziskanerplatz und die Patersgasse an Kloster und Kirche. Die jahrhundertelange Herrschaft der spanischen Habsburger verhinderte das Aufkommen einer evangelischen Gemeinde. Erst als die Stadt zu Preußen gelangte, veränderte sich langsam die konfessionelle Zusammensetzung der Einwohner. Bis 1900 gehörten die evangelischen Einwohner der Gemeinde Schwanenberg an, die jahrhundertelang eine evangelische Enklave im Erkelenzer Land bildete. In jenem Jahr verbanden sich die Erkelenzer Evangelischen mit der evangelischen Gemeinde von Lövenich, wo seit der Reformationszeit eine kleine evangelische Minderheit lebte. 1902/03 wurde schließlich in Erkelenz eine evangelische Kirche erbaut. Seit 1959 ist die Erkelenzer von der Lövenicher Gemeinde getrennt und bildet eine eigenständige Kirchengemeinde. Im Mittelalter existierte auch eine kleine jüdische Gemeinde, die aber unterging. Erst ab 1852 ließen sich wieder Juden nieder, die seit 1865 in der Burgstraße einen Betraum besaßen und 1869 an der Westpromenade ein Wohngebäude kauften, um darin eine Synagoge einzurichten. 1865 war an der heutigen Neusser Straße auch ein jüdischer Friedhof angelegt worden, der noch besteht. 1925 lebten 57 Juden in der Stadt. Nach dem Holocaust kehrten einige wenige Überlebende nach Erkelenz zurück. 23 Stolpersteine erinnern in der Innenstadt an das Schicksal der in der Zeit des Nationalsozialismus deportierten jüdischen Bewohner. Neben katholischer und evangelischer Gemeinde besteht heute auch eine Gemeinde Gottes. Bei der letzten statistischen Erhebung 1987 waren 72 Prozent der Bevölkerung katholischen, 22 Prozent evangelischen, 1,5 Prozent islamischen und 1,2 Prozent anderen Glaubens. 3,3 Prozent machten keine Angaben. Politik Kommunalwahl Die Ratswahl am 13. September 2020 brachte folgendes Ergebnis: Bei der gleichzeitigen Bürgermeisterwahl wurde Stephan Muckel von der CDU mit 53,00 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Die Stimmverteilung sah folgendermaßen aus: Bürgermeister seit 1814 Wappen Städtepartnerschaften Die Partnerstadt Saint-James (Frankreich) liegt an der Grenze zwischen der Normandie und der Bretagne, in der Nähe des Mont Saint-Michel. Die Partnerschaft wurde am 12. Oktober 1974 beschlossen. Weiterhin bestehen Städtefreundschaften mit Bad Windsheim (Bayern) und Thum (Erzgebirge). Jugendbeteiligung Die Jugendbeteiligung Erkelenz ist seit August 2013 ein offizieller Arbeitskreis am Runden Tisch der Stadt Erkelenz. Er vertritt die Interessen der Kinder und Jugendlichen sowie die Interessen junger Erwachsenen unter 29 Jahren. Dabei wird darauf geachtet, dass außer dem Sprecherteam keine Kinder und Jugendliche direkt mit der Politik in Verbindung kommen. Die Jugendbeteiligung Erkelenz ist somit überparteilich. Kultur und Sehenswürdigkeiten Kunst- und Kulturleben, Kino, Museum Das Alte Rathaus, die Stadthalle, die Leonhardkapelle, Haus Spiess und die Burg sind zentrale Orte für zahlreiche Kunst- und Kulturveranstaltungen. Es finden regelmäßige Theatergastspiele, Kindertheater, Kleinkunst, Kabarett, Comedy, Kunstausstellungen berufsbildender Künstler, Musikveranstaltungen und Dichterlesungen statt. Hauptträger der kommunalen Kulturarbeit ist die Kultur GmbH als Tochtergesellschaft der Stadt Erkelenz. Die Stadthalle Erkelenz ist nach umfangreichen Um- und Ausbauarbeiten seit dem 3. Januar 2009 – betrieben durch die Kultur GmbH Erkelenz – zentrale Veranstaltungstelle für kulturelle Projekte und Veranstaltungen mit durchschnittlich 40.000 Besuchern pro Jahr. Der Gloria Filmpalast hat in drei Sälen mit unterschiedlichen Programmen für mehr als 500 Zuschauer Platz. In Lövenich zeigt das Rheinische Feuerwehrmuseum mehr als 800 Exponate auf einer Ausstellungsfläche von 1500 Quadratmetern. Bauwerke in der Innenstadt St. Lambertus Die heutige katholische Pfarrkirche von St. Lambertus hatte drei Vorgängerbauten, deren erster ein fränkischer Saalbau war und Anfang des 11. Jahrhunderts zu einem romanischen Längsbau erweitert wurde, der seinerseits einem im Jahre 1418 konsekrierten und im Zweiten Weltkrieg zerstörten gotischen Kirchenschiff wich. Der 83 Meter hohe Kirchturm ist im Jahre 1458 im Stil flandrischer oder brabanter Türme erbaut worden. Burg und Stadtmauer Die seit der Eroberung der Stadt im Jahre 1674 zur Ruine verfallene Burg wurde Mitte der 1950er Jahre restauriert. Sie besaß auch stadtseitig kleinere Türme und eine Zugbrücke über einen Graben. Nicht weit entfernt an der Wallstraße stehen noch größere Reste der ehemaligen Stadtmauer. Altes Rathaus Das Alte Rathaus auf dem Markt stammt aus dem Jahre 1546, dessen Vorgängerbau durch den Stadtbrand von 1540 zerstört wurde. Der auf weißgetünchten Pfeilern ruhende Ziegelbau mit spätgotischen Elementen wurde nach starken Kriegszerstörungen bis 1956 wieder aufgebaut. An der Südseite befindet sich ein freistehendes Glockenspiel mit 24 Bronzeglocken. Leonhardskapelle Die Leonhardskapelle ist eine ehemalige, urkundlich erstmals 1540 genannte Kirche (Gasthauskirche), die zum bereits 1452 vorhandenen städtischen Armen- und Krankenhaus (Gasthaus) gehörte. Das Gasthaus besaß außer dem Prinzipalhaus, das die Wohnungen für den Gasthausbewahrer und die Gasthausfrau sowie Krankenstuben und einen größeren Krankensaal (Beyert) umfasste, einen rechteckigen Innenhof mit eingeschossigen Einzelwohnungen für die Armen, aber auch für Durchreisende. Für den Eigenbedarf waren ein Garten nebst Brunnen und eine kleine Brauerei vorhanden. Der Innenhof mit Brunnen ist heute noch in seinen Grundzügen vorhanden. Die Kirche wurde nach der Beschlagnahme durch die Franzosen 1827 zur Volksschule umgebaut und dient nach Wiederherstellung in den Jahren 1989/1990 heute kulturellen Zwecken. Haus Spiess Das dreiflügelige Haus Spiess wurde in dem nach dem Aachener Architekten und Baumeister Johann Joseph Couven benannten Couvenstil mit klassizistischen und spätbarocken Elementen 1806 am Franziskanerplatz erbaut. Es trägt den Namen seines Bauherren, Johann Joseph Spiess, eines Elsässers, der Offizier der Leibwache des französischen Königs Ludwig XVI. gewesen und während der französischen Besatzungszeit (1797–1814) unter Napoleon Domänenverwalter und Rentmeister in Erkelenz war. Seit 1978 befindet sich das Gebäude im Besitz der Stadt, die auf einem dahinterliegenden, inzwischen anderweitig bebauten Grundstück wieder einen Garten nach französischem Vorbild in symmetrischen Formen anlegen ließ und das Anwesen für repräsentative Empfänge, Trauungen und Ausstellungen nutzt. Blancken-Mühle Die Blancken-Mühle wurde 1799 als letzte der Erkelenzer Windmühlen, daher auch Neumühle genannt, vom Ehepaar Peter und Mechtilde Blancken errichtet. Ende des 19. Jahrhunderts stellte sie den Betrieb ein. Letzter Eigentümer und Müller war Heinrich Pasch, weswegen die Mühle auch Pasch-Mühle geheißen hat. Die Blancken-Mühle und die Immerather Mühle sind die einzigen von 14 Windmühlen, die um das Jahr 1900 im Erkelenzer Land noch genutzt wurden. 1991 wurde die inzwischen verfallene Mühle von privater Seite äußerlich originalgetreu wiederhergestellt und mit einer neuen Turmhaube und Flügeln versehen. Der Turm trägt neben der steinernen Jahresangabe „1799“ als eiserne Maueranker die Initialen der Erbauer „MB – PB“, die Haube die Inschrift „Bloes mech doch jet“. Im Inneren befindet sich ein Gastronomiebetrieb. Weitere Bauwerke Die Straße Im Pangel an der Burg und die Patersgasse am Franziskanerplatz mit ihren alten Häusern. Der 39 Meter hohe Wasserturm an der Neusser Straße wurde 1903 errichtet. Der nach oben verjüngte und wieder auskragende Turmschaft wird durch Gesimse gegliedert und trug einen stählernen Intze-Behälter, der 200 Kubikmeter Wasser fasste. Im Jahr 2004 wurde der Turm außer Betrieb genommen und 2011 von einem Privatmann zu seinem Wohnturm umgebaut. Die Karlskapelle in Oestrich, erbaut 1844, war damals das einzige Gotteshaus in der Erzdiözese Köln, das Karl dem Großen geweiht ist. Bauwerke in den Ortsteilen Haus Hohenbusch bei Hetzerath ist ein ehemaliges Kloster der Kreuzherren. Die evangelische Hofkirche befindet sich in Lövenich. Haus Keyenberg ist ein ehemaliger Rittersitz, dessen Existenz durch den Tagebau bedroht ist. Bauwerke, zerstört durch den Tagebau Garzweiler II Zahlreiche Bauwerke wurden, obwohl sie unter Denkmalschutz standen, abgerissen, u. a.: - Die ehemaligen Rittersitze Haus Paland in Borschemich im Jahr 2015 und Haus Pesch in Pesch im Jahr 2010. - Die Immerather Turmwindmühle war seit 2004 dem Verfall preisgegeben und wurde am 18. Oktober 2018 ohne Vorankündigung von RWE niedergerissen. - Der Immerather Dom, dessen Abriss weltweite, mediale Aufmerksamkeit erregte. Brunnen und Kunst im Straßenbild Sechs Brunnen sind in Erkelenz zu finden. Ein historischer Brunnen an der Leonhardkapelle wurde, wie die Inschrift auf einem in ihm gefundenen Brunnenstein angibt, am 7. Mai 1637 von Joes Berck aus der Zunft der Brunnenbauer fertiggestellt. Der Franziskusbrunnen auf dem Franziskanerplatz erinnert an das ehemalige Franziskanerkloster und wurde von dem Erkelenzer Bildhauer Michael Franke entworfen. Der Stadtbrunnen auf dem Markt mit den Motiven Löwe und Mispelblüte (geldrische Rose) aus dem Wappen der Stadt wurde von dem einheimischen Bildhauer Peter Haak anlässlich der 650-Jahr-Feier der Stadtrechte (1976) geschaffen. Haak schuf auch einen Reliefbrunnen vor dem Amtsgericht am Konrad-Adenauer-Platz. Die Pumpe auf dem Reifferscheidts Plätzchen, gefertigt aus Edelstahl und Bronze von dem Künstler Albert Sous, erinnert an den ehemaligen Standort einer der zahlreichen Zieh- und Pumpbrunnen in der Stadt. Den Spielbrunnen an der Nordpromenade gestaltete Bonifatius Stirnberg mit beweglichen Tieren aus Bronze und lädt zum Spielen ein. Die einheimische Bildhauerin Ursula Klügel hat die Figuren tanzende Möhn und die Marktfrau Äppels Bell auf dem Marktplatz entworfen. Vor der Stadtbücherei befinden sich Die Zwei Lesenden von Michael Franke. Die abstrakte Figur Sämann vor der Berufsschule stammt ebenfalls von Peter Haak. Weitere moderne Plastiken und Skulpturen wurden im Ziegelweiherpark und zuletzt in der Kölner Straße aufgestellt. Parks Der Alte Friedhof an der Brückstraße wurde 1825 angelegt und steht inzwischen unter Denkmalschutz. Der Stadtpark an der Theodor-Körner-Straße ist ein ehemaliges Parkgrundstück des Tuchfabrikanten I.B. Oellers. Der Grüngürtel trennt ein Wohngebiet von der Gewerbestraße Süd. Der Ziegelweiherpark liegt zwischen der Innenstadt und Oestrich. Der Ziegelweiher ist eine ehemalige, heute wassergefüllte Grube, in der Lehm für den Ziegelbrand ausgehoben wurde. Weitere in der Nähe gelegene Gruben wurden in den 1930er Jahren als Müllkippe genutzt und in den 1940er Jahren mit Schutt aus der zerstörten Stadt gefüllt, um schließlich, mit Mutterboden abgedeckt, als Park zu dienen. Der private Lahey-Park befindet sich zwischen den Dörfern Kückhoven und Holzweiler. Sport In den 1910/20er Jahren bestand westlich des Ortskerns eine 400 Meter lange Radrennbahn mit erhöhten Kurven, die auch als Kurs für Motorradrennen genutzt wurde. Zwischen der Innenstadt und dem Schulzentrum liegen das 2012 neuerbaute Hallen- und Freibad umfassende Erkabad, das Willy-Stein-Stadion, die Erkasporthalle und die Karl-Fischer-Sporthalle. Für die Jugendlichen steht eine Skateanlage zur Verfügung. Flugbegeisterte finden bei Kückhoven den größten reinen Ultraleicht-Flugplatz Deutschlands sowie einen Modellflugplatz. Jeder Stadtbezirk besitzt eine Turn- oder Mehrzweckhalle. Sieben Tennisanlagen und eine private Tennishalle sind vorhanden. Verschiedene Reithallen und Reitplätze stehen zur Auswahl. Regelmäßige Veranstaltungen Von Nelkensamstag bis Veilchendienstag finden Karnevalsumzüge im Erkelenzer Land statt. In Erkelenz zieht am Rosenmontag der Umzug. Der Lambertusmarkt ist ein Stadtfest in Verbindung mit der Frühkirmes und findet ab Fronleichnam zum zweiten Wochenende nach Pfingsten statt. Die Burgkirmes wird im Herbst am zweiten Wochenende im September veranstaltet. Kirmessen und Schützenfeste werden in den einzelnen Dörfern gefeiert. Die Stoppelfeldfete der katholischen Landjugend ist eine jährliche Party-Veranstaltung für Jugendliche und junge Erwachsene im Stadtgebiet. Seit 2012 findet jährlich im August das Electrisize-Festival für elektronische Tanzmusik statt, 2019 mit fast 25.000 Besuchern eine der größten lokalen Veranstaltungen. Vereine In der Innenstadt und in den Ortsteilen herrscht ein reges Vereinsleben, daher können hier nicht alle Vereine vorgestellt werden. Der wohl älteste bestehende Verein der Innenstadt ist die Erkelenzer Karnevalsgesellschaft 1832. Sportvereine mit Tradition sind der Turnverein Erkelenz 1860 und der SC 09 Erkelenz. Der erfolgreichste Verein der Stadt kommt aus der kleinen Ortschaft Hoven, der Radsportverein Viktoria Erkelenz-Hoven 1921 ist mehrfacher deutscher Meister in seiner Disziplin. Die Fußballdamen des STV Lövenich erreichten einmalig das Endspiel des DFB-Pokal 1986/87 (Frauen) das am 20. Juni 1987 mit 2:5 verloren wurde. Aber auch die Musikvereine der Stadt Erkelenz sind zu nennen, wie z. B. der Städtischer Musikverein Erkelenz e. V. gegr. 1829. In den einzelnen Erkelenzer Stadtteilen sind 15 historische Schützenbruderschaften aktiv, die im Bezirksverband Erkelenz e. V. zusammengeschlossen sind. Der Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V. hat über 1326 Mitglieder. In zehn Arbeitskreisen widmet er sich unter anderem der Erforschung und Darstellung der Erkelenzer Geschichte, Pflege der Mundart, der Pflege der lokalen historischen Musik (Cornelius-Burgh-Chor) und der Pflege des „Alten Friedhofes Brückstraße“. Mundart Die Erkelenzer Mundart, die noch von der älteren Generation gesprochen wird, aber auch in der jüngeren umgangssprachlich durchdringt, gehört der niederländischen Sprache an, die sich dem Englischen nähert. Wesentliches Merkmal ist, dass sie die hochdeutsche Lautverschiebung im Allgemeinen nicht mitgemacht hat und die stimmlosen Konsonanten t, p und k, die im Hochdeutschen zu s, f und ch verschoben wurden, noch auf dem ursprünglichen germanischen Lautstand stehen (Teke = Zeichen, Dorp = Dorf, rik = reich). Ebenso sind die germanischen langen Vokale i, u und o, die im Hochdeutschen zu ei, au und u geworden sind, noch erhalten (Win = Wein, Hus = Haus, Bok = Buch). Das Erkelenzer Land liegt aber auf der Grenzscheide zwischen den frühen salischen und den ripuarischen Franken, die Ende des 5. Jahrhunderts zum Stamm der Franken verschmolzen sind. Die Sprache der salischen Franken im Nordwesten war stark mit angelsächsischen und friesischen (ingwäonischen) Elementen durchsetzt. Die ripuarischen Franken, die sich im Süden von Köln bis über Düren und Zülpich ausdehnten, haben hingegen die hochdeutsche Lautverschiebung teilweise umgesetzt. Sprachgrenze ist hier die Benrather Linie, die von Benrath kommend nördlich von Grevenbroich und Jüchen und auf Erkelenzer Gebiet, wo sie der alten Landwehr gegen Jülich folgt, zwischen der Stadt und Holzweiler, Katzem und Lövenich verläuft. Sie führt weiter nach Baal, Linnich und Aachen. So spricht man in Erkelenz, wie für die niederfränkische Sprache nördlich dieser Linie definiert, machen = maken aber auch ebenso, wie für die ins Hochdeutsche übergehende Sprache südlich der Uerdinger Linie definiert, ich = ech statt ik. Aufgrund der Jahrhunderte währenden Isolation der Stadt wurde der Erkelenzer Dialekt auch durch politische und kirchliche, das heißt administrative Grenzen geprägt, so dass er sich von benachbarten Dialekten in manchmal wesentlichen Teilen unterscheidet. Ein bezeichnendes Präteritum der schwachen Verben ist ihm zu eigen, das auf ingwäonischen Einfluss hinweist. So heißt es im Erkelenzer Dialekt ech lachet, ech röket statt der niederfränkischen Formen ech lachde (ich lachte), ech rökde (ich rückte). Er ist niederfränkisch auf geldrischem Lautstand – südniederfränkisch – und neigt dazu, kurze Vokale zu dehnen und lange Vokale zweisilbig auszusprechen (Volk = Volek, Milch = Melek). Im „Arbeitskreis Mundart“ des Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V. widmen sich zahlreiche Menschen bei Lesungen und mundartlichen Konzerten der Pflege der heimischen Mundart. Küche Die bürgerliche Küche ist rheinländisch. Gehaltvolle Eintöpfe wie Erbsen-, Bohnen- und Linsensuppe sind beliebt. Kartoffelpuffer heißen in Erkelenz Reibekuchen und werden auf einer mit Butter bestrichenen Scheibe Schwarzbrot und dazu Apfelmus oder Rübenkraut gegessen. Zur Fastnacht werden Mutzen und von Nikolaus bis Weihnachten Weckmänner gebacken. Panhas schreibt sich in Erkelenz Pannas, ist im Gegensatz zum westfälischen dunkel und wird mit Zwiebelringen, Kartoffelpüree und Apfelmus gereicht. Der Rheinische Sauerbraten ist oft ein Sonntagsgericht, zu dem es meist Salzkartoffeln und Rotkohl gibt. Deftige Gemüsebeilage zu vielen Gerichten ist Sauerkraut, das man auch zu Eisbein serviert. Muscheln, die schon früh von der Nordsee auf den, wenn auch entfernten Schifffahrtswegen von Rhein und Maas ins Land gekommen waren, werden in den Herbstmonaten angeboten und im Frühjahr in größerem Umfang in Lövenich grüner Spargel und dort sowie in Matzerath Erdbeeren angebaut. Verschiedene Senfsorten gibt es in der Alten Senfmühle Terhorst. Der Erkelenzer Urkorn wird zwar nicht mehr in Erkelenz selbst, aber nach altem Erkelenzer Rezept gebrannt. Regionaltypische Biersorte ist das Alt. Wirtschaft und Infrastruktur Industrie und Gewerbe Heute hat Erkelenz eine breite und vielfältige Branchenstruktur. Im produzierenden Gewerbe und Handwerk zählt die Stadt etwa 300 Betriebe, wobei der Schwerpunkt im produzierenden Gewerbe beim Maschinenbau liegt. Die Internationale Bohrgesellschaft von Anton Raky entwickelte sich zur Wirth Maschinen- und Bohrgerätefabrik, die Großbohrgeräte und Tunnelbohrmaschinen für den Bergbau, die Erdöl- und Erdgasgewinnung und Maschinen für den Gründungsbau herstellt und mit über 480 Mitarbeitern zu 90 Prozent exportorientiert weltweit vertreibt. Hauptgesellschafter des Unternehmens ist heute der norwegische Mischkonzern Aker Solutions. 2014 fand eine Umstrukturierung innerhalb des Konzerns statt, die Erkelenzer Fabrik ist nun ein Bestandteil von mhwirth, die zur Akastor Gruppe gehört. Nachfolgend haben sich weitere Maschinenbau-Produzenten niedergelassen, so nach dem Zweiten Weltkrieg die aus Ratibor stammende Firma Wilhelm Hegenscheidt, ein Hersteller von Radsatzbearbeitungsmaschinen und Fest- und Richtwalzmaschinen für Kurbelwellen von PKW- und LKW-Motoren. Das Unternehmen mit rund 330 Mitarbeitern und weiteren Standorten in den USA, Indien, Südafrika und Australien wurde 1995 durch die Vossloh AG mit der Maschinenfabrik Deutschland zur Hegenscheidt-MFD zusammengefasst. Durch Besitzerwechsel wurde es 2000 in die NSH (Niles-Simmons-Hegenscheidt GmbH Machine Tool Group) integriert, die zu den 50 größten Werkzeugmaschinenherstellern der Welt gehört. 1937 wurden die Statz Hosenfabriken gegründet, die seit 2001 zur Unternehmensgruppe Brinkmann in Herford gehören. Die Firma Leeser stellt mit mehr als 150 Mitarbeitern Gummiprofile für technische Anwendungen her, und in den Gewerbegebieten rund um die Stadt finden sich zahlreiche mittelständische Betriebe jedweder Art. So fertigt die Firma Hellwig-Boote weit entfernt von offenen Gewässern Sport- und Kajütboote, 150 Boote verlassen jährlich die Werft. Etwa 800 Dienstleistungsbetriebe, Geschäfte und Büros runden das Bild ab. Davon nimmt ein buntgemischter Einzelhandel von den großen Supermärkten bis zu den kleinen Fachgeschäften mit 350 Betrieben den größten Anteil ein. Ein Wochenmarkt findet jeden Dienstagmorgen und jeden Freitagmorgen auf dem Markt am Alten Rathaus statt. Es gibt 11 Hotels und sonstige Beherbergungsbetriebe mit 189 Betten. Insgesamt wurden 2009 im Stadtgebiet 10.709 sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer gezählt, was 24 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Davon waren 42 Prozent im Dienstleistungsgewerbe, 31 Prozent im produzierenden Gewerbe und 24 Prozent im Handel, Gastgewerbe und Verkehr tätig. Die Arbeitslosenquote liegt im langjährigen Mittel bei 12 Prozent. Landwirtschaft In der seit alters her auch landwirtschaftlich geprägten Stadt umfasste 1995 die Landwirtschaftsfläche 8873 Hektar, was 75 Prozent des Stadtgebietes ausmacht. Davon waren 91,8 Prozent Ackerland, 5,3 Prozent Dauergrünland und 2,4 Prozent Baumschulen. Die Anbaufläche wurde zu 48,3 Prozent mit Getreide, insbesondere Weizen, und zu 39 Prozent mit Zuckerrüben genutzt. Insgesamt bestehen im Stadtgebiet 225 landwirtschaftliche Betriebe, von denen heute noch 145 Vollerwerbsbetriebe mit 900 Beschäftigten sind. Medien Presse Als erste lokale Zeitung erschien von 1834 bis 1847 (?) das Wochenblatt für den Kreis Erkelenz. Das Erkelenzer Kreisblatt informierte von 1854 bis 1943 über das Zeitgeschehen. Heute gibt es drei Tageszeitungen. Die Rheinische Post besitzt als einzige noch eine Lokalredaktion in Erkelenz und weist einen umfangreichen Lokalteil (Erkelenzer Zeitung) auf. Die Heinsberger Volkszeitung und die Heinsberger Nachrichten erscheinen mit einem gemeinsamen Lokalteil im Zeitungsverlag Aachen. Daneben werden wöchentlich kostenlose Anzeigenblätter verteilt, wie z. B. die Super Sonntag oder die HS-Woche, die ihren Verlagssitz in Erkelenz hat. Fernsehen und Radio Das WDR-Fernsehen berichtet in der Lokalzeit aus Aachen auch über Erkelenz. Die Promotec GmbH in Erkelenz betreibt im Internet das lokale TV-Nachrichtenmagazin www.myregio.tv, das alle 14 Tage Über Ereignisse und Veranstaltungen in der Region informiert. Der Stadtteil Lövenich war bis November 2011 Sitz von HS-TV Regionalfernsehen für den Kreis Heinsberg. Es berichtete in einer 14-täglichen Magazinsendung an über 60 Terminals im gesamten Kreisgebiet ausschließlich über regionale Themen. Der lokale Radiosender Welle West wurde im Jahr 2007 eingestellt, seitdem senden 100’5 Das Hitradio. aus dem belgischen Eupen, Antenne AC aus der StädteRegion Aachen, Radio Rur aus dem Kreis Düren und Radio 90,1 Mönchengladbach zum Teil lokale Inhalte mit Bezug zum Kreis Heinsberg. Öffentliche Einrichtungen Die Stadtbücherei Erkelenz liegt unmittelbar neben der Leonhardkapelle. Sie bietet mehr als 45.000 Medien und hat etwa 50.000 Besucher im Jahr. Das Hermann-Josef-Krankenhaus im Zentrum von Erkelenz ist ein Akutkrankenhaus mit 367 Planbetten. Es ist akademisches Lehrkrankenhaus der RWTH Aachen. Das Amtsgericht, das Finanzamt sowie die Erkelenzer Vertretung der Bundesagentur für Arbeit (Dienststelle der BA Aachen) sind auch für die Nachbarstädte Hückelhoven und Wegberg zuständig. Verkehr Luftverkehr Der Sonderlandeplatz Erkelenz-Kückhoven nah bei Kückhoven an der L 19 besitzt eine Graspiste von 350 m Länge und wird betrieben von der Ultraleichtflug Gemeinschaft Erkelenz e.V. Schienenverkehr Erkelenz besitzt den Bahnhof gleichen Namens an der Bahnstrecke Aachen–Mönchengladbach. Er ist heute nach Ein- und Ausstiegszahlen der wichtigste Halt zwischen Aachen und Mönchengladbach. In Bahnhofsnähe befinden sich Park-and-ride-Plätze und Umstiegsmöglichkeiten zum Schnellbus-, Regionalbus- und Stadtbusverkehr. Bahnhofsvorplatz, Busbahnhof und Bahnsteiganlagen wurden 2007 umfangreich modernisiert. Das alte Bahnhofsgebäude aus den 1950er Jahren wurde 2012 abgerissen, um einem Neubau zu weichen, der neben dem Reisezentrum und einem Kiosk auch ein Hotel, ein Restaurant, Café und mehrere Geschäfte beherbergt. Von 1992 bis 2002 war Erkelenz Interregio-Systemhalt. Seit 2020 wird der Bahnhof zweimal täglich von ICE-Zügen bedient und ist damit nach 18 Jahren wieder an den Fernverkehr angeschlossen. Busverkehr Im Erkelenzer Land entstand schon 1934 die Verkehrsgesellschaft Erkelenz GmbH (kurz auch nur Kraftverkehr genannt), die schon 1938 über elf Omnibusse auf sieben Linien verfügte. 1965 entstand ein eigener Betriebshof in Erkelenz. Die Verkehrsgesellschaft Erkelenz wurde zum 1. Januar 1975 mit der Geilenkirchener Kreisbahn in einem Betrieb unter der Firma Kreiswerke Heinsberg GmbH zusammengefasst. Letztere wurden im Jahr 2003 durch den Zusammenschluss der Kreiswerke Heinsberg (KWH) und der Westdeutschen Licht- und Kraftwerke (WLK) umbenannt in WestEnergie und Verkehr GmbH. Mit Abspaltung der Energie-Sparte 2015 wurde das Unternehmen umbenannt in WestVerkehr GmbH. In Erkelenz befinden sich insgesamt drei zentrale Omnibusbahnhöfe (ZOB): ZOB Bahnhof, ZOB Krefelder Straße und ZOB Kölner Tor. Der ZOB am Bahnhof dient dabei als wichtigster Busbahnhof; er wird auch von Schnellbussen angefahren, und hier gibt es Umsteigemöglichkeiten zum Regional- und Eilzugverkehr der DB. Die Haltestelle am Kölner Tor dient als innenstadtnaher Verknüpfungspunkt, der ZOB an der Krefelder Straße als wichtige Haltestelle für das Erkelenzer Schulzentrum. Neben der Bedeutung für die Beförderung von Schülern ist der Busverkehr auch wichtig als Zubringer zum Bahnhof für die umliegenden Gemeinden und größeren Dörfer. So haben beispielsweise auch Hückelhoven und Ratheim am Wochenende nur über die Linien 401 (Heinsberg – Hückelhoven – Hetzerath – Erkelenz) und 402 (vormals die Linie SB4) (Heinsberg – Hückelhoven – Baal – Erkelenz) Anschluss an das Netz der Bahn. Straßenverkehr Die Bundesstraße 57 führt an der Stadt vorbei, die Bundesautobahn 46 Heinsberg – Neuss berührt direkt Erkelenz, hier befinden sich die beiden Anschlussstellen Erkelenz-Ost (Terheeg) und Erkelenz-Süd (Granterath). Im Osten des Stadtgebietes tangierten vor der Abbaggerung die Bundesautobahn 61 Venlo – Koblenz sowie die Bundesautobahn 44 Aachen – Mönchengladbach auf einer kurzen Strecke das Stadtgebiet. Die gemeinsame Anschlussstelle für die beiden letzten Autobahnen befindet sich in Jackerath am gleichnamigen Autobahndreieck. In der Innenstadt gibt es außer den üblichen Parkplätzen einen citynahen Großraumparkplatz (Dr.-Josef-Hahn-Platz) und vier Parkhäuser (Bahnhof, Stadtpassage, Ostpromenade, Aachener Straße), deren Belegung durch ein modernes elektronisches Parkleitsystem gesteuert wird. Fahrrad Erkelenz ist an das Radwegenetz von Nordrhein-Westfalen angeschlossen. Die Stadt ist im Radwegenetz des Kreises Heinsberg mit besonderen Wegemarkierungen, sogenannten Knotenpunkten, eingebunden. Am 22. November 2011 wurde die Stadt als 65. Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen e. V.“ gewählt und darf damit offiziell den Titel „Fahrradfreundliche Stadt in NRW“ tragen. Der Heimatverein der Erkelenzer Lande hat zu seinen Rad-Thementouren „Route gegen das Vergessen“, „Mispelbaumtour“, „Erntedanktour“ und „Arnold von Harf Weg“ Flyer erstellt. Bildung Etwa 5527 Schüler besuchten 2016 die Erkelenzer Schulen. Der Charakter einer Schulstadt wird am großen Schulzentrum am Schulring deutlich, wo sich fast alle weiterführenden Schulen, darunter zwei Gymnasien, eine Realschule, eine Hauptschule und ein Berufskolleg, befinden. In der 7. Jahrgangsstufe besuchten 21 Prozent die Hauptschule, 29 Prozent die Realschule und 50 Prozent das Gymnasium. Ohne Schulabschluss blieben 4,6 Prozent. Städtische Schulen Die 1830 als Nachfolgerin einer alten Lateinschule gegründete „Höhere Bürgerschule für Knaben“ war 1856 „Königliches Progymnasium“ und 1923 Vollgymnasium geworden. Seit 1905 hatte es auch die „Höhere Mädchenschule St. Canisius“ gegeben, eine Mittelschule die von den Schulschwestern der „Armen Dienstmägde Jesu Christi“ geführt wurde. Nachdem Gymnasium und Mädchenschule in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges vollständig zerstört worden waren, wurden Jungen und Mädchen in einem neugebauten Gymnasium gemeinsam unterrichtet. Das ursprünglich humanistische und zuletzt neusprachliche Gymnasium teilte sich 1965 in ein Jungengymnasium und ein Mädchengymnasium. Das heute am Schulring beheimatete ehemalige Jungengymnasium wurde 1968 in eine koedukative Schule umgeformt und 1980 nach dem Universalgelehrten Cusanus benannt. 2012 zählt es etwa 1900 Schüler. Das Cusanus-Gymnasium Erkelenz (CGE) gehört damit zu den größten Gymnasien Nordrhein-Westfalens. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das ehemalige Mädchengymnasium, das nach dem Erkelenzer Barockmusiker und -komponisten Cornelius Burgh benannt ist und 1985 koedukative Schule wurde. Das vierzügige Cornelius-Burgh-Gymnasium (CBG) bietet einen zweisprachigen Zweig (Deutsch – Englisch) an und wird 2012 von etwa 1020 Schülern besucht. Wiederum in unmittelbarer Nachbarschaft am Schulring befindet sich auch die städtische Realschule, die seit 1966 besteht und ebenfalls einen bilingualen Zweig (deutsch – französisch) anbietet. Die Realschule sowie das Cusanus-Gymnasium tragen, auf Grund ihres bilingualen Unterrichts- und erweitertem Fremdsprachenangebotes und zahlreicher internationaler Partnerschaften und Projekte, den Titel Europaschule, die Realschule hat diesen mittlerweile als Namen adaptiert und heißt seit Ende 2008 Europaschule Erkelenz. Die Stadt Erkelenz unterhielt bis zum Jahr 2011 zwei Gemeinschaftshauptschulen (GHS), eine in der Innenstadt und eine in Gerderath. Aufgrund der sinkenden Schülerzahlen wurde die GHS Gerderath mit dem Ende des Schuljahres 2010/2011 geschlossen und mit der „GHS Erkelenz im Ganztag“ zusammengelegt. Von den zehn Erkelenzer Grundschulen befinden sich drei in der Kernstadt: Neben der katholischen Franziskus-Schule bestehen die Gemeinschaftsgrundschulen Luise-Hensel-Schule und Astrid-Lindgren-Schule. Die einzige evangelische Grundschule befindet sich im Ortsteil Schwanenberg. Die Pestalozzischule, eine Förderschule mit Förderschwerpunkt Lernen wurde mit der Hauptschule zusammengelegt. Erkelenz verfügt über keine eigene Förderschule. Kreisschulen In Trägerschaft des Kreises Heinsberg befindet sich das Berufskolleg an der Westpromenade. 2563 Schüler (Jahr 2007) lernen hier in fast 100 Klassen. Das Kolleg bündelt alle wesentlichen Berufsrichtungen und Schulformen. Die Berufskollegräume werden auch von der Anton-Heinen-Volkshochschule des Kreises genutzt. Die Kreismusikschule Heinsberg nutzt bis zur Einweihung des eigenen Gebäudes die Räumlichkeiten am Schulring 40. Sonstige Schulen An sonstigen Schulen sind das Fachseminar für Altenpflege der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Immerath zu nennen. Telefonvorwahlen In Erkelenz gilt die Vorwahl 02431. Abweichend hiervon muss man bei Telefonaten in etliche Ortsteile andere Nummern vorwählen: 02164 für Borschemich, Holzweiler, Keyenberg, Kuckum und Lützerath, 02432 für Gerderath, 02433 für Hetzerath sowie 02435 für Lövenich und Katzem. Persönlichkeiten Söhne und Töchter Dieser Abschnitt nennt einige bekannte Personen, die in Erkelenz geboren und aufgewachsen sind, die hier gewirkt haben oder deren Name eng mit der Stadt verbunden ist: Arnold von Harff (* 1471 auf Schloss Harff, Bedburg; † Januar 1505). Der Ritter und Pilger lebte ab 1499 auf einer nicht mehr erhaltenen Burg hinter dem heutigen Gut Nierhoven bei Lövenich. August Montforts (* 18. September 1850 in Gerderath; † 7. Juli 1926 Mönchengladbach); Ingenieur, Erfinder und Fabrikbesitzer Peter Wimars (* in Erkelenz; † 16. Februar 1494 in Kues an der Mosel), Sekretär des Kardinals Nikolaus von Kues (Cusanus) Mathias Baux (* in Mennekrath; † 1569 (?)) war Bürgermeister (1562/63) und Stadtschreiber in Erkelenz (1544–1558). Er verfasste die Chronik der Stadt Erkelenz (letzter Eintrag 1569) sowie das Erkelenzer Rechtsbuch und war Dichter des Geldernliedes (1499). Theodoor van Loon (* 1581/1582 in Erkelenz; † 1649 in Maastricht) war ein flämischer Maler des Barocks Cornelius Burgh (* um 1590 in Köln; † um 1637/38 in Erkelenz), Komponist aus der Frühen Neuzeit Johann Bernhard von Francken (1668–1746), kurpfälzischer Gesandter und Minister, hatte von 1727 bis 1754 die „Herrlichkeit Erkelenz“ als Pfand inne. Sybille Ohoven (* 21. April 1679 in Erkelenz; † 24. November 1773 in Erkelenz) begründete 1772 in ihrem Testament die Studienstiftung Ohoven. Über 100 Jahre lang unterstützte die Stiftung Schüler und Studenten aus dem Erkelenzer Land. Sybille Ohoven wurde in der Pfarrkirche begraben. Wilhelm Philipp Gentis (* 10. März 1696 in Erkelenz; † 5. Juli 1758 in Antwerpen), Staatsrat und als Dominikus de Gentis von 1749 bis 1758 Bischof von Antwerpen Heinrich Jansen (* um 1705; † 1779 in Erkelenz) war ein weit über die Stadtgrenzen hinaus bedeutender Barock-Holzbildhauer und Altarschnitzer, schuf unter anderem die Hochaltäre der St.-Remigius-Kirche in Viersen (1730) und des Kreuzherrenklosters in Brüggen (1755). Hermann-Josef Gormanns (* 1796; † 1867), Notar und Justizrat in Erkelenz, Stifter des Hermann-Josef-Krankenhauses Carl Platz (* 1818 Saalfeld; † 1890), Gärtner, begründete das Baumschulwesen im Erkelenzer Land Reinhold Vasters (* 2. Januar 1827 in Erkelenz; † 14. Juni 1909 in Aachen), Goldschmied für Sakrale Kunst und Meisterfälscher Pauline Sels, geborene Hoffstadt (* 29. Januar 1828 in Erkelenz; † 27. April 1908 in Neuss) begründete mit einer Stiftung in Neuss das Clemens-Sels-Museum. Elise Schilling (* 30. August 1832 in Erkelenz; † 3. April 1907 in Erkelenz), Schriftstellerin, schrieb auch unter dem Pseudonym Ernst Lingen. Conrad Anton Beumers (* 1. März 1837 in Erkelenz; † 1921), Goldschmied in Düsseldorf Leo Heinrichs (* 15. August 1867 in Oestrich; † 23. Februar 1908 in Denver, Colorado), Pater im Franziskanerorden, 1908 in Denver während der Heiligen Messe von einem Anarchisten erschossen. Ein Seligsprechungsverfahren ist eingeleitet. Joseph Geyser (* 16. März 1869 in Erkelenz; † 11. April 1948 in Siegsdorf), Philosoph, Professor in Münster, Freiburg und München, Vertreter der Philosophia perennis Reinhold Klügel (* 25. September 1878 in Niederlangenau/Niederschlesien; † 7. September 1965 in Erkelenz) Arbeitersekretär und Kommunalpolitiker Joseph Hahn (* 18. Oktober 1883 in Erkelenz; † 10. November 1944), Mitglied der Zentrumspartei, Herausgeber der Zeitung Erkelenzer Kreisblatt, 1944 im Zuge der Aktion Gewitter für einige Wochen inhaftiert, verstarb nach seiner Freilassung noch im selben Jahr an den Folgen seiner KZ-Haft. Eduard Wessel (* 30. Mai 1883 in Wittlich; † 21. Dezember 1944 in Erkelenz), Landrat des Kreises Erkelenz von 1933 bis 1945 Jacob Herle (* 1885 in Erkelenz; † 1957), Unternehmer und Verbandsfunktionär Heinrich Sieben (* 10. Januar 1894 in Erkelenz; † 24. Dezember 1954 in Erkelenz), Kaufmann und Politiker (CDU), Bürgermeister in Erkelenz von 1948 bis 1952 und Landrat des Kreises Erkelenz von 1946 bis 1948 Jack Schiefer (* 16. April 1898 in Sinnersdorf; † 29. Januar 1980 in Erkelenz), Sozialdemokrat, Schriftsteller, Widerstandskämpfer und Häftling in der NS-Zeit, 1945 erster Landrat und 1946 Oberkreisdirektor im damaligen Kreis Erkelenz Joseph Emonds (* 15. November 1898 in Erkelenz-Terheeg; † 7. Februar 1975 in Euskirchen-Kirchheim), katholischer Geistlicher und 2013 von der Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechter unter den Völkern geehrt Werner Müller (* 10. Februar 1900 in Frankfurt; † 5. Mai 1982 in Düsseldorf), Direktor bei der Bohr, am 14. Oktober 1943 vom Volksgerichtshof wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt, im Februar 1944 zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, überlebte und baute nach dem Krieg die Bohrgerätefabrik wieder auf. Vom 12. Februar bis zum 12. Oktober 1946 war er von der britischen Militärregierung zum Landrat des Kreises Erkelenz berufen worden. Dietmar Kamper (* 5. Oktober 1936 in Erkelenz; † 28. Oktober 2001 in Berlin), Philosoph, Schriftsteller, Soziologe und Hochschullehrer Karl H. Fell (* 16. Dezember 1936 in Erkelenz; † 1996), Politiker (CDU) Rassem Yahya (* 24. August 1938), ein aus Palästina stammender syrischer Basketballnationalspieler und deutscher Basketball-Bundesligaspieler (BBL), unter anderem Deutscher Basketballmeister 1962 und 1969 sowie 1967 Pokalsieger des Deutschen Basketball Bundes. Als promovierter Chirurg bis 2005 in eigener Facharztpraxis in Erkelenz tätig. Klaus Tenfelde (* 29. März 1944 in Erkelenz; † 1. Juli 2011 in Bochum), Historiker, Professor für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen, Direktor des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum. Ricarda Brandts (* 26. August 1955 in Erkelenz), Juristin Andrea Hilgers (* 22. September 1962 in Immerath; † 7. Juni 2019 Braunschweig), Politikerin (SPD) und Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft Ralf Georg Czapla (* 24. Juni 1964 in Immerath), Literatur- und Kulturwissenschaftler Heinz Lengersdorf (* 4. November 1966 in Erkelenz), klassischer Pianist Claudia Kemper (* 1973), Historikerin Lewis Holtby (* 18. September 1990 in Erkelenz), Profi-Fußballspieler Simon Unge, bürgerlich Simon Wiefels, (* 31. August 1990 in Erkelenz), Webvideoproduzent auf YouTube Jil Frehse (* 10. Mai 2004), Fußballspielerin. Ehrenbürger Franz Jungbluth (* 4. Oktober 1809 in Aldenhoven; † 28. Dezember 1872 in Aachen), Justizrat in Aachen, er regelte den Nachlass seines verstorbenen Onkels Hermann Josef Gormanns. Hieraus entstand die Gormannsstiftung (später: Hermann-Josef-Stiftung), die 1871 das Krankenhaus erbaute. Franz Jungbluth war die erste Persönlichkeit, die die Ehrenbürgerwürde erhielt. Franz Reinkens (* 3. Dezember 1826 in Burtscheid; † 4. Juli 1905 in Aachen), 39 Jahre, von 1861 bis 1900, Bürgermeister Hermann Joseph Kamp (* 28. April 1849 in Merzenhausen; † 4. Juni 1931 in Erkelenz), der Prälat, Ehrendechant und Monsignore war von 1903 bis 1931 Oberpfarrer an St. Lambertus. Bernhard Hahn (* 22. Februar 1855 in Soller; † 13. Dezember 1931 in Erkelenz), Bürgermeister von 1900 bis 1916, initiierte die Modernisierung der Stadt. Anton Raky (* 5. Januar 1868 in Seelenberg; † 22. August 1943 in Berlin), Pionier der Bohrtechnologie, Begründer der Internationalen Bohrgesellschaft in Erkelenz und großzügiger Gönner der Stadt Wilhelm Meyer (* 28. November 1856 in Orsbeck; † 30. August 1934 in Erkelenz), Justizrat und Notar in Erkelenz, langjähriger Beigeordneter der Stadt Alfred von Reumont (* 15. März 1863 in Aachen; † 30. Juli 1942 in Fahr/Rhein), Landrat des Kreises Erkelenz von 1895 bis 1928 Johannes Spitzlei (27. November 1866 in Köln; † 24. Oktober 1934 in Mönchengladbach), von 1916 bis 1932 Bürgermeister von Erkelenz Jacob Herle (* 25. Juni 1885 in Erkelenz; † 8. September 1957 in Erkelenz), Geschäftsführer in Industrieverbänden, von 1945 bis 1952 in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR in Haft Edmund Knorr (* 11. Oktober 1885 in Ratheim; † 9. Januar 1979 in Erkelenz), Lehrer, Naturschützer und Ornithologe Hermann Jansen (* 25. März 1889 in Kleingerichhausen; † 20. März 1972 in Erkelenz), von 1952 bis 1969 Bürgermeister von Erkelenz Heinrich Maassen (* 17. Dezember 1889 in Oestrich; † 27. November 1971 in Lövenich), rund vier Jahrzehnte haupt- und ehrenamtlicher Bürgermeister in Lövenich Johann Corsten (* 12. Juni 1892 in Keyenberg; † 22. März 1982 in Immerath), Amtsrentmeister, Bürgermeister, langjähriger Brudermeister der St. Sebastianus Schützenbruderschaft Immerath Eugen Gerards (* 6. April 1904 in Oestrich; † 31. Mai 1985 auf Hauerhof), Landwirt auf Hauerhof bei Katzem und von 1958 bis 1970 Landtagsabgeordneter der CDU Alex Schäfer (* 11. Juli 1905 in Wanlo; † 11. April 1980 in Erkelenz); Dreher und von 1959 bis 1971 Ratsherr und stellvertretender Bürgermeister in Kückhoven Konrad Büschgens (* 15. September 1906 in Kückhoven; † 26. Dezember 1984 in Erkelenz), Landwirt und von 1966 bis 1971 Bürgermeister in Kückhoven Alois Jost (* 22. September 1908 in Hehlrath/Aachen; † 11. Juni 1993), Jurist, von 1952 bis 1971 Stadtdirektor der Stadt Erkelenz Jakob Franzen (* 16. September 1919 in Gerderath; † 6. Juni 2008), Weber, seit 1946 im Gerderather Gemeinderat, von 1947 bis 1972 Bürgermeister in Gerderath und von 1972 bis 1992 Ratsherr in Erkelenz Louis Rabel (* 6. Februar 1922 in Huisnes-sur-Mer (F); † 2. November 1996), Bürgermeister der französischen Partnerstadt Saint-James. Er wurde am 12. März 1987 zum Ehrenbürger ernannt. Willy Stein (* 28. Juni 1925 in Gelsenkirchen; † 28. Oktober 2003 in Erkelenz), Lehrer und langjähriger Bürgermeister Arnold Poll (* 14. September 1925 in Gey; † 16. April 2016 in Houverath) der Prälat und Pfarrer in Houverath baute das Kindermissionswerk Aachen und die Sternsingeraktion auf Michel Thoury (* 20. Juli 1942 in Saint-Hilaire-du-Harcouët; † 17. Februar 2015 auf der Autoroute A84 bei Pont-Farcy), Zahnarzt und von 1983 bis 2014 Bürgermeister der französischen Partnerstadt Saint-James Yannick Duval (* 24. Juni 1953 in Saint-James), Präsident der Tricots St. James und langjähriger Vorsitzender des Partnerschaftskomitees in Saint James Literatur Bildbände Edwin Pinzek: Erkelenz – Eine Stadt ändert ihr Gesicht, Bildband mit erläuternden Texten. Stadt Erkelenz 1966. Edwin Pinzek: Erkelenzer Land. Kunstwerke und Baudenkmale. Bildband mit erläuternden Texten. Kreis- und Stadtsparkasse Erkelenz, Erkelenz 1973. Klaus Barisch, Friedel Krings, Josef Rick: Erkelenz, Bildband mit begleitenden Texten, Rheinland-Verlag, Pulheim 1980, ISBN 3-7927-0539-7. Erkelenz – mittendrin und rundherum – Stadt und Land im Wandel. (Bildband) Herausgegeben vom Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V., Erkelenz 2012. Hiram Kümper, Christina Clever-Kümper: Erkelenz, Rheinische Kunststätten Nr. 556, Köln 2015, ISBN 978-3-86526-109-0. Historisches Josef Gaspers, Leo Sels: Geschichte der Stadt Erkelenz. Erkelenz 1926 Albert Huyskens: Der Anteil des Aachener Münsterstifts an der Entwicklung der Grundherrschaft Erkelenz zur Stadt. Verlag Jakob Herle, Erkelenz 1929 Studien zur Geschichte der Stadt Erkelenz vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Herausgegeben von der Stadtverwaltung anlässlich der 650-Jahr-Feier der Stadt Erkelenz. (Schriftenreihe der Stadt Erkelenz 1) Rheinland-Verlag, Köln 1976, ISBN 3-7927-0285-1. Barbara Karbig: Die Grundherrschaft des Aachener Marienstiftes in Erkelenz. In: Schriften des Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V., Band 11, Erkelenz 1991. Maria Meurer: Erkelenz privat 1920–1970. Persönliche Stadtgeschichte(n). Sutton Verlag, 2000, ISBN 3-89702-183-8. Stefan Grates: Der große Münzalmanach über alte Währungen im Erkelenzer Land, Band 1/2006. Periodika Erkelenzer Geschichts- und Altertumsverein. 10 Hefte, Erkelenz 1920 bis 1930 Heimatkalender der Erkelenzer Lande. Kreis Erkelenz in Zusammenarbeit mit dem Heimatverein der Erkelenzer Lande, 21 Bände, Erkelenz 1952 bis 1972. Schriften des Heimatverein der Erkelenzer Lande e. V. Innerhalb dieser Reihe erscheinen Monografien und Sammelbände, 31 Bände, Erkelenz 1981 bis 2018. Schriftenreihe der Stadt Erkelenz. 12 Bände, Erkelenz seit 1976. Heimatkalender des Kreises Heinsberg. 47 Bände, Heinsberg 1973 bis 2019. Weblinks Webseite der Stadt Erkelenz Kirchen und Kapellen in der Stadt Erkelenz Bilder aus Erkelenz Denkmale in der Stadt Erkelenz www.kultur-erkelenz.de – Kulturelle Veranstaltungen St. Lambertus – Webseite der Pfarre mit Informationen zum denkmalgeschützten Kirchturm Erkelenz im Genwiki Virtuelles Museum der verlorenen Heimat Einzelnachweise Ort im Kreis Heinsberg Ehemalige Kreisstadt in Nordrhein-Westfalen Mittlere kreisangehörige Stadt in Nordrhein-Westfalen
19541
https://de.wikipedia.org/wiki/Freistadt
Freistadt
Freistadt (tschechisch Cáhlov) ist eine oberösterreichische Stadtgemeinde mit Einwohnern (Stand ) im Unteren Mühlviertel und seit 1849 Sitz der Bezirkshauptmannschaft des Bezirkes Freistadt. Die Stadt liegt rund 38 Kilometer nordöstlich der Landeshauptstadt Linz und rund 17 Kilometer südlich der Staatsgrenze zu Tschechien. Freistadt wurde ab 1220 planmäßig angelegt und erlebte seine Blütezeit zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Nach dem Dreißigjährigen Krieg verlor Freistadt sämtliche Privilegien aus der Gründungszeit. Daraus resultierte ein wirtschaftlicher Abschwung und im 19. Jahrhundert die Entwicklung zur Schul- und Verwaltungsstadt. In den beiden Weltkriegen fanden im Raum Freistadt keine kriegerischen Auseinandersetzungen statt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag Freistadt in der sowjetischen Besatzungszone. Freistadt ist das schulische, kulturelle, medizinische und wirtschaftliche Zentrum des gleichnamigen Bezirks. Die gotische Altstadt mit der mittelalterlichen Stadtbefestigung, den Wehrtürmen und den barocken Fassaden der Bürgerhäuser zählt zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Freistadt ist eine der wenigen Städte in Österreich, deren Befestigungsanlagen fast vollständig erhalten sind. Geografie Lage Freistadt liegt im nordöstlichen Teil des Mühlviertels (unteres Mühlviertel) südlich des Freiwalds in einer weitläufigen Talsenke, dem so genannten Freistädter Becken. Im Westen, Norden und Osten wird Freistadt von rund 650 bis 700 Meter hohen bewaldeten Hügeln umschlossen, die nur durch das Thurytal unterbrochen sind. Nach Süden hin umschließen kleinere Hügel das Stadtgebiet. Das Stadtgebiet erstreckt sich über  Quadratkilometer. Damit ist Freistadt flächenmäßig die zweitkleinste Gemeinde des Bezirks. Die größte Ausdehnung in Ost-West-Richtung beträgt 4,9 km, in Nord-Süd-Richtung 5,7 km. Die Stadt liegt auf einer Höhe von , gemessen beim Rathaus am Hauptplatz. Der höchste Punkt des Gemeindegebietes ist mit einer Höhe von der Trölsberg im Südwesten, der niedrigste befindet sich an der Feldaist im Südosten (rund ). Die Landeshauptstadt Linz liegt rund 38 km südwestlich von Freistadt entfernt, die tschechische Stadt České Budějovice (Budweis) etwa 60 km nördlich von Freistadt. Die Bundeshauptstadt Wien ist in östlicher Richtung zwei Autostunden entfernt (circa 180 km). Die Staatsgrenze zu Tschechien (bei Wullowitz) befindet sich annähernd 17 km nördlich der Stadt. Geologie und Gewässer Freistadt liegt auf dem Granit- und Gneisplateau, dem österreichischen Anteil der Böhmischen Masse und gehört zur oberösterreichischen Raumeinheit Zentralmühlviertler Hochland. Im Raum Freistadt ist der Freistädter Granodiorit zu finden, der in zwei Varianten auftritt, dem mittelkörnigen Randtyp (Randfazies) und dem feinkörnigen Kerntyp (Kernfazies). Ab der Hafnerzeile entlang des Grabens (nordöstlich der Altstadt, entlang der Feldaist) kommt der Grabengranit vor, ein mittelkörniger Zweiglimmergranit mit dem Hauptanteil an Plagioklas und auffallend großen, runden Quarzkörnern. Der Biotitgehalt beträgt circa 7 %, der Hellglimmergehalt 3 bis 4 %. Obwohl der Grabengranit Ähnlichkeiten mit dem Freistädter Granodiorit hat, hebt er sich durch seine Helligkeit ab. Im Bereich der Altstadt herrscht vor allem grober Granodiorit vor. Entlang des Gewässers Jaunitz im Bereich des Bahnhofs stehen Tertiärsedimente an, die entlang der Bahnlinie in Richtung Norden verlaufen. Die glimmer- und feldspatreichen Sedimente lassen sich im Wesentlichen in rostbraune Sande und Kiese sowie blaugraue Sande, Schluffe und Tone aufteilen. Immer wieder werden Stücke von verkieseltem Holz in diesen Sedimenten gefunden. Im Talbereich der Jaunitz bestehen diese Sedimente in geringer Mächtigkeit, nach Norden beziehungsweise Nordosten ziehen sie über einen Höhenrücken zum Gehöft Prandl. Der einzige gute Aufschluss ist die Kies- und Sandgrube rund 500 Meter nordöstlich des Gehöftes Lengauer (Gemeinde Waldburg). Durch Freistadt fließt die Feldaist von Norden nach Süden in Richtung Donau. Die Jaunitz, von Westen kommend, bildet im Süden teilweise die Gemeindegrenze und mündet in die Feldaist. Weitere Fließgewässer (Bockaubach und Scherbenbach), die ebenfalls in die Feldaist münden, sind unbedeutend. Die Bäche im Raum Freistadt lagerten kaum nennenswerte Mengen von Alluvionen ab. An namhaften Stillgewässern existiert der Frauenteich beim Böhmertor, der Pregartenteich beim Brauhaus sowie der Weihteich im Ortsteil Galgenau. Stadtgliederung und Flächennutzung Die Stadt liegt in der gleichnamigen Katastralgemeinde und gliedert sich in vier folgende Ortschaften (in Klammern Einwohnerzahl Stand ): Freistadt () Galgenau () Sankt Peter () Trölsberg () Der Ortsteil Freistadt umfasst das gesamte bebaute Gebiet rund um die Altstadt samt der Böhmer Vorstadt im Norden und der Linzer Vorstadt im Süden. Der Ortsteil Galgenau liegt im Süden der Stadt im Bereich der Landwirtschaftsschule, der Ortsteil Trölsberg umfasst die Gebäude rund um den Bahnhof im Südwesten und der Ortsteil St. Peter liegt nördlich des Ortsteils Trölsberg auf einer Anhöhe. Die zuletzt genannten drei Ortsteile kamen am 1. November 1938 zum Gemeindegebiet hinzu, als die Gemeinde Zeiß aufgelöst wurde bzw. am 1. Oktober 1939 als Gebiete von den Gemeinden Waldburg und Grünbach abgetreten wurden. Der größte Anteil der Gemeindefläche von 12,88 Quadratkilometern wird von landwirtschaftlichen Nutzflächen eingenommen, die mehr als 48 % des Gemeindegebietes umfassen (Oberösterreich 49,3 %). 24,1 % entfallen auf Wälder (Oberösterreich: 36,9 %), 15,5 % auf Bauflächen und Gebäude, 6,7 % auf Verkehrsflächen, 2,2 % auf Gärten, 0,9 % auf Gewässer und 2,6 % auf sonstige Flächen. Klima Das Klima in Freistadt ist rau, bedingt durch die Lage in einer Talsenke (Kaltluftseebildung). In seltenen Fällen kann daher schon im September Morgenfrost eintreten. Das Freistädter Becken unterscheidet sich klimatisch vom südlichen Mühlviertel und vom oberösterreichischen Zentralraum durch mehr Schnee und eine etwas geringere Nebel- und Hochnebelhäufigkeit. Der Niederschlag ist geringer als in ähnlicher Seehöhe am Alpennordrand Oberösterreichs. Das Becken zählt zu den klimatisch kontinentalsten Teilen Oberösterreichs. Die Lufttemperatur (Tagesmittel) in den Jahren 1971 bis 2000 war im Vergleich zur Landeshauptstadt Linz durchschnittlich um rund 2,5 °C niedriger und betrug für Freistadt 6,9 °C. Die mittlere Niederschlagsmenge lag bei rund 700 Millimetern jährlich. 75,5 Frosttagen und 21 Eistagen stehen 50,7 Sommertage und 8,3 heiße Tage gegenüber. An durchschnittlich 74,2 Tagen liegt Schnee; an 10,5 Tagen beträgt die Schneehöhe mehr als 20 Zentimeter, wobei die maximale Schneedecke mit 65 cm im Februar erreicht wird. Freistadt verzeichnet jährlich 1741,1 Sonnenstunden, wobei zwischen November und Jänner jeweils weniger als 50, hingegen im Juli und August mehr als 235 Sonnenstunden anfallen. Der Wind kommt meist aus west- und nordwestlicher Richtung. Freistadt ist seit 1991 Klimabündnis-Partnergemeinde und verweist auf eigene Aktivitäten zur kontinuierlichen Verminderung der Treibhausgas-Emissionen, beispielsweise in den Bereichen Energie, Verkehr und Sonstige Projekte. Nachbargemeinden Die Stadt Freistadt ist von sechs Gemeinden umgeben, die alle zum Bezirk Freistadt gehören. Folgende Gemeinden grenzen an das Stadtgebiet (sie werden nach dem Uhrzeigersinn, beginnend im Norden genannt): Rainbach im Mühlkreis, Grünbach, Lasberg, Kefermarkt, Neumarkt im Mühlkreis und Waldburg. Im Osten reicht die Gemeinde Lasberg mit dem Ortsteil Manzenreith bis 130 Meter Luftlinie an die Altstadt heran. Im Süden ist die Gemeindegrenze zu Neumarkt im Mühlkreis rund 4,5 Kilometer Luftlinie entfernt. Mit allen Gemeinden des Bezirks arbeitet die Stadt im Verband Interkommunale Betriebsansiedlung Region Freistadt mit drei Standorten im gesamten Bezirk zusammen. Geschichte Stadtgründung, Aufstieg und Blütezeit Über den genauen Zeitpunkt der Entstehung der Stadt gibt es nur Vermutungen, da etwaige Urkunden entweder verloren gegangen sind oder zu wenig aussagen. Es wird angenommen, dass Freistadt um 1225 vom Babenberger Leopold VI., dem Glorreichen (Herzog von Österreich) planmäßig angelegt wurde, indem er eine bestehende Siedlung am Handelsweg von Enns nach Norden erweiterte und mit zahlreichen Privilegien ausstattete, um die wirtschaftliche Existenz zu sichern. Erstmals wurde Freistadt als „Frienstat“ 1241 urkundlich erwähnt, 1277 gewährte König Rudolf von Habsburg der „Vreinstat“ (damaliger Name der Stadt) das Niederlags- und Stapelrecht sowie den Straßenzwang. Durch die verliehenen Privilegien stieg Freistadt ab dem 14. Jahrhundert rasch zu einer reichen und blühenden Stadt auf und wurde das wirtschaftliche Zentrum des Mühlviertels. Die Lage an einer wichtigen Handelsstraße (Goldener Steig) war Lebensgrundlage und Quelle des Reichtums. Die Haupthandelswaren in Richtung Norden waren Eisen und Salz aus dem südlichen Oberösterreich sowie Fische aus Böhmen in Richtung Süden. Die alte Burg wurde im 15. Jahrhundert zum Salzlager (heutiger Salzhof) ausgebaut. In diesen Jahren konnte Freistadt seinen Reichtum stetig mehren und seine Privilegien gegenüber den Nachbarorten verteidigen. Die ersten Stadtmauern wurden zum Schutz des Reichtums am Ende des 14. Jahrhunderts und Mitte des 15. Jahrhunderts wesentlich verstärkt und es entstand die heute noch vorhandene Stadtbefestigung und das Schloss Freistadt in der Nordostecke der Stadt. Als wichtigste Verteidigungsanlagen ließ die Stadt Türme entlang der Stadtmauer anlegen. Im Mittelalter bildeten das Linzertor im Süden und das Böhmertor im Norden die einzige Einfahrtmöglichkeit für Pferdefuhrwerke über Zugbrücken. In seiner gesamten Geschichte blieb Freistadt von größeren kriegerischen Zerstörungen verschont. Allerdings kam es während der Hussitenkriege (1424–1432) zu einer Belagerung, bei der auch die Vorstadt und die Frauenkirche niedergebrannt wurden. 1596 und 1626 belagerten Bauernheere die Stadt und 1610 die Bayern. Größere Schäden in der Stadt verursachten jedoch Brände. Die beiden großen Stadtbrände 1507 und 1516 vernichteten alle Häuser in der Stadt und die üppige Ausstattung der Stadtpfarrkirche. Nur das abseits stehende Schloss und die Häuser der Vorstädte wurden verschont. Daraufhin wurden die Häuser mit heute noch sichtbaren Mantelmauern (Feuermauern) ausgestattet. Der Protestantismus wurde in Freistadt auf Grund der Handelsbeziehungen rasch angenommen und mehr als die Hälfte der Bevölkerung bekannte sich um 1610 zu dieser Glaubensrichtung. Auch die radikal-reformatorische Täuferbewegung verfügte über eine Gemeinde in der Stadt, die wahrscheinlich von Hans Schlaffer begründet wurde. Im Zuge der Gegenreformation nach dem Zweiten Oberösterreichischen Bauernkrieg und dem Sieg von Kaiser Ferdinand II. über die Protestanten wurden 1627 alle Protestanten ausgewiesen; über deren spätere Wohnorte ist nichts Genaues bekannt. Diesen großen Substanzverlust konnte die Stadt lange Zeit nicht überwinden. Wendepunkt 1627 und die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg Der Dreißigjährige Krieg war ein Wendepunkt in der Geschichte der Stadt. Durch die Änderung der Grenze zu Böhmen verlor Freistadt seine Privilegien und büßte seine Bedeutung als Handelsstadt und Bollwerk (Grenzstadt) ein. Die wirtschaftliche Lage nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges war sehr schlecht. Neben dem Rückgang des Handels minderten Absolutismus (Verlust der politischen Selbstverwaltung) und Merkantilismus (Manufakturen verminderten die Bedeutung der Zünfte) die Bedeutung der Stadt. Der größte Vorteil der Stadt war die Lage an einer wichtigen Handelsstraße – der Salzhandel nach Böhmen nahm noch immer den Weg über Freistadt –, wodurch eine Verarmung vermieden werden konnte. Freistadt erreichte in der Folge nie wieder die Bedeutung, die es vor dem Dreißigjährigen Krieg hatte. 1777 wurde ein neues Brauhaus errichtet, nachdem die Braucommune Freistadt 1770 gegründet wurde. Seit 1850 ist Freistadt die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks. Die 1862 erstmals veranstaltete Freistädter Messe (heute: Messe Mühlviertel) sollte den wirtschaftlichen Aufschwung einleiten. Die Pferdeeisenbahn Linz–Budweis fuhr ab 1832 weit an der Stadt vorbei. Erst mit der Eröffnung der Summerauer Bahn im November 1872 entstand in Freistadt ein Bahnhof. Die Piaristen führten von 1761 bis 1870 eine deutsche Schule und eine Lateinschule. Die Entwicklung zur Schulstadt zeigte sich daran, dass seit dem Jahr 1852 die Armen Schulschwestern unserer lieben Frau eine Schule in der Stadt führen. Im Jahr 1900 kamen die Marianisten und errichteten außerhalb der Stadt ein großes Schulgebäude, in dem sie bis heute eine Privatschule führen. Seit 1867 gibt es in Freistadt die Unterstufe eines Gymnasiums, 1871 folgte die Oberstufe. Vom Ersten Weltkrieg bis heute Im Ersten Weltkrieg errichtete das Militär das Kriegsgefangenenlager Freistadt für russische Soldaten, das bis zu 20.000 Gefangene in 91 Baracken beherbergte. In der Zwischenkriegszeit kam es wie im übrigen Österreich zur Radikalisierung der politischen Parteien, im Bürgerkrieg 1934 fielen jedoch keine Schüsse. Versuche, die wirtschaftliche Lage zu verbessern, führten zur Gründung neuer Unternehmen, die öffentliche Hand förderte die Wirtschaft und investierte in die Straßenpflasterung und Kanalisierung. 1937 fand die Eröffnung der „Erzherzog-Karl-Kaserne“ (heute „Tilly-Kaserne“) statt. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vergrößerte die Wehrmacht die bestehende Garnison und stationierte in der Folge mehr als 1000 Soldaten in Freistadt. Einige Freistädter schlossen sich der Widerstandsgruppe Neues freies Österreich an. Im Oktober 1944 wurden sie jedoch verraten, später zum Tode verurteilt und am 1. Mai 1945 hingerichtet. Ein Denkmal vor dem Linzertor erinnert an dieses Ereignis. In den Kriegsjahren fiel keine einzige Bombe auf Freistadt, das gegen Kriegsende drei Lazarette beherbergte. Am 7. Mai 1945 erreichten amerikanische Panzer kampflos die Stadt. Am 13. Mai kam die Rote Armee dazu und teilte sich bis zum 23. Mai die Stadt mit den Amerikanern, bis diese sich südlich der Bahnlinie zurückzogen. Die sowjetischen Soldaten quartierten sich als Besatzungsmacht in den Privathäusern ein, und das Haus Hagleitner am Hauptplatz diente als Sitz der Kommandantur. Im Jahr 1945 zogen 100.000 Flüchtlinge durch die Stadt, die in mehreren Flüchtlingslagern untergebracht wurden. In der Spitze hielten sich über 12.000 Flüchtlinge gleichzeitig in der Stadt auf. Der wirtschaftliche Aufschwung blieb auf Grund der fehlenden Investitionen in den ersten Nachkriegsjahren gering. Erst nach dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 und dem Abzug der sowjetischen Besatzungsmacht änderte sich das Investitionsklima und auch Freistadt profitierte vom so genannten Wirtschaftswunder Österreichs. Die Bevölkerung wuchs auf rund 6000 Einwohner an, die Neugründung von Betrieben sowie die Ausweitung von Kapazitäten in bestehenden Unternehmen trugen zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Weiters erfolgten Investitionen in den Wohnungs- und Straßenbau, die Errichtung von Wasserleitungen und Kanalisationen sowie in den Bau einer Kläranlage. Die Sanierung der Altstadt sollte den Tourismus fördern. Weitere Infrastrukturmaßnahmen erfolgten durch den Bau eines Krankenhauses 1947, die Erneuerung der Schwimmbäder und der Sportanlagen. Freistadt entwickelte sich immer mehr zur Schulstadt, zwischen 1956 und 1971 wurden vier neue Schulgebäude errichtet. Im Jahr 1977 wurden mehrere Einstellungen für die 1979 ausgestrahlte TV-Miniserie „Holocaust“ in Freistadt gedreht, unter anderem Szenen, die im KZ Theresienstadt spielen. Anfang der 1990er Jahre wurde im Süden der Stadt das neue Landeskrankenhaus errichtet. Im Spätherbst 1997 fand ein Landwirt in der Nähe des Gehöfts Fuchsenhof beim Pflügen eines Feldes einen sehr bedeutenden Silberschatz mit 6700 Münzen und Hunderten von Silberobjekten. Erst 2004 wurde der Fund, der wahrscheinlich einem Goldschmied gehörte, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht; er befindet sich seitdem im Schlossmuseum Linz. Die starken Regenfälle während des Donauhochwassers 2002 führten zu Überschwemmungen im Nahbereich der Feldaist. 2003 wurden der Salzhof zum Kultur- und Veranstaltungszentrum umgebaut und die Messe- und Veranstaltungshalle errichtet. 2004 errichtete die Stadt die neue multifunktionelle Sporthalle. Mit der Landesausstellung 2013 einher ging eine Renovierung vieler Altstadt-Häuser und die Erneuerung der Beleuchtung dieser. Mit der Eröffnung der S 10 – Umfahrung Freistadt – am 15. November 2014 wird eine verkehrsmäßige Entlastung der B 310 durch das Stadtgebiet erwartet. Bevölkerung Bevölkerungsentwicklung Im Jahr 1541 starben etwa 230 Menschen (das war circa ein Siebentel der Freistädter Bevölkerung) an der Pest. Rechnerisch entspricht dies einer damaligen Bevölkerung von rund 1610 Einwohnern. Anfang des 19. Jahrhunderts lebten in Freistadt rund 2500 Bewohner. Im Jahr 1869 wohnten im Stadtgebiet 3253 Menschen. Seitdem kann ein bis heute andauernder leichter Bevölkerungsanstieg festgestellt werden. Der höchste Bevölkerungsschub wurde zu Beginn der NS-Zeit 1939 auf Grund der vergrößerten Garnison verzeichnet. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wächst Freistadt prozentuell stärker als der gleichnamige politische Bezirk oder das Bundesland Oberösterreich. Im Jahr 1991 hatte die Stadt bei der Volkszählung 6917 Einwohner, 2001 bereits 7353, was einem Zuwachs von 6,3 % entspricht. In den folgenden Jahren bewegte sich die Bevölkerungszahl in einer Bandbreite zwischen einem Maximum von 7506 Bewohnern (2002) und einem Minimum von 7437 Bewohnern (2008/2009). Zum 1. Jänner 2011 betrug die Einwohnerzahl 7482 Einwohner. Vom Mittelalter bis zum Jahr 2000 war Freistadt die bevölkerungsreichste Gemeinde des Mühlviertels (außerhalb der heutigen Stadtgrenze von Linz), bevor die Stadt von der Gemeinde Engerwitzdorf abgelöst wurde. Bevölkerungsstand und -struktur Bei der Erhebung 2011 betrug der Anteil der Einwohner, die 65 Jahre und älter waren, 15,8 %; 15,6 % waren unter 15 Jahre alt. Der Anteil der weiblichen Bevölkerung lag bei 51,7 %. Von den 5952 Bewohnern Freistadts, die bei der Volkszählung 2001 über 15 Jahre alt waren, hatten 7,6 % eine Universität, Fachhochschule oder Akademie abgeschlossen. Weitere 9,9 % hatten eine Matura absolviert, 35,2 % hatten einen Lehrabschluss oder eine berufsbildende mittlere Schule besucht und 36,5 % aller Freistädter hatten die Pflichtschule als höchsten Abschluss. Der deutsche Dialekt, der im Raum Freistadt sowie im größten Teil Oberösterreich allgemein gesprochen wird, ist das Ostmittelbairische oder Donaubairische. Der ostösterreichische Zweig des Mittelbairischen geht auf die Mundart des durch die bairische Ostsiedlung entstandenen babenbergischen Herrschaftsgebietes Ostarrichi zurück. 93,1 % der Freistädter gaben 2001 Deutsch als Umgangssprache an. Weitere 3,4 % sprachen hauptsächlich Türkisch, 0,8 % Kroatisch und 0,5 % Tschechisch. Der Anteil der Freistädter mit ausländischer Staatsbürgerschaft lag 2011 mit 5,7 % unter dem Durchschnitt Oberösterreichs. Von allen 427 Einwohnern mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft entfielen 39,3 % auf türkische Staatsbürger, 30,6 % auf Staatsbürger aus anderen EU-Ländern und 22,7 % auf Staatsbürger aus den anderen europäischen Ländern. Die restlichen 7,4 % verteilen sich auf die übrigen Kontinente. Der Anteil der Freistädter mit ausländischem Geburtsort lag 2011 bei 9,3 %, wiederum ist die Türkei mit 36,9 % vor den EU-Ländern mit 36,2 % führend. Der Rest verteilt sich analog zu den Staatsbürgerschaften auf alle Kontinente. Religion Freistadt war immer stark katholisch geprägt. Nur wenige Jahre vor der Gegenreformation stellten die Protestanten die Mehrheit der Freistädter Bevölkerung. Nach deren Vertreibung lebten offiziell nur Katholiken in der Stadt; die bekehrten Protestanten übten ihre Konfession im Verborgenen aus. Seit 1997 besteht eine freikirchliche Evangeliumsgemeinde in Freistadt, die ihre Gottesdienste im Technologiezentrum Freistadt abhält. Die übrigen Mitglieder der evangelischen Kirche gehören zur evangelischen Pfarrgemeinde Gallneukirchen, der Gottesdienst wird in der Kapelle des Marianums gefeiert. Erst in den vergangenen Jahrzehnten siedelten sich Menschen mit islamischem Glauben an, die seit 1992 ihre Religion in einem Gebetsraum ausüben können. Seit den 1990er Jahren haben die Zeugen Jehovas einen Versammlungsraum (Königreichssaal), der nordöstlich der Altstadt liegt. Juden spielten in der Freistädter Geschichte keine Rolle, da ihnen die Ansiedelung verboten war, nur als Händler kamen sie in die Stadt. Ferner ist Freistadt Sitz der katholischen Pfarre Freistadt, die drei Kindergärten sowie vier Kirchen in und um Freistadt betreut und 6818 Gläubige zählt. Der Dechanthof in Freistadt ist zudem Sitz des römisch-katholischen Dekanats Freistadt, das 15 Pfarren umfasst. Bei der Volkszählung 2001 betrug der Anteil der Personen mit römisch-katholischem Bekenntnis 85,9 %. Dahinter folgten 4,8 % mit islamischem, 0,9 % mit evangelischem Glauben und 3 % mit einer anderen Glaubensrichtung. 5,4 % der Freistädter waren ohne religiöses Bekenntnis. Kultur und Sehenswürdigkeiten Stadtbefestigung, Wehrtürme und Bürgerhäuser Die mittelalterliche Altstadt von Freistadt mit Stadtbefestigung und Wehrtürmen ist fast vollständig erhalten; dort sind die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt zu finden. Freistadt besitzt 163 denkmalgeschützte Bauwerke (Stand: 22. Juni 2014), die meisten davon befinden sich in der Altstadt. Freistadt gilt als ein Musterbeispiel einer planmäßig gegründeten Stadt: Der große, rechteckige Hauptplatz ist das Kernstück der Stadt. Die verhältnismäßig breiten Gassen sind parallel zu den Achsen angeordnet. Der Turm der Stadtpfarrkirche wurde auf dem höchsten Punkt der Stadt errichtet und steht am Schnittpunkt der beiden Hauptstraßen, der Pfarrgasse und der Böhmergasse. Die Anordnung von Kirche, Freyung (heutiger Ostchor der Kirche) und Rathaus (heutiges Bezirksgericht) in unmittelbarer Nähe zueinander war wohl einmalig in Österreich. Die Altstadt innerhalb der Stadtmauern ist mit ihren Gassen, Plätzen und den rund 150 Bürgerhäusern ein gutes Beispiel für die Baukunst des Spätmittelalters mit Bausubstanz aus Gotik und Renaissance (13. bis 16. Jahrhundert). In der Barockzeit wurden die Fassaden vieler Bauwerke erneuert. Von den ursprünglich acht Wehrtürmen sind noch sechs erhalten, die beiden anderen fielen Bränden zum Opfer. Die ältesten Türme sind das Linzertor im Süden und das Böhmertor im Norden, die bereits bei der Stadtgründung angelegt wurden. Nach dem Ausbau der Stadtbefestigung zwischen 1363 und 1396 (Stadtmauer sowie Weyermühlturm, Bürgerkorpsturm und Turm im Winkel) wurden 1444 die Befestigungsanlagen mit dem Scheiblingturm und dem Dechanthofturm komplettiert. Das heutige Aussehen erhielten sie zwischen 1485 und 1500, als zahlreiche Wehrtürme vom Steinmetzmeister Mathes Klayndl umgebaut wurden. Seitdem besteht die Stadtbefestigung aus äußerer Stadtgrabenmauer, Stadtgraben, äußerer Stadtmauer, Zwinger und innerer Stadtmauer mit Wehrgang. Der Stadtgraben dient heute als Park, Gehwege führen durch den öffentlich zugänglichen Teil. Anstatt der drei Zugänge zur Stadt im Mittelalter bestehen heute deren sechs. Kirchen Die katholische Stadtpfarrkirche, das so genannte Katharinenmünster, ist die einzige fünfschiffige Basilika in Österreich und die Hauptkirche der Stadt. Die erstmalige urkundliche Erwähnung war 1288. Im 14. und 15. Jahrhundert wurde die Kirche gotisiert und in eine fünfschiffige Basilika umgebaut. Im 17. Jahrhundert erfolgte der Umbau im Stil des Barocks, 1967 wurde der gotische Stil weitgehend wiederhergestellt. Der 67 Meter hohe barocke Kirchturm (1737) ist weithin sichtbar und das höchste Bauwerk der Stadt. Die Stadtpfarrkirche ist der Heiligen Katharina geweiht, die zugleich die Schutzpatronin von Freistadt ist. Die denkmalgeschützte katholische Liebfrauenkirche liegt außerhalb der Stadtmauer vor dem Böhmertor und wurde 1345 erstmals erwähnt. Die Hussiten brannten die Kirche 1422 nieder, die Wiedererrichtung erfolgte im gotischen Stil. Die Kirche blieb seit dem 15. Jahrhundert fast unverändert und gilt als Beispiel für den gotischen Baustil. Eine besondere Sehenswürdigkeit in dieser Kirche ist die steinerne Säule für das Ewige Licht aus dem Jahre 1484, eine spätgotische Totenleuchte. Sie ist das einzige Kunstwerk dieser Art in der Stadt. Gegenwärtig finden in dieser Kirche keine regelmäßigen Gottesdienste mehr statt. Die katholische Johanneskirche, eine kleine Kirche am Südrand der Stadt, stammt aus romanischer Zeit (12. Jahrhundert) und ist im Besitz der Stadt. Der Bausubstanz nach ist sie die älteste Kirche der Stadt. Nach der Profanierung der Kirche 1789 wurde sie 1857 von dem Kaufmann Kaspar Schwarz in Stand gesetzt und wieder geweiht. Die Kirche diente bis 2004 als Aufbahrungshalle für den rund 500 Meter südlich der Kirche liegenden Friedhof von Freistadt. Seit 2004 wird sie nicht mehr genutzt. In der heutigen Gemeinde Waldburg liegt die katholische Kirche von Sankt Peter, die bereits vor der Gründung der Stadt bestand und gegenwärtig von der Pfarre Freistadt verwaltet wird. Die Kirche, zu der ein Kreuzweg führt, liegt westlich, rund 150 Höhenmeter oberhalb von Freistadt. Die dreischiffige Hallenkirche Sankt Peter wurde um 1467 nach den Hussitenkriegen im gotischen Stil erbaut und erhielt im 17. Jahrhundert drei barocke Altäre. Zur Kirche gehört die Kalvarienbergkapelle, ein gotischer Bau aus dem Jahr 1370, die zugleich die zwölfte Station des Kreuzwegs ist. Museen und Galerien Das Mühlviertler Schlossmuseum im Habsburger-Schloss ist das einzige Museum in Freistadt und besitzt etwa 21.000 vorwiegend volkskundliche Exponate und Objekte aus der Stadtgeschichte. Es verfügt über eine einzigartige Sammlung von Hinterglasbildern aus Sandl. Im Schlossturm (Bergfried) zeigt das Museum Ausstellungen zu Themen wie Glaube und Aberglaube, Waag- und Messwesen, Brauch und Volksfrömmigkeit. Die neunte Etage ist die ehemalige Türmerstube, sie führt auf einen äußeren Rundgang in 40 Meter Höhe mit Ausblicken auf die Stadt und das ringsum liegende Hügelland. Der denkmalgeschützte zweite Thuryhammer im Thurytal ist über 140 Jahre alt, wurde Ende des 20. Jahrhunderts renoviert und dient heute als Freiluftmuseum samt Schaubetrieb. Die anderen beiden Thuryhämmer sind nur noch Ruinen. In diesem technisch- und wirtschaftsgeschichtlich bedeutenden Bereich der Feldaist nördlich der Stadt gab es seit dem Mittelalter eisenverarbeitende Betriebe, die bis 1870 bestanden. In der Stadt befinden sich vier Galerien, von denen die „Brauhausgalerie“ im Brauhaus die größte ist. Ein Planetenweg verläuft von der Stadt 14 km bis Sandl. Die Planeten werden durch Kugeln aus Granit dargestellt. Kultur- und Veranstaltungszentren Im Jahr 2003 wurde der renovierte, denkmalgeschützte Salzhof als neues Kultur- und Veranstaltungszentrum der Stadt eröffnet und ist heute das kulturelle Zentrum der Stadt. Hier finden Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen, Bälle sowie einige Veranstaltungen der Local-Bühne statt. Im Gebäude stehen mehrere Räumlichkeiten für bis zu 400 Personen zur Verfügung, die wichtigste ist der Kulturhof mit 311 Quadratmetern. Im Salzhof findet durchschnittlich eine Veranstaltung pro Tag statt. Im Kino Freistadt ist die Local-Bühne untergebracht, die viele verschiedene Kulturveranstaltungen anbietet. Zu den wichtigsten zählen Sunnseitn, Sommerrhythmen, Frischling und das Heimatfilmfestival. Sunnseitn ist eine Musikveranstaltung und bringt jährlich Ende Juli authentische Volksmusik zahlreicher Länder auf mehrere Tanzböden in Freistadt. Sommerrhythmen präsentiert eine Vielfalt von Musikrichtungen internationaler und österreichischer Musikgruppen, von Volksmusik über Ethno bis zu modernen Rhythmen. Der Freistädter Frischling bietet seit 1995 an zwei Abenden Nachwuchskabarettisten Gelegenheit, sich dem Publikum zu präsentieren. Das Kino Freistadt in der zentralen Salzgasse spielt in drei Sälen und ist im Europa Cinemas Netzwerk. Das Festival Der Neue Heimatfilm (auch: Heimatfilmfestival) ist ein internationales fünftägiges Filmfestival, das seit 1988 alljährlich Ende August in Freistadt stattfindet. Der Hauptpreis des Festivals ist der „Filmpreis der Stadt Freistadt“, der mit 2500 Euro dotiert ist. In der 2003 errichteten Messehalle finden regelmäßig Ausstellungen, Messen, Bälle und Musikveranstaltungen statt. Das Zentrum der Jänner-Rallye befindet sich ebenfalls dort. Die ovale Halle, die gänzlich in Holzbauweise errichtet wurde, bietet auf 3173 Quadratmetern bis zu 6000 Stehplätze oder 3000 Sitzplätze. Medien In Freistadt wird keine lokale Tageszeitung herausgegeben; dafür erfolgt zunehmend eine Erweiterung der regionalen Berichterstattung durch die in Oberösterreich erscheinenden Tageszeitungen. Mit den „Freistädter TIPS“ (Top Infos Plus Service) erscheint wöchentlich eine kostenlose Regionalzeitung. Dieses Medium gehört zur „Tips Zeitungs “ und zu 100 % der J. Wimmer GmbH, die mehrheitlich an der Tageszeitung Oberösterreichische Nachrichten beteiligt ist. Die aktuelle Ausgabe ist auch im Internet abrufbar. Seit Jahresbeginn 2009 erscheint als Nachfolger der kostenpflichtigen, großformatigen Wochenzeitung „Freistädter Rundschau“ die kostenlose, kleinformatige Bezirks Rundschau. Zusätzlich erscheint mit der „Rundschau am Sonntag“ eine dritte kostenlose Regionalzeitung für Freistadt. Die letzten beiden Medien sind im Besitz der Moser Holding AG. Das Amtsblatt der Stadt Freistadt wird unter dem Titel „Aktuell aus dem Rathaus“ sechsmal jährlich in unregelmäßigen Abständen herausgegeben. In Freistadt bestehen zwei Radiosender, „Freies Radio Freistadt“ und „Radius 106,6“. Das Freie Radio Freistadt sendet seit März 2005 und ist ein gemeinnütziger, nicht gewinnorientierter Radiosender, Radius 106,6 ist das Schulradio des Gymnasiums, wo es seit März 2003 sein Sendestudio hat. Die beiden Radiosender arbeiten beim Jugendprogramm zusammen. Das Freie Radio Freistadt begann als Medienprojekt im Jahr 2001 beim Festival der Regionen, das Schulradio wurde 2002 ins Leben gerufen. Zusätzlich übernimmt das Freie Radio Freistadt auch Sendungen des Jugend-Internetradios ICM aus Český Krumlov (Krumau, Tschechien) und des Tilos-Radios Budapest. Mit „MF1plus“ existiert ein Fernsehsender in der Stadt, der vor allem über Neuigkeiten aus dem Mühlviertel berichtet. Dieser Fernsehsender kann im TV-Kabelnetz und über Internet empfangen werden. LT1 ist ein Privat-TV-Sender, der digital-terrestrisch (DVB-T) über Antenne empfangen werden kann und mit LT1 Mühlviertel ein Regionalprogramm für das Mühlviertel anbietet. Das halbstündige Programm wird mehrmals wiederholt und täglich erneuert. Kulturelle Traditionsvereine Das privilegierte uniformierte Bürgerkorps Freistadt diente seit der Gründung der Stadt ihrer Verteidigung und dem Schutz der Kaufleute. Das Bürgerkorps wurde 1132 gegründet und existiert mit einigen Unterbrechungen bis heute. Aktuell ist das Korps ein kultureller Verein mit 65 Aktiven und dient der Pflege der Freistädter Kulturgeschichte mit Ausrückungen zu Fronleichnam, Kriegerehrung am Allerheiligentag, Teilnahme an Begräbnissen etc. Zusätzlich wird die Oster- oder Grabwache am Karfreitag und Karsamstag vor dem Rathaus und der Kirche veranstaltet. Erkennungszeichen ist ein dunkelgrüner Federbusch am Hut. Das Bürgerkorps ist im Bürgerkorpsturm (neben dem Linzertor) untergebracht. Die Goldhaubenfrauen und Kopftuchträgerinnen samt der Freistädter Festtracht (Besonderheit: ein kleiner Zacken (Spitz) nach oben am Rücken der Tracht) oder dem Goldhaubenkleid nehmen seit vielen Jahrzehnten an Veranstaltungen in Freistadt teil. Heute zählt der Verein circa 40 aktive Mitglieder einschließlich Kindern. Die Goldhaube hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Linz aus in ganz Oberösterreich verbreitet und war die Festtracht für den sonntäglichen Kirchgang. Mit der akademischen Ferialverbindung Ostara (seit 1894) sowie den Schülerverbindungen K.Ö.St.V. Nibelungia (seit 1924) im Mittelschüler-Kartell-Verband und Pennale Burschenschaft Alemannia (seit 1896) existieren drei studentische Verbindungen in Freistadt. Musik Die Musikkapelle des Kameradschaftsbundes und der Bürgergarde der Stadt Freistadt ist mit derzeit 40 Musikern seit Jahrhunderten Bestandteil des Bürgerkorps. Erkennungszeichen ist ein weißer Federbusch am Hut. Seit 1923 besteht die Stadtkapelle Freistadt. Diese Blasmusikkapelle zählt derzeit rund 55 Musiker sowie fünf Marketenderinnen, die in Tracht oder Uniform auftreten. Die Chorgemeinschaft Freistadt ist ein gemischter Chor und zählt rund 40 Mitglieder. Der Ursprung der Chorgemeinschaft war der Männergesangsverein Freistadt 1849, der am 15. Oktober 1849 gegründet wurde. Von der Gründung an spielte der Chor im kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Stadt eine wichtige Rolle. Es wird Chormusik aus allen Epochen und Stilrichtungen gepflegt. Messe Mühlviertel Zur Förderung der Wirtschaft wurde im Jahr 1862 die erste Ausstellung der Obderennsischen Landwirtschaftsgesellschaft abgehalten. Daraus entwickelte sich die Freistädter Messe (heute: Messe Mühlviertel), die drittgrößte Messe in Oberösterreich Ende des 20. Jahrhunderts. Anfangs wurde die Messe im vierjährigen und später im zweijährlichen Rhythmus veranstaltet. Mehr als 200 Aussteller stellen zur Hochzeit ihre Produkte auf 19.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit insgesamt 8 Hallen und einem Freigelände aus. Seit 2007 findet die Messe jährlich jeweils Mitte August statt. Seit 2014 findet die Mühlviertler Messe als Mühlviertler Wiesn wegen mangelnden Ausstellern ohne Gewerbeschau statt. Die Veranstaltung ist die größte und bedeutendste in Freistadt und zählt rund 50.000 Gäste aus dem Mühlviertel und den umliegenden Landesteilen. Das Kernstück und zugleich die größte Halle ist die 2003 errichtete Messehalle. Regelmäßige Veranstaltungen Neben der Mühlviertler Messe gibt es noch zahlreiche andere Veranstaltungen. Am Beginn des Kalenderjahres steht die Jänner-Rallye, die 1969 zum ersten Mal gefahren wurde. Nach einer Pause zwischen 1986 und 2000 wird diese nun wieder regelmäßig durchgeführt. Im Sommer finden zahlreiche Veranstaltungen der Local-Bühne sowie an einigen Wochenenden Feste in der Altstadt statt, wie das Eisengassenfest oder das Altstadtfest. Das Petersfeuer am Wochenende nach der Sommersonnenwende ist ebenfalls ein Fixpunkt der jährlichen Veranstaltungen. Im Dezember wird im äußeren und inneren Schlosshof der Weihnachtsmarkt abgehalten. Zwischen Anfang April und Ende Oktober findet jeden Freitagnachmittag der Frischemarkt am Hauptplatz statt. Dieser Markt existiert seit 2003 zur Belebung der Innenstadt und dient der Nahversorgung mit musikalischer Umrahmung und Bewirtung. Jeden Samstagvormittag bietet der Bauernmarkt, ebenfalls am Hauptplatz, frische Erzeugnisse und Spezialitäten direkt von Bauern aus der Umgebung an. Zusätzlich zum Frische- und Bauernmarkt werden an bestimmten Kalendertagen fünf weitere Märkte wie Paulimarkt (während der ersten Februarwoche) und Josefimarkt (am 19. März) am Hauptplatz abgehalten. Landesausstellung 2013 2013 fand in Freistadt gemeinsam mit Bad Leonfelden, Český Krumlov (Krumau) und Vyšší Brod (Hohenfurth) die Landesausstellung statt. Der Arbeitstitel der Landesausstellung war „Alte Spuren, Neue Wege“. In der Ausstellung wurden die Verbindungen der beiden Regionen aufgezeigt, die ein langes Stück ihres historischen Weges miteinander gegangen sind, bis der Eiserne Vorhang sie voneinander trennte. So werden unter anderem verbindende Elemente der Landschaften, die verkehrstechnische Erschließung im Mittelalter, die Salzstraße und Gemeinsamkeiten in Kulinarik und Brauchtum thematisiert. Für die Landesausstellung wurde das historische Gebäude der Brauerei Freistadt großzügig umgebaut und auch ein Braugasthof eröffnet. Die Brauerei war das Zentrum der Ausstellungen in Freistadt und wird heute als Galerie und Braumuseum weiterverwendet. Sport und Freizeit In der Stadt Freistadt sind insgesamt 45 Sportvereine aktiv, darunter Wandervereine, ein Schützenverein, Fliegerclubs und der Heeressportverein mit mehreren Sektionen. Die bedeutendsten Vereine sind: Der ÖTB Turnverein Freistadt 1887 ist Teil des Österreichischen Turnerbunds (ÖTB), besteht seit 1887 und ist somit der älteste Sportverein der Stadt. Der ÖTB gliedert sich in sechs Riegen: Aerobic, Allgemeine Gymnastik, Faustball, Turnen, Rhythmische Sportgymnastik und Wandern. Die ÖTB-Turnhalle befindet sich am Stifterplatz, gegenüber der Volksschule. Fertiggestellt wurde die damals als „Hindenburghalle“ bezeichnete Turnhalle im Jahre 1929. Die Sportunion Freistadt ist mit rund 860 Mitgliedern der mitgliederstärkste Sportverein in Freistadt und hat die zehn Sektionen Aikidō, Badminton, Basketball, Billard, Faustball, Leichtathletik, Ski Alpin, Stockschießen, Turnen und Volleyball. Die erfolgreichste Sektion ist Faustball mit der Mannschaft Union Schick Freistadt, die zu den besten Teams Österreichs zählt und im Sommer 2004 den Staatsmeistertitel sowie 2005 den Europapokal gewann. In der Saison 2007/08 wurde die Mannschaft Vizestaatsmeister. Die Nachwuchsmannschaften der Sektion Faustball konnten ebenfalls zahlreiche Staats- und Landesmeistertitel in allen Klassen gewinnen. Der Mühlviertler Slalomspezialist Alexander Koll startete für die Sektion Ski Alpin der Union Freistadt im Weltcup. Der Marianumsportplatz und die Stockhalle in der Eglsee sind die Sportstätten der Union, am Marianumsportplatz fand 2000 die Faustball-Europameisterschaft der Männer statt. Der SV Freistadt, 1935 gegründet, besteht heute nur noch aus der Sektion Fußball. Die früheren Sektionen Schwimmen und Tischtennis wurden mittlerweile aufgelassen. Der Fußballverein betreut neben der Kampfmannschaft, der U 24 und den Senioren 150 Nachwuchsspieler in sechs Klassen. Die Kampfmannschaft spielt seit 1995 in der Zweiten Landesliga Ost, der fünfthöchsten Spielklasse Österreichs. In der Saison 2009/10 errang die Mannschaft den Herbstmeistertitel. In der Saison 2011/2012 schaffte der SV Freistadt den Aufstieg in die Oberösterreich-Liga, der höchsten Spielklasse des Landes Oberösterreich. Die Heimstätte liegt an der Bahnhofsstraße neben dem Hallenbad. Der Verein ASKÖ Freistadt wurde 1920 gegründet. Bestand der Sportverein anfangs aus fünf Sektionen, vergrößerte sich das Angebot mittlerweile auf sieben Sektionen und eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen. Seit 2001 verfügt der ASKÖ wieder über eine erfolgreiche Volleyball- und Beachvolleyball-Sektion, die Powervolleys Freistadt, die in der Spielzeit 2007/08 zum zweiten Mal hintereinander OÖ-Landesmeister der Herren wurden und aktuell in der 2. Bundesliga West spielen. Für weitere sportliche Aktivitäten steht eine Tennishalle samt Freiplätzen sowie ein Hallenbad im Winter oder das Freibad im Sommer zur Verfügung. Bei ausreichender Schneelage im Winter werden der Skilift (500 Meter Piste samt Beschneiungsanlage) geöffnet und Langlaufloipen gespurt. Durch Freistadt führt der Nordwaldkammweg, ein 144 Kilometer langer Hauptwanderweg. Wirtschaft und Infrastruktur Beschäftigung und Einkommen Freistadt ist das wirtschaftliche Zentrum des Bezirks Freistadt. Die Anzahl der Arbeitsstätten ist zwischen den letzten beiden Volkszählungen (1991 und 2001) um 20,9 % auf 510 gestiegen. Die Steigerung der Einnahmen aus der Kommunalsteuer zwischen 2001 und 2004 um 11,5 % zeigt das Wirtschaftswachstum von Freistadt auf. Im Jahr 2007 wurden in Freistadt 34 neue Betriebe gegründet. Jedoch waren 64 Arbeitnehmer von der Schließung der Küchenproduktion des Haushaltsgeräte-Herstellers Gorenje im August 2007 betroffen. Nach der Erhebung der Volkszählung 2001 waren von den rund 4.600 Erwerbstätigen 1,2 % in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, 19,8 % in der Industrie, im Gewerbe und im Bauwesen und 79,0 % im Dienstleistungssektor. Etwa 25 % der Freistädter Einwohner haben ihren Arbeitsplatz in der Gemeinde, ein sehr hoher Anteil im Vergleich zu den anderen Gemeinden im Bezirk. Die restlichen Arbeitnehmer pendeln, wobei die meisten Pendler in der rund 40 Kilometer entfernten Landeshauptstadt Linz beschäftigt sind. Auffallend ist, dass zumeist Männer pendeln, Frauen hingegen häufiger in Freistadt beschäftigt sind. Der Medianwert des MonatsBruttoeinkommens eines unselbstständigen Erwerbstätigen lag 2006 bei 1659 Euro brutto (Oberösterreich: 1.778 Euro), das 14 mal jährlich ausbezahlt wird. Der männliche Bevölkerungsanteil verdiente durchschnittlich 2.095 Euro brutto, hingegen verdienten die Frauen nur 1.191 Euro brutto. Insgesamt betrachtet liegt der Medianwert der Stadt Freistadt rund 7 % unter dem Einkommensdurchschnitt des Bezirks Freistadt (1777 Euro) und des Bundeslandes Oberösterreich (1778 Euro). Die Kaufkraft in Freistadt lag 2003 zwischen 6.400 Euro und 7.100 Euro und somit im Mittelfeld Oberösterreichs. Der Saldo der Zuflüsse und Abflüsse der Kaufkraftströme liegt zwischen 50 % und 100 %. Aus der Kaufkraftstromanalyse geht hervor, dass die Stadt Freistadt bei den Kaufkraft-Zuflüssen mit 67,5 Millionen Euro an achter Stelle aller oberösterreichischen Gemeinden liegt. Somit ist die Stadt ein regionaler Kaufkraftmagnet und hat mehr Kaufkraftzufluss aus den umliegenden Gemeinden als vergleichbare Bezirksstädte. Die Arbeitslosenquote des Bezirks Freistadt lag im Juli 2009 mit 3,0 % unter dem Landesdurchschnitt von 4,5 % (nur auf Bezirksebene verfügbar), womit die Wirtschaftskrise am Arbeitsmarkt nur wenig spürbar ist. Der Jahresdurchschnittswert 2008 lag bei 2,9 % (OÖ 3,5 %, Österreich 5,8 %), womit in Freistadt Vollbeschäftigung herrschte. Ansässige Unternehmen Das älteste noch aktive Unternehmen in Freistadt ist das Gasthaus Strasseder am Trölsberg, das 1723 gegründet wurde. Die Braucommune Freistadt, die 1777 gegründet wurde, zählt ebenfalls zu den ältesten Unternehmen der Stadt. Die Braucommune ist europaweit die einzige Kommune, die als solche im Firmenbuch eingetragen ist. Der größte Arbeitgeber der Stadt Freistadt und des gesamten Bezirks ist mit mehr als 430 Arbeitnehmern das Landeskrankenhaus Freistadt. Das Unternehmen A. Haberkorn GmbH, das rund 230 Arbeitnehmer beschäftigt, wurde 1925 gegründet. Es ist Erzeuger von technischen Textilien sowie Großhändler von Gartenmöbeln, Spielwaren und Kinderartikeln. Im Unternehmen FM Küchen (Freistädter Möbelfabrik) im Kefermarkter Ortsteil Galgenau sind ebenfalls zahlreiche Freistädter beschäftigt. Dieses Unternehmen mit 184 Arbeitnehmern ist der drittgrößte Arbeitgeber des Bezirks und ging aus der Möbelfabrik Moßböck hervor, die nach dem Ersten Weltkrieg im Ortsteil Trölsberg nahe dem Bahnhof gegründet wurde. Diese beiden Betriebe sind die einzigen Freistädter Unternehmen unter den Top 500 in Oberösterreich. Weitere wichtige Unternehmen in Freistadt sind der Sozialhilfeverband Freistadt mit 140 Beschäftigten und Österreichs größter Fotoversand HappyFoto, der 1978 gegründet wurde. An der Stelle der ehemaligen Textilfabrik Mäser wurde das Technologiezentrum Freistadt errichtet, in dem zurzeit (2008) zwölf Unternehmen ansässig sind. Am INKOBA-Betriebsbaugebiet Freistadt-Rainbach entstanden bei der Greiner Bio-One GmbH (diagnostische und pharmazeutische Industrie) seit März 2009 rund 100 neue Arbeitsplätze im Bereich Produktion, Lager und Qualitätsmanagement, weitere 200 sind bis Ende 2011 geplant, womit der größte gewerbliche Betrieb des Bezirks entsteht. 2017 kam am selben Standort die Firma Kreisel Electric (Entwicklungen in der E-Mobilität und Speicherung) mit 100 Mitarbeiter hinzu. Landwirtschaft In Freistadt bestanden 1999 53 land- und forstwirtschaftliche Betriebe, die insgesamt rund 1104 Hektar bewirtschafteten. Dabei wurden 18 Betriebe im Haupterwerb und 30 im Nebenerwerb geführt. Vier Betriebe waren im Eigentum von juristischen Personen und ein Betrieb besaß keine Fläche zum Bewirtschaften. Gegenüber 1995 hat sich der Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe insbesondere im Bereich der Nebenerwerbslandwirte fortgesetzt, während sich die Zahl der Betriebe im Haupterwerb um vier erhöhte. Insgesamt reduzierte sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe zwischen 1995 und 1999 um 31,2 %, während die bewirtschaftete Fläche beinahe unverändert blieb. Diese Betriebe beschäftigen 144 Arbeitskräfte, davon sind 110 Familienmitglieder. Tourismus Im Kalenderjahr 2008 wurden in der Stadt insgesamt 25.020 Nächtigungen mit durchschnittlich 2 Aufenthaltstagen verzeichnet, im darauf folgenden Jahr sanken die Nächtigungen auf etwa 21.760; 2009 entfielen 12.384 Nächtigungen (57 %) auf inländische Gäste, mit rund 24 % hatten Besucher aus Oberösterreich den höchsten Anteil. Bei den ausländischen Gästen waren die Deutschen mit rund 54 % (5059 Nächtigungen) vor den Besuchern aus Italien mit rund 17 % (1628 Nächtigungen) führend. Rund 70 % der Gäste besuchen die Stadt im Sommerhalbjahr zwischen Mai und Oktober. Seit dem Tourismusjahr 2008 verzeichnet die Stadt einen steten Rückgang der Nächtigungszahlen von rund 24.700 auf etwa 21.000 Nächtigungen im Tourismusjahr 2010. Als Unterkunft stehen in der Stadt zwei Hotels (je ein Vier- und ein Drei-Sterne-Hotel) zur Verfügung. Daneben verfügt Freistadt noch über zwei Drei-Sterne-Pensionen, einige Vermieter von Privatzimmern, eine Jugendherberge sowie einen Campingplatz mit 40 Stellplätzen. Urlaub auf dem Bauernhof ist in Freistadt ebenfalls möglich. In den elf Beherbergungsbetrieben sind rund 240 Betten in 130 Zimmern vorhanden. Behörden, Einrichtungen und Gerichte Freistadt ist als Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts. Zusätzlich beherbergt Freistadt eine Straßenmeisterei, die für die vormaligen Bundesstraßen im Gemeindegebiet zuständig ist. Ein Finanzamt, ein Arbeitsmarktservicecenter sowie ein Landeskrankenhaus sind ebenfalls in der Stadt zu finden. Freistadt ist Sitz des Bezirkspolizeikommandos und einer Polizeiinspektion, die im selben Gebäude an der Mühlviertler Bundesstraße (B 310) untergebracht sind. Die Betreuung der ehemaligen Bundesstraße B 310 im Stadtgebiet Freistadt wird jedoch durch die Autobahnpolizei Neumarkt übernommen und ist somit außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der örtlichen Polizei. Ferner verfügt die Stadt über eine eigene Stadtpolizei mit zwei Bediensteten, die im Rathaus postiert sind. Seit 1626 besteht in der Stadt eine Poststation (Postamt). Um 1891 übersiedelte das Amt von der Böhmergasse in die Waaggasse und seit den 1990er Jahren befindet sich das Postamt außerhalb der Stadtmauern, zwischen dem Marianum und dem Brauhaus. In Freistadt ist seit 1879 eine Garnison ansässig, die zuerst von der k.u.k. Armee, später vom Österreichischen Bundesheer und zwischen 1938 und 1945 von der Wehrmacht genutzt wurde. Im Jahr 1937 übersiedelte das Heer vom Schloss Freistadt in die neu errichtete Tilly-Kaserne im Süden der Stadt (rund einen Kilometer südlich des Linzertors). Nachdem in dieser Kaserne lange Zeit jährlich rund 300 Grundwehrdiener ausgebildet worden waren, dient sie seit 2006 der Kader-Ausbildung. Mit dem militärischen Schießplatz in der Zelletau und dem Garnisonsübungsplatz (GÜPL) Geyer in St. Peter gibt es zwei militärische Übungsplätze im Raum Freistadt. Ende 2015 wird die Tilly-Kaserne unter anderem aus Einsparungsgründen geschlossen. Ende Jänner 2015 sind in ein leer stehendes Gebäude am Kasernenareal etwa 50 Kriegsflüchtlinge eingezogen. Der Entscheidung für die Aufnahme der Flüchtlinge in der Kaserne ging eine kontrovers geführte Diskussion voran. Mit der Plattform „Flüchtlinge – Willkommen in Freistadt“ setzte die Zivilgesellschaft ein deutliches Zeichen für das Bemühen um die gastfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge. Seit 1870 besteht in Freistadt eine Freiwillige Feuerwehr, die ursprünglich im äußeren Schlosshof in der Altstadt untergebracht war. Da diese Räumlichkeiten mit der Zeit zu eng wurden, bezog die Feuerwehr 1994 das nunmehrige Gebäude nördlich der Stadt an der B 310. 2008 zählte die Feuerwehr etwa 100 Mitglieder und war im Besitz von acht Fahrzeugen sowie mehreren Anhängern für Brand- und technische Einsätze. Das Unternehmen Haberkorn unterhält eine eigene Betriebsfeuerwehr. Die Bezirksstellen der Arbeiterkammer, der Landwirtschaftskammer und der Wirtschaftskammer befinden sich in Freistadt. Ferner sind auch die Bezirkssekretariate der politischen Parteien ÖVP, SPÖ, Grüne und FPÖ in Freistadt angesiedelt. Bildung Bildung hat in Freistadt eine lange Tradition, bereits 1371 wurde in einer Urkunde ein Schulmeister erwähnt. 1404 wurde ein Haus als Schulhaus bezeichnet und 1543 eine Lateinschule zum ersten Mal erwähnt. Heute ist Freistadt das schulische Zentrum des Bezirks und verfügt über Schultypen der primären und sekundären Bildung. Für die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen gibt es in Freistadt zwei Volksschulen, drei Hauptschulen, eine Polytechnische Schule und eine allgemeinbildende höhere Schule mit zwei Schultypen, einem gymnasialen und einem realgymnasialen Zweig. Die dreijährige Fachschule für wirtschaftliche Berufe und die Landwirtschaftliche Fachschule bieten in Freistadt zwei berufsbildende mittlere Schulen. Darüber hinaus befinden sich mit einer Handelsakademie, einer Höheren Technischen Lehranstalt mit Schwerpunkt Logistik und einer Höheren Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe drei berufsbildende höhere Schulen mit Maturaabschluss in der Stadt. Diese Schulen werden insgesamt von 2636 Schülern besucht, 1482 (56 %) davon sind weiblich. Zusätzlich bestehen eine gewerbliche Berufsschule für Maurer, Zimmerer und Dachdecker, die Landesmusikschule im Kulturzentrum Salzhof und eine Schule für Gesundheits- und Krankenpflege mit Diplomabschluss, die beim Landeskrankenhaus Freistadt angesiedelt ist. Für die Erwachsenenbildung besteht in Freistadt eine Zweigstelle der Volkshochschule Oberösterreich sowie ein Standort des Berufsförderungsinstituts Oberösterreichs. Von den Bibliotheken in Freistadt ist die größte jene des Pfarrhofes. Das Schlossmuseum enthält eine kleine Bibliothek mit historischen Büchern und Kartografien zur Stadtgeschichte. Energie und Infrastruktur Ab 1919 wurde die Stadt vom Brauhaus mit Strom versorgt. Zwischen 1921 und 1927 erfolgte der Ausbau des Ortsnetzes und 1922 der Anschluss an die Hochspannungs-Stromversorgung der Linzer Tramway und Elektrizitäts Gesellschaft (TEG) (heute: Linz Strom GmbH). Die Stadt verbrauchte im Geschäftsjahr 2008 rund 34,7 GWh an elektrischer Energie, die Linz Strom AG versorgt etwa 5200 Kundenanlagen im Stadtgebiet (Stand: 30. September 2007). Die Trinkwasser-Versorgung im Stadtgebiet ist Eigentum der Gemeinde. Die Bevölkerung benötigt rund 1500 Kubikmeter Trinkwasser pro Tag, davon werden drei Viertel aus dem Tiefbrunnen Galgenau, nahe der südlichen Gemeindegrenze, gewonnen. Im Wasserwerk Galgenau befindet sich die Zentrale der Wasserversorgung und zusätzlich eine Wasseraufbereitungsanlage. Das restliche Viertel wird aus zwölf Quellfassungen nordöstlich der Stadt (Gemeinde Grünbach: Ortsteile Schlag und Rauchenödt) eingespeist. Die Versorgung wird mit mehreren Hochbehältern im Graben, an der Oswalder Straße und in Galgenau gesichert. Das städtische Wasser gilt mit einer Wasserhärte von 3,4° deutscher Härte als weiches Wasser, der pH-Wert beträgt in etwa 8,0, womit das Wasser basisch ist. Für die Sicherung der Wasserqualität besteht in der Jaunitzsenke ein großes Grundwasserschongebiet. Die Erdgasversorgung der Stadt erfolgt durch die OÖ Ferngas GmbH. Das Biomasseheizkraftwerk verfügt seit der letzten Erweiterung 2008 über eine Leistung von 4000 kW und versorgt alle öffentlichen Gebäude und rund 600 Wohnhäuser. Der Fernsehempfang über Antenne vom Sender Lichtenberg ist, bedingt durch die Lage der Stadt in einer Talsenke, im gesamten Stadtgebiet sehr eingeschränkt. Daher unterstützt ein Sender nahe Grünbach, fünf Kilometer nordöstlich der Stadt, die Versorgung. Gesendet wird DVB-T auf Kanal 43 mit 900 Watt. Durch das Freistädter Unternehmen Elektro Pachner wird Kabelfernsehen im dichtbesiedelten Stadtgebiet angeboten. In Freistadt erfolgt die Entsorgung des Abfalls über den Bezirksabfallverband Freistadt. Bio-, Plastik- und Restabfall werden regelmäßig abgeholt, zusätzlich besteht ein Altstoffsammelzentrum und eine Kompostierungsanlage für Bioabfall. Der angefallene Restabfall wird zur Linz Service GmbH transportiert und dort mechanisch bzw. biologisch verarbeitet. Mit vier Nachbargemeinden (Rainbach, Grünbach, Waldburg und Lasberg) betreibt die Stadt den Reinhaltungsverband Freistadt und Umgebung. Die gemeinsame Kläranlage steht auf Freistädter Gemeindegebiet nahe der Feldaist und wurde 2008 auf einen Einwohnergleichwert von 30.000 erweitert. Die Wetterstation Freistadt befindet sich auf dem Gelände der Kläranlage und wird von der ZAMG betrieben. Verkehr Seit Herbst 2015 ist Freistadt mit dem hochrangigen Straßennetz Österreichs verbunden. Die ASFINAG baute die autobahnähnliche Mühlviertler Schnellstraße S 10 zwischen Unterweitersdorf (Autobahnende der A 7) und Rainbach im Mühlkreis, die östlich an der Stadt vorbeigeführt wird. Im Bereich von Freistadt sind drei Anschlussstellen vorgesehen: Freistadt Süd, Grünbach/Sandl (B 38) und Freistadt Nord. Nach dreijähriger Bauzeit erfolgte am 15. November 2014 die Verkehrsfreigabe der Umfahrung Freistadt. In Freistadt kreuzen sich mit der Mühlviertler Straße B 310 und der Böhmerwald Straße B 38 zwei Landesstraßen mit Vorrang. Die B 310 (E 55) führt von Unterweitersdorf bis zur Staatsgrenze beim ehemaligen Grenzübergang Wullowitz (in der Gemeinde Leopoldschlag) nach Tschechien und durchquert die Stadt von Süd nach Nord. Die B 38 führt von Horn bis zur Staatsgrenze beim ehemaligen Grenzübergang Wegscheid nach Deutschland und führt von Ost nach West durch Freistadt. Überdies führen von Freistadt drei Landesstraßen weg: nach Hirschbach (L 1498) im Westen, nach Lasberg und Kefermarkt (L 1476) im Südosten sowie nach St. Oswald (L 579) im Osten. Im Gemeindegebiet passierten im Jahr 2009 fünf Unfälle mit Personenschaden, die meisten im gesamten Bezirk (13 Unfälle mit Personenschaden). Seit Beginn der 1990er Jahre bestehen vor allem entlang der B 310 Einrichtungsradwege. Zusätzlich wurden in der Zemannstraße und in der Altstadt Radwege markiert; bei einigen Straßen ist das Fahren gegen die Einbahn erlaubt. Große Bereiche abseits der Hauptdurchgangsstrecken sind als Tempo-30-Zone verkehrsberuhigt. Dennoch hat das Radfahren in Freistadt nur eine untergeordnete Bedeutung und die Stadt liegt an keinem oberösterreichischen Radwanderweg. Seit Anfang der 2000er Jahre werden Pläne zur Umwandlung der Eisengasse und des angrenzenden Höllplatzes in eine Fußgängerzone im Gemeinderat diskutiert. Bislang wurde keine Mehrheit für die Einrichtung erzielt. Die betroffenen Gewerbetreibenden der Eisengasse sind gegen dieses Projekt. Freistadt ist eine der vier oberösterreichischen Gemeinden, in denen die Zentrumszone, eine Mischung aus Fußgängerzone und Tempo-30-Zone, eingeführt wird. Zwischen 1832 und 1872 führte die Pferdeeisenbahn Budweis–Linz–Gmunden rund vier Kilometer südwestlich an der Stadt vorbei. Freistadt hatte jedoch keine eigene Station. Erst mit dem Bau der Summerauer Bahn, die 1872 ursprünglich von St. Valentin nach Budweis führte, erhielt Freistadt einen Bahnanschluss. 1873 wurde die Strecke nach Linz eröffnet und Freistadt an die Landeshauptstadt Linz angeschlossen. Der Bahnhof, der heute von den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) betrieben wird, liegt rund drei Kilometer südwestlich vom Stadtzentrum entfernt. Im gegenwärtigen Fahrplan (2015) bestehen direkte Verbindungen nach Linz, Prag und Budweis. In Freistadt verkehrte ab 1994 ein Citybus, der wieder eingestellt wurde. Ausgehend von Freistadt besteht ein dichtes Netz an Busverbindungen, die im Rahmen des Oberösterreichischen Verkehrsverbundes von der ÖBB-Postbus GmbH bedient werden. Es existieren Verbindungen in die anderen Orte des Bezirkes Freistadt sowie des Bezirkes Urfahr-Umgebung, nach Linz und Niederösterreich (Gmünd und Horn). Eine internationale Busverbindung besteht nach Dolní Dvořiště/Unterhaid. Freistadt gibt dem Funkfeuer FRE einer internationalen Luftstraße den Namen. Das Funkfeuer selber befindet sich aber ca. 30 km weiter südwestlich in der Gemeinde Herzogsdorf. Einige Kilometer westlich liegt der 1964 erbaute, kleine Flugplatz Freistadt. Dieser verfügt über eine Graspiste mit einer Länge von 595 Metern und hat die IACO-Kennung LOLF. Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen ist der Flughafen Linz in Hörsching, rund 53 Kilometer in südwestlicher Richtung entfernt. Gesundheitswesen und Soziales Der Rettungsdienst wird wie im gesamten Bezirk Freistadt vom Roten Kreuz gestellt. In Freistadt befindet sich die Bezirksstelle, von der aus das Stadtgebiet und die umliegenden Gemeinden betreut werden. Das Landeskrankenhaus Freistadt verfügt über 176 Betten sowie zwei Institute und ist im Besitz der Oberösterreichischen Gesundheits- und Spitals-AG (GESPAG). Es umfasst vier Fachabteilungen: Chirurgie, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Innere Medizin sowie Unfallchirurgie. Im August 2008 gingen eine psychiatrische Tagesklinik und eine vergrößerte Ambulanz in Betrieb. Für die Seniorenbetreuung bietet Freistadt ein Bezirksseniorenheim und ein mobiles Hospiz-Team. Der ambulante Hospizdienst berät zu Angeboten der Palliativversorgung und bietet Trauerbegleitung an. Ferner besteht in Freistadt eine Außenstelle der ÖGK mit angeschlossenem Zahnambulatorium. Politik Gemeindevertretung Ab 1286 gab es in Freistadt einen Stadtrichter, 1354 wurden der Rat und die Geschlossenheit der Bürger und 1388 Jakob Megerlein als der erste Bürgermeister der Stadt erwähnt. Wie in anderen Städten dieser Zeit gab es den Inneren Rat, den eigentlichen Stadtrat. Die acht Mitglieder waren aus dem Stand der Handelsbürger und traten zweimal wöchentlich zusammen. Später kam der Äußere Rat hinzu, das Vertretungsorgan der Gesamtbürgerschaft, in dem die Handwerker vertreten waren. Die städtische Selbstverwaltung mit jährlichen Bürgermeister-, Richter- und Ratswahlen und regelmäßiger Erneuerung der Stadtordnung endete im Jahr 1600. Ab diesem Zeitpunkt wurde der Einfluss der Landesfürsten (Habsburger) immer spürbarer, so dass letztlich die Bürgermeister, Stadtrichter und Ratsmitglieder nur mit Zustimmung des Landeshauptmanns und der von ihm berufenen Wahlkommissäre gewählt werden konnten. Mit der Magistratsverfassung von 1783 löste der Magistrat, bestehend aus Bürgermeister und Räten, den alten Stadtrat und den Stadtrichter als Behörde ab. Diese Magistratsverfassung blieb bis in das Jahr 1848/49 bestehen und wurde durch die bis heute gültige Gemeindeordnung ersetzt. Die seit 1849 frei gewählten Bürgermeister und Stadträte waren und sind Vertreter von politischen Strömungen. In den Jahren 1934 bis 1945, Ständestaat und NS-Zeit, fanden keine freien und geheimen Gemeinderatswahlen statt. Die Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen finden alle sechs Jahre, zeitgleich mit der Landtagswahl statt. Im Jahr 1945 erreichte die ÖVP mit 55,7 % die absolute Mehrheit. Zweitstärkste Partei wurde damals die SPÖ mit 42,1 %, gefolgt von der KPÖ mit 2,2 %. Seit 1949 besteht der Gemeinderat aus mindestens drei Parteien, der ÖVP, der SPÖ und der WdU (nachfolgend: FPÖ). 1985 wurde die Bürgerliste Gruppe für Umweltschutz und Transparenz (GUT) zum ersten Mal in den Gemeinderat gewählt und ist derzeit die drittstärkste Partei. Bei den Wahlen 2009 schaffte das BZÖ zum ersten Mal den Sprung in den Gemeinderat. Seitdem sind fünf Parteien im Freistädter Gemeinderat vertreten. Der Gemeinderat besteht aus 37 Räten, aus deren Reihen der Gemeindevorstand, bestehend aus neun geschäftsführenden Stadträten, gewählt wird. Der Bürgermeister ist ebenfalls Mitglied des Stadtrates. Die Gemeinderatswahl 2015 mit einer Wahlbeteiligung von 81,6 % ergab folgendes Ergebnis: 1) Die ÖVP trat als Liste Bürgermeister Mag. Christian Jachs – ÖVF an. Bürgermeister Im Jahr 1388 wurde Jakob Megerlein als der erste Bürgermeister Freistadts erwähnt. Seit der Märzrevolution 1848 stellten die Konservative Partei, die Christlich-Soziale Partei (CS) und schließlich die Österreichische Volkspartei (ÖVP) alle demokratisch gewählten Bürgermeister von Freistadt, wobei seit 1997 der Bürgermeister direkt gewählt wird. Bei den Gemeinderatswahlen 2015 wurde der seit 23. Oktober 2007 amtierende Bürgermeister Christian Jachs (ÖVP) mit 57,2 % der Stimmen im Amt bestätigt. Am 16. August 2016 erlag Jachs einem Krebsleiden. Am 4. Dezember 2016 wurde die bisherige Vizebürgermeisterin Elisabeth Paruta-Teufer mit 57,7 % der Stimmen zur Bürgermeisterin gewählt. Durch ein Sondergesetz wurde es ermöglicht ausnahmsweise am selben Tag auch die Bundespräsidentenwahl (verschobene Wiederholung der Stichwahl) durchzuführen. Bei der Bürgermeisterwahl 2021 erreichte die amtierende ÖVP-Bürgermeisterin Elisabeth Teufer 36,25 % und lag somit hinter Herausforderer Christian Gratzl von der SPÖ mit 32,65 %. In der Stichwahl gewann Gratzl mit 59,38 %. Teufer erhielt 40,62 % der Stimmen. Stadtfinanzen Im Jahr 2007 hatte Freistadt 17 Millionen Euro Einnahmen und 18,8 Millionen Euro Ausgaben; dennoch konnte eine ausgeglichene Bilanz erzielt werden, da das Land Oberösterreich einen Zuschuss gewährte. Die größten Einnahmequellen sind die Ertragsanteile aus dem Finanzausgleich mit 5 Millionen Euro und die Kommunalsteuer mit 1,7 Millionen Euro. Freistadt ist die finanzkräftigste Gemeinde des Bezirks und liegt auf Platz 77 (2006: Platz 70) in Oberösterreich (438 Gemeinden). Die Gemeindeschulden pro Kopf beliefen sich auf 1596 Euro, 80 Euro weniger als der Durchschnitt des Landes Oberösterreich und rund 450 Euro weniger als der Bezirks-Durchschnitt. Städtepartnerschaften Freistadt unterhält eine Städtepartnerschaft mit der südböhmischen Stadt Kaplice (Kaplitz). Diese seit 1994 existierende Partnerschaft hat eine Zusammenarbeit im gesellschaftlich-kulturellen sowie im sportlichen Bereich zum Ziel. Patenschaften 1982 hat Freistadt die Patenschaft über die auf Grund der Beneš-Dekrete vertriebenen Deutschböhmen der Stadt und Pfarre Rosenberg im Böhmerwald (tschechisch Rožmberk nad Vltavou) übernommen. Alljährlich vom Fronleichnamstag bis zum darauf folgenden Sonntag (vier Tage) findet in Freistadt ein Rosenberger-Treffen statt. Wappen Offizielle Beschreibung des Gemeindewappens: „In rot ein silberner Balken.“ Der rot-weiß-rote Schild ist das Zeichen der seinerzeitigen landesfürstlichen Stadtherrschaft. Der Babenberger Herzog Friedrich II. führte seit 1230 den Bindenschild im Siegel, den in der Folge König Ottokar II. Přemysl und schließlich die Habsburger als Hauswappen kontinuierlich übernahmen, um sich damit als Nachfolger der Babenberger zu dokumentieren. Seit 1282 wird das Stadtwappen nachweislich im Siegel mit der Umschrift SIGILLVM . CIVIVM . DE . VREIINSTAT verwendet. In der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde das Eigentum der Stadt mit dem rot-weiß-roten Schild gekennzeichnet. Auf dem Böhmertor, einem Torturm im Norden der Altstadt, ist ein solches Schild zu sehen. Ab dem 10. September 1821 wurde der kaiserliche Doppeladler, mit dem rot-weiß-roten Stadtwappen als Brustschild, verwendet. Auf Wunsch der Gemeindeverwaltung wurde am 10. September 1907 von Kaiser Franz Josef I. das Wappen geändert. Das von blau und gold geteilte Wappen zeigte oben einen Engel mit silbernen Flügeln und goldenem Sternenkranz um das Haupt, der ein goldenes Kreuz und einen grünen Palmzweig hielt. Unten zeigte das Wappen einen schwarzen Doppeladler mit rot-weiß-rotem Brustschild. Am 24. Juli 1939 wurde vom Landeshauptmann des Gaues Oberdonau wieder das ursprüngliche – heutige – Wappen eingeführt. Persönlichkeiten Die Stadt Freistadt hat bisher sechs ehemaligen Bürgermeistern nach Ende ihrer Amtszeit die Ehrenbürgerschaft verliehen. Als erstem Bürgermeister wurde Emanuel Lechner (Amtszeit 1879–1883) am 25. Juli 1900 diese Ehre zuteil. Dem Freistädter Komponisten Franz Neuhofer (1870–1949) wurde ebenfalls die Ehrenbürgerschaft verliehen. Hauptberuflich war er Chorleiter, Lehrer sowie Domorganist in Linz, wo Neuhofer auch starb. Viele mittelalterliche Gebäude sind dem Freistädter Steinmetzmeister Mathes Klayndl (etwa 1440–1510) zu verdanken. Obwohl durch die beiden großen Stadtbrände zahlreiche Gebäude vernichtet wurden, kann seine Baukunst unter anderem am Linzertor, Böhmertor und an vielen weiteren Gebäuden in und um Freistadt bewundert werden. Mathes' Bruder Steffan Klain war ebenfalls Steinmetzmeister, wurde um 1465 zum Stadtbaumeister in Chur, Kanton Graubünden berufen und wurde zum Promotor des spätgotische Baubooms in Graubünden. Der Färbermeister und Maler Aloys Zötl (1803–1887) wurde in der Stadt geboren. Jahrzehnte nach seinem Tod wiederentdeckt, wurde er von André Breton in die Liste der Surrealists avant la lettre aufgenommen. Zötl ist damit der einzige „offiziell“ anerkannte österreichische Surrealist. 1846 wurde Edward Samhaber in Freistadt geboren. Er war Literaturhistoriker, Lyriker, Dramatiker und Gymnasiallehrer in Freistadt. Am Rathaus befindet sich eine Gedenktafel für den 1910 in Linz verstorbenen Sohn der Stadt. Fünf Freistädter Gemeinderatsmitglieder oder Bürgermeister waren bzw. sind als Abgeordnete zum österreichischen Nationalrat tätig. Der erste war Franz Haunschmidt von 1945 bis 1962. Später hat der Bundesbeamte Norbert Kapeller (ÖVP) von 20. Dezember 2002 bis 14. März 2011 und zuletzt Johanna Jachs (ÖVP, seit 2017) den Wahlkreis 4E (Mühlviertel) im Nationalrat vertreten. Seit Gründung des oberösterreichischen Landtags sind regelmäßig Politiker aus Freistadt darin vertreten. Aktuell sind mit Johann Affenzeller (SPÖ) und Gabriele Lackner-Strauss (ÖVP) zwei in Freistadt lebende Politiker sowie mit Maria Christine Jachs (ÖVP) eine in Freistadt geborene Abgeordnete im Oberösterreichischen Landtag tätig. Der Leichtathlet Martin Pröll (* 1981) startet für den Linzer Verein SK VÖEST und nahm in Athen an den Olympischen Sommerspielen 2004 teil. Die Qualifikation für die Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking schaffte er nicht. Seine Disziplinen sind der 3000-Meter-Hindernislauf und die 5000-Meter-Langstrecke. Er ist mehrmaliger österreichischer Meister über 3000 Meter Hindernis. Mit Günter Daschill stellte die Stadt einen Teilnehmer der Paralympics 2004 in Athen. Der Komponist Hannes Raffaseder (* 1970) und die Schriftstellerinnen Andrea Winkler (* 1972) und Brigitte Schwaiger (1949–2010) sind in Freistadt geboren. Ebenso der mehrfach preisgekrönte Filmemacher und Autor Fritz Lehner (* 1948). Literatur Othmar Rappersberger: Freistadt – Schmuckkästchen des Mühlviertels. Kunstverlag Hofstetter, Ried i.I. 1992. Othmar Rappersberger, Peter Knoll: Freistadt einst und jetzt in Wort und Bild. Publication P No 1, 1993, ISBN 3-900878-97-8. Fritz Fellner, Peter Himmetsberger: In Freistadt ansässig: Ein Stück Stadtgeschichte. Publication P No 1, 1991, ISBN 3-900878-68-4. Herta Awecker, Franz Schober, Benno Ulm: Freistadt: Die Romantische Stadt im Mühlviertel und seine Umgebung. Plöchl-Druck, Freistadt 1955. Periodika: Stadtgemeinde Freistadt (Hrsg.): Freistädter Geschichtsblätter. Plöchl-Druck, Freistadt, Band 1–11, 1950–laufend. Quellen: Steueramt Freistadt, Akten, Handschriften, 1787–1871, Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA). Bundesdenkmalamt Österreich (Hrsg.): Dehio-Handbuch – Oberösterreich Mühlviertel. Verlag Berger, Horn/Wien 2003, ISBN 978-3-85028-362-5, S. o. A. Weblinks Website der Gemeinde Stadtfotos Archivaufnahmen aus und über Freistadt im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek (Radiobeiträge, Interviews) diverses: OÖ Landesausstellung 2013 Sage: Das gefangene Wassermännchen von Freistadt Einzelnachweise Bezirkshauptstadt in Österreich Zentralmühlviertler Hochland Leonfeldner Hochland Ersterwähnung 1241
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig%20XIV.
Ludwig XIV.
Ludwig XIV., Louis XIV (* 5. September 1638 in Schloss Saint-Germain-en-Laye; † 1. September 1715 in Schloss Versailles), war ein französischer Prinz aus dem Haus Bourbon und von 1643 bis zu seinem Tod König von Frankreich und Navarra sowie Kofürst von Andorra. Bereits im Alter von vier Jahren wurde Ludwig XIV. offiziell König; er stand jedoch zunächst unter der Vormundschaft seiner Mutter Anna von Österreich und übte nach dem Tod des „Leitenden Ministers“ Jules Mazarin ab 1661 persönlich die Regierungsgewalt aus. Ludwig sicherte dem französischen Königtum die absolute Macht durch den Ausbau der Verwaltung und der Armee, die Bekämpfung der adeligen Opposition (Fronde) sowie die Förderung eines merkantilistischen Wirtschaftssystems. Innenpolitisch rückte er den katholischen Glauben wieder in den Mittelpunkt (la France toute catholique) und widerrief im Edikt von Fontainebleau (18. Oktober 1685) die religiösen und bürgerlichen Rechte der Hugenotten. Gleichzeitig versuchte Ludwig die katholische Kirche in Frankreich dem weltlichen Einfluss des Papsttums zu entziehen (Gallikanismus). Durch eine expansive Außenpolitik und mehrere Kriege (Holländischer Krieg, Pfälzischer Erbfolgekrieg, Spanischer Erbfolgekrieg) löste Ludwig sein Land aus der habsburgischen Umklammerung und festigte Frankreichs Stellung als dominierende Großmacht in Europa. Ludwig XIV. gilt als wichtigster Vertreter des höfischen Absolutismus und Gottesgnadentums. Die von ihm etablierte Hofkultur, deren zentrales Symbol die herausragende Stellung und das prunkvolle Auftreten des Königs war, wurde zum Vorbild für Höfe in ganz Europa. Ludwig förderte Kunst und Wissenschaft, was eine Blütezeit der französischen Kultur zur Folge hatte, die sich im Stil Louis-quatorze ausdrückte. Sein Wirken war auch prägend für die kunst- und architekturgeschichtliche Epoche des klassizistischen Barocks. Bestes Beispiel hierfür ist das von Ludwig erbaute Schloss Versailles, das als Höhepunkt der europäischen Palastarchitektur gilt. Seine Herrschaft markierte eine Blütezeit der Kunst in Frankreich, insbesondere der Literatur, Architektur und Musik. Bekannte Vertreter dieser Zeit sind Lully, Charpentier, Couperin, Molière, Corneille, La Fontaine, Racine, Boileau, Le Vau, Mansart und Le Nôtre, weshalb das 17. Jahrhundert oft als Grand Siècle (Großes Jahrhundert) beschrieben wird. Ludwig XIV. erhielt die Beinamen „Sonnenkönig“ (Roi-Soleil) oder „der Große“ (Louis le grand). Als er am 1. September 1715 nach 72-jähriger Regentschaft starb, war er einer der am längsten herrschenden Monarchen der neuzeitlichen Geschichte. Überblick Die Geburt Ludwigs XIV. im Schloss Saint-Germain-en-Laye erschien vielen als glückliches Ereignis, denn 23 Jahre lang war die Ehe seiner Eltern Ludwig XIII. und Anna von Österreich ohne Nachkommen geblieben. Durch seine Geburt wurde die befürchtete Thronfolge von Gaston d’Orléans zurückgestellt. Aus Dankbarkeit erhielt der Neugeborene den Beinamen der „Gottgegebene“ (Dieudonné). Sein Bruder, Herzog Philipp I. d’Orléans, wurde 1640 geboren und starb 1701. Schon als Vierjähriger wurde Ludwig am 14. Mai 1643 als König inthronisiert. Er lebte aber bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr (1651) unter der Regentschaft seiner Mutter Anna von Österreich. Die tatsächliche Macht übte in dieser Zeit der „regierende Minister“ Kardinal Jules Mazarin aus. Mazarin bereitete Ludwig zielgerichtet auf seine Rolle als absolutistischer Herrscher vor. Schritt für Schritt wurde der junge König an der Macht beteiligt und teilte sich schließlich die Verantwortung mit Mazarin. Durch die außenpolitischen Erfolge der Minister-Kardinäle Richelieu und Mazarin politisch gestärkt, entfaltete Ludwig das absolutistische Königtum hochbarocker Prägung in Frankreich, mit einem Hofleben, das ganz auf die Person des Herrschers zugeschnitten war. Nach dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 und dem Pyrenäenfrieden mit Spanien 1659 war Frankreich die politische und militärische Vormacht in Europa. Unterstützt von Ministern wie Colbert, Louvois, Lionne und dem Kanzler Séguier konzentrierte er den staatlichen Machtapparat und erweiterte die militärischen, institutionellen und materiellen Machtgrundlagen der französischen Monarchie. Zumindest finanziell negativ wirkten sich die Hugenotten-Verfolgung und der Spanische Erbfolgekrieg aus. Letzterer führte durch die Härte der Kämpfe im Jahr 1713 fast zu einem Staatsbankrott, der nur durch eine Finanzreform und massive Einsparungen abgewendet wurde. Im Jahr 1660 heiratete Ludwig Maria Teresa von Spanien. Nach deren Tod (1683) heiratete er in morganatischer Ehe insgeheim die Marquise de Maintenon. Ludwig überlebte seinen Sohn Louis, le Grand Dauphin, und seinen ältesten Enkel Louis de Bourgogne und starb am 1. September 1715. Erst sein Urenkel folgte ihm als Ludwig XV. auf den Thron nach. Der Leichnam Ludwigs XIV. wurde durch den Chirurgen Pierre Dionis (1643–1718) mittels Gerbsäure in Pulverform konserviert und in der von ihm geschaffenen „Krypta der Bourbonen“ in der Abtei von Saint-Denis beigesetzt. Bei der Plünderung der Königsgräber von Saint-Denis im Jahr 1793 wurde sein sehr gut erhaltener Körper mit denen anderer Könige durch die Revolutionäre „profaniert“ und sogar kurzzeitig in eine Grube geworfen. Sein einbalsamiertes Herz wurde 1715 in der Jesuitenkirche Saint-Paul-Saint-Louis in der Rue St. Antoine in Paris bestattet. In der Restaurationszeit wurde es, wie alle Herzbestattungen der Angehörigen des Königshauses, in die Abtei von Saint-Denis überführt, wo es sich bis heute in der wiederhergestellten Grablege der französischen Könige in der Krypta befindet. Herrschaft Geburt Louis de Bourbon wurde am 5. September 1638 gegen 11 Uhr vormittags auf Schloss Saint-Germain-en-Laye geboren. Die Geburt wurde von den Zeitgenossen als freudiges Ereignis wahrgenommen, denn 23 Jahre lang war die Ehe seiner Eltern Ludwig XIII. und Anna von Österreich ohne Nachkommen geblieben. Nach mehreren Fehlgeburten hatte sich das Paar entfremdet und die streng gläubige Anna führte die Geburt des lang ersehnten Kronprinzen (Dauphin) auf das Wirken des Hl. Fiacrius zurück, weshalb der Neugeborene den Beinamen Dieudonné (der Gottgegebene) erhielt. Im Jahr 1640 folgte mit der Geburt Philipps ein zweiter Sohn. Die späte Geburt zweier Söhne sicherte den dynastischen Fortbestand der Bourbonen und eine Thronfolge Gastons d’Orléans wurde hinfällig. Doch die Ehe zwischen Ludwig und Anna blieb unglücklich, da der König Zweifel an der Abstammung seiner Kinder hegte und seiner Frau vorwarf, den Thronfolger gegen ihn einzunehmen. Ludwig XIII. starb am 14. Mai 1643 und der erst vierjährige Dauphin wurde als Ludwig XIV. offiziell zum neuen König proklamiert. Für den minderjährigen Nachfolger übernahm ein Regentschaftsrat unter Anna von Österreich die Regierung, die eigentliche Entscheidungsgewalt lag bei Kardinal Jules Mazarin. Dieser hatte bereits unter dem Vater als Leitender Minister die Staatsgeschäfte geführt und war Taufpate des jungen Königs. Erziehung Die Erziehung Ludwigs und seines jüngeren Bruders Philipp unterstand bis zum fünften Lebensjahr den beiden Gouvernanten Françoise de Lansac und Marie-Catherine de Senecey. Dem Zeitgeist entsprechend kleidete man die beiden Prinzen als Kleinkinder wie Mädchen und begann erst ab dem sechsten Lebensjahr mit einer geschlechtsspezifischen Erziehung. Kardinal Mazarin achtete auf eine umfassende Ausbildung des jungen Monarchen und bestimmte im Jahr 1646 den Offizier Nicolas de Neufville, duc de Villeroy zum Erzieher. Da Mazarin die Gefahren eines starken Bruders des Königs erkannte – ihm waren die Machtansprüche der Brüder Ludwigs XIII. noch allgegenwärtig –, soll er dafür gesorgt haben, dass Philipp keine Erziehung als potentieller Thronanwärter erhielt. Mitschüler und Spielgefährte Ludwigs war der Sohn seines Erziehers François de Neufville, duc de Villeroy. Unterrichtet wurden die beiden von dem Geistlichen Hardouin de Péréfixe de Beaumont und ab 1652 von dem Philosophen François de La Mothe le Vayer. Lerninhalt waren Fremdsprachen (Latein und Italienisch), Religion, Geschichte, Mathematik und Militärwissenschaften. Reiten und Fechten erweiterten das Ausbildungsprogramm, das in künstlerischen Inhalten (Malerei, Zeichnen, Architektur, Tanz und Musik) seine Vollendung fand. Mazarin persönlich führte Ludwig in die Kunst des Regierens und die Lenkung der Staatsgeschäfte ein und gab ihm eine Vorstellung von der Macht der Symbolik. Seine Mutter vermittelte ihm das Bewusstsein von Gott zum Herrscher auserwählt worden zu sein (Gottesgnadentum), woraus sich der unumschränkte Machtanspruch des französischen Monarchen ableite. Regentschaft der Mutter und Mazarins Im Jahr 1635 war Frankreich an der Seite Schwedens in den Dreißigjährigen Krieg eingetreten, mit dem Hauptziel, das Haus Habsburg zu schwächen. Frankreichs Armeen kämpften nun sowohl gegen den römisch-deutschen Kaiser und dessen Verbündete im Reich als auch gegen den spanischen König. Die französischen Armeen waren militärisch erfolgreich; gleichwohl belastete der Konflikt die Staatsfinanzen erheblich. Innenpolitisch sah sich Anna einer heftigen Opposition gegenüber, denn die städtischen Gerichtshöfe und Prinzen misstrauten ihrer Regierung. Dem stellte sich Kardinal Mazarin entgegen. Anna entpuppte sich jedoch als völlig anders als erwartet. Die Königin, als spanische Habsburgerin am französischen Hof zunächst verschmäht, wurde selbst zu einer überzeugten Französin. Sie duldete weder Favoriten noch die Schmälerung der königlichen Autorität im Staate. Ihre Generäle wies sie an, die Kämpfe mit unverminderter Härte voranzutreiben. Mazarin leitete die Staatsgeschäfte und führte die absolutistische Politik Kardinal Richelieus fort, indem er die Zentralisierung der Staatsgewalt in der Person des Königs mit aller Macht betrieb. Mit der Unterzeichnung der Friedensverträge zu Münster und Osnabrück (1648) ging Frankreich als größter Profiteur des Dreißigjährigen Krieges hervor. Erhebliche Truppenteile konnten gegen Spanien eingesetzt werden. Doch brach im gleichen Jahr in Frankreich die Fronde (1648–1653) aus, ein offener Bürgerkrieg des Pariser Parlaments und der Prinzen gegen die Politik des königlichen Absolutismus. Als Möglichkeit zur Revolte diente die Minderjährigkeit Ludwigs. Die Frondeure gaben vor, gegen die negativen Einflüsse des Leitenden Ministers Mazarin zu kämpfen. Dieser wurde als Italiener allgemein wenig geschätzt; insbesondere die königlichen Prinzen nahmen ihm übel, dass er sie konsequent von jeder politischen Macht ausschloss. Die Parlamente (Oberste Gerichtshöfe) hingegen wurden vom Englischen Bürgerkrieg beeinflusst und sahen eine Chance, ihre Privilegien gegenüber der Krone auszubauen. Die Fronde scheiterte im Jahr 1652, doch sollten die Unruhen noch bis zum Jahr 1654 anhalten. Ludwig XIV. wurde im Jahr 1651 für volljährig erklärt, womit die Regentschaft seiner Mutter offiziell endete. Der König – noch zu jung zur Regierung – übertrug erwartungsgemäß die Macht an Mazarin und nicht an einen Prinzen aus dem Königshaus. Am 7. Juni 1654 erfolgte die Krönung und Salbung des Königs in der Kathedrale von Reims, womit die Ordnung im Königreich, für jeden ersichtlich, wiederhergestellt war. Die Krönung des Königs sollte für die Menschen bewusst als Symbol für Kontinuität und den Schutz Gottes über den König stehen. Während des Bürgerkriegs kam der Kampf mit Spanien zum Erliegen, die Frondeure bekamen überdies Unterstützung von den Spaniern. Nachdem wieder innerer Friede herrschte, konnte Frankreich seine Kräfte gegen Spanien bündeln und erzielte Erfolge durch Angriffe auf die Spanischen Niederlande. Im Jahr 1657 gelang es Mazarin, das republikanische England unter Oliver Cromwell in einem Geheimvertrag zum Bundesgenossen gegen die Spanier zu gewinnen. Spanien sah sich gezwungen, den Frieden zu suchen. König Philipp IV. bot Ludwig die Hand seiner ältesten Tochter, der Infantin Maria Teresa von Spanien, an. Zwei Jahre später trafen beide Monarchen auf der Fasaneninsel, zwischen Frankreich und Spanien, zusammen und unterzeichneten den Pyrenäenfrieden. Frankreich erwarb das Roussillon nördlich der Pyrenäen und bekam von den Spanischen Niederlanden ein Großteil des Artois sowie weitere Grenzfestungen. Die Infantin verzichtete auf ihr Erbrecht an der spanischen Krone gegen eine Mitgift von 500.000 Écu, eine für die Spanier unerschwingliche Summe, die nicht ausgezahlt werden konnte. Dadurch blieb Maria Teresa älteste erbberechtigte Tochter des spanischen Königshauses. Die Heirat zwischen Ludwig XIV. und Maria Teresa (einer Kusine ersten Grades) fand am 9. Juni 1660 in Saint-Jean-de-Luz statt. Am 1. November 1661 wurde Dauphin Louis geboren. Die Alleinherrschaft Seit Ludwigs Kindheit führte Kardinal Mazarin die Geschäfte für den König. Der Leitende Minister galt als ein außerordentliches Talent in der Politik und unterrichtete daher selbst den König in der Kunst der Staatsführung. Ludwig XIV. bekam so eine solide und sehr umfassende Ausbildung in Staatsangelegenheiten, Recht, Geschichte und Militärstrategie, aber auch in diversen Sprachen und Wissenschaften. Als Mazarin am 9. März 1661 starb, verkündete der 22-jährige König dem Staatsrat, dass er keinen Leitenden Minister mehr einsetzen, sondern die Regierungsgeschäfte in eigener Regie führen werde. Diese Regierungsgrundsätze, heute auch als das absolutistische Kabinettsystem bezeichnet, hielt er im Jahr 1670 in seinen „Memoiren“ für seinen Nachfolger fest. Der Hof und die Minister waren zunächst irritiert, doch man meinte, es würde sich nur um eine kurze Phase handeln. Ludwig hingegen begann, die Regierung umzubilden und entließ einen Großteil des Staatsrats, selbst seine Mutter schloss er aus, so dass nur noch die wichtigsten drei Minister an den Ratssitzungen teilnahmen. Einer von diesen war Nicolas Fouquet, der Finanzminister. Nach einer Denunziation durch den ehrgeizigen Jean-Baptiste Colbert ließ Ludwig Fouquet wegen Korruption und Hochverrat verhaften und durch jenen ersetzen. Fouquet hatte Staatsgelder veruntreut und Befestigungen ohne Genehmigung des Königs bauen lassen. Letzteres interpretierte Ludwig als Vorbereitung einer Rebellion gegen seine Person. Mit der neuen Regierung wurde ein Reformprogramm beschlossen, dessen Ziele die Förderung von Wirtschaft und Wissenschaft, der massive Ausbau von Flotte und Armee und eine tiefgreifende Reformierung der Bürokratie war. Den Flottenbau betrieben maßgeblich Colbert und sein Sohn, der Marquis de Seignelay. Reform und Vergrößerung der Armee hingegen waren Hauptaufgabe des Ministers Le Tellier sowie dessen Sohns, des Marquis de Louvois. Ludwig schrieb selbst an seine Mutter: Der junge Ludwig XIV. versuchte, Europa zu beeindrucken. Diese Gelegenheit bot sich ihm bereits im Jahr 1661 beim Londoner Kutschenstreit, in dessen Folge Spanien den Vorrang des Königs von Frankreich in ganz Europa anerkennen musste. Den europäischen Höfen wurde klar, dass Ludwig nicht die Absicht hatte, ein schwacher König zu sein. Im Jahr 1662 kam es zur Defensivallianz zwischen Frankreich und Holland; kurz darauf kaufte Ludwig XIV. vom englischen König Karl II. die Stadt Dünkirchen. Doch der König wollte alle Welt nicht nur politisch überraschen, sondern auch seine Macht und seinen Reichtum zur Schau stellen. Dies ging am besten durch prächtige, für den Barock typische Hoffeste. Daher fand im Jahr 1664 das Fest Die Freuden der verzauberten Insel (Plaisirs de l’Île enchantée) statt. Europas Fürsten waren verblüfft und erstaunt über den Luxus dieser Vergnügungen und begannen zunehmend, den Lebensstil des französischen Monarchen nachzuahmen. Die Legende des „Sonnenkönigs“ nahm hier ihren Anfang. Im Jahr 1665 starb sein Onkel und Schwiegervater Philipp IV. von Spanien und Ludwig machte zum ersten Mal das Erbrecht seiner Gemahlin geltend. Er forderte auf Grundlage des brabantischen Devolutionsrechts einen Erbteil für Frankreich, nach welchem Töchter aus erster Ehe ein vorrangiges Erbrecht haben. In Spanien saß mit Karl II. ein Kind auf dem Thron, die Regentschaft führte dessen Mutter, Maria Anna von Österreich. Die Regentin wies die französischen Forderungen zurück, und Ludwig bereitete einen Krieg vor, der im Jahr 1667 ausbrach und bis ins Jahr darauf andauerte (Devolutionskrieg). Die Armeereformen des Königs waren bereits weit vorangeschritten. Er hatte mit einem stehenden Heer, wie zuvor der französische König Karl VII., ein Novum im neuzeitlichen Frankreich eingeführt: Berufssoldaten, die ständig bereitstanden, streng ausgebildet und diszipliniert, sowie regelmäßig bezahlt und versorgt wurden. Es marschierte eine Armee von 70.000 Mann in die Spanischen Niederlande ein und annektierte danach die Franche-Comté. Spanien sah sich vor vollendete Tatsachen gestellt und hatte keine Mittel zur Gegenwehr. Der Sieg schien uneingeschränkt zu sein, doch fühlte sich nun Frankreichs Alliierter Holland von der Präsenz französischer Truppen bedroht. Die holländischen Generalstaaten verbündeten sich im Jahr 1668 mit England und Schweden zur Tripelallianz gegen Ludwig XIV., um so die Friedensverhandlungen zu beschleunigen. Dieser sah sich nun gezwungen, bei den Verhandlungen in Aachen Abstriche von seinen Forderungen zu machen. Durch den Frieden von Aachen behielt Frankreich große Teile im Westen der Spanischen Niederlande, musste jedoch die Franche-Comté wieder herausgeben. Ludwig XIV. konnte nicht verzeihen, dass ihm sein ehemaliger Alliierter in den Rücken gefallen war, denn er war bisher immer größter Förderer der Niederlande gewesen und hatte noch 1666 zu deren Gunsten im Zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg militärisch interveniert. Er warf den Generalstaaten offen Undankbarkeit und sogar Verrat vor. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, noch im selben Jahr das Grand Divertissement Royal in Versailles zu feiern, als Zeichen seines Triumphes. Der Kampf gegen die Niederlande Ludwig XIV. hatte nun zwei politische Ziele: Erstens Holland zu bestrafen und zweitens die Grenzen zu begradigen, was nichts anderes hieß, als weitere Teile Spaniens zu erobern. Zuerst zerstörte er die Tripelallianz, indem er 1670 mit seinem Cousin Karl II. von England im Vertrag von Dover ein Offensivbündnis einging und dann Schweden hohe Subsidien für eine Allianz zahlte. Danach annektierte Frankreich das Herzogtum Lothringen und schloss zahlreiche Bündnis- und Neutralitätsabkommen mit benachbarten Fürsten. Schließlich war Holland außenpolitisch und militärisch vollständig isoliert. 1672 erklärten Frankreich und England den Krieg gegen Holland, der Holländische Krieg (1672–1678) begann. Ludwig ließ 120.000 Mann die Grenzen zu den Vereinigten Provinzen der Niederlande überschreiten. Sein Ziel war nicht, Holland zu annektieren, sondern er wollte nur ein Exempel statuieren und Handelsvorteile erzwingen. Eigentliches Ziel war die Bedrohung Spaniens. Französische Truppen nahmen immer mehr Gebiete ein, die Holländer verloren den Kampf und nur die Öffnung der Deiche und die völlige Überflutung breiter Landschaften rettete sie vor der totalen militärischen Niederlage. In dieser Situation wurde Johan de Witt durch Wilhelm III. Prinz von Oranien als Generalstatthalter der Provinzen abgelöst. Dieser ging unverzüglich ein Bündnis mit Spanien und dem römisch-deutschen Kaiser Leopold I. ein. Damit hatte Ludwig XIV. auch sein zweites politisches Ziel erreicht: Spanien und der römisch-deutsche Kaiser erklärten freiwillig den Krieg. Im Jahr 1673 führte er persönlich die französischen Truppen bei der Belagerung von Maastricht. Nach dem Abzug seiner Truppen aus Holland konnte Ludwig seine Armeen nun gegen Spanier und Kaiserliche verwenden. 1674 annektierte er erneut die Franche-Comté, England schied jedoch aus dem Krieg aus. Zur Feier der Siege veranstaltete der König sein drittes berühmtes Fest, das Fest von Versailles. Die Kämpfe zogen sich noch bis 1678 hin, verliefen jedoch höchst erfolgreich für Frankreich. Ludwig hielt während des Krieges 280.000 Mann unter Waffen. Dieser Übermacht und der Kampfstärke der französischen Truppen waren die alliierten Streitkräfte nicht gewachsen, weswegen Frankreich den Holländischen Krieg schließlich gewann. 1678/79 wurde der Friede von Nimwegen geschlossen. Frankreich behielt dabei fast vollständig seine Eroberungen gegen Spanien und im Heiligen Römischen Reich. Der Einfluss und die Dominanz Ludwigs XIV. in Europa verstärkten sich weiter. Trotzdem war der König unzufrieden, da die beabsichtigten Grenzbegradigungen nicht vollständig erreicht wurden. So entließ er 1679 seinen Außenminister, den Marquis de Pomponne, und ersetzte ihn durch Colberts talentierten Bruder Charles Colbert de Croissy. Zur Sicherung der Grenzen begann Ludwig mit dem Ausbau des französischen Festungsgürtels. Der Festungsbaumeister Sébastien le Prestre de Vauban umgab das Königreich mit über 160 neugeschaffenen oder umgebauten Befestigungsanlagen, welche Frankreichs Territorien abriegeln sollten. Dazu gehörten Stadtgründungen wie Saarlouis und Neuf-Brisach, letzteres stellt noch heute ein besonders anschauliches Beispiel für diese Festungsstädte dar. Nach dem erfolgreichen Krieg löste Frankreich seine Armeen nicht auf, sondern behielt diese in voller Kampfstärke weiter unter Waffen. Ludwig benutzte sie zur Durchsetzung der Reunionen, wodurch er seine Eroberungen weiter ausbauen konnte. Zunächst annektierte er die restlichen Teile des Elsass, hier war insbesondere Straßburg sein Hauptziel, welches als Einfallstor für kaiserliche Truppen gedient hatte; es wurde im Jahr 1681 eingenommen. In diesen Jahren wurde auch die Grafschaft Saarbrücken und das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken besetzt und in die französische Province de la Sarre umgewandelt. 1683 griffen Truppen Ludwigs XIV. die östlichen Teile der Spanischen Niederlande an und eroberten bis ins Jahr darauf die wichtige spanische Grenzfestung Luxemburg. Daneben erfolgte noch die Besetzung der unteren Schelde, wodurch große Teile Flanderns in französischen Besitz gerieten. Gegen diese offenen Aggressionen mitten im Frieden protestierte Spanien heftig und erklärte noch 1683 den Krieg. Doch kein anderer Staat war bereit, die Waffen gegen Frankreich zu richten, insbesondere war Kaiser Leopold I. durch die Zweite Wiener Türkenbelagerung gebunden. So musste Spanien umgehend um Frieden bitten. Ludwig handelte 1684 zu Regensburg mit Spanien, Kaiser und Reich einen zwanzigjährigen Waffenstillstand aus und erreichte so die vorläufige Anerkennung sämtlicher Reunionen. Dadurch hatte Ludwig XIV. mit keinerlei Gegenwehr mehr zu rechnen. Der Machtzenit Ludwigs politische und militärische Übermacht war nach dem Frieden von Nimwegen erdrückend. Frankreichs Diplomaten beherrschten das politische Parkett. Es war die dominierende Seemacht geworden, während es noch 1660 über kaum mehr als zwei Kriegsschiffe verfügt hatte. An Stärke und Kriegstechnik war die französische Armee jeder anderen überlegen, die Wirtschaft florierte und ganz Europa imitierte Frankreichs Kultur. Aufgrund der großen Erfolge verlieh Paris Ludwig im Jahr 1680 den Titel „der Große“ (Ludovicus Magnus). In den Jahren zuvor war Ludwig XIV. neben der Expansion in Europa auch noch mit der Erweiterung des französischen Kolonialreiches beschäftigt. Neben den im frühen 17. Jahrhundert gegründeten Neufrankreich-Kolonien in Kanada gründete er die ersten Kolonien von Französisch-Indien: Chandannagar (1673) und Pondichéry (1674). In Westindien wurde die Insel Martinique französisch. Im Jahr 1682 gründete La Salle am unteren Mississippi eine neue Kolonie und nannte sie zu Ehren des Königs Louisiana. Daneben erwarb der König noch Haiti (1660) und Französisch-Guayana (1664), sowie mit dem Senegal Teile der westafrikanischen Küste und Madagaskar. Innenpolitisch begann Ludwig XIV. seine Kontrolle über die französische Staatskirche auszubauen. Im November 1681 ließ er eine Klerikerversammlung abhalten, welche die Gallikanischen Artikel verabschiedete, wodurch die Macht des Papstes praktisch aufgelöst wurde. Der Einfluss der französischen Könige auf die eigene Kirche war ohnehin sehr stark, nun jedoch durfte der Papst auch keine Legaten mehr ohne des Königs Zustimmung nach Frankreich senden. Bischöfe durften ohne königliche Erlaubnis das Land nicht verlassen, kein Staatsbeamter exkommuniziert werden für Taten, die seinen Dienst betrafen. Alle kirchlichen Privilegien wurden dem Monarchen übertragen, sämtliche Einflussmöglichkeiten des Papstes durch die Billigung des Königs reguliert. Der Papst verweigerte schließlich seine Zustimmung zu diesen Artikeln und erst Jahre später sollte Ludwig einen Kompromiss mit dem Heiligen Stuhl finden. Außerdem ging Ludwig davon aus, dass er, um die Einheit der Nation zu stärken, die durch die Reformation verursachte Spaltung des Christentums überwinden müsse. In dieser Sichtweise folgte er konsequent der Religionspolitik seiner Vorgänger, darin besonders der Vorgabe Kardinal Richelieus, die stets eine Wiederholung der Hugenottenkriege fürchteten. Des Weiteren wurde er in dem tiefen Glauben erzogen, dass die Seele eines Protestanten den Qualen der Hölle ausgeliefert sei, weshalb er es als seine Pflicht ansah, die Seelen seiner hugenottischen Untertanen zu retten. Er setzte deshalb die protestantische Bevölkerung unter Druck, vor allem durch das Edikt von Fontainebleau (1685). Dadurch wurde das im Jahr 1598 von Heinrich IV. ausgerufene tolerante Edikt von Nantes widerrufen. Hugenottische Kirchen wurden daraufhin zerstört, protestantische Schulen geschlossen. Durch Ludwigs Maßnahmen flohen von 1685 bis 1730 etwa 200.000 (von 730.000) Hugenotten ins Ausland, vor allem in die Niederlande, nach Preußen, England und Nordamerika, wo sie, als zumeist gut ausgebildete Fachkräfte, zur Steigerung der Produktivität beitrugen. Diese französischen Flüchtlinge beeinflussten etwa die protestantische Arbeitsethik der Niederlande, wodurch später der bereits erhebliche Reichtum in dieser Region noch gesteigert wurde. Die neuere Forschung hat allerdings gezeigt, dass die Zahl der Geflohenen bei weitem zu gering war, um einen spürbaren Schaden an der französischen Wirtschaft herbeizuführen. Jedoch erschütterte das Edikt von Fontainebleau Frankreichs Ansehen bei den protestantischen Staaten Europas und ein harter Kern von 20.000 Hugenotten entfachte Aufstände in Zentralfrankreich. Die große Mehrheit gab dem Druck jedoch nach und konvertierte, auch aufgrund der Steuerbegünstigungen und der Sonderrechte für Konvertierte sowie der lebenslangen Befreiung vom Dienst in der Miliz. Aufgrund der einsetzenden Flüchtlingswellen des Jahres 1669 verhängte Ludwig ein Emigrationsverbot. Nach den Bekehrungs- und Missionierungsaktionen gipfelten die Verfolgungen 1681 in den Dragonaden und der Zerstörung hunderter protestantischer Dörfer. Letztlich war für Ludwig XIV., seine Minister und Kardinäle nur ein katholisches Frankreich ein einheitliches und stabiles Frankreich. Ab dem Jahr 1686 formierte sich die Liga von Augsburg, ein Zusammenschluss protestantischer und katholischer Staaten gegen Frankreichs Eroberungspolitik. Mitglieder waren der römisch-deutsche Kaiser Leopold I., Bayern (Kurfürst Maximilian II. Emanuel), Brandenburg (Friedrich Wilhelm), die Vereinigten Provinzen, Spanien (Karl II. von Spanien) und Schweden (Karl XI. von Schweden). 1688 spitzte sich die diplomatische Lage weiter zu, zum einen durch die Glorious Revolution, in der der mit Ludwig sympathisierende König Jakob II. von England gestürzt wurde, und zum anderen durch den Streit um die Nachfolge des Kölner Kurfürsten Maximilian Heinrich, da der von Frankreich unterstützte Kandidat durch den Widerstand des Kaisers und des Papstes nicht anerkannt wurde. Ludwig entsandte 1688 Truppen in die Pfalz, um angebliche Ansprüche durch seine Schwägerin Liselotte von der Pfalz auf Allodialbesitz ihres verstorbenen Bruders, Kurfürst Karl II., zu demonstrieren und eine dauerhafte Anerkennung seiner Reunionen zu erreichen. Durch diese Maßnahme, die zur späteren Verwüstung der Pfalz und Badens durch die Franzosen bei ihrem Rückzug aus den linksrheinischen Gebieten führte, eskalierte der Konflikt zwischen König und Liga. Letztere erklärte Frankreich den Krieg, dem sich auch England unter dem neuen König Wilhelm von Oranien anschloss. Die Konfrontation mündete in den Pfälzer Erbfolgekrieg (1688–1697). Das auf einen längeren Krieg nicht vorbereitete Frankreich war nach anfänglichen Rückschlägen wie dem Verlust von Mainz und Bonn 1689 insgesamt militärisch sehr erfolgreich. Französische Armeen besetzten weite Teile der Spanischen Niederlande, behaupteten ihre Reunionen gegen das Reich und marschierten mehrmals ins rechtsrheinische Gebiet ein. Ludwig selbst beteiligte sich an einigen Belagerungen wie in Mons und in Namur. Die Truppen der Alliierten waren weniger gut ausgebildet und zahlenmäßig unterlegen. Zudem waren umfangreiche Truppenverbände des Kaisers im 5. Türkenkrieg gebunden. Die Allianz konnte kaum Siege verbuchen, doch auch Ludwigs Flotte erlitt eine Niederlage vor La Hougue (1692). Es gelang keiner der beiden Seiten, den Gegner endgültig niederzuringen. Frankreich konnte nicht aus dem Reich verdrängt werden. Als Ludwig XIV. einsah, dass er trotz mehrerer strategisch vorteilhafter Siege, wie der Schlacht bei Neerwinden am 29. Juli 1693, militärisch keinen Frieden erzwingen konnte, begann er, seine Diplomaten als politische Waffe einzusetzen. Die erschöpften Kontrahenten begannen den Frieden von Rijswijk zu vereinbaren, der im Jahr 1697 unterzeichnet wurde. Ludwig suchte hier einen maßvollen und stabilen Frieden auszuhandeln, der auch seine Gegner befriedigen konnte. Daher gab er Luxemburg, das Herzogtum Lothringen und die Pfalz wieder heraus und bekam dafür die elsässischen Reunionen und den Besitz von Straßburg endgültig bestätigt. Darüber hinaus erkannte Ludwig XIV. den Prinzen von Oranien als König von England an. Frankreich sollte so die Möglichkeit bekommen, sich langfristig von den Kriegsanstrengungen zu erholen. Die letzten Jahre Nach dem Jahr 1697 begann die spanische Thronfolge zunehmend zum Hauptthema an den Höfen Europas zu werden. Der spanische König Karl II. hatte keine Kinder, daher war seine Nachfolge unklar. Sowohl die Bourbonen als auch die Habsburger der österreichischen Linie machten Erbansprüche geltend, denn König Ludwig XIV. und auch der Kaiser des heiligen römischen Reiches, Leopold I., hatten Töchter Philipps IV. von Spanien geheiratet. Ludwig hatte allerdings mit Maria Teresa von Spanien die ältere von beiden geehelicht und diese hatte nie mit Gültigkeit auf ihr Erbrecht verzichtet. Leopold hingegen hatte die jüngere Tochter Margarita von Spanien geheiratet und war zudem der Meinung, dass Spanien im Besitz der Habsburger bleiben müsste. Nun fürchteten andere Staaten wiederum, dass die Mächtekonstellation in Europa erheblich erschüttert werden würde, sollten sich Frankreich oder Kaiser Leopold Spanien gänzlich einverleiben. Unter diesen Bedenken handelte Ludwig XIV. mit Wilhelm III. von England den 1. Teilungsvertrag aus. Der bayerische Prinz Joseph-Ferdinand sollte Spanien bekommen und die europäischen Besitzungen Spaniens sollten zwischen Ludwig und Leopold aufgeteilt werden. Kaiser Leopold akzeptierte diesen Vertrag. Spanien hingegen lehnte jede Teilung seines Reiches ab. Karl II. entschloss sich stattdessen, den bayerischen Prinzen Joseph-Ferdinand als Universalerben für alle Ländereien einzusetzen, in der Hoffnung, dass sowohl Ludwig als auch Leopold auf ihre vertraglichen Rechte verzichten würden. Mit dem Tod des erst sechsjährigen bayerischen Prinzen Joseph-Ferdinand im Jahre 1699 wurde dieser Plan hinfällig. Karl II. wollte aber die Einheit seines Reiches wahren und entschied sich vorerst für den Erzherzog Karl – den jüngeren Sohn des Kaisers – als seinen Erben. Dessen Ansprüche wurden jedoch durch den 2. Teilungsvertrag zwischen Frankreich und England geschmälert. Nach diesem sollte Erzherzog Karl zwar Spanien erben, aber die italienischen Besitzungen sollten an Frankreich fallen. Daraufhin verweigerte Kaiser Leopold I. seine Zustimmung zum 2. Teilungsvertrag und beanspruchte das gesamte spanische Erbe ungeteilt für seinen Sohn Karl, womit er Frankreich, Holland und England brüskierte. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1700 entschied sich Karl II. jedoch anders. Er setzte den zweiten Sohn des französischen Kronprinzen Louis, den Herzog von Anjou, als Universalerben ein. Sollte dieser unerwartet den französischen Thron erben, so würde dessen jüngerer Bruder, der Herzog von Berry, Spaniens neuer König. Sollte auch dieser nicht mehr zu Verfügung stehen, so würde dann erst Erzherzog Karl sein Erbe werden. Damit erkannte Karl II. von Spanien die legitimen Thronrechte der Bourbonen an, welche sich von Maria Teresa von Spanien herleiteten. Als Ludwig XIV. die Nachricht vom Tod des spanischen Königs und dessen neuem Testament erfuhr, sah er sich in einer schwierigen Lage: Sollte er das Testament für seinen Enkel annehmen oder auf dem 2. Teilungsvertrag mit England bestehen, den Kaiser Leopold jedoch nie anerkannt hatte? Nach intensivem Abwägen mit seinen Ministern entschloss er sich, das spanische Erbe zu akzeptieren, weil ein Krieg mit dem Kaiser nun ohnehin unvermeidlich war und Frankreich so die bessere Position gegen den Kaiser einnehmen konnte. Es gilt als gesichert, dass eine Ablehnung des Testaments den Krieg nicht hätte verhindern können, da Kaiser Leopold den Waffengang plante, wenn Frankreich auf dem 2. Teilungsvertrag bestanden hätte. So proklamierte Ludwig XIV. seinen Enkel Philippe d’Anjou zu Philipp V. und damit zum neuen König von Spanien. Ludwig befahl die sofortige Besetzung der spanischen Nebenländer, noch bevor Leopold sich ihrer bemächtigen konnte. Durch die Sorge, dass Frankreichs Übermacht dadurch noch zunehmen könnte, vereinigten sich England, Holland und das Reich mit dem Kaiser zum Kampf gegen Ludwig, wodurch die Große Allianz geschaffen wurde. Die französisch-spanische Allianz wurde durch Savoyen, Kurköln und Bayern unterstützt, wodurch der Spanische Erbfolgekrieg (1702–1713) ausgelöst wurde. Frankreich verfolgte nun zwei Ziele: Das wichtigste war die Durchsetzung Philipps V. als spanischer König, außerdem beabsichtigte Ludwig XIV. weitere Eroberungen gegen das Reich zu machen.Der Krieg verlief wenig geradlinig. Frankreichs Armeen dominierten zu Beginn das Feld. Die kaiserlichen Alliierten hatten jedoch alle verfügbaren Kräfte gegen Frankreich mobilisiert und ihre Armeen modernisiert und ausgebaut. Frankreich war gezwungen, während des Krieges 680.000 Soldaten zu unterhalten, um ein schlagkräftiges Gegengewicht zu bilden und die feindlichen Armeen im Heiligen Römischen Reich zu beschäftigen. Frankreichs Staatsfinanzen wurden überbeansprucht; leere Kassen waren die Folge. 1708 sah die militärische Lage für Frankreich zunächst so schlecht aus, dass Ludwig XIV. um Frieden ersuchte. Da die Alliierten jedoch unannehmbare Forderungen stellten, wurden Gespräche unverzüglich abgebrochen. In der Folge wendete sich das Blatt wieder leicht zu Gunsten Frankreichs, eine Entscheidung brachte dies jedoch nicht. Alle Parteien waren zermürbt und auch die kaiserlichen Alliierten standen vor einem finanziellen und wirtschaftlichen Kollaps. Frankreich war klar, dass es die feindliche Koalition nicht mehr endgültig besiegen konnte und die Koalition musste erkennen, dass es ihnen unmöglich war, Frankreich zu überwältigen oder Philipp V. aus Spanien zu vertreiben. Als im Jahr 1711 Kaiser Joseph I. starb und Erzherzog Karl damit neuer Kaiser wurde, erkannte England zunehmend die Gefahr, dass Karl sowohl Spanien als auch das Reich unter seiner Herrschaft vereinen könnte, und begann Friedensgespräche mit Frankreich. Zwei Jahre später unterzeichnete England den Separatfrieden von Utrecht mit Ludwig und Philipp und schwächte so die Kaiserlichen weiter. Durch die Besetzung Freiburgs im November 1713 durch Frankreichs Truppen sah sich Kaiser Karl VI. gezwungen, ebenfalls den Frieden zu suchen und 1714 den Frieden von Rastatt zu akzeptieren. Danach schlossen Frankreich und das Reich den Friede von Baden. Philipp V. blieb König von Spanien und behielt ebenso dessen Kolonien. Die Reste der Spanischen Niederlande und die italienischen Besitzungen fielen an den Kaiser. Damit hatte Frankreich sein politisches Hauptziel erreicht und die Bourbonen auf Spaniens Thron etabliert, musste jedoch auf fast jede militärische Eroberung verzichten. Dennoch war die habsburgische Umklammerung Frankreichs endgültig zerschlagen worden. In seinen letzten Jahren kümmerte sich Ludwig XIV. hauptsächlich um die Erholung der Staatsfinanzen durch Einsparungen und Finanzreformen sowie die Förderung der Wirtschaft. Da sein Urenkel Ludwig XV. noch ein Kleinkind war, übertrug Ludwig XIV. die Regierungsgewalt testamentarisch auf seinen Neffen, Philipp II. d’Orléans, der dann als Regent fungieren sollte. Tod und Grabschändung Laut dem Tagebuch von Philippe de Courcillon entdeckten die Ärzte des Königs am 2. August 1715 erstmals einen schwarzen Fleck am linken Bein, der bald als Wundbrand identifiziert wurde. Bis zum 29. August soll der Wundbrand sich bis zum Knie ausgebreitet haben. Ludwig XIV. starb am 1. September 1715 gegen 8:15 Uhr an den Folgen des Wundbrandes im Alter von 76 Jahren. Sein Leichnam wurde durch den Chirurgen und Dozenten Pierre Dionis (1643–1718) mittels Gerbsäure in Pulverform konserviert und später in der Abtei von Saint-Denis beigesetzt, der traditionellen Grablege der französischen Könige. Im Rahmen einer getrennten Bestattung wurde das Herz Ludwigs XIV. in der Kirche Saint-Paul-Saint-Louis des Jesuitenklosters Maison professe de Paris (auch Couvent des Grands-Jésuites genannt) in der Rue St. Antoine bestattet, dessen Geistliche – wie Pater François d’Aix de Lachaise – ihn lange Jahre als Beichtväter begleitet hatten. Die Eingeweide Ludwigs XIV. kamen nach Notre-Dame. Der Sonnenkönig hatte das französische Territorium wie keiner seiner Vorgänger vergrößert. Frankreich war zum mächtigsten Staat und kulturellen Zentrum Europas avanciert. Französisch diente im Folgenden im 17. und 18. Jahrhundert als Sprache des guten Geschmacks, ähnlich wie später Englisch zur globalen Wirtschaftssprache werden sollte. Im 18. Jahrhundert übernahm zum Beispiel der russische Adel französische Sitten und sprach eher Französisch als Russisch. Das französische Volk war nach den Holländern das wohlhabendste Europas geworden, die Wirtschaft erholte sich nach der Stagnation im Spanischen Erbfolgekrieg schnell, sie wuchs in erheblichem Maße weiter, auch wenn die Steuern vergleichsweise hoch waren. Andererseits jedoch war die Bevölkerung nach 72 Jahren Herrschaft ihres alten Königs überdrüssig. Die enormen finanziellen Belastungen des letzten Krieges lasteten die Menschen ebenfalls Ludwig XIV. an. Der alte König gestand selbst, dass , welche der Spanische Erbfolgekrieg nötig gemacht hatte. Als sein Körper in die Gruft überführt wurde, berichtete der Polizeikommissar Pierre Narbonne: Und Voltaire sah neben dem Trauerzug Man freute sich auf die Herrschaft des neuen Königs und wollte die letzten harten Jahre des Kampfes um den spanischen Thron vergessen. Der Leichnam Ludwigs XIV. ruhte 78 Jahre lang in seinem königlichen Grab, bis die Stürme der Französischen Revolution auch den toten Sonnenkönig erfassten. Die provisorische Regierung hatte nämlich am 31. Juli 1793 die Öffnung und Zerstörung aller Königsgräber in Saint-Denis angeordnet. Das Grab Ludwigs XIV. wurde am 15. Oktober 1793 geöffnet und der darin liegende Leichnam exhumiert. Da der einbalsamierte Tote noch sehr gut erhalten war, wurde Ludwig XIV. zusammen mit einigen anderen verstorbenen Königen, z. B. König Heinrich IV. von Navarra († 1610), für einige Zeit den Passanten vor der Kathedrale zur Schau gestellt und anschließend in eine von zwei außerhalb der Kirche ausgehobenen Gruben geworfen, mit Löschkalk bestreut und wieder vergraben. Während der bourbonischen Restauration wurden die beiden Gruben wieder geöffnet und die darin befindlichen Gebeine aller hier verscharrten Könige, auch die Ludwigs XIV., in einer feierlichen Zeremonie am 21. Januar 1815 nach Saint-Denis rücküberführt und dort in einem gemeinsamen Ossarium in der Krypta der Kathedrale beigesetzt, da die Überreste nicht mehr einzelnen Individuen zugeordnet werden konnten. Ebenso wurde während der Restauration der Herzbecher Ludwigs XIV. von der Kirche Saint-Paul-Saint-Louis, die 1802 Pfarrkirche geworden war, nach Saint-Denis überführt. Wirtschaft Als Ludwig XIV. 1661 die Herrschaft antrat, war Frankreichs Staatshaushalt durch den letzten Krieg mit Spanien stark angespannt. Ludwig förderte enorm den Geldkreislauf, indem er große Summen für seine Kriege, für das Hofleben, Kunst und Kultur ausgab. Große Geldmengen verschwanden durch Korruption in der französischen Bürokratie. Ludwig selbst schreibt: Ludwig XIV. setzte sich zum Ziel, dieses Chaos zu beseitigen und klare Ordnung in den staatlichen Strukturen Frankreichs herzustellen. Als erstes ließ er 1661 seinen Finanzminister, den „Oberintendanten der Finanzen“ Nicolas Fouquet verhaften, weil sich dieser an den Einnahmen des Staates bereichert hatte, um das luxuriöse Schloss Vaux-le-Vicomte erbauen zu können – ein deutliches Zeichen an dessen Nachahmer. Ludwig XIV. ernannte daraufhin Jean-Baptiste Colbert, den bekanntesten Förderer des Merkantilismus, zu seinem „Generalkontrolleur der Finanzen“. Das Amt des Finanzministers wurde abgeschafft und durch einen Finanzrat ersetzt, dem der König und Colbert persönlich vorstanden. Etwas Unerhörtes zu dieser Zeit, denn ein König hatte sich damals eigentlich nicht um etwas so Unschickliches wie Geld zu kümmern. Indem Colbert die Korruption bekämpfte und die Bürokratie neu organisierte, konnte er die Steuereinnahmen mehr als verdoppeln, ohne neue Steuern erheben zu müssen. So war es Ludwig möglich, bereits am Anfang seiner persönlichen Regierung eine Steuersenkung zu erlassen und so ein schnelleres Wachstum der französischen Wirtschaft zu erreichen. Die Wirtschaft wurde durch die Einrichtung von Handelskompanien und Manufakturen gefördert. Besonders die französische Luxusindustrie wurde bald führend in Europa und darüber hinaus. Mit Waren wie Gobelinteppichen, Spiegeln, Spitzen, Goldschmiedearbeiten und Möbeln, die in ganz Europa begehrt waren, erzielte die Krone Spitzenprofite. Nach innen wurde Nordfrankreich einer Zollunion unterworfen, um so innerfranzösische Handelshemmnisse abzubauen. Colberts Versuche, eine einheitliche Zollbarriere für das ganze Königreich zu erwirken, scheiterten jedoch an lokalen Handelsprivilegien. Das französische Steuersystem enthielt Handelssteuern (aides, douanes), Salzsteuer (gabelle) und Landsteuer (taille). Durch veraltete Regelungen aus dem Feudalismus waren der Adel und der Klerus von diesen direkten Steuern befreit, die von der Landbevölkerung und der aufstrebenden Mittelklasse (der Bourgeoisie) aufgebracht werden mussten. Vermutlich wurde die Französische Revolution auch vom Ärger über dieses alte Steuersystem genährt. Allerdings ist unter Ludwig XIV. die Tendenz festzustellen, den Adel und Klerus der direkten Steuer zu unterwerfen. Zur Zahlung der indirekten Steuern waren diese ohnehin verpflichtet. Der König führte eine Kopfsteuer (capitation) ein, von der die unteren Schichten kaum erfasst wurden, aber von der die beiden oberen Stände in vollem Umfang betroffen waren. Selbst die Prinzen von Geblüt und der Dauphin mussten den höchsten Steuersatz zahlen. Auf diese Weise wurde der Hochadel zum ersten Mal unvermittelt an der Finanzierung des Staates beteiligt. Beim Tode Ludwig XIV. war Frankreich das reichste Königreich Europas mit überdurchschnittlichen Staatseinnahmen, welche die Finanzen anderer Staaten bei weitem übertrafen. Allerdings betrugen die Staatsschulden durch die harten Anforderungen des Spanischen Erbfolgekrieges 3,5 Milliarden Livres; als Ludwig im Jahr 1715 starb, betrugen die Steuereinnahmen 69 Millionen und die Staatsausgaben 132 Millionen Livres. Dies änderte aber nichts an der enormen Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Frankreich verfügte über das zweitgrößte Handelsvolumen und eine deutlich positive Handelsbilanz; nur die Holländer vermochten höhere Gewinne mit ihren internationalen Handelskompanien zu erzielen. Frankreich war ein strukturell stabiles und ressourcenstarkes Land, das mit über 20 Millionen Einwohnern das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Europas war. Kunst macht Politik Die Herrschaft Ludwigs XIV. nennt man zu Recht das Grand Siècle. Der König hatte die Absicht, die besten Künstler, Architekten, Maler, Poeten, Musiker und Schriftsteller für Frankreich arbeiten zu lassen. Er entfaltete ein noch nie zuvor gesehenes Mäzenatentum mit der Absicht, die gesamte Kunstlandschaft Frankreichs zu beeinflussen, zu prägen und zu lenken, um sie im Interesse königlicher Politik zu instrumentalisieren. Die Kunst stand im Dienste der Verherrlichung des Königs und seiner Ziele, ganz nach barocker Manier. Das Ansehen des Königs und des Staates sollte gesteigert werden; dazu wurde Ludwigs Minister Colbert damit beauftragt Literatur, Kunst und Wissenschaft zu fördern, der den König damit in die Rolle eines Mäzens drängte, der Schriftsteller und Gelehrte verschwenderisch belohnte. Dem Minister wurde die Organisation der Gloire des Königs überlassen. Zahlreiche Königliche Akademien wurden auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft gegründet: 1648 die Akademie für Malerei und Bildhauerei 1663 die Akademie der Inschriften 1666 die Akademie der Wissenschaften 1671 die Akademie der Architektur 1672 die Akademie der Musik (Académie royale de Musique heute Opéra National de Paris) Im Sinne der Selbstdarstellung des Monarchen sind auch die Feste in Versailles zu verstehen. Die Repräsentation des Königs diente dem Ansehen des Staates in aller Welt. Einige Künstler erklommen im Dienste des Königs ungeahnte Höhen; hier wären besonders Jean-Baptiste Lully auf dem Gebiet der Musik und des Tanzes zu nennen, aber auch Jean-Baptiste Molière, der für Ludwig XIV. Dutzende von Bühnenstücken verfasste. Beide Künstler zusammen zeigten sich für die Organisation der königlichen Spektakel verantwortlich. Daneben förderte Ludwig XIV. noch zahlreiche berühmte Künstler: Darunter auf dem Gebiet der Literatur Nicolas Boileau, Jean de La Fontaine, Pierre Corneille und Jean Racine, in der Malerei Charles Lebrun, Hyacinthe Rigaud und Pierre Mignard, im Bereich der Musik – die Ludwig besonders wichtig war – unter anderem die Komponisten Charpentier, François Couperin, Michel-Richard Delalande, Marin Marais oder die Komponistin Élisabeth Jacquet de La Guerre. In der Architektur förderte Ludwig Louis Le Vau, Claude Perrault, Robert de Cotte, als auch Jules Hardouin-Mansart, die im Auftrag des Königs den französischen klassizistischen Barock prägten, und im Kunsthandwerk Antoine Coysevox sowie insbesondere André-Charles Boulle. Auf dem Gebiet der Wissenschaft konnte Ludwig XIV. einige bekannte Forscher für Paris gewinnen, darunter Giovanni Domenico Cassini, Christiaan Huygens und Vincenzo Maria Coronelli, deren Arbeiten er mit hohen Pensionen unterstützte. Versailles Der Bau des Schlosses von Versailles war Teil von Ludwigs Strategie zur Zentralisierung der Macht. Er vollendete die Bestrebungen der Kardinäle Richelieu und Mazarin und schuf einen zentralisierten, absolutistischen Territorialstaat. Nie vergaß der König die traumatisierenden Erlebnisse seiner Kindheit während der Fronde. Daher entschloss er sich, den potentiell rebellischen französischen Adel nicht mehr aus den Augen zu lassen. Er schwächte ihn, indem er sich ein System der Anreize ausdachte, die reichen und mächtigen Adeligen dazu zu bringen, sich lieber an seinem Hof aufzuhalten als ihre eigenen Ländereien in den Provinzen zu verwalten und sich womöglich gegen ihn zu verschwören. Für Verwaltungsaufgaben schuf er einen von ihm finanziell abhängigen Dienstadel, die noblesse de robe. Dadurch konnte Ludwig auch Bürgerliche in Positionen einsetzen, die früher von der Aristokratie beansprucht wurden. So ruhte die politische Macht fest in der Hand des Königs. Bereits im Schloss Saint-Germain-en-Laye, wo er zunächst Hof hielt, versammelte er deshalb einen immer größeren Hofstaat um sich. 1661 lud sein Finanzminister Nicolas Fouquet den ganzen Hof zur mehrtägigen prunkvollen Einweihungsfeier seines Schlosses Vaux-le-Vicomte ein, das im neuesten klassizistischen Barockstil nach den Plänen des Architekten Louis Le Vau und des Gartenarchitekten André Le Nôtre entstanden war. Der junge König, der ein altertümliches Renaissanceschloss bewohnte, betrachtete die Anlage mit Bewunderung und Neid. Doch verzieh er seinem Minister diese Angeberei nicht, Fouquet fiel in Ungnade und wurde bis an sein Lebensende eingekerkert. Nunmehr entschloss sich Ludwig, einen noch weitaus gewaltigeren Palast zu erbauen, eine Herrscherresidenz, die in Europa unübertroffen wäre. Zu diesem Zweck beauftragte er dieselben Baumeister, das kleine Jagdschloss seines Vaters vor den Toren von Paris, in Versailles, zu einer prachtvollen Anlage zu erweitern. Am 6. Mai 1682 bezog der Hof das Schloss. Lediglich bei Hofe konnten Posten, Titel und Ämter errungen werden, und wer sich distanzierte, lief Gefahr, Vorrechte und Prestige zu verlieren. Aus diesem Grund hielt sich die Aristokratie so gut wie ständig um den König auf und versuchte, ihm gefällig zu sein. Dies sorgte dafür, dass zeitweise mehrere Tausend Menschen zugleich das Schloss bewohnten. Um diese Masse zu beschäftigen, erfand der König das ausufernde Zeremoniell am Hof von Versailles. Es unterschied sich vom hergebrachten Spanischen Hofzeremoniell durch größere Nahbarkeit des Monarchen und eine weitreichendere Einbindung von Hofadel und Besuchern. Es wurde vorbildhaft für das Hofzeremoniell zahlreicher europäischer Fürstenhöfe. Auch die Anordnung der Räume, die Enfilade, war vom Zeremoniell bestimmt. Die prunkvollen Stuckdekorationen, Deckengemälde, Supraporten, Tapisserien, die Skulpturen in den Gärten und Alleen enthielten ein mythologisch verklärtes politisches Programm. Die Sinnaussage war: Der König ist der Garant für Ruhe, öffentliche Ordnung und Wohlstand des Staates, für den Frieden oder für den Sieg im Kriege, und niemand hat ein Recht, die Macht des Herrschers von Gottes Gnaden in Frage zu stellen. Prunkvolle Feste, üppige Geschenke, ehrenvolle aber machtlose Ämter sollten Herzöge, Marquis und Grafen in Schach halten. Die ständigen Festlichkeiten und Zeremonien waren anstrengend für alle Beteiligten und verlangten dem König höchste Selbstdisziplin ab. Ihm zu dienen bedeutete, Frankreich zu dienen. Ihm beim Aufstehen, beim allmorgendlichen feierlichen Lever behilflich zu sein, ihm beim Anziehen das Hemd oder bei Tisch das Wasser zu reichen, galt als allergrößte Ehre, die über Aufstieg und Fall bei Hofe entscheiden konnte. Ob man in Gegenwart des Königs stehen, sitzen oder sprechen durfte, wann man den Hut auf- oder absetzen konnte, durch welche Türe man welchen Raum betrat, wem der König ein Lächeln oder ein freundliches Wort zuwarf und wem nicht, war ein für alle Anwesenden sichtbares Zeichen des eigenen Ranges. Ludwig XIV. beherrschte dieses Spiel meisterhaft, so wie ein Dirigent mit kleinsten Gesten und Fingerbewegungen sein Orchester leitet. Er selbst schrieb in seinen Memoiren: „Im übrigen ist es eine der hervorragendsten Wirkungen unserer Macht, einer Sache, die an sich keinen Wert hat, einen unbezahlbaren Preis zuzuordnen.“ Die höfische Etikette nötigte die Adeligen dazu, immense Geldsummen für ihre Kleidung auszugeben und ihre Zeit vor allem auf Bällen, Diners und anderen Festlichkeiten zu verbringen, welche die alltägliche Routine des Hoflebens darstellten. Ludwig XIV. soll ein fotografisches Gedächtnis gehabt haben, so dass er beim Betreten eines Saales auf einen Blick feststellen konnte, wer anwesend war. Deshalb konnte kein Aristokrat, der auf die Gunst des Königs angewiesen war, seine Abwesenheit riskieren. Paris Paris erlebte unter der Aufsicht Colberts einen Bauboom, wie kaum wieder in der Geschichte. Ludwig fügte dem Tuilerien-Palast das Théâtre des Tuileries hinzu, ließ den Louvre umbauen, die Stadtmauern von Paris schleifen und durch breite Boulevards ersetzen, zahlreiche neue Plätze (darunter die Place des Victoires und Place Vendôme) erbauen, des Weiteren Kirchen (wie Saint-Roch und Val-de-Grâce), Brücken (den Pont Royal), Parkanlagen (wie der Tuileriengarten und die Champs-Élysées), Triumphbögen (z. B. die Porte Saint-Denis) und neue Stadtviertel (darunter die Vorstädte St. Antoine und St. Honoré) errichten. Aber auch so praktische Maßnahmen, wie eine durchgehende Straßenpflasterung, die ersten Straßenlaternen und frühe Formen der Kanalisation durchführen. Unter diesen Baumaßnahmen ist auch das Hôtel des Invalides mit dem Invalidendom zu nennen, wo die Kriegsversehrten kostenlos versorgt wurden, sowie das Hôpital Salpêtrière. Auch das Pariser Observatorium für wissenschaftliche Studien und das Collège des Quatre Nations, das bis heute als Sitz der Académie française dient, zählen dazu, als auch die Gründung der Comédie-Française. Paris wuchs sprunghaft und war mit 700.000 Einwohnern eine der größten Städte der Welt, in der durch Ludwigs Förderung schließlich ein Fünftel der intellektuellen Elite Europas lebte. Die französische Hauptstadt wurde zum städtebaulichen und kulturellen Vorbild für den ganzen Kontinent. Andere Residenzen Der französische Hof wechselte des Öfteren den Aufenthaltsort, verließ aber nur höchst selten die Nähe von Paris. Es gab einige Hauptresidenzen in der Umgebung der Hauptstadt, welche seit langem als Sitz der Könige dienten. Diese suchte Ludwig XIV. auszubauen und zu verschönern. In Fontainebleau ließ er in den Gärten ein neues Barockparterre, einen großen Kanal und einen neuen Park anlegen. In Saint-Germain-en-Laye wurde die Große Achse geschaffen und ebenfalls die Gärten neu gestaltet. Durch die Gartenarchitektur wurde André Le Nôtre – der Schöpfer des französischen Barockgartens – in ganz Europa berühmt. Im Schlosspark von Versailles ließ er sich mit dem Grand Trianon zudem ein Lustschloss errichten, welches wie Marly-le-Roi als Privatresidenz des Monarchen gedacht war. In Marly entstand ab 1678 eine imposante Anlage, die als einzige nicht der Öffentlichkeit zugänglich war. Hierher zog sich Ludwig XIV. vom geschäftigen und stets öffentlichen Leben in Versailles zurück. Erscheinen durfte man nur auf ausdrückliche Einladung und eine solche galt als eine der höchsten Ehren im Leben eines Höflings. In der Umgebung, der nunmehr zur Stadt erhobenen Anlagen von Versailles, entstanden zahllose Schlösser und Gärten, die von Angehörigen des Königshauses und vom Hofadel errichtet wurden. Hier suchte man Ruhe vom Hof und ging der Jagd nach, oder lud den König für ein Fest zu seinen Ehren ein. All dies verschlang ungeheure Mengen Geld und der Adel war bald gezwungen Pensionen vom König zu erbitten, um den Lebensstandard zu halten. So vergrößerte sich die Abhängigkeit der Adeligen weiter. Persönlichkeit Ludwig XIV. besaß einen komplexen Charakter: Er war für seinen Charme bekannt und brachte jedem die Höflichkeit entgegen, die ihm gebührte. Selbst vor Mägden soll er den Hut gezogen haben. Seine wichtigsten Eigenschaften waren wohl eine unerschütterliche Menschenkenntnis und der ihm nachgesagte scharfe Verstand. Als Monarch legte er einen großen Arbeitseifer an den Tag. Das Regieren fiel ihm leicht, denn er hatte eine geradezu professionelle Einstellung zu seiner Arbeit. Es wird berichtet, dass er in Sitzungen niemals ermüdete und jedem aufmerksam zuhörte, der das Wort an ihn richtete. Ludwig schätzte hohe Bildung, und seine Kenntnisse in Politik und Geschichte waren gefürchtet. Auch zeichnete ihn enorme Willenskraft aus; so begegnete er Schmerzen und Situationen der Todesgefahr mit völliger Gelassenheit und Selbstbeherrschung. Beispielhaft dafür steht, dass er schon wenige Wochen nach einer ohne Narkose durchgeführten Operation wieder ausritt. Dennoch war er auch in hohem Maße von Egozentrik beherrscht, verbunden mit einem hohen Selbstwertgefühl. Er wurde von einem starken Drang nach Ruhm und Reputation geleitet, aber auch vom Gefühl der Pflichterfüllung gegenüber dem Staat und seinen Untertanen. Als Kavalier war Ludwig vorbildlich. Frauen spielten in seinem Leben eine große Rolle, besonders als Mätressen. Seine Familie war ihm wichtig, besonders seinen Kindern schenkte er daher große Aufmerksamkeit. Als Vater und Großvater war er fürsorglich und liebevoll, er konnte aber auch hart und unnachgiebig sein. Er zeugte 11 uneheliche Kinder (die sogenannten königlichen Bastarde, bâtards royaux), die er – mit Ausnahme der im Kleinkindalter Verstorbenen – legitimierte und in den Prinzenrang erhob; die sechs das Erwachsenenalter Erreichenden verheiratete er ausnahmslos in der eigenen Familie, mit Prinzen und Prinzessinnen von Geblüt, was nicht immer ohne Widerspruch blieb. Grund hierfür war vor allem, dass sie trotz hoher Titel weder auf internationaler Ebene noch in den stolzen französischen Adel vermittelbar waren. Ludwig war von durchschnittlicher Körpergröße und trug hohe Absätze, um größer zu wirken. Zeitgenossen berichteten sogar, dass er auf viele Menschen durch seine äußere Erscheinung recht einschüchternd wirkte. Als Liebhaber und Förderer des Hofballetts tanzte er bis zu seinem 30. Lebensjahr ausgesprochen gerne in öffentlichen Aufführungen. Der Liebe zum Ballett verdankt Ludwig auch seinen heute noch geläufigsten Beinamen , denn als noch nicht Vierzehnjähriger hatte er im „Ballet Royal de la Nuit“ im Februar und März 1653 u. a. die Rolle der aufgehenden Sonne getanzt. Ludwig war auch ein guter Reiter, liebte die Jagd, das Schauspiel und besonders die Musik. Mit zahlreichen Künstlern unterhielt er freundschaftliche Beziehungen, unter denen sich Molière, Lully und Le Nôtre einer besonders tiefen Zuneigung sicher sein durften. Einige Historiker sagen Ludwig XIV. nach, er hätte von den Bourbonen die Lebensfreude, von den Medici die Kunstliebe und von den spanischen Habsburgern die majestätische Würde geerbt. In der später sogenannten Kleidermode zur Zeit Ludwigs XIV. war er durch seinen persönlichen Geschmack immer wieder stilbildendes Vorbild, so bei der Einführung der Allongeperücke und des Justaucorps. Gesundheit Obwohl die Regierungszeit von Ludwig XIV. außergewöhnlich lang war, war seine Gesundheit trotz allem nie gut, weshalb er täglich von einem Arzt betreut wurde: Jacques Cousinot von 1643 bis 1646, François Vautier in 1647, Antoine Vallot von 1648 bis 1671, Antoine d’Aquin von 1672 bis 1693 und schließlich Guy-Crescent Fagon bis zum Tod des Königs. Alle wenden ausgiebig Aderlass, Purgationen und Spülungen mit Klistieren an (der König soll in 50 Jahren mehr als 5000 Spülungen erhalten haben). Darüber hinaus hatte er, wie aus Sanitätsnotizen hervorgeht, viele wenig „royale“ Probleme. So kommt es vor, dass Louis aufgrund seiner Zahnprobleme, die laut dem Tagebuch seines Zahnarztes Dubois im Jahr 1676 auftraten, starken Mundgeruch hatte; es kommt dann vor, dass seine Geliebten ein parfümiertes Taschentuch vor ihre Nase halten. Außerdem wurde 1685, als man ihm einen der vielen Stummel seines linken Oberkiefers herauszog, ein Teil seines Gaumens abgerissen, was zu einer bukko-nasalen Verbindung führte. Die Lektüre des Journal de la santé du roi Louis XIV de l'année 1647 à l'année 1711 (deutsch: Tagebuch über die Gesundheit von König Ludwig XIV. vom Jahr 1647 bis zum Jahr 1711), das von seinen aufeinanderfolgenden Ärzten minutiös geführt wurde, ist aufschlussreich: Es vergeht kaum ein Tag, an dem der Herrscher nicht Gegenstand einer Purgation, eines Einlaufs, eines Pflasters, einer Salbe oder eines Aderlasses ist. Darin wird unter anderem Folgendes festgehalten: Pocken im Jahr 1647; Magenbeschwerden und Dysenterie, chronische Unpässlichkeiten bei diesem Monarchen, der als großer Esser galt; Tumore: Brustwarze rechts, Kauterisation im Januar 1653; Gonorrhoe: geheim gehalten, diese Krankheit quält ihn regelmäßig seit Mai 1655, der Zeit seiner ersten Affären; häufige Ausdünstungen und Rückenschmerzen: einige (November 1647) werden einem Syphilis-Anfall zugeschrieben; mit Pusteln im ganzen Gesicht und an anderen Körperteilen, gefolgt von beginnendem Gangrän der Zehen; Durch das Typhusfieber im Juni 1658 fielen ihm die Haare aus und er musste sein Leben lang Perücken tragen; Zahnschmerzen: Im Jahr 1685 wird sein gesamtes oberes Gebiss auf der linken Seite „herausgerissen“, wobei das Gaumensegel mehrmals mit Feuerstiften verödet wird (manchmal tritt Flüssigkeit aus seiner Nase aus); Analfistel: Diese behindernde Missbildung führte schließlich dazu, dass er sich im November 1686 einer der schmerzhaftesten experimentellen Operationen überhaupt unterziehen musste (durch den Chirurgen Charles-François Félix de Tassy); Harnwegsbeschwerden, begleitet von wahrscheinlicher Urolithiasis (Miktionen mit „Sandkörnern“); Gicht: Unerträgliche Anfälle im rechten Fuß und im linken Knöchel hielten ihn lange Zeit bewegungsunfähig oder behinderten sein Gehen (seine letzten Jahre werden einer Tortur gleichen). Bedeutung Ludwig XIV. steht für den monarchischen Absolutismus schlechthin, er hat diesen zwar nicht begründet, aber in Frankreich ausgebaut und verfestigt. Auf dem Feld der Innenpolitik zeichneten ihn insbesondere die effektive Stärkung der königlichen Zentralverwaltung aus, um so traditionelle Machtrivalen, wie Schwertadel und Provinzialstände, zu schwächen. Dazu baute Ludwig konsequent ein straffes Netz aus dreißig Intendanten auf, die als Funktionsträger des Königs fungierten und so erfolgreich den Willen der Krone in den Provinzen durchsetzen konnten. Dies war sicherlich einer der wichtigsten Fortschritte seiner Herrschaft. Aber es wären ebenso die Gesetzgebungswerke des Königs auf dem Gebiet der Rechtspflege (Code Louis), des Handels, der Schifffahrt und des Sklavenhandels (Code Noir) zu nennen, die zu den großen innen- und wirtschaftspolitischen Leistungen seiner Regierung gezählt werden. Der Code Noir ist eines der vielen Gesetze, die auf Jean-Baptiste Colbert zurückgehen, und ist laut Louis Sala-Molins, Professor für politische Philosophie an der Sorbonne, der monströseste juristische Text der Moderne. Zu den Schattenseiten seiner Herrschaft gehören zweifellos auch die Repressionen gegenüber den Hugenotten, die beispielhaft für die religiöse Intoleranz der Epoche stehen und in fast ganz Europa auf ähnliche Weise stattgefunden haben. Damals war die 1685 erfolgte Aufhebung des Ediktes von Nantes in Frankreich aber eine der populärsten Entscheidungen seiner Amtszeit. Der Vorwurf hingegen, Ludwig XIV. hätte sein Land in den Ruin geführt, ist angesichts der historischen Realität unplausibel. Eine wirtschaftliche Stagnation ließ sich in Frankreich nur während des Spanischen Erbfolgekriegs beobachten, als auch die Steuern für Gewerbe, Grundherrn und Kirche ungewöhnlich hoch waren sowie durch diverse Missernten Hungersnöte hinzukamen. Nach dem kräftezehrenden Erbfolgekrieg zeigte sich das Reich der Bourbonen zwar als hoch verschuldet, aber noch immer prosperierend. Die Staatsverschuldung von 1715 resultierte auch nicht aus einem übertriebenen Hang zu höfischen Luxus und Großbauten, sondern war überwiegend die Folge des Spanischen Erbfolgekriegs, der ungeheure finanzielle Anstrengungen nötig gemacht hatte. Zweimal ließ er alles Silber im Land konfiszieren, einschmelzen und prägte daraus Münzen, um seine Armeen bezahlen zu können. Erst mit dem Lawschen Finanzsystem – zwei Jahre nach Ludwigs Tod und ab 1716 – konnte durch die Mississippi-Blase mit dem anschließenden Zusammenbruch der Bank ein Großteil der Staatsschulden abgeschrieben werden. Die größten Erfolge kann Ludwig im Bereich der Außenpolitik vorweisen. Er hinterließ ein mächtigeres, größeres und auch strategisch abgesichertes Frankreich, das nun endgültig als eine der führenden Seemächte anerkannt war. Abgesichert nicht zuletzt deshalb, weil es ihm in den letzten Jahren seiner Herrschaft gelungen war, die habsburgische Einkreisung für immer zu beenden. Allerdings musste Ludwig dafür lange Kriege führen, deren Kosten die große Masse der Bevölkerung zu tragen hatte. Dennoch waren die Steuern seiner Zeit sicher nicht – wie gern behauptet – ruinös für die Untertanen. Eine beachtliche Leistung nach innen und außen war ebenso die Kunst- und Repräsentationspolitik. Mit deren Hilfe hatte Ludwig quasi eine Hegemonie der französischen Kultur über Europa etablieren können, die sich sogar bis in das 19. Jahrhundert erhalten sollte. Der „Sonnenkönig“ wurde immer wieder, je nach Epoche und politischer Ausrichtung, höchst unterschiedlich bewertet. So galt er den Republikanern als ein Scheusal der Autokratie und die nationalistischen Deutschen stilisierten ihn zum Raubkönig, der Deutschland im Würgegriff gehalten habe. Tatsächlich lieferte Ludwig durch seine aggressive Expansionspolitik den Deutschnationalen ein Argument für die deutsch-französische Erbfeindschaft. Andere hingegen sehen in ihm einen pflichtbewussten und umsichtigen Monarchen, der bereits Prinzipien der Aufklärung vorwegnahm. In Frankreich wird er bis heute für seine tatkräftige Steigerung der nationalen Größe auch verehrt und zu den mit Abstand bedeutendsten Persönlichkeiten der französischen Geschichte gezählt. Der erste Autor, der ihm eine umfangreiche historische Analyse widmete, war der Philosoph Voltaire. Schriften Mémoires pour l’instruction du Dauphin (Gedanken zur politischen Erziehung des Thronfolgers): Die politische Autobiografie Ludwigs XIV. entstand ab 1670 und war eigentlich dazu gedacht, den Kronprinzen in die Geheimnisse der Politik einzuführen. Hierin legt der König Rechenschaft über seine ersten Regierungsjahre ab. Das Werk umfasst die Memoiren der Jahre 1661, 1662, 1666, 1667 und 1668, sowie die Betrachtungen über den Herrscherberuf von 1679 und die politischen Ratschläge an seinen Enkel Philipp V. von Spanien aus dem Jahr 1700. Sie stellen nicht nur einen Tatenbericht dar, sondern geben auch einen lebendigen Eindruck von der Weltanschauung und dem Realismus des Monarchen. Am Ende seiner Herrschaft wollte Ludwig XIV. die geheimen Manuskripte im Kamin vernichten, nur das beherzte Eingreifen des Herzogs de Noailles und sein Talent, ihm diese „abzuschwatzen“, retteten sie. Im Jahr 1749 übergab der Herzog die Manuskripte der königlichen Bibliothek. Manière de montrer les jardins de Versailles („Art und Weise, die Gärten von Versailles zu besichtigen“): Dieser Führer stellt einen sehr intimen Einblick in das Wesen des Königs dar. Die königlichen Gärten, geschaffen von André Le Nôtre, hatten eine politische Funktion zu erfüllen, ihre Aussage als Instrument des Staates war eindeutig. Ludwig XIV. liebte seine Gärten sehr, weshalb er eigenhändig diese Anweisungen verfasste, mit deren Hilfe es möglich war, die Gärten in ihrer logischen Abfolge zu begehen und so den Kunstgenuss auf das höchste zu steigern. Es sind sechs Versionen bekannt. Kinder Legitime Kinder mit Königin Marie Therese Louis von Frankreich „Grand Dauphin“ (* 1. November 1661; † 14. April 1711) Anne Élisabeth von Frankreich (* 18. November 1662; † 30. Dezember 1662) Marie Anne von Frankreich (* 16. November 1664; † 26. Dezember 1664) Marie Thérèse von Frankreich (* 2. Januar 1667; † 1. März 1672) Philippe Charles von Frankreich (* 11. August 1668; † 10. Juli 1671), Herzog von Anjou (1668–1671) Louis François von Frankreich (* 14. Juni 1672; † 4. November 1672), Herzog von Anjou (1672) Illegitime Kinder Vier Kinder mit Mademoiselle de La Vallière: Charles de Bourbon (* 19. November 1663; † 1665) Philippe de Bourbon (* 7. Januar 1665; † 1666) Marie Anne de Bourbon, mademoiselle de Blois (1666–1739); ⚭ Louis Armand, prince de Conti Louis de Bourbon, comte de Vermandois (* 2. Oktober 1667; † 18. November 1683) Sechs Kinder mit Madame de Montespan: Louis Auguste de Bourbon, duc du Maine (1670–1736) Louis César de Bourbon, comte de Vexin (1672 – 10. Januar 1683) Louise Françoise de Bourbon, mademoiselle de Nantes (1673–1743); ⚭ Louis de Bourbon, prince de Condé Louise Marie (12. November 1674 – 15. September 1681) Françoise Marie de Bourbon, mademoiselle de Blois (1677–1749); ⚭ Philippe d’Orléans, duc d’Orléans Louis Alexandre de Bourbon, comte de Toulouse (1678–1737) Ein Kind mit Mademoiselle de Fontanges: 1 Sohn (* und † 1679) Vorfahren Darstellung im Film Versailles – Könige und Frauen, (Frankreich, Italien) 1954, Hauptdarsteller und Regie: Sacha Guitry Liselotte von der Pfalz, (Deutschland) 1966, Darsteller: Hans Caninenberg, Regie: Kurt Hoffmann Die Machtergreifung Ludwigs XIV. (Frankreich) 1966, Hauptdarsteller: Jean-Marie Patte, Regie: Roberto Rossellini Die Allee des Königs, (L’allée du roi), (Frankreich) 1996, Hauptdarsteller Didier Sandre, Regie: Nina Companeez Der Mann in der eisernen Maske, (Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Frankreich) 1998, Hauptdarsteller: Leonardo DiCaprio, Regie: Randall Wallace Der König tanzt (Le Roi danse), (Frankreich, Belgien, Deutschland) 2000, Hauptdarsteller: Benoît Magimel, Regie: Gérard Corbiau Die Gärtnerin von Versailles, (Vereinigtes Königreich) 2014, Hauptdarsteller & Regie: Alan Rickman Der Tod von Ludwig XIV. (Frankreich, Spanien) 2017, Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud, Regie: Albert Serra Versailles, Fernsehserie, (Frankreich, Kanada, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten) 2015–2017, Hauptdarsteller: George Blagden Quellen Schriften Ludwigs XIV. Briefe. Hrsg. von P. Gaxotte, Übersetzung M. Spiro. Kompass, Basel/Leipzig 1931. Manière de montrer les jardins de Versailles. Simone Hoog, Réunion des Musées Nationaux 2001, ISBN 2-7118-4224-X. Memoiren. Hrsg. von J. Longnon, Übersetzung L. Steinfeld. Kompass, Basel/Leipzig 1931. Mémoires de Louis XIV. Jean Longnon, Tallandier, Paris 2001, ISBN 2-235-02294-4. Weitere Quellen Elisabeth Charlotte von der Pfalz: Die Briefe der Liselotte von der Pfalz. Insel, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-458-32128-4. Giovanni B. Primi Visconti: Mémoires sur la cour de Louis XIV. Perrin, Paris 1988, ISBN 2-262-00537-0. Kardinal von Retz: Memoiren. Auszüge. Reclam, Leipzig 1977. Louis de Rouvroy, duc de Saint-Simon: Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon. Herausgegeben und übersetzt von Sigrid von Massenbach. 4 Bände, Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1979, ISBN 3-548-03591-4. Ezechiel Spanheim: Relation de la Cour de France en 1690. Mercure de France, Paris 1988. Literatur Biografien Olivier Bernier: Ludwig XIV. Eine Biographie. Benziger, Zürich/Köln 1986, ISBN 3-545-36409-7. Philippe Erlanger: Ludwig XIV. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Jesus%20von%20Nazaret
Jesus von Nazaret
Jesus von Nazaret ( oder , gräzisiert ; * zwischen 7 und 4 v. Chr., wahrscheinlich in Nazareth; † 30 oder 31 in Jerusalem) war ein jüdischer Wanderprediger. Etwa ab dem Jahr 28 trat er öffentlich in Galiläa und Judäa auf. Zwei bis drei Jahre später wurde er auf Befehl des römischen Präfekten Pontius Pilatus von römischen Soldaten gekreuzigt. Das Neue Testament (NT) ist als Glaubensdokument der Urchristen zugleich die wichtigste Quelle der historischen Jesusforschung. Danach hat Jesus Nachfolger berufen, den Juden seiner Zeit das nahe Reich Gottes verkündet und sein Volk darum zur Umkehr aufgerufen. Seine Anhänger verkündeten ihn nach seinem Tod als Jesus Christus, den Messias und Sohn Gottes. Daraus entstand eine neue Weltreligion, das Christentum. Auch außerhalb des Christentums wurde Jesus bedeutsam. Die Quellen und ihre Auswertung Jesus hat keine Schriften hinterlassen. Fast alles historische Wissen über ihn stammt von seinen Anhängern, die ihre Erinnerungen an ihn nach seinem Tod weitererzählten, sammelten und aufschrieben. Nichtchristliche Quellen Wenige jüdische, griechische und römische Autoren der Antike erwähnen Jesus, jedoch fast nur seinen Christustitel und seine Hinrichtung. Woher ihre Kenntnis stammte, ist unsicher. Der jüdische Historiker Flavius Josephus erwähnt Jesus in seinen Antiquitates Judaicae (um 93/94) zweimal. Die erste Stelle, das Testimonium Flavianum (18,63 f.), galt früher als komplett eingefügt, heute wird es nur als von Christen überarbeitet betrachtet. Sein vermutlich authentischer Kern beschreibt Jesus als von vornehmen Juden angeklagten, von Pilatus zum Kreuzestod verurteilten Weisheitslehrer für Juden und Nichtjuden, dessen Anhänger ihm treu geblieben seien. Die zweite Stelle (20, 200) berichtet über die Hinrichtung des Jakobus und bezeichnet ihn als Bruder Jesu, „der Christus genannt wird“. Manche Historiker bezweifeln, dass ein Jude Jesus so bezeichnet hätte, andere sehen hier einen Rückbezug auf die erste Stelle. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet um 117 in seinen Annales von „Chrestianern“, denen Kaiser Nero die Schuld am Brand Roms im Jahr 64 zugeschoben habe, und notiert: Unklar ist, ob sich diese Nachricht auf römische oder christliche Quellen stützt. Möglicherweise erfuhr Tacitus während seiner Statthalterschaft im Osten des Reiches davon. Weitere Notizen von Sueton, Mara Bar Serapion und des babylonischen Talmud (Traktat Sanhedrin 43a) beziehen sich nur beiläufig oder polemisch auf ihnen bekannt gewordene christliche Überlieferung. Christliche Quellen Informationen über Jesus werden großenteils den vier kanonischen Evangelien, manche auch den Paulusbriefen, einigen Apokryphen und außerhalb davon überlieferten Einzelworten (Agrapha) entnommen. Diese Texte stammen von Urchristen jüdischer Herkunft, die an die Auferstehung Jesu Christi glaubten (Mk 16,6; Apg 2,32) und authentische Erinnerungen an Jesus mit biblischen, legendarischen und symbolischen Elementen verbanden. Damit wollten sie Jesus als den verheißenen Messias für ihre Gegenwart verkündigen, nicht biografisches Wissen über ihn festhalten und vermitteln. Gleichwohl enthalten diese Glaubensdokumente auch historische Angaben. Die zwischen 48 und 61 entstandenen Paulusbriefe nennen kaum biografische Daten Jesu, zitieren aber einige seiner Worte und Aussagen aus der Jerusalemer Urgemeinde über ihn, die entsprechende Evangelienangaben bestätigen. Auch der Brief des Jakobus spielt öfter auf Eigenaussagen Jesu an und gilt manchen Neutestamentlern als mögliche Quelle dafür, falls er von Jesu Bruder stammt. Wegen Anspielungen auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels (Mk 13,2; Mt 22,7; Lk 19,43 f.) werden die drei synoptischen Evangelien in der Regel später als das Jahr 70 datiert. Wahrscheinlich kannte keiner der Autoren Jesus persönlich. Sie übernahmen jedoch Teile der älteren Jesusüberlieferung, die auf die ersten Nachfolger aus Galiläa zurückgehen. Den Autoren des Matthäus- und Lukasevangeliums lag nach der weithin akzeptierten Zweiquellentheorie das Markusevangelium oder eine Vorform davon vor. Sie übernahmen dessen meiste Texte und Komposition und veränderten diese gemäß ihren eigenen theologischen Absichten. Ihre sonstigen gemeinsamen Stoffe werden einer hypothetischen Logienquelle Q mit gesammelten Reden und Sprüchen Jesu zugewiesen, deren Verschriftung auf 40 bis 70 datiert wird. Ähnliche Spruchsammlungen wurden auch im vermutlich in Syrien entstandenen Thomasevangelium fixiert. Ihre frühesten, zuvor jahrelang mündlich überlieferten Bestandteile (Lk 1,2) stammen von Jesu ersten Anhängern und können originale Jesusworte bewahrt haben. Auch ihr jeweiliges Sondergut und das um 100 entstandene Johannesevangelium können unabhängig überlieferte historische Angaben zu Jesus enthalten. Die Evangelisten überarbeiteten ihre Quellen auf je eigene Weise für ihre Missions- und Lehrabsichten, erzählen die Ereignisse vom Einzug Jesu in Jerusalem bis zu seiner Grablegung jedoch in fast derselben Reihenfolge. Diese gemeinsamen Texte werden auf einen Passionsbericht aus der Urgemeinde zurückgeführt, der frühe Credoformeln narrativ entfaltete. Gemeinsame Grundzüge dieser Vorlage werden auf einen historischen Kern zurückgeführt. Der Autor des Markusevangeliums verknüpfte diesen Passionsbericht mit Jesusüberlieferung aus Galiläa und erweiterte ihn; seinen Aufriss übernahmen die übrigen Evangelisten. Dabei veränderten sie manche der hier besonders häufigen Orts-, Zeit-, Personen- und Situationsangaben, so dass deren Historizität stark umstritten ist. Galten früher nur die von außerchristlichen Notizen bestätigte Kreuzigung Jesu durch Römer, seine Festnahme und ein Hinrichtungsbefehl des Statthalters als unstrittig historisch, so nehmen heute viele Forscher an, dass die Jerusalemer Urchristen einige der zu Jesu Tod führenden Ereignisse zutreffend überlieferten: besonders in Textpassagen, deren Details auch das Johannesevangelium enthält und die gemäß jüdischen und römischen Quellen rechts- und sozialhistorisch plausibel wirken. Forschung Seit etwa 1750 werden die urchristlichen Schriften wissenschaftlich untersucht. Die Forschung unterscheidet darin historische Angaben von legendarischen, mythischen und theologischen Motiven. Viele Neutestamentler glaubten früher, sie könnten den Evangelien eine biografische Entwicklung Jesu entnehmen; oft ergänzten sie fehlende Daten spekulativ. Manche bestritten wegen der mythischen Elemente der Quellen Jesu Existenz (siehe Jesus-Mythos). Methodik und viele Einzelthesen der damaligen Leben-Jesu-Literatur gelten seit Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906/1913) als überholt. Seitdem verfeinerten sich die historisch-kritischen Textanalysen. Ab 1950 wurden zunehmend außerbiblische Quellen herangezogen, um die historische Glaubwürdigkeit der NT-Überlieferung zu überprüfen. Ab etwa 1970 bezog man gewachsene Kenntnisse der Archäologie, Sozialgeschichte, Orientalistik und Judaistik zur Zeit Jesu stärker ein. Evangelische, katholische, jüdische und religionslose Historiker forschen heute teilweise gemeinsam, so dass ihre Ergebnisse weniger von weltanschaulichen Interessen bestimmt sind. Die weitaus meisten NT-Historiker entnehmen den Quellen, dass Jesus tatsächlich gelebt hat. Sie ordnen ihn ganz in das damalige Judentum ein und nehmen an, dass sich seine Lebens- und Todesumstände, Verkündigung, sein Verhältnis zu anderen jüdischen Gruppen und Selbstverständnis in Grundzügen ermitteln lassen. Umfang und Zuverlässigkeit historischer Angaben im NT sind jedoch bis heute stark umstritten. Welche Jesusworte und -taten als historisch gelten, hängt von Vorentscheidungen über die sogenannten Echtheitskriterien ab. Weithin anerkannt sind die Kriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität: Herkunft Name Jesus ist die latinisierte Form des altgriechisch flektierten mit dem Genitiv Ἰησοῦ („Jesu“). Es übersetzt die aramäische Kurzform Jeschua oder Jeschu des hebräischen männlichen Vornamens Jehoschua. Dieser setzt sich aus der Kurzform Jeho- des Gottesnamens JHWH und einer Form des hebräischen Verbs jascha („helfen, retten“) zusammen. Demgemäß deuten Mt 1,21 und Apg 4,12 den Namen als Aussage: „Gott ist die Rettung“ oder „der Herr hilft“. Auch die gräzisierte Form blieb im damaligen Judentum geläufig und wurde nicht wie sonst üblich mit einem griechischen oder lateinischen Doppelnamen ergänzt oder von ähnlich klingenden Neunamen ersetzt. Einige Stellen setzen dem Vornamen „Josefs Sohn“ (Lk 3,23; 4,22; Joh 1,45) oder „Sohn der Maria“ (Mk 6,3; Mt 13,55), meist jedoch Nazarenos oder Nazoraios hinzu (; ), um seinen Herkunftsort anzugeben (Mk 1,9). erklärt dies so: Diese Weissagung kommt im Tanach nicht vor, kann aber auf den Ausdruck nēṣer („Spross“) in für den Messias als Nachkommen Davids anspielen. Eventuell deuteten die Evangelisten damit eine herabsetzende Fremdbezeichnung Jesu (: „Was kann aus Nazaret Gutes kommen?“) um. Die Bezeichnung Nazarenos für Jesus wurde auch auf Christen im syrischen Raum übertragen (nasraja) und ging in den Talmud als noṣri ein. Geburts- und Todesjahr Das NT gibt kein Geburtsdatum Jesu an; Jahr und Tag waren den Urchristen unbekannt. Die christliche Jahreszählung berechnete Jesu mutmaßliches Geburtsjahr falsch. Die NT-Angaben dazu sind widersprüchlich. Nach Mt 2,1 ff. und Lk 1,5 wurde er zu Lebzeiten des Herodes geboren, der laut Josephus 4 v. Chr. starb. Lk 2,1f. datiert Jesu Geburtsjahr auf eine von Kaiser Augustus angeordnete „erste“ römische Volkszählung durch Eintragung von Grundbesitz in Steuerlisten unter Publius Sulpicius Quirinius. Dieser wurde jedoch erst 6/7 n. Chr. Statthalter Roms für Syrien und Judäa. Eine frühere derartige Steuererhebung ist dort unbelegt und gilt wegen der Steuerhoheit des Herodes als unwahrscheinlich. Lk 2,2 wird daher meist als chronologischer Irrtum und Versuch gedeutet, eine Reise der Eltern Jesu nach Bethlehem glaubhaft zu machen. Versuche, Jesu Geburtstag durch astronomische Berechnungen einer mit dem Stern von Betlehem (Mt 2,1.9) identifizierten Himmelserscheinung zu bestimmen, gelten als unwissenschaftlich. Somit wurde Jesus wahrscheinlich zwischen 7 und 4 v. Chr. geboren. Die Evangelien berichten zusammenhängend nur aus einem bis drei der letzten Lebensjahre Jesu. Nach Lk 3,1 trat Johannes der Täufer „im 15. Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius“ auf: Nach dieser einzigen exakten Jahresangabe im NT trat Jesus frühestens ab 28 auf, wohl seit der Täufer inhaftiert war (Mk 1,14). Damals soll er etwa 30 Jahre alt gewesen sein (Lk 3,23). Nach allen Evangelien wurde Jesus auf Befehl des römischen Präfekten Pontius Pilatus hingerichtet. Sein Todesjahr fiel also in dessen Amtszeit in Judäa von 26 bis 36. Als Todestag überliefern sie den Vortag eines Sabbat (Freitag) während eines Pessach. Die Synoptiker nennen den Hauptfesttag nach dem Sederabend, also den 15. Nisan im jüdischen Kalender, das Johannesevangelium dagegen nennt den Rüsttag zum Fest, also den 14. Nisan. Nach kalendarisch-astronomischen Berechnungen fiel der 15. Nisan in den Jahren 31 und 34, der 14. Nisan dagegen 30 und 33 auf einen Freitag. Viele Forscher halten die johanneische Datierung heute für „historisch glaubwürdiger“. Manche vermuten einen zusätzlichen Pessach-Sabbat am Tag vor dem Wochensabbat, so dass Jesus übereinstimmend an einem Donnerstag gekreuzigt worden sein könne. Die meisten Forscher halten 30 für Jesu wahrscheinliches Todesjahr, weil Paulus von Tarsus zwischen 32 und 35 Christ wurde, nachdem er die Urchristen eine Weile verfolgt hatte. Jesus wurde demnach zwischen 30 und 40 Jahre alt. Geburtsort Die Geburtsgeschichten des NT (Mt 1–2/Lk 1–2) gelten weitgehend als Legenden, da sie bei Mk und Joh fehlen, sich stark unterscheiden und viele mythische und legendarische Züge enthalten. Dazu zählt man die Listen der Vorfahren Jesu (Mt 1; Lk 3), die Geburtsankündigung durch einen Engel (Lk 1,26 f.), die Geistzeugung und Jungfrauengeburt Jesu (Mt 1,18; Lk 1,35), den Besuch von orientalischen Astrologen (Mt 2,1), den Stern, der sie zu Jesu Geburtsort geführt haben soll (Mt 2,9), den Kindermord in Bethlehem (Mt 2,13; vgl. Ex 1,22) und die Flucht der Eltern mit Jesus nach Ägypten (Mt 2,16 ff.). Nach Mt 2,5f und Lk 2,4 wurde Jesus in Betlehem in Judäa geboren, dem Herkunftsort Davids, von dem im Tanach der künftige Messias abstammen sollte. Damit betonen sie, Jesus sei Davids Nachkomme gewesen und seine Geburt in Betlehem habe die messianische Verheißung Mi 5,1 erfüllt. Bei Mk und Joh fehlen Geburtsgeschichten und Betlehem als Geburtsort. Alle Evangelien nennen Nazareth in Galiläa als Jesu „Heimat“ oder „Vaterstadt“, Wohnsitz seiner Eltern und Geschwister (Mk 1,9; 6,1–4; Mt 13,54; 21,11; Lk 1,26; 2,39; 4,23; Joh 1,45 und öfter) und bezeichnen ihn darum als „Nazarener“ (Mk 1,24; 10,47) oder „Nazoräer“ (Mt 2,23; Joh 19,19). Nazareth war nach archäologischen Funden damals ein unbedeutendes Dorf von höchstens 400 Einwohnern. Es kommt im Tanach nicht vor. Diese Bedeutungslosigkeit spiegeln überlieferte Einwände gegen Jesu Messianität (Joh 1,45; Joh 7,41). Mt und Lk haben den ihnen überlieferten Wohnort der Familie Jesu verschieden mit den Geburtsgeschichten ausgeglichen: Jesu Eltern hätten in Betlehem ein Haus bewohnt und seien erst später nach Nazareth gezogen (Mt 2,22 f.); sie seien kurz vor Jesu Geburt von Nazareth nach Betlehem gezogen und hätten sich dort vorübergehend aufgehalten (Lk 2,4 ff.). Deshalb nehmen Historiker heute meist an, dass Jesus in Nazareth geboren, seine Geburt aber später nach Betlehem verlegt wurde, um ihn gegenüber Juden als Messias zu verkünden. Familie Jesus war nach Mk 6,3 der erstgeborene „Sohn Marias“. Josef wird im Markusevangelium nicht genannt. Die Vorfahrenlisten (Mt 1,16; Lk 3,23) betonen jedoch Jesu väterliche Stammlinie als „Sohn Josefs“. So nennen ihn auch Maria in Lk 2,48 und die Galiläer in Joh 6,42. Nach Lk 2,21 wurde Jesus gemäß der Tora am achten Lebenstag beschnitten und dabei nach jüdischem Brauch nach seinem Vater benannt, also „Jeschua ben Josef“ (Lk 4,22). Doch nach Jesu Taufe erwähnen die Synoptiker Josef nicht mehr. Bruce Chilton erklärt diesen Befund mit Bezug auf Mt 1,18 damit, dass Jesus noch vor Josefs gültiger Heirat mit Maria gezeugt worden und Josef früh gestorben sei. Jesus sei darum in seiner Heimat als uneheliches, nicht erbberechtigtes Kind (hebräisch mamzer) abgelehnt worden (Joh 8,41). Durch Josefs frühen Tod habe niemand dessen Vaterschaft rechtsgültig bezeugen können. Dem entsprach die „Panthera-Legende“ gegen die Lehre der Jungfrauengeburt Jesu: Der Philosoph Kelsos stellte Jesus laut Origenes (Contra Celsum) im 2., der Talmud im 4. Jahrhundert als außereheliches Kind Marias dar, gezeugt von einem römischen Soldaten namens Panthera. Mit Bezug darauf erklärte Gerd Lüdemann Jesu Benennung nach seiner Mutter in Mk 6,3 und seine Außenseiterrolle in Nazareth. Viele Neutestamentler nehmen dagegen eine tatsächliche Vaterschaft Josefs und dessen Herkunft aus einer damals unterdrückten Nebenlinie der Daviddynastie an. Nach Mk 6,3 hatte Jesus vier Brüder namens Jakobus, Joses (gräzisierte Form von Josef, Mt 13,55), Judas und Simon sowie einige nicht benannte Schwestern. Die Brüdernamen nach einigen der zwölf Jakobssöhne und die Auslösung Jesu als des ersten Sohnes im Tempel (Lk 2,23) deuten auf eine toratreue jüdische Familie. „Brüder“ und „Schwestern“ kann im biblischen Wortgebrauch auch Vettern und Cousinen umfassen (siehe Geschwister Jesu). Nach allen Evangelien bewirkte Jesu öffentliches Auftreten Konflikte mit seiner Familie. Das vierte der biblischen Zehn Gebote – Ehre Vater und Mutter! (Ex 20,12; Dtn 5,16) – verlangte nach damaliger Auslegung die Fürsorge der ersten Söhne für Eltern und Sippe. Doch zu Jesu Nachfolge gehörte nach Mt 10,37; Lk 14,26 das Verlassen der Angehörigen, das auch von der vermuteten Qumran-Gemeinde bekannt ist. Wie sie vertrat Jesus offenbar ein „afamiliäres Ethos der Nachfolge“, da seine ersten Jünger ihren Vater nach Mk 1,20 bei der Arbeit zurückließen, wenn auch mit Tagelöhnern. Nach Mk 3,21 versuchten Jesu Verwandte, ihn zurückzuhalten, und erklärten ihn für verrückt. Darauf soll er seinen Anhängern erklärt haben : Auch rabbinische Lehrer ordneten den Gehorsam gegenüber der Tora jenem gegenüber den Eltern vor, verlangten aber keine völlige Trennung von der Familie. Nach Mk 7,10 f. hob auch Jesus das vierte Gebot nicht auf: Durch keine Gelöbnisformel dürfe man sich der Unterhaltspflicht gegenüber den Eltern entziehen. Nach Mk 6,1–6 wurde Jesu Lehre in Nazareth abgelehnt, so dass er nicht mehr dorthin zurückgekehrt sei. Aber nach Mk 1,31 versorgten Frauen aus Jesu Heimat ihn und seine Jünger. Sie blieben nach Mk 15,41 bis zum Tod bei ihm, so nach Joh 19,26 f. auch seine Mutter. Er soll noch am Kreuz für ihr Wohlergehen gesorgt haben, indem er sie einem anderen Jünger anvertraute. Obwohl seine Brüder nach Joh 7,5 „nicht an ihn glaubten“, gehörten seine Mutter und einige Brüder nach seinem Tod zur Urgemeinde (Apg 1,14; 1 Kor 9,5; Gal 1,19). Jakobus wurde später wegen seiner Auferstehungsvision (1 Kor 15,7) deren Leiter (Gal 2,9). Nach einem von Eusebius von Caesarea überlieferten Zitat des Hegesippus ließ Kaiser Domitian bei seiner Christenverfolgung (um 90) die noch lebenden Großneffen Jesu verhaften und verhörte sie. Dabei hätten sie die Frage nach ihrer davidischen Abstammung bejaht, vom Kaiser deshalb vermutete politische Ambitionen aber verneint und ihre bäuerliche Armut betont. Sie seien freigelassen worden und danach zu Kirchenführern aufgestiegen. Dass Jesu Angehörige sich als Nachfahren von König David sahen, gilt daher als wahrscheinlich. Sprache, Ausbildung, Beruf Als galiläischer Jude sprach Jesus im Alltag das westliche Aramäisch. Das bestätigen einige aramäische Jesuszitate im NT. Ob man griechische Ausdrücke und Redewendungen ins Aramäische zurück übersetzen kann, ist seit Joachim Jeremias ein wichtiges Kriterium, mögliche authentische Jesusworte von urchristlicher Deutung zu unterscheiden. Das biblische Hebräisch wurde in Palästina zur Zeit Jesu kaum noch gesprochen. Er kann es dennoch beherrscht haben, da er den Tanach laut NT gut kannte und in den Synagogen Galiläas vorlas und auslegte. Er kann Bibeltexte auch aus aramäischen Übersetzungen (Targumim) kennengelernt haben. Ob er die griechische Koine sprechen konnte, die damals Verkehrssprache im Osten des Römischen Reichs war, ist wegen fehlender direkter NT-Belege ungewiss. Aus Jesu Jugendzeit überliefert das NT nur einen Aufenthalt des 12-Jährigen im Tempel, bei dem er die Jerusalemer Toralehrer mit seiner Bibelauslegung beeindruckt haben soll (Lk 2,46 f.). Das gilt als legendarisches Motiv, um Jesu Bibelkenntnis zu erklären. Lesen und Schreiben konnten Kinder ärmerer jüdischer Familien, die keine Schriftrollen besaßen, allenfalls in Toraschulen und Synagogen lernen. Nach Lk 4,16 las Jesus in der Synagoge von Nazareth aus der Tora vor, bevor er sie auslegte. Nach Mk 6,2 f. hatten Jesu Hörer ihm das Predigen nicht zugetraut und bemerkt, dass es sich von der traditionellen Schriftauslegung unterschied; nach Joh 7,15 fragten sie sich: Wie kann dieser die Schrift verstehen, obwohl er es nicht gelernt hat? Doch Jesu häufige Frage an seine Hörer „Habt ihr nicht gelesen…?“ (Mk 2,25; 12,10.26; Mt 12,5; 19,4 u. a.) setzt seine Lesefähigkeit voraus. Ob er auch schreiben konnte, ist ungewiss. Nur Joh 8,6.8 erwähnt eine Geste des Schreibens oder Zeichnens auf den Boden. Jesu Predigt- und Argumentationsstil ist rabbinisch (Halacha und Midraschim). Seine ersten Jünger nannten ihn „Rabbi“ (Mk 9,5; 11,21; 14,45; Joh 1,38.49; Joh 3,2; 4,31 u. a.) oder „Rabbuni“ („mein Meister“: Mk 10,51; Joh 20,16). Diese aramäische Anrede entsprach dem griechischen διδάσκαλος für „Lehrer“. Sie drückte Ehrerbietung aus und gab Jesus denselben Rang wie den Pharisäern, die sich als Ausleger mosaischer Gebote ebenso bezeichneten (Mt 13,52; 23,2.7 f.). Aus starken Ähnlichkeiten der Toraauslegung Jesu mit damaligen Rabbinerrichtungen folgert Pinchas Lapide, er müsse eine Toraschule besucht haben. Nach Mk 6,3 war Jesus, nach Mt 13,55 sein Vater Bauhandwerker (griechisch τέκτων, oft irreführend als „Zimmermann“ übersetzt). Vermutlich erlernte Jesus wie viele jüdische Söhne den Beruf des Vaters, zumal ein Handwerksberuf für den Lebensunterhalt eines Rabbis damals üblich war. Das NT enthält dazu keine Angaben. Bauhandwerkliche Kenntnisse Jesu zeigen etwa die Gleichnisse Lk 6,47–49 und Mk 12,10. Nach vielen Metaphern seiner Aussagen (etwa Lk 5,1–7; Joh 21,4–6) kann er auch Schäfer, Bauer oder Fischer gewesen sein. Nazareth lag sieben Kilometer von der Stadt Sepphoris entfernt, die Herodes Antipas zur Residenz ausbauen ließ und in der die Großgrundbesitzer wohnten. Sie kann manchen Dorfbewohnern als Arbeitsplatz gedient haben. Das NT erwähnt die Stadt nicht und betont, dass Jesus andere hellenistische Städte nicht besuchte. Wirken Verhältnis zum Täufer Johannes Die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer gilt als historisches Ereignis, mit dem sein öffentliches Wirken begann. Johannes war nach Mt 3,7–12; Lk 3,7 ff. ein Prophet des nahen Endgerichts, der aus einer Priesterfamilie stammte (Lk 1,5) und als Asket, eventuell als Nasiräer, in der unbewohnten Wüste lebte (Lk 1,80). Seine persönliche und einmalige Taufe bot laut Mk 1,4 f. Vergebung an und setzte ein Sündenbekenntnis voraus. Josephus verstand sie als gewöhnliches jüdisches Reinigungsritual. stellt Jesu Taufe als Gottes einzigartige Erwählung („du bist mein geliebter Sohn“; vgl. Ps 2,7; Hos 11,1 und öfter) und sein ganzes folgendes Wirken als Sendung durch Gott (vgl. ) dar. Wie Jesus selbst sich verstand, ist fraglich, da er sich im NT nie direkt „Sohn Gottes“ nennt. Die johannäischen Ich-bin-Worte werden auf den Evangelisten, nicht den historischen Jesus zurückgeführt. Laut Joh 3,22; 4,1 taufte er eine Zeit lang parallel zu Johannes dem Täufer. Nach Joh 1,35-42 kamen die Brüder Simon Petrus und Andreas aus dem Johanneskreis zu Jesus. Demnach gab es zwischen beiden Gruppen Austausch und eventuell Konkurrenz. Auch dass Jesus mit der Taufe Schüler des Johannes wurde, gilt als plausibel. Vermutlich reduzierte Markus Jesu Kontakt mit Johannes auf das isolierte Taufereignis und ließ ihn erst seit der Inhaftierung des Johannes öffentlich auftreten. Mk 1,15 gilt als Beleg für die Ähnlichkeiten beider Botschaften. Jesus übernahm den endgültigen Umkehrruf des Täufers und wohl auch das apokalyptische Motiv des Gerichtsfeuers auf Erden (Lk 12,49, Mt 3,10). Er lehnte jedoch nach Mk 2,16–19 Fasten und Askese für seine Jünger ab und pflegte die Tischgemeinschaft gerade mit solchen Juden, die nach der geltenden Tora-Auslegung als „Unreine“ vom Heil ausgeschlossen wurden. Er zog sich nicht in die Wüste zurück, sondern wandte sich gerade ausgestoßenen Juden und Fremden zu und sagte ihnen das bedingungslose Heil Gottes zu. Daraufhin soll der inhaftierte Täufer Jesus durch Boten gefragt haben: Bist du der Kommende? (der Messias; Mt 11,2 ff.). Demgemäß betonten die Urchristen die Vorläufer- und Zeugenrolle des Johannes gegenüber Jesus (Mk 1,7; Lk 3,16; Mt 3,11; Joh 1,7 f.; 3,28 ff. u. a.). Jesus identifizierte Johannes laut Mk 9,13 mit dem Propheten Elija, an dessen Wiederkunft vor dem Endgericht Juden damals glaubten, sowie nach Lk 7,24–28 mit dem in Mal 3,1 angekündigten Propheten der Endzeit. Daher befürwortete er die Johannestaufe auch nach Beginn seines Auftretens als Rettung aus dem Endgericht. Dass Herodes Antipas den Täufer hinrichten ließ (Mk 6,17 ff.), war Jesus wahrscheinlich bekannt. Ein ermordeter Prophet galt in biblischer Tradition als von Gott legitimiert. Demgemäß kündigte Jesus mit seinem Täuferzeugnis sein eigenes Leiden an, erwartete laut Lk 13,32–35; Lk 20,9–19 für sich ein analoges gewaltsames Ende und stellte sich in die Reihe der verfolgten Propheten Israels. Nach Mk 11,27–33 legitimierte Jesus später seinen Vollmachtsanspruch zur Sündenvergebung wie zur Tempelreinigung gegenüber Jerusalemer Gegnern mit seiner Taufe durch Johannes. Gebiet des Auftretens Jesus sah sich nur zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt (Mt 10,5; 15,24); seine wenigen überlieferten Begegnungen mit Nichtjuden erscheinen als Ausnahmen. Seine Reisewege lassen sich nicht genau rekonstruieren, da viele Ortsangaben und ihre Abfolge in den Evangelien von den Evangelisten stammen und die Ausbreitung des Christentums bei ihrer Abfassung spiegeln können. Plausibel wirken jedoch Nachbarorte Nazareths wie Kana und Naïn sowie bei Tagesmärschen und Bootsfahrten über den See Genezareth erreichbare Orte wie Bethsaida, Chorazin und Magdala. Weiter entfernt lagen Gerasa im Südosten (Mk 5,1), Tyros und Sidon im Nordwesten (Mk 7,24). Ob Jesus auch Samarien durchstreifte (Joh 4,5 gegen Mt 10,5), ist ungewiss. Von Römern und Herodianern erbaute Städte wie Tiberias und Sepphoris erwähnt das NT nicht. Laut Mk 8,27 betrat Jesus nur die umgebenden Dörfer von Cäsarea Philippi. Daraus wird gefolgert, dass er eher auf dem Land wirkte und hellenisierte Städte mied. In Kafarnaum soll Jesus zuerst aufgetreten (Mk 1,21 ff.; Lk 4,23), in das dortige Haus des Petrus eingezogen (Mt 4,12 f.) und von seinen Reisen öfter dorthin zurückgekehrt sein (Mk 1,29; 2,1; 9,33; Lk 7,1). Mt 9,1 nennt den Ort daher „seine Stadt“. Dieses Fischerdorf lag damals an der Grenze des von Herodes Antipas regierten Gebiets. Vielleicht wählte Jesus hier sein Quartier, um notfalls vor dessen Verfolgung in das Nachbargebiet des Herodes Philippos fliehen zu können (Lk 13,31 ff.). Verkündigung des Gottesreichs Die nahe „Königsherrschaft Gottes“ war Jesu zentrale Botschaft nach den synoptischen Evangelien (Mk 1,14 f.): Dies nimmt die NT-Forschung fast immer als historisch an. Die Evangelien veranschaulichen den Begriff durch konkrete Handlungen, Gleichnisse und Lehrgespräche Jesu. Sie setzen dabei seine Bekanntheit unter Juden voraus. An Nichtjuden gerichtete NT-Texte verwenden den Begriff dagegen selten. Damit bezog sich Jesus auf die Tradition der Prophetie im Tanach und Apokalyptik, wie einige eventuell echte Zitate aus Deuterojesaja und Daniel zeigen. Manche Aussagen Jesu kündigen Gottes Herrschaft als unmittelbar bevorstehend an, andere sagen sie als schon angebrochen zu oder setzen ihre Gegenwart voraus. Umstritten war früher, ob eher die futurische (so etwa Albert Schweitzer) oder die präsentische (so etwa Charles Harold Dodd) Eschatologie auf Jesus zurückgeht. Seit etwa 1945 beurteilen die meisten Exegeten beide Aspekte gemäß ihrem paradoxen Nebeneinander im Vaterunser (Mt 6,9–13) als authentisch. Sie betonen, dass Jesus diese Herrschaft als dynamisches Geschehen und gegenwärtig laufenden Prozess auffasste, nicht nur als jenseitige Welt. So habe er im Anschluss an jüdische Apokalyptik nicht die Vernichtung der Erde, sondern ihre umfassende Erneuerung einschließlich der Natur erwartet und durch sein Handeln in seine Zeit hineingezogen. Daran knüpfen Worte vom Sturz Satans (Lk 10,18 ff.) an oder das Streitgespräch darüber, ob Jesus seine Heilkraft von Beelzebub oder Gott empfangen habe (Mt 12,22 ff. par.). Der „Stürmerspruch“ (Mt 11,12) legt nahe, dass der Ankunft der Gottesherrschaft gewaltsame Konflikte vorausgehen, die seit dem Auftreten des Täufers Johannes bis in Jesu Gegenwart andauern. Wie Johannes predigte Jesus ein unerwartet hereinbrechendes Gericht, das eine letzte Chance zur Umkehr bietet (Lk 12,39–48). Anders als dieser stellte er die Einladung zum Gottesreich wie zu einem für alle offenen Festmahl heraus. Eventuell verknüpfte er die Rettung aus dem Endgericht mit der aktuellen Entscheidung seiner Hörer zu seiner Botschaft (Mk 8,38; Lk 12,8). Die der Logienquelle zugewiesenen „Seligpreisungen“ (Lk 6,20–23; Mt 5,3–10) sagen Gottes Herrschaft den aktuell Armen, Trauernden, Machtlosen, Verfolgten als gerechte Wende zur Aufhebung ihrer Not zu. Diese Menschen waren die ersten und wichtigsten Adressaten Jesu. Seine oft für authentisch gehaltene Antwort auf die Täuferfrage (Mt 11,4 ff.) weist darauf hin, dass ihnen in Jesu Heilungen schon das Reich Gottes begegne. Seine Antrittspredigt (Lk 4,18–21) aktualisiert die biblische Verheißung eines Erlassjahres zur Entschuldung und Landumverteilung (Lev 25) für die gegenwärtig Armen. Sozialhistorische Untersuchungen erklären solche NT-Texte aus damaligen Lebensumständen: Juden litten unter Ausbeutung, steuerlichen Abgaben für Rom und den Tempel, täglicher römischer Militärgewalt, Schuldversklavung, Hunger, Epidemien und sozialer Entwurzelung. Manchmal wird die Armentheologie in der ältesten Jesusüberlieferung aus dem Einfluss kynischer Wanderphilosophen erklärt, meist aber aus biblischen, besonders prophetischen Traditionen. Wolfgang Stegemann zufolge strebten Jesus und seine Anhänger mit ihrer Reich-Gottes-Predigt keine „Aushandlungsprozesse über ein bestimmtes Gesellschaftsmodell“ an, sondern erwarteten die Durchsetzung einer anderen Ordnung allein von Gott. Ihre Botschaft konnte nur angenommen oder abgelehnt werden (Lk 10,1–12). Sie habe die Gottesherrschaft nach dem Modell eines wohltätigen, von Reichen meist vergeblich erwarteten Patronats gegen aktuell erfahrene Herrschaftsformen gestellt. John Dominic Crossan zufolge verbreitete die Jesusbewegung durch „kostenloses Heilen und gemeinsames Essen“, ohne sesshaft zu werden, einen radikalen Egalitarismus. So habe sie die Gottesherrschaft unmittelbar erlebbar werden lassen und die hierarchischen Wertmaßstäbe und Gesellschaftsstrukturen angegriffen, um sie zu entkräften. Ähnlich meint Martin Karrer, Jesus habe eine „subversive“ Bewegung der Abweichler von religiösen und gesellschaftlichen Normen bewirkt. Tätigkeit als Heiler Antike Quellen erzählen oft von wunderbaren Heilungen, doch nirgends so oft von einer Einzelperson wie im NT. Die Evangelien überliefern von Jesus Heilungswunder als Exorzismen oder Therapien sowie Geschenk-, Rettungs-, Normenwunder und Totenerweckungen. Die Exorzismen beziehen sich auf damals unheilbare Krankheiten oder Defekte wie „Aussatz“ (alle Arten von Hautkrankheiten), verschiedene Erblindungen und heute als Epilepsie und Schizophrenie bezeichnete Krankheitsbilder. Davon Betroffene galten als „von unreinen Geistern (Dämonen) besessen“ (Mk 1,23). Man vermied Umgang und Berührung mit ihnen, vertrieb sie aus bewohnten Gegenden und lieferte sie so oft dem Tod aus. Exorzismen- und Therapietexte betonen Jesu Zuwendung zu solchen Ausgegrenzten, auch Nichtjuden, die die Ursache ihrer Ausgrenzung beseitigte und so ihre Isolation aufhob. Ihre Rahmenverse laden oft zu Glauben und Umkehr ein. Seine Heilerfolge hätten ihm Misstrauen, Neid und Abwehr eingebracht, die Tötungspläne seiner Gegner ausgelöst (Mk 3,6; Joh 11,53) und Forderungen nach demonstrativen „Zeichen und Wundern“ bewirkt. Diese habe Jesus abgelehnt (Mk 8,11 ff.; 9,19 ff.). Besondere Züge der NT-Wundertexte sind, dass der Wundertäter die Heilung dem Glauben der Geheilten zuspricht („Dein Glaube hat dich gerettet“: Mk 5,34; 10,52; Lk 17,19 und andere) und sie als Zeichen für den Beginn des Reiches Gottes und das Ende der Herrschaft des Bösen deutet (Mk 3,22 ff., ein meist für echt gehaltenes Jesuswort). Daher nehmen Neutestamentler an, dass Jesus die ältesten Exorzismus- und Therapietexte anregte: Weil Augenzeugen sein Handeln als Wunder erlebten, hätten sie es weitererzählt und ihm dann weitere Wunder zugeschrieben. Tora-Auslegung Die Bergpredigt (Mt 5–7) wird als „Lehre“ Jesu eingeführt (Mt 5,2). Sie wurde von Urchristen aus Einzelpredigten Jesu zusammengestellt und vom Evangelisten redigiert oder komponiert. Ihr Beginn (Mt 5,14 ff.) erinnert Jesu Nachfolger an Israels Auftrag, als Volk Gottes „Licht der Völker“ zu sein (Jes 42,6), indem es die Tora vorbildlich erfüllt. Mt 5,17–20 betont demgemäß, Jesus habe alle überlieferten Gebote erfüllt, nicht aufgehoben. Ob Jesus selbst das so sah, ist umstritten. Anders als Paulus nahm er nur zu Einzelgeboten, nicht zur Tora insgesamt Stellung, da er sie wie alle damaligen Juden als gültigen Willen Gottes voraussetzte. Einige Gebote verschärfte er, andere entschärfte er, wieder andere relativierte er so, dass sie im Urchristentum aufgehoben wurden. Dies gilt heute als innerjüdische Toradeutung, nicht als Bruch mit dem Judentum. Wie der Rabbiner Hillel (ca. 30 v. Chr. bis 9 n. Chr.) gab Jesus der Nächstenliebe den gleichen Rang wie der Gottesfurcht und ordnete sie damit den übrigen Torageboten über (Mk 12,28–34). Er sah sich zu denen gesandt, die wegen Übertretungen verachtet wurden : Damit waren unter anderem jüdische „Zöllner“ gemeint, die für die Römer Steuern eintrieben, oft dabei ihre Landsleute übervorteilten und daher gehasst und gemieden wurden. Nach Lk 19,8 lud Jesus sie zum Teilen mit den Armen ein, nach Mt 6,19-24 deutete er das Anhäufen von Besitz als Bruch des ersten Gebots. Erst mit der Besitzaufgabe für die Armen erfülle der gesetzestreue Reiche alle Zehn Gebote so, dass er zur Nachfolge frei werde (Mk 10,17–27). Die „Antithesen“ legen wichtige Toragebote aus. Danach betonte Jesus über deren Wortlaut hinaus die innere Einstellung als Ursache des Vergehens: Das Tötungsverbot (Ex 20,13) breche schon der, der seinem Nächsten bloß zürne, ihn beschimpfe oder verfluche. Damit ziehe er Gottes Zorngericht auf sich. Darum solle er sich erst mit seinem Gegner versöhnen, bevor er im Tempel Opfer darbringe (Mt 5,21–26). Ehebruch (Ex 20,14) begehe innerlich schon, wer als verheirateter Mann eine andere Frau begehre (Mt 5,27–30). Missbrauch des Gottesnamens (Ex 20,7) und Lüge (Ex 20,16) sei jeder Eid, nicht erst ein Meineid (Mt 5,33 ff.). Weil Gott Erhaltung seiner Schöpfung versprochen habe (Gen 8,22), sollen Juden und Jesusnachfolger auf Vergeltung (Gen 9,6) durch Gegengewalt verzichten (Mt 5,39) und stattdessen mit kreativer Feindesliebe antworten, gerade auch ihre Verfolger als Nächste segnen, sie mit Fürsorge und freiwilligem Entgegenkommen überraschen und so „entfeinden“ (Mt 5,40–48). Damit erinnerte Jesus an Israels Aufgabe, alle Völker zu segnen, um auch sie von Gewaltherrschaft zu befreien (Gen 12,3), die Herrschaft des „Bösen“ zu beenden und Gottes Reich herbeizurufen. Verachtung und Verurteilung anderer hätten die gleichen Folgen wie deren Gewaltausübung : Nach rettete Jesus eine Ehebrecherin vor der Steinigung, indem er den Anklägern ihre eigene Schuld bewusst machte: Dies wird als Entkräftung der in der Tora vorgeschriebenen Todesstrafe für Ehebruch (Lev 20,10) gedeutet. Der Satz wird oft für echt oder zumindest Jesus gemäß gehalten, obwohl die Erzählung in älteren Handschriften des Johannesevangeliums fehlt. Nach Mk 7,15 erklärte Jesus nur das für unrein, was von innen her aus dem Menschen komme, nicht was von außen in ihn hineingehe. Das wurde früher oft als Aufhebung der wichtigen Speise- und Reinheitsgebote und damit als Bruch mit allen übrigen Kultgeboten der Tora verstanden. Heute gilt es eher als Auslegung, die moralische über äußerliche Reinheit stellt. In Konkurrenz zu Sadduzäern und Teilen der Pharisäer wollte Jesus nicht Reine von Unreinen abgrenzen, sondern Reinheit offensiv auf als unrein geltende Gruppen ausweiten. Daher integrierte er in Israel ausgegrenzte Lepra-Kranke (Mk 1,40–45), Sünder (Mk 2,15) und Zöllner (Lk 19,6) und verweigerte sich nicht kontaktsuchenden Nichtjuden (Mk 7,24–30). Anhänger Von Beginn seines Auftretens an berief Jesus nach dem NT männliche und weibliche Jünger (Mk 1,14 ff.) dazu, wie er Beruf, Familie und Besitz zu verlassen (Mk 10,28–31) und mittel- und waffenlos umherziehend Gottes Reich zu verkünden. Sie gehörten wie er zum einfachen Volk, das verarmt und vielfach vom Hunger bedroht war. Sie wurden ausgesandt, um Kranke zu heilen, Dämonen auszutreiben und Gottes Segen weiterzugeben. Beim Betreten eines Hauses sollten sie mit dem Friedensgruß „Schalom“ die ganze Sippe unter Gottes Schutz stellen. Waren sie nicht willkommen, dann sollten sie den Ort verlassen, ohne zurückzukehren, und ihn Gottes Gericht überlassen (Mt 10,5–15). Diese Aussendungsrede und vergleichbare Nachfolgetexte werden der Logienquelle zugewiesen und in der sozialhistorischen Forschung als Ausdruck für die Lebensumstände und Wertvorstellungen der frühen Jesusbewegung gedeutet. Auf solche Texte stützte Gerd Theißen 1977 seine einflussreiche soziologische These vom Wanderradikalismus: Die Jesusbewegung habe inmitten einer ökonomischen Krise und zerfallender sozialer Bindungen ein damals attraktives, charismatisches Nachfolgeethos zur Erneuerung des Judentums vertreten. Die engeren Anhänger Jesu seien im Bewusstsein einer endzeitlichen Rettungsaufgabe als besitz- und waffenlose Wanderer umhergezogen und von ortsansässigen Sympathisanten materiell unterstützt worden. Nach Géza Vermes waren Jesus und seine Anhänger von einem „charismatischen Milieu“ im damaligen Galiläa beeinflusste „Wandercharismatiker“. Denn auch von Chanina ben Dosa (um 40–75), einem Vertreter des galiläischen Chassidismus, wurden Armenfürsorge, Besitzlosigkeit, Wunderheilungen durch Gebet und Toraauslegungen überliefert. Sollte Jesus einen engeren, leitenden Zwölferkreis (Apostel) ausgewählt haben, unterstreicht dies nach James H. Charlesworth seinen gewaltfreien politischen Anspruch, der zur Zeit des jüdischen zweiten Tempels nicht von religiösen Zielen zu trennen war. Denn die Testamente der zwölf Patriarchen und andere Dokumente weisen auf die Bedeutung der zwölf Stämme Israels zur Zeit Jesu hin. Diese sollten auf der Erde herrschen, wenn Gott die politische Autonomie Israels wiederherstellen würde. Frauen, Ehe, Ehebruch Jesu Verhalten gegenüber Frauen war im patriarchalischen Judentum damals neu und ungewöhnlich. Viele der berichteten Heilungen galten sozial ausgegrenzten Frauen wie Prostituierten, Witwen oder Ausländerinnen. Geheilte Frauen folgten ihm von Beginn an nach (Mk 1,31), manche versorgten ihn und die Jünger (Lk 8,2 f.). Sie spielten laut NT für Jesus auch sonst eine wichtige Rolle: Eine Frau soll ihn vor seinem Tod gesalbt (Mk 14,3–9), die Gattin des Pilatus soll gegen seine Hinrichtung protestiert haben (Mt 27,19). Nachfolgerinnen Jesu sollen nicht geflohen sein, sondern sein Sterben begleitet, seine Grablegung beobachtet (Mk 15,40 f.), sein leeres Grab entdeckt (Mk 16,1–8) und als erste seine Auferweckung bezeugt haben (Lk 24,10; Joh 20,18). Nach Mt 19,12 gebot Jesus seinen Jüngern die Eheschließung nicht, sondern ließ um ihrer Aufgabe willen, der Reich-Gottes-Verkündigung, Ehelosigkeit zu. Einige Jünger traf Paulus später mit ihren Ehefrauen in Jerusalem an (1 Kor 9,5), so dass diese schon mit Jesus und ihren Männern umhergezogen sein können. Die NT-Evangelien zeigen keine Spur einer Partnerschaft Jesu; er kann unverheiratet gewesen sein. Nur das späte apokryphe Philippusevangelium erwähnt in einem unvollständigen, in der Übersetzung ergänzten Vers (6,33): Jesus habe Maria Magdalena [oft auf den Mund] geküsst. Dies weist im Kontext nicht auf eine Partnerschaft, sondern auf das Übertragen einer göttlichen Seelenkraft hin. Die NT-Forschung weist populäre Theorien, Maria Magdalena sei Jesu Ehefrau gewesen, als quellenlose Fiktion zurück. Während die Tora laut Dtn 24,1–4 Männern die Ehescheidung mit einem Scheidebrief für die geschiedene Frau erlaubte, betonte Jesus gegenüber Pharisäern nach Mk 10,2–12 die Unauflösbarkeit der Ehe gemäß Gen 1,27 und verbot gegenüber seinen Jüngern beiden Ehepartnern die Scheidung und Wiederheirat. Nach Mt 5,32 und 19,9 begründete er dies als Schutz der Frau, die sonst zu Ehebruch genötigt werde. Der Einschub „abgesehen von (vom Fall eines) Ehebruch(s)“ (porneia) gilt als redaktioneller Zusatz. Nach Lk 16,18 sprach Jesus den jüdischen Mann an, der bei Wiederheirat die fortbestehende erste Ehe breche. Da manche Schriftrollen vom Toten Meer (CD 4,12–5,14) und die Rabbinerschule Schammai eine ähnliche Position vertraten, wird vermutet, dass diese Strenge auf damalige soziale Auflösungstendenzen im Judentum reagierte und sowohl das Verhalten der Oberschicht kritisieren wie auch verarmte, von Zerrüttung gefährdete Familien schützen sollte. Dass Jesus sein Verbot an jüdische Männer richtete und des Ehebruchs angeklagte Frauen laut Lk 7,36 ff.; Joh 8,2 ff. verteidigte, wird als Absicht zum Schutz der Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft gedeutet. Pharisäer Pharisäer und Toragelehrte erscheinen in den Evangelien meist als Kritiker des Verhaltens Jesu und seiner Nachfolger. Sie empört seine Sündenvergebung als todeswürdige Anmaßung (Mk 2,7), sie missbilligen seine Tischgemeinschaft mit als „unrein“ ausgegrenzten „Zöllnern und Sündern“ (2,16) und das Feiern seiner Jünger (2,18), so dass sie ihn stereotyp als „Fresser und Weinsäufer“ verachten (Lk 7,31–35). Besonders Jesu demonstrative Sabbatheilungen und Erlaubnis zum Sabbatbruch (Mk 2–3) provozieren ihre Feindschaft. Nach Mk 3,6 planen sie darum zusammen mit Herodesanhängern seinen Tod. Vorsätzlicher Sabbatbruch war nach Ex 31,14 f., Num 15,32–35 durch Steinigung zu ahnden. Joh 8,59 und 10,31.39 erwähnen Steinigungsversuche jüdischer Gegner Jesu, weil er sich über Abraham und Mose gestellt habe. Diese Verse gelten als ahistorisch, da die Pharisäer weder geschlossen noch mit den Toralehrern identisch noch mit Herodianern verbunden waren. Die Passionstexte erwähnen sie kaum und Jesu Sabbatkonflikte gar nicht. Die Verse sollten offenbar die Ereignisse in Galiläa redaktionell mit Tötungsplänen der Jerusalemer Gegner Jesu (Mk 11,18; 12,13; vgl. Joh 11,47; 18,3) verklammern. Andere NT-Texte kommen der historischen Lage näher: Nach Mk 2,23 ff. begründete Jesus das Ährensammeln seiner Jünger am Sabbat als biblisch erlaubte Gebotsübertretung bei akuter Hungersnot. Er ergänzte damit die damals diskutierten Ausnahmen vom Sabbatgebot zur Lebensrettung. Nach Lk 7,36; 11,37 luden Pharisäer Jesus zum Essen in ihre Häuser ein und interessierten sich dabei für seine Lehre. Nach Mk 12,32 ff. stimmte ein Jerusalemer Pharisäer Jesus zu, die Tora im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammenzufassen. Solche Summarien entsprachen jüdischer Tradition. Auch in der Erwartung des Reiches Gottes und einer Auferstehung aller Toten stimmten die Pharisäer mit Jesus überein. Nach Lk 13,31 warnten und retteten sie ihn vor Nachstellungen des Herodes. Ein Pharisäer sorgte für Jesu Bestattung. Viele Forscher nehmen heute an, dass Jesus den Pharisäern unter damaligen Juden am nächsten stand. Dass sie dennoch zu seinen Gegnern stilisiert wurden, wird aus der Situation nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 erklärt: Danach übernahmen Pharisäer die Führungsrolle im Judentum. Juden und Christen grenzten sich verstärkt voneinander ab und legitimierten dies wechselseitig in ihren damals entstandenen Schriften. Herodianer Der von Rom eingesetzte Vasallenkönig Herodes der Große war vielen Juden als aus Idumäa stammender „Halbjude“ verhasst. Gegen die hohen Steuerauflagen für seine Palast- und Tempelbauten kam es zu Aufständen. Darum teilte Rom sein Herrschaftsgebiet nach seinem Tod 4 v. Chr. unter seine vier Söhne auf, die sich nicht mehr „König der Juden“ nennen durften und dem römischen Präfekten unterstellt wurden. Herodes Antipas, der Galiläa und Peräa zur Zeit Jesu regierte, ließ die galiläischen Orte Sepphoris und Tiberias zu hellenisierten Metropolen ausbauen. Diese Städte und die dort angesiedelten Juden galten der galiläischen Landbevölkerung und antirömischen Jerusalemern als unrein. Die Zweitehe des Antipas mit seiner zuvor schon verheirateten Nichte Herodias galt als eklatanter Torabruch. Er ließ Johannes den Täufer laut Mk 6,17–29 wegen seiner Kritik daran verhaften und enthaupten und soll auch Jesus nach Mk 3,6 und Lk 13,31 namentlich gekannt und verfolgt haben. Damit erklärt Mt 14,13, dass Jesus keine der von Antipas erbauten Städte besuchte. Nach Lk 23,6–12.15 soll Antipas den inhaftierten Jesus verhört und dann als harmlosen Verrückten an Pilatus übergeben haben. Dies gilt als redaktioneller Versuch, die folgend berichteten Freigabeversuche des Pilatus plausibel zu machen. Sadduzäer Jesu Hauptgegner in Jerusalem waren die hellenistisch gebildeten und wohlhabenden Sadduzäer, die als priesterliche Erben der Leviten den Jerusalemer Tempel leiteten. Der dortige zentrale, von allen Juden zu befolgende Opferkult war ihre Existenzgrundlage und ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für ganz Palästina. Sie stellten den Hohepriester, der sein erbliches Amt als höchster Richter für Kultfragen auf Dtn 17,8–13 zurückführte. Die Amtsträger wurden aber seit 6 n. Chr. von römischen Präfekten ein- und abgesetzt und mussten diese bei der ordnungspolitischen Kontrolle von Judäa-Syrien unterstützen. Dafür durften sie die für Juden obligatorische Tempelsteuer eintreiben, den Tempelkult verwalten, eine bewaffnete Tempelgarde unterhalten und auch wohl über Kultvergehen urteilen, aber keine Todesstrafen vollstrecken; dies oblag nur den römischen Präfekten. Im Hinterland war ihr Einfluss zwar geringer, doch setzten sie auch dort die Tempelsteuer und Einhaltung der Kultgebote durch. Jesus hat die Tempelpriester offenbar nicht grundsätzlich abgelehnt: Denn nach Mk 1,44 sandte er in Galiläa Geheilte zu ihnen, damit sie deren Gesundung feststellten und sie wieder in die Gesellschaft aufnahmen. Nach Mk 12,41 ff. lobte er Tempelspenden einer armen Witwe als Hingabe an Gott, die er bei Reichen vermisste. Seine Tora-Auslegung ordnete Opfer der Versöhnung mit Streitgegnern unter (Mt 5,23 f.). Zeloten Jesus trat in einem von starken religiös-politischen Spannungen bestimmten Land auf. Aus Galiläa, dem früheren Nordreich Israel, kamen seit Generationen jüdische Befreiungskämpfer gegen Fremdmächte. Seit dem 6 n. Chr. niedergeschlagenen Steuerboykott des Judas Galilaeus traten Widerstandsgruppen hervor, die die römische Fremdherrschaft mit verschiedenen Mitteln bekämpften, Aufstände vorzubereiten suchten und verhasste Kaiserstandarten, Feldzeichen und andere Besatzungssymbole angriffen. Manche begingen Messer-Attentate auf römische Beamte („Sikarier“, Dolchträger). Diese heute als Zeloten („Eiferer“) bezeichneten Gruppen wurden damals von Römern und dem römerfreundlichen Historiker Josephus generell als „Räuber“ oder „Mörder“ abgewertet und stigmatisiert. Jesus richtete seine apokalyptische Botschaft vom nahen Reich Gottes an alle Juden. Er kündigte damit öffentlich das baldige Ende aller Gewaltimperien an. Sein Wirken solle dieses Reich aktiv herbeiführen und in seinen Heiltaten (Mt 11,5) und seiner gewaltlosen Nachfolge im Kontrast zu den Gewaltherrschern Raum gewinnen (Mk 10,42 ff.). Wie die Zeloten nannte er den Vasallenkönig Herodes Antipas einen „Fuchs“ (Lk 13,32). Bei der Heilung eines Besessenen aus der Garnisonsstadt Gerasa (Mk 5,1–20) befällt der mit dem lateinischen Lehnwort für „Legion“ vorgestellte Dämon eine Schweineherde, die sich dann selbst ertränkt. Damit entlarvte Jesus eventuell die römische Militärherrschaft, um sie symbolisch zu entmachten: Denn das Juden als unrein geltende Schwein war damals als römisches Opfertier und Legionszeichen bekannt. Der Waffenkauf nach Lk 22,36 wird als Erlaubnis Jesu zu begrenztem Widerstand bei Verfolgung auf dem Weg nach Jerusalem gedeutet. Wegen NT-Texten wie dem Magnificat (Lk 1,46 ff.) oder dem Jubel der Festpilger bei Jesu Ankunft in Jerusalem (Mk 11,9 f.) betonen viele Forscher eine indirekte oder symbolische politische Dimension seines Wirkens. Wohl darum waren einige seiner Jünger frühere Zeloten, so Simon Zelotes (Lk 6,15), eventuell auch Simon Petrus und Judas Iskariot. Anders als die Zeloten rief Jesus auch als „unrein“ verhasste Steuereintreiber für die Römer („Zöllner“) in seine Nachfolge und war ihr Gast (Mk 2,14 ff.), freilich um ihr Verhalten gegenüber den Armen grundlegend zu ändern (Lk 19,1–10). Anders als jene, die Gottes Gericht mit Gewalt an Andersgläubigen vorwegnehmen wollten, rief er seine Hörer zur Feindesliebe auf (Mt 5,38–48). Als Kritik an den Zeloten wird auch das Wort Mt 11,12 von den „Gewalttätigen, die Gottes Reich herbeizwingen und sich mit Gewalt seiner bemächtigen“ gedeutet. Römische Münzen mit Kaiserköpfen verstießen für Zeloten gegen das biblische Bilderverbot (Ex 20,4 f.), so dass sie Abgaben an Rom verweigerten. Die Steuerfrage seiner Jerusalemer Gegner sollte Jesus als Zeloten überführen. Seine überlieferte Antwort entzog sich der gestellten Falle : Da nach Mt 6,24 für Jesus der ganze Mensch Gott gehörte, konnte dies als Absage an die Kaisersteuer aufgefasst werden, überließ aber den Angeredeten diese Entscheidung. Erst die Evangelisten wiesen diese Deutung zurück (Lk 23,2 ff.). Dass Jesu Wirken politische Reaktionen hervorrief, zeigt seine Kreuzigung beim höchsten jüdischen Fest. Fraglich ist jedoch, ob er einen politischen Messiasanspruch erhob. Deutsche Neutestamentler betonten früher meist den unpolitischen Charakter seines Auftretens. Seine Hinrichtung als König der Juden (Messiasanwärter) galt als Justizirrtum und „Missverständnis seines Wirkens als eines politischen“. Dagegen zeigten jüngere Untersuchungen partielle Übereinstimmungen Jesu mit der jüdischen Widerstandsbewegung auf und erklärten sein gewaltsames Ende als zu erwartende Folge seines eigenen Handelns. Ereignisse am Lebensende Einzug in Jerusalem Nach ritt Jesus im Gefolge seiner Jünger auf einem jungen Esel in Jerusalem ein, während eine Pilgermenge ihm zujubelte: Der Anruf „Hosanna“ („Gott, rette doch!“: Ps 118,25) war beim Laubhüttenfest und der Inthronisation eines Königs üblich (2 Sam 14,4; 2 Kön 6,26). Der Lulav, ein Dattelpalmenzweig, gehört ebenfalls zum zeremoniellen Teil des Laubhüttenfestes. „Der kommt im Namen Gottes“ meinte den erwarteten Messias auf dem Thron König Davids (2 Sam 7,14 ff.), als den die Evangelien Jesus verkündigen (Mt 11,3; 23,39; Lk 7,19; 13,35). Mit ausgestreuten Palmzweigen (V. 8), einem antiken Triumphsymbol, feierten Juden ihre Siege über Nichtjuden (Jdt 15,12; 1 Makk 13,51; 2 Makk 10,7). Jesu Eselsritt erinnert an Sach 9,9 ff.: Dort wird ein machtloser Messias angekündigt, der die Kriegswaffen in Israel abschaffen und allen Völkern Frieden gebieten werde. Diese nachexilische Zusage hielt die frühere Verheißung universaler Abrüstung fest, die in Israel beginnen sollte (Jes 2,2–4/Mi 4,1–5; Schwerter zu Pflugscharen). Sie widersprach also der Erwartung der Bevölkerung an einen Davidnachfolger, die Fremdherrscher zu vertreiben und das Großreich Israel zu erneuern. Im damaligen Judentum war die Messiashoffnung mit der Sammlung aller exilierten Juden, gerechten Rechtsprechung im Innern und Befriedung der Völkergemeinschaft verbunden. Einzüge jüdischer Thronanwärter waren jedoch oft Signal für Aufstände. So strebte der Zelot Schimon bar Giora laut Josephus um 69 das jüdische Königtum an: Er sei dazu mit seinen Anhängern als charismatischer „Retter und Beschützer“ der Juden triumphal in Jerusalem eingezogen, aber von den Römern in einem Purpurmantel gefangen, nach Rom überführt und dort hingerichtet worden. Auch Jesus weckte messianische Hoffnungen der Landbevölkerung, etwa indem er den Armen den Landbesitz zusagte (Mt 5,3), seine Heiltaten als anfängliche Realisierung dieser Zusagen erklärte (Lk 11,20) und sich auf dem Weg in die Tempelstadt von Armen als Sohn Davids anreden ließ (Mk 10,46.49). Daher bedeutete Jesu Jerusalembesuch zum Pessach eine Konfrontation mit den dortigen Machteliten der Sadduzäer und Römer, bei der ihm das Todesrisiko bewusst gewesen sein muss. Das gewaltlose Messiasbild entspricht für echt gehaltenen Aussagen Jesu wie : Er sei gekommen, als Menschensohn allen wie ein Sklave zu dienen, um der Unterdrückung durch Gewaltherrscher seine herrschaftsfreie Vertrauensgemeinschaft entgegenzustellen. Die Römer verhörten und kreuzigten Jesus wenige Tage später als mutmaßlichen „König der Juden“. Sein als Messiasankunft bejubelter Einzug kann der Anlass dafür gewesen sein. Römer fürchteten eine Volksmenge (Mk 5,21) als „gefährliche und unberechenbare soziale Gruppe“, als „Mob“. Jedoch können Urchristen die Szene übertreibend als „Gegenbild zum Einzug des Präfekten in die Stadt zu den drei großen Festen“ dargestellt haben. Eventuell fügten sie den Eselsritt hinzu, da eine solch eindeutige Messiasdemonstration die Römer sofort zur Festnahme Jesu veranlasst hätte. Kritik am Tempelkult Nach Mk 11,15 ff. vertrieb Jesus am Tag nach seinem Einzug einige Händler und Geldwechsler aus dem Tempelvorhof für Israeliten, Proselyten und Nichtjuden. Die in der Säulenhalle auf der Tempelsüdseite tätigen Händler verkauften kultisch zulässiges Opfermaterial (Tauben, Öl und Mehl) an Wallfahrer und nahmen die von allen Juden jährlich entrichtete Tempelsteuer für kollektive Tieropfer ein. Jesus habe ihre Stände umgestoßen und verhindert, dass Gegenstände durch diesen Bereich getragen wurden. Er störte demnach das ordnungsgemäße Darbringen gekaufter Opfer und Überbringen eingenommener Geldmittel und griff damit demonstrativ den Tempelkult an. Ob die Aktion historisch ist und falls ja, ob sie den jüdischen Tempelkult als Institution oder nur bestimmte Missstände angreifen sollte, wird diskutiert. Meist wird eine nur von wenigen beobachtete Szene angenommen, keine dramatische Szene wie in Joh 2,13–22, da sonst die jüdische Tempelgarde oder sogar römische Soldaten aus der angrenzenden Burg Antonia eingeschritten wären. Da Jesus weiter im Tempelbezirk mit Jerusalemer Toralehrern diskutierte (Mk 11,27; 12,35), sollte seine Aktion offenbar solche Debatten anstoßen. Der Zulauf dazu macht plausibel, dass die Tempelpriester nun, wenige Tage vor dem Pessach, heimlich Jesu nichtöffentliche Festnahme geplant haben sollen (V. 18). Jesus begründete die Vertreibung der Opferhändler nach mit einem Hinweis auf die Verheißung Jes 56,7: Demnach wollte er nicht den Tempelgottesdienst beenden, sondern auch Nichtjuden freien Zugang dazu eröffnen, den künftig alle Völker haben sollten. Diese eschatologische „Tempelreinigung“ griff das prophetische Motiv der künftigen „Völkerwallfahrt zum Zion“ auf, an das auch andere Jesusworte (Mt 8,11 f.; Lk 13,28 f.) erinnern, und kann als Aufruf zu einer entsprechenden Kultreform gedeutet werden. In Spannung dazu steht der Folgevers: Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht. Der Ausdruck spielt auf Jer 7,1–15 an, wo der Gerichtsprophet Jeremia um 590 v. Chr. die Zerstörung des ersten Tempels ankündigt und mit fortgesetzten Rechtsbrüchen der Jerusalemer Priester begründet. Sie hätten den Tempel wie Räuber als Versteck missbraucht, indem sie sich auf Gottes vermeintlich sichere Präsenz beriefen, aber den Armen gerechtes Verhalten verweigerten. Die Echtheit dieses Jesusworts ist umstritten. „Räuber“ nannten Römer damals zelotische Rebellen, die sich gern in Höhlen versteckten; die Sadduzäer dagegen waren ihnen treu ergeben. Im Verlauf des jüdischen Aufstands (66-70) verschanzten sich Zeloten zeitweise im Tempel; der Ausdruck kann daher die Rückschau der Urchristen spiegeln. Laut Joh 2,13 forderte Jesus bei seiner Aktion den Abriss des Tempels. Daher wird vermutet, dass er in diesem Kontext Zerstörung (Mk 13,2) und Neubau (Mk 14,58) des Tempels ankündigte. Nach Jens Schröter beabsichtigte Jesus keinen realen Tempelneubau, sondern stellte wie mit seiner „Kritik an den Reinheitsgeboten die an den vorhandenen Institutionen orientierte Verfassung Israels in Frage“, um die Juden wie Johannes der Täufer auf die unmittelbare Begegnung mit Gott vorzubereiten. Nach Peter Stuhlmacher erhob er damit einen impliziten Messiasanspruch, weil die Nathanweissagung 2 Sam 7,1–16 dem Davidnachfolger für den Tempelbau ewige Herrschaft und vor allem die Gottessohnschaft zusagte und apokryphe jüdische Texte (PsSal 17,30; 4Q flor 1,1–11) mit Bezug darauf vom künftigen Messias eine Reinigung und den Neubau des Tempels erwarteten. Für Jostein Ådna provozierte Jesus zudem die Ablehnung seines mit Tempelaktion und Tempelwort verbundenen Umkehrrufs und lieferte sich so selbst an seine Hinrichtung aus. Denn er habe geglaubt, Gottes Heilshandeln könne sich bei ausbleibender Umkehr seiner Adressaten nur durch „seinen Sühnetod als endzeitlichem Ersatz für den Sühnopferkult des Tempels“ durchsetzen. Festnahme Der Tempelaktion folgen verschiedene Lehrreden und Streitgespräche Jesu mit Jerusalemer Priestern und Toralehrern, die die Vollmacht seines Handelns bestreiten (Mk 11,28) und dabei ihren Tötungsplan verfolgen (Mk 11,18; 12,12). Angesichts der Sympathien vieler Festbesucher für Jesus hätten sie seine heimliche Festnahme „mit List“ verabredet (14,1). Dabei habe ihnen Judas Iskariot unverhofft Hilfe angeboten (14,11). Die Festnahme sei nachts nach dem letzten Mahl Jesu mit seinen erstberufenen Jüngern (14,17–26) im Garten Getsemani, einer Lagerstätte für Pessachpilger am Fuß des Ölbergs, erfolgt. Dorthin habe Judas eine mit „Schwertern und Stangen“ bewaffnete „große Schar“ geführt, darunter einen Diener des Hohenpriesters. Auf ein verabredetes Zeichen hin, den Judaskuss, hätten sie Jesus festgenommen. Dabei hätten einige Jünger ihn gewaltsam zu verteidigen versucht. Dies habe er zurückgewiesen, indem er seine Festnahme als vorherbestimmten Willen Gottes angenommen habe. Daraufhin seien alle Jünger geflohen (14,32.43–51). Diese Darstellung legt nahe, dass der Hohepriester Jesus durch die jüdische Tempelwache, die zum Waffentragen berechtigt war, festnehmen ließ, da der vorige öffentliche Tempelkonflikt die Machtposition des Sanhedrin als zentrale Institution des Judentums gefährden konnte. Der Hohepriester wurde damals von den Römern ein- und abgesetzt und konnte nur im Rahmen römischen Besatzungsrechts handeln. Der von ihm geführte Sanhedrin war verpflichtet, potentielle Unruhestifter festzusetzen und auszuliefern. Sonst hätten die Römer ihm die restliche Selbständigkeit nehmen können, wie es bei der Zerstörung des Tempels später geschah. Daher wird Jesu Festnahme als vorbeugende Maßnahme gedeutet, um das jüdische Volk vor den Folgen eines Aufruhrs zu schützen und den Tempelkult nach gültigen Torageboten zu bewahren. Dem entspricht das realpolitische Kalkül, mit dem der Hohepriester den Sanhedrin laut und überzeugt haben soll, Jesus festzunehmen und hinrichten zu lassen: Dass der Sanhedrin schon vor Jesu Festnahme geplant haben soll, ihn zur Hinrichtung an Pilatus auszuliefern, gilt jedoch als tendenziöse Redaktion. Denn die Tempelaktion betraf die Römer nicht und griff ihr Besatzungsstatut nicht an, solange sie keine Unruhen auslöste, gefährdete aber die Autorität und relative Autonomie der Hohenpriester in Kultfragen. Nach Joh 18,3.12 soll eine Soldatentruppe (griech. speira) unter einem Offizier (griech. chiliarchos) zusammen mit Dienern des Sanhedrin Jesus mit Waffengewalt festgenommen haben. Der Ausdruck speira verweist auf eine römische Kohorte. Sie umfasste nach zeitgenössischen Quellen zwischen 600 und 1000 Soldaten. Eine Kohorte war ständig in der Burg Antonia oberhalb des Tempelbezirks stationiert, um Aufstände an hohen jüdischen Festen zu verhindern. Sie wurde zum Pessachfest um weitere Truppen aus Cäsarea verstärkt. Der jüdische Historiker Paul Winter nahm daher an, Jesus sei auf Befehl des Pilatus, nicht des Hohenpriesters, durch römische Soldaten, nicht jüdische Tempelwächter festgenommen worden. Die Besatzer hätten mögliche politisch-revolutionäre Tendenzen unterdrücken wollen, die sie unter Jesu Nachfolgern vermuteten und als Wirkung seines Auftretens befürchteten. Auch Wolfgang Stegemann hält eine römische Beteiligung an Jesu Festnahme für denkbar, da die Römer rebellische Tendenzen in Judäa damals oft im Keim erstickten und Jesu Einzug und Tempelaktion solche Tendenzen für sie nahegelegt habe. Klaus Wengst hält die johanneische Festnahmeszene dagegen für insgesamt ahistorisch, da eine ganze Kohorte kaum zur Festnahme eines Einzelnen aufmarschiert wäre, ihn nicht einer jüdischen Behörde übergeben hätte und niemanden, der sich wehrte, hätte entkommen lassen. Die Szene soll die Souveränität des Gottessohns über die übermächtige Gewaltherrschaft der gottfeindlichen Mächte ausdrücken. Für eine zeitnahe Abfassung des Markusberichts spricht, dass er die Namen der sich widersetzenden Jünger anders als sonst nicht nennt. Diese Personen waren Jerusalemer Urchristen eventuell ohnehin bekannt, so dass sie hier anonym blieben, um sie vor römischen oder jüdischen Verfolgern zu schützen. Zur vermuteten römischen Initiative passt Jesu Aussage, man sei gegen ihn wie gegen einen „Räuber“ (Zeloten) vorgegangen, obwohl er tagsüber greifbar gewesen sei. Doch nahm die bewaffnete Schar nur ihn fest und verfolgte seine fliehenden Begleiter nicht; Pilatus ging laut NT auch später nicht gegen die Urchristen vor. Dies deutet eher auf einen religiösen als politischen Festnahmegrund hin. Vor dem Hohen Rat Nach Mk 14,53.55–65 brachte man Jesus dann ins Haus des nicht namentlich genannten Hohepriesters, wo sich Priester, Älteste, Toragelehrte – alle Fraktionen des Sanhedrin – versammelten. Jesus sei mit dem Ziel eines Todesurteils angeklagt worden. Die aufgebotenen Zeugen hätten ein Jesuswort zitiert: Er habe den Abriss und Neubau des Tempels innerhalb von drei Tagen geweissagt. Doch ihre Aussagen hätten nicht übereingestimmt, waren also rechtlich nicht verwertbar. Dann habe der Hohepriester Jesus aufgefordert, zur Anklage Stellung zu nehmen. Nach seinem Schweigen habe er ihn direkt gefragt: Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? Darauf habe Jesus geantwortet : Das habe der Hohepriester als Gotteslästerung gedeutet und zum Zeichen dafür sein Amtskleid zerrissen. Darauf habe der Hohe Rat Jesus einstimmig zum Tod verurteilt. Einige hätten ihn geschlagen und verhöhnt. Ob es einen solchen Prozess gab und, falls ja, ob er legal war, ist stark umstritten. Fraglich ist bereits, woher die geflohenen Jesusanhänger Details vom Prozessverlauf erfuhren: eventuell durch den „angesehenen Ratsherrn“ Josef von Arimathäa, der Jesus bestattete. Doch während Mt wie Mk einen nächtlichen Prozess mit einem Todesurteil schildert, wird Jesus nach Lk 22,63–71 erst am Folgetag vom ganzen Sanhedrin nach seiner Messianität gefragt und ohne Todesurteil gegenüber Pilatus angeklagt. Nach Joh 18,19 ff. wird er nur von Hannas verhört und dann ohne Ratsprozess und Todesurteil an dessen damals amtierenden Nachfolger Kajaphas, von diesem an Pilatus übergeben. Die Markusversion beschreibt mit Tötungsvorsatz, heimlicher Sitzung, Falschzeugen, einstimmigem Todesurteil und Misshandlung des Verurteilten einen illegalen Prozess. Spätere Vorschriften der Mischna verboten Kapitalprozesse in der Nacht und in Privathäusern, an Festtagen und zugehörigen Rüsttagen. Die Verhandlung musste mit Entlastungszeugen beginnen; Todesurteile durften frühestens einen Tag danach gefällt werden; die jüngsten Ratsmitglieder sollten ihr Urteil zuerst und unbeeinflusst sprechen. Für Jesu Zeit sind diese Regeln unbelegt. Josephus stellte eine milde, nach 70 durchgesetzte pharisäische einer früheren harten sadduzäischen Strafrechtspraxis gegenüber. Doch direkte Belege für letztere und für ein derartiges Eilverfahren, das Tötungsabsichten begünstigte, fehlen. Auch ob der Sanhedrin damals Todesurteile fällen durfte, ist fraglich. Beschriftete Tafeln im inneren Tempelbereich drohten Eindringlingen den Tod an; ob eine formelle Todesstrafe oder ein Gottesurteil gemeint war, ist unklar. Ein Todesurteil des Sanhedrin berichtete Josephus nur für Jesu ältesten Bruder Jakobus, der um 62 während einer Vakanz des Statthalteramtes gesteinigt worden sei. Große Ratsversammlungen traten nur zu besonderen Anlässen zusammen und mussten vom Statthalter Roms genehmigt werden. Dieser verwahrte den Amtsornat des Hohenpriesters, ohne den er keine offiziellen Urteile fällen konnte. Wegen dieser Quellenlage halten manche Historiker einen regulären Prozess, zumindest ein Todesurteil des Sanhedrin, für urchristliche Erfindung, um Römer nach der Tempelzerstörung zu entlasten und Juden zu belasten. Als mögliches Motiv dafür gilt die Bedrohung der Christen, die einen von Römern Gekreuzigten verehrten, als kriminelle Vereinigung im Römischen Reich nach 70, die ihre Abgrenzung vom Judentum verstärkte. Andere nehmen ein Ausnahmeverfahren gegen Jesus an. Dass er als Lästerer des Gottesnamens oder Verführer des Volkes zum Abfall von JHWH (Dtn 13,6; Lk 23,2; Talmudtraktat Sanhedrin 43a) verurteilt worden sei, gilt auch dann meist als unwahrscheinlich: Denn seine radikal theozentrische Botschaft vom Reich Gottes erfüllte das erste der Zehn Gebote, und er umschrieb den Gottesnamen ebenso wie der Hohepriester. Das von den Zeugen zitierte Jesuswort legt eine Anklage auf Falschprophetie (Dtn 18,20 ff.) nahe. Sie werden Falschzeugen genannt, weil sie gegen den Sohn Gottes aussagten, nicht weil sie Jesus falsch zitierten. Sie können Jesus vorgeworfen haben, er habe Unmögliches geweissagt und einen Tempelabriss torawidrig als Gottes Willen ausgegeben. Man konnte jedoch abwarten, ob seine Ankündigung eintrat, bevor man ihn dafür verurteilte (Dtn 18,22). Falschpropheten sollten laut Tora gesteinigt werden; nur Gotteslästerer und Götzendiener sollten nach der Mischna (Traktat Sanhedrin VI,4) erhängt werden. Die Tempelpriester verfolgten Tempel- und Kultkritiker auch sonst, etwa Jeremia (Jer 26,1–19; um 590 v. Chr.) und den „Lehrer der Gerechtigkeit“ (um 250 v. Chr.). Jesus ben Ananias, der um 62 in Jerusalem die Zerstörung von Tempel und Stadt ankündigte, nahm der Sanhedrin deswegen fest und überstellte ihn dem Statthalter Roms, der ihn nach einer Auspeitschung jedoch freiließ. Ratsmitglieder steinigten den tempelkritischen Urchristen Stephanus, nachdem er dem Sanhedrin Justizmord an Jesus vorgeworfen und diesen als inthronisierten Menschensohn verkündet hatte (Apg 7,55 f.; um 36). Die Messiasfrage des Hohenpriesters nach dem Zeugenverhör wirkt plausibel, da für ihn gemäß der Nathanverheißung 2Sam 7,12–16 nur der künftige, als Gottes „Sohn“ angeredete Davidnachfolger den Tempel neu erbauen durfte. Dieser Anspruch war für Juden nicht unbedingt blasphemisch, da andere Messiasanwärter geachtet wurden, so der wohl nach Num 24,17 „Sternensohn“ genannte Bar Kochba (um 132). Falls es einen Kapitalprozess gab, kann eine Eigenaussage Jesu das anfangs nicht angestrebte Todesurteil ausgelöst haben. Seine Antwort erinnert an die Vision vom Menschensohn in Dan 7,13 f.: Dieser erscheint nicht als Davidnachfolger, sondern als von Gott bevollmächtigter Vertreter der Gottesherrschaft nach dem Endgericht über alle Weltmächte. So hätte Jesus die national begrenzte Messiashoffnung erweitert zur Abschaffung aller Gewaltherrschaft (vgl. Mk 8,38 und Mk 13,24 ff.). Dies hätte für die Sadduzäer die Anklage auf Falschprophetie bestätigt, da sie Daniels Apokalyptik als Irrlehre ablehnten. Hier verweisen manche auf den genauen Wortlaut der Antwort Jesu: „Sitzend zur Rechten Gottes“ zitiere Ps 110,1, sodass der Menschensohn als schon inthronisierter Endrichter erscheine. Dies sei für den Hohepriester Blasphemie gewesen, weil Jesus damit sein Richteramt missachtet und sich selbst an Gottes Seite erhöht habe. Andere halten das den Satzbau teilende Partizip „sitzend…“ für redaktionell, da es den Glauben an Jesu Auferstehung und erwartete Wiederkunft voraussetze. Vor Pilatus Nach Mk 15,1–15 lieferte der „ganze Hohe Rat“ Jesus am Folgetag nach einem Beschluss dazu gefesselt an Pilatus aus. Dieser habe ihn gefragt Bist du der König der Juden? und mit entsprechenden Anklagen des Sanhedrin konfrontiert. Doch Jesus habe geschwiegen. Dann habe Pilatus der zusammengeströmten Volksmenge zur üblichen Pessachamnestie Jesu Freilassung angeboten. Doch die Tempelpriester hätten die Menge aufgewiegelt, stattdessen die Freigabe des Barabbas, eines kürzlich inhaftierten Zeloten, zu fordern. Nach mehrfachen vergeblichen Rückfragen, was Jesus getan habe, habe Pilatus der Menge nachgegeben, Barabbas freigelassen und Jesus kreuzigen lassen. Lk 23,6–12 ergänzt ein Verhör Jesu durch Herodes, der ihn auf sein Schweigen hin verhöhnt, an Pilatus zurückgibt und so dessen Freund wird. Die Szene gilt als redaktioneller Vorgriff auf Apg 4,25–28, wonach ein biblisch vorhergesagtes Bündnis von Heiden und Königen (Ps 2,1 f.) Jesus zu Tode brachte. Lk 23,17 ff. erweitert die Anklage um Vorwürfe, die im Sanhedrinprozess fehlten: Volksverführung und Steuerboykott gegen den Kaiser Roms. Auch den Verlauf der Pessachamnestie variieren die Evangelien (Mt 27,17; Lk 23,16; Joh 18,38 f.). In allen Versionen betreiben die Tempelpriester und ihre Anhänger Jesu Hinrichtung, während Pilatus von seiner Unschuld ausgeht, ihn aber nicht freilässt, sondern ihr Urteil erfragt und ihrem Druck zuletzt nachgibt. Eine damalige Pessachamnestie ist sonst nirgends überliefert. Die Römer gingen nach außerbiblischen Quellen von sich aus massiv gegen jede prophetisch inspirierte Volksansammlung im Raum Judäas vor. Jüdische Historiker stellen Pilatus als rücksichtslos, unnachgiebig, korrupt und grausam dar: Er habe die Juden durch Kaisersymbole im Tempelbezirk provoziert, Massaker befohlen (vgl. Lk 13,1) und ständig Juden ohne Gerichtsverfahren hinrichten lassen. Gemäß römischen Verfahrensweisen in unterworfenen Provinzen konnte Pilatus Jesus nach einem Kurzverhör ohne förmliches Urteil (coercitio) hinrichten lassen: Der Verdacht aufrührerischen Verhaltens genügte. Jesus hatte laut Mk 11,9.18; 12,12; 14,2 die Sympathie der Festpilger, die das römische Besatzungsrecht ablehnten, und der enge Innenhof des Pilatuspalastes bot einem Volksauflauf kaum Raum. Daher gelten öffentliches Verhör, Volksbefragung, Amnestie und Unschuldserklärungen des Pilatus heute meist als ahistorisch und werden einer antijüdischen Redaktion des Passionsberichts zugewiesen. Die Tacitusnotiz erwähnt einen Hinrichtungsbefehl des Pilatus, ohne den unter ihm wohl niemand gekreuzigt wurde. Die Evangelien setzen den Befehl voraus, indem sie eine römische Urteilsanzeige, hier als Kreuzestafel, zitieren: Pilatus habe Jesus als „König der Juden“ verurteilt (Mk 15,26 par). Dieser Urteilsgrund gilt meist als historisch, weil der Titel auf einen politisch gedeuteten Messiasanspruch verweist, mit dem Auslieferungsgrund (Mk 15,2 par) übereinstimmt und vor dem Hintergrund des römischen Rechts plausibel ist: Die Römer hatten jüdischen Vasallenherrschern das Tragen des Königstitels seit 4 v. Chr. verboten. Als „König“ (basileus) hatten sich auch jüdische Zelotenführer bezeichnet. Dies galt nach römischem Gesetz als Majestätsbeleidigung (crimen laesae maiestatis (populi Romani)), Anstiftung zum Aufstand (seditio) und staatsfeindlichen Aufruhr (perduellio), da nur der römische Kaiser Könige ein- oder absetzen durfte. Falls Jesu Verhör wie dargestellt verlief, musste Pilatus Jesu Antwort auf die Frage nach einer angemaßten Königswürde („Du sagst es“) und sein folgendes Schweigen als Geständnis werten, das sein Todesurteil erzwang. Mit Jesu Hinrichtung zwischen Zeloten wollte Pilatus wahrscheinlich ein Exempel gegen alle rebellischen Juden statuieren und ihre Messiashoffnung verhöhnen. Demgemäß deutet der redaktionelle Vers Joh 19,21 den Protest der Sadduzäer: Jesus habe bloß behauptet, der Messias zu sein. Für die Urchristen bestätigte der Kreuzestitel deren Unrechtsurteil, da Jesus keinen bewaffneten Aufstand geplant habe (Lk 22,38), und Jesu verborgene wahre Identität als des Kyrios Christus, des Herrschers aller Herren (Offb 19,16). Kreuzigung Die Kreuzigung war im römischen Kaiserreich die grausamste Hinrichtungsmethode, die meist gegen Aufständische, entlaufene Sklaven und Einwohner ohne römisches Bürgerrecht angewandt wurde. Sie sollte Augenzeugen demütigen und von der Teilnahme an Aufruhr abschrecken. Juden galt sie als Verfluchtsein durch Gott (Dtn 21,23; Gal 3,13). Der Todeskampf konnte je nach Ausführung tagelang dauern, bis der Gekreuzigte verdurstete, am eigenen Körpergewicht erstickte oder an Kreislaufversagen starb. Der markinische Passionsbericht nennt jedoch keine Details zum physischen Vorgang, sondern nur zum Verhalten von ausführenden Tätern und Zeugen, zu letzten Worten Jesu und Zeitdauer seines Sterbens. Laut Mk 15,15–20 entkleideten die römischen Soldaten Jesus, zogen ihm ein Purpurgewand an, setzten ihm eine Dornenkrone auf und verspotteten ihn gemäß dem Pilatusurteil als „König der Juden“, um so die messianische Hoffnung der Juden zu verhöhnen. Darauf hätten sie ihn geschlagen und angespuckt. Eine Geißelung war integraler Bestandteil der römischen Kreuzigung und wurde oft so brutal durchgeführt, dass der Verurteilte bereits daran starb. Laut Vers 21 musste Jesus dann selbst sein Kreuz zum Richtplatz vor die Stadtmauer tragen. Als der von den Schlägen Geschwächte zusammengebrochen sei, hätten die Soldaten den zufällig von der Feldarbeit kommenden Juden Simon von Cyrene genötigt, sein Kreuz zu tragen. Dass die Urchristen noch Jahrzehnte später seinen Namen und die seiner Söhne überlieferten, wird als Solidarität zwischen Urchristen und Diasporajuden gedeutet. Laut Vers 23 boten die Soldaten Jesus Myrrhe in Wein an, bevor sie ihn kreuzigten; diesen Trank habe er abgelehnt. Die Kreuzigung habe um die dritte Stunde (etwa 9 Uhr vormittags) begonnen (V. 25). Dann hätten sie um sein Gewand gelost. Laut Vers 27 wurde Jesus zusammen mit zwei „Räubern“ (Zeloten oder „Sozialbanditen“) auf dem Hügel Golgota („Schädelstätte“) vor der damaligen Jerusalemer Stadtmauer gekreuzigt, begleitet von Hohn und Spott der Anwesenden. Um die sechste Stunde habe eine dreistündige Finsternis eingesetzt (V. 33). Gegen deren Ende habe Jesus auf Aramäisch das Psalmzitat gerufen: (V. 34) Dann habe er aus jüdischer Hand einen mit Weinessig (Posca) getränkten Schwamm angenommen (V. 36) und sei unmittelbar darauf mit einem lauten Schrei gestorben (V. 37). Der Tod sei um die „neunte Stunde“ (etwa 15 Uhr nachmittags) erfolgt. Das Stundenschema, die Finsternis, Anspielungen auf Psalmen und Psalmzitate gelten als theologische Deutung, nicht als historische Details. Sie stellen Jesus in die Reihe der zu Unrecht verfolgten, von der Gewalt aller Feinde umringten und an Gottes Gerechtigkeit appellierenden leidenden Juden. Grablegung Nach Mk 15,42–47 verstarb Jesus vor Anbruch der Nacht. Daher habe Josef von Arimathäa Pilatus gebeten, ihn vom Kreuz abnehmen und bestatten zu dürfen. Pilatus, erstaunt über Jesu rasches Sterben, habe sich seinen Tod beim römischen Aufseher der Hinrichtung bestätigen lassen und seinen Leichnam dann zur Bestattung freigegeben. Josef habe ihn noch am selben Abend nach jüdischem Brauch in ein Tuch gewickelt, in ein neues Felsengrab gelegt und dieses mit einem schweren Felsen verschlossen. Maria Magdalena und eine andere Maria, die mit anderen Frauen aus Galiläa Jesu Sterben begleiteten, hätten den Vorgang beobachtet. Römer ließen am Kreuz Getötete oft zur Abschreckung und Demütigung ihrer Angehörigen Tage und Wochen hängen, bis sie verwest, zerfallen oder von Vögeln gefressen worden waren. Für Juden verstieß dies gegen die Vorschrift von Dtn 21,22–23, wonach der „an ein Holz gehängte“ Hingerichtete noch am gleichen Tag begraben werden sollte. Nach Josephus (Bellum Judaicum 4,317) durften von Römern gekreuzigte Juden nach jüdischer Sitte bestattet werden. Dies wird als Rücksicht der Römer auf Gefühle und Religion der Juden gedeutet; im Falle Jesu, um beim Pessachfest keine Unruhe auszulösen. Die gesetzesgemäße Grablegung eines Verurteilten gehörte eventuell zur Aufgabe des Sanhedrin. Dann hätte Josef von Arimathäa in dessen Auftrag gehandelt. Dies stellt das einstimmige Todesurteil wegen Gotteslästerung in Frage. Dass der Markusbericht die amtliche Prüfung des Todes Jesu erwähnt, sollte diesen wohl gegen frühe Scheintodthesen bekräftigen. Die Namen der Zeuginnen für Jesu Sterben und Grablegung waren offenbar in der Jerusalemer Urgemeinde bekannt. An sie wurde wohl erinnert, weil nur sie nach der Flucht der Jünger Jesu Grabstätte kannten. Sie sollen sie am übernächsten Morgen leer gefunden haben (Mk 16,1–8). Der Ort des Jesusgrabes ist unbekannt. Das NT enthält keine Hinweise auf seine Verehrung. Manche Historiker vermuten es unter der heutigen Grabeskirche, weil dort eine Grabverehrung aus dem 1. Jahrhundert archäologisch nachgewiesen ist. Die historische Forschung untersucht NT-Texte zu Ereignissen nach Jesu Grablegung nur im Rahmen der Geschichte des urchristlichen Auferstehungsglaubens. 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A. nebst Textvariantenapparat Übersetzungen Bibleserver Bibliografien Herbert Frohnhofen: Auswahlbibliografie zu Jesus von Nazaret Grundinformationen Peter Philhofer: Der historische Jesus. Vorlesungsskript. Erlangen/Nürnberg 2009 Jon Swales: Historical Jesus: Method and Criteria. Bristol 2008 Einzelthemen Christoph Rall: Außerbiblische Notizen zum historischen Jesus Marcus Cohn: Der Prozess Jesu nach jüdischem Recht Einzelnachweise Jude (Altertum) Person im Neuen Testament Prophet des Islam Märtyrer Exorzist Hingerichtete Person (1. Jahrhundert) Hingerichtete Person (Römisches Reich) Person (Nazareth) Zimmerer Geboren im 1. Jahrhundert v. Chr. Gestorben im 1. Jahrhundert Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppe%2047
Gruppe 47
Als Gruppe 47 werden die Teilnehmer an den deutschsprachigen Schriftstellertreffen bezeichnet, zu denen Hans Werner Richter von 1947 bis 1967 einlud. Die Treffen dienten der gegenseitigen Kritik der vorgelesenen Texte und der Förderung junger, noch unbekannter Autoren. Der in demokratischer Abstimmung ermittelte Preis der Gruppe 47 erwies sich für viele Ausgezeichnete als Beginn ihrer literarischen Karriere. Die Gruppe 47 besaß keine Organisationsform, keine feste Mitgliederliste und kein literarisches Programm, wurde aber stark durch Richters Einladungspraxis geprägt. In ihrer Anfangszeit bot die Gruppe 47 jungen Schriftstellern eine Plattform zur Erneuerung der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Später avancierte sie zu einer einflussreichen Institution im Kulturbetrieb der Bundesrepublik Deutschland, an deren Tagungen bedeutende zeitgenössische Autoren und Literaturkritiker teilnahmen. Der kulturelle und politische Einfluss der Gruppe 47 wurde Gegenstand zahlreicher Debatten. Auch nach dem Ende ihrer Tagungen 1967 blieben ehemalige Teilnehmer der Gruppe richtungsweisend für die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur. Geschichte Vorgeschichte: Der Ruf Im Frühjahr 1945 entstand im Kriegsgefangenenlager Fort Kearny in Rhode Island als Teil des amerikanischen Reeducation-Programms für die deutschen Kriegsgefangenen die Zeitschrift Der Ruf: Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen. Sie wurde von Curt Vinz herausgegeben, zu ihren Mitarbeitern gehörten Alfred Andersch und Hans Werner Richter. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland planten sie in Vinz’ Verlag eine Nachfolgezeitschrift unter dem Titel Der Ruf – unabhängige Blätter der jungen Generation, die erstmals am 15. August 1946 erschien. Die Zeitschrift druckte auch literarische Texte ab, aber die Herausgeber Andersch und Richter verstanden sie vor allem als politisches Organ, in dem sie für ein freies Deutschland als Brücke zwischen Ost und West und eine sozialistische Gesellschaftsform eintraten. Dabei übten sie auch Kritik an der amerikanischen Besatzungsmacht, was im April 1947 zum Verbot des Rufs durch die Information Control Division der amerikanischen Besatzungszone führte. Erst nach der Absetzung der beiden Herausgeber konnte die Zeitschrift unter Leitung von Erich Kuby und mit veränderter politischer Ausrichtung wieder erscheinen. Sie verlor indessen an Bedeutung und wurde schließlich eingestellt. Nach dem Ende der Tätigkeit beim Ruf plante Hans Werner Richter eine Nachfolgezeitschrift, die er Der Skorpion betiteln wollte. Als eine Art von Redaktionssitzung lud Richter Autoren aus dem Umfeld der geplanten Zeitung am 6. und 7. September 1947 zu einem Treffen am Bannwaldsee bei Füssen ins Haus Ilse Schneider-Lengyels ein. Dort sollten Manuskripte vorgelesen und gemeinsam diskutiert werden. Daneben stand der private und unterhaltende Charakter der Zusammenkunft im Vordergrund. Während die Zeitschrift Der Skorpion nie über ihre Nullnummer herauskam, entwickelte sich aus dem Treffen am Bannwaldsee die erste Tagung der Gruppe 47. Im Hinblick auf die Vorgeschichte behauptete Richter später: „Der Ursprung der Gruppe 47 ist politisch-publizistischer Natur. Nicht Literaten schufen sie, sondern politisch engagierte Publizisten mit literarischen Ambitionen.“ Historische Periodisierung Nach Friedhelm Kröll lässt sich die Geschichte der Gruppe 47 in vier Perioden einteilen: Konstitutionsperiode 1947–49, Aufstiegsperiode 1950–57, Hochperiode 1958–63, Spät- und Zerfallsperiode 1964–67. Entstehung und Organisation Am Treffen beim Bannwaldsee nahmen 16 Personen teil. Zum Auftakt las Wolfdietrich Schnurre seine Kurzgeschichte Das Begräbnis. Danach ergab sich ungeplant die Form von offener, teilweise scharfer, spontan geäußerter Kritik der anderen Teilnehmer, die zum späteren Ritual der Gruppenkritik werden sollte. Auch die Form der Lesung, bei der sich der vortragende Autor stets auf den freien Stuhl neben Richter setzte, scherzhaft „elektrischer Stuhl“ getauft, blieb konstant. Zur wichtigen Maxime wurde, dass der Vortragende sich nicht verteidigen durfte, sowie dass die Kritik der konkreten Texte im Mittelpunkt stand. Grundsatzdiskussionen literarischer oder politischer Art, die die Gruppe hätten spalten können, unterband Richter konsequent. Trotz seiner eigenen Präferenz für die realistische Trümmerliteratur gab es kein literarisches Programm der Gruppe, keine gemeinsame Poetologie und nur wenige Grundsätze, etwa keine faschistischen oder militaristischen Texte zuzulassen. Der Name Gruppe 47 entstand erst im Anschluss an das erste Treffen, als Hans Werner Richter plante, die Veranstaltung regelmäßig zu wiederholen. Der Schriftsteller und Kritiker Hans Georg Brenner schlug den Namen in Analogie zur spanischen Generación del 98 vor. Richter, der jede Organisationsform der Treffen ablehnte, ob „Verein, Club, Verband, Akademie“ stimmte dem Vorschlag zu: „‚Gruppe 47‘, das ist ja völlig unverbindlich und besagt eigentlich gar nichts.“ Erst 1962, zum 15. Jahrestag der Entstehung, formulierte Richter rückblickend die „ideellen Ausgangspunkte“ der Gruppe 47: „demokratische Elitenbildung auf dem Gebiet der Literatur und der Publizistik;“ „die praktisch angewandte Methode der Demokratie einem Kreis von Individualisten immer wieder zu demonstrieren mit der Hoffnung der Fernwirkung und der vielleicht sehr viel späteren Breiten- und Massenwirkung;“ „beide Ziele zu erreichen ohne Programm, ohne Verein, ohne Organisation und ohne irgendeinem kollektiven Denken Vorschub zu leisten.“ Wen er zu den Treffen der Gruppe einlud, entschied Richter persönlich: „Es ist mein Freundeskreis. […] jetzt gebe ich einmal im Jahr ein Fest, […] das nennt man die Gruppe 47 […]. Und ich lade alle Leute ein, die mir passen, die mit mir befreundet sind.“ Damit ließ er Einflussnahme von außen auf die später kritisierte Einladungspraxis von vornherein gar nicht zu. Nach Heinz Ludwig Arnold, der mehrfach über die Gruppe 47 publizierte, war die Stärke Richters, der weder als Schriftsteller noch als Kritiker größere Bedeutung erlangt habe und bei seinen beiden eigenen Lesungen in der Kritik der Gruppe durchfiel, sein Organisationstalent. Der Erfolg der Gruppe 47 wurde für Richter zur Lebensaufgabe. Die ersten Jahre Zwei Monate nach der Auftaktveranstaltung fand das zweite Treffen der Gruppe 47 in Herrlingen bei Ulm statt, bei dem sich die Teilnehmerzahl bereits verdoppelt hatte. Zu den erstmaligen Teilnehmern gehörte Richters Mitstreiter beim Ruf Alfred Andersch, dessen Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung für die Gruppe eine programmatische Bedeutung erhielt. Ausgehend von der These, „echte Künstlerschaft“ sei stets „identisch mit der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus“, konstatierte Andersch, dass „die junge Generation vor einer tabula rasa“ stehe, „vor der Notwendigkeit, in einem originalen Schöpfungsakt eine Erneuerung des deutschen geistigen Lebens zu vollbringen.“ Anderschs Zukunftsentwurf blieb für lange Zeit der einzige Essay, der in der Gruppe gelesen wurde. Die Treffen fanden in den Folgejahren zumeist halbjährlich im Frühjahr und Herbst an wechselnden Orten statt. Auf der siebten Tagung 1950 in Inzigkofen wurde erstmals der Preis der Gruppe 47 ins Leben gerufen, der im Unterschied zu den etablierten Literaturpreisen als Förderpreis für noch unbekannte Autoren gedacht war. Franz Joseph Schneider, der seit dem Vorjahr der Gruppe angehörte, hatte eine Spende von 1000 DM beschafft. Nach Abschluss der Lesungen kürten die anwesenden Mitglieder der Gruppe den Preisträger in einer demokratischen Wahl. Als Erster wurde der Lyriker Günter Eich ausgezeichnet. Er war mit dem dritten Treffen in Jugenheim zur Gruppe gestoßen und galt in den Anfangsjahren als ihr profiliertester Autor. In den folgenden Jahren organisierte Richter Preisgelder unterschiedlicher Höhe bei Verlagen und Rundfunkanstalten, vergab sie aber nur unregelmäßig. Ob bei der jeweiligen Tagung ein Preis ausgelobt wurde, gab er den Teilnehmern erst zum Abschluss bekannt. Durch Empfehlungen Dritter, jedoch stets erst mittels persönlicher Einladung durch Hans Werner Richter kamen immer neue Autoren zu den Treffen der Gruppe 47. So debütierte im Jahr 1951 bei der Tagung in Bad Dürkheim auf Vorschlag Alfred Anderschs Heinrich Böll, der zu diesem Zeitpunkt zwar schon zwei Erzählungen und einen Roman veröffentlicht hatte, allerdings ohne dass diese auf breite Resonanz gestoßen waren. Böll erhielt gleich bei seiner ersten Lesung der Satire Die schwarzen Schafe den Preis der Gruppe 47, ein damals noch umstrittener Wahlerfolg des erstmaligen Teilnehmers. Nur acht Monate und 16 Ausgaben überlebte 1952 die Literaturzeitschrift Die Literatur, ein Versuch, unter Richters Herausgeberschaft ein Sprachrohr der Gruppe 47 zu etablieren, das einige Texte aus dem Kreis der Teilnehmer erstveröffentlichte. Rolf Schroers urteilte nach der Einstellung: „Die Literatur war ein rohes, oft wüstes Blatt, unausgeglichen, marktschreierisch,“ und enthalte „blasses Zeug mehr als genug […], schlecht gezielte Angriffe, aber man nahm die Zeit wütend ernst.“ Realismus und Moderne Mit steigender Bekanntheit der Gruppe wurden vermehrt Gäste aus dem In- und Ausland zu den Tagungen eingeladen. Das 10. Treffen fand im Mai 1952 in Niendorf statt, maßgeblich unterstützt von Ernst Schnabel, dem Intendanten des Hamburger Funkhauses des Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR). Dort trug Paul Celan neben anderen Gedichten seine noch unbekannte Todesfuge vor und wurde nach Bölls nachträglicher Einschätzung „auf die peinlichste Weise mißverstanden“. Walter Jens erinnerte sich an die Reaktionen: „Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ‚Das kann doch kaum jemand hören!‘, er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht, ‚Der liest ja wie Goebbels!‘, sagte einer. […] Die Todesfuge war ja ein Reinfall in der Gruppe! Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit.“ Milo Dor fügte den Ausspruch Richters hinzu, Celan habe „in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge“. In einem Brief an seine Frau Gisèle kommentierte Celan, Richter sei ein „Initiator eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist“, und schloss: „Jene also, die die Poesie nicht mögen – sie waren in der Mehrzahl – lehnten sich auf.“ Trotz solcher Stimmen machte Celan mit dem Auftritt auf sich aufmerksam. Noch auf der Tagung erhielt er das Angebot für einen ersten Gedichtband in einem deutschen Verlag, und bei der abschließenden Wahl zum Preis der Gruppe erreichte er immerhin den dritten Rang. An weiteren Treffen der Gruppe 47 nahm er aber trotz wiederholter Einladungen nicht mehr teil. Die Tagung in Niendorf führte nach Einschätzung Arnolds zu einem literarischen Paradigmenwechsel in der Gruppe: der schlichte Realismus der Trümmerliteratur, der in den Anfangsjahren bestimmend gewesen war, wich allmählich komplexeren Texten. Die literarische Moderne, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte, ehe sie während der Zeit des Nationalsozialismus verbannt und verbrannt worden war, lebte in der Gruppe 47 neu auf. Die Entwicklung war insbesondere mit den Namen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann verknüpft, die 1952 und 1953 den Preis der Gruppe 47 erhielten. Für den Germanisten Peter Demetz wurde in Niendorf „der literarische Realismus“ vom „Surrealismus“ als einem „wirksamen stilistischen Grundprinzip“ verdrängt. Elisabeth Endres sah in ihrer Publikation zur Literatur der Adenauerzeit ab dem Jahr 1952 in den Werken der Gruppenmitglieder nicht mehr das „Typische“ im Mittelpunkt, sondern das „Singuläre“, Einzelne. Joachim Kaiser bestätigte über das Jahr, in dem er selbst zur Gruppe gestoßen war: „Trümmerliteratur und Kahlschlag-Heftigkeiten kamen 1953 kaum mehr vor.“ Während die jungen Schriftsteller einer moderaten Moderne in den 1950er Jahren das literarische Bild der Gruppe 47 prägten, hatte es eine weitergehende experimentelle Literatur schwer, sich in der Gruppe zu etablieren. An Helmut Heißenbüttels Sprachdemonstrationen entzündete sich im Jubiläumsjahr 1957 auf der Tagung in Niederpöcking am Starnberger See ein Konflikt, der zu einem ersten Riss in der Gruppe führte. Richter beschrieb: „Das erste Mal zeigen sich zwei Fraktionen, die sich in der Beurteilung zeitweise feindlich gegenüberstehen. Die Artisten, die Ästheten, die Formalisten auf der einen Seite und auf der anderen die Erzähler […], die Realisten.“ Die Gruppe drohte sich zu spalten. Doch Richter gelang es, ganz nach seiner Maxime, eine poetologische Grundsatzdebatte und den möglichen Bruch zu verhindern. Heißenbüttel wurde zukünftig ein Sonderstatus zuteil: Seine Lesungen fanden außerhalb des Wettbewerbs statt. Der 1964 zur Gruppe gekommene Peter Bichsel erinnerte sich: „Am Schluß las Heißenbüttel zur Unterhaltung der Leute. […] Er hatte eine Alibi-Funktion.“ Die Gruppe 47 als Institution Seit Beginn der 1950er Jahre war die Gruppe immer stärker in den öffentlichen Fokus gerückt. Während zu Beginn die Teilnehmer selbst in Reportagen über die Treffen berichtet hatten, wurden die seit 1956 nur noch jährlich im Herbst veranstalteten Tagungen – abgesehen von einer zusätzlichen Hörspiel- und Fernsehspieltagung im Frühjahr 1960 und 1961 – inzwischen als öffentliche Ereignisse wahrgenommen und von den Medien verbreitet. Zu den gruppenfremden Journalisten, die von den Tagungen berichteten, gehörte 1951 auch Martin Walser. Er erhielt eine Einladung in die Gruppe auf seine selbstbewusste Einschätzung hin: „Aber die Lesungen sind sehr schlecht, das taugt alles nichts, das kann ich viel besser.“ Tatsächlich wurde 1955 in Berlin seine Erzählung Templones Ende mit dem Preis der Gruppe prämiert. Zu einem der größten Erfolge der Gruppe 47 wurde der nächste Preisträger, Günter Grass, der 1958 in Großholzleute im Allgäu das erste Kapitel seines noch unveröffentlichten Romans Die Blechtrommel las. Die Lesung machte den bis dahin unbekannten Autor schlagartig berühmt, die Verlage wetteiferten um das unfertige Manuskript. Richter lobte nach drei Jahren Pause wieder einen Preis der Gruppe aus, der Grass zuerkannt wurde. Nachdem Grass durch die Gruppe in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit gelangt war, fiel im Gegenzug sein anschließender literarischer Erfolg auf die Gruppe 47 zurück, deren Einfluss im Literaturbetrieb stieg. In der Folge drängten Autoren, Kritiker und Verlage in die Gruppe, um von ihrem Ruf zu profitieren. Der Ablauf der Veranstaltungen wurde professioneller und verlor die kameradschaftliche Atmosphäre der frühen Treffen. Die Teilnehmer sah Richter sich in drei Gruppierungen spalten: einige wenige junge Autoren, die noch lasen, die reinen Kritiker, „die alles besser wissen“, und eine große Gruppe derjenigen, die nur noch zuhörten. Die früheren Mitglieder blieben immer öfter den Treffen fern. So bekundete Heinrich Böll: „Tagungen, an denen 150 Autoren, Kritiker, Verleger, Filmleute, Fernsehen und so weiter teilnehmen, bereiten mir eine solche Qual, daß ich nur sehr ungern dorthin gehe. [Die Gruppe 47] ist ein bißchen in Gefahr zur Institution zu werden.“ Auch Alfred Andersch kritisierte: „die Gruppe wurde zum literarischen Markt.“ Manuskripte wurden gehandelt, die Autoren bereiteten sich speziell auf die Gruppenlesungen vor. Erfolg oder Misserfolg der Lesung vor der Riege der anwesenden Verlagsvertreter konnte über ihre literarische Karriere entscheiden. Die Kritik an den Texten kam inzwischen nicht mehr von anderen Autoren, sondern wurde fast ausschließlich von der Riege der anwesenden Berufskritiker geübt, die in den Vortragssälen zumeist die erste Reihe belegten: Walter Höllerer, Joachim Kaiser, Walter Jens, Walter Mannzen, Marcel Reich-Ranicki und Hans Mayer. Letzterer urteilte, die „Kritik dementierte zur Marktexpertise, empfand sich selbst als solche und verhielt sich von nun an marktgerecht.“ Im Jahr 1961 kam es zu internen Debatten um den Fortbestand der Gruppe 47. Die Kritik an der Kritik entzündete sich besonders an der Person Reich-Ranickis, dessen Schärfe im Urteil gefürchtet war. Verschiedene, vor allem ältere Mitglieder der Gruppe forderten seine Ausladung, gegen die sich Richter aber letztendlich aussprach. Gruppe, Politik und Gesellschaft Die zunehmende Politisierung der Gesellschaft in den 1960er Jahren strahlte auch auf die Gruppe 47 aus. Obwohl Richters Motivation ursprünglich eine gesellschaftspolitische gewesen war, blieb die Gruppe 47 über den Zeitraum ihrer Existenz politisch inhomogen. So kam es nie zu einer politischen Resolution im Namen der gesamten Gruppe. Es wurden allerdings aus der Gruppe heraus insgesamt elf Resolutionen Einzelner angestoßen, die immer nur von einer Minderheit der Teilnehmer unterschrieben, in der Öffentlichkeit aber dennoch oft als Protestnoten der gesamten Gruppe wahrgenommen wurden. Sie reichten von Protesten gegen die Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands 1956, Protesten gegen den Vietnamkrieg 1965 bis zu einer Resolution gegen die Springer-Presse während der letzten Tagung 1967. Mit der wachsenden Öffentlichkeitswirkung der Gruppe 47 wurde sie im Inland wie im Ausland verstärkt als Repräsentant der deutschen Literatur wahrgenommen. 1964 im schwedischen Sigtuna und 1966 im amerikanischen Princeton trat sie in Auslandstagungen in Erscheinung. Diese waren als Veranstaltungen erfolgreich, wie etwa der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson notierte: „Die Gruppe machte den ungeheuer imponierenden Eindruck einer riesigen, manchmal nahezu perfekten Kritikmaschinerie.“ Sie führten aber im Inland zu Diskussionen und in der Gruppe selbst zu immer stärker aufbrandenden Reformdebatten. Richter erkannte einen „schleichenden Krebs, der da plötzlich die Gruppe befällt“. Martin Walsers ironische Entgegnung auf Kritik an der Gruppe wurde 1964 zu einer Bestandsaufnahme: „Die Gruppe ist in vielen Augen eine herrschsüchtige Clique geworden. Und der literarische Jahrmarkt, der da einmal im Jahr stattfindet, […] wird beurteilt als eine monopolistische imperialistische Veranstaltung zur Einschüchterung der Kritik, der Leser, der Öffentlichkeit. […] Ich glaube, es ist wirklich die höchste Zeit zur Sozialisierung. Fängt die Gruppe nämlich erst an, im Ausland aufzutreten, dann ist es ganz unvermeidlich, daß etwas Offizielles passiert und noch schlimmere Mißverständnisse entstehen als im Inland.“ In Princeton griff der erstmals eingeladene Peter Handke, der zuvor mit seiner Lesung durchgefallen war, die Gruppe direkt an. Handke verurteilte im Stile seiner Publikumsbeschimpfung Autoren für die „Beschreibungsimpotenz“ ihrer „ganz dummen und läppischen Prosa“ und Kritiker für „ihr überkommenes Instrumentarium“ gleichermaßen. Als Handke von Hans Mayer Unterstützung erfuhr, kam es zum ersten Mal zu der von Richter stets vermiedenen Grundsatzdiskussion. Günter Grass nannte Handkes Kritik später einen „Blattschuss“ für die Gruppe 47. In der Folge wandte sich Erich Fried in einem Brief mit Reformvorschlägen an Hans Werner Richter, doch dieser nahm die Gruppe 47 noch immer als seine Gruppe wahr und blockte alle Reformbestrebungen ab: „Ich brauche nur nicht mehr einzuladen, dann gibt es [die Gruppe 47] nicht mehr.“ Auch die politischen Angriffe auf die Gruppe kamen inzwischen nicht mehr nur aus konservativer Richtung, wie dies bereits seit ihren Anfangstagen, insbesondere aber seit der Wahlwerbung einiger Autoren für die SPD der Fall gewesen war. Im Mai 1966 startete Klaus Rainer Röhl in der Zeitschrift konkret einen „Feldzug von links“ gegen die Gruppe 47, der in den folgenden Ausgaben mit immer neuen Attacken gegen, so Robert Neumann, die „Attrappe einer engagierten Literatur, engagiert für die Attrappe einer Oppositionspartei“ fortgesetzt wurde. In seiner ebenfalls in konkret abgedruckten Antwort konzedierte Joachim Kaiser im August des Jahres: „Ich finde, die Gruppe sollte sich langsam auflösen, weil sie durch viele unvernünftige Angriffe und infolge vieler unvernünftiger tadelnder oder lobender Berichte […], weil also die Gruppe durch diese halb-verschuldeten, halb-unverschuldeten Neben-Effekte ihre Unschuld verloren hat, zu einem Politikum geworden ist“. Letzte Treffen Zum letzten regulären Treffen kam es 1967 im oberfränkischen Waischenfeld in der Pulvermühle. Die Tagung wurde von Protesten einiger Studenten des Erlanger SDS gestört. Sie warfen der Gruppe eine unpolitische Haltung vor und skandierten Parolen wie „Die Gruppe 47 ist ein Papiertiger“ und höhnische Rufe „Dichter! Dichter!“ Die Reaktionen der Gruppenmitglieder fielen unterschiedlich aus. Während manche verärgert auf die Störung reagierten, suchten andere den Dialog mit den Studenten. Innerhalb der Gruppe brachen ideologische Differenzen auf, insbesondere zwischen den beiden Protagonisten Günter Grass und Reinhard Lettau. Der damalige Teilnehmer Yaak Karsunke erinnerte sich, er sei „sehr erschrocken gewesen, mit welcher Aggressivität ein großer Teil der Gruppenmitglieder auf diesen harmlosen Studenten-Ulk reagiert“ habe, und er zog das Fazit: „In gewisser Weise ist diese Gruppe 47 – oder der Traum, den Hans Werner Richter davon hatte – tatsächlich in der Pulvermühle zerbrochen, weil plötzlich die Außenwelt eindrang. Für meine Begriffe ist sie aber nicht am Eindringen der Außenwelt zerbrochen, sondern an der Unfähigkeit der Gruppe, darauf angemessen zu reagieren.“ Hans Werner Richter plante noch ein abschließendes Treffen 1968 auf Schloss Dobříš bei Prag, auf dem er die Gruppe auflösen und sich selbst wieder in den politischen Journalismus eines neu aufgelegten Rufs zurückziehen wollte. Doch zu beidem kam es nicht. Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts verhinderte die Auflösungstagung. Die Gruppe 47, die laut Richter nie wirklich gegründet wurde, löste sich somit auch nie offiziell auf. Wie gegenüber Erich Fried angekündigt, lud Richter einfach nicht mehr ein. In der Folge kam es zu einigen kleineren Treffen ehemaliger Mitglieder, so 1972 in Berlin zum 25-jährigen und 1977 in Saulgau zum 30-jährigen Jubiläum. Auf Einladung Václav Havels holte Richter im Mai 1990 unter geänderten politischen Rahmenbedingungen auch noch das ausgefallene Treffen in Schloss Dobříš nach, das zu einer Begegnung der ehemaligen Gruppenmitglieder mit tschechischen Autoren wurde. Joachim Kaiser zog das Fazit: „Zum Ende der Gruppe 47 führte hauptsächlich der Umstand, daß sie zu alt wurde. So kam einiges zusammen: Überalterung der Gruppe, heftige Politisierung ihrer Mitglieder und der Umstand, daß die Gruppe nicht mehr das gewesen ist, was sie am Anfang war, nämlich eine Art Avantgarde.“ Zur Erinnerung an das letzte reguläre Treffen fand Mitte Oktober 2017 ein Literaturfestival in Waischenfeld statt. Nachfolger Im Stil der Lesungen der Gruppe 47 und der Ad-hoc-Urteile durch Kritiker regten der Journalist und Buchautor Humbert Fink sowie der damalige Intendant des ORF-Landesstudios in Kärnten Ernst Willner den Literaturwettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis an, der seit 1977 alljährlich in Klagenfurt abgehalten wird und anfangs unter der Ägide von Marcel Reich-Ranicki stand. Mit dem Lübecker Literaturtreffen gründete Günter Grass im Dezember 2005 einen neuen literarischen Zirkel. Zum ersten Treffen im Günter-Grass-Haus waren Thomas Brussig, Michael Kumpfmüller, Katja Lange-Müller, Benjamin Lebert, Eva Menasse, Matthias Politycki, Tilman Spengler und Burkhard Spinnen eingeladen. In Anlehnung an die Gruppe 47 wurde die Vereinigung auch Lübeck 05 tituliert. Grass distanzierte sich allerdings von einer Wiederbelebung der Gruppe 47 im alten Stil: „Das lässt sich nicht fortsetzen. Es gibt unter uns allen keinen Hans Werner Richter. Es gibt heute auch keine vergleichbare Situation, wie sie in den 40er und 50er Jahren in Deutschland herrschte“. Literaturpreis Der Preis der Gruppe 47 wurde ab 1950 als Förderpreis an noch weitgehend unbekannte Autoren vergeben. Das Preisgeld für die ersten beiden Vergaben (jeweils 1000 DM) war eine Stiftung der amerikanischen Werbefirma Coward McCann Company, die Franz Joseph Schneider zu dieser Schenkung überzeugt hatte, später wurde der Preis – organisiert durch Hans Werner Richter – von verschiedenen Verlagen und Rundfunkanstalten gestiftet: Je 2000 DM für Aichinger und Bachmann, je 1000 DM für Morriën und Walser, 5000 DM für Grass, 7000 DM für Bobrowski, für Bichsel und Becker je 6000 DM, wobei zu diesem letzten Preis jeweils 2500 DM von Grass und Böll beigesteuert wurden. Alle Preisträger im Überblick: 1950: Günter Eich, für Gedichte, überwiegend publiziert in Botschaften des Regens 1951: Heinrich Böll, für die Satire Die schwarzen Schafe 1952: Ilse Aichinger, für die Erzählung Spiegelgeschichte 1953: Ingeborg Bachmann, für vier Gedichte aus Die gestundete Zeit 1954: Adriaan Morriën, für die Satire Zu große Gastlichkeit verjagt die Gäste 1955: Martin Walser, für die Erzählung Templones Ende 1958: Günter Grass, für das erste Kapitel aus Die Blechtrommel 1962: Johannes Bobrowski, für Gedichte aus Sarmatische Zeit 1965: Peter Bichsel, für eine Lesung aus dem Roman Die Jahreszeiten 1967: Jürgen Becker, für eine Lesung aus Ränder Teilnehmer Auf den Treffen der Gruppe 47 haben mehr als 200 Autoren gelesen. Darüber hinaus nahmen an den Tagungen zahlreiche Kritiker und Gäste teil. Die beiden folgenden Listen bilden eine Auswahl der Teilnehmer. In Klammern ist – wo bekannt – das erste Jahr der Teilnahme an einem Treffen der Gruppe angegeben. Für die vollständige Auflistung aller Autoren siehe die Liste der Teilnehmer der Gruppe 47. Autoren (Auswahl) Kritiker und Gäste (Auswahl) Wirkung und Debatten Aus Sicht Heinz Ludwig Arnolds hat die Gruppe 47 „in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine deutliche Spur markiert“, die Literaturkritiker der Gruppe bestimmten „die literarischen Debatten der Republik entscheidend mit“, und um ihre Autoren „wurden die spektakulärsten Schlachten im deutschen Feuilleton- und Literaturbetrieb geschlagen“. Hans Magnus Enzensberger bezeichnete die Gruppe 47 als literarische Vereinigung, „die in der Literaturgeschichte unseres Landes ohne Vorbild war“. Klaus Briegleb nannte sie eine „politische Legende in der deutschsprachigen Gegenwartskultur“. Alexander Kluge führte aus: „In ihrer Glanzzeit führte die Gruppe 47 die wesentlichen literarischen Begabungen der Republik zusammen und beeinflußte sie, eine gemeinsame Haltung zu gesellschaftlichen Kernfragen einzunehmen.“ Die Gruppe 47 wurde oftmals mythifiziert und mit zahlreichen Stereotypen belegt. Hans Werner Richter sah sie als „Freundeskreis“, Heinrich Böll als „mobile Akademie“, Günter Grass als „eine Art literarische Ersatzhauptstadt“, Hermann Kesten als „autoritäre[n] Autorenverband auf postalischer Grundlage“ und Enzensberger schlicht als „Clique“. Je nach Standpunkt wurde sie als „Literaturmafia“, „literarische […] Probebühne“, „deutsches Wunder“, „Stoßtrupp“, „ambulantes Romanisches Café“ oder „Agentur der Autorenvermarktung“ wahrgenommen. Erste Wahrnehmung und Kritik In den Gründungstagen der Gruppe 47 „mokierte sich“ die Presse nach Nicolaus Sombarts Worten „weidlich über das Fähnlein der Unbekannten.“ Zwar prophezeite der Kritiker Gunter Groll 1948, die Gruppe werde „aus den öffentlichen und privaten Diskussionen um die junge Gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken sein.“ Doch fiel im Folgejahr Konrad Stemmers Urteil über die Autoren in der Neuen Zeitung noch negativ aus: „Wird sich einer zur tragenden Säule eines Verlags auswachsen? Aus der Gruppe 47 wird er wohl kaum stammen. Was dieser Kombination von Anfang an fehlte, war die 11 dahinter.“ Auf das in den Anfangstagen gängige Wortspiel mit dem Kölnisch Wasser 4711 entgegnete Armin Eichholz, ein Autor der Gruppe, dass das „Fluidum“ der Gruppe 47 eher „etwas herb in die Nase steigt und von den Liebhabern feinen Parfüms verständlicherweise nicht gern gerochen wird“. Einer der ersten prominenten Kritiker der Gruppe 47 war Friedrich Sieburg. Unter der Überschrift Kriechende Literatur polemisierte er 1952 gegen die „Absage an das Ästhetentum“ der zeitgenössischen Literatur, die er als „Untertanenliteratur“ bezeichnete. Sie sei aus „den zeitgemäßen Klischees gemacht, […] mit denen der Dilettantismus jeden künstlerischen Einwand niederschlägt.“ Die Autoren seien „alles ganz brave Leute, die nur darauf bedacht sind, auf der richtigen Seite zu stehen und zu etwas zu gehören. […] Die Schriftsteller unseres Landes organisieren sich fleißig und gaben sich Geschäftsführer, die darüber zu wachen haben, daß niemand gegen das soziale Gewissen verstößt oder sich ‚zeitfeindlich‘ zeigt.“ Der „Fall Sieburg“, wie er in Richters Zeitschrift Literatur betitelt wurde, gab der Gruppe 47 Gelegenheit, sich im Gegenzug öffentlich zu positionieren. So verteidigte Alfred Andersch in seiner Antwort die Gruppenbildung und polemisierte: „Laßt sie doch ruhig unter sich, die alten Nazis und die sandkuchenmürben Esoteriker! Laßt die bösen alten Herren ruhig ‚europäische Geistigkeit‘ spielen – Ihr werdet sie darin niemals erreichen –, denn wo der europäische Geist wirklich steht, das bestimmen nicht sie!“ Kritik an der Gruppenkritik Obwohl der Einfluss der Gruppe 47 – auch durch die gegen sie gerichtete Kritik – in den 1950er Jahren wuchs, hielten sich einige zeitgenössische Autoren ausdrücklich von ihr fern, zumeist mit dem Verweis auf die Praxis der Gruppenkritik. So bekundete Arno Schmidt 1953 auf eine Einladung: „Ich nähre mich lieber still und redlich vom Übersetzen als von literarischer 175erei.“ Thomas Mann schimpfte ein Jahr später: „Das Benehmen der 47er bei ihrer Vorlesung ist natürlich pöbelhaft bis zur Unglaubwürdigkeit, nur bei dieser Rasselbande möglich.“ Eine Anspielung auf die Hitlerjugend (HJ) formulierte 1964 Hans Habe: „Für einen Teil der Gruppe 47 ist der Verein eine Art HJ – eine literarische Halbstarken-Jugend, in deren Turnsaalgarderoben man die eigenen Minderwertigkeitsgefühle abzulegen und die Uniform des Selbstbewußtseins anzulegen vermag.“ Elfriede Jelinek nannte die Gruppe 47 noch 1997 eine „Sadistenvereinigung, an der ich nicht mal unter Todesdrohung teilgenommen hätte“. Der Literaturkritiker Günter Blöcker verglich 1962 die „unmenschliche Atmosphäre dieser Lesungen mit anschließendem kritischen Gemetzel“ mit „Mannbarkeitsriten gewisser primitiver Völkerstämme“ und richtete den Blick in eine literarische Vergangenheit: „Der Gedanke, daß […] Musil, Kafka, Ricarda Huch, Benn […] auf den berüchtigten ‚elektrischen Stuhl‘ der Gruppe 47 geklettert wären, um sich einer buntgescheckten Schar von konkurrierenden Talenten zur Beurteilung zu stellen, […] von Stegreif-Rezensenten, die ihrem Publikum eine ‚Schau‘ schuldig zu sein glauben, oder schlicht von Leuten, die hier eine Chance sehen, ohne Risiko mitzureden – dieser Gedanke kommt mir wie ein schlechter Scherz vor.“ Marcel Reich-Ranicki verteidigte sich und seine Kritikerkollegen mit der Entgegnung, warum sich so viele längst anerkannte Schriftsteller der „Kritik eines so, gelinde gesagt, inkompetenten und unseriösen Gremiums aussetzen würden“, wenn Blöckers Anschuldigungen zuträfen. Er verwies auf Enzensbergers Diktum, nach dem die Gruppe 47 „ihre vornehmste Aufgabe nicht in der Förderung, sondern in der Verhinderung literarischen Unfugs“ sehe. Reich-Ranicki stimmte zu, die Kritik der Gruppe 47 habe dem Publikum „viele schlechte Novellen, Romane, Gedichte, Dramen“ erspart. Debatten um den öffentlichen Einfluss Spätere Kritik richtete sich oft gegen das Establishment der Gruppe und den von ihr ausgeübten Einfluss auf die Öffentlichkeit. Schon 1958 konstatierte Joachim Kaiser, dass die Gruppe „für bedroht und sinnlos gehalten wird, seit sie existiert, also seit elf Jahren. Seit elf Jahren gilt die Gruppe nämlich vor allem bei denen, die nicht zu ihr gehören, als ein Klüngel“. Sechs Jahre später formulierte auch Hans Habe diesen Vorwurf: „Seit Jahr und Tag wird auf den Tagungen der Gruppe 47 bestimmt, was in der deutschen Literatur gut und schlecht, was lesenswert oder verwerflich ist. Ich bin gegen die Gruppe 47, weil ich gegen den Meinungsterror bin […] Diktatur […] wird von der Gruppe 47 ausgeübt. […] über der Gruppe 47 […] schwebt nur, wie mir scheinen will, das nicht unbedingt literarische Symbol der DM. Die Satelliteraten der Gruppe, die überall in der ‚großen‘ deutschen Presse führende Stellungen einnehmen, gestatten es der Kritik kaum und dem Publikum überhaupt nicht, sich ein eigenes Urteil zu bilden“. Für Rolf Schroers war die Gruppe im Jahr 1965 „öffentlich – und nicht nur im literarischen Bereich – höchst wirksam; aber auf eine geisterhafte Weise, die man nicht haftbar machen kann.“ Sie sei eine „öffentliche Macht“, die sich nicht über „literarische Inhalte und Formen, sondern politisch eingefärbte […] Arrangements“ definiere. Hinter dem „Plakat ‚Gruppe 47‘“ verschwänden alle „literarischen Kontroversen und Unterschiede der deutschen Nachkriegsliteratur“. Eine Differenzierung und damit literarische Gruppenbildung werde verhindert: „gerade die Gruppe 47 als Gruppe lähmt diesen Prozess und läßt ihn nicht aus sich heraus.“ Heinrich Böll widersprach Schroers aus seiner Überzeugung heraus, die Gruppe 47 sei so vielfältig, dass ihr „Pluralismus in Promiskuität“ umschlage. Nicht einmal zu einem Minimum an Gruppensolidarität sei sie fähig und in ihrer Einflussnahme „ganz und gar ungefährlich“: „Die Gruppe gehört zu diesem Staat, sie paßt zu ihm, sie ist politisch so hilflos wie er.“ Sie sei lediglich in der Gefahr, „eine Institution zu werden und eine Funktion zu übernehmen; also: zu funktionieren“ in einer „bundesrepublikanischen Gesellschaft, die nicht die geringste Angst vor ihr zu haben“ brauche. Hermann Kesten äußerte sich unentschieden: „Die deutsche Literatur nach 1945 sähe nicht anders aus, wenn es die Gruppe 47 nie gegeben hätte. Der literarische Nutzen und der Schaden, den sie gestiftet hat, gleichen sich aus. Die kulturpolitische Situation in der Bundesrepublik wäre 1963 ärmer, wenn es die Gruppe 47 nicht gäbe.“ Dagegen hatte für Peter O. Chotjewitz die Gruppe 47 den „Literaturbetrieb […] zusätzlich vergiftet.“ Und er urteilte nach ihrem Ende: „Ich würde sagen: man atmet freier, seit es sie nicht mehr gibt.“ Der Einfluss der Gruppe hielt allerdings auch nach ihrer letzten Tagung 1967 weiter an. Ihre Literaturkritiker hatten in öffentlichkeitswirksamen Feuilletons leitende Positionen inne, und aus der Gruppe hervorgegangene Autoren prägten die Wahrnehmung der deutschen Literatur, was sich auch in der Verleihung des Literaturnobelpreises an Heinrich Böll (1972) und Günter Grass (1999) niederschlug. Auch der Gruppenkritiker Peter Handke wurde 2019 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Am 2. Oktober 1990, dem Vortag der Deutschen Wiedervereinigung, urteilte die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter einem Foto der Gruppe 47: „Bis zuletzt und ungeachtet aller Veränderungen wurzelte die Identität des Landes in den Texten des Jahres 1960.“ Politische Angriffe In ihren ersten Jahren erfolgten politisch motivierte Angriffe auf die Gruppe 47 zumeist durch konservative Kritiker, später auch durch Politiker aus den Unionsparteien. So nannte der CDU-Politiker Josef Hermann Dufhues im Januar 1963 die Gruppe eine „geheime Reichsschrifttumskammer“, deren Einfluss „nicht nur im kulturellen, sondern auch im politischen Bereich“ ihm eine „geheime Sorge“ verursache. Dreizehn Schriftsteller aus dem Umfeld der Gruppe 47 reichten Klage gegen diesen Ausspruch ein. Die beiden Parteien schlossen einen Vergleich, in dem sich Dufhues von seiner Äußerung distanzierte. Trotzdem urteilte Dieter E. Zimmer: „Auf solche Art wurde die Dämonisierung der Gruppe betrieben. Nicht sie spielte sich hoch, das besorgten ihre Feinde.“ Im Zuge des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 1965 eskalierte die Auseinandersetzung zwischen einigen SPD-nahen Intellektuellen aus dem Umfeld der Gruppe 47 und Bundeskanzler Ludwig Erhard. Während Hans Werner Richter, Günter Grass und Klaus Wagenbach ein „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“ zur Unterstützung Willy Brandts formten, wandte sich Erhard gegen „Entartungserscheinungen“, die er in der modernen Literatur wahrnahm. Er beklagte die Mode, dass „Dichter unter die Sozialpolitiker und Sozialkritiker“ gingen, in deren Funktion sie für ihn „Banausen“ und „Nichtskönner“ waren, und griff namentlich Rolf Hochhuth an: „Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an“. Richter und andere Schriftsteller reagierten mit Empörung, Martin Walser ironisch: „Da hört der Kanzler auf, da fängt der Erhard an.“ Mit dem Wandel des politischen Klimas in den 1960er Jahren und der zunehmenden Etablierung der Gruppe veränderte sich auch die Richtung der Kritik. Ab Mai 1966 wandten sich in der Zeitschrift konkret politisch links orientierte Kritiker gegen die Gruppe 47. In folgenden Ausgaben warf Hans Erich Nossack der Gruppe „literarische Prostitution“ vor und kritisierte „[e]ine synthetische Literatur, die ihre Produkte allein nach technischer Perfektion bewertet und jedes politische, gesellschaftliche und menschliche Engagement als unkünstlerisch verwirft.“ Robert Neumann sprach von einer „um ihre frühere Potenz kastrierte Gruppe“, die einem „Consensus des Klüngels“ gehorche, und griff namentlich Hans Werner Richter an, bei dem es „zu keinem kraftgenialischen Furz“ reiche. Neumann schloss sich dem ein Jahr zuvor verstorbenen Walter Widmer an, nach dem „die Gruppe 47 sich selbst verraten hat, als sie Literaturbörse wurde“, und endete mit der Forderung: „diese Berliner Spezis gehören abserviert.“ Während Martin Walser die Gruppenschmähung ironisch als „Mund-zu-Mund-Beatmung“ für eine bereits siechende Gruppe 47 begriff, verteidigte Walter Höllerer die Vereinigung ernsthaft und argumentativ gegen die Angriffe, erkannte aber selbst: „Gruppenangriff, Gruppenverteidigung, ein im Grunde sinnloses Geschäft […] gegenüber zwei Autoren [Nossack und Neumann], die, was die Politik anbetrifft, in keinem die Angegriffenen entgegengesetzten Lager stehen: – diese Notwendigkeit ist nicht nur absurd, sie ist traurig.“ In einem im Oktober 1967 verfassten Leitartikel trennte Ulrike Meinhof die politischen Lager allerdings deutlich. Im Unterschied zu einer neuen Generation von Schriftstellern, die sich als radikal links begriffen, sei die Gruppe 47 „nie linker als die SPD gewesen“, und stelle sich „als Sozialdemokratie unter der Literatur und den deutschen Schriftstellern dar.“ Nachträgliche Aufarbeitungen Mit der faktischen Auflösung der Gruppe 47 entfiel der Grund für die öffentlichen Debatten um Macht und Einfluss der Gruppe. In der Nachbetrachtung rückten die Entwicklung der Gruppe und ihre inhaltlichen Prämissen in den Vordergrund. So wurde verstärkt die mangelnde literarische Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocausts thematisiert. Bereits in seinem Vorwort eines Almanachs zum 15-jährigen Jubiläum der Gruppe 47 urteilte Fritz J. Raddatz: „In dem ganzen Band kommen die Worte Hitler, KZ, Atombombe, SS, Nazi, Sibirien nicht vor – kommen die Themen nicht vor. […] Ein erschreckendes Phänomen, gelinde gesagt. Die wichtigsten Autoren Nachkriegsdeutschlands haben sich allenfalls mit dem Alp der Knobelbecher und Spieße beschäftigt; die Säle voller Haar und Zähne in Auschwitz […] wurden nicht zu Gedicht und Prosa.“ Auch Zweifel an der persönlichen Rolle einiger profilierter Vertreter der Gruppe 47 während des Dritten Reichs wurden nach ihrem Ende laut: Günter Eich hatte ein Hörspiel zur Unterstützung der nationalsozialistischen Anti-England-Kampagne geschrieben, Alfred Andersch die Trennung von seiner jüdischen Frau vor der Reichsschrifttumskammer hervorgehoben, Günter Grass hatte seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwiegen. In ihrer Entstehungszeit war es zu Spannungen zwischen der Gruppe 47, die sich als „junge Generation“ zur „Stunde Null“ verstand, und den zurückgekehrten deutschen Emigranten gekommen. So hatte Hans Werner Richter Albert Vigoleis Thelen für sein „Emigrantendeutsch“ kritisiert. Ebenso wie Andersch hatte Richter den aus Deutschland Geflohenen Versagen vor den Nationalsozialisten vorgeworfen. Aufgrund solcher Vorbehalte gegenüber den oft jüdischen Emigranten sah Klaus Briegleb eine Form von Antisemitismus in der Gruppe 47 vorherrschen, der sich auch in den Reaktionen auf die Lesung Paul Celans oder dem Umgang mit jüdischen Gruppenmitgliedern gezeigt hätte. Marcel Reich-Ranicki widersprach dieser Anschuldigung: „Ich habe während der Tagungen nicht die geringsten antisemitischen Äußerungen wahrgenommen. Es haben in diesen Jahren nicht wenige Autoren jüdischer Herkunft an der ‚Gruppe 47‘ teilgenommen […]. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich einer dieser Kollegen über Antisemitisches auf den Tagungen der ‚Gruppe 47‘ je beklagt hätte.“ 50 Jahre nach ihrer Gründung stellten Joachim Leser und Georg Guntermann im Jahr 1997 die Frage: Brauchen wir eine neue Gruppe 47? Die Antworten der befragten zeitgenössischen Schriftsteller waren überwiegend ablehnend. Neben der historischen Sonderstellung der Gruppe 47 nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwei grundsätzliche Unterschiede betont: die zeitgenössische Literatur entstehe solitär und nicht kollektiv, ihre Rezeption sei nicht mehr standardisierbar, sondern erfolge vielfältig und ohne einheitliche Orientierung. Das ehemalige Gruppenmitglied Friedrich Christian Delius konstatierte, dass inzwischen „der literarische Betrieb, wie die Gesellschaft, egoistischer strukturiert ist als früher.“ Ulrich Peltzer zog das Fazit: „Der nostalgische Glanz, der die Gruppe 47 umstrahlt, hängt sicher zusammen mit dem Verlust an literarischem Einfluß, auf kulturellem Gebiet verbunden mit ökonomischer Macht, den ihre Protagonisten seit ’68 erfahren haben.“ Tagungen Literatur Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47. Rowohlt, Reinbek 2004, ISBN 3-499-50667-X Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Die Gruppe 47 – Ein kritischer Grundriß. Sonderband der Edition text + kritik. 3. überarbeitete Auflage. text + kritik, München 2004, ISBN 3-88377-762-5. Helmut Böttiger: Die Gruppe 47: Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. ISBN 978-3-421-04315-3 (Preis der Leipziger Buchmesse 2013). Stephan Braese (Hrsg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Erich Schmidt, Berlin 1999, ISBN 3-503-04936-3. Klaus Briegleb: Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47? Philo, Berlin 2003, ISBN 3-8257-0300-2. Hermann Kinder: Der Mythos von der Gruppe 47. Edition Isele, Eggingen 1991, ISBN 3-925016-77-5. Friedhelm Kröll: Gruppe 47. Metzler, Stuttgart 1979. Eberhard Lämmert, Justus Fetscher u. Jürgen Schutte (Hrsg.): Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Königshausen & Neumann, Würzburg 1991. Reinhard Lettau (Hrsg.): Die Gruppe 47 – Bericht Kritik Polemik. Ein Handbuch. Luchterhand, Neuwied und Berlin 1967. Jörg Magenau: Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Klett-Cotta, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-608-94902-5. Hans A. Neunzig (Hrsg.): Lesebuch der Gruppe 47. dtv, München 1983, ISBN 3-423-12368-0. Hans A. Neunzig (Hrsg.): Hans Werner Richter und die Gruppe 47. Mit Beiträgen von Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki, Peter Wapnewski u. a. Nymphenburger, München 1979. Hans Werner Richter: Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47. Hanser, München 1986; Neuausgabe mit Photos von Renate von Mangoldt: Wagenbach, Berlin 2004, ISBN 3-8031-2499-9. Hans Werner Richter (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Walter Mannzen: Almanach der Gruppe 47 1947–1962. Rowohlt, Reinbek 1962. Toni Richter: Die Gruppe 47 in Bildern und Texten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997, ISBN 3-462-02630-5. Literarisch wurden die Treffen in Günter Grass’ Erzählung Das Treffen in Telgte verarbeitet, die er Hans Werner Richter zu dessen 70. Geburtstag widmete. Filme Die „Gruppe 47“ in Waischenfeld. Radau in der Provinz. Fernseh-Reportage, Deutschland, 2017, 9:30 Min., Buch: Almut Gronauer, Kamera: Betty van Recum, Produktion: Bayerischer Rundfunk, Reihe: Zwischen Spessart und Karwendel, Erstsendung: 21. Oktober 2017 beim Bayerischen Fernsehen, von BR, online-Video vom BR, mit vielen Archivaufnahmen. Vom Glanz und Vergehen der Gruppe 47. Dokumentarfilm, Deutschland, 2007, 45 Min., Buch und Regie: Andreas Ammer, Produktion: SWR, Erstsendung: 14. Oktober 2007 bei Das Erste, Inhaltsangabe von 3sat, Besprechung in Der Tagesspiegel. Weblinks Gruppe 47, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25/2007) Die Gruppe 47 Tagungen der Gruppe 47 Tonbänder der Tagung in Princeton auf der Peter Handke die Gruppe 47 angriff. Audiomitschnitt einer Diskussionsrunde zum Thema "50 Jahre Gruppe 47 - Die Tagungen als Lesewerkstatt" mit Günter Grass, Peter Bichsel und Walter Höllerer, März 1997 Artikel Hellmuth Karasek: Als das Sterbeglöcklein bimmelte. In: Die Welt. 9. Juni 2007 Dieter E. Zimmer, Die Gruppe 47 in Saulgau (PDF; 91 kB). In: Die Zeit. Nr. 45, 8. November 1963, S. 17–18. Fußnoten Literarische Gruppe Nachkriegsliteratur Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Gegründet 1947 Aufgelöst 1967
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https://de.wikipedia.org/wiki/Robben
Robben
Die Robben (Pinnipedia) sind ein Taxon im Wasser lebender Raubtiere (Carnivora) und gehören somit ökologisch zu den Meeressäugern. Die wissenschaftliche Bezeichnung „Pinnipedia“, abgeleitet von den lateinischen Wörtern pinna ‚Flosse‘ und pes ‚Fuß‘, bedeutet Flossenfüßer. Sowohl diese Bezeichnung als auch die Bezeichnung Wasserraubtiere findet man mitunter auch in der Fachliteratur. In einer älteren biologischen Systematik wurden die Wasserraubtiere den nicht mehr als Taxon anerkannten „Landraubtieren“ (Fissipedia) gegenübergestellt. Anatomie Robben sind mittelgroße bis große Säugetiere, die Längen zwischen 1,20 und 6 Metern erreichen können. Das Gewicht schwankt zwischen den Arten extrem und liegt zwischen 25 Kilogramm bei Weibchen der Antarktischen Seebären (Arctocephalus gazella) und mehr als 4 Tonnen bei männlichen Südlichen See-Elefanten (Mirounga leonina). Oft lässt sich ein auffälliger Sexualdimorphismus feststellen: See-Elefanten-Männchen wiegen oft bis zu viermal mehr als ihre Weibchen. Es gibt jedoch auch einige Arten, bei denen das Weibchen größer ist, z. B. den Seeleopard. Der Robbenkörper hat eine torpedoförmige Gestalt: Der abgeflachte Kopf ist durch einen dicken Hals nur undeutlich vom Rest des Körpers abgesetzt, der Schwanz nur noch als Rudiment erhalten. Die Gliedmaßen sind zudem bis zum Ellenbogen beziehungsweise Knie in den Körper eingebettet, so dass nur Unterarm und -schenkel frei liegen. Alle diese Eigenschaften setzen den Strömungswiderstand herab und dienen so der Anpassung an das Leben im Wasser. Schädel und Gebiss Im Robbenschädel überlappt das vordere Hinterhauptsbein, der Supraokzipitalknochen mit dem Schläfenbein, dem Parietalknochen; die Augenhöhlen sind vergrößert, während das Rostrum, also die „Schnauze“ des Tieres, stark verkürzt ist. Statt des typischen Raubtiergebisses haben die meisten Robben ein eher gleichförmiges Fischfressergebiss. Es existieren meist ein bis zwei Paar untere Schneidezähne, kegelförmige, meist wenig betonte Eckzähne und zwölf bis vierundzwanzig einfache, homodonte, also gleichartig aufgebaute Backenzähne. Letztere besitzen zwei Wurzeln und sind zugespitzt; sie sind somit weniger zum Kauen als zum Festhalten der Beute geeignet. Reißzähne wie bei den anderen Raubtieren kommen bei Robben nicht vor. Allerdings gibt es zahlreiche Abweichungen, vor allem bei jenen Robbenarten, die andere Ernährungsweisen pflegen: Bei Walrossen sind die Eckzähne etwa als Stoßzähne ausgebildet, während bei Krabbenfressern die Zähne kompliziert gebaute Höcker besitzen, die bei geschlossenem Kiefer ein engmaschiges Sieb bilden, mit dem die Tiere ihre Nahrung, Krill, erbeuten. Wirbelsäule und Gliedmaßen Je nach Familie sind unterschiedliche Teile der Wirbelsäule verstärkt, dies hängt mit der unterschiedlichen Fortbewegung der Tiere zusammen. Bei Ohrenrobben, bei denen die Vorderflossen im Mittelpunkt stehen, sind die Hals- und Brustwirbel deutlich verstärkt, während bei Hundsrobben, die sich mithilfe ihrer Hinterflossen fortbewegen, stattdessen die Lendenwirbel vergrößert sind. Zusätzlich sind bei ihnen die Gelenkfortsätze der Wirbel stark reduziert, so dass diese nicht so starr miteinander verbunden sind wie bei anderen Säugetieren. Durch diese Flexibilität kommt die große Wendigkeit des Robbenkörpers zustande. Diese wirkt sich durch das fehlende Schlüsselbein (Clavicula) und den kleinen, parallel zur Wirbelsäule ausgerichteten Beckengürtel auch auf die Bewegungsfreiheit der Gliedmaßen aus. Alle vier Beine wurden im Laufe der Evolution zu Flossen umgewandelt. Oberarmknochen (Humerus), Elle (Ulna) und Speiche (Radius) sind im Vergleich zu anderen Raubtieren kürzer, aber kräftiger ausgeprägt, auch der Oberschenkelknochen (Femur) ist flach und breit, so dass eine effektive Kraftübertragung im Wasser ermöglicht wird. Jede der Flossen endet in fünf langen, abgeflachten Zehen, die durch Schwimmhäute miteinander verbunden sind; oft sind die erste und die fünfte Zehe verlängert. Eine weitere Spezialisierung der Flossen wurde vermutlich nur durch die fortbestehende Notwendigkeit, sich an Land fortzubewegen, verhindert. Fell und Fettschicht Geboren werden Robben meistens mit einem dichten Fell, das beim Älterwerden verschwindet und durch ein kurzes Haarkleid ersetzt wird. Nur die Seebären behalten auch als Alttiere ein auffälliges Pelzkleid, das aus einem dichten Unterfell und darüber herausragenden steifen Grannenhaaren besteht; Walrosse haben ein kurzes, wenig auffälliges Haarkleid. Bei Ohrenrobben wird das Fell zusammen mit der obersten Hautschicht über einen längeren Zeitraum hinweg, der bis zu einem Monat betragen kann, erneuert, während Hundsrobben diesen Häutungsprozess meist verhältnismäßig abrupt innerhalb weniger Tage vollziehen. Zum Schutz vor Auskühlung befindet sich unterhalb der Haut eine bei manchen Arten bis zu zehn Zentimeter dicke Fettschicht. Diese Schicht dient daneben als Nährstoffspeicher und trägt im Wasser zum Auftrieb bei. Sie ist bei Hundsrobben und Walrossen besonders ausgeprägt. Allerdings schützt sie nicht die durch eine besonders große Zahl von Blutgefäßen versorgten Flossen. Innere Organe Der Robbenmagen ist ein einfacher länglicher Schlauch und darauf eingerichtet, als Ganzes verschluckte Beute aufzunehmen. Sehr aufwendig und lang ist dagegen der Dünndarm, der bei Männchen der Südlichen See-Elefanten (Mirounga leonina) eine Länge von über 200 Metern erreichen kann; alle anderen Darmabschnitte sind dagegen verhältnismäßig kurz. Nicht mehr äußerlich sichtbar, weil weitgehend ins Körperinnere verlagert, sind die Hoden der Männchen; eine Ausnahme stellen lediglich die Walrosse dar, bei denen die Geschlechtsorgane besonders in der Paarungszeit gut zu erkennen sind. Auch die Zitzen der Weibchen liegen nicht mehr auf der Oberfläche: Da Jungtiere die Zitzen so nicht mehr mit dem Maul umfassen können, muss das Muttertier die Milch bei Bedarf aktiv ins Maul seines Jungen spritzen. Sinnesorgane Die Sinnesorgane der Robben müssen sowohl unter Wasser als auch an Land funktionieren und sind daher einander widerstrebenden Anforderungen ausgesetzt. Augen Die Augen sind verhältnismäßig groß und ermöglichen eine gute Unterwassersicht. An die oft geringe Lichtintensität unter Wasser sind sie durch eine stark vergrößerte Anzahl an Stäbchen in der Netzhaut angepasst, die im Gegensatz zu den Zapfen zwar keine Farbsicht ermöglichen, dafür aber wesentlich lichtempfindlicher sind. Das Empfindlichkeitsspektrum variiert mit dem Lebensraum: Das Maximum liegt bei tieftauchenden Arten wie zum Beispiel See-Elefanten (Mirounga) im blauen Bereich, ist aber etwa bei Seehunden (Phoca vitulina), die sich vornehmlich in Küstengewässern aufhalten, in Richtung Grün verschoben. Farbsicht ist bei Robben durch die eingeschränkte Zapfenanzahl nur in eingeschränktem Ausmaß möglich. Eine weitere Anpassung an die geringen Lichtverhältnisse ist das Tapetum lucidum, eine hinter der Netzhaut gelegene reflektierende Schicht, die Licht, das die Netzhaut durchquert hat, zurückwirft: So besteht die Möglichkeit, Licht, das beim ersten Passieren nicht wahrgenommen wurde, beim zweiten Mal zu registrieren. Dem Leben im Wasser ist nicht nur eine oft geringe Lichtintensität zu eigen, sondern auch eine andere Lichtbrechung: So hat die Hornhaut nahezu den gleichen Brechungsindex wie Wasser und fällt daher unter Wasser als Bestandteil des Abbildungsapparats aus. Als Ausgleich ist bei Robben die Augenlinse nahezu kugelförmig ausgebildet und besitzt daher eine wesentlich höhere Brechkraft. Weil in Luft Linse und Hornhaut lichtbrechend wirken, sind Robben hingegen an Land, wo der Sehsinn eine geringere Bedeutung hat, stark kurzsichtig. Dafür sind sie in der Lage, die hohen Lichtintensitäten, die etwa von sonnenbeschienenen Eisflächen ausgehen, zu tolerieren, indem sie die Pupille zu einem engen senkrechten Schlitz verengen. Die Hornhaut bildet den äußeren Abschluss des Auges. Sie wird beständig mit Tränenflüssigkeit benetzt, um Fremdkörper abzuwaschen und den direkten Augenkontakt mit Salzwasser zu verhindern. Anders als ihre nahen Verwandten besitzen Robben jedoch keine Tränenkanäle. Obwohl der Sehsinn auch für Robben eine große Bedeutung einnimmt, ist er nicht unersetzlich: Bei Seelöwen und Seebären, deren Männchen oft blutige Revierkämpfe durchführen, kommt es nicht selten zum Verlust des Augenlichts; die Tiere sind durch ihre Blindheit aber anscheinend wenig eingeschränkt und kommen relativ problemarm zurecht. Gehör Äußerlich sind die Ohren der Robben verkümmert oder nicht mehr existent; falls vorhanden, werden sie beim Tauchen verschlossen. Dennoch besitzen Robben ein exzellentes Gehör. Das Innenohr steht bei ihnen nur mit je einem einzigen Schädelknochen in Verbindung, wodurch die unterschiedslose Übertragung von Schallwellen durch den ganzen Schädel unterbunden wird; erst dadurch wird auch unter Wasser Richtungshören möglich. Die Auskleidung des Hörkanals und des Mittelohrs erlaubt beim Tauchen die Anpassung des Innendrucks. Der wahrgenommene Frequenzbereich unterscheidet sich je nach Medium: Im Wasser können Robben wesentlich höhere Töne wahrnehmen als der Mensch; dafür ist das Gehör an Land bei etwa gleichem Wahrnehmungsspektrum weniger empfindlich. Geruchs- und Tastsinn Der Geruchssinn ist wie bei den meisten Landraubtieren sehr gut entwickelt; da die schlitzartigen Nasenöffnungen unter Wasser geschlossen sind, funktioniert er aber nur an Land. Er spielt insbesondere bei Begegnungen mit Artgenossen eine Rolle: So wird die Mutter-Kind-Beziehung oft durch den Geruchssinn aufrechterhalten; bei vielen Ohrenrobben dient er den Männchen dazu, die Empfängnisbereitschaft der Weibchen zu ermitteln. Für die Orientierung im Wasser ist ein weiterer Sinn bedeutsam: der hoch entwickelte Tastsinn der in horizontalen Längsreihen auf der „Schnauze“ angeordneten Barthaare (Vibrissen). Jedes dieser Haare entspringt in einer reich mit Nervenendigungen und Blutgefäßen versorgten Bindegewebekapsel. Vibrissae können Druck- und Strömungsänderungen erspüren und dienen den Tieren vermutlich auch zum Abschätzen ihrer Geschwindigkeit. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Tasthaare besonders empfindlich gegenüber niederfrequenten Schwingungen sind, die von der Bewegung von Beutetieren herrühren. Tatsächlich können Robben, die ihre Tasthaare verloren haben, selbständig keine Fische mehr fangen und müssen daher verhungern. Schließlich werden Vibrissae zur Kommunikation etwa bei Rangordnungskonflikten eingesetzt – aufgestellte Tasthaare signalisieren häufig die Bereitschaft zur Aggression. Thermoregulation Wie alle Säugetiere sind Robben endotherm, das heißt, ihr Körper weist eine nahezu konstante Innentemperatur auf. Um eine Auskühlung im Wasser und zugleich eine Überhitzung an Land zu vermeiden, haben die Tiere zahlreiche Anpassungen entwickelt. Bereits die Körpergröße, die jene der landlebenden Raubtiere meist um ein Vielfaches übertrifft, verringert durch das wesentlich günstigere Verhältnis von wärmeproduzierendem Körpervolumen zu wärmeabgebender Körperoberfläche eine Auskühlung (siehe A/V-Verhältnis) und kann als Adaptation an das Medium Wasser gewertet werden. Die bereits erwähnte Fettschicht direkt unter der Haut ist wegen ihrer geringeren Wärmeleitfähigkeit zudem ein guter, von der Wassertiefe unabhängiger Isolator. Daneben tritt bei den Seebären das wasserdichte Fell, das vor allem durch darin gelöste Luftbläschen wärmerückhaltend wirkt. Die isolierende Luftschicht wird allerdings durch den mit der Wassertiefe zunehmenden Druck komprimiert und verliert daher bei tiefen Tauchgängen ihre Wirksamkeit. Robben sind auch in der Lage, den Blutfluss in ihre Gliedmaßen zu regulieren. So können sie die Energieabgabe über die Flossen unter kalten Bedingungen so minimieren, dass die Temperatur knapp oberhalb der Gefriertemperatur bleibt. Spezielle Querverbindungen zwischen arteriellen und venösen Gefäßen, die arteriovenösen Anastomosen (AVA), erlauben umgekehrt in warmer Umgebung einen verstärkten Blutfluss in oberflächennahen Hautschichten. Bei Seebären sind sie nur in den Flossen vorhanden und der Wärmeverlust über diese Gliedmaßen ist somit die einzige Abkühlungsmöglichkeit. An Land schlagen die Tiere daher oft zusätzlich mit den Flossen, um den Energieaustausch mit der Umgebung durch den erzeugten Luftstrom zu maximieren. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Flossen mit Urin zu benetzen, um dem Körper so durch die Verdunstungskälte Energie zu entziehen. Sowohl Hundsrobben als auch Walrosse besitzen dagegen über die ganze Körperoberfläche hinweg arteriovenöse Anastomosen, so dass sie die Blutzirkulation und damit die Wärmeabgabe oder -aufnahme gezielt regulieren können. Auf diese Weise sind die Tiere in der Lage, sich selbst bei niedrigen Lufttemperaturen durch die bei der Absorption von Sonnenstrahlung freiwerdende Energie aufzuwärmen. Bei sonnenbadenden Walrossen lässt sich dieser Effekt wegen der fehlenden Behaarung anhand der rosaroten Hautfärbung besonders deutlich erkennen. Daneben greifen manche Robben auch auf verhaltensbasierte Thermoregulation zurück: Bei drohender Überhitzung begeben sich etwa Mönchsrobben (Monachus) zurück ins Wasser. Dazu zählt auch die Tatsache, dass die energieintensive Häutung, die mit vermindertem Auskühlungsschutz verbunden ist, meist an Land stattfindet, wobei sich oft zahlreiche Tiere hautnah aneinanderlegen, um die Wärmeabgabe an die Umgebung zu vermindern. Fortbewegung im Wasser und Anpassungen an das Tauchen Im Wasser spielen Robben die Vorteile ihres Körperbaus aus. Der Vortrieb wird dabei bei den Ohrenrobben von den Vorder- und bei Walrossen und Hundsrobben von den Hinterflossen erzeugt. Sie haben dabei einige der energieeffizientesten Fortbewegungsmethoden des Tierreichs entwickelt. Obwohl Robben zum Luftholen an die Oberfläche kommen müssen, können sie eine beträchtliche Zeit unter Wasser bleiben. Beim Tauchen kollabieren die Lungen, die darin enthaltene Luft wird durch Mund oder Nase ausgestoßen. Auf diese Weise befindet sich beim Tauchen kaum freies Gas im Robbenkörper und kann daher auch nicht wie bei menschlichen Tauchern beim Auftauchen zur Bildung von Blasen im Blut führen. Der gesamte während des Tauchvorgangs verfügbare Sauerstoff muss also in gebundener Form vorliegen. Das Blutvolumen und die Gesamtzahl roter Blutkörperchen ist bei Robben ebenso erhöht wie deren Gehalt an Hämoglobin, was zu einer deutlich gesteigerten Sauerstoffspeicherkapazität im Vergleich zu rein terrestrischen Säugetieren führt. Das Muskelgewebe der Tiere ist zudem gegenüber Landsäugetieren deutlich mit dem sauerstoffspeichernden Protein Myoglobin angereichert und toleriert große Mengen an Kohlenstoffdioxid (CO2). Daneben verlangsamt sich der Herzschlag der Robben beim Tauchen erheblich. So kann sich die Herzaktivität von normalen hundert Schlägen pro Minute auf bis zu vier Schläge verringern, während gleichzeitig die Blutversorgung nicht unmittelbar lebensnotwendiger Organe eingeschränkt und die Körpertemperatur herabgesetzt wird. Diese Maßnahmen dienen der Verringerung des Sauerstoffverbrauchs während des Tauchens. Die Reduktion des Herzschlags und die Vasokonstriktion sind jedoch meist nicht so stark ausgeprägt, wie dies bei einem regulären Tauchreflex zu erwarten wäre. Darüber hinaus können Robben ihren Herzschlag in Erwartung der voraussichtlichen Tauchdauer regulieren. Trotz diesen Anpassungen zur Sauerstoffspeicherung und Rationierung während des Tauchens, sind cerebrale Neuronen und Herzmuskelzellen der Robben regelmäßig längeren Phasen der Hypoxie ausgesetzt. Neuronen aus dem Gehirn der Klappmütze beispielsweise überdauern über zehn Minuten unter hypoxischen Bedingungen ohne langfristige Schädigungen, während Neuronen von Mäusen bereits nach fünf Minuten schwere Schädigungen davontragen können. Die grundlegenden Mechanismen dieser Hypoxietoleranz sind bislang weitgehend unbekannt. Manche Robben wie See-Elefanten können durch diese Anpassungen bis zu zwei Stunden am Stück unter Wasser bleiben, ohne auftauchen zu müssen, und dabei Tiefen von bis zu 1500 Metern erreichen. Die meisten Arten erreichen solche Rekordwerte allerdings nicht. Dies hängt in erster Linie mit dem größeren Körpervolumen der See-Elefanten im Vergleich zu diesen Arten und der dadurch größeren Speicherkapazität für Sauerstoff zusammen. Die meisten Tauchgänge der Robben liegen innerhalb der aeroben Tauchgrenze der entsprechenden Art. Dadurch kann die Zeitdauer minimiert werden, für die sich eine Robbe nach jedem Tauchgang an der Wasseroberfläche erholen muss. Auf diese Weise können Robben bis zu 90 % ihres Tages unter Wasser verbringen. Fortbewegung an Land An Land wirken Robben eher unbeholfen. Hier bestehen Unterschiede zwischen den Ohrenrobben und Hundsrobben. Während erstere kräftige Hinterextremitäten behalten haben, mit denen sie den Körper stützen und auch Aktivitäten wie Körperpflege durchführen können, sind die Hinterbeine der Hundsrobben an Land weitgehend nutzlos, so dass sie auf dem Bauch „robben“ und sich vorwärts ziehen müssen. Verbreitung und Lebensraum Nahezu alle Robben bewohnen das Meer. Da sie zu vielen Tätigkeiten immer wieder an Land kommen müssen, entfernen sie sich aber nicht allzu weit von der Küste und sind daher nicht auf hoher See anzutreffen. Nur eine kleine Zahl von Robben tritt (1) fakultativ, (2) mit Präferenz als Unterart oder sogar (3) permanent als Endemit in Binnengewässern auf: (1) Der gemeine Seehund, überwiegend ein Meerestier, lebt in Kanada auch an Seeufern. (2) Zwei Unterarten der Ringelrobbe kommen hauptsächlich in Süßgewässern vor, die Ladogaringelrobbe (P. h. ladogensis) im russischen Ladogasee und die Saimaa-Ringelrobbe (P. h. saimensis) im finnischen Saimaa-See. (3) Zwei endemisch vorkommende Arten leben ausschließlich außerhalb des Meeres, die Baikalrobbe (P. sibirica) und die Kaspische Robbe (P. caspica). Die wahrscheinlichste Erklärung sind Binnenlandwanderungen der arktischen Ringelrobbe (Pusa hispida) während einer Kaltzeit etwa vor 400.000 Jahren, was ihrer genetischen Distanz zur Baikalrobbe entspricht. Dazu müssten die Vorfahren der Baikalrobbe 3800 km der Angara folgend von der Arktis zurückgelegt haben. Allerdings bestand während starker Kaltzeiten immer wieder eine Verbindung zum (derzeit nicht existierenden) Gletscherstausee, genannt Komisee, zuletzt vor etwa 60.000 bis vor 50.000 Jahren. Im Fall der Kaspischen Robbe besteht im jetzigen Interstadial keine Flussverbindung zwischen dem Kaspischen Meer und dem Arktischen Ozean, wohl gab es aber eine Verbindung zum Schwarzen Meer. Der Großteil der Robben lebt in polaren und subpolaren Breiten. Die Meere der Arktis und Antarktis haben einen bemerkenswerten Arten- und Formenreichtum. Hier bilden viele Robben große Kolonien an den Küsten unbewohnter Inseln. Hingegen nimmt die Artenzahl zu den gemäßigten Meeren hin schnell ab, und in den Tropen gibt es fast keine Robben. Auch hier gibt es allerdings Ausnahmen, zum Beispiel die Mönchsrobben und den Galápagos-Seebär. Großregionen, in denen es überhaupt keine Robben gibt, sind die Küsten des tropischen Afrikas, die asiatischen Küsten des Indischen Ozeans und die Inselwelt des westlichen Pazifik. Kennzeichnend für fast alle Verbreitungsgebiete ist, dass die Wassertemperatur ganzjährig unterhalb von 20 °C bleibt; die Mönchsrobben bilden die einzige Ausnahme von dieser Regel. An den Küsten von Nord- und Ostsee gibt es nur drei Robbenarten: den Seehund, die Kegelrobbe und die Ringelrobbe. Der Seehund ist in der Nordsee allgegenwärtig, in der Ostsee aber eine extreme Rarität; Kegelrobben-Kolonien findet man auf deutschem Boden auf dem Jungnamensand westlich von Amrum sowie auf Helgoland, außerhalb der Jungenaufzucht an allen Nordseeküsten sowie selten an vorpommerschen Ostseeküsten; die Ringelrobbe lebt im Finnischen und Bottnischen Meerbusen der Ostsee und gelangt nicht an deutsche Küsten. Lebensweise Im Gegensatz zu Walen und Seekühen, die vollkommen zum Wasserleben übergegangen sind, führen Robben eine amphibische Lebensweise. Die Paarung und die Jungenaufzucht findet an Land statt. Obwohl Robben auch an der Wasseroberfläche schlafen können, kommen sie oft zum Ruhen an die Küste. Ernährung Alle Robben sind Fleischfresser. Die Mehrzahl der Arten ernährt sich dabei von Fischen. Einige haben aber besondere Lebensweisen entwickelt: So bildet Krill die Nahrungsgrundlage des Krabbenfressers, das Walross sucht den Meeresgrund nach Schnecken und Muscheln ab, Tintenfische bilden einen Teil der Nahrung von See-Elefanten, während der Seeleopard Jagd auf Pinguine und kleinere Robben macht. Kleine Beutetiere werden meist bereits unter Wasser als Ganzes verschluckt, während größere Nahrung an die Wasseroberfläche gebracht wird, wo gegebenenfalls einzelne Stücke abgebissen werden. Besonders Jungtiere sind auf ein reichhaltiges Nahrungsangebot angewiesen, da sie aufgrund ihrer geringeren Körpergröße ein ungünstiges Verhältnis von Körperoberfläche zu -volumen haben und daher stärkere Wärmeverluste ausgleichen müssen. Gesunde ausgewachsene Tiere sind dagegen nicht zuletzt durch ihre unter der Haut gelegene Fettschicht in der Lage, auch längere Fastenzeiten zu überstehen. Gastrolithen sind aus den Mägen von verschiedenen Robben- und Seelöwenarten bekannt. Die Funktion der Magensteine ist noch weitgehend unklar, plausibel sind sowohl die Zerkleinerung der Nahrung im Magen als auch die Verringerung des Auftriebs im Wasser. Sozialverhalten Die meisten Robben leben gesellig. Einzelgängerische Arten wie die Ross-Robbe sind die Ausnahme. Vor allem zur Jungenaufzucht finden sich Robben zu Kolonien zusammen, die in der Größe von einigen Individuen (Kegelrobbe) bis zu mehreren Millionen Tieren (Südliche Seebären) reichen können. Allerdings sind sehr große Kolonien infolge der massenhaften Abschlachtungen voriger Jahrhunderte selten geworden. Lautverhalten Robben kommunizieren lautlich mittels Klicklauten und singendem Pfeifen. Größere Robben entwickeln ein breites Spektrum von Lauten wie ein lang gezogenes tiefes Dröhnen. Von einer Robbenart (erstmals wahrgenommen bei dem Seehund Hoover, Boston Aquarium) ist bisher bekannt, dass sie die Laute des Menschen nachahmt. Fortpflanzung Die Fortpflanzungszeit liegt typischerweise im Frühling oder Frühsommer. Bei den meisten Arten etablieren die Männchen Territorien, von denen sie Konkurrenten fernzuhalten versuchen. Bei den dabei auftretenden Rivalenkämpfen haben schwächere Männchen unweigerlich das Nachsehen, so dass ein dominantes Männchen meist mehrere Partnerinnen für sich reklamieren kann. Die meist vom Vorjahr trächtigen Weibchen treffen manchmal um Wochen später als die Männchen in der Kolonie ein. Sie suchen sich dort die besten Plätze für die Aufzucht ihres Nachwuchses aus, die in der Regel von den durchsetzungsstärksten Männchen besetzt sind; dort kommt ihr Junges zur Welt. Hundsrobben säugen es je nach Art für einige Tage oder mehrere Wochen und paaren sich dann nach der Entwöhnung mit dem Besitzer des Territoriums. Die Beziehung zwischen Mutter und Jungtier ist zu diesem Zeitpunkt praktisch beendet. Bei Ohrenrobben bleibt der Kontakt dagegen über die Paarung der Mutter hinaus bestehen, die meist etwa eine Woche nach der Geburt ihres Nachwuchs stattfindet. Dieser wird erst nach etwa vier bis sechs Monaten selbstständig, kann aber gelegentlich sogar noch nach der Geburt des nächsten Jungen mit Muttermilch versorgt werden. Nach der Befruchtung entwickelt sich der Embryo nur bis zum Blastozysten-Stadium, einer noch undifferenzierten Hohlkugel aus Zellen. Erst nach einer Periode der Keimruhe nistet sich die Blastozyste in der mütterlichen Gebärmutterwand ein und bildet eine Plazenta aus. Nur durch dieses System können Robbenweibchen Geburt und erneute Befruchtung in demselben Zeitabschnitt bewerkstelligen. Die Tragzeit beträgt bei Robben je nach Art acht bis fünfzehn Monate. Alle Arten bringen in der Regel ein Junges zur Welt, das entweder mit dem Kopf oder mit dem Schwanz voraus geboren wird. Zwillingsgeburten kommen vor, sind aber sehr selten; die Milch der Mutter reicht dann auch fast nie zur Aufzucht beider Tiere. Neugeborene besitzen ein spezielles flaumiges Geburtsfell, das Lanugo genannt wird und sich oft von der Fellfarbe der erwachsenen Tiere unterscheidet. Einige Hundsrobben-Arten wechseln es allerdings bereits in der Gebärmutter, während die meisten Ohrenrobben erst mit zwei bis drei Monaten ihr Jungenkleid ablegen. Alle Jungtiere haben noch keine ausreichende Fettschicht, um Auftrieb und Wasserabweisung zu gewährleisten. Obwohl sie theoretisch von Anfang an schwimmen könnten, gehen sie daher erst im Alter von einigen Wochen erstmals ins Wasser. Da die Jungtiere am Anfang ihres Lebens weitgehend schutzlos sind, geht das Wachstum sehr schnell vonstatten. Fressfeinde und Lebenserwartung Zu den Feinden der Robben gehören vor allem Haie und Schwertwale. Letztere haben sich in Patagonien so auf die Robbenjagd spezialisiert, dass sie sich sogar auf den Strand werfen, um die fliehenden Robben zu erbeuten. In der Arktis tritt der Eisbär als wichtiger Feind der Robben in Erscheinung, in der Antarktis der Seeleopard, der selbst eine Robbenart ist, die sich auf die Jagd auf ihre Verwandten spezialisiert hat. Die meisten Arten haben eine Lebenserwartung von etwa dreißig Jahren. Das Walross wird oft älter als vierzig, viele Ohrenrobben nicht älter als zwanzig Jahre. Bei den in Herden lebenden Robben sterben die Männchen oft sehr viel früher als die Weibchen, weil sie sich bei den Revierkämpfen verausgaben oder schwere Verletzungen zuziehen. Auch die kleineren Robbenarten haben theoretisch eine hohe Lebenserwartung – die Seehunde zum Beispiel über 30 Jahre – die sie aber wegen natürlicher Feinde und menschlicher Einflüsse selten ausschöpfen können. Stammesgeschichte Moderne Arten Traditionell wurden Robben entweder als eine eigenständige Ordnung angesehen oder sie wurden als Unterordnung der Wasserraubtiere den Landraubtieren gegenübergestellt. Zumindest die letztere Einordnung ist heute unüblich. Die Robben haben sich aus Landraubtieren entwickelt, genauer gesagt aus Hundeartigen; sie sind daher auch innerhalb der Hundeartigen anzusiedeln. Aufgrund morphologischer Untersuchungen gingen manche Zoologen noch in den 1990ern davon aus, dass die Robben zwei verschiedene Entwicklungslinien bilden. So meinte man, dass die Ohrenrobben von bärenähnlichen Ahnen und die Hundsrobben von otterartigen Vorfahren abstammten. Demnach hätten sich die beiden Robbengruppen unabhängig voneinander entwickelt. Dieser Hypothese folgend wären Robben polyphyletisch, also ein reines Formtaxon, das keine Berechtigung als systematische Gruppe der Säugetiere hätte. In molekulargenetischen Analysen wurde allerdings seit den 1990ern diese Hypothese zurückgedrängt. Olaf R. P. Bininda-Emonds und A.P. Russell führten 1996 starke Belege für eine Monophylie der Robben an; spätere Studien haben ihre Ergebnisse bestätigt. Seit dem 19. Jahrhundert wird eine Verwandtschaft der Robben mit den Bären und ihren Verwandten für wahrscheinlich gehalten. Allerdings ist die genaue Position der Robben im zoologischen System noch unklar, so dass auch die Schwestergruppe der Robben noch nicht zweifelsfrei bekannt ist. Bei Malcolm C. McKenna und Susan K. Bell tauchen die Robben als Schwestergruppe der Bären auf und dies innerhalb eines übergeordneten Taxons Ursida: Die Amphicyonidae sind eine ausgestorbene Gruppe, die vom Eozän bis zum Miozän lebte; die Ursoidea umfassen die Bären und die ebenfalls ausgestorbenen Hemicyonidae (Eozän bis Pliozän); und Phocoidea ist der von Malcolm C. McKenna und Susan K. Bell synonym für Pinnipedia verwendete Begriff. Die hier gezeigte Hypothese ist am weitesten verbreitet, doch gibt es auch widersprechende Ansichten, in denen beispielsweise die Marder oder der Kleine Panda als Schwestergruppen der Robben angesehen werden. Fossile Vertreter Die ersten fossil erhaltenen robbenartige Tiere stammen aus dem späten Oligozän vor etwa 27 bis 25 Millionen Jahren, darunter der otterähnliche Puijila und die Gattungen Enaliarctos und Pacificotaria, die in die Familie Enaliarctidae gestellt werden. Diese lange Zeit rätselhafte Gruppe wurde in jüngerer Zeit durch Funde vollständiger Skelette besser bekannt. Die Tiere der Gattungen Enaliarctos und Pacificotaria waren bereits robbenähnlich, hatten aber noch zum Laufen an Land geeignete Vorder- und Hinterbeine. Ob die Enaliarctidae oder die ebenfalls ausgestorbenen Tiere der Gattung Pteronarctos bereits echte Robben waren, ist eine Frage der Definition. A. Berta und A. R. Wyss verneinten dies 1994 und fassten Robben und Enaliarctidae zu einem höheren Taxon Pinnipedimorpha zusammen: Der biogeografische Ursprung der Robben lag sehr wahrscheinlich im Nordpazifik, vermutlich an der Westküste des nordamerikanischen Kontinents. Aus diesem Gebiet stammen vermutlich auch die modernen Taxa der Ohren- wie Hundsrobben, die erstmals im Miozän auftraten. Durch Fossilien ist dies allerdings nur für die Ohrenrobben und Walrosse belegt, deren früheste Arten allesamt aus nordpazifischen Fundstätten stammen; die ersten Hundsrobben-Fossilien sind dagegen erst aus ehemals atlantischen Gewässern vor der Ostküste der USA bekannt. Systematik Nach dem Aussterben des Japanischen Seelöwen und der Karibischen Mönchsrobbe existieren noch 34 rezente Robbenarten. Es werden traditionell drei Familien unterschieden: Hundsrobben (Phocidae) besitzen keine äußerlich sichtbaren Ohren; ihre Beinflossen sind nach hinten ausgerichtet, so dass sie bei der Fortbewegung an Land nicht zum Einsatz kommen können. Im Wasser liefern sie im Wechselschlag dagegen den Vortrieb der Tiere. Nach dem Aussterben der Karibischen Mönchsrobbe existieren noch 18 Arten. Die Hundsrobben umfassen eine Vielzahl kleinerer Robben wie etwa Seehunde oder Kegelrobben, aber auch die riesigen See-Elefanten. Ohrenrobben (Otariidae) haben kleine äußerliche Ohren und können ihre Beinflossen nach vorne unter den Körper drehen, um sich so besser an Land bewegen zu können. Bei ihnen sind im Wasser die Vorderflossen die Hauptquelle des Vortriebs. Die 15 Arten der Gruppe sind vor allem große koloniebildende Robben wie Seelöwen oder Seebären. Walrosse (Odobenidae), heute nur noch durch eine Art vertreten, zeichnen sich in erster Linie durch die auffälligen Stoßzähne, die stark vergrößerten Eckzähne des Oberkiefers, aus. Sie können ihre Hinterflossen, die eher jenen der Hundsrobben ähneln, wie Ohrenrobben unter den Körper stellen. Die Ohrenrobben werden wegen ihrer sichtbaren äußeren Ohren gelegentlich als die „primitivere“ Gruppe angesehen, doch die fossilen Belege der Hundsrobben sind ebenso alt wie die der Ohrenrobben. Ohrenrobben und Walrosse werden meistens als eng verwandte Kladen angesehen, obwohl die Walrosse in zahlreichen Merkmalen zwischen beiden Gruppen vermitteln. Malcolm C. McKenna und Susan K. Bell haben in Widerspruch zu dieser weit verbreiteten Ansicht die Walrosse als Unterfamilie der Hundsrobben eingestuft. Dies ist jedoch eine Minderheitensicht, denn die meisten Zoologen sehen starke Belege für ein gemeinsames Taxon von Ohrenrobben und Walrossen, manchmal Otarioidea genannt: Systematik der Robben Menschen und Robben Die Beziehung zwischen Menschen und Robben ist stark von der Region abhängig, in der sich eine menschliche Kultur befand. Sie begann sehr wahrscheinlich schon in der Altsteinzeit, aus der Gravuren in Robbenknochen und -zähnen bekannt sind. Aus der Kultur der Eskimos sind Robben bis heute kaum wegzudenken, bilden sie doch nicht nur eine bedeutende Nahrungsquelle, sondern liefern auch Haut für Leder und das Robbenfell für Pelze. Früher wurden auch Knochen zur Werkzeugherstellung, Sehnen für Bogen und Fett für wärme- und lichtspendende Öllampen genutzt. Auch anderen Völkern dienten Robben als Nahrungsgrundlage. So erlegten die Māori der Südinsel Neuseelands und die Aborigines australischer Südküsten Seebären und nutzten sie in ähnlich vielfältiger Weise. Seebären waren auch eine beliebte Beute der Ureinwohner des südamerikanischen Feuerland. Dagegen hatten die antiken Reiche des Mittelmeerraums wenig Berührung mit Robben, da hier nur eine Art, die Mittelmeer-Mönchsrobbe, beheimatet ist, die wahrscheinlich schon im Altertum eine Seltenheit war. Aristoteles lieferte eine Beschreibung dieser Robbe, die somit der früheste in schriftlicher Überlieferung erhaltene Vertreter der Tiergruppe überhaupt ist. Dass an Küsten liegende Mönchsrobben die Vorlage für die Sirenen der griechischen Mythologie waren, ist denkbar, bewegt sich aber im Bereich der Spekulation. Keine der angesprochenen Subsistenz-Jagden hatte vermutlich einen wesentlichen langfristigen Einfluss auf die Bestände der betroffenen Robbenpopulationen. Robben können an Plastiktüten sterben, weil diese für Quallen gehalten werden. Moderne Massenjagd Die große Zeit der Robbenjäger begann im späten 18. Jahrhundert, obwohl schon seit dem 16. Jahrhundert Schiffe einzig zum Zweck des Schlachtens von Robben ausgesandt wurden. Im gesamten 19. Jahrhundert waren im Nord- und Südpolarmeer Schiffe unterwegs, die an Inseln anlegten, um die dort in Kolonien lebenden Großrobben zu erschlagen. Besonders betroffen waren dabei die Seebären, deren Fell man als besonders wertvoll erachtete. Die Robbenjagden erreichten ein Ausmaß, das unter den Ausrottungen im Tierreich seinesgleichen sucht. So lagerten an den Juan-Fernández-Inseln in jedem Sommer etwa fünfzehn Schiffe gleichzeitig, deren Besatzungen jährlich 250.000 an den Küsten lagernde Seebären erschlugen und somit eine der größten Tierkolonien der Welt binnen fünfzehn Jahren restlos vernichteten. Der Antarktische Seebär, der zu etlichen Millionen Tieren an den Küsten subantarktischer Inseln beheimatet war, wurde von kreuz und quer durch das Südpolarmeer fahrenden Robbenjägern zwischen 1800 und 1830 beinahe ausgerottet. Die Südlichen Shetlandinseln wurden beispielsweise erst 1819 entdeckt, doch schon zwei Jahre später waren die fünfhunderttausend hier lebenden Seebären bis auf das letzte Exemplar getötet. Dass bei diesen Ausrottungsexzessen nur eine Art, die Karibische Mönchsrobbe (Monachus tropicalis), ausgestorben ist, ist eine erstaunliche Tatsache. Allerdings sind fast alle Robben in ihrem Bestand stark zurückgegangen, und manche Arten, die früher gewaltige Kolonien bildeten, leben heute nur noch in winzigen Grüppchen an den Küsten. Heute werden meistens andere Robbenarten getötet, denn die letzten verbliebenen Seebären stehen größtenteils unter Schutz. Es ist vor allem die Sattelrobbe, deren Jungtiere zur Gewinnung des Fells getötet werden. Diese Tötungen werden alljährlich von Protesten von Tierschützern begleitet, die öffentlichkeitswirksam mit den Gesichtern von Robbenbabys werben. Die traditionelle Jagd erwachsener Tiere durch die Eskimos wird im Gegensatz dazu meist auch von Naturschützern akzeptiert. Die Befürworter rechtfertigen die Notwendigkeit zur Dezimierung der Robben unter anderem mit dem Argument, dass eine nicht kontrollierte Robbenpopulation die Fischbestände plündere; Meeresbiologen gehen allerdings davon aus, dass der Rückgang der Fischschwärme nicht von den wenigen verbliebenen Robben, sondern von den Hochseeflotten der Industriestaaten verursacht wird. 1972 wurde als Zusatzprotokoll zum Antarktisvertrag das Übereinkommen zur Erhaltung der Antarktischen Robben (Convention on the Conservation of Antarctic Seals), kurz (CCAS) geschlossen. Am 5. Mai 2009 verabschiedete das Europaparlament ein Handelsverbot für zahlreiche aus Robben hergestellte Produkte wie Robbenfelle sowie unter Verwendung von Robbenöl hergestellte Omega-3-Kapseln. Eng begrenzte Ausnahmen gestatten einen Handel mit durch Eskimos erlegten Robben, für die ein Herkunftsnachweis erforderlich wird. Das Verbot sollte vor der nächsten Jagdsaison 2010 in Kraft gesetzt werden. Ein Hauptargument ist dabei nicht die wirtschaftliche Nutzung der Robbenbestände an sich, sondern die als nicht tierschutzgerecht eingestufte Art und Weise, in der die Tiere erschlagen werden. Die hauptsächlich am Handel mit diesen Produkten beteiligten Staaten Kanada und Norwegen legten bei der Welthandelsorganisation Beschwerde dagegen ein und erreichten damit, dass das Embargo mindestens bis zum 7. September 2010 ausgesetzt war. In der EU gilt unmittelbar die des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 mit einem Verbot des Inverkehrbringens für Robben (und Teile von ihnen wie Felle) und für Erzeugnisse aus Robben (wie Öle). Das Inverkehrbringen ist hier definiert als Einfuhr in den gemeinsamen Markt, durch die ein entgeltliches Bereitstellen für Dritte erfolgt; es sind einige Ausnahmen vorgesehen, die an die Art der Robbenjagd und ihren Nachweis anknüpfen. Die Durchführung des Verbots regelt in Deutschland das Tiererzeugnisse-Handels-Verbotsgesetz. Zoos und Zirkusse Auch in Zoos und gelegentlich noch in Zirkussen werden Robben gehalten. Oft sind im Zoo die Fütterungen der Robben besondere Zuschauermagneten. Berühmt geworden ist das Walross Antje aus dem Tierpark Hagenbeck, das zum Logo des NDR wurde. In Zirkussen, Delfinarien und anderen Tiershows wird bevorzugt der Kalifornische Seelöwe gezeigt, der sich zu Kunststücken mit Bällen und Reifen dressieren lässt. Viele Tierschützer bemängeln allerdings, dass sich Robben im Zoo nicht artgerecht halten lassen – dies gilt vor allem für die häufig in Zoos gehaltenen Ohrenrobben, die in freier Wildbahn in großen Kolonien leben und bei denen Revierkämpfe zum Verhaltensrepertoire gehören. Insbesondere die Wasserbecken, in denen die Tiere gehalten werden, gelten als zu flach, um den Tieren annähernd natürliche Gegebenheiten zu bieten; daneben ist das Wasser oft gechlort. Militärische Nutzung Relativ neu sind die Bemühungen der US-amerikanischen Marine, dressierte Seelöwen in die militärische Planung einzubeziehen. Die Tiere werden darauf trainiert, Seeminen aufzuspüren, vor feindlichen Tauchern zu warnen und in tiefem Wasser verloren gegangene Objekte wiederzubeschaffen. Ähnliche Experimente führte die schwedische Marine im Zweiten Weltkrieg durch. Literatur Bernhard Grzimek: Grzimeks Tierleben. Band 12 (Säugetiere 3). Bechtermünz, Augsburg 1979, 2000, ISBN 3-8289-1603-1. C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals. Above the Species Level. Columbia University Press, New York 2000, ISBN 0-231-11013-8. Rüdiger Wandrey: Die Wale und Robben der Welt. Franckh-Kosmos, Stuttgart 1997, ISBN 3-440-07047-6. A. Berta, A. R. Wyss: Pinniped phylogeny. In: Contributions in marine mammal paleontology honoring Franck C. Whitmore, Jr. Proceedings of the San Diego Society of Natural History. 29, 1994, S. 33–56. Olaf R. P. Bininda-Emonds, A. P. Russell: A morphological perspective on the phylogenetic relationships of the extant phocid seals (Mammalia: Carnivora: Phocidae). In: Bonner zoologische Monographien. 41, 1996, S. 1–256. Einzelnachweise Weblinks Seal Conservation Society Rekonstruktion eines Enaliarctos Wie Walross, Seehund und Seelöwe zu ihren Flossen kamen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Norderney
Norderney
Norderney (ostfriesisches Plattdeutsch: Nördernee []) ist eine der Ostfriesischen Inseln in der Nordsee, die dem Festland des Landes Niedersachsen zwischen der Ems- und Wesermündung in der Deutschen Bucht vorgelagert sind. Mit einer Fläche von 26,29 Quadratkilometern ist die Düneninsel Norderney nach Borkum die zweitgrößte Insel dieser Inselgruppe. Die Stadt Norderney, eine Einheitsgemeinde, umfasst die gesamte Insel Norderney. Sie gehört nach der Gebietsreform in Niedersachsen von 1978 zum Landkreis Aurich und ist mit Einwohnern die der Bevölkerung nach größte Gemeinde der Ostfriesischen Inseln. Zur Gemeinde, der im Jahr 1948 das Stadtrecht verliehen wurde, gehören neben dem Ortskern von Norderney die beiden Stadtteile Fischerhafen (der Hafen und das angrenzende Gewerbegebiet) sowie Nordhelm, eine ehemalige Kasernensiedlung. Die drei Stadtteile liegen in enger Nachbarschaft im äußersten Westen der Insel. Die restliche Fläche der Insel ist kaum bewohnt und bebaut. Ausnahmen bilden wenige Gebäude um den in der Inselmitte stehenden Leuchtturm Norderney sowie der Inselgolfplatz mit den angrenzenden Siedlungen Am Leuchtturm und Grohde im Zentrum der Insel und der nahe gelegene Flugplatz Norderney, die westlich davon gelegene Jugendherberge Norderney Dünensender sowie die östlich davon gelegenen ehemaligen Gebäude der Staatsdomänen Eiland und Tünnbak. Der Hauptwirtschaftszweig des am 3. Oktober 1797 zur ersten Königlich-Preußischen Seebadeanstalt an der deutschen Nordseeküste ernannten heutigen Staatsbades und Luftkurortes ist der Fremdenverkehr. Das Nordseeheilbad verfügt über vier Badestrände. 2007 wurden mehr als 400.000 Tages- und Kurgäste gezählt, in den Jahren 2008 und 2009 wurden insgesamt über drei Millionen Übernachtungen registriert; davon in größeren Beherbergungsbetrieben rund 1,6 Millionen Übernachtungen (2019). Östlich der Stadtgrenze gehören insgesamt 85 Prozent der Inselfläche zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Geographie Lage und Umgebung Norderney ist eine der Ostfriesischen Inseln, die im Nordwesten Deutschlands in der Deutschen Bucht einige Meter über dem Meeresspiegel liegen. Die sieben bewohnten Inseln und die fünf unbewohnten größeren Sandbänke, Sandplaten und Hochsände sind dem Festland des Bundeslandes Niedersachsen vor der Küste der Region Ostfriesland vorgelagert. Die Insel gehört zum Landkreis Aurich. Von Westen aus gesehen ist Norderney die dritte der bewohnten Ostfriesischen Inseln. Norderney erstreckt sich bei einer Gesamtfläche von 26,29 Quadratkilometern in einer Länge von rund 14 Kilometern in Ost-West-Richtung. An den breitesten Stellen am Westkopf und in der Inselmitte dehnt sich die Insel bis zu 2½ Kilometer in Nord-Süd-Richtung aus. Sie ist damit nach der Fläche die neuntgrößte der deutschen Inseln und nach Borkum die zweitgrößte der Ostfriesischen Inseln. Auf der gesamten Nordseite der Insel erstreckt sich ein Sandstrand von rund 14 Kilometern Länge, der im Stadtgebiet von einem Inseldeckwerk gesäumt ist, das zum Schutz der Insel vor Hochwasser und Sturmfluten und als Fußgängerpromenade dient. Die im westlichen Teil gelegene Stadt heißt ebenfalls Norderney und ist im Vergleich die städtischste der sieben ostfriesischen Inselgemeinden. Die Größe des Stadtgebiets beträgt ein Fünftel der Inselfläche und hat zusammen mit dem Gewerbegebiet eine maximale Ausdehnung in Ost-West-Richtung von etwa zweieinhalb Kilometer und in Nord-Süd-Richtung bis zu zwei Kilometer. Die bebaute Fläche beträgt insgesamt 152 Hektar. Von der östlichen Nachbarinsel Baltrum ist Norderney durch das schmale Seegatt der Wichter Ee getrennt. Vom Zentrum der Stadt Norderney bis zum Inselort Baltrum sind es etwa 15 Kilometer. In Richtung Westen ist die Insel Juist rund drei Kilometer entfernt, bis zum Zentrum der Gemeinde Juist sind es etwa elf Kilometer Luftlinie. Zwischen Norderney und Juist erstreckt sich das breite Norderneyer Seegatt. Der westlichste Teil wird Spaniergat genannt, der nördlich in der Mitte liegende heißt Schluchter, östlich davon zieht sich das Dovetief mit dem Hauptfahrwasser des Seegatts zwischen den Inseln entlang. In der Osthälfte der Insel erstreckt sich im dortigen Dünengebiet eine breite Legde, auch Schlopp genannt, die vom Strand im Norden bis zum Heller im Süden reicht. Das Gebiet rund um diesen Dünendurchbruch wird bei höheren Sturmfluten vollständig überflutet. Die gesamte Osthälfte Norderneys sowie das südlich der Insel angrenzende Wattenmeer mit den Platen Hohe Plate, Hohes Riff und Lütetsburger Plate sowie den Rinnen Busetief, Wagengat, und Ostbalje gehören zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Das Festland ist zwischen drei (von der Wattseite östlich des Grohdepolders bis Hagermarsch und Neßmersiel) und sechs Kilometer (vom Hafen Norderney bis zum Norder Stadtteil Ostermarsch) entfernt. Benachbarte Kommunen auf dem Festland sind die Stadt Norden, die Gemeinde Hagermarsch in der Samtgemeinde Hage sowie ein kurzer Abschnitt der Gemeinde Dornum (alle im Landkreis Aurich). Im Norder Stadtteil Norddeich befinden sich an der Mole der Fähranleger und etwas außerhalb, Richtung Osten gelegen, ein Flugplatz, von dem aus Flüge nach Norderney möglich sind. Geologie Norderney ist, wie die Ostfriesischen Inseln insgesamt, kein Fragment früheren Festlands und unterscheidet sich insofern etwa von den Nordfriesischen Inseln. Norderney liegt auf einem im Pleistozän und im folgenden Holozän gebildeten Sockel. Die pleistozänen Schichten aus Schmelzwassersanden, punktuell Lauenburger Ton, Geschiebelehm sowie Flug- und Flusssanden befinden sich heute etwa zehn bis zwanzig Meter unter dem Meeresspiegel, und die darüber abgelagerten basalen Torfe und Brackwasser-Sedimente des Holozäns sind deutlich untermeerisch. Oberflächennah, in der Mitte der Insel, beispielsweise in Höhe des Leuchtturms besteht der Untergrund noch bis in 30 Metern Tiefe vielmehr aus Watt- und Rinnensanden, also rein marinen Ablagerungen. Vor etwa 10.000 Jahren erstreckte sich das Festland noch weit in die heutige Nordsee hinein bis zur Doggerbank und zur englischen Küste. Als Folge der Eisschmelze nach der letzten Eiszeit und des dadurch bedingten Anstiegs des Meeresspiegels begann vor etwa 7500 Jahren eine Überflutung der heutigen Deutschen Bucht. Durch die Interaktion von aus Westen kommender Strömung und Wind lagerten sich Sandmassen ab, die sich zu Sandbänken und inselähnlichen Platen entwickelten. Die Sandakkumulationen, die bei Flut nicht mehr überschwemmt wurden (siehe Kachelotplate), bildeten die Grundlage für die Ansiedlung von Pionierpflanzen, die mit ihren Wurzeln den Sandboden verstärkten, was wiederum die Bildung von Dünen und das Wachstum der Insel ermöglichte. Infolge der zum Teil starken Gezeitenströmung aus nördlicher und westlicher Richtung driftet Norderney wie die anderen Ostfriesischen Inseln in östliche Richtung ab. Das Fundament der Insel besteht am Westkopf aus verschiedenen Ton-, Klei- und Lehmschichten, wodurch Inselschutzmaßnahmen nötig wurden. Durch das im Jahr 1858 erstmals angelegte Inseldeckwerk konnte der westliche Inselkopf gegen die Gezeitenkräfte und die damit verbundene Küstenerosion gesichert werden. Der östliche Teil der Insel gewann dagegen ab 1650 durch Anspülung von Sand und Sedimenten rund 5 bis 6 Kilometer Länge dazu. Der natürlich gebildete Strand hat an einigen Abschnitten eine Breite von über 200 Metern. Der höchste natürliche Punkt der Insel und der gesamten ostfriesischen Inselkette ist die nach dem aus Norden in Ostfriesland stammenden Geodäten Walter Großmann benannte Walter-Großmann-Düne. Es handelt sich um eine im Bereich der Weißen Düne in der Inselmitte gelegene Sanddüne mit einer Höhe von über NHN. Die Düne ist damit auch der höchstgelegene Punkt Ostfrieslands überhaupt. Die Insel ist durchschnittlich bis über NHN hoch, der Inselsockel ragt durchschnittlich aus dem Meer heraus. Auf einigen der höheren Dünen, die zwischen und über NHN hoch liegen, wurden Aussichtsplattformen, zum Teil mit Informationstafeln zur Insel und den Nationalpark eingerichtet. Einige der markanten Dünen haben im Laufe der Zeit Namen erhalten wie Georgshöhe () und Marienhöhe () im Stadtgebiet sowie Mövendüne (), Senderdüne () und Rattendüne () im Ostteil der Insel. Bedingt durch die geologischen Verhältnisse auf der Insel konnte sich darunter eine Süßwasserlinse herausbilden. Diese entstand durch versickerndes Regenwasser, das im sandigen Boden das schwerere Salzwasser bis zu einer Tiefe von maximal 80 Metern verdrängte. Die Größe der Linse unterliegt klimatischen Schwankungen, dennoch können auf der Insel jährlich rund 900.000 Kubikmeter Trinkwasser vom Wasserwerk Ort und von dem 1958 in der Inselmitte erbauten Pumpwerk Weiße Düne gefördert werden. Das Norderneyer Trinkwasser gilt als besonders rein, da es aufgrund der Lage unterhalb des Inselsockels im Gegensatz zum Grundwasser am Festland nicht durch versickernde Dünger und Abwässer verunreinigt wird. Das Grundwasser hat eine leicht gelbliche Färbung, die auf abgelöstem Torfablagerungen und Lehm beruht, wodurch sich Huminstoffe bilden. Um bei Sturmfluten ein Eindringen von Salzwasser und damit eine Zerstörung der Linse zu verhindern, wurden im Laufe der Zeit die Randdünen der Insel verstärkt. Klima Die Insel Norderney liegt im Bereich des gemäßigten, sommerkühlen und vom Golfstrom beeinflussten Seeklimas und damit im direkten Einfluss der Nordsee. Bei geringen Temperaturschwankungen herrscht hohe Luftfeuchtigkeit. Im Durchschnitt liegen die Temperaturen im Sommer unterhalb und im Winter oberhalb der auf dem Festland gemessenen Werte. In der Gesamtheit wird das Norderneyer Klima durch den vorherrschenden Wind aus Süd und Südwest geprägt, der durch Tiefdruckgebiete über Island und Grönland entsteht. Im Frühjahr und Herbst sind Stürme mit Orkanstärken recht häufig, diese treten oftmals mit einer Sturmflut auf. Dabei entstehen Wellen, die sich vor der Insel auf bis zu Höhe auftürmen können. Das durchschnittliche Jahrestemperaturmittel liegt bei 10,9 °C. Der wärmste Monat ist, anders als in den meisten Gebieten Deutschlands, der August mit einem Monatstemperaturmittel von 18,6 °C. (Dass der August und nicht der Juli der wärmste Monat ist, begründet sich durch die extreme Maritimität des Klimas). Bei ablandigem Südwind können Temperaturen über 30 °C erreicht werden, wie in den Jahren 1969 mit 33 °C, 2006 mit 32,6 °C und 33,7 °C im Jahr 2013. Der Hitzerekord liegt bei 34,1 °C, die zuletzt am 2. Juli 2015 gemessen worden sind. Der kälteste Monat ist der Februar mit einer Durchschnittstemperatur von 2,0 °C. In dem Zeitraum von 1961 bis 1990 wurden auf Norderney im Jahresmittel 0,6 heiße Tage (Tropentage) gemessen. Die jährliche mittlere Niederschlagsmenge liegt bei etwa 615 Millimetern. Der regenreichste Monat ist der August mit 83 Millimetern, der regenärmste ist der Februar mit nur 28 Millimetern. Im Durchschnitt gibt es pro Monat 16,4 Regentage. Die mittlere Sonnenscheindauer liegt mit durchschnittlich 1701 Stunden im Jahr über dem deutschen Mittelwert von 1550 Stunden. Die meisten Sonnenscheinstunden werden in den Monaten Mai bis August mit bis zu 226 Stunden erreicht. In den Wintermonaten scheint die Sonne hingegen nur 38 bis 76 Stunden. Die Wassertemperatur und der Wellengang wird an den beiden Messstationen in den Nordergründen, einer Untiefe im Nordwesten Norderneys, und im Norderneyer Riffgat gemessen. Sie schwankt zwischen 3 und 7 °C in den Wintermonaten und 13 bis 17 °C und über 20 °C in sehr warmen Sommern. Dies ist auf die geringe Wassertiefe im Watt und die trockengelegten Gebiete während der Ebbe zurückzuführen. Im jährlichen Durchschnitt liegt die Wassertemperatur bei ungefähr 14 °C. Von 1961 bis 2000 wurden an der Beobachtungsstation im Norderneyer Seegat 26 Winter mit Eisaufkommen im Wattenmeer registriert. Die Häufigkeit von Eisbildung liegt damit bei 65 Prozent. Die längste Dauer eines Eiswinters war 74 Tage, der Durchschnitt sind 21 Tage. Der Klimaklassifikation von Wladimir Köppen zufolge gilt für Norderney die Einteilung Cfb. Diese Einteilung nach Klimazone (C), Klimatyp (Cf) und Klimauntertyp (b) gibt für Norderney durch die vorherrschende zyklonale Westwindwetterlage ein warm- und feucht-gemäßigtes Klima mit warmen Sommern an. Das lokale Reizklima sowie die Nähe zum Festland trug mit zum Beginn des Tourismus bereits im 18. Jahrhundert bei. Biologie Flora und Fauna Norderney ist wie die anderen Ostfriesischen Inseln nicht aus der Landmasse entstanden, sondern eine Düneninsel, die mit der Zeit aus von der Meeresströmung angespültem Sand gewachsen ist. Die ursprüngliche Inselfläche war daher karg und arm an Vegetation. Im Laufe der Jahrhunderte bildeten sich durch Wind und Erosion mehrere Dünenketten, die nach und nach von Pflanzen bewuchert wurden. Dabei werden verschiedene Vegetationszonen, die aufgrund ihres Alters unterschiedliche Lebensräume darstellen, voneinander unterschieden. Diese sind Vordünen, Weißdünen, Graudünen, Braundünen, Dünentäler und Watt- und Hellerflächen. Die Vordünen sind nach ihrer Entstehung die jüngsten Dünen. Es handelt sich um aufgespülten Sand, der bei Sturmfluten noch überflutet werden kann. Da die Vordünen äußerst wichtig für den Fortbestand der Insel sind, werden sie in regelmäßigen Abständen mit Gebinden aus Holz am Sockel verstärkt. Dort gedeihen salzverträgliche Pionierpflanzen wie die Strandquecke oder der Meersenf. Wenn diese Dünen nicht mehr vom Wasser überflutet werden und damit salzfrei bleiben, siedeln sich Gewöhnlicher Strandhafer und Strandroggen an. Der Strandhafer sorgt mit seinem überaus großen Wurzelwerk dafür, dass sich befestigte und höher werdende Weißdünen bilden können. Strandhafer-Pflanzungen dienen dazu, die Randdünen vor dem Wind zu schützen, der sie wieder abtragen könnte. Infolge des immer dichter werdenden Bewuchses zur Inselmitte hin bildet sich auf den Dünen Humus. Diese Dünen werden als Graudünen bezeichnet. Die vorherrschende Vegetation besteht dort aus dem Sanddorn und der Kriech-Weide. Daneben wachsen Gräser und Flechten in diesem Bereich. In den feuchten Dünentälern der Inselmitte haben sich kleinere Moore und Salzsümpfe gebildet, in denen Pflanzen wie der Rundblättrige Sonnentau, Königsfarn, verschiedene Moose, Beerensträucher und Bärlappgewächse wie Keulen-Bärlapp und Sumpf-Bärlapp gedeihen. Daneben sind das Hunds-Veilchen und das Dünen-Stiefmütterchen (Viola tricolor var. maritima), eine Varietät des Wilden Stiefmütterchens, zu finden. Zur Wattseite hin sind die Salzpflanzen Queller als Pionierpflanze und Strandschwingel die am häufigsten anzutreffenden Pflanzen. Der Queller wird unter anderem zur Neulandgewinnung eingesetzt, da er mit den Wurzeln Stickstoff festhält, der zur Bindung der Sandkörner beiträgt. Landwirtschaftlich genutzt werden nur wenige eingedeichte Flächen, so werden im Grohdepolder Pferde und Galloway-Rinder gezüchtet. Die restlichen hinzugewonnenen Inselflächen sind aufgrund des Salzgehaltes nicht effektiv nutzbar. Insgesamt gibt es auf Norderney über 500 verschiedene Pflanzenarten. Durch Aufforstungen im heutigen Stadtgebiet Norderneys entstanden ab dem 18. Jahrhundert kleinere künstliche Waldgebiete, die eine Gesamtgröße von 50 Hektar haben. Dies sind im Westteil der Insel das Argonner Wäldchen nahe dem Weststrand, ein Ruppertsburger Wäldchen genannter Kiefernwald am östlichen Stadtrand und ein aus Erlen und Pappeln bestehender Wald nordwestlich des Flugplatzes. Zusammen mit den 30 Hektar natürlichem Waldbestand der Insel Norderney neben der Insel Borkum die größte Waldungsfläche auf den Ostfriesischen Inseln. Die Tierwelt der Insel und des angrenzenden Wattenmeeres ist vor allem aus ornithologischer Sicht sehr artenreich. Während der Zeit des Vogelzugs rasten große Schwärme von Zugvögeln vor allem im östlichen Teil der Insel. Das Wattenmeer dient den Vogelschwärmen dabei als reichhaltige Nahrungsquelle und die Insel als Brutgebiet. Insgesamt brüten rund 95 Vogelarten auf Norderney. Die Salzwiesen und Deiche werden von Graugänsen als Weidegründe genutzt. Die am häufigsten auf der Insel vorkommenden Vogelarten sind die Lach- mit rund 1200 Brutpaaren und die Silbermöwe. Sie bewohnen neben Enten, der Amsel, Haussperlingen, zunehmend Krähenvögeln vor allem das Stadtgebiet Norderneys. Sie haben im Gegensatz zu anderen Wildvögeln die natürliche Scheu vor den Menschen verloren und wissen ihre Nähe zu schätzen. Daneben gibt es im Ostteil Norderneys größere Bestände an Kiebitz, Knutt, Austernfischer, Alpenstrandläufer, Schnepfenvögeln und der überaus scheuen Brandgans. Weitere Vogelarten sind Tauchenten, Rotschenkel, Eiderenten, die Trauerente, die in Deutschland seltene Moorente, der Große Brachvogel, die Küstenseeschwalbe, der Goldregenpfeifer, der Steinschmätzer und die Rohrdommel, die in den Schilfgebieten der Insel auf Nahrungssuche geht. Einige Greifvogelarten wie Falken, einige Eulenarten, die Kornweihe und die Rohrweihe lassen sich auf der Insel beobachten. Neben dem Fasan und einigen auf der Insel lebenden Rehen und Damwild sind in den Dünen und teilweise mitten in der Stadt verwilderte Kaninchen zu beobachten, deren Vorfahren um 1620 zum Jagdvergnügen der Inselvögte auf der Insel ausgesetzt wurden. Da sich die Tiere aufgrund fehlender natürlicher Feinde stark vermehrt haben, muss die Population durch systematische Jagd des Norderneyer Hegerings oder durch das Abmähen von Wiesen innerhalb der Grohden verringert werden. Mit dem Seehund und der Kegelrobbe gibt es zwei Säugetierarten, die im Norderneyer Wattenmeer zu beobachten sind. Am Wichter Ee und im Busetief sind größere Populationen dieser Tiere auszumachen, die sich bei Ebbe auf den dortigen Sandbänken ausruhen. Nachdem der Bestand der Tiere durch die Staupe in den späten 1980er Jahren dezimiert wurde, konnte sich die Population bis in das 21. Jahrhundert wieder erholen. Etwa 70 Fischarten sind um Norderney herum heimisch. Am häufigsten anzutreffen sind Grundeln, verschiedene Plattfischarten, wie die Scholle, verschiedene Krebstiere wie der häufig vorkommende Taschenkrebs, die Nordseegarnele, „Granat“ genannt, Seesterne, Miesmuscheln und andere Muschelarten sowie Austern. Der Lebensraum Watt beherbergt mehrere Wurmarten, deren bekanntester Vertreter der Sandpierwurm ist, der den Sand des Wattenmeeres frisst und damit die letzten organisch nutzbaren Reste verdaut. Charakteristisch zu erkennen ist sein Lebensraum an den von ihm ausgeschiedenen Kotwürmchen aus Sand. Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer Norderney liegt im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer, der seit dem 26. Juni 2009 mit zum UNESCO-Welterbe gehört. Der Nationalpark erstreckt sich vom Dollart im Westen über die Emsmündung, die Ostfriesischen Inseln und den Jadebusen bis zur Elbmündung im Osten. Die Verwaltung des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer unterhält seit 1991 eine Zweigstelle am Norderneyer Hafen. Nach dem Abriss des alten Gebäudes wurde das Nationalpark-Haus komplett neu errichtet und Anfang März 2015 für Besucher eröffnet. In verschiedenen Aquarien, multimedial aufbereiteten Themenbereichen sowie interaktiven Schautafeln werden die verschiedenen Lebensbereiche des Wattenmeers und der offenen Nordsee gezeigt. Schwerpunkte der Ausstellung sind der Lebensraum Wattenmeer, die Salzwiesen und Dünen sowie die offene See mit den vor der Küste errichteten Offshore-Windanlagen. Daneben werden den jährlich rund 75.000 Besuchern Filmvorführungen angeboten. Auf Norderney gibt es mehrere Lehr- und Wanderpfade, die zum Teil mit ihren Namen an die Zeit der französischen Kontinentalsperre erinnern, in der auf der Insel aufgrund ihrer Lage der Schmuggel blühte. Der Dünen-Hellerweg ist ab Wasserständen von mehr als 70 cm über dem mittleren Tidehochwasser durch Priele unterbrochen. In den Schutzhütten an den Wegesrändern befinden sich Hinweistafeln. Die Insel Norderney ist mit Ausnahme der Siedlungs- und Infrastrukturgebiete sowie des Flugplatzes Teil des Nationalparks. Dabei wird die Insel in drei Schutzzonen aufgeteilt. Zur Schutzzone III zählen der gesamte Strandbereich im nördlichen Teil der Insel Norderney vom Weststrand über den Nordstrand, das Ostbad Weiße Düne und der FKK-Badestrand bis zum Dünenübergang nördlich des Ostheller-Parkplatzes im Inneren der Insel. Der weitere nordöstliche Strandbereich gehört zur Schutzzone II. Ferner zählen zur Schutzzone III der im Südwesten der Insel liegende Stadtteil Fischerhafen mit dem daran angeschlossenen Bereich der Windsurfschule sowie der Golfplatz in der Inselmitte. Es handelt sich um einen 9-Loch-Golfplatz, der 1922 angelegt und seit 1927 in der heutigen Form besteht. Es handelt sich um den einzigen Links-Course in Deutschland. Nach den Plänen des Betreibers sollte er zu einem 18-Loch-Golfplatz ausgebaut werden. Dieses Vorhaben stieß auf harsche Kritik seitens der Norderneyer Ortsgruppe des BUND und der Nationalparkverwaltung, da der Ausbau und die damit verbundene Umgestaltung der Dünenlandschaft den Artenschwund beschleunigt. Bereits seit 2003 kämpfte der BUND gegen den Erweiterungsplan. Nachdem die Erweiterung der Fläche auf insgesamt 41 Hektar durch eine Bürgerbefragung zwischen dem 26. September bis zum 14. Oktober 2011 abgelehnt wurde, lehnte der Landkreis Aurich die Genehmigung ab: Durch den Bau könnte der Verlauf von zwei Radwegen beeinträchtigt werden. Es bestehe die Möglichkeit, einen überarbeiteten Bauantrag für die Golfplatzerweiterung einzureichen. Zur Zwischenzone zählt das Gebiet östlich des Stadtrandes (Siedlung Meierei und In den Dünen) bis zum Ostrand des Grohdepolders, mit Ausnahme des innerhalb dieser Zone gelegenen Flugplatzes, der Jugendherberge und des Zeltplatzes in den Dünen sowie der ehemaligen Staatsdomänen Domäne Grohde und der Domäne Tünnbak mit dem angrenzenden Campingplatz Eiland. Seit 1961 gehört das Wasserschutz- und Vogelbrutgebiet innerhalb des Südstrandpolders zum Naturschutzgebiet und seit 1986 zur Ruhezone des Nationalparks. Damit ist es das älteste Naturschutzgebiet der Insel. In den Jahren 1940/1941 wurde das etwa 140 Hektar große Gebiet östlich des Hafens von Süden her eingedeicht, um dort einen neuen Militärflugplatz für die Seeflugstation (SFS) Norderney zu errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nicht an den Plänen festgehalten und die Natur blieb sich selbst überlassen. Erst in den Jahren 1987/1988 wurden im Zuge der Verstärkung des Hafendeiches Sandmassen aus dem Gebiet des Südstrandpolders entnommen und gleichzeitig das Strauch- und Buschwerk entfernt. Die ursprüngliche Feuchtgebietsvegetation wurde damit wiederhergestellt; der Südstrandpolder bietet heute zahlreichen Vogelarten Brut- und Rastplätze und weist eine der größten Feuchtheiden auf den Ostfriesischen Inseln auf. Neben dem Südstrandpolder zählen der komplette östliche Teil der Insel mit dem vom Hungerdeich umgebenen Grohdepolder, einschließlich der Vordünen, die den Strand von der Inselmitte trennen, sowie ein Teil der Dünen östlich des in der Inselmitte gelegenen Wasserwerks dazu. Dieser Teil der Insel dient vielen Vogelarten als Rast- und Brutgebiet. Aus diesem Grund dürfen die Flächen nur auf ausgeschilderten Wanderwegen betreten werden, um die Tiere nicht zu stören. Der Zutritt zu den restlichen Flächen in dieser Schutzzone ist untersagt. Maßnahmen für den Insel- und Küstenschutz Wie alle anderen Ostfriesischen Inseln war Norderney schon immer den ständigen natürlichen Veränderungen unterworfen und der Schutz der Insel gestaltete sich in früheren Jahrhunderten als schwierig. Etwa um das Jahr 1800 herum lag im Westen der Insel ein breiter Dünengürtel, hinter dem die ersten Häuser windgeschützt errichtet wurden. Wie alle anderen Ostfriesischen Inseln wandert Norderney infolge der starken Gezeitenströmung aus nördlicher und westlicher Richtung nach Osten ab. Zwischen 1650 und 1960 verlängerte sich der östliche Teil Norderneys aufgrund der stetigen Strömung um etwa sechs Kilometer. Norderney liegt, getrennt durch das bis zu 20 Meter tiefe Dovetief, etwa drei Kilometer nördlicher als die Nachbarinsel Juist. Dadurch ist sie dem Seegang aus West bis Nordwest direkt ausgesetzt. Viermal täglich entsteht in diesem Seegat eine starke Gezeitenströmung mit Sogbildung durch ein- und ablaufendes Wasser beim Wechsel von Ebbe und Flut und umgekehrt. Das Tidenvolumen beläuft sich dabei auf je 192 Millionen Kubikmeter Wasser. Der westliche Inselkopf sitzt auf einem Fundament aus Ton-, Klei- und Lehmschichten. Der Westteil der Insel kann der durch die starke Meeresströmung im Norderneyer Seegat bewirkten Wanderung nach Osten und der damit verbundenen Abnahme des Strandes auf Dauer nicht standhalten. Veränderungen in der Sandversorgung Norderneys von Westen her führten im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts zu einem hohen Sand- und Strandverlust an der Westseite und zum Abbruch der Randdünen im Laufe der folgenden Jahre. Der Küstenerosion wurde mit dem Bau von ersten schweren Inselschutzwerken, Spundwänden, Steindämmen und Buhnen entgegengewirkt. Unter der Leitung des aus Berlin stammenden, königlich-preußischen Wasserbauingenieurs Adolf Tolle wurde ab dem Jahr 1858 am Westkopf Norderneys das erste Inseldeckwerk (Dünenschutzwerk) an der deutschen Nordseeküste errichtet. Die Hauptgründe für den Bau des Deckwerks waren der Schutz des staatlichen Grundeigentums sowie die Sturmflut von 1840 und die Neujahrsflut vom 1. und 2. Januar 1855. Diese Sturmflut richtete schwere Verwüstungen im Inseldorf an. Der Hochwasserstand belief sich auf über NN. Bedingt durch den raschen Ausbau des Inseldorfs wurde der nördlich davon liegende natürlich gebildete Dünengürtel abgetragen. Dies begünstigte höhere Zerstörungen bei Sturmfluten. Rund um den Nordwestkopf der Insel entstand ein Deckwerk von 950 Metern Länge. Die gesamte West- und Nordseite der Insel im Bereich der Stadt ist von insgesamt sechs Kilometern Deckwerk und 32 Buhnen gesäumt, in deren strömungsabgewandter Seite sich Sand festsetzt. Dadurch wird die natürliche Sandwanderung erschwert. Die letzte der steinernen Buhnen wurde 1953 fertiggestellt. Ein großer Teil des alten Deckwerks, das sich auf einer Gesamtlänge von fünf Kilometern um die Stadt Norderney erstreckt, besteht aus braunen Sandsteinen. Wegen seiner markanten Form wird das Deckwerk als Norderneyer S-Profil bezeichnet. Im Laufe der nächsten Jahre folgten Erweiterungen und witterungsbedingte Instandsetzungsarbeiten an den Buhnen, die noch andauern. Der Aufwand dafür wurde mit den Jahren größer. 1951 erfolgten zum ersten Mal größere Sandvorspülungen, die seitdem regelmäßig alle fünf bis zehn Jahre wiederholt wurden, zuletzt im Jahr 2000. Dabei wird der aufgespülte Sand aus tieferen Schichten des östlichen Norderneyer Seegats mit riesigen Pumpwerken in den Bereich des West- und Nordstrandes befördert. In den Jahren 1951/1952 waren dies deutschlandweit die ersten Aufspülungen im Küstenschutz, um mit einem breiten Strand die Brandungszone vorzuverlegen und dadurch die weiteren Uferschutzwerke zu sichern. Durch die Aufspülungen wird verhindert, dass das mit der Brandung einfließende Wasser die Fußsicherungen und Einfassungen des als Promenade genutzten Inseldeckwerks unterspült. Bei den besonders schweren Sturmfluten im Januar 1953, Februar 1962 und den beiden Januarfluten im Jahr 1976 wurden große Teile des Deckwerks am Nordstrand und des damaligen Westdeichs im Bereich des alten Flugfelds der im Zweiten Weltkrieg auf Norderney stationierten Seefliegerstaffel entweder in Mitleidenschaft gezogen oder zerstört. 1953 waren die errichteten Deiche und Fluttore noch nicht ausreichend hoch gebaut, so dass die Wassermassen das Stadtgebiet überfluteten und schwere Gebäudeschäden verursachten. Ähnlich verlief die Sturmflut von 1962, bei der unter anderem Teile des Deckwerks schwer beschädigt wurden. Infolge dieser Zerstörungen wurden die Deiche und das Deckwerk im Westteil der Insel von 1976 bis 1982 neu angelegt, verstärkt und erhöht. So beträgt die Höhe des Deiches am ehemaligen Nordbad über NHN. Erste Sandvorspülungen sorgten für eine zusätzliche Verstärkung des Inselsockels. Zuletzt erfolgten von 2001 bis 2008 aufwändige Sanierungen und Umbaumaßnahmen an den bis dahin schon 150 Jahre alten Sturmflutschutzanlagen und des Deckwerks aus Verbundstein am Westkopf der Insel zwischen Nordstrand und Strandstraße sowie eine erneute Sandvorspülung am Nordstrand. Dabei wurde mit Saugbaggern 280.000 Kubikmeter Sand aus der westlich der Insel gelegenen Robbenplate verschoben. Bei der Sanierung wurden die Verfugung des historischen S-Profils erneuert, neue Spundwände zur Stabilisierung des Untergrundes eingezogen sowie eine neue, mit Asphaltbeton bedeckte Promenade, die als Deichanlage dient, gebaut. Bei der Planung und Realisierung flossen die Erkenntnisse aus Tests in Strömungskanälen und modernste Bauverfahren in das Projekt ein. So wurden zum Beispiel zusätzliche Granitblöcke als Wellenbrecher in das S-Profil eingearbeitet. Der Deich wurde dabei noch einmal erhöht und beträgt einschließlich der aus Beton bestehenden und mit Klinker versiegelten Schwallwände über NHN. Die Erneuerung der Deichanlagen bis zur Victoriastraße wurde in zwei weiteren Bauabschnitten 2009 und 2010 abgeschlossen. Ein weiterer geplanter Deichabschnitt von der Victoriastraße schließt nahtlos mit dem Westdeich ab. Zudem laufen Planungen der Stadt zusammen mit dem Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN), diesen Deichabschnitt lückenlos über das Gelände des ehemaligen Freibades bis zum Hafendeich zu verlängern und zu verstärken. Dadurch soll die Stadt bei Sturmfluten vor einfließendem Wasser aus südlicher Richtung geschützt werden. Der Vorschlag, die neue Deichlinie von der Victoriastraße bis zum bestehenden Westdeich zu verlängern, soll im Mai 2009 abgesegnet werden, stößt jedoch aufgrund der daraus resultierenden Abgrenzung von Gebäuden auf Kritik im Stadtrat. Die Kosten für die letzten Verbesserungen der Küstenschutzmaßnahmen und der Sandvorspülung im Mai 2007 beliefen sich auf 4,027 Millionen Euro. Das sind fast 10 % der gesamten für den Küstenschutz der niedersächsischen Küste im Jahr 2007 aufgewendeten Geldmittel (insgesamt 44 Millionen Euro). Zu den Ausgaben für den Küstenschutz kamen zuletzt bei der schweren Allerheiligenflut 2006, verursacht durch das Orkantief Britta, oder bei der Sturmflut vom 9. November 2007 mit einem maximalen Wasserstand von über normalem Tidehochwasser noch weitere Belastungen von zusammen über 500.000 Euro hinzu. Das modernisierte Flutschutzsystem konnte sich bereits kurz nach seiner Fertigstellung bewähren. Damit ist gewährleistet, dass Norderney über einen zeitgemäßen Hochwasserschutz verfügt. Der etwa zehn Kilometer lange Hauptdeich der Insel, der sich aus dem 1940/1941 erbauten Südstrandpolder- und dem von 1926 bis 1928 erbauten Grohdepolderdeich zusammensetzt, schützt den südlichen Teil Norderneys vor Überflutungen und einlaufendem Wasser von der dem Watt zugewandten Seite her. Zuletzt wurde der Deich des Südstrandpolders in den Jahren 1999 bis 2004 auf einer Länge von 2,5 Kilometern erhöht und modernisiert. Dabei wurde im ersten Bauabschnitt das Hauptdeckwerk mit Schüttsteinen erneuert und im zweiten (2001 bis 2003) ein gepflasterter Deichkronenweg angelegt sowie das Niveau von über NHN auf über NHN erhöht. Damit wurde der Südstrandpolderdeich in der Höhe dem zwischen 1936 und 1938 angelegten Hafendeich angeglichen. Ein Siel, das die Wattseite mit dem Salzwassersee im Inneren der Deichanlage verbindet, wurde 2004 fertiggestellt. Die Baukosten von annähernd 10 Millionen Euro trug das Bundesland Niedersachsen in Form des NLWKN. In einem 2010 vom NLWKN vorgelegten „Generalplan Küstenschutz“ ist ein Investitionsvolumen von 300 Millionen Euro geplant, den Schutz der vorgelagerten Inseln weiter zu verbessern. Die Deichanlagen im Norden und Westen der Insel haben eine Gesamtlänge von etwa sieben Kilometern. Die Nordseite und die dortigen Randdünen werden zusätzlich mit Strandhafer gegen Wind und Brandung, gerade bei Sturmfluten, gesichert. Auf der dem Festland zugekehrten Seite der Insel werden Landgewinnungsarbeiten durchgeführt. In quadratisch angeordneten niedrigen Lahnungen aus Holzpfählen und Birkenreisig sinken Sand und Schwebstoffe ab, die mit der Zeit neues Land entstehen lassen. Geschichte Entstehung, Besiedelung und Demographie Die Ostfriesischen Inseln wurden zuerst in Werken des griechischen Geographen Strabon im Jahr 12 vor Christus und von Plinius dem Älteren in der Naturalis historia um 79 nach Christus erwähnt, jedoch bis auf Borkum (Burchana) nicht namentlich bezeichnet. Etwa um 800 waren die Inseln Bant, Borkum, Juist, Buise, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge dem Festland vorgelagert. Durch die schwere Allerheiligenflut am 1. November 1170 brach die Insel Bant auseinander. Die Insel Buise lag westlich der heutigen Position Norderneys und wurde durch die Zweite Marcellusflut vom 15. bis zum 17. Januar 1362 in zwei Teile gerissen. Der dabei entstandene östliche Teil der Insel erhielt den Namen Oesterende. Die Inseln Bant und Buise nahmen durch Sedimentabtragung und Überflutung an Größe ab und versanken nach der Petriflut vom 22. Februar 1651 endgültig in der Nordsee. In der Zeit der ostfriesischen Häuptlinge von 1350 bis 1464 gehörten die Ostfriesischen Inseln zum Herrschaftsgebiet der Häuptlingsfamilie tom Brok aus dem Brookmerland, die das Norderland mit Norderney unter ihrer Kontrolle hatten. Unter der Herrschaft des Adelsgeschlechts der Cirksena regierten zwischen 1464 und 1744 vorwiegend Landvögte die Insel. Die erste namentliche Erwähnung der Insel Norderney findet sich in einer Lehnsurkunde für Herzog Albrecht von Bayern vom 11. September 1398, in der die Inseln Burse und Oesterende verzeichnet sind. Oesterende wurde durch stetige Zufuhr von Sand und Sedimenten aus ihrer westlich gelegenen Schwesterinsel immer größer. Als eigenständige und zusammenhängende Insel existiert Norderney erst seit etwa Mitte des 16. Jahrhunderts. Damit ist sie vom Ursprung her die jüngste der Ostfriesischen Inseln. Erstmals wird sie in einem Rechnungsbuch der Gräfin Anna von Oldenburg, der vormundschaftlichen Regentin Ostfrieslands, aus dem Jahr 1550 als Norder neye Oog erwähnt. In einem im Juli 1650 von der vormundschaftlichen Gräfin Juliane in Auftrag gegebenen Kommissionsbericht heißt es: Wann sich die ersten Menschen auf der Insel niedergelassen haben, ist nicht mehr zu ermitteln, da keine Quellen darüber vorliegen. Nach derzeitigem Forschungsstand wird davon ausgegangen, dass die Besiedelung Norderneys zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert begann. Gesichert ist eine Information, nach der 1578 500 Steine von Berum nach Norderney geliefert wurden, um dort ein Haus zu bauen oder auszubessern. In dem bereits erwähnten Rechnungsbuch der Gräfin Anna ist überliefert, dass ab 1550 Familien mit etwa 80 Personen in 16 Häusern auf der Insel wohnten. Es handelte sich dabei um Erbpächter, die das Land der Landesherren bewirtschafteten und in erster Linie vom Fischfang lebten, da der sandige Boden Ackerbau und Viehzucht kaum zuließ. Das Inseldorf entwickelte sich von 1688 an im Westteil mit zwei Häuserreihen, der Norder- und Süderreihe, die aus eingeschossigen Fischerhäusern bestanden. Die ersten Einwohner Norderneys waren hauptsächlich freie Erbpächter. Um dort Fischfang (hauptsächlich Angelschellfisch) zu betreiben, zogen Menschen auf die Insel. Weitere Ertragsquellen bildeten die Muschelzucht und die Bergung von Strandgut. Über die Verteilung dieses Strandgutes wachte von 1607 an ein Inselvogt, der in Vertretung des Landesherrn die Verwaltung und Polizeiaufsicht sowie die Geldeinnahme wahrnahm. Norderney stand ab dem 15. Jahrhundert als Vogtei unter dem Berumer Amt, einem der Herrschaftssitze der Cirksena, der einen Teil der Grafschaft Ostfrieslands darstellte. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlangte die Frachtschifffahrt für festländische – in erster Linie Emder, Norder, Groninger und Bremer – Handelshäuser größere Bedeutung. 1744 starb der letzte ostfriesische Fürst Carl Edzard und Norderney fiel bis in das Jahr 1806 unter preußische Regentschaft. In Johann Heinrich Zedlers Universallexicon von 1750 findet sich über Norderney der folgende Text: Um das Jahr 1700 lag das Inseldorf bereits weitgehend an seiner heutigen Position, und es waren bereits 267 Einwohner in 49 Häusern, die sich im Umkreis der ersten aus Holz errichteten Inselkirche im Bereich der heutigen Kirchstraße im Westen der Insel ansiedelten. Allerdings wurde die Inselbevölkerung in den Jahren 1759 und 1760 durch Seuchen wie die Rote Ruhr dezimiert, konnte sich jedoch in den darauf folgenden Jahren wieder erholen. Vor dem Ausbau Norderneys zum Seebad lebten 1793 noch 563 Einwohner in 106 Häusern im Inseldorf; um 1800 stieg die Anzahl geringfügig auf 573 Menschen. Bedingt durch die steigende Zahl der Kurgäste wuchs die Zahl der ständigen Einwohner an. Waren es 1833 700 Bewohner in 175 Häusern und 1838 schon 800 Bewohner, so erhöhte sich diese Zahl im Jahr 1895 bereits auf knapp 4000. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Bevölkerungszahl im Jahr 1948 mit über 8000 auf einen Höchststand. Diese Zahl verringerte sich jedoch im Laufe der Jahre durch die Landflucht auf heutzutage knapp unter 6000. Im Vergleich zur Einwohnerzahl von 1991 lebten 2006 7,2 % weniger Menschen auf der Insel. Das Durchschnittsalter der auf Norderney lebenden Bevölkerung betrug 2014 46,4 Jahre. Zusammen mit den rund 3900 Nebenwohnsitzen beträgt die Gesamteinwohnerzahl heutzutage knapp 10.000 bei etwas über 4000 Haushalten. Die amtliche Einwohnerzahl (nur Hauptwohnsitze) auf Norderney betrug am 30. Juni 2008 5992, davon waren 2666 männlich und 3326 weiblich. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung lag 2014 bei 11,7 %. Entsprechend der Altersstruktur der Norderneyer Bevölkerung (Stand: 2014) beträgt der Anteil der unter 18-Jährigen 13 %, der Anteil der 18- bis 25-Jährigen 8 %, der 25- bis 45-Jährigen 24 % und macht der Anteil der 45- bis 65-Jährigen 33 % aus, während die Alterspyramide der über 65-Jährigen mit 23 % in Urnenform anwächst. Somit liegt eine ungleichmäßige Verteilung von junger zu älterer Bevölkerung vor, was damit zu erklären ist, dass viele ältere Menschen Norderney als ihren Alterswohnsitz wählen. Für Norderney wird längerfristig eine im Vergleich zur Gegenwart etwa gleichbleibende Inselbevölkerung vorhergesagt. Ein leichter Anstieg der Bevölkerung wird aufgrund des demographischen Wandels ab dem Jahr 2012 vorhergesagt. Anhand der Basisdaten der Bevölkerungszahl vom 31. Dezember 2007 wurde für das Jahr 2012 vorausberechnet, dass sich die Einwohnerzahl leicht auf 6046 erhöhen wird. Diese Einwohnerzahl wird etwa gleich bleiben, so dass sich die Voraussage für das Jahr 2017 auf 6106 Menschen beläuft. Diese kleinräumige Bevölkerungsentwicklung bezieht sich dabei auf die Zahl der Hauptwohnsitze. Tatsächlich ist die Zahl der auf Norderney lebenden Bevölkerung gesunken. Ausgehend von der Volkszählung von 1987 (= 100 %) hatten am 31. Dezember 2012 nur noch 93,4 % ihren Wohnsitz auf der Insel. Zensus 2011 Die Ergebnisse der ersten Volkszählung nach der vom 25. Mai 1987, dem Zensus 2011, wurden veröffentlicht. Nach diesem Ergebnis lebten am Stichtag, dem 9. Mai 2011, 5847 Menschen auf der Insel, darunter 3193 Frauen und 2654 Männer. Diese Zahlen beziehen sich dabei auf die Menschen, die mit ihrem Erstwohnsitz auf Norderney gemeldet waren. Die Bevölkerungsstruktur bezieht sich dabei auf 806 Personen (13,7 %) unter 18 Jahren, 756 der 18- bis 29-Jährigen (12,9 %), 1743 der 30- bis 49-Jährigen (29,8 %), 1219 der 50- bis 64-Jährigen (20,8 %). Der Anteil der Personen über 65 beträgt 1323 (22,6 %). Am Stichtag gab es auf der Insel 5431 Wohnungen mit einer durchschnittlichen Wohnungsgröße von 67 Quadratmetern. Davon wurden 1180 Wohnungen durch den Eigentümer bewohnt. Diese Zahl ist mit 34,5 % die geringste der zum Vergleich herangezogenen Gemeinden in Ostfriesland, woraus die starke touristische Nutzung der Wohnungen hervorgeht. Vermietet oder zur Nutzung überlassen wurden 2178 Wohnungen, 1921 als Ferien- oder Freizeitwohnungen. Insgesamt standen am 9. Mai 2011 152 Wohnungen leer. Etymologie Auf der Landkarte Ostfrieslands von Ubbo Emmius, die um 1600 entstand, ist die Insel als Nordernie verzeichnet. Auch das von Dünen umgebene Inseldorf ist eingezeichnet. Vom 16. Jahrhundert an wurde die Insel mit Nordernei und ab dem 18. Jahrhundert mit dem heutigen Namen Norderney bezeichnet. Aus der Zeit des preußischen Badebetriebs existieren Karten mit der Bezeichnung Bad Norderney. Davor ist sie unter dem Namen Osterende oder auch Oesterende (1398), Norder Nie Oech (1549), Norder neye oog und Norder ney ogg (1550), Nie Norderoghe (1564), Ninoorderooghe (1589), Noorderny (um 1600), Ninorder Ooge (um 1650), Ny norderoghe (1651) und Nenderme (1692) auf Karten und Vertoonungen (Reliefkarten der Inseln von der Seeseite aus) verzeichnet. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1500, als der östlich verbliebene Teil der Insel Buise Norderoog 1515 in mittelniederdeutscher Sprache Norder neye Oog genannt wurde. Der Namensbestandteil Oog fiel bereits im späten 16. Jahrhundert weg. Vom Ursprung her bedeutet der Name der Insel auf Ostfriesisch neue Norder Insel (Nordens neue Insel). Das Norder bezieht sich dabei auf die Stadt Norden, vor deren Küste die Insel liegt. Das -ney ist die ältere Schreibweise des ostfriesischen neei, was so viel wie ‚neu‘ bedeutet. Im lokalen Niederdeutsch wird die Insel Nördernee [] genannt. 1797 – Das erste deutsche Nordseebad Die ersten Seebäder an der Nord- und Ostseeküste wurden in der Mitte des 18. Jahrhunderts in England sowie in Frankreich und in Dänemark eingerichtet. Der englische Arzt Richard Russel hatte in seinen Publikationen über Meeresheilkunde und Thalassotherapie von 1750 erkannt, dass sich die nahezu pollen- und schadstofffreie Seeluft bei Erkrankungen der Atemwege heilsam auswirkt. Dieser Ansicht waren in Deutschland Georg Christoph Lichtenberg und Christoph Wilhelm Hufeland. Ein Antrag, eine private Seebadeanstalt einzurichten, der den Ständen Ostfrieslands und dem damaligen Inselvogt Johann-Gerhard Feldhausen am 17. Mai 1794 vorgelegt wurde, brachte ein für die Zukunft der Insel richtungweisendes Ergebnis: Der Präsident (Praeses Statuum) der Ostfriesischen Ritterschaft sowie der Ostfriesischen Stände war zu dieser Zeit der hannoversche Graf Edzard Moritz zu Innhausen und Knyphausen auf Lütetsburg bei Hage. Er setzte sich stark für diese Idee ein und investierte auf Norderney. Die Ständeversammlung konnte sich dabei auf das Gutachten des obersten Medizinalbeamten Friedrich Wilhelm von Halem, der ein Schüler Lichtenbergs und seit 1797 Landphysikus des Fürstentums Ostfriesland war, stützen. Das Ergebnis der am 20. Juli 1797 durch den Emder Apotheker Heydeck durchgeführten Wasseranalyse lautete: Das Wasser, helle und klar, wie gutes Brunnenwasser, dabei von salzig-bitterem Geschmack. Daraufhin konnte am 3. Oktober 1797 die erste Seebadeanstalt auf einer Ostfriesischen Insel eröffnet werden, nachdem der Beschluss der Stände, eine Nordseebadeanstalt zu errichten, vom preußischen König Friedrich Wilhelm II. genehmigt worden war. Am 7. Juli 1783, bereits 14 Jahre vorher, war ein ähnlicher Antrag des Juister Inselpastors Gerhard Otto Christoph Janus gescheitert, auf der Nachbarinsel Juist ein Seebad einzurichten. Das Seebad auf Norderney wurde nach dem Vorbild der englischen Seebäder und des Ostseebades Heiligenbad (Heiligendamm), das seit 1793 die erste deutsche Badeanstalt war, eröffnet. 19. Jahrhundert Als das Seebad am 1. Mai 1800 offiziell eröffnet wurde, besuchten 250 Kurgäste die Insel, die wegen fehlender Unterkünfte zum Teil in mitgebrachten Zelten hausten. Während der französischen Besatzung ab 1806 und der gegen England eingerichteten Kontinentalsperre bis 1813 kam der Bäderbetrieb zum Erliegen. Zur gleichen Zeit wurde eine französische Küstenbatterie eingerichtet. Zwischen den Jahren 1813 und 1815 stand die Insel unter preußischer Regentschaft. Auf dem Wiener Kongress wurde 1815 Ostfriesland dem Königreich Hannover zugesprochen. Zwischen 1823 und 1855 gehörte Norderney zum Amt Berum innerhalb der Landdrostei Aurich. Bald wurde der geregelte Badebetrieb auf Norderney wiederaufgenommen. Ein erstes Warmbadehaus wurde errichtet und die meisten Gebäude der Insel renoviert oder erweitert. In dieser Zeit wurde mit der Einrichtung des ersten Kurparks auf der Insel begonnen. Der Bäderbetrieb entwickelte sich zu einer lukrativen Einnahmequelle, denn die Zimmer der eigenen Wohnhäuser konnten an die Badegäste vermietet werden. Für zusätzliche Attraktivität sorgte die 1820 gegründete Spielbank, die seit 1833 vom Hamburger Juden Samuel Hartog gehalten und deren Betrieb nach dem Verbot durch das Paulskirchenparlament 1849 eingestellt wurde. Heute sind die entsprechenden Anbauten an vielen Häusern im Stadtkern anhand der Veranden zu erkennen. Die Einwohner- und die Gästezahlen wuchsen sprunghaft an, 1860 gab es schon doppelt so viele Häuser mit rund 1200 Bewohnern und Herbergen für über 2600 Badegäste (1865). Männer und Frauen wurden getrennt mit Badekarren zu zwei verschiedenen Strandabschnitten gefahren. Dort nahmen sie liegend oder kniend ein Bad im Meer. Seit 1866 existieren der Herrenpfad und der Damenpfad. Der Physikus Friedrich-Wilhelm von Halem beschrieb den angemessenen Abstand zwischen Damen- und Herrenbad: Bereits 1819 gehörte die Insel als Königlich-Hannoversches Seebad zu den bekanntesten europäischen Bädern. Vor allem König Georg V. von Hannover, Duke of Cumberland, trug nachhaltig dazu bei, der Insel ein mondänes Flair zu verleihen, indem er die Insel zusammen mit seiner Gemahlin Königin Marie ab 1851 mehrere Monate im Jahr zu seiner Sommerresidenz machte. Da dem Paar der Hofstaat folgte, wurden in den nächsten Jahren mehrere Gebäude errichtet, die bis heute den Stadtkern prägen. Das im Jahr 1800 errichtete Warmbadehaus aus Holz wurde durch einen Steinbau ersetzt. Das Große Logierhaus entstand 1837 mit einem Investitionsvolumen von 31.000 Reichstalern, vorgesehen als Kurhotel für die Unterbringung fürstlicher Personen in passender Weise und den König. Heute ist in diesem Gebäude das Kurhotel untergebracht. Das in nördlicher Richtung benachbarte Conversationshaus entstand 1840 im klassizistischen Stil am Kurplatz im heutigen Zentrum der Stadt. Es gilt als eines der bedeutenden Profangebäude in Nordwestdeutschland. An das Königspaar erinnern die beiden Dünen Georgshöhe am Nordstrand und Marienhöhe am Weststrand. Viele der heute noch geläufigen Bezeichnungen der übrigen Dünen, Flure und des sich südlich der Insel erstreckenden Wattenmeers gehen auf die Hannoversche Grundsteuervermessung (1830) und die Preußische Grundsteuervermessung (1870) zurück. Zeitgleich zum Bau der größeren Gebäude wuchs die Größe des städtischen Gebiets an. Grundlage dafür war eine neue Planungsordnung des Bürgermeisters Kuhlmann, der 1880 eine erste Katasterkarte für die Gemeinde erstellen ließ. Im Jahr 1866 endete die hannoversche Regentschaft durch den Deutschen Krieg. Unter preußischer Herrschaft wurde Norderney zur Königlich-Preußischen Seebadeanstalt und Staatsdomäne, die der Finanzdirektion Hannover unterstellt war. Der Wandel vom kleinen Badeort zum Bad mit weltlichem Flair konnte dadurch weiter gefördert werden. Von 1869 an wurde das als Preußisches Staatsbad bezeichnete Norderneyer Seebad die Sommerresidenz der preußischen Königsfamilie. Nach preußischem Vorbild wurde 1870 ein Bebauungsplan entwickelt, der den Inselort nachhaltig veränderte und vergrößerte. Die Bebauung wurde parzellenweise bis zur Nordseite der Insel genehmigt. Dabei wurde der dortige Dünenkamm eingeebnet und in Bauland umgewandelt. Durch finanzielle Hilfe des preußischen Wirtschaftsministeriums in Form von Bauprämien und Zuschüsse wurden den Insulanern Anreize geschaffen, Parzellen zu erwerben und darauf zu bauen, um in den Fremdenverkehr einzusteigen. Ab 1885 gehörte Norderney zum Regierungsbezirk Aurich innerhalb der preußischen Provinz Hannover. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Anreise nach Norderney noch recht langwierig. Kurgästen, die aus dem Rheinland anreisten, wurde noch 1832 die folgende Reiseroute vorgeschlagen: Es gab in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine direkte Schiffsverbindung von Bremen nach Norderney. Noch bis in die Mitte der 1850er Jahre mussten die Schiffe in der Norderneyer Reede im Südwesten der Insel festmachen. Die Fahrgäste wurden mit Pferdekarren durch das seichte Wasser bis auf die Insel gefahren. Die erste tidenunabhängige Dampfschiffverbindung mit dem Dampfer Stadt Norden wurde im Jahr 1872 eingerichtet und ab 1889 die Bahnstrecke von Emden nach Norddeich ausgebaut. Damit war eine Schienenverbindung von der Nordseeküste bis nach Münster geschaffen. Seit 1880 gab es in Berlin einen Verein mit der Zielsetzung, an deutschen Seeküsten Kinderheilstätten zu errichten. In der Provinz Schleswig-Holstein geschah es in Wyk auf Föhr und Westerland. Im Rahmen der Vereinsaktivitäten kam es auch zu einem Bau auf Norderney. Am 1. Juni 1886 wurde das auf Initiative des Geheimen Medicinalrates Friedrich Wilhelm Beneke aus Marburg errichtete Kinderkrankenhaus Seehospiz Kaiserin Friedrich vom Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten eröffnet. Es bestand bereits seit dem 1. Juni 1882 provisorisch und war die erste Einrichtung dieser Art. Sie diente an Skrofulose oder Tuberkulose erkrankten Kindern als Heilstätte. Das Seehospiz wurde im Jahr 1888 vom Königreich Preußen zum Nationalhospiz für Kinder und Soldaten ausgebaut. Es besteht noch in Form einer Kinderkurklinik, in der Atemwegs- und Hauterkrankungen behandelt werden. 20. Jahrhundert bis heute Norderney besuchten Anfang des 20. Jahrhunderts jährlich 40.000 Badegäste, wobei der Inselort nur rund 4000 Einwohner hatte. Es entstanden Häuser im Stil der Bäderarchitektur und der Gründerzeit und Prachtstraßen wie die Kaiserstraße. Ab dem Jahr 1900 residierte der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow im Sommer in der Villa Fresena (heute Hotelvilla Belvedere), einer im Tudorstil 1869/1870 erbauten Villa am Weststrand und empfing dort am 18. Juni 1906 Kaiser Wilhelm II. Von 1906 bis 1914 wohnte von Bülow auch in der Villa Edda (heute Hotel Meeresburg) nebenan. Der Badebetrieb kam mit Beginn des Ersten Weltkriegs zum Erliegen und die Insel wurde zu einer Seefestung ausgebaut. Doch gab es zu Beginn des Krieges, im Gegensatz zu anderen Ostfriesischen Inseln, noch keine Inselbahn. Für den Bau der militärischen Anlagen mussten jedoch große Mengen an Baumaterial in die Dünen transportiert werden. Deshalb entschied sich die Kaiserliche Marineleitung 1915 zum Bau einer Inselbahn, deren Gleise in Normalspur Richtung Insel-Osten verlegt wurden, um das Bahnmaterial und die Fahrzeuge der Preußischen Staatsbahn nutzen zu können. Den schnellen Wiederaufbau der touristischen Infrastruktur nach dem Ersten Weltkrieg verdankt Norderney dem damaligen Bürgermeister Jann Berghaus. Zunächst war er Rektor an der Volksschule auf Norderney. Nachdem er 1908 vergeblich für die Wahl als Landtagsabgeordneter im preußischen Landtag im Wahlkreis Leer-Weener kandidiert hatte, blieb er weiter auf Norderney. Seine politische Karriere begann 1910. Er wurde in den Norderneyer Gemeindeausschuss gewählt und nach dem Kriegsende 1918 zum Bürgermeister der Insel ernannt. Berghaus gelang es, die Kriegsfolgen zu mildern und Norderney mit der durch Preußen gewährten finanziellen Inselhilfe wieder zu einem der führenden Seebäder zu machen. Dies wurde durch die von ihm betriebene Pachtung des Seebades seitens der Gemeinde erreicht. 1926 wurde der seit 1895 am Weststrand stehende Seesteg wegen baulicher Mängel demontiert. Dafür wurde Ende der 1920er Jahre das erste Meerwasser-Wellen-Hallenschwimmbad errichtet, damals das einzige in Europa. Zu Beginn der 1930er Jahre war Norderney einer der Orte des freiwirtschaftlichen Geldexperiments namens Wära. Die Initiatoren dieses Experiments auf der Insel waren der damalige Norderneyer Badearzt Anton Nordwall und der auf Norderney lebende Künstler Hans Trimborn. Anders als Borkum warb Norderney nicht um „völkisch-nationale“ Gäste. Der erste NSDAP-Bürgermeister war 1933/1934 Bruno Müller, später Gestapo-Chef in Oldenburg, im Zweiten Weltkrieg Führer von Einsatzkommandos und Sonderkommandos in Polen und in der Sowjetunion. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde Norderney ab 1935 zu einem Luftwaffen- und Marinestützpunkt als Seefestung im Rahmen des Atlantikwalls ausgebaut. Die Seeflugstation am Hafen, auf der eine Seenotstaffel stationiert wurde, wurde als Militärflugplatz umfunktioniert und in den Dünen wurden über 60 schwere Geschütz- und FlaK-Stellungen sowie Regelbauten errichtet. Deren Sockel und Batterien sind nach Sprengungen heute noch in der Dünenlandschaft am Weststrand und ostwärts der Stadt sichtbar. Um die Inselmühle herum entstand bis 1938 eine Kasernensiedlung. Zwischen 1935 und 1938 wurden östlich der Stadt liegende Dünen planiert, um dort die Siedlung Nordhelm anzulegen, in der während des Krieges in erster Linie rund 2000 Soldaten mit ihren Familien und Zivilangestellte der Kriegsmarine in Reihenhäusern untergebracht waren. Der Name Nordhelm stammt von den auch als Strandhafer bezeichneten Helmpflanzen, die die Dünen bewachsen. Die Kasernenbauten des Seefliegerhorstes werden zu einem Teil erst im Jahr 1980 abgebrochen und weichen einer Reihenhaussiedlung deren Bezeichnung Alter Horst an die Nutzung in den 1920er und 1930er Jahren erinnert. Die Königsdüne Georgshöhe am Nordstrand wurde zu einer Schiffssignal- und Marinestation. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kam der Badebetrieb erneut zum Erliegen. 1939 waren noch über 48.000 Kurgäste auf Norderney, die jedoch noch vor Kriegsbeginn die Insel verlassen mussten. In den folgenden sechs Jahren war die Insel mehrfach Ziel von britischen, kanadischen und französischen Luftangriffen. Ein Arbeitslager der Organisation Todt auf der Kanalinsel Alderney erhielt die Tarnbezeichnung Lager Norderney. Dort mussten Zwangsarbeiter Befestigungsanlagen gegen eine mögliche Invasion der Alliierten bauen. Nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 wurde Norddeutschland bis zum 1. November 1946 zur britischen Besatzungszone und nach dem Bakker-Schut-Plan sollte die Gebietskörperschaft Norden-Emden, zu der Norderney gehörte, von den Niederlanden annektiert werden. 1946 richtete die britische Militärverwaltung ein Erholungszentrum für Soldaten der Besatzungstruppen und für deren Angehörige auf Norderney ein. Dazu wurden Kureinrichtungen, größere Hotels und der Golfplatz beschlagnahmt. Weitere Unterkünfte wurden für die Unterbringung von hunderten Kriegsflüchtlingen und Vertriebenen genutzt. Der Kurbetrieb wurde nach dem Krieg wieder aufgenommen. Die Militärverwaltung genehmigte ab Juli 1946 die Aufnahme von deutschen Kurgästen, zunächst jedoch noch mit Einschränkungen. Seit diesem Jahr gehört Norderney zum neu gegründeten Land Niedersachsen im eingerichteten Regierungsbezirks Aurich, der 1978 im Zuge der niedersächsischen Kreisreform in den Regierungsbezirk Weser-Ems mit Sitz in Oldenburg überging. Zuvor stand die Stadt unter preußischer Herrschaft. Die Stadtrechte wurden der Gemeinde Norderney am 5. August 1948 übertragen sowie 1949 der Status eines staatlich anerkannten Niedersächsischen Staatsbades mit dem Prädikat Heilbad. Die beschlagnahmten Kureinrichtungen wurden 1952 von den Briten freigegeben, so dass der Kurbetrieb für deutsche Erholungssuchende wieder möglich wurde. Seit dem 1. Juli 1972 gehört Norderney nach der niedersächsischen kommunalen Gebietsreform und der damit verbundenen neuen Festlegung der politischen Gemeinde- und Kreisgrenzen zum Landkreis Aurich. Schon 1959 kamen erstmals mehr als 100.000 Besucher und Kurgäste. Neue Wohnhäuser wurden errichtet, die das Stadtbild nachhaltig prägen und alte Bädervillen und Logierhäuser verdrängten. Dazu zählen zwei Hochhäuser am Nordstrand und eine Reihe von mehrgeschossigen Hotels am Weststrand, die unmittelbar hinter den historischen Strandhotels errichtet wurden. Zu den Einrichtungen für den Bäderbetrieb gehören die 1960 errichteten Liegehallen am Weststrand, die mittlerweile als Kinderspielhaus genutzt werden, ebenso wie das 1964 eingeweihte Kurmittelhaus. 1974 folgte ein beheizbares Freiluft-Meerwasser-Wellenbad, welches aus Gründen der Wirtschaftlichkeit im Jahr 2000 aufgegeben wurde. Auf dem Grundstück ist das bade~museum und seit 2010 die galerie trimborn untergebracht. Das ehemalige Becken des Schwimmbads wurde mit Sand verfüllt. Dort entstand im Jahr 2011 ein Hochseilklettergarten. 1990 wurde das Meerwasser-Wellenbad Die Welle eröffnet. Auf dem Gelände des abgerissenen Kurmittelhauses soll ein Hotel der Fünf-Sterne-Kategorie durch die Steigenberger Hotel Group errichtet werden, jedoch fehlen noch Investoren (Stand 2008). Am 17. Mai 1997 feierte die Insel mit 266.513 Gästen den 200. Jahrestag als Kur- und Ferieninsel sowie das Bestehen des ältesten deutschen Nordseeheilbades. Zum 1. Juli 1999 wurde die 1975 gegründete Niedersächsische Bädergesellschaft mbH (NBG) aufgelöst. Als Grund nannte das Land Niedersachsen die schlechte finanzielle Lage der Staatsbäder und einen hohen Kapitalbedarf, die den weiteren Betrieb unrentabel erscheinen ließen. Die der Gesellschaft angehörenden Staatsbäder Norderney, Bad Pyrmont und Bad Nenndorf gehen seither eigene Wege. Von 1999 bis 2003 war die Niedersächsische Staatsbad Norderney GmbH eine hundertprozentige Tochter des Landes Niedersachsen, jedoch mit eigenverantwortlicher Budgetierung. Zudem wurde die Stelle eines Kurdirektors eingerichtet. Am 1. Januar 2003 übernahm die Stadt Norderney die Landesgesellschaft Niedersächsisches Staatsbad Norderney GmbH und führt seitdem die kommunalen mit den touristischen Angelegenheiten unter einem Dach. Der gemeinsam von Kur- und Stadtverwaltung genutzte Verwaltungsstandort ist seit 2006 im eigens für diesen Zweck umgebauten ehemaligen Bazargebäude am Kurplatz untergebracht. Nach den Richtlinien des Deutschen Tourismusverbandes und des Deutschen Heilbäderverbandes wurde Norderney durch die Service-Agentur Bäderland Niedersachsen am 24. Februar 2010 als Nordseeheilbad reprädikatisiert. Die Auswertung wurde von einem Fachausschuss in Hannover übernommen, der eine entsprechende Empfehlung an das Niedersächsische Wirtschaftsministerium weitergab. 2020 – Auswirkungen durch die COVID-19-Pandemie Nachdem am 11. März 2020 eine Insulanerin positiv auf das neue Coronavirus SARS-CoV-2 getestet wurde, entschieden die Ministerpräsidenten der Länder Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im Zuge der COVID-19-Pandemie in Deutschland ab dem 16. März den Zugang zu den Inseln der Nord- und Ostsee für Touristen zu unterbinden. Die Allgemeinverfügung wurde durch den Landkreis Aurich am 17. März 2020 bekanntgegeben. Bereits auf Norderney befindliche Gäste und alle Zweitwohnungsbesitzer wurden aufgefordert, die Insel bis zum 22. März zu verlassen, um eine Ausbreitung unter den Insulanern zu unterbinden. Hintergrund sind intensivmedizinischen Kapazitäten auf den Inseln, die nur im eingeschränkten Umfang verfügbar und für eine große Anzahl von Besucherinnen und Besuchern vom Festland nicht ausgelegt sind. Im Falle des Norderneyer Krankenhauses gibt es nur ein Intensivbett mit Beatmungsgerät. Am 18. März wurde ein weiterer Infektionsfall von Norderney gemeldet. Die Fährverbindung der Reederei Norden-Frisia nach Norddeich wurde auf eine Verbindung pro Tag reduziert. Am 11. Mai 2020 wurden die Regelungen gelockert und Touristen mit einem Mindestaufenthalt von sieben Tagen ist der Zugang zu Ferienwohnungen gestattet. Tagesbesuche werden somit unterbunden. Nach dem bundesweiten Anstieg der Infektionszahlen wurde ab dem 2. November bis zunächst zum 30. November 2020 ein Beherbergungsverbot ausgesprochen. Bis zum 1. November angereiste Gäste durften Norderney zum geplanten Abreisedatum verlassen. Bekannte Gäste auf Norderney Seit der Gründung des ersten deutschen Nordseebades im Jahr 1797 wurde Norderney von einer Vielzahl bekannter und berühmter Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben besucht. Darunter befanden sich unter anderem Staatsoberhäupter, weshalb die Insel noch heute als Königin der Nordsee oder St. Moritz des Nordens bezeichnet wird. Zwischen 1801 und 1805 weilte General Gebhard Leberecht von Blücher auf der Insel. Als großer Förderer gilt König Georg V. von Hannover, Herzog von Cumberland, indem er erstmals 1836 und danach von 1851 bis 1866 die gesamte Hofhaltung während der Sommermonate nach Norderney verlegte. Ihm zu Ehren wurde im Jahr 1866 das Cumberland-Denkmal auf der Insel errichtet. Nachdem das Königreich Hannover im Deutschen Krieg 1866 von den Preußen besetzt wurde, war bereits 1869 Friedrich Wilhelm von Preußen, der spätere Kaiser Friedrich III. Gast auf Norderney. Unter anderem besuchten Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow, Kaiser Wilhelm II., Walther Rathenau, Gustav Stresemann, Frank Thiess, Felix Graf von Luckner, Joseph Joachim, Peter Kreuder die Insel. Gäste aus der jüngeren deutschen Politikgeschichte waren Willy Brandt, Kurt Georg Kiesinger, Walter Scheel, Karl Carstens und Horst Köhler (am 24. Juli 2006 als Schirmherr der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG)). Angela Merkel stattete Norderney am 17. August 2009 im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung vor der anstehenden Bundestagswahl einen Besuch ab. Auch unter Kulturschaffenden und Wissenschaftlern erfreute sich die Insel großer Beliebtheit. Zu erwähnen sind hier Wilhelm von Humboldt, Theodor Fontane, Jenny Lind, Clara (Sommer 1846) und Robert Schumann (Sommer 1846) sowie Kurt und Barbara Aland. Der Künstler Felix Nussbaum malte mehrere Bilder, unter anderem „Erinnerung an Norderney“. Heinrich Heine war im August 1825 sowie im Sommer 1826 und 1827 als Sommerurlauber auf Norderney. Dieser Autor hat zumindest im August 1825 einmal 50 Louis d’or in der dortigen Spielbank gelassen. Der Aufenthalt inspirierte ihn zu seinem Zyklus Die Nordsee, in dem er die Insel und ihre Einwohner beschrieb. und zu der Reihe Seestücke, einem Zeitzeugnis, welches das harte und karge Leben der Insulaner im frühen 19. Jahrhundert schildert: Zu Ehren Heinrich Heines wurde im Herbst des Jahres 1983 vor dem Haupteingang des Hauses der Insel im Stadtzentrum das durch den umstrittenen Bildhauer Arno Breker geschaffene Heine-Denkmal eingeweiht. Nach seinem Abitur besuchte Franz Kafka 1901 die Insel Norderney. Es war sein erster Urlaub, den er alleine verbrachte. In heutiger Zeit besucht SPD-Politiker Franz Müntefering regelmäßig Norderney. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler besuchte Norderney während seiner Amtszeit als Schirmherr der DLRG. Seinen Sommerurlaub verbringt der aus Niedersachsen stammende ehemalige Bundespräsident Christian Wulff auf der Insel. Politik Rat Dem Rat der Stadt Norderney gehören gemäß dem Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz (NKomVG) aufgrund der Bevölkerungszahl 16 Ratsfrauen und Ratsherren an. Dazu kommt als 17. stimmberechtigtes Mitglied der hauptamtliche Bürgermeister. Die ungerade Zahl sorgt dafür, dass es nicht zu einer Pattsituation kommen kann. Der Rat wird für fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit begann am 1. November 2021 und endet am 31. Oktober 2026.Aus dem Ergebnis der letzten Ratswahl 2021 ergab sich folgende Sitzverteilung: Bürgermeister Bürgermeister wurde im Jahr 2011 der SPD-Politiker Frank Ulrichs mit 60,31 % (2047 Stimmen). Er war Wahlvorschlag der SPD, CDU und der FDP. Der zuvor seit dem 1. November 2006 amtierende Bürgermeister Ludwig Salverius gab aufgrund einer schweren Erkrankung, der er im August 2011 erlag, sein Amt auf, so dass Ulrich bereits von Ende Juni 2011 an kommissarisch das Amt des Bürgermeisters ausübte. Wahlberechtigt waren 4994 Norderneyer Bürger. Von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten 3434 Einwohner. Den 40 ungültigen Stimmzetteln standen 3394 gültige gegenüber. Am 26. Mai 2019 wurde Ulrichs als Bürgermeister wiedergewählt. Landtagswahl Norderney gehört zum Landtagswahlkreis 87 Wittmund/Inseln, der den gesamten Landkreis Wittmund sowie im Landkreis Aurich die Städte Norderney und Wiesmoor, die Gemeinde Dornum und die Inselgemeinden Juist und Baltrum umfasst. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 wurde das Direktmandat von Karin Emken (SPD) gewonnen. Sie erhielt 38,5 % der Stimmen. Emken löst damit den vorherigen Landtagsabgeordneten Jochen Beekhuis (parteilos, zuvor SPD) ab, der seit seinem Ausschluss aus der SPD-Fraktion am 22. Oktober 2019 dem Landtag als fraktionsloser Abgeordneter angehörte. Bundestagswahl Norderney ist in drei Wahlbezirke eingeteilt. Die Stimmen können im Conversationshaus (WB I), im Gebäude der Grundschule (WB II) und der Aula der Kooperativen Gesamtschule (WB III) abgegeben werden. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Sozialdemokrat Johann Saathoff direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zog kein Kandidat der Parteien aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein. Bei der Bundestagswahl zum 19. Bundestag der Bundesrepublik Deutschland am 24. September 2017 wurde der Sozialdemokrat Johann Saathoff mit 39,81 % der Erststimmen auf Norderney gewählt. Ebenso wurde Johann Saathoff im Bundestagswahlkreis Aurich – Emden, zu dem neben der Stadt Emden auch der Landkreis Aurich und somit Norderney gehört, direkt in den Bundestag gewählt. Im Vergleich zur Bundestagswahl von 2013 gewann die SPD leicht hinzu und konnte sich als stärkste Kraft durchsetzen. Die CDU ging mit ihrem Kandidaten Reinhard Hegewald in den Wahlkampf, die FDP mit Uwe-Reiner Ewen, für die Grünen trat Gesine Agena und für die Linken Marcus Stahl an. Über Listenplätze der Parteien zog kein Kandidat der Parteien aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein. Von den 4611 wahlberechtigten Norderneyern machten 75,79 % (3495) von ihrem Recht Gebrauch. Stadtwappen und Stadtflagge Die Bürgerliche Flagge, als kleine Stadtflagge bezeichnet, ist horizontal sechsmal weiß-blau gestreift mit einem abwechselnd schwarz-weiß karierten Streifen am Liek. Das Verhältnis der Länge der Flagge zur Höhe ist drei zu fünf. Die blaue Farbe steht für das Meer, das Weiß symbolisiert die Farbe des Sandes und das Schwarz steht für das hölzerne Norderneyer Seezeichen von 1848 bis 1870. Die große Stadtflagge unterscheidet sich von der kleinen dadurch, dass sich im rechten Teil zusätzlich das Stadtwappen Norderneys befindet. Diese Dienstflagge wird nur selten gehisst. Die Ähnlichkeit der Norderneyer Flagge mit der Bremer Stadtflagge, die auch unter dem Namen Bremer Speckflagge bekannt ist, deutet auf die guten Handelsbeziehungen zur Hansestadt Bremen im 19. Jahrhundert hin. Städtepartnerschaft Die Partnerstadt Garz liegt im Süden der deutschen Ostseeinsel Rügen, südlich von Bergen. Die Partnerschaft der beiden Städte wurde direkt nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 geschlossen. Die Freiwillige Feuerwehr Norderneys erhielt als Geschenk einen Trabant 601 in roter Lackierung, der bis 2008 auf dem Dach der Feuerwache stand. Kultur und Sehenswürdigkeiten Seezeichen Kap Das Kap (auch Kaap) ist ein Seezeichen und diente vor dem Bau des Leuchtturms als Landmarke zur Erkennung der Inseln von der Seeseite aus. Auf Borkum, Langeoog und Wangerooge gibt es ähnliche Bauwerke, die entweder aus Holz bestehen oder in massiver Ziegelstein-Bauweise errichtet wurden. Das Norderneyer Kap ist eine hohe Bake, die sich am östlichen Rand des Stadtgebietes auf dem Weg zur Siedlung Nordhelm an der Bürgermeister-Willi-Lührs-Straße befindet. Sie wurde im Jahr 1848 auf Bitte der Emder Kaufleute als pyramidenförmiges Balkengerüst aus mit Pech versiegeltem Holz auf einer Düne errichtet, um Schiffsunfälle und Fehldeutungen einzuschränken. Im Jahr 1871 wurde sie durch einen Ziegelsteinbau an gleicher Stelle ersetzt und 1930 aus Stein erneuert. Auf dem sechseckigen Unterbau in ist ein auf dem Kopf stehendes Holzdreieck montiert. Dahinter wurde von 1848 bis 1874 ein Feuer (auch als Blüse bezeichnet) entzündet, das zur Identifikation der Insel bei Nacht diente. Wegen der fehlenden Bebauung und der niedrigen Vegetation war die Bake von der See aus gut zu erkennen. Heutzutage geht das Kap aufgrund seiner geringen Höhe, des nahen Kiefernwäldchens und der höheren Gebäude im Stadtbild der Insel unter. Seit dem 10. Juli 1928 wird das Kap als Norderneyer Wappenzeichen verwendet und ist das Wahrzeichen der Insel. Da Teile des Mauerwerks herausbrechen konnten, wurde das Bauwerk und die Besichtigungsplattform auf der Kap-Düne ab dem Winter 2014/15 gesperrt. Von Anfang 2015 war das Kap aufgrund starker Verwitterung der Mörtelfugen teilweise eingerüstet. Für den Abriss und Neubau des unter Denkmalschutz stehenden Kaps hat die Stadt Norderney rund 360.000 Euro veranschlagt. Am 20. März 2017 wurde das endgültig einsturzgefährdete Kap innerhalb weniger Stunden abgerissen, der originalgetreue Neubau wurde mit einem Stahlbetonkern versehen und mit hochwertigen Ziegelsteinen verkleidet, um denselben äußerlichen Eindruck wie der Vorgänger zu erwecken. Im April 2017 begannen die Wiederaufbauarbeiten. Mit der am 9. Oktober 2017 erfolgten Installation des Toppzeichens, einem aus drei Tonnen Eichen-Kernholz bestehenden Dreiecks, ist das Kap wieder komplett. Leuchttürme Nach Plänen der Königlich-Preußischen Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wurde in den Jahren 1872 bis 1874 der Leuchtturm in der Inselmitte durch die Königliche General-Direktion des Wasserbaus gebaut. Seitdem ist er das einzige aktive Seefeuer auf der Insel. Der Große Norderneyer Leuchtturm wurde am 1. Oktober 1874 als festes Schifffahrtszeichen der Insel Norderney eingeweiht. Mit dem Leuchtturm wurde die Sicherheit des Schiffsverkehrs vor der Deutschen Küste erhöht; er schloss eine Lücke zwischen den Leuchtfeuern von Borkum bis Wangerooge. Das Leuchtfeuer wurde im Jahr 1926 auf elektrisches Licht umgestellt und hat seit 1977 die Blitzkennung (Blz.(3) 12 s). In der Hafeneinfahrt stand von 1980 bis 2016 ein kleines, weiß-rot gestreiftes Leuchtfeuer, das Norderneyer Unterfeuer. Es war ein Stahlmast mit einem Mastkorb und einer roten Signallampe, die sieben Seemeilen weit auszumachen war. Das dazugehörende Oberfeuer ist ein hoher rot-weiß gestreifter Mast, der stadteinwärts hinter dem Deich an der Zufahrt zum Fähranleger steht. Dieser Mast wird zudem als Windmessstation genutzt. Die beiden Objekte bildeten die Richtfeuerlinie Norderney-Hafen. Im Zuge des Neubaus des Fähranlegers wurde das Unterfeuer 2016 demontiert. Sonstige Seezeichen Neben dem Kap und dem Leuchtturm gibt es noch andere Landmarken, mit denen Norderney von der See- und von der Wattseite aus auszumachen ist. Dazu zählt aufgrund seiner Höhe der 1930 eingeweihte hohe Wasserturm. Daneben gibt es im Osten der Insel noch drei kleinere Seezeichen aus Holz. Die Postbake, östlich des den Grohdepolders nach Süden hin abgrenzenden Hungerdeichs gelegen, wurde im 19. Jahrhundert als Peilbake vom Festland aus genutzt. Die Post wurde in dieser Zeit per Kutsche von Hilgenriedersiel aus über den Alten Postweg durch das Wattenmeer befördert. Heute können von diesem Punkt aus geführte Wattwanderungen in Richtung Neßmersiel unternommen werden, bei denen das Festland trockenen Fußes in rund zweieinhalb Stunden erreicht wird. Ein weiteres Seezeichen ist eine Peilbake auf der zum Aussichtspunkt umfunktionierten Mövendüne zwischen Leuchtturm und Inselende im Osten. Die Ostbake befindet sich am äußersten östlichen Inselrand. Museen Im 2007 eröffneten Museum Nordseeheilbad Norderney wird die Badetradition des Nordseeheilbades veranschaulicht. Es befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Freibades am Weststrand. Die Schwerpunkte des Museums sind die Badekultur Norderneys in den zurückliegenden drei Jahrhunderten und die Entwicklung des Inselortes zum heutigen Seebad Norderney. Auf 650 Quadratmeter Ausstellungsfläche bietet die Dauerausstellung grundlegende Informationen über Meer, Strand, Bäderbetrieb, Ortsentwicklung, Handel und Gewerbe der Insel und Unterhaltung im Seebad. Die rund zwanzig ehrenamtlichen Mitarbeiter richten darüber hinaus regelmäßig Wechselausstellungen ein. Träger des Museums ist der Förderverein Museum Nordseeheilbad Norderney mit 180 Mitgliedern. Das Norderneyer Fischerhausmuseum ist das Heimatmuseum der Insel und befindet sich seit 1937 im Argonner Wäldchen hinter dem Conversationshaus am Weststrand. Das Gebäude ist ein Nachbau eines alten Norderneyer Fischerhauses aus dem 17. Jahrhundert. Betreiber des Museums ist der Heimatverein Norderney. Das Museum vermittelt die Geschichte des ältesten deutschen Seebades an der Nordseeküste und die karge Lebensweise der ersten Inselbewohner. Zahlreiche Exponate und Dokumente informieren über das Alltagsleben auf Norderney, über Sitten und Gebräuche sowie über die Norderneyer Seefahrertradition und den Fischfang. Angeschlossen ist das Alte Schießhaus der Seebadeanstalt Norderney. Das Gebäude wird als Hochtiedsstuv (Standesamt) genutzt und es werden dort unter anderem friesische Teeseminare veranstaltet. Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger unterhält auf Norderney im ehemaligen Rettungsbootsschuppen-West (erbaut 1892) an der Promenade am Weststrand ein historisches Museum. Die Geschichte der deutschen Seenotretter wird dort anschaulich präsentiert. Viele der Norderneyer Männer waren noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts Seenotretter. Das ausgestellte, 8,5 Meter lange, Ruderrettungsboot der Bootstation-West Fürst Bismarck wurde 1893 gebaut und im Notfall mit Pferden aus dem Schuppen und über den Strand in die Brandung gezogen. Es folgten in den nächsten Jahren weitere Boote, darunter die Upstalsboom, die Barmen sowie das erste Motorrettungsboot Bremen II (von 1930 bis 1940); jedoch wurde die Fürst Bismarck erst 1975 außer Dienst gestellt. Der von 1969 bis 1997 auf Norderney stationierte Seenotrettungskreuzer Otto Schülke mit seinem Tochterboot Johann Fidi II (benannt nach einem Norderneyer Seenotretter, der in dritter Generation dieser Aufgabe nachging) übernahm die Dienste der Seenotrettung von Januar 1945 bis März 1969 hier stationierten Motorrettungsboot Norderney. Das Rettungsboot der 2004 als Versammlungsgebäude neu errichteten 1868 im heutigen Hafen befindlichen Bootsstation Norderney-Ost Amalie Wilhelm Ernst ist im Verzeichnis der Bootsstationen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger mit Angaben der Bootsnamen von 1913 verzeichnet, es gibt jedoch keinen Nachbau, der ausgestellt werden kann. Bauwerke im Stadtgebiet Die Stadt Norderney ist von den Fassaden einer Vielzahl von zum Teil im 19. Jahrhundert im wilhelminischen Stil errichteten Gebäuden geprägt. Ein 1987 von der Bezirksregierung Weser-Ems in Auftrag gegebenes „Verzeichnis der Baudenkmale der Stadt Norderney“ zählt über einhundert unter Denkmalschutz stehende Gebäude im Stadtgebiet auf, obwohl es kein städtebauliches Entwicklungskonzept gibt. Im Jahr 2018 stehen 137 Gebäude unter Denkmalschutz. So finden sich neben Bauten der wilhelminischen Ära weitere Gebäude im Jugendstil, Bäderstil, Klassizismus und Biedermeier sowie die mittlerweile als Bausünden der 1960er Jahre angesehenen Gebäude, die die Ansicht der Stadt nachhaltig prägen; so beispielsweise zwei 1964 gebaute Hochhäuser an der Kaiserstraße, der Nordseite des Stadtgebiets (Heutige Appartementhäuser Nordseeblick). Die nachfolgende Auflistung stellt die markantesten und wichtigsten Gebäude vor. Die Marienhöhe ist eine hohe Düne im äußersten Westen der Insel am Stadtrand direkt an der Strandpromenade. Benannt wurde sie nach Königin Marie von Hannover, der Gemahlin König Georgs V. von Hannover. Bekanntheit erlangte die Düne durch den Dichter Heinrich Heine, der sein Lied am Meer hier geschrieben haben soll. Zu seinen Ehren ließ Marie von Hannover auf der Kuppe der Düne einen kleinen Holzpavillon errichten, der zum Verweilen einladen sollte. Bereits 1868 wurde unterhalb der Düne ein Café erbaut, das den gleichen Namen trug. 1923 wurde der Pavillon durch das noch existierende und als Café genutzte markante Steingebäude ersetzt. Kurze Zeit nach der Gründung des Seebades Norderney wurde 1799 am Rand des Ortszentrums ein Kurhaus (Großes Logierhaus, später auch Conversationshaus genannt) mit einem kleinen Festsaal, einer Billardstube und einem Spielsalon errichtet. Dieses Gebäude wurde im Jahr 1822 durch einen Steinbau ersetzt und dieser im Laufe der Jahre um einen Arkadengang und einen Turm in der Mitte des Gebäudes sowie einem angeschlossenen Wohnhaus an der Westseite erweitert. In diesem Wohnhaus, das in den 1920er Jahren bei Renovierungsarbeiten abgerissen wurde, waren im 19. Jahrhundert der Sitz der Königlich Hannoverschen Badeverwaltung und die Wohnung des Königlichen Badekommissars untergebracht. Zwischen den Jahren 1837 und 1865 diente das Conversationshaus dem hannoverschen Königspaar als Sommerresidenz. 1865 wohnte dort Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, der spätere deutsche Kaiser Friedrich III. Im Jahr 1904 wurde in diesem Haus der letzte deutsch-russische Handelsvertrag vor dem Ersten Weltkrieg unterzeichnet. Daran erinnert eine im Gebäude angebrachte Gedenktafel: Im Kurhaus, das nach umfangreichen Renovierungsarbeiten im Sommer 2008 unter dem alten Namen Conversationshaus wiedereröffnet wurde, sind ein Spielcasino, das Touristen-Informationszentrum, die Stadtbibliothek, sowie Veranstaltungsräume, ein Geschäft und ein Café untergebracht. Aus dem 19. Jahrhundert stammt das vom hannoverschen Architekten Johannes Holekamp erbaute Kurtheater. Zunächst fanden Theateraufführungen im schräg gegenüberliegenden Conversationshaus statt. In den Jahren 1893/1894 ließ der Norderneyer Hotelier Gustav Weidemann das erste privat geführte Theater der Insel errichten. Nach dem Vorbild des Opernhauses in Hannover wurde das Kurtheater am 1. Juli 1894 feierlich eingeweiht. Im Kurtheater finden heute Theateraufführungen der Landesbühne Niedersachsen Nord und unter anderem die Filmvorführungen des Internationalen Filmfestes Emden-Norderney statt. Kaiserliches Postamt: Nachdem das Königreich Hannover Norderney 1819 zum Staatsbad ausgerufen hatte, wurde 1824 eine erste kleine Poststation im Stadtzentrum eingerichtet. Der Postverkehr wurde im 19. Jahrhundert nur während der Sommermonate aufrechterhalten, um die Post der Gäste aufzunehmen oder an sie weiterzugeben. 1844 wurde durch die Hannoversche Post zwischen Norden und Norderney ein regelmäßiger Postkutschenverkehr durch das Watt eingeführt. Die schon erwähnte Postbake im Osten der Insel und der Alte Postweg erinnern an diese Zeit. Erst mit der Einrichtung einer Dampfschiffs-Linienverbindung zwischen Norddeich Mole und Norderney ab 1872 konnte die Post ganzjährig zuverlässig befördert werden. Aufgrund der stetig steigenden Gästezahlen und der Vergrößerung des Postvolumens wurde 1888 durch die Preußische Postdirektion ein erstes Postgebäude angemietet. Am 1. April 1892 wurde das noch existierende Postamt im Stadtzentrum eingeweiht. Neben einem Postamt wurden Läden und Dienstwohnungen in diesem Gebäude untergebracht. Seit 1989 steht das markante Gebäude unter Denkmalschutz. Wegen der hohen Betriebskosten wurde Ende 2008 ein Gebäude im Gewerbegebiet Norderneys zu einem Post- und Paketzentrum eingerichtet. Das alte Postgebäude wird in ein Wohn- und Geschäftshaus umgewidmet. Das Haus der Insel war das Gemeinde- und Veranstaltungszentrum Norderneys. Es wurde am 1. Mai 1977 eröffnet. Es befand sich gegenüber dem Kurtheater im Stadtzentrum; auf dem Vorplatz steht die Statue Heinrich Heines. Aufgrund hoher Unterhaltungskosten wurde längere Zeit über eine alternative Nutzung des Gebäudes nachgedacht. Eine Schließung wurde von der Stadtverwaltung zwar vorerst abgelehnt, aber Brandschutzmängel und Schadstoffbelastung führten zum Abriss ab Februar 2020. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Kreuzung Herrenpfad/Friedrichsstraße/Knyphausenstraße ist ein aus 75 Steinen bestehender hoher Obelisk. Dieser erinnert an die Reichseinigung im Jahr 1871. Die Steine wurden von 61 deutschen Städten und Reichsstädten und Provinzen gestiftet und tragen deren Namen eingraviert. Die Idee des Obelisken hatte Paul Wallot, Architekten des Obelisken waren die Brüder Helfriedt und Georg Küsthardt. Inselwindmühle: Im Jahr 1862 wurde die einzige Inselwindmühle in Niedersachsen als Kornwindmühle in der Bauform eines einstöckigen Galerieholländers durch den aus Ostermarsch stammenden Müller Eilert Abben errichtet. Die Mühle steht als Bau- und Industriedenkmal unter Denkmalschutz und wird Selden Rüst genannt, was übersetzt selten ruhig bedeutet. Im 19. Jahrhundert konnten die beiden Mahlsteine täglich bis zu fünf Tonnen des auf der Insel angebauten Getreides (Weizen, Roggen und Gerste) für die Norderneyer Bäcker mahlen. Die reetgedeckte Mühle brannte nach Reparaturarbeiten am 24. April 1951 völlig nieder und wurde 1953 unter anderem durch Fördermittel des Heimatvereins Norderney wieder neu errichtet. Bis 1962 wurde in der Mühle Korn gemahlen. Letzter Müller war Ocko Luitjens Fleetjer. Im Jahr 1970 begannen Umbauarbeiten zu einem noch heute in der Mühle befindlichen Gastronomiebetrieb. Seit 2010 ist die Mühle ein ausgewiesener Standort der Niedersächsischen Mühlenstraße. Schulgebäude: Eines der markantesten Gebäude im Norderneyer Stadtgebiet ist das dreigeschossige Schulgebäude. Es wurde am 15. Oktober 1900 als Central-Schulgebäude eingeweiht und bot den zu dieser Zeit 700 Schulkindern der Insel eine Lernstätte in Form einer Grund- und einer Mittelschule. Auf Geheiß des Schulrektors und späteren Bürgermeisters Jann Berghaus wurden ab 1903 die Privatschulen der Insel ebenfalls in dem großen Schulgebäude eingegliedert und untergebracht. Bis zum 1. Mai 1952 war das Schulgebäude das einzige der Insel, bis die heutige Kooperative Gesamtschule Norderney in den ehemaligen Kasernengebäuden an der Mühle eröffnet wurde. In den Jahren 2010/2011 wurde der Uhrenturm des mittlerweile unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes einer Sanierung unterzogen. Mit dem Abbau des Turms wurde am 7. Juni 2010 begonnen. Die Kuppel erhielt eine neue Kupferverkleidung und eine Windrose mit einem Segelschiff. Die Napoleonschanze, die mit dem angeschlossenen Schwanenteich zum erweiterten Kurpark im Stadtgebiet gehört, wurde zwischen 1811 und 1813 errichtet. Sie ist das älteste noch im Urzustand erhaltene Bau- und Kulturdenkmal der Insel. Ostfriesland war zu dieser Zeit von Napoleons Armeen okkupiert und wurde als Département Ems-Oriental an die Niederlande abgetreten. Norderney lag zu dieser Zeit im Arrondissement Aurich, Kantonsort war Norden. Die Insulaner litten unter der durch Frankreich verhängten Kontinentalsperre gegen England und dem daraus resultierenden Seehandelsverbot. In dieser Zeit blühte auf Norderney wie auf den anderen Ostfriesischen Inseln der Schmuggel. Zu dessen Bekämpfung wurden 300 Soldaten auf der Insel stationiert, die einen Wall sowie eine Geschützstellung errichteten. Dieser Wall folgte zum Teil dem damaligen natürlichen Küstenverlauf zur Wattseite. Die heutige Marienstraße bildete damals den südlichen Rand der Insel. Erst im mittleren bis späten 19. Jahrhundert wurde dieser Bereich durch Landgewinnung vergrößert und darauf später das Hafenbecken und der Militärflugplatz errichtet. Am Rand der Schanze befindet sich auf einem Hügel ein am 20. Oktober 1930 eingeweihtes Kriegerdenkmal für die im Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 gefallenen Söhne der Insel in Form eines breiten Kreuzes. Der sogenannte Bismarck-Stein wurde von dem Bildhauer Hermann Hosaeus entworfen und gebaut. Das Kreuz trägt auf der Vorderseite die Inschrift: Auf der Rückseite sind die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Norderneyer eingraviert. Der 1929 nach Plänen des Auricher Baurats Eggerling errichtete und 1930 in Betrieb genommene Wasserturm am östlichen Stadtrand ist nach dem großen Leuchtturm das zweithöchste Gebäude der Insel. Er hat eine Höhe von und ist breit. Der Wasserturm kann wie der Leuchtturm besichtigt werden. In ihm befindet sich ein 500.000 Liter fassender Wassertank, der als Trinkwasserreservoir und Druckausgleichsbehälter der im Sediment der Insel befindlichen Süßwasserlinse dient. Ein Vorgängerbau des Wasserturms war von 1890 an einem Lüftungsturm an der südlichen Seite der Kapdüne. Dieser Turm hatte die Aufgabe das geförderte Trinkwasser mit Sauerstoff zu belüften, um schwefelhaltige Verbindungen im Wasser zu lösen. Sport Norderney bietet viele Möglichkeiten, Sport auszuüben. Zu nennen ist in erster Linie das als Freizeitbad konzipierte und 1931 erstmals errichtete und mehrmals umgebaute Meerwasserwellenbad Die Welle. Nach einem erneuten Umbau wurde am 13. August 2005 das größte Thalassozentrum Deutschlands unter dem Namen bade:haus norderney eröffnet. Das bade:haus norderney verzeichnete im Jahr 2009 über 119.000 Besucher und bietet auf drei Ebenen eine moderne Meerwasserbade- und Saunalandschaft mit aerosolhaltiger Luft sowie Behandlungen mit Schlick und ein angeschlossenes Wellen- und Spaßbad. Daneben wird auf der Insel Windsurfen, Wellenreiten, Strandsegeln, Kitesurfen, Reiten, Beachsoccer, Tennis, Minigolf und Golf angeboten. Die Norderneyer Rad- und Wanderwege haben eine Gesamtlänge von über 80 Kilometern. Zudem besteht ein Wegenetz von Reitwegen in den Dünen, die teilweise parallel zu den Rad- und Wanderwegen verlaufen. Daneben werden geführte Wattwanderungen von einheimischen Wattführern angeboten. Ausschließlich in den Wintermonaten wird der Norderneyer Volkssport – das Boßeln, Klootschießen genannt – ausgeübt. Ein erster Klootschießverein wurde Ende Januar 1913 auf der Insel gegründet. Die Spieler verschiedener Vereine gründeten 1963 die Norderneyer Klootschießergemeinschaft. Der 1946 gegründete Turn- und Sportverein (TuS Norderney) e. V. bietet insgesamt 13 Sportarten für die Insulaner an, unter anderem Fußball, Volleyball, Tischtennis, Radfahren und Gymnastik. Mit rund 1400 Vereinsmitgliedern ist er der größte Verein der Insel Norderney und zugleich der größte Inselverein Deutschlands. Der Verein bringt seit 1977 ein jährliches Vereinsmagazin über das zurückliegende Sportjahr unter dem Namen Flutlicht heraus. Neben vier Tennisplätzen mit Aschebelag sowie dem Vereinsheim stehen auf dem Vereinsgelände eine 400 Meter Rundlaufbahn und ein wettkampfgeeigneter Fußballplatz zur Verfügung, auf dem die Fußballabteilung des Vereins die Heimspiele austrägt. Die erste Herren-Fußballmannschaft spielte in der Saison 2009/2010 aufgrund von Personalproblemen nach freiwilligem Abstieg aus der Kreisliga in der zweiten Staffel der 1. Kreisklasse/Kreis Aurich. Dort fand in der Saison 2009/2010 unter anderem das Duell gegen den TSV Juist statt. Zur Saison 2010/2011 stieg die Mannschaft, bedingt durch eine neue Klasseneinteilung des Spielausschusses, in die 1. Kreisleistungsklasse auf. Daneben gibt es in allen Sportarten Jugendabteilungen für Jungen und Mädchen. Auf den Sportstätten des Vereins können Norderneyer und Gäste von Mai bis September jeden Dienstag das Sportabzeichen erwerben. Der Fußballverein Werder Bremen nutzte die Sportstätten des TuS Norderney von Sommer 2001 bis Sommer 2012 unter dem langjährigen Trainer Thomas Schaaf regelmäßig, um während der Sommerpause seine Fußballprofis auf die anstehende Saison der 1. Fußball-Bundesliga vorzubereiten. Im Januar 2010 veranstaltete der KFC Uerdingen ein ähnliches Trainingslager als Saisonvorbereitung. Am 12. Juli 2010 trafen beide Mannschaften in einem Testspiel auf Norderney aufeinander. Im Juli 2014 war Eintracht Frankfurt mit Trainer Thomas Schaaf zur Vorbereitung auf der Insel. Zusammen mit der Stadtverwaltung Norderney hat die Athletikriege des TuS Norderney im Jahr 2010 sieben Laufsportwege konzipiert, die zwischen drei und 22 Kilometer lang sind und auf unterschiedlichen, farblich gekennzeichneten Routen durch die Stadt und über die Insel führen. Der Segelverein Norderney (SVN) richtet jedes Jahr eine Segelregatta aus. Des Weiteren gibt es eine Segelschule auf Norderney. Ein Schießsportverein hat sein Vereinsgebäude am östlichen Stadtrand an der Meierei. Veranstaltungen Das Internationale Filmfest Emden-Norderney ist mit etwa 22.000 Besuchern das größte Filmfest in Niedersachsen. Es wurde 1990 mit der Förderung durch den Regisseur Bernhard Wicki ins Leben gerufen und findet alljährlich acht Tage zwischen Ende Mai und Anfang Juni in der Seehafenstadt Emden und auf Norderney statt. Auf Norderney besuchten in den Jahren 2007 und 2008 mehr als 3000 Kinogänger die Filmvorführungen. Die Sportveranstaltungen auf der Insel haben zum Teil nationale und internationale Bedeutung. Das White-Sands-Festival findet jedes Jahr am Pfingstwochenende statt. Die Veranstaltung zieht neben den Sportinteressierten auch viele Partygäste nach Norderney. So wurden 2008 zirka 60.000 Gäste gezählt; die Fährreederei richtete zum Transport 24 Fährverbindungen statt der üblichen acht pro Tag ein. Neben dem Deutschen Windsurf-Cup wird bei dieser Veranstaltung auch ein Beachvolleyball-Cup im Rahmen der Techniker Beach Tour (früher Smart Beach Tour) ausgetragen. Seit 1999 wird jeweils Anfang Juni der Beach-Soccer Junior Fun-Cup auf der Insel veranstaltet. Mit über 50 teilnehmenden Mannschaften ist er das größte Vereinsturnier des Landes Niedersachsen. Mit ihm werden die Landesmeisterschaften der C-, D-, E- und F-Jugend im Strandfußball ausgetragen. Ausrichter ist der TuS Norderney. Mit insgesamt 58 Mannschaften und rund 800 Teilnehmern fand vom 14. bis zum 16. Juni 2013 das 8. Kempa Beach-Handball-Turnier des TuS Norderney statt. Das Turnier findet am Ostbadestrand der Weißen Düne statt und erfreut sich wachsender Beliebtheit. Zum Vergleich, 2009 gingen 56 Mannschaften mit rund 650 Teilnehmern verschiedener Altersklassen an den Start. Bereits seit 1994 findet jeweils Ende Juli das Insel-Springen statt. Bei diesem Stabhochsprung-Meeting auf der Kurplatzwiese trifft sich die Weltelite des Stabhochsprungs. So nahmen schon Heike Henkel, Stefka Kostadinowa und Tim Lobinger, der das Inselspringen dreimal für sich entscheiden konnte, an dieser Veranstaltung teil. Bereits zum 22. Mal wurde am 17. Juli 2010 der Citylauf des TuS Norderney ausgetragen. Es handelt sich dabei um den größten Volkslauf auf einer Ostfriesischen Insel mit weit über 1000 Teilnehmern, die Strecken von fünf oder zehn Kilometern wählen können. Der Lauf führt an der Strandpromenade entlang und durch Teile der Innenstadt. Am 21. August 2010 fand der erste Insel-Triathlon Islandman vor rund 10.000 Zuschauern auf Norderney statt. Etwa 450 Teilnehmer gingen in fünf verschiedenen Wettkampfdistanzen an den Start. Jeweils im September eines Jahres veranstaltet der Reit- und Fahrverein Norderney seit 1960 ein Reitturnier und lädt zur Jagdwoche ein. Im November wird das Fußball-Alt-Herren-Turnier in der Turnhalle des TuS Norderney ausgetragen. Über den Jahreswechsel wird seit 1984 in der Turnhalle des TuS Norderney ein Fußballhallenturnier der Freizeitmannschaften durchgeführt. Traditionell am Neujahrstag findet am Weststrand das Neujahrsbaden statt. In der Konzertmuschel auf dem Kurplatz werden in den Sommermonaten Kurkonzerte aufgeführt. Die touristische Infrastruktur der Insel ist vielseitig gegliedert. Neben dem Inselkino gibt es ein Theater, in dem unter anderem das Inselmusical Hakenhand besucht werden kann sowie kulturelle Angebote für Freizeit, Bildung und Sport für alle Altersschichten. Vereine Außer Sportvereinen gibt es auf Norderney eine Reihe gemeinnütziger Vereine, wie die Arbeiterwohlfahrt mit dem Kurzentrum in der Benekestraße. Weiterhin zu nenne sind die 2003 gegründete Bürgerstiftung, der Astronomische Arbeitskreis und der 1926 gegründete Heimatverein Norderney, dessen Bestreben es ist, Norderneyer Volksgut, Sitten und Gebräuche in Wort und Schrift zu erhalten. Die Freiwillige Feuerwehr wurde nach einem Großbrand auf der Insel im Jahr 1884 gegründet. Sie besteht aus einem Löschzug, der über ein Tanklöschfahrzeug (TLF), zwei Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeuge (HLF), eine Drehleiter (DLK), ein Löschgruppenfahrzeug für den Katastrophenschutz (LF 20 KatS), ein Mannschaftstransportfahrzeug (MTF), einen Einsatzleitwagen (ELW 1) und einen Unimog als Löschgruppenfahrzeug (LF8) verfügt. Zur Ausbildung zukünftiger Kräfte besteht seit 1992 eine Jugendfeuerwehr. Das 125. Jubiläum des Bestehens der Feuerwehr wurde am 17. Januar 2010 mit einem Festakt im Conversationshaus gefeiert. Im August 2010 feierte der aus etwa 590 Mitgliedern bestehende Norderneyer Seglerverein sein 85-jähriges Bestehen. Kulinarische Spezialitäten Der Norderneyer Seeluftschinken gilt heute als eine kulinarische Spezialität der Insel Norderney, obwohl es sich bei diesem Produkt um keine traditionelle Delikatesse handelt, sondern vielmehr um eine jüngere Vermarktungsinitiative. Der Vertrieb erfolgt über die Sauels AG mit Sitz in Tönisberg bei Kempen am Niederrhein. Religion Christentum Der Großteil der Norderneyer Bevölkerung ist protestantisch. Der Landkreis Aurich, zu dem Norderney zählt, gehört mit einem Anteil von etwa 85 Prozent zu den Gebieten in Deutschland mit dem höchsten Anteil von Lutheranern an der Gesamtbevölkerung. Norderney hat mit 3400 Mitgliedern die größte evangelische Kirchengemeinde im Kirchenkreis Norden. Sie ist Träger eines Inselkindergartens und des neuen Inselfriedhofs. Das Gemeindehaus Martin-Luther-Haus steht in der Kirchstraße gegenüber der evangelischen Inselkirche. Evangelische Inselkirche Über die Ursprünge des christlichen Glaubens liegen wenige Quellen vor. Das erste kirchenartige Gebäude der Insel Norderney entstand bereits kurz nach der Reformation im Jahr 1518, was aus einer Kirchenrechnung der Stadt Norden hervorgeht, wonach 500 Ziegelsteine für die Reparatur eines Kirchenbaus verwendet werden sollten. Dabei handelte es sich um ein einräumiges, rechteckiges Gotteshaus, dessen Innenraum etwa 50 Quadratmeter groß war. Es war auf dem Platz der heutigen evangelischen Inselkirche errichtet worden und bildete zusammen mit dem alten Friedhof den Mittelpunkt des Ortes. Das turmartige Gebäude konnte von den Inselbewohnern als Unterschlupf bei Gefahren wie etwa Sturmfluten oder durch Angriffe von Seeräubern benutzt werden. Auf der Seekarte von Sgrothenthum aus dem Jahr 1564 ist bereits ein höheres Gebäude im Westteil der Insel Nie Norderoghe verzeichnet. Nachdem die Kirche im Laufe der Jahrhunderte zur Seefahrerkirche für die stetig wachsende Einwohnerzahl ausgebaut worden war, entschied man sich 1878 für einen Neubau im neugotischen Stil. Das alte Gebäude aus Holz wurde durch einen Steinbau mit einem hohen Kirchturm ersetzt. Eingeweiht wurde die Kirche am 11. Juni 1879, dem Tag der goldenen Hochzeit des deutschen Kaiserpaares Wilhelm I. und Augusta, als neue Evangelische Inselkirche an der Kirchstraße. Eine Gedenktafel am Haupteingang erinnert an dieses Datum. Am 23. Mai 2008 wurde die durch Spendengelder finanzierte neue Orgel der Kirche feierlich eingeweiht. Sie wurde von Harm Dieder Kirschner erbaut, verfügt über 30 Register auf drei Manualen und Pedal und weist eine romantische Disposition auf. Evangelische Waldkirche Seit 1912 befindet sich im Inneren der Napoleonschanze die evangelische Waldkirche. Der damalige Inselpastor Christoph Friedrich Wilhelm Rieschel hatte die Idee, im Schutz des kleinen Wäldchens eine Naturkirche einzurichten. Auf der von den Erdwällen der Schanze umgebenen Fläche werden in den Sommermonaten von Juni bis August Gottesdienste gefeiert. Daneben gibt es noch die evangelische Genezareth-Kapelle im Kinderkrankenhaus Seehospiz Kaiserin Friedrich, Benekestraße 27. Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten) Auf Norderney gibt es seit 1988 einen Zweig der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde mit Sitz in Norden. Die Veranstaltungen finden in der Genezareth-Kapelle des Seehospizes statt. Römisch-katholische Inselgemeinde Die römisch-katholische Kirchengemeinde ist nach dem heiligen St. Ludgerus benannt. Sie wurde, nachdem es seit der Reformation keine Katholiken auf der Insel gegeben hatte, 1884 neu gegründet und gehört zum Dekanat Ostfriesland im Bistum Osnabrück. Die Anfänge der Gemeinde reichen ins Jahr 1840 zurück, als der Norder Pfarrer Heinrich Lackmann beim Bistum Osnabrück um einen Geistlichen für Norderney bat. Aufgrund der kurzen Badesaison und der geringen Zahl katholischer Inselgäste (um das Jahr 1850 etwa 100) wurde die Bitte abgelehnt. Ein Bauunternehmer aus Norden erhielt am 29. Mai 1883 den Auftrag, die Pfarrkirche St. Ludgerus im neogotischen Stil als Saalkirche zu errichten. Das Geld stammte größtenteils aus Spenden der katholischen Kurgäste, die immer zahlreicher auf die Insel strömten. Am 17. Juli 1884 wurde die Kirche geweiht. Zum 1. Januar 1909 wurde der erste Pfarrer auf Norderney eingesetzt, für den im Jahr 1912 an der Westseite des Kirchengebäudes ein eigenes Haus angebaut wurde. 1923 wurde die Kirchengemeinde Norderney zu einer selbstständigen Kuratiegemeinde, 1974 erhielt sie den Status einer Pfarrgemeinde. Bedingt durch den Zuzug von Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten wuchs die Gemeinde in den Nachkriegsjahren zeitweise auf über 800 Mitglieder an. Die Zahl der katholischen Gemeindemitglieder lag im November 2014 bei 1156. Das zweite Kirchengebäude der Kirchengemeinde St. Ludgerus ist die 1931 nach den Plänen des Architekten Dominikus Böhm im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete Kirche Stella Maris (Meeresstern) an der Goebenstraße. Konzipiert wurde das Gebäude zunächst als Sommerkirche für die katholischen Kurgäste und die in Erholungsheimen untergebrachten Kinder. Ein großes über dem Altar angebrachtes Gemälde von Richard Seewald trägt den Titel Stella Maris und zeigt mit Wellen, Schiffen und einem Leuchtturm maritime Motive. Seit einem Umbau im Jahr 1978, bei dem unter anderem eine Heizungsanlage eingebaut und die Raumaufteilung verändert wurde, wird das Kirchengebäude ganzjährig genutzt. In der größten katholischen Kirche Ostfrieslands finden 700 Besucher Platz. Am 13. Juni 2010 wurde eine neue, aus der Bremer Herz-Jesu-Kirche stammende Orgel in der Stella-Maris-Kirche eingeweiht. Der Gottesdienst wurde von NDR, RBB und WDR übertragen. An der Roonstraße liegt auf dem Gelände eines Hotels eine kleine Marienkapelle. Diese gehörte zu einem durch Ordensschwestern betriebenen Kinderkurheim. Das Hotel unterhält die Kapelle und den daran angeschlossenen Rosengarten weiter. Sonstige Gemeinschaften Die Neuapostolische Kirche hat ihr Gemeindezentrum seit 1955 am Südwesthörn. Sie gehört zum Ältestenbezirk Emden des Bezirks Norddeutschland der Neuapostolischen Kirche Deutschlands. Für ihre Zusammenkünfte unterhalten die Zeugen Jehovas einen Königreichssaal. Judentum Mit der Entwicklung Norderneys zum ersten deutschen Nordseeheilbad wurde die Insel von einer größeren Zahl Juden besucht. In ihrem Gefolge ließen sich Juden aus Ostfriesland auf der Insel nieder, gründeten jedoch keine eigene Synagogengemeinde, sondern gehörten zu der Synagogengemeinde in Norden. Im Jahr 1878 wurde auf Sondererlass des Kaisers Wilhelm I. für die vielen jüdischen Badegäste der Insel eine Synagoge als Ersatz für die zu klein gewordene Privatsynagoge der Familie Abraham von der Wall gebaut. Schon vor dem Ersten Weltkrieg galt Norderney als „reiches Judenbad“, ganz im Gegensatz zu den anderen Inseln, vor allem zu Borkum, auf denen sich der Bäder-Antisemitismus festsetzte. Von 1933 an sollte Norderney ein „deutsches“ Bad werden; damit setzte die Ausgrenzung und Deportation der auf der Insel sesshaften Juden ein. Am 14. Dezember 1933 bezeichnete sich Norderney als judenfrei. Die letzten beiden jüdischen Mitbürger verließen die Insel 1941. Nachdem während der Zeit des Nationalsozialismus immer weniger Juden auf die Insel gekommen waren, wurde die Synagoge, in der seit 1933 kein Gottesdienst mehr stattgefunden hatte, am 11. Juli 1938 an den Norderneyer Eisenwarenhändler Valentin für 3500 Reichsmark unter der Bedingung verkauft, alle Hinweise auf die Synagoge zu entfernen. Dieser Umstand bewahrte das Gebäude vor der Zerstörung in der Reichspogromnacht am 9. November 1938. Heute befindet sich ein Restaurant in dem Gebäude an der Schmiedestraße. Friedhöfe Auf dem Gelände der evangelischen Inselkirche befindet sich der Friedhof der Kirchengemeinde Norderney, auf dem bis zum Jahr 1875 die Toten der Insel bestattet wurden. Einige Grabdenkmäler aus dem 19. Jahrhundert sind mit besonderen maritimen Ornamenten, wie zum Beispiel mit einem Segelschiff, versehen. Besonders hervorzuheben ist das gusseiserne Grabkreuz des 1864 gestorbenen Giovanni Velcich, einem der Gefallenen des Krieges zwischen dem Deutschen Bund und Dänemark sowie das Grabkreuz mit Umfriedung des 1872 verstorbenen Hillrich Jacobs Rass, welcher Kapitän der Yacht König Georgs V. von Hannover war. Dieser heute so genannte „alte“ Friedhof wurde 1876 durch den neu angelegten und größeren kommunalen Friedhof an der Jann-Berghaus-Straße abgelöst. Auf ihm steht die Auferstehungskapelle „Baptizatus sum!“. Wirtschaft und Infrastruktur Die Nutzbarkeit der Flächen um die Insel herum und auf ihr für gewerbliche Zwecke wird durch die Einrichtung von Schutzzonen stark eingeschränkt. Landwirtschaft Im Gebiet östlich der Stadt Norderney wird noch Land- und Viehwirtschaft betrieben. Es handelt sich größtenteils um Pferdekoppeln und Weiden, auf denen in den künstlich angelegten Deichgroden unter anderem Galloway-Rinder gehalten werden. Insgesamt bewirtschaften im Mai 2007 acht landwirtschaftliche Betriebe eine Fläche von 147,3 Hektar. Im 19. Jahrhundert wurde versucht, auf den zahlreichen Salzwiesen Gerste und andere Getreidesorten anzubauen. Dies wurde aufgrund des mageren Ertrages, den der sandige Boden hergab, wieder eingestellt. Heutzutage werden auf Norderney wegen der Lage im Nationalpark keine Felder mehr landwirtschaftlich bestellt. Die Domäne Eiland wurde im Jahr 1929 als Bauernhof erbaut, um dort bis 1978 Milchwirtschaft zu betreiben. Aufgrund infrastruktureller Änderungen und Rückgängen im Ertrag wurde der Schwerpunkt auf den Tourismus gesetzt, so dass die Domäne heute als Campingplatz und Stellplatz für Reisemobile genutzt wird. Tourismus Das Beherbergungs- und Gaststättengewerbe ist vom Beginn des 19. Jahrhunderts an und vor allem seit der Zeit der preußischen Herrschaft in den 1870er Jahren die Haupteinnahmequelle und die Existenzgrundlage eines Großteils der Inselbewohner. Nach dem Zweiten Weltkrieg begünstigte die weitgehend intakt gebliebene Infrastruktur einen rasanten Anstieg der Gästezahlen auf der Insel. Insgesamt waren 2006 56,2 % der Norderneyer Erwerbstätigen im Handel und Gastgewerbe beschäftigt. Im Jahr 2007 gab es auf der Insel durchschnittlich 8146 angebotene Betten in 523 Ferienwohnungen, 57 Hotels, 19 Ferienheimen, 56 Pensionen, 140 Privatzimmern, zwei DJH-Jugendherbergen und 330 sonstigen privaten Einrichtungen. Insgesamt hängen 1127 Betriebe direkt oder indirekt von der Beherbergungsbranche ab, davon 170 Dienstleister und 131 gastronomische Betriebe. Die Gesamtzahl der Gäste lag im Jahr 2007 bei 426.533, bei rund 3,1 Millionen Übernachtungen bedeutet dies einen durchschnittlichen Aufenthalt auf der Insel von 7,2 Tagen. Die Einnahmen der Kurabgabe überstiegen im Jahr 2009 zum ersten Mal sechs Millionen Euro. Die Kurverwaltung ist eine der wenigen deutschen kommunalen Touristikbetriebe, der Gewinne ausweist. Die Stadt Norderney erhebt im Gegensatz zu den anderen Inseln und den angrenzenden Festlandsgemeinden keine Fremdenverkehrsabgabe. Von 1997 an präsentierten sich Stadt und Kurverwaltung Norderney im Rahmen der Imagekampagne mit einem einheitlichen Logo in Form eines stilisierten N in Printmedien und im Internet. Der Werbeslogan der Insel lautete Norderney: Hier will ich sein. Zur Saison 2012 wurde der Slogan in Meine Insel umgetauft und entsprechend neue Logos und Marketing-Ideen mit einem jährlichen Etat von 200.000 Euro umgesetzt. Ziel der Kurverwaltung ist, bis zum Jahr 2020 die bekannteste Thalasso-Insel Europas zu werden. Mit der NorderneyCard wurde im März 1997 ein elektronisches Kurkartensystem als Weltneuheit eingeführt. Dieses zu dieser Zeit in Deutschland einmalige System verbindet die Abrechnung des Kurbeitrags mit der Möglichkeit, die Inanspruchnahme der einzelnen Dienstleistungen und Kureinrichtungen über die Karte zu erfassen und abzurechnen. Eine Besonderheit ist der Einsatz der Karte für die Parkplatzreservierung in Norddeich und die Überfahrt mit den Fähren der Frisia-Reederei. Die NorderneyCard löste die bisherige Kurkarte ab und dient außerdem der statistischen Auswertung anonymer Nutzerdaten. Durch diese Auswertung der NorderneyCard verfügen Stadt- und Kurverwaltung über konkrete Gästezahlen, die die Bedeutung des Fremdenverkehrs für die Stadt hervorheben. Die Norderneyer Touristinformation ist im Conversationshaus am Kurplatz untergebracht und besteht aus der Service-Stelle für die NorderneyCard, einer Zimmervermittlung, der Strandkorbreservierung, einem Veranstaltungsbüro mit einer Vorverkaufsstelle für die Veranstaltungen im Kurtheater und im Conversationshaus. Norderney ist zur touristischen Vermarktung der Insel der Marketingorganisation „Die Nordsee“ in Schortens beigetreten. Die Gesellschaft vertritt die sieben Ostfriesischen Inseln sowie 15 niedersächsische Küstenorte. Darüber hinaus ist die GmbH verantwortlich für die gemeinsame Pressearbeit, das Marketing, die Durchführung von Messen und Veranstaltungen, die Erstellung von Printmedien sowie die Klassifizierung von privaten Ferienunterkünften. Auf Norderney gibt es fünf Badestrände. Der Weststrand und der innerstädtische Nordstrand mit je einem bewachten Badestrand liegen am westlichen und nördlichen Rand des Siedlungskerns. Badewillige können außerhalb der zusammenhängenden Bebauung das Ostbad mit der Weißen Düne und den in der Inselmitte gelegenen Nordstrand mit einem FKK-Bereich und der „Oase“ (einer Strandgastwirtschaft) nutzen. Am Ausgang der Lippestraße wird vom Kreis Lippe ein bewachter Jugend- und Sportstrand unterhalten. An allen Stränden können Strandkörbe gemietet werden. Da zwei Drittel der Inselfläche zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer gehören und die unter der Insel befindliche Süßwasserlinse gegen übermäßige Wasserentnahme geschützt werden muss, wird von der Kur- und Stadtverwaltung auf den sanften Tourismus gesetzt, um diese Bereiche der Insel nach Möglichkeit weitgehend sich selbst zu überlassen, sofern eine zu stark zunehmende Kaninchenpopulation in den Dünen nicht Gegenmaßnahmen zur Stabilisierung des Sandes erforderlich macht. In Eigeninitiative des Astronomischen Arbeitskreises Norderney wurde der Planetenpfad angelegt. Entlang des Wanderweges Alter Postweg von der Stadt in Richtung Leuchtturm finden sich hier die Modelle der neun Planeten des Sonnensystems vor der im Jahr 2006 durch die Internationale Astronomische Union beschlossene Definition, die mit Informationstafeln versehen sind. Der Maßstab der Entfernungen beträgt 1:2 Milliarden, so dass der Abstand der Erde zur Sonne 75 Meter beträgt; der Maßstab der Planeten beträgt 1:1 Milliarde, so dass die Sonnenscheibe 1,4 Meter Durchmesser hat; die Gesamtlänge des Lehrpfades beträgt rund zwei Kilometer. Ein beliebtes Ausflugsziel befindet sich auf der Othelloplate an der äußersten Ostspitze der Insel. Dort liegt seit Januar 1968 das Wrack des letzten ostfriesischen Schillsaugers Pionier im Sand. Mit diesem Schiff wurde um die Jahreswende 1967/1968 versucht, den seit dem 2. Dezember 1967 auf einer Sandbank festsitzenden Heringslogger AE 60 Ministerialrat Streil zu befreien. Der Logger kam aus eigener Kraft frei, der Schillsauger strandete jedoch. Eine Befreiungsaktion des Schillsaugers schlug im März 1968 fehl, so dass das Schiff aufgegeben wurde. Bildungswesen Neben einer Frühförderungsgruppe und dem evangelisch-lutherischen Kindergarten Am Kap am östlichen Ortsrand mit 114 Kindern beherbergt (Stand November 2010), gibt es eine Grundschule und eine Kooperative Gesamtschule. Für die Erwachsenenbildung werden Kurse der Kreisvolkshochschule Norden angeboten. Es gibt neben einer Stadtbibliothek ein Stadtarchiv, das seit 1982 hauptamtlich geleitet wird. Im Jahr 1976 wurde durch Initiative der Aktionsgemeinschaft Jugendzentrum Norderney e. V. ein selbstverwaltetes Jugendzentrum auf der Insel gegründet. Seit 1999 ist die Stadt Norderney Träger der Einrichtung. Wie das Stadtarchiv befindet sich das Jugendzentrum im „Haus der Begegnung“ an der Mühle. Das Jugendzentrum dient als Treffpunkt der Norderneyer Jugendlichen zwischen zwölf und 21 Jahren. Neben der Möglichkeit Freizeitaktivitäten in den Aufenthaltsräumen des Gebäudes auszuüben werden über die Einrichtung beispielsweise Fahrten zum Festland und weitere Aktivitäten angeboten. Auf Norderney bestand bereits im Jahr 1704 die erste Schule, in der der Inselpastor die Schüler unterrichtete. Die heutige Grundschule ist mit den Klassen 1 bis 4 im Centralschulgebäude (im Jahr 1900 als Volksschule erbaut) untergebracht. Die weiterführende Kooperative Gesamtschule (KGS) mit den Klassen 5 bis 10 wurde ab dem 1. Mai 1952 in einem Gebäude der ehemaligen Kasernensiedlung der Wehrmacht in unmittelbarer Nähe der Inselmühle eingerichtet. Sie bietet die Sekundarstufe I mit einem Haupt-, einem Realschul- und einem Gymnasialzweig auch mit Ganztagsbetreuung an. In beiden Norderneyer Schulen werden über 200 Schüler unterrichtet (Stand 2008). Um das Abitur zu erlangen, steht den Schülern nach der 10. Klasse das Niedersächsische Internatsgymnasium in Esens, das Ulrichsgymnasium in Norden oder die Berufsbildenden Schulen Norden (Conerus-Schule) mit einem Fachgymnasium für Wirtschaft sowie einem Fachgymnasium Gesundheit und Soziales zur Verfügung. Seit 1969 existiert der Förderkreis Norderneyer Schulen e. V., ein gemeinnütziger Verein, der unter anderem bedürftigen Familien finanzielle Mittel zur Beschaffung von Lernmitteln und Schulbüchern zur Verfügung stellt. Der Förderkreis gibt seit 1981 jährlich das Schuljahrbuch heraus. Verkehr Linienfährverbindung Vom Hafen Norddeich Mole ist die Insel mit den fünf eingesetzten Frisia-Autofähren der Reederei Norden-Frisia im Linienverkehr tidenunabhängig in knapp 50 Minuten zu erreichen. Die Reederei Norden-Frisia wurde im Jahr 1917 nach Fusion der Dampfschiffsreederei Norden und der Neuen Dampfschiffs-Reederei Frisia zur Aktiengesellschaft Reederei Norden-Frisia gegründet. Anders als bei der Fährverbindung zur Insel Juist kann Norderney mehrmals am Tag angesteuert werden. Der Grund dafür ist, dass die für die Schifffahrt benutzten Fahrrinnen Busetief und Hohe Plate mehrmals jährlich durch Bagger von angeschwemmten Sedimenten befreit werden. Die größtenteils durch Strömungsverhältnisse gebildete Wattfahrwasserrinne bleibt somit bei Niedrigwasser für die Schifffahrt passierbar. Der Fahrplan der Fähren wird saisonal angepasst und ist an den Fahrplan der Bahn vor allem für den Verkehr auf der Bahnstrecke Rheine–Norddeich Mole in und von Richtung Münster/Ruhrgebiet gebunden. In den Sommermonaten gibt es einen Fahrplan mit kürzeren Taktzeiten mit bis zu 14 Fahrten täglich zur Hauptreisezeit. Befördert wurden im ersten Halbjahr 2004 825.000 Personen und insgesamt 180.000 Kraftfahrzeuge, wonach die Verbindung Norddeich-Mole/Norderney (nach der Vogelfluglinie, mit im Jahr 2010 rund 350.000 Lkw, 1,6 Millionen Pkw und 6,2 Millionen Passagieren) die zweitwichtigste deutsche Fährverbindung ist. Vergleichszahlen aus dem Jahr 2009 ergeben 1.976 Millionen Fahrgäste und rund 146.500 Pkw-Beförderungen. Im ursprünglichen, nahe dem Ortskern gelegenen, Haus Schiffahrt, konnten bis 2017 Ausflugsfahrten gebucht sowie mitgeführte Fahrzeuge für die Rückfahrt angemeldet werden. Ebenso befand sich hier ein personenbedienter Fahrkartenverkauf der deutschen Bahn sowie ein DB-Fahrkartenautomat. Das Gebäude wurde im Jahr 1896 als Gepäckabfertigungshalle der königlich preußischen Bahndirektion erbaut und war das einzige Bahnhofsgebäude Deutschlands ohne Gleisanschluss. 2017 hat die Reederei ein neues Terminal direkt am Molenkopf von Norderney in Betrieb genommen, welches optisch einer Düne nachempfunden wurde. Das Gebäude, ausgestattet mit Restauration und einer Dachterrasse, wurde am Hafen auf ehemaligen Freiflächen errichtet und ersetzt sowohl die bisherigen, für das gestiegene Touristenaufkommen zu klein gewordenen Wartehallen, als auch alle bisherigen Funktionen des Haus Schifffahrt, wie Reederei-Verwaltung, Fährticketverkauf und DB-Schalter. Folgerichtig wurde auch der Namenszug des „Haus Schiffahrt“ auf das neue Gebäude transferiert. Das alte Gebäude wurde über ein Jahr umgebaut, und dann im Frühjahr 2019 unter dem Namen „HS2 Passage Norderney“ als Mini-Mall neu eröffnet. Die Nachbarinseln Juist, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog und die am Ostende Norderneys befindliche Seehundsbank werden mit Ausflugsschiffen der Reederei Cassen-Tours, einer Tochtergesellschaft der Fährreederei Norden-Frisia, angefahren. Auch die etwa 70 Kilometer (etwa 42 Seemeilen) entfernte Insel Helgoland wurde angesteuert. Der Hochgeschwindigkeits-Katamaran MS Polarstern der Wilhelmshaven-Helgoland-Linie (WHL) gehörte bis zum Verkauf im November 2008 der AG Ems und fuhr unter anderem von Emden nach Helgoland über Norderney. In die Schlagzeilen geriet der Katamaran, als es am 5. August 2008 bei einer Fahrt von Helgoland nach Borkum vor Norderney bei schwerem Seegang zu einem Zwischenfall kam, bei dem das Schiff beschädigt wurde und Insassen verletzt wurden. Aufgrund des enormen Energieverbrauchs und der hohen Unterhaltungs- und Beförderungskosten wurde der Katamaran verkauft. Ende 2006 geschah dies auch mit dem Katamaran Cat No. 1 der Reederei Norden-Frisia. Individualverkehr Borkum und Norderney sind die einzigen der Ostfriesischen Inseln, auf denen private Kraftfahrzeuge fahren dürfen. Sie sind mit einer Plakette gekennzeichnet. Im Jahr 2001 waren auf Norderney 1760 Kfz zugelassen. Gäste können ihre Autos für die Dauer des Aufenthalts auf Norderney entweder auf dem Festland in dafür vorgesehenen Garagen abstellen oder sie auf die Autofähre mitnehmen und auf einem der öffentlichen, zwei kostenpflichtigen Dauer- oder sechs Kurzzeitparkplätze auf der Insel parken. Der Kfz-Verkehr ist seit 1953 während der Monate April bis Oktober (im Normalfall vom Anfang der Oster- bis zum Ende der Herbstferien) und zwischen Weihnachten und Neujahr (Winterferien) saisonal bedingt stark eingeschränkt, um die Kurgäste vor Verkehrslärm zu schützen. Das Stadtgebiet der Insel wird in der Saison für den Individualverkehr in drei Verkehrszonen eingeteilt. Die Zonen I und II sind der Stadtkern, die Verkehrszone III umfasst die Straßen der Insel am Stadtrand bis zur Linie Deichstraße, Karl-Rieger-Weg und Lippestraße (welche bereits außerhalb der Zone III liegen). Im restlichen Inselgebiet, also im Wesentlichen dem Hafengelände, dem Gewerbegebiet und den Straßen in Richtung Inselosten, bestehen keine entsprechenden Beschränkungen. In die Zone I und II darf mit dem Auto nach dem Anlegen der Fähre gefahren werden, um das Gepäck auszuladen, danach muss das Fahrzeug auf einem der Stellplätze geparkt werden. In den Zonen I und II ist das Fahren mit Kraftfahrrädern nicht erlaubt, in der Zone III nur von 8 bis 20 Uhr. Bei der Abreise darf das Fahrzeug wiederum nur vom Parkplatz zur Unterkunft und von dort zum Hafen gefahren werden (Ausnahmegenehmigung von einer Stunde). In der Verkehrszone III gilt ein Tempolimit von 30 km/h oder 50 km/h sowie seit 1958 ein Nachtfahrverbot von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Innerstädtisch, in den Zonen I und II, gilt die Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Der komplette Ostteil der Insel (ab Parkplatz Ostheller) liegt in der Ruhezone des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer und darf weder mit dem Kfz noch mit dem Fahrrad befahren werden. Fußgänger dürfen die markierten Wanderpfade am Strand, in den Dünen und an der Wattseite nicht verlassen, damit die Tier- und Pflanzenwelt nicht gestört wird. Hafen Schienenverkehr Zwischen 1915 und 1947 fuhr die normalspurige Inselbahn Norderney, die jedoch primär für die Marine verkehrte. Öffentlicher Personennahverkehr Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist auf Norderney bedarfsgerecht ausgebaut. Neben Omnibussen stehen für die Personenbeförderung Taxis zur Verfügung. Insgesamt gibt es fünf Buslinien: Die Linien 1, 2 und 3 befördern Fahrgäste auf unterschiedlichen Routen zwischen Hafen, Stadt und zurück. Die Abfahrtszeiten der Busse am Hafen sind auf den Fahrplan des Fährverkehrs der Reederei Norden-Frisia abgestimmt. Bei Bedarf werden zusätzliche Fahrten eingesetzt. Die Linie 5 verkehrt zwischen dem Busbahnhof am Rosengarten in der Stadt, dem Leuchtturm und der Weißen Düne. Die Linie 6 nimmt den gleichen Verlauf wie die Linie 5, allerdings vom Hafen aus. Der außerdem fahrende NC-Bus (NorderneyCard-Bus) ist zwischen Innenstadt (Haltestelle Rosengarten am Kurhotel) und dem Stadtteil Nordhelm unterwegs. Diese Verbindung ist eine Serviceleistung der Norderneyer Stadtverwaltung, die mit gültiger elektronischer Kurkarte (NorderneyCard) im Vergleich zum normalen Fahrpreis etwas kostengünstiger ist. Nach den Plänen der SPD-Fraktion im Stadtrat soll der ÖPNV auf der Insel langfristig ausgebaut und die vorhandenen Busse durch abgasarme Fahrzeuge ersetzt werden. Flugverkehr Norderney besitzt auf der Inselmitte in der Nähe des Leuchtturms einen gut ausgebauten Verkehrslandeplatz für die allgemeine Luftfahrt mit einer 1000 Meter langen Asphaltlandebahn. Mit Linien- und Charterflügen von Air Hamburg, FLN Frisia-Luftverkehr, Luftverkehr Friesland Harle und OLT Express werden Ziele in Schleswig-Holstein, auf den anderen ostfriesischen Inseln sowie auf dem niedersächsischen Festland erreicht. Offshore-Windpark Im September 2006 wurde durch das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) der erste Offshore-Windpark im deutschen Teil der Nordsee Gode Wind genehmigt. Die Bauherren des Projekts waren E.ON, Vattenfall und die in Oldenburg ansässige EWE AG, die bereits das Norderneyer Versorgungsnetz betreibt. Das Projekt wurde in Offshore-Windpark alpha ventus umbenannt und rund 33 Kilometer nordwestlich von Norderney weitere Windenergieanlagen der 5-MW-Klasse errichtet. Der Offshore-Windpark erbringt eine Nennleistung von rund 400 Megawatt. Die Einspeisung des erzeugten Stroms in das Netz am Festland geschieht über eine Kabeltrasse, die auf einer Länge von 1,5 Kilometern durch die Inselmitte Norderneys führt. Gegen die Planungen für die Kabeltrasse unter der Insel und durch das sich südlich der Insel erstreckende Watt regte sich im Vorfeld der Bauarbeiten Widerstand, da befürchtet wurde, die Verlegung des Kabels durch das Wattenmeer und die Insel beeinträchtigte die natürlichen Bodenverhältnisse. Die Arbeiten wurden deshalb von Spezialisten begleitet, die die Einhaltung der hohen Umweltschutzauflagen kontrollierten. Dennoch stieß das Projekt bei Umweltschutzorganisationen wie dem BUND, Greenpeace und WWF auf Kritik. Energie- und Wasserversorgung Ab 1914 wurde Strom vom Torfkraftwerk Wiesmoor aus per Seekabel auf die Insel geleitet und in das Stadtnetz eingespeist. Das 5-kV-Seekabel wurde im Jahr 1953 durch zwei im Wattboden verlegte Kabel mit je 20 kV ersetzt. Seitdem wird die Stromversorgung der Insel über ein Umspannwerk bei Norddeich geregelt. Die Seekabel wurden 1998 altersbedingt ausgetauscht; zusätzlich wurde ein weiteres Kabel verlegt. Das Stromnetz hat auf der Insel eine Gesamtlänge von 150 Kilometern mit 51 Umspannstationen und gehört den Stadtwerken Norderney. Auf der Insel wird eine Fläche von 10 Quadratkilometern mit Strom versorgt. Als Pilotprojekt des ehemaligen Bundesministeriums für Forschung und Technik wurden 1986 am Klärwerk zwei Windenergieanlagen der Firma Enercon aufgebaut, mit denen bis 1992 die Erzeugung von Strom durch Windkraft getestet wurde. In der Solarbundesliga lag Norderney 2010 bundesweit auf Platz 544 und im Landkreis Aurich auf Platz 1. Nachdem bereits 1888 einzelne Hoteliers auf der Insel ihre Hotels mit Strom versorgten richtete die Königliche Badeverwaltung 1889 ein Kraftwerk ein, um die Kurhausbetriebe und die Strandpromenade mit gasbetriebenen Leuchten zu versehen. Seit 1966 ist die Insel über zwei Gaspipelines, die durch das Wattenmeer verlegt wurden, vom Festland aus an das Gasnetz angeschlossen. Die Länge des Gasnetzes auf der Insel beträgt 81 Kilometer mit über 1980 Hausanschlüssen. Die autarke Wasserversorgung der Insel Norderney wurde ab 1884 durch den preußischen Regierungsrat in Auftrag gegeben. Als Grundlage dienten die Erkenntnisse aus dem Entwässerungs- und Wasserversorgungs-Project im Inseldorfe Norderney zwischen 1885 und 1887. Im Jahr 1888 wurden der erste Brunnen errichtet, der das in der Süßwasserlinse im Sediment der Insel befindliche Wasser fördert. Zusätzlich wurde das erste Kanalisationsnetz nach dem Vorbild der Danziger Kanalisation gebaut und eine zentrale Trinkwasserversorgung geschaffen. Das Kanalnetz zur „Entwässerung und Wasserversorgung im Inseldorfe Norderney“ war 1889 zehn Kilometer lang. Heutzutage erfolgt die Wassergewinnung über die beiden Wasserwerke Ort und Weiße Düne, in denen das aus 30 Brunnen geförderte Wasser aufbereitet wird. Der Wasserturm dient mit seinem 500.000 Liter fassenden Wasservorratsbehälter als Gegendruckanlage für das Wasserversorgungsnetz. Die Süßwasserlinse hat ein Fassungsvermögen von 33 Millionen Kubikmetern. Die Entnahmemenge beträgt jährlich etwa 900.000 Kubikmeter. 1989 wurde auf Norderney ein gasbetriebenes Blockheizkraftwerk in der Nähe des Weststrands errichtet, um Belastungsspitzen im Stromverbrauch vorzubeugen. Mit ihm werden das Schwimmbad und sonstige Einrichtungen der Stadt beheizt, unter anderem das Conversationshaus und Gebäude der Stadtverwaltung. Neben dem Blockheizkraftwerk werden drei Heizzentralen für die Nahwärmeversorgung betrieben, die öffentliche Gebäude, und die Wohnungen der Norderneyer Wohnungsgesellschaft (WGN) mit Wärme sowohl für die Heizung als auch zur Warmwasserbereitung versorgen. Daneben gibt es noch andere Bereiche im Stadtgebiet, die mit Nahwärme versorgt werden. In erster Linie handelt es sich um städtische Gebäude, wie das Krankenhaus, die Schule, das Altersheim und Gebäude der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Als Pilotprojekt wurde 2007 eine Solarthermie-Anlage auf dem Dach des städtischen Bauhofes am Gorch-Fock-Weg installiert, die an das Nahwärmenetz der Insel angeschlossen ist. In der Telekommunikation wurden auf Norderney alle Elemente moderner Kommunikationstechnik eingerichtet. Ein durch das Wattenmeer verlegtes Telefonkabel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde 1983 von der Bundespost gegen ein Breitbandkabel ausgetauscht, das digitale Übertragungen für Telefon (ISDN) und Internet (DSL) ermöglicht. Daneben wird Kabelfernsehen eingespeist, sowie seit dem 22. Mai 2006 das öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm über DVB-T vom Grundnetzsender Ostfriesland in Aurich-Popens. Norderney glühlampenfrei Vom 27. April 2009 bis Jahresende 2009 lief auf Norderney ein Pilotprojekt unter der Leitung der Wirtschaftsbetriebe Norderney und der Firma Philips Lighting, wonach Norderney zur glühlampenfreien Insel und zum ersten Ort Deutschlands, der dies umsetzt, werden sollte. Die Haushalte sollten nur noch mit Energiesparlampen als Leuchtmittel beleuchtet werden. Das Projekt war von vornherein bis zum Jahresende 2009 angesetzt. Den Status zeigte eine durch den aus Hamburg stammenden Lichtkünstler Michael Batz am Wasserturm installierte LED-Beleuchtung an. Während der Wasserturm zu Beginn des Projekts ausschließlich grün beleuchtet wurde, sollte, wenn mindestens 80 Prozent der Haushalte auf Energiesparlampen gewechselt haben, die Beleuchtung zum Abschluss auf blau, der Farbe der Insel, umgestellt werden. Ausgediente Leuchtmittel konnten im Conversationshaus abgegeben werden, die in einer ebenfalls illuminierten Plexiglassäule bis zum Abschluss des Projekts aufbewahrt wurden. Die Resonanz verlief jedoch bis zum Jahresende schleppend, so waren es im September lediglich 105 und im Dezember 150 der 2000 Norderneyer Haushalte, die komplett auf energiesparende Beleuchtung umgestellt hatten. Entsorgung Da auf der Insel keine Möglichkeit besteht, eine große Mülldeponie einzurichten, wird der hier anfallende Abfall seit 1984 über eine dafür eingerichtete Umschlagstation am Hafen mit den Schiffen Frisia VII, Frisia VIII und seit 1991 mit dem Entsorgungsschiff Störtebeker zum Festland transportiert. Die bis zum Jahr 1989 genutzte Müll-Abladefläche am östlichen Stadtrand wurde im Jahr 2006 renaturiert und ist seitdem Bestandteil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Dennoch existiert noch ein über hoher Deponieberg am Südstrandpolder. Dort werden nutzbare Werkstoffe zwischengelagert. So wird zum Beispiel der anfallende Grünschnitt kompostiert und dem Wirtschaftskreislauf wieder zugeführt. An das Recycling- und Zwischenlager ist die biologische Kläranlage der Stadt Norderney angeschlossen. Die auf der Kläranlage errichtete Lysimeteranlage ist Bestandteil eines durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt geförderten Forschungsprojektes. Im Jahr 1991 wurde am südwestlichen Teil des Südstrandpolders eine Vererdungsanlage, als eine der ersten dieser Art in Deutschland errichtet. Jedes Jahr werden in der Norderneyer Kläranlage 900.000 Kubikmeter Abwasser gereinigt. Dabei fallen 25.000 Kubikmeter Klärschlamm an. Dieser Klärschlamm wird durch mehrere Verfahren in neun wasserdicht gebauten Schilfbeeten entwässert, wodurch er vererdet. Das dabei entstehende Abwasser wird über eine Drainage unter den Beeten wieder zur Kläranlage zurück geleitet. Während das im Schilf gebundene Wasser verdunstet werden Kleinstlebewesen mit Sauerstoff versorgt, die den übrig gebliebenen Klärschlamm biologisch umbauen und reduzieren. Die in der Pilotanlage auf der Insel gewonnenen Erfahrungen in der Klärschlammvererdung wurden inzwischen erfolgreich auf Anlagen im gesamten Bundesgebiet übertragen. Auf kommunaler Ebene übernehmen die Technischen Dienste Norderney (TDN) als Eigenbetrieb der Stadt Norderney Reinigungs-, Garten- und Instandsetzungs-Arbeiten. Messstationen Auf Norderney befindet sich eine von rund 1800 Messstellen des Radioaktivitätsmessnetzes des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). Die Messstation misst die Gamma-Ortsdosisleistung (ODL) am Messort und sendet die Daten an das Messnetz. Die über 24 Stunden gemittelten Daten können direkt im Internet abgerufen werden. In der Straße Am Wasserwerk II befindet sich die Station Ostfriesische Inseln (Kennung NYNO) des Lufthygienischen Überwachungssystems Niedersachsen (LÜN). Die Station ist eine von 25 Messstationen in Niedersachsen und misst neben meteorologischen Daten Feinstaub, Ozon sowie Stickoxide in der Luft. Die Messwerte werden stündlich automatisch gemessen und an die Messnetz-Zentrale in Hannover gesendet. Nach der Datenaufbereitung stehen sie im Internet zur Verfügung. Der Deutsche Wetterdienst unterhält auf Norderney eine Wetterstation mit der Stations-Kennziffer 10113. Die Station liegt bei 53° 42′ N, 07° 09′ O und liefert seit 1947 frei verfügbare Daten zur Wetter- und Klima-Beobachtung. Rettungsstation der DGzRS Seit 1882 existiert auf Norderney eine Station zur Seenotrettung. Vor dem neuen Stationsgebäude im Hafen hat die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger den Seenotrettungskreuzer Eugen stationiert. Klinik Norderney Auf der Insel betreibt die Deutsche Rentenversicherung Westfalen die Rehaklinik Norderney. Hier werden Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen der Atmungsorgane und Allergien sowie Erkrankungen des Muskel- und Skelettapparates rehabilitiert. Medien Zeitungen Alle Printmedien werden morgens mit der ersten Fähre von Norddeich Mole auf die Insel gebracht. Die Norderneyer Badezeitung, die von Montag bis Samstag täglich erscheint, wurde von 1922 bis zum 11. Februar 2004 auf der Insel in der Soltauschen Buchdruckerei mit einer Rotationsdruckmaschine der Firma MAN gedruckt. Die neun Tonnen schwere Maschine wurde an das Gutenberg-Museum in Mainz übergeben und druckt dort einmal wöchentlich die Museumszeitung. Seit August 2004 wird die kleinste selbstständige Tageszeitung Deutschlands auf dem Festland in der Druckerei Otto G. Soltau in Norden gedruckt. Die Norderneyer Badezeitung erschien erstmals 1868 als Norderneyer Bade – Zeitung und Anzeiger und ist somit eine der am längsten erscheinenden Zeitungen in Deutschland und eine der kleinsten täglich erscheinenden mit einer Auflagenzahl von 1767 Exemplaren im III. Quartal 2008. Am 15. Oktober 2008 wurden die Verlagsrechte der Zeitung an die Zeitungsgruppe Ostfriesland mit Sitz in Leer verkauft. Damit endete nach 140 Jahren die Eigenständigkeit der Norderneyer Badezeitung. Die Badezeitung erschien am 7. November 2009 zum ersten Mal nach 141 Jahren mit farbigen Fotos. Der Verlag Fischpresse gibt seit dem 29. Oktober 2005 die einmal im Monat erscheinende Norderneyer Rundschau als Online-Ausgabe und seit dem 1. November 2008 den kostenlos ausliegenden täglichen Norderneyer Morgen aus. Die Startauflage betrug täglich 2500 Exemplare. Diese Auflage wurde aufgrund der saisonalen Einschränkungen im Winter im Dezember 2008 auf 2200 Exemplare reduziert. Im Sommer 2010 waren es in der Spitze 4000 Exemplare täglich. Das Tagesblatt informiert über Neuigkeiten aus städtischer Politik, Sport, Gesellschaft und Kultur. Gedruckt wird es in der hauseigenen Druckerei und ist damit nach dem Verkauf der Verlagsrechte der Norderneyer Badezeitung das letzte täglich erscheinende Presseerzeugnis das vollständig auf der Insel hergestellt wird. Seit dem 9. Januar 2009 gibt der Verlag Soltau Kurier in Norden, neben dem Ostfriesischen Kurier den freitags erscheinenden Norderney Kurier heraus, der sich ausschließlich mit dem Geschehen auf der Insel befasst. Hörfunk Auf Norderney gab es den SturmWellenSender Radio SWS, zunächst ab August 1986 als Piratensender. Dabei wurden täglich mehrere Stunden Musik gesendet. Ab Pfingsten 1994 besaß der Sender eine offizielle Sendegenehmigung für die Sommersaison und sendete von 2003 bis zum 30. April 2015 rund um die Uhr aus dem einzigen Strandstudio Deutschlands direkt an der Promenade am Nordstrand. Seit dem 30. April 2015 wird mit Radio Nordseewelle privates Hörfunkprogramm aus der Stadt Norden für die ostfriesische Küste ausgestrahlt; der Sender ist unter der Frequenz 104,0 MHz auf Norderney und über Live-Stream weltweit zu hören. Seit Ende 2019 gibt es den Sturmwellensender Retro. Fernsehen Norderney diente mehreren TV-Produktionen als Drehort. Die Außenaufnahmen für das Fernsehspiel Einer fehlt beim Kurkonzert aus dem Jahr 1968 sowie für Folge Strandkorb 421 aus der Reihe Stahlnetz im Jahr 1963 entstanden auf der Insel. Die Fernsehserie Das Rätsel der Sandbank wurde 1984 unter anderem auf Norderney gedreht. In der zweiten Folge der TV-Krimiserie Pfarrer Braun mit dem Titel Das Skelett in den Dünen aus dem Jahr 2003 spielen Szenen auf der Insel. Allerdings wird die Insel dort mit Nordersand bezeichnet. Ebenfalls wurden Teile der dritten Folge der Fernsehreihe Friesland, Klootschießen (2016), auf der Insel gedreht, allerdings spielt die Handlung im Kreis Leer. Im Tatort Tödliche Flut (2021) spielt ein großer Teil der Handlung auf Norderney. Die Wilsberg-Folgen „Morderney“ (2018) und „Wellenbrecher“ (2020) spielen auf der Insel. Auch Teile der TV-Serie Sløborn wurden auf der Insel gedreht. Weiterhin strahlt der Norddeutsche Rundfunk mehrmals im Jahr Sendungen aus, die die Insel zum Thema haben, so zum Beispiel Inselgeschichten, Nordtour, Inas Norden, Bilderbuch Deutschland sowie im Rahmen des Regionalprogramms NDR Niedersachsen. In der NDR-Dokumentation Rettet die Glühbirne: Vom Unsinn der Energiesparlampe wurde die Entsorgungsproblematik des durch die Europäische Union verordneten Wechsels hin zur Energiesparlampe im Zuge des Projekts Norderney Glühbirnenfrei thematisiert. Die Folge über Norderney im Reisemagazin Wunderschön! des WDR wurde am 10. Juli 2011 ausgestrahlt. Im Verbrauchermagazin „Ausgerechnet“ des WDR wurde 2019 der Kostenaspekt eines Urlaubs von Daniel Aßmann unter die Lupe genommen. Der Roman „Urlaub mit Papa“, der auf Norderney spielt, wurde vom ZDF auf Sylt verfilmt, was zu Kontroversen auf beiden Inseln führte. Inselblogger Das Staatsbad Norderney, die lokale Tourismus-Organisation der Insel, hat seit 2018 die Stelle eines „Inselbloggers“ eingerichtet. Geboten werden ein Jahr lang eine kleine möblierte Wohnung und 450 Euro Taschengeld im Monat sowie leihweise die notwendige gute medientechnische Ausrüstung. Gefordert wird, mit eigenen Initiativen, Fotos, Glossen, Veranstaltungsberichten und beständiger Präsenz vor Ort und im Internet über die Insel und das Geschehen dort zu bloggen, inklusive Videobotschaften, Interviews und Fotos. Pflicht ist auch aktive Begeisterung für Social Media aller Art. Bestandteil des Arbeitsvertrags ist eine „flexible Arbeitszeit von durchschnittlich 30 Stunden im Monat“. Wo beim herkömmlichen Modell „Stadtschreiber“ andernorts nur Schriftsteller begünstigt sind, dürfen sich für diesen „Job“ ganz normale Leute bewerben, wenn sie nur hinreichend kommunikativ, sympathisch und authentisch erscheinen. Während beim ersten Mal rund 70 Bewerbungen eingingen, waren es beim zweiten Wettbewerb bereits rund 300. Persönlichkeiten Einige der auf Norderney geborenen Personen haben nationale und internationale Bekanntheit erlangt. Zu erwähnen sind die SPD-Politikerin Elvira Drobinski-Weiß, der mehrfache Deutsche Meister im Windsurfen Bernd Flessner und der Ehrenpräsident des Deutschen Brauer-Bundes Hans-Georg Eils. Personen, die auf Norderney nachhaltig gewirkt haben, waren zum Beispiel der Bürgermeister Jann Berghaus, der nach dem Ersten Weltkrieg einen Weg fand, die der ausbleibenden Kurgäste halber kümmerliche finanzielle Situation der Stadt mit Hilfe von Fördergeldern deutlich zu verbessern; auf Grund seiner Verdienste um die Stadt Norderney wurde der langjährige Bürgermeister Remmer Harms zum bislang einzigen Ehrenbürger der Stadt ernannt; als bildende Künstler sind der gebürtige Norderneyer Poppe Folkerts, der Bildhauer Wilhelm Krieger und der aus Wedel stammende Kunstmaler Ole West zu nennen, der fast zweieinhalb Jahrzehnte lang auf Norderney gelebt hat und dessen Besonderheit maritime Gemälde mit einer Seekarte als Hintergrund sind. Literarisches Erwähnung findet die Insel auch im Gedicht Logik von Joachim Ringelnatz. Der Roman Die Inselhebamme von Emma Jacobsen spielt auf der Insel. Literatur Bildbände Historische Literatur: Herman Lohausen: Heinrich Heine auf Norderney – seine Nordsee-Gedichte, sein Denkmal von Arno Breker. Kalkumer Verlag, Düsseldorf 1983, ISBN 3-9800555-1-5. Vorzugsausgabe: Marco-Edition, Bonn/Berlin 1984. Film mareTV: Norderney – Raue Schönheit im Wind. NDR, 17. Februar 2022. (45 Minuten) Weblinks Beschreibung von Norderney in der Historischen Ortsdatenbank der Ostfriesischen Landschaft Plan der Insel Norderney von 1830 Unsere Nordseebäder anno 1905, Berliner Volks-Zeitung, 15. August 1905. Einzelnachweise Insel (Niedersachsen) Insel (Europa) Insel (Nordsee) Insel (Ostfriesische Inseln) Ort im Landkreis Aurich Stadt in Niedersachsen Seebad in Niedersachsen Heilbad Ersterwähnung 1398 Stadtrechtsverleihung 1948
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https://de.wikipedia.org/wiki/Habsburg%20%28Burg%29
Habsburg (Burg)
Die Habsburg, in neuerer Zeit auch Schloss Habsburg genannt, ist eine Gipfelburg in der Schweiz. Sie liegt auf dem Gebiet der Gemeinde Habsburg im Kanton Aargau in einer Höhe von auf dem lang gestreckten Hügelkamm des Wülpelsbergs. Bekannt ist sie als Stammburg der Herrscherdynastie der Habsburger, deren Aufstieg mit dem Erwerb von Gebieten in der näheren Umgebung begann. Gründer der Habsburg soll um 1020/30 Radbot gewesen sein. Otto II. war 1108 der erste des Geschlechts, der als Graf von Habsburg urkundlich nachweisbar ist. Die Habsburger lebten hier lediglich rund zweihundert Jahre. Das immer mächtiger werdende Grafengeschlecht verliess die Burg um 1220/30, da sie zu klein und zu wenig repräsentativ erschien. Anschliessend wurde sie an verschiedene Dienstleute verliehen. Mit der Eroberung des Aargaus im Jahr 1415 durch die Eidgenossen ging den Habsburgern, die mittlerweile in Wien ein weit bedeutenderes Herrschaftszentrum aufgebaut hatten, ihre Stammburg endgültig verloren. Seit 1804 ist die Habsburg im Besitz des Kantons Aargau. Im frühen 11. Jahrhundert entstanden die ersten Bauten. In mehreren Schritten wurde die Habsburg zu einer Doppelburg erweitert. Am Beginn des 13. Jahrhunderts erreichte sie ihre grösste Ausdehnung. Nach dem Auszug der Habsburger verfiel der ältere, vordere Burgteil im Osten zu einer Ruine. Der jüngere, hintere Burgteil im Westen blieb bestehen und konnte sein Erscheinungsbild, von vereinzelten Umbauten abgesehen, bis heute bewahren. In den Jahren 1978/83 und 1994/95 fanden umfangreiche archäologische Untersuchungen statt. Die Habsburg steht seit 1948 unter kantonalem Denkmalschutz und gehört im Schweizerischen Inventar der Kulturgüter zu den Kulturgütern von nationaler Bedeutung. Der Palas wird seit 1979 als Restaurant genutzt, diesem ist ein Museum über die Burggeschichte angegliedert. Lage Die Habsburg befindet sich unmittelbar nordwestlich des Dorfkerns der gleichnamigen Gemeinde, etwa 35 Höhenmeter über dem Dorf auf Die rund drei Kilometer südwestlich der Altstadt des Bezirkshauptorts Brugg gelegene Burganlage erstreckt sich über eine Länge von etwas mehr als 100 Metern auf dem felsigen Gipfelgrat des Wülpelsbergs. Dieser aus Kalkstein bestehende und von Mischwald bedeckte Hügel bildet einen Ausläufer des Faltenjuras. Gegen Westen und Norden fällt er steil zur 160 Meter tiefer gelegenen Auenebene des Aaretals ab. Die Ost- und Südseite des Grats hingegen bilden den Rand einer leicht geneigten Hochebene, die übergangslos ins Birrfeld übergeht. Etwas mehr als 400 Meter südwestlich der Burg verläuft die Autobahn A3 durch den Habsburgtunnel. Geschichte Vorgeschichte Während der Hallstattzeit (1. und 2. Jahrhundert v. Chr.) bestand am Standort der heutigen Burg eine kleine Siedlung. Ab der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. befand sich auf dem Wülpelsberg eine Signalstation der Römer. Sie wurde von Legionären aus dem vier Kilometer nordöstlich gelegenen Militärlager Vindonissa (in der heutigen Gemeinde Windisch) unterhalten. Die Signalstation ermöglichte eine Sichtverbindung zwischen dem Lager und dem Bözbergpass und war wohl auch nach Aufhebung des Lagers im Jahr 101 in Betrieb. Ende des 3. Jahrhunderts diente der Wülpelsberg als Zufluchtsort für Zivilpersonen. Er war leicht zu verteidigen und versprach Schutz vor den sporadischen Plünderungszügen der Alamannen, den die wenigen Soldaten in spätrömischer Zeit nicht bieten konnten. Gründungssage Gemäss einer Sage, die Ernst Ludwig Rochholz erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts aufzeichnete, soll Radbot der Erbauer der Burg gewesen sein. Er lebte in Altenburg an der Aare, innerhalb der Mauern eines von den Römern erbauten Kastells. Auf der Suche nach einem Habicht, der ihm bei der Jagd verloren gegangen war, stieg seine Jagdgesellschaft auf den dicht bewaldeten Wülpelsberg und fand den entflohenen Vogel zuoberst auf dem Hügel. Radbot erkannte die günstige Lage des Hügels und beschloss den Bau der «Habichtsburg» an dieser Stelle. Tschudi spricht sich entschieden gegen die Sage mit dem Habicht aus. Er schreibt dazu: „Daß aber ein Fabeldichter schribt die Vesti hab von einem Habich den Namen Habichsburg empfangen / widerspricht des gemelten Bischoff Wernhers Stifters der Burg besigelt eigen Urkundt / so er harnach Anno Domini 1027. dem Gottshuß Muri geben und noch alda unversert funden wirt / darinne ers selbs Habesburg und nicht Habichsburg nempt.“ Er leitet demnach den Namen Habsburg von Habesburg, im Sinne von haben / das Habe (bewahren resp. sichern) ab. Da er zu wenig Geld für den Bau der Burg hatte, bat Radbot seinen Bruder, Bischof Werner von Strassburg, um Unterstützung. Werner gewährte diese und kam zu Besuch, um das Bauwerk zu besichtigen. Auf dem Wülpelsberg fand er jedoch nur einen schlichten Turm vor. Werner tadelte Radbot scharf, woraufhin ihn dieser versicherte, binnen einer Nacht werde die Burg über eine starke Mauer verfügen. Als Werner am nächsten Morgen erwachte, lagerten rund um die Burg viele Ritter mit ihren Knechten. Graf Radbot beruhigte den erschrockenen Bischof und sagte, diese Ritter seien seinem Ruf gefolgt. Starke Burgmauern seien nur dann von Nutzen, wenn sie von treuen und gut bezahlten Gefolgsleuten verteidigt würden. Stammburg der Habsburger Die Herkunft der später als «von Habsburg» bezeichneten Herrscherdynastie ist unklar. Gemäss den um 1160 erstellten Acta Murensia gilt Guntram der Reiche, der vermutlich von einem Zweig der elsässischen Etichonen abstammte, als Stammvater. In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts verfügte er über Streubesitz im Aargau, im Breisgau, im Frickgau, im Oberelsass und im Zürichgau. Im Aargau konzentrierte sich der Eigenbesitz (Allod) auf das Gebiet zwischen der Aare und der Mündung der Reuss, das so genannte Eigenamt. Weitere Besitzungen lagen weiter südlich in der Gegend um Muri und Bremgarten. Guntrams Sohn Lanzelin (oder Kanzelin) erteilte den Auftrag, unter Verwendung vorhandener Mauern eines römischen Kastells an der Aare eine kleine Burg zu errichten, das Schlösschen Altenburg. Von hier aus verwaltete er den Besitz im Eigenamt, wo er über besonders viele herrschaftliche Rechte verfügte. In einem auf 1027 datierten Testament wird Bischof Werner von Strassburg, Sohn Landolts – der mit Lanzelin, Sohn Guntrams, identifiziert wird – als Gründer der Habsburg bezeichnet. Dieses Testament erwies sich jedoch als eine um 1085 erstellte Fälschung. Mittlerweile gilt als gesichert, dass Werners jüngerer Bruder Radbot um 1020/30 rund zwei Kilometer südlich von Altenburg die Habsburg errichten liess. Den Anstoss dazu dürfte eine Fehde mit seinem nächstjüngeren Bruder Rudolf gegeben haben, die um den Besitz in Muri entbrannt war und zur Zerstörung des dortigen Herrenhofes führte. In diesem Zusammenhang steht auch die Gründung des Klosters Muri durch Radbot und dessen Gattin Ita von Lothringen, Tochter des Herzogs Friedrich von Ober-Lothringen, im Jahr 1027 – wohl um eine Schuld zu sühnen, die sie auf sich geladen hatten. Wahrscheinlich ist der Name der Burg vom althochdeutschen Wort hab oder haw abgeleitet, das «Flussübergang» bedeutet. Damit ist eine Furt bei Altenburg gemeint, wo die flussabwärts fahrenden Boote anlegen mussten, um die nachfolgenden Stromschnellen zu umgehen. Von der Burg aus konnte der Bootsverkehr überwacht werden. Zweck der Burg war aber primär der Landesausbau und die Symbolisierung des Herrschaftsanspruchs. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschende These, die Habsburg sei während des Konflikts mit dem Königreich Burgund als militärischer Stützpunkt errichtet worden, um die Grenze und die Verkehrswege zu sichern, ist widerlegt. In einer Urkunde von 1108 als Havichsberch bezeichnet, wandelte sich der Name über Havekhesperch (1150), Habisburch (1213) und Habsburc (1238/39) zu Habsburg. Ebenfalls im Jahr 1108 ist mit Otto II. der erste Angehörige des Geschlechts als Graf von Habsburg (comes de Hauichsburch) urkundlich nachweisbar. Zwar waren die Habsburger Ende des 11. Jahrhunderts Landgrafen im Oberelsass und Vögte des Strassburger Hochstifts geworden, auf dem Gebiet der heutigen Schweiz standen sie aber zunächst im Schatten mächtigerer Adelsgeschlechter. Dank ihrem Status als treue Gefolgsleute der Staufer und der Schaffung vielfältiger verwandtschaftlicher Beziehungen gelang es ihnen nach dem Aussterben der Lenzburger im Jahr 1173, deren Grafschaftsrechte im westlichen Zürichgau und im Frickgau zu übernehmen, um 1200 auch jene im südlichen Aargau. Als nach dem Aussterben der Zähringer im Jahr 1218 weitere Gebiete hinzukamen, erwies sich die Habsburg bald als zu klein und zu wenig repräsentativ für die mächtig gewordenen Grafen. Zwischen 1220 und 1230 zogen sie aus ihrer Stammburg aus und liessen sich im benachbarten Städtchen Brugg nieder. Dort diente ihnen in den folgenden Jahrzehnten ein später als «Effingerhof» bezeichnetes Gebäude (1864 beim Bau einer Druckerei abgerissen) als eine ihrer wichtigsten Residenzen. 1273 wurde Rudolf I. zum deutschen König gewählt und konnte auch das Erbe der Grafen von Kyburg an sich ziehen. Fünf Jahre später gelang es ihm, in der Schlacht auf dem Marchfeld den böhmischen König Ottokar II. zu besiegen und die Herzogtümer Österreich und Steiermark zu erobern. Dadurch verlagerte sich der Herrschaftsmittelpunkt der Habsburger nach Wien; die verstreuten Besitzungen in der Schweiz, im Elsass und im süddeutschen Raum wurden zu den Vorlanden. Siehe auch: Stammliste der Habsburger, zu den Grafen von Habsburg – den Titel Graf, dann Gefürsteter Graf von Habsburg haben die Habsburger bis 1918 behalten Wechselnde Besitzer Nachdem die Burg als Wohnsitz der Grafen von Habsburg ausgedient hatte, wurde sie an verschiedene Ministerialengeschlechter verliehen. Der vordere Teil, der fortan unbewohnt blieb, ging an die Herren von Wülpelsberg. Das Lehen über den hinteren Teil fiel an die Schenken von Habsburg und die Truchsesse von Habsburg-Wildegg, die seit jeher wichtige Hofämter auf der Habsburg ausgeübt hatten und auch weitere Burgen in der näheren Umgebung verwalteten (Schenkenberg beziehungsweise Wildegg, erstere vermutlich auch Freudenau). Sie waren ursprünglich eine einzige Familie, teilten sich aber spätestens im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts in zwei Linien. Die Herren von Wülpelsberg starben um 1300 aus, und der vordere Teil fiel an den in Brugg lebenden Ritter Werner II. von Wohlen. Dessen Sohn Cunrat III. erwarb 1364 von den Truchsessen einen Teil des hinteren Burglehens. Henmann von Wohlen, Cunrats Sohn, kaufte 1371 die übrigen Anteile und vereinigte das gesamte Burglehen in einer Hand. Im frühen 15. Jahrhundert wurde der Wald südlich und östlich der Burg gerodet. Es entstand der Weiler Habsburg, der zunächst nur aus ein paar Häusern bestand und erst im 18. Jahrhundert zu einem Dorf heranwuchs. Latente Spannungen zwischen dem deutschen König Sigmund und dem österreichischen Herzog Friedrich IV. entluden sich im März 1415 am Konzil von Konstanz, als Friedrich dem Gegenpapst Johannes XXIII. zur Flucht verhalf. Sigmund forderte die Eidgenossen auf, im Namen des Reiches habsburgische Gebiete zu erobern, woraufhin Bern rasch den westlichen Teil des Aargaus einnahm. Angesichts der aussichtslosen Lage kapitulierte Henmann von Wohlen Ende April 1415 kampflos und erkannte die neuen Landesherren aus Bern an. Als Gegenleistung erhielt er eine Garantie auf seinen Besitzstand. Den Habsburgern hingegen ging ihre Stammburg endgültig verloren. Henmann von Wohlen überschrieb 1420 seinen Besitz seinem Neffen Petermann von Greifensee, der die Burg 1457 an die Stadt Bern verkaufte. 1462 gelangte die Habsburg an Hans Arnold Segesser und 1469 schliesslich an das Kloster Königsfelden in Windisch, das einst von den Habsburgern zum Gedenken an die Ermordung von Albrecht I. gegründet worden war. Als das Kloster 1528 als Folge der Reformation aufgehoben wurde, gelangte die Habsburg wieder in den Besitz der Stadt Bern. Die Verwaltung übernahmen nun die Königsfelder Hofmeister, die einen Hochwächter in der Burg stationierten und einen Gutsverwalter zur Bewirtschaftung der umliegenden Felder, Wälder und Rebberge entsandten. Seit 1804 ist die Habsburg im Besitz des Kantons Aargau, der sie als Gutshof weiter nutzte. Baugeschichte Die Habsburg entstand in mehreren Bauetappen. Ihre Gliederung in die vordere Burg im Osten, den zentralen Burghof und die hintere Burg im Westen geht auf den Ausbau der Gründungsanlage im 11. Jahrhundert zurück. Der älteste Teil, die zu einer Ruine verfallene vordere Burg, bestand anfangs wohl grösstenteils aus Holz. Nachfolgende Bautätigkeit zerstörte Überreste und Spuren. Das Steinhaus wird auf das zweite Viertel und die Mitte des 11. Jahrhunderts datiert. Gesinde- und Ökonomiegebäude befanden sich im Burghof und dürften aus Holz bestanden haben. Eine Ringmauer, als Trockenmauer oder als hölzerne Palisade errichtet, umgab das Steinhaus auf drei Seiten. Im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts erfolgte ein markanter Ausbau des vorderen Burgteils. Dabei wurde das Steinhaus durch Ostturm, Ostbering, Torzwinger und Nordturm ergänzt, während im Burghof die Burgkapelle und ein Sodbrunnen entstanden. Ebenfalls in diese Zeit fallen die Ummauerung des Burghofes und der Bau des Kleinen Turms, des ersten Bestandteils der hinteren Burg. Die Bautätigkeit im 12. Jahrhundert beschränkte sich auf den Nordbering, der den Nordturm mit dem Ostbering verband. Damit war die vordere Burg weitgehend vollendet. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts begann der Ausbau der hinteren Burg. An der Westseite des Kleinen Turms schloss sich der besonders stark befestigte Grosse Turm an, an der Nordseite eine weitere Mauer mit dem Flankierungsturm im äussersten Westen. Um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert folgte der gegen Süden vorspringende Palas. Da die vordere Burg damals schon dem Verfall überlassen worden war, hob man zur besseren Verteidigung der hinteren Burg einen Abschnittsgraben im Burghof aus und errichtete zwei weitere Mauern. Die noch vorhandenen Reste der vorderen Burg wurden um 1680 geschleift, das Gelände 1815 planiert. Renovationen der hinteren Burg erfolgten in den Jahren 1866/67, 1897/98, 1947/49, 1979 und zuletzt 1994/96. Heutige Nutzung Seit 1979 wird der Palas als Restaurant genutzt. Tische befinden sich im Rittersaal im zweiten Stockwerk, in der Schlossstube südwestlich und im Gotischen Saal südöstlich im ersten Stockwerk sowie in der Taverne im Parterre. Auch die Jägerstube im kleinen Turm und der Burghof werden von der ansässigen Gastronomie genutzt. Die bewirtschafteten Räumlichkeiten sind für etwa 200 Personen ausgelegt. Dem Gastronomiebetrieb ist ein Weinkeller angegliedert. Im kleinen und grossen Turm befindet sich eine kostenlos zugängliche Ausstellung mit Schautafeln über die Habsburgerdynastie, der Bau- und Siedlungsgeschichte und den Burgalltag im Mittelalter. Seit 2009 ist die Burg Teil des Museumsverbundes Museum Aargau. Vordere Burg Steinhaus Das Steinhaus birgt die ältesten erhaltenen Baureste der gesamten Anlage. Das aus der Gründungszeit um 1020/30 stammende Gebäude war anfänglich frei stehend. Die Seitenlänge betrug 18,5 auf 13,2 Meter, womit das Steinhaus die Ausmasse zeitgenössischer Burgenbauten in der weiteren Umgebung bei weitem übertraf. Die Mauerstärke von 1,9 Metern lässt darauf schliessen, dass das mehrgeschossige Steinhaus neben der Repräsentation auch Verteidigungszwecken diente. Die Mauern sind nur bis in eine Höhe von knapp zwei Metern erhalten geblieben. Sie bestehen aus kleinen Hausteinen und weisen stellenweise unterbrechende Breschen auf. An der Ostseite ist im Ansatz eine Türöffnung vorhanden, die in das kellerartige Erdgeschoss führte. Der Eingang an der Nordseite wurde nachträglich eingebaut, wovon Reste der Laibungen zeugen. Im Innern findet sich eine Quermauer, die im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts entstand und im 12. Jahrhundert beidseitig mit einer Vormauerung versehen wurde. Diese Massnahme lässt eine Aufstockung des Steinhauses vermuten. Die Funktion zweier damals angefügter Mauerstümpfe an der Nordmauer bleibt ungeklärt. Der Teil westlich der Quermauer wird von einem 1908 erbauten Wasserreservoir eingenommen. Ostturm und Ostbering Unmittelbar östlich an das Steinhaus schloss sich eine Motte an, ein künstlich angelegter Erdhügel, der zum Halsgraben hin steil abfiel. Auf diesem Hügel stand der rechteckige Ostturm mit einer Seitenlänge von 9,5 auf 9,2 Metern. Ungewöhnlich ist, dass der im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts erbaute Ostturm gegenüber dem Steinhaus um etwa 45° gedreht war, so dass er das ältere Kerngebäude nur mit einer Ecke berührte. An die Nordseite des Turms grenzte ein kleines Mauergeviert, das als Latrinenschacht diente. Zur selben Zeit wie der Ostturm entstand der Ostbering. Diese Ringmauer begann am Latrinenschacht, führte anschliessend dem Rand des Halsgrabens entlang und mündete schliesslich an der Südseite beim Torzwinger. Der ebenfalls künstlich angelegte Halsgraben ist heute gut als markanter Einschnitt im Hügelkamm erkennbar. Nordturm und Nordbering An die Nordwestecke des Steinhauses war der Nordturm angefügt. Dessen Grundfläche betrug 8,5 auf 8,2 Meter, die Mauerstärke 1,3 Meter. Seine exponierte Lage am steil abfallenden Nordhang des Hügelkamms führte zu einem schlechten Erhaltungszustand der Turmmauern und zu Rutschungen der Geröllfüllung, die das Gelände ausnivellierte. Eine ebenerdige Herdstelle aus gestampftem Lehm weist darauf hin, dass der Nordturm als Küchengebäude diente. In der Nordostecke befand sich ein kleiner Keller von 2,2 auf 1,8 Meter Grundfläche. Dieser konnte nur von oben her durch eine Öffnung in der Decke betreten werden. Der Nordbering wurde erst im 12. Jahrhundert errichtet und schloss die Mauerlücke, die zwischen dem Nordturm und dem Ostbering bestanden hatte. Sein gewundener Verlauf ist wohl darauf zurückzuführen, dass ein schwach gemauerter Abschnitt eingestürzt und etwas versetzt neu aufgebaut worden war. Torzwinger und Torhaus Der Südbering war der Südflanke des Steinhauses und des Ostturms um rund fünf Meter vorgelagert und bildete einen 22,5 Meter langen Torzwinger mit Aussenmauern von 1,3 Metern Dicke. Am östlichen Ende, wo die Mauer auf den Ostbering und den Ostturm traf, befand sich das vordere Burgtor. Nach Passieren des Zwingers gelangte man durch das eigentliche Burgtor auf den Hof. Dieses zweite Tor war zunächst nur ein einfacher Durchgang, wurde aber um 1200 zu einem Torhaus ausgebaut. Das in den Burghof hineinragende Torhaus, von dem allerdings nur Fundamentreste geblieben sind, war der westliche Abschluss des Torzwingers; seine östliche Wand lag in der Flucht der Westmauer des Steinhauses. Burghof Der zentral gelegene Burghof war durchschnittlich 32 Meter lang und 30 Meter breit. Er bildete eine weitgehend ebene Fläche zwischen vorderer und hinterer Burg. An seinem Rand befanden sich ein Abschnittsgraben, die Burgkapelle, das Gesindehaus, ein Sodbrunnen und eine Zisterne. Während des 17. und 18. Jahrhunderts war der Hof Standort eines Kalkbrennofens und zweier Sumpfkalkgruben. Der Kalkbrennplatz war zweifelsfrei aus Abbruchmaterial der vorderen Burg errichtet worden. Abschnittsgraben Als der Abschnittsgraben im 14. Jahrhundert ausgehoben wurde, war der vordere Burgteil bereits in einem derart schlechten baulichen Zustand, dass er seine Verteidigungsfunktion nicht mehr erfüllen konnte. Die damaligen Besitzer, die Herren von Wülpelsberg, waren vor allem am Lehen interessiert und liessen die Gebäude verfallen. Deshalb entschlossen sich die Truchsesse von Habsburg-Wildegg, ihren eigenen Burgteil besser zu schützen. Sie liessen einen Graben ausheben, der als Annäherungshindernis zum Schutz der Ostseite der hinteren Burg diente. Der Graben hatte bei einer durchschnittlichen Breite von 7,4 Metern eine Tiefe von 2,5 bis 3,7 Metern. Nachdem 1562 darin ein fast dammartiger Burgweg angelegt worden war, wurde der Graben um 1650/70 zugeschüttet. Gebäude und Brunnen Das Gesindehaus befand sich an jener Stelle, wo nachträglich der Abschnittsgraben ausgehoben worden war. Es war vermutlich 10 Meter lang und 7,5 Meter breit und besass an dessen Westmauer einen kleinen Anbau, der als Latrinenschacht diente. Die Burgkapelle ist eines der wenigen noch nicht ausgegrabenen Gebäude. Anhand alter Abbildungen, darunter ein Aquarell von Hans Ulrich Fisch aus dem Jahr 1634, lassen sich dennoch einige Aussagen über das 1680 abgebrochene Gebäude machen. So dürfte es östlich an das Gesindehaus angebaut und zweigeschossig ausgeführt gewesen sein. Der Sodbrunnen besass oben eine ovale Mündung von 2,9 Metern Breite und 2,4 Metern Länge. Bei der zufälligen Wiederentdeckung durch einen Baggerfahrer war er komplett mit Kalksteinsplittern und Gipsstein verfüllt. Vermutlich handelt es sich dabei um den Aushub einer Gipsgrube in Habsburg oder Windisch, der im 19. Jahrhundert eingefüllt wurde. Anlässlich der Konservierung im Jahr 1995 ergaben Bohrungen eine Tiefe von 68,5 Metern. Die zu Beginn des 13. Jahrhunderts errichtete Zisterne befand sich beim Torhaus etwas exponiert ausserhalb der Ringmauer, wobei der Schöpfschacht bis zur Ringmauerkrone hinauf geführt haben dürfte. Hintere Burg Die hintere Burg ist weitgehend erhalten geblieben, wenn auch mit zahlreichen baulichen Änderungen. 1983 nahm die Kantonsarchäologie Aargau eine umfassende Bauuntersuchung vor. Dabei stellte sie fest, dass die bisherige Datierung bei allen Gebäuden fehlerhaft war, und kam vor allem beim kleinen Turm zu einem stark abweichenden Ergebnis. So war man bisher davon ausgegangen, dass der grosse Turm um 1020 erbaut wurde, nun wurde seine Bauzeit auf den Beginn des 13. Jahrhunderts geschätzt. Der kleine Turm hingegen musste vom 15./16. Jahrhundert auf das letzte Drittel des 11. Jahrhunderts vordatiert werden. Die Bauzeit des Palas wird statt wie bisher auf das 12./13. Jahrhundert neu auf die Mitte des 13. Jahrhunderts geschätzt. Kleiner Turm Der kleine Turm entstand beim Ausbau Ende des 11. Jahrhunderts und besitzt eine Grundfläche von 7,6 auf 7 Metern. Er war Teil eines Vorgängerbaus der heutigen hinteren Burg, der im frühen 13. Jahrhundert durch Palas und grossen Turm ersetzt wurde. Bei diesem Umbau blieb der kleine Turm erhalten. Beim Umbau des Innenhofes zum Wohntrakt Ende des 16. Jahrhunderts wurde die Höhe des kleinen Turms verringert. In den Jahren 1937/38 und 1947/49 ging bei umfassenden Umgestaltungen (moderner Innenausbau, Einbau neuer Zwischenböden und Fenster) weitere alte Bausubstanz verloren. Einzig zwei zugemauerte Fensterscharten im ursprünglichen ersten Obergeschoss mit nach innen und aussen abgeschrägter Laibung können zweifelsfrei dem ursprünglichen Bauwerk zugeschrieben werden. Das Portalgewände des zugemauerten Hocheingangs besteht aus Sandstein und entstammt wohl einem Umbau im 13. Jahrhundert, da diese Ausführungsart erst zu dieser Zeit aufkam. An der Nordfassade finden sich die Maueransätze eines Aborterkers. Die beiden hoch liegenden Schmalscharten mit nach innen geschrägter Laibung entstammen einer späteren mittelalterlichen Bauphase. Die übrigen Fenster- und Türöffnungen stammen aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Grosser Turm Der grosse Turm entstand zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Er ist 20,15 Meter hoch und weist einen rautenförmigen Grundriss von 10,2 auf 10 Metern auf. An der Basis beträgt die Mauerdicke 2,1 Meter, die sich auf einer Höhe von 10,5 Metern durch einen innen liegenden Rücksprung auf 1,8 Meter verringert. Der Turm diente zum Wohnen und besteht aus Megalithmauerwerk, dem typischen Mauerwerk für Burgen in dieser Gegend. Die roh behauenen Bruchsteine sind in Lagen übereinander gemauert. Der ursprüngliche Eingang befindet sich 7,4 Meter über dem Hofboden, der Eingang zu ebener Erde wurde erst 1898 ausgebrochen. Die vier heutigen Zwischenböden entstanden alle erst nach 1866 und befinden sich nicht mehr in ihren ursprünglichen Höhenlagen. Mit einer Ausnahme können sie nicht genau datiert werden. Der unterste Zwischenboden wurde 1995 unterhalb des alten Eingangs eingezogen und ist nur von oben zugänglich. Er hat keinen mittelalterlichen Vorgänger und dient als Wetterschutz für das Burgmuseum. Der heutige zweite Zwischenboden war ursprünglich das erste Obergeschoss, von wo aus der Turm betreten werden konnte. Hier finden sich in der Nordwestecke auch die Überreste des Kamins, der vermutlich selten bis nie benutzt wurde, da man anlässlich der Bauuntersuchung 1995/96 keine Spuren von Russ fand. Das heutige dritte Obergeschoss war ursprünglich das zweite. Dort kann der Turm durch eine Tür in der östlichen Wand verlassen werden. Heute verfügt der Durchgang aufgrund der Bodenerhöhung über eine nach unten führende Treppe, die zum Laubengang im Innenhof führt. Vor dem Bau des Palas befand sich auf dieser Höhe aussen am Turm eine umlaufende, zweigeschossige Laube, die ebenfalls auf diesem Weg betreten werden konnte. Diese Aussage lassen jedenfalls die dort gefundenen zugemauerten Balkenlöcher zu. Das obere Geschoss der Laube wird vermutlich auch vom damaligen dritten Obergeschoss zugänglich gewesen sein. Dieses heutige vierte Obergeschoss muss im Mittelalter von einem viereckigen Spitzhelm gedeckt gewesen sein. Die Bedachung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kann nur noch anhand zeitgenössischer Bilddokumente nachgewiesen werden, da der Turm 1866 einen neuen oberen Abschluss mit Zinnenkranz erhielt. Dabei wurden bei der Neuausführung der obersten Mauerabschnitte die allfällig noch vorhandenen Dachauflagen zerstört und können deshalb nicht mehr nachgewiesen werden. Palas Der rechteckige Palas schliesst, gegen Süden vorspringend, östlich an den grossen Turm an. Die Mauern werden auf Mitte des 13. Jahrhunderts datiert, sind also jünger als jene des grossen Turms. Der Palas besitzt drei Geschosse und ist unterkellert. An der Westwand finden sich die Überreste eines Aborterkers. Das Gebäude wurde 1559 umfassend umgebaut und erhielt dabei in den Grundzügen sein heutiges Aussehen. Aus dieser Zeit stammen die nach Osten und Süden gerichteten Fenster (zwei- und dreiteilige gotische Fenstergruppen) sowie das Satteldach mit ostseitigem Gerschild. Der Zugang zu den einzelnen Geschossen des Palas erfolgt über die 1948 erneuerte Treppen- und Laubenanlage im Innenhof. Zwei spätgotisch verzierte Eichenpfeiler mit Sattelhölzern tragen die Kellerdecke. Ebenfalls aus dem Jahr 1948 stammt die Flachtonnendecke über dem Gastraum im Erdgeschoss, eine Kopie des Originals von 1559. Im ersten Obergeschoss befindet sich die Schlossstube. Dieser Raum entspricht noch weitgehend dem Original von 1559. Er besitzt eine Flachtonnendecke, deren Balken mit Stern-, Spiral- und Spiralradmotiven verziert sind; die Ausläufer sind herzblattförmig. Als Eckstützen dienen gerippte Eichenpfeiler, in gleicher Art ist auch der Eselsrücken des Eingangsportals profiliert. In einer der Ecken befindet sich ein Kachelofen aus dem 18. Jahrhundert, der zuvor im Pfarrhaus von Würenlos stand. Die weissen Gesims-, Sockel und Liesenkacheln sind mit idyllischen Burgenlandschaften und Blumendekors bemalt. Es wird vermutet, dass es sich um eine Arbeit aus Muri handelt. Im Raum, der an die Schlossstube angrenzt, befindet sich ein schlichter Kastenofen, der 1948 eingebaut wurde. Er besitzt Bildkacheln mit Ruinenlandschaften in Rocaille-Rahmen. Signiert ist der Ofen von Johann Jakob Fischer aus Aarau mit der Jahreszahl 1744. Der Rittersaal im zweiten Obergeschoss war ursprünglich in mehrere Kammern gegliedert und erhielt 1913/14 seine heutige Form. In ihm befindet sich ein prismenförmiger Ofen mit grün glasierten Reliefkacheln. Diese Kacheln aus dem 17. Jahrhundert werden den Werkstätten von Steckborn zugeschrieben (vormals in Ermatingen), doch kann diese Vermutung nicht durch schriftliche Quellen oder Signaturen bestätigt werden. Motive des Ofens sind weibliche Tugendallegorien, die unter Rundbögen und zwischen Pilastern stehen, während sich im Sockelfries Putten zwischen Löwenköpfen und Rollwerk tummeln. Innenhof und Flankierungsturm Der Innenhof in Form eines unregelmässigen «U» verbindet Kleinen Turm, Grossen Turm und Palas. Er wurde im Jahr 1594 überdacht und zu einem Wohntrakt umgebaut. Das ursprünglich schwach geneigte Pultdach war anfällig für Sturmschäden und wurde deshalb 1634 durch ein stärker geneigtes ersetzt. Infolge Baufälligkeit musste dieser Bau am Beginn des 19. Jahrhunderts wieder entfernt werden, weshalb der Innenhof heute wieder frei liegt. An seiner Ostseite wird er durch die Hofmauer begrenzt (früher zusätzlich durch den Abschnittsgraben). Nicht erhalten geblieben ist der Flankierungsturm, der mit der Hofmauer verbunden war. Er wird der Bauetappe zu Beginn des 13. Jahrhunderts zugeschrieben und schützte die Nordwestflanke der Burganlage. Ein vom Turm aus führender Mauerast dürfte den Berggrat nach Westen abgeriegelt haben. Grabungsfunde Ausgrabungen 1978 bis 1983 Im Bereich der vorderen Burg, unter der Aussichtsplattform, war 1908 ein Wasserreservoir gebaut worden. Wissenschaftlich begleitete Grabungen fanden aber erst siebzig Jahre später statt, als das Reservoir wegen des Bevölkerungswachstums des Dorfes Habsburg erweitert werden musste. Die Aargauische Kantonsarchäologie nahm dieses Projekt zum Anlass, die mittlerweile verborgenen Ruinen auszugraben und in konservierter Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Grabungen erfolgten zwischen 1978 und 1983 in vier Etappen. Eine Sondiergrabung im Spätherbst 1978 diente der genauen Lokalisierung der Ruinen und der Ermittlung des idealen Standorts für die neue Wasserkammer. Im Spätsommer 1979 führte eine dreimonatige Grabungskampagne zur Aufdeckung verschiedener Mauerzüge im Westteil der vorderen Burg. Diese mussten teilweise dem Reservoir weichen und wurden später auf dessen Abdeckung rekonstruiert. 1980 folgte die Untersuchung und Restaurierung des mittleren Abschnitts, 1983 schliesslich jene im östlichen Abschnitt. Bei den römischen Funden handelt es sich überwiegend um Baukeramik wie Backsteine oder Ziegel. Erwähnenswert sind insbesondere Leistenziegelfragmente, die mit Ziegelstempeln der 21. Legion (Legio XXI Rapax), die von 44 bis 69 n. Chr. in Vindonissa stationiert war, versehen sind. Ferner wurde eine Münze aus der Zeit des Kaisers Probus (276–282) gefunden. Der Historiker Franz Ludwig von Haller berichtete 1811, er habe auf der Habsburg eine Silbermünze von Kaiser Hadrian (117–138) gefunden. Im Ostturm sind zahlreiche Spolien verbaut. Diese stammen aus den Ruinen von Vindonissa und wurden im Mittelalter auf den Wülpelsberg gebracht. Tierknochen machen den Hauptanteil der mittelalterlichen Funde aus und stammen überwiegend aus dem Latrinenschacht und dem Kernbau des Ostturms. Darunter sind auch Halbfabrikate und Abfälle von Knochen- und Hornschnitzereien aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Am zweithäufigsten fanden die Archäologen Bruchstücke von keramischen Gegenständen, hauptsächlich spärlich verzierte Topfscherben aus der Zeit von 1020/30 bis etwa 1100. Bei den Fundauswertungen konnte festgestellt werden, dass es im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts zu einer Änderung des bevorzugten Designs kam, vom trichterförmigen zum lippenförmigen Rand. Im frühen 13. Jahrhundert folgte schliesslich der Übergang zu Leistenrändern. Verschiedene Funde zeugen von einem gehobenen Lebensstil der Burgbewohner. Neben einem Aquamanile in Stierform und Scherben einer importierten Amphore der Pingsdorfer Keramik sind insbesondere Trachtenbestandteile aus Buntmetall, gläserne Fingerringe und eine Brettspielfigur aus blauem Glas zu nennen. Da nur vereinzelt Ofenkeramik zum Vorschein kam, kann auf einen planmässigen Abbruch der Kachelöfen beim Verlassen der vorderen Burg und deren Weiterverwendung an anderer Stelle geschlossen werden. Fundstücke aus Eisen sind vor allem Gürtelschnallen sowie landwirtschaftliche und gewerbliche Geräte. Ausserdem wurden zwei Münzen gefunden, von denen sich eine als Prägung des Fraumünsters in Zürich herausstellte (ca. 1055 bis 1100). Aus den Funden lässt sich der Schluss ziehen, dass sich die Haushaltung und alltägliche Lebensweise der frühen Habsburger kaum von jener ihrer Untertanen unterschied. Zum Ausdruck kam die soziale Vorrangstellung vor allem im grossen Fleischkonsum sowie dem Besitz von Glasobjekten, kostbarer Kleidung und Bargeld. Ausgrabungen 1994/95 Geplante unterirdische Erweiterungsbauten für das Restaurant lösten 1994 im Burghof weitere Grabungen aus. Diese blieben mengenmässig hinter den Grabungen von 1978 bis 1983 zurück. Dazu kam, dass im Burghof die hochmittelalterliche Fundschicht durch moderne Störungen wie Werksleitungen stark beeinträchtigt war. In einer Kulturschicht im Burghof wurden zahlreiche Keramikteile und wenige Tierknochen aus der älteren Eisenzeit gefunden. Diese Kulturschicht wird der Hallstattzeit der Stufe C/D zugeschrieben (6. und 7. vorchristliches Jahrhundert). In dieser Schicht kam auch die Klinge eines Steinbeils zum Vorschein, was darauf schliessen lässt, dass sich bereits während der Jungsteinzeit Menschen auf dem Wülpelsberg aufhielten. Da es sich um einen Einzelfund handelt, dürfte eine Besiedlung während dieser Epoche aber ausgeschlossen sein. Es ist auch möglich, dass die Klinge erst später dorthin gelangte. In der mittelalterlichen Kulturschicht fanden sich vereinzelt römische Objekte (Ziegelfragmente und eine Spolie aus Muschelkalk), so dass man von sekundär verlagerten Fundobjekten ausgehen kann. Darunter lagen einige Topfscherben und ein Hufeisen aus dem 11./12. Jahrhundert. Aus dem späten 14. Jahrhundert sind grün glasierte Kachelfragmente erwähnenswert, die von einem Ofen stammen, der vermutlich beim Umbau des Palas im Jahr 1559 abgebrochen wurde. Etwa gleich alt ist das Fragment eines Eisenhelms. Ferner fand man eine Silbermünze, eine Prägung der Erzbischöfe von Salzburg zur Zeit von Friedrich IV. (1441–1452) oder Sigismund I. (1452–1461). Der verfüllte Abschnittsgraben enthielt reichlich Fundgut aus dem 16. und 17. Jahrhundert, darunter viele grün glasierte Keramikgefässe, aber auch Talglampen, Blattkacheln sowie Fragmente von Glasflaschen und -bechern. Metallene Fundgegenstände waren meist landwirtschaftlicher Natur, wie Spaten, Sichel und Hufeisen. Dazu kamen Türbänder und Bestandteile von Trachten. Bei diesen Objekten dürfte es sich um die Hinterlassenschaft wohlhabender Bauern oder Kleinbürger handeln, die den Gutshof auf der Habsburg verwalteten. Archäozoologische Auswertung Aus den Ausgrabungen von 1978/83 und 1994/95 stammen rund 120 kg Knochen, wovon allerdings nur ein kleiner Teil archäozoologisch ausgewertet wurde. Aus dem 11. bis 13. Jahrhundert wertete die Kantonsarchäologie hauptsächlich Knochenfunde aus den ungestörten Grabungsschichten im Ostturm der vorderen Burg aus. Aus der frühneuzeitlichen Epoche (16. Jahrhundert) wurden die Knochen aus dem Abschnittsgraben ausgewertet. In allen vier untersuchten Schichten überwiegen Knochen von Haustieren, während Wildtiere nur einen geringen Anteil ausmachen. Die Jagd hatte also keine wirtschaftliche Bedeutung. Bei der obersten Grabungsschicht des Ostturms stellte man einen relativ hohen Anteil an Greifvogelknochen fest. Hier ist allerdings anzumerken, dass zumindest die Turmfalken durchaus aus natürlichen Gründen und nicht als Siedlungsabfall in die Schicht geraten sein könnten, da diese Schicht im unbewohnten Zustand entstanden ist. Verhältnis der Haupttierarten, nach der Anzahl der Knochenfragmente: Die Knochenfunde zeigen, dass es eine Verschiebung der Fleischlieferanten gab. So dominierten im Mittelalter Schweine, die oft vor der Geschlechtsreife geschlachtet wurden, während in der frühneuzeitlichen Epoche das Hausrind vermehrt verzehrt wurde. Die Hausrinder schlachtete man mehrheitlich als ausgewachsene Tiere. Interessant ist, dass das Huhn in keiner der Schichten über ein Gewichtsprozent der Knochen aufweist und somit als Fleischlieferant als bedeutungslos eingestuft werden kann. Literatur Stephan M. Leuthard, Heinrich Gabriel: Schlösser und Burgen des Aargaus. Editions Ovaphil, Lausanne 1976. Werner Meyer: Burgen der Schweiz. 8. Band, Silva-Verlag, Zürich 1981–1983, S. 70–72. Peter Frey: Die Habsburg im Aargau. Bericht über die Ausgrabungen von 1978–1983. In: Argovia. Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau. Band 98, Verlag Sauerländer, Aarau 1986, ISBN 3-7941-2834-6. Peter Frey. Die Habsburg. Bericht über die Ausgrabungen von 1994/95. In: Argovia. Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau. Band 109, Verlag Sauerländer, Aarau 1997, ISBN 3-7941-4469-4. Marcel Veszeli, Jörg Schibler: Archäozoologische Auswertung von Knochenfunden aus der Habsburg. In: Argovia, Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau. Band 109, Verlag Sauerländer, Aarau 1997. Bruno Meier: Ein Königshaus aus der Schweiz. Die Habsburger, der Aargau und die Eidgenossenschaft im Mittelalter. Verlag hier+jetzt, Baden 2008, ISBN 978-3-03919-069-0. Peter Frey, Martin Hartmann, Emil Maurer: Die Habsburg. (= Schweizerische Kunstführer. Serie 43, Nr. 425). 6., überarbeitete Auflage. Hrsg. von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte. Bern 1999, ISBN 3-85782-425-5. Peter Frey: Land der Burgen und mittelalterlichen Kleinstädte. In: Grenzen-Grenzenlos. Begleitschrift zur Jubiläumsausstellung. Brugg, ohne Jahresangabe. Siehe auch Liste der Kulturgüter in Habsburg Weblinks Schloss Habsburg – Stammsitz einer Dynastie Restaurant Schloss Habsburg Offizielle Website von Schloss Habsburg Burgenwelt: Habsburg Einzelnachweise Habsburg Habsburg, Burg Habsburg Kulturgut von nationaler Bedeutung im Kanton Aargau Habsburg AG
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Ludwig Boltzmann
Ludwig Eduard Boltzmann (* 20. Februar 1844 in Wien; † 5. September 1906 in Duino, Österreich-Ungarn) war ein österreichischer Physiker und Philosoph. Er lehrte an den Universitäten von Wien, Graz, München und Leipzig. Seine bedeutendsten Leistungen liegen im Bereich der Thermodynamik und der statistischen Mechanik, wo er sich vor allem mit der Frage beschäftigte, wie die reversiblen mikroskopischen Bewegungen von Teilchen zu irreversiblen makroskopischen Prozessen führen können. Als ein glühender Verfechter der Atomistik verteidigte er die reale, objektive Existenz von Atomen gegen die Angriffe von Ernst Mach und Wilhelm Ostwald. Er gilt als einer der Vollender der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts, der an den revolutionären Neuerungen der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zwar selber keinen Anteil mehr hatte, dessen Methoden jedoch in vieler Hinsicht zukunftsweisend waren. Schwer krank und an Depressionen leidend nahm er sich im Alter von 62 Jahren das Leben. Leben Abstammung Boltzmanns Großvater väterlicherseits, Gottfried Ludwig Boltzmann, wurde 1770 in Berlin geboren und ließ sich in Wien nieder, wo er eine Spieluhrenfabrik gründete. Gottfrieds Sohn Ludwig Georg Boltzmann (* 1802; † 22. Juni 1859) studierte Jus und wurde Finanzbeamter. 1837 heiratete er in Maria Plain bei Salzburg Maria Katharina Pauernfeind, die aus einer angesehenen und wohlhabenden Salzburger Handelsfamilie stammte; der Salzburger Bürgermeister Johann Christian Paurnfeind war ihr Urgroßvater. Ludwig Georg und Maria Katharina Boltzmann hatten drei Kinder, Ludwig Eduard und seine zwei jüngeren Geschwister, Albert (* 22. April 1846; † 14. Februar 1863) und Hedwig (* 12. Mai 1848; † 1890). Boltzmanns ebenfalls hochbegabter Bruder Albert war nach ihm der zweitbeste Schüler am Akademischen Gymnasium in Linz, starb jedoch schon mit 16 Jahren an einem Lungenleiden, wahrscheinlich Tuberkulose. Seine Schwester Hedwig blieb unverheiratet und starb in geistiger Umnachtung. Kindheit und Jugend Als kaiserlich-königlicher Verwaltungsbeamter wurde Boltzmanns Vater mehrmals versetzt, woraufhin die Familie an den jeweiligen Dienstort übersiedelte: von Salzburg nach Wien, wo Boltzmann geboren wurde, dann nach Wels und später nach Linz. Bis zu seinem 10. Lebensjahr wurde Boltzmann privat unterrichtet, im Jahr 1855 trat er in das Akademische Gymnasium Linz ein. Der Großteil der Lehrer gehörte dem geistlichen Stand an, 22 von 29 Klassenkollegen Boltzmanns gaben an, Theologie studieren zu wollen. Die Erziehung Boltzmanns war vom humanistischen Bildungsideal geprägt, große Bedeutung hatte die Musik in der Familie Boltzmann. Der junge Anton Bruckner war sein Klavierlehrer. Als Boltzmann 15 Jahre alt war, starb sein Vater. Dieses Ereignis belastete ihn stark. Auch der Tod seines jüngeren Bruders vier Jahre später erschütterte ihn schwer. Trotzdem bestand er wenige Monate danach, im Sommer 1863, die Matura am akademischen Gymnasium mit Auszeichnung. Kurz darauf übersiedelte die Familie nach Wien, um ihm das Studium zu ermöglichen. Seine wohlhabende Mutter konnte sein Studium aus ihrem eigenen Vermögen finanzieren. Studium und Promotion in Wien (1863–1869) Boltzmann begann an der Universität Wien das Studium der Mathematik und Physik. Das Physikalische Institut war erst 1849 von Christian Doppler gegründet worden. Es befand sich in der Erdbergstraße 15 in Wien-Landstraße und wurde von Dopplers Nachfolger Andreas von Ettingshausen geleitet. Boltzmanns Lehrer waren neben Ettinghausen vor allem Josef Stefan, der Mathematiker Josef Petzval und August Kunzek. Boltzmann war zunächst „außerordentlicher Zögling“ und ab dem Sommersemester 1865 „ordentlicher Zögling“ am Physikalischen Institut. 1866 wurde Stefan als Nachfolger Ettingshausens Direktor des Physikalischen Instituts, im Oktober 1866 wurde Boltzmann sein Assistent. Noch vor Abschluss des Studiums veröffentlichte er zwei wissenschaftliche Arbeiten. Boltzmann schloss sein Doktoratsstudium mit den drei vorgeschriebenen Rigorosen ab und wurde am 19. Dezember 1866 zum Doktor der Philosophie promoviert. Eine Dissertation war damals nicht erforderlich. 1866 trat Josef Loschmidt in das Physikalische Institut ein. Stefan, der nur neun Jahre älter war als Boltzmann, und der wesentlich ältere Loschmidt waren für Boltzmann die prägenden Lehrergestalten, mit denen er auch freundschaftlich verbunden war. Boltzmann legte die Lehramtsprüfung für Mathematik und Physik an Obergymnasien ab und absolvierte im Studienjahr 1867/68 das vorgeschriebene Probejahr am Akademischen Gymnasium. Am 21. Dezember 1867 reichte er ein Gesuch um die venia docendi ein, die ihm am 19. März 1868 erteilt wurde. Bis zum 31. Juli 1869 lehrte er als Privatdozent und hielt eine Vorlesung Über die Grundprinzipien der mechanischen Wärmelehre. Erste Grazer Professur (1869–1873) Der Lehrstuhl für mathematische Physik an der Universität Graz war vakant, seit 1867 der bisherige Ordinarius Ernst Mach an die Universität Prag berufen worden war. Der neu ernannte Ordinarius für allgemeine und experimentelle Physik, August Toepler, setzte sich für eine Neubesetzung ein. Die Bewerbung Boltzmanns wurde von Stefan unterstützt, und am 17. Juli 1869 ernannte Kaiser Franz Joseph I. Boltzmann zum ordentlichen Professor der mathematischen Physik an der Universität Graz. Boltzmann war in Graz höchst erfolgreich, vermisste jedoch den Kontakt zur internationalen Fachwelt. Auch seinen verehrten Lehrern Stefan und Loschmidt warf er die Isoliertheit von der Fachwelt vor: „Weder Stefan noch Loschmidt machten meines Wissens eine Reise außerhalb des österreichischen Vaterlandes. Jedenfalls besuchten sie nie eine Naturforscherversammlung, traten nie mit fremden Gelehrten in innigere persönliche Beziehungen. Ich kann dies nicht billigen; ich glaube, daß sie bei geringerer Abgeschlossenheit noch mehr hätten leisten können. Wenigstens hätten sie ihre Leistungen rascher bekannt und daher fruchtbringender gemacht.“ Im März 1870 reichte er ein Urlaubsgesuch ein und unternahm im April und Mai 1870 die erste seiner zahlreichen Auslandsreisen, die ihn nach Heidelberg zu Robert Bunsen, Gustav Kirchhoff und Leo Koenigsberger führte. Im Wintersemester 1871/72 besuchte er Hermann von Helmholtz an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. 1872 veröffentlichte er eine seiner bedeutendsten Arbeiten zur statistischen Mechanik, Weitere Studien über das Wärmegleichgewicht unter Gasmolekülen. Ordinariat für Mathematik an der Universität Wien (1873–1876) Boltzmann bewarb sich 1873 um den durch die Emeritierung von Franz Moth freigewordenen Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Wien. Seine Ernennung zum ordentlichen Professor für Mathematik erfolgte am 30. August 1873. Als Professor für Mathematik beschäftigte sich Boltzmann ebenfalls mit Physik, er hielt eine Vorlesung über Mechanische Wärmelehre und arbeitete in Wien und Graz auch experimentell. 1875 erhielt er ein Angebot des Eidgenössischen Polytechnikums Zürich für eine Professur auf Lebenszeit, das er zwar ablehnte, aber das ihm dazu verhalf, dem Ministerium gegenüber ein höheres Gehalt und bessere Bedingungen auszuhandeln. Einen Ruf auf einen Lehrstuhl in Freiburg schlug er aus. Zweite Grazer Professur (1876–1890) und gescheiterte Berufung nach Berlin 1875 wurde der Grazer Ordinarius für Experimentalphysik, August Toepler, an das Königlich Sächsische Polytechnikum Dresden berufen und Boltzmann zu seinem Nachfolger als Ordinarius und Leiter des Physikalischen Instituts der Universität Graz ernannt. Im Studienjahr 1878/79 war Boltzmann Dekan der Philosophischen Fakultät und im Studienjahr 1887/88 Rektor. Die Grazer Jahre zählten zu den glücklichsten und produktivsten in Boltzmanns Leben. Hier kamen vier seiner Kinder auf die Welt, und er bezog ein Anwesen auf der Platte in Oberkroisbach im Grazer Umland (heute im Grazer Stadtteil Mariatrost), wo er sich sehr wohl fühlte. Trotzdem war diese Zeit von gesundheitlichen und psychischen Problemen überschattet. Nach dem Tod seiner Mutter am 23. Jänner 1885 durchlebte Boltzmann eine schwere psychische Krise. Als 1889 sein ältester Sohn Hugo starb, machte er sich schwere Vorwürfe, weil dessen Blinddarmentzündung zu spät diagnostiziert worden war. Anfang 1888 erhielt Boltzmann einen Ruf als Professor für theoretische Physik an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Dieser Lehrstuhl war nach dem Tod Gustav Kirchhoffs im Oktober 1887 vakant geworden. Boltzmann sagte zu und wurde am 19. März zum ordentlichen Professor für theoretische Physik ernannt. Am 24. Juni 1888 sagte er überraschend wieder ab, wobei er sich auf ärztliche Gutachten berief, die seine Sehschwäche attestierten. Am 27. Juni schickte er ein Telegramm, um die Absage wieder rückgängig zu machen, was ihm jedoch trotz weiterer Interventionen nicht gelang, da der Lehrstuhl inzwischen an Max Planck vergeben war. Professor in München (1890–1894) Nach dem Scheitern der Berliner Professur wollte Boltzmann weg von Graz. Er entschied sich schließlich, eine Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München anzunehmen, wo er im Wintersemester 1890/1891 seine Lehrtätigkeit aufnahm. Boltzmann genoss die im Vergleich zu Graz erweiterten Möglichkeiten zu wissenschaftlichem Austausch und die Diskussionen mit zahlreichen Fachkollegen. In München bahnten sich jedoch die ersten Auseinandersetzungen mit Wilhelm Ostwald und der „Energetik“ an. 1892 besuchte er die 300-Jahr-Feier des Trinity College in Dublin und 1894 die Universität Oxford. Einen Ruf nach Wien lehnte er 1892/93 noch ab. Als nach dem Tod Josef Stefans Anfang 1893 dessen Lehrstuhl zu besetzen war, entschloss sich Boltzmann trotz der fruchtbaren wissenschaftlichen Tätigkeit in München zur Rückkehr nach Wien. Erstes Ordinariat für Theoretische Physik an der Universität Wien (1894–1900) Am 1. September 1894 trat Boltzmann seinen Dienst an. Die Professur in Wien war mit einer beträchtlichen Erhöhung seines Einkommens verbunden. Die Altersvorsorge und die Absicherung des Auskommens seiner Familie im Fall seines Ablebens war einer der Beweggründe für Boltzmanns Rückkehr nach Wien gewesen. 1895 besuchte Boltzmann die Naturforscherversammlung in Lübeck, wo es zu einem Streitgespräch mit den Energetikern Ostwald und Georg Helm kam. Arnold Sommerfeld verglich das Streitgespräch mit einem Stierkampf, in dem Boltzmann dem Stier glich, aber „der Stier den Torero besiegte.“ Anlässlich einer Einladung an die Clark University in Worcester, Massachusetts unternahm Boltzmann 1899 die erste seiner drei Amerikareisen. Die Hinfahrt auf der Kaiser Wilhelm der Große führte von Bremerhaven über Cherbourg und Southampton nach New York. Boltzmann reiste über Boston nach Worcester weiter und besuchte Montreal, die Niagarafälle, Buffalo, Pittsburgh, Washington, Baltimore und Philadelphia. Nach vier Wochen in den USA trat er am 25. Juli 1899 die Heimfahrt auf der Trave des Norddeutschen Lloyd an. Nach anfänglicher Euphorie fühlte Boltzmann sich jedoch in Wien bald wieder unwohl und nahm daher das Angebot einer Professur in Leipzig an. Trotz aller wissenschaftlichen Gegensätze hatte sich Ostwald intensiv für Boltzmanns Berufung eingesetzt. Er verließ Wien für viele überraschend und ohne sich von seinen Kollegen zu verabschieden. Professur in Leipzig (1900–1902) Am 1. September 1900 trat Boltzmann seine Professur in Leipzig an, wo er sich jedoch von Anfang an nicht wohl fühlte. Er litt unter der Angst, dass ihn während der Vorlesung das Gedächtnis verlassen könnte und sagte daher sogar zeitweise seine Vorlesungen ab. Im Sommer 1901 unternahm er mit seinem Sohn Arthur eine ausgedehnte Schiffsreise, die ihn von Hamburg aus über Gibraltar ins Mittelmeer führte. Boltzmann litt jedoch sehr unter der Hitze, die erhoffte Besserung seines Gesundheitszustands trat nicht ein. Zwar pflegten die Familien Boltzmann und Ostwald freundschaftlichen Kontakt – so spielte Boltzmann an Musikabenden bei Ostwald Klavier –, die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Ostwald belasteten ihn jedoch. Wegen seiner Nervenleiden und Suizidgedanken konsultierte er den Psychiater Paul Flechsig. Als sich eine Gelegenheit zur Rückkehr nach Wien bot, ergriff er sie, ohne zu zögern. Zweites Ordinariat für Theoretische Physik an der Universität Wien (1902–1906) Zum 1. Oktober 1902 wurde Boltzmann zum ordentlichen Professor der theoretischen Physik an der Universität Wien ernannt. In der „Sommerfrische“ am Meer 1902 und 1903 konnte er sich erholen, sein psychischer und physischer Zustand besserte sich für einige Zeit. Er stand in höchstem Ansehen: er wurde von Kaiser Franz Joseph empfangen und zum Hofrat ernannt. Er bezog eine neue Wohnung in der Haizingergasse in Wien-Währing und stürzte sich mit Eifer in seine Arbeit. Er arbeitete am zweiten Band der Vorlesungen über die Prinzipe der Mechanik und besuchte Göttingen und Kassel, wo er eine „äußerst lebhafte Meinungsverschiedenheit“ mit David Hilbert hatte. Weitere Reisen führten ihn nach England, zum Southport Meeting der British Association for the Advancement of Science, und nach Paris. Ernst Mach hatte in Wien einen Lehrstuhl für Philosophie inne, konnte aber nach einem Schlaganfall 1901 seiner Lehrverpflichtung nicht mehr nachkommen. Im Wintersemester 1903/04 übernahm Boltzmann seine Vorlesung über Naturphilosophie. Er bereitete sich gründlich darauf vor und kontaktierte brieflich den Philosophen Franz Brentano, den er 1905 in Florenz besuchte. Neben seiner intensiven Beschäftigung mit Philosophie und seiner Lehrtätigkeit kam seine wissenschaftliche Arbeit fast zum Erliegen: Nach 1900 publizierte er nur mehr zwei Arbeiten. Vom 21. August bis zum 8. Oktober 1904 unternahm Boltzmann in Begleitung seines Sohnes Arthur Ludwig seine zweite Amerikareise, um am St. Louis Mathematics Congress teilzunehmen. Die Strapazen der Reise setzten Boltzmann sehr zu. Er empfand die Belgravia der Hamburg-Amerika-Linie als „sehr minder“ und unbequem. Die Reise führte von New York über Philadelphia, Washington, die Großen Seen mit Detroit, den Niagarafällen und Chicago nach St. Louis. Die Rückreise erfolgte auf der Deutschland. Im Juni 1905 brach Boltzmann zu seiner dritten und letzten Amerikareise auf, die ihn nach Berkeley führte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Leipzig schiffte er sich in Bremen auf der Kronprinz Wilhelm ein. Von New York führte ihn der Express-Zug in vier Tagen und Nächten nach San Francisco. Besonders beeindruckt zeigte er sich vom Lick-Observatorium. Seine Vorlesungen in Berkeley waren nur mäßig erfolgreich, was vor allem an seinem nur schwer verständlichen Englisch lag. Die Rückfahrt erfolgte auf der Kaiser Wilhelm II. Diese Reise ist durch Boltzmanns humorvollen Bericht Reise eines deutschen Professors ins Eldorado bekannt geworden. Die heitere, unbeschwerte Grundstimmung dieses Reiseberichts wird nur selten getrübt, Boltzmann lässt nur wenig von den Beschwerden ahnen, die ihn damals schon quälten. In bester Stimmung kehrte Boltzmann zurück, doch wenige Monate später erfolgte der Zusammenbruch: Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich so sehr, dass im Frühjahr 1906 klar wurde, dass Boltzmann seinen Lehrverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Tod in Duino Seit langem war Boltzmanns Gesundheitszustand sehr schlecht. Wegen „Neurasthenie“ (Nervenschwäche) war er mehrmals in psychiatrischer Behandlung. Er litt unter extremen Stimmungsschwankungen, Zustände höchster Erregung wechselten mit tiefster Niedergeschlagenheit. Boltzmann selbst erzählte dazu, dass er „in der Nacht zwischen Fastnacht und Aschermittwoch geboren sei, und dieser Kontrast spiegle sich in seinem ganzen Leben wider.“ Er war extrem kurzsichtig, bereits 1873 äußerte er die Befürchtung bald zu erblinden. Um 1900 hatte sein Sehvermögen bereits so sehr nachgelassen, dass er eine Dame anstellte, die ihm wissenschaftliche Literatur vorlas. Seine eigenen Arbeiten diktierte er seiner Frau. Er litt unter Asthma, Nasenpolypen, Kopfschmerzen, Nieren- und Blasenleiden und verschiedenen anderen körperlichen Beschwerden, von denen mehrere besorgte Briefe seiner Frau in den Jahren 1902 und 1903 an die Tochter Ida in Leipzig zeugen. Am 5. Mai 1906 wurde Boltzmann wegen „schwerer Neurasthenie“ krankheitshalber beurlaubt, Stefan Meyer übernahm seine Vorlesungen. Den Sommer 1906 verbrachte Boltzmann mit seiner Familie an der Adria in Duino nördlich von Triest. Am 5. September 1906, einen Tag vor der geplanten Heimreise, erhängte er sich in seinem Hotelzimmer. Die Neue Freie Presse berichtete am 7. September: „Professor Boltzmann war seit längerer Zeit an Neurasthenie leidend und war zu seinem Sommeraufenthalte in Begleitung einer Tochter nach Duino gekommen. Als die Tochter ihn gestern früh nicht aus seinem Zimmer herauskommen sah, ging sie hinein und fand den Vater, der sich an einer Eisenstange des Fensters erhenkt hatte, tot auf.“ Am Tag darauf brachte die Neue Freie Presse Nachrufe auf Boltzmann von Ernst Mach und Franz Serafin Exner. Boltzmann hinterließ keinen Abschiedsbrief, der unmittelbare Anlass für seinen Suizid ist daher unbekannt. Von mehreren Autoren wird ein Zusammenhang zwischen Boltzmanns Depressionen und der Ablehnung seiner Atomistik vermutet. George Jaffé schreibt dazu: „I do not venture to guess what reasons led a scientist of his caliber to give up his life after what really was a wonderfully successful career. I cannot help feeling, however, that the scientific situation which I have tried to sketch was not altogether disconnected from his resolution.“ („Ich wage es nicht zu vermuten, was einen Wissenschaftler seines Formats dazu bewog, nach einer außerordentlich erfolgreichen Karriere seinem Leben ein Ende zu setzen. Ich kann mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Entschluss nicht ganz ohne Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Umständen, die ich zu skizzieren versuchte, war.“) Zwar ist es unbestritten, dass die Auseinandersetzungen mit den Energetikern Boltzmann schwer belasteten, es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass diese unmittelbar zu seinem Suizid beigetragen hätten. Entsprechende Vermutungen sind reine Spekulation. Boltzmann war jedenfalls keineswegs ein „verkanntes Genie“, das sich aus Verbitterung um das Unverständnis seiner Umwelt das Leben nahm. Er war ein hoch angesehener Wissenschaftler und hatte ebenso viele Unterstützer wie Gegner; mit wissenschaftlichen Gegnern wie Mach und Ostwald war er persönlich befreundet. Boltzmanns wissenschaftliches Werk Boltzmann arbeitete auf fast allen Gebieten der Physik des 19. Jahrhunderts. Er publizierte insgesamt 139, teils sehr umfangreiche wissenschaftliche Originalarbeiten und schrieb drei Lehrbücher, die aus Materialien zu seinen Vorlesungen entstanden. Atomistik Atomtheorie im 19. Jahrhundert Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es bedeutende Fortschritte in der Chemie. Joseph Louis Proust formulierte das Gesetz der konstanten Proportionen, John Dalton leitete daraus die Existenz von Atomen als Grundbausteinen chemischer Verbindungen ab und bestimmte für etliche chemische Elemente die relativen Atomgewichte. William Prout formulierte aus der Beobachtung, dass Atomgewichte annähernd ganzzahlige Vielfache des Gewichts des Wasserstoffatoms sind, seine Hypothese, dass das Wasserstoffatom der Grundbaustein der Materie ist – erst im 20. Jahrhundert wurde entdeckt, dass es neben dem Wasserstoffkern, dem Proton, mit dem Neutron noch einen weiteren Grundbaustein des Atomkerns gibt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war unter Chemikern die Existenz von Atomen allgemein anerkannt, durch Mendelejews Formulierung des Periodensystems der Elemente (1869) erhielt die Atomtheorie einen systematischen Unterbau. Im Gegensatz dazu fand die Atomtheorie bei Physikern nur teilweise Akzeptanz, auch weil sie für viele physikalische Fragestellungen, die im 19. Jahrhundert untersucht wurden, nicht von Relevanz war. Massive Angriffe gegen die Atomtheorie kamen in den 1890er-Jahren auf. Gegner der Atomistik waren neben den „Energetikern“ Ostwald und Helm vor allem Ernst Mach, dessen „phänomenologische“ Erkenntnistheorie die nicht den Sinnen unmittelbar zugänglichen Atome ablehnte. Diese Strömungen waren allerdings lokal beschränkt, vor allem auf den deutschen Sprachraum und teilweise auf Frankreich (Pierre Duhem); in England fanden diese Lehren kaum Anhänger. Boltzmann und die Atomistik Bereits eine der frühesten Arbeiten Boltzmanns aus dem Jahr 1867 beschäftigt sich mit der Anzahl der Atome in den Gasmolekülen. In der Mehrzahl von Boltzmanns wissenschaftlichen Abhandlungen ist von Atomen oder Molekülen die Rede, deren Existenz wird meist als selbstverständlich angenommen. Erst als Antwort auf die Angriffe Machs und der Energetiker schrieb Boltzmann mehrere Aufsätze (Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik in der Naturwissenschaft, Nochmals über die Atomistik), in denen er auf phänomenologische Argumente eingeht: Die unendliche Teilbarkeit der Materie sei genauso wenig den Sinnen zugänglich wie Atome und daher eine ebenso unbewiesene Hypothese. Der Atomhypothese sei jedoch der Vorzug zu geben, da sie verschiedene beobachtbare Effekte besser erkläre: Boltzmann geht nicht von der Unteilbarkeit von Atomen aus, sondern spekuliert über den inneren Aufbau der Atome: Der Siegeszug der Atomtheorie nach Boltzmanns Tod Erst nach Boltzmanns Tod im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konnte sich die Atomtheorie durchsetzen, dabei kam es zu revolutionären Umwälzungen in der Physik. Albert Einstein leitete 1905 aus der kinetischen Theorie der Wärme her, dass die Wärmebewegung von Molekülen in Flüssigkeiten zu mikroskopisch sichtbaren Bewegungen suspendierter Teilchen führen müsse und vermutete, dass diese Bewegungen mit der „Brown’schen Bewegung“ identisch wären, Smoluchowski kam 1906 unabhängig zu einem ähnlichen Ergebnis. Kurz darauf konnte Jean Perrin Einsteins Vorhersagen experimentell bestätigen: Nach der Entdeckung der Röntgenbeugung in Kristallen war Max von Laue 1912 auch ein direkter experimenteller Nachweis der Anordnung von Atomen in Kristallen gelungen. Die Lehren der Energetiker gerieten in Vergessenheit und waren bald kaum mehr als eine historische Kuriosität. Mechanik und Elektrodynamik Boltzmann nannte die Mechanik, die von Newton, Euler, Lagrange, Hamilton und anderen bereits zu hoher Vollendung gebracht worden war, das „Fundament der gesamten Naturwissenschaften“ und beschäftigte sich auch immer wieder mit Fragen der „klassischen“ Mechanik, wie sie heute im Unterschied zur Quantenmechanik genannt wird. Auch auf andere Zweige der Physik wandte er seine Meisterschaft in klassischer Mechanik an. Dies gilt vor allem für seine Arbeiten zur Elektrodynamik. Die in den 1860er-Jahren von James Clerk Maxwell entwickelte Theorie des Elektromagnetismus konnte für die bis dahin getrennt betrachteten Disziplinen Elektrizität, Magnetismus und Optik eine einheitliche Formulierung finden. Boltzmann hatte großen Anteil daran, das Werk Maxwells auch in Kontinentaleuropa bekannt zu machen. 1895 übersetzte er Maxwells Abhandlung On Faraday's Lines of Force ins Deutsche und veröffentlichte sie als Über Faraday's Kraftlinien in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften. Im Vorwort zu den Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichts ordnet sich Boltzmann bescheiden Maxwell unter: „Kein Wunder daher, dass sich zur Fortführung des Baues nun die Kärrner einfinden. Ein solcher Kärrner, dem die Aufgabe ward, den Weg zum Gebäude zu ebnen, die Façade zu putzen, vielleicht auch dem Fundamente noch den einen oder anderen Stein einzufügen, will ich sein, und ich bin stolz darauf; denn gäbe es keine Kärrner, wie möchten wohl die Könige bauen?“ In diesen Vorlesungen bedient Boltzmann sich oft mechanischer Analogien. Experimentalphysik Boltzmann ist zwar hauptsächlich als theoretischer bzw. mathematischer Physiker bekannt, erbrachte jedoch auch in der Experimentalphysik bedeutende Leistungen. Trotz seiner schweren Sehbehinderung galt er als geschickter Experimentator. Zu Beginn seines Aufenthalts in Graz arbeitete er mit A. Toepler auf dem Gebiet der Akustik. Seine bedeutendsten experimentellen Ergebnisse erzielte er bei der Bestimmung der Dielektrizitätskonstanten (heute als Permittivität bezeichnet) verschiedener Materialien und vor allem von Gasen, deren Dielektrizitätskonstanten sich nur wenig von 1 unterscheiden und daher schwierig zu ermitteln sind, wofür Boltzmann eigene Methoden ersinnen musste. Boltzmanns Arbeiten zur Dielektrizitätskonstante sind im Zusammenhang mit seinem Studium der Maxwell’schen Elektrodynamik zu sehen. Er war bestrebt, den aus der Maxwell’schen Theorie folgenden Zusammenhang zwischen Brechungsindex , Permittivitätszahl und Permeabilitätszahl experimentell zu verifizieren. Kinetische Gastheorie, Thermodynamik und statistische Mechanik Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Rudolf Clausius den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert und den Begriff der Entropie geprägt. Die Zunahme der Entropie in einem Prozess ist ein Maß für dessen Reversibilität (Umkehrbarkeit): bleibt die Entropie konstant, ist der Prozess reversibel; nimmt sie hingegen zu (beispielsweise beim Mischen von kaltem mit heißem Wasser), so ist eine Umkehrung nur durch Zufuhr von Energie von außen möglich. Die Gesetze der klassischen Mechanik, die die Bewegung eines einzelnen Teilchens beschreiben, sind jedoch invariant gegenüber einer Zeitumkehr, d. h. zu jeder beliebigen Bewegung eines Teilchens ist auch die Bewegung in umgekehrter Richtung möglich. Boltzmann studierte das Problem, wie aus reversiblen Bewegungen einzelner Teilchen (z. B. Atomen oder Molekülen eines Gases) ein irreversibler Gesamtprozess entstehen kann. Diese Frage beschäftigte ihn sein Leben lang und er hat dazu eine Reihe verschiedener Ansätze gewählt. Diese Ansätze gehen von unterschiedlichen explizit angeführten oder auch nur impliziten Annahmen aus, vor allem über die Eigenschaften der (damals) nicht direkt beobachtbaren Moleküle. Bereits in seiner ersten Arbeit zur statistischen Mechanik aus dem Jahr 1866 behauptete Boltzmann „einen rein analytischen, vollkommen allgemeinen Beweis des zweiten Hauptsatzes der Wärmetheorie zu liefern, sowie den ihm entsprechenden Satz der Mechanik aufzufinden“. Später rückte Boltzmann von dieser Behauptung ab und vertrat die Meinung, dass solch ein allgemeiner Beweis unmöglich wäre. Bahnbrechend war Boltzmanns Anwendung statistischer Methoden. Er gilt somit neben James Clerk Maxwell und Josiah Willard Gibbs als Begründer der statistischen Mechanik. Maxwell hatte 1860 die Verteilung der Geschwindigkeiten der Atome eines Gases im thermischen Gleichgewicht ermittelt. Maxwells Ergebnisse wurden von Boltzmann verallgemeinert und sind heute als Maxwell-Boltzmann-Verteilung bekannt. Gibbs gelang eine weitere Verallgemeinerung der meist auf Gase beschränkten Ergebnisse Maxwells und Boltzmanns auf beliebige Systeme, indem er den Begriff des Ensembles einführte. H-Theorem und Boltzmann-Gleichung In seiner meist abgekürzt als „Weitere Studien“ bezeichneten Arbeit von 1872 betrachtet Boltzmann ein Gas im Nichtgleichgewichtszustand und untersucht, wie sich durch die Stöße der Moleküle die Verteilung der „lebendigen Kräfte“ (kinetischen Energien) ändert. Mit diesem „Stoßzahlansatz“ gelangt er zu zwei bedeutenden Ergebnissen, die heute als H-Theorem und als Boltzmann-Gleichung bekannt sind. Boltzmanns Formulierung des H-Theorems lautet: Dabei ist die Anzahl der Teilchen mit kinetischer Energie zum Zeitpunkt . Aus dem Stoßzahlansatz leitet Boltzmann ab, dass die Größe (in späteren Arbeiten als bezeichnet, daher der Name H-Theorem) niemals zunehmen kann. ist bis auf einen negativen konstanten Faktor mit der Entropie identisch: Mit dem H-Theorem gelangt Boltzmann so zu einer theoretischen Begründung des Zweiten Hauptsatzes. Boltzmann beschreibt die zeitliche Entwicklung der Verteilungsfunktion mit Hilfe einer Integro-Differentialgleichung, die heute Boltzmann-Gleichung oder Boltzmann’sche Transportgleichung genannt wird. Entropie und Wahrscheinlichkeit Ein weiterer Höhepunkt in Boltzmanns Schaffen ist seine berühmte Arbeit Über die Beziehung zwischen dem zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie und der Wahrscheinlichkeitsrechnung respektive den Sätzen über das Wärmegleichgewicht aus dem Jahr 1877. In dieser Arbeit kommt Boltzmann mit wahrscheinlichkeitstheoretischen und kombinatorischen Argumenten zu dem Schluss, dass der Übergang zum thermischen Gleichgewicht und die damit verbundene Erhöhung der Entropie einem Übergang von einem unwahrscheinlicheren zu einem wahrscheinlicheren Zustand entspricht: „Der Anfangszustand wird in den meisten Fällen ein sehr unwahrscheinlicher sein, von ihm wird das System immer wahrscheinlicheren Zuständen zueilen, bis es endlich den wahrscheinlichsten, d. h. den des Wärmegleichgewichts, erreicht hat. Wenden wir dies auf den zweiten Hauptsatz an, so können wir diejenige Größe, welche man gewöhnlich als die Entropie zu bezeichnen pflegt, mit der Wahrscheinlichkeit des betreffenden Zustandes identifizieren.“ Das zentrale Ergebnis Boltzmanns wird oft in der Form geschrieben. Dabei ist die Entropie, die Boltzmann-Konstante, die „thermodynamische Wahrscheinlichkeit“ und der natürliche Logarithmus. Die Bezeichnung „Wahrscheinlichkeit“ ist nicht ganz zutreffend, vielmehr handelt es sich um die Anzahl von Zuständen („Mikrozuständen“, von Boltzmann als „Komplexionen“ bezeichnet), durch Ort und Impuls aller Teilchen charakterisiert, die einem Zustand des Gesamtsystems („Makrozustand“, im Fall eines Gases durch Zustandsgrößen wie Druck, Volumen und Temperatur charakterisiert) entsprechen. Boltzmann selbst formulierte die Formel nie in dieser Weise (sie stammt von Max Planck), sie ist jedoch implizit in Boltzmanns wesentlich komplexeren Rechnungen enthalten. Strahlungsgesetze Josef Stefan hatte 1879 experimentell ermittelt, dass die Strahlungsleistung eines schwarzen Strahlers (die emittierte Strahlungsenergie pro Flächeninhalt und Zeit) proportional der vierten Potenz der absoluten Temperatur ist. Ausgehend von den Gesetzen der Thermodynamik und der Maxwell’schen Elektrodynamik fand Boltzmann 1884 eine theoretische Begründung, die von Lorentz als „wahre Perle der theoretischen Physik“ bezeichnet wurde. Die Beziehung wird als Stefan-Boltzmann-Gesetz bezeichnet, wobei der Proportionalitätsfaktor als Stefan-Boltzmann-Konstante bezeichnet wird, entspricht der Oberfläche des schwarzen Körpers und gibt die absolute Temperatur an. Boltzmann als Philosoph Boltzmanns Wirken als Philosoph wird von seinen Leistungen als Physiker überschattet. In seiner Antrittsvorlesung zur Naturphilosophie vom 26. Oktober 1903 erläuterte Boltzmann seinen Zugang zur Philosophie vom Standpunkt des Physikers und Praktikers: „Wenn es für den Professor der Medizin oder der Technik wünschenswert ist, daß er, um nicht zu verknöchern, neben seiner Lehrtätigkeit auch fortwährend Praxis betreibe, ja, wenn man Moltke zum Mitglied der historischen Klasse der Berliner Akademie wählte, nicht weil er Geschichte schrieb, sondern weil er Geschichte machte, vielleicht wählte man auch mich, nicht weil ich über Logik schrieb, sondern weil ich einer Wissenschaft angehöre, bei der man zur täglichen Praxis in der schärfsten Logik die beste Gelegenheit hat.“ Boltzmann drückte seine Skepsis gegenüber der akademischen Philosophie aus, insbesondere über ihre deutschen Vertreter: „Bin ich nur mit Zögern dem Rufe gefolgt mich in die Philosophie hineinzumischen, so mischten sich desto öfter Philosophen in die Naturwissenschaft hinein. Bereits vor langer Zeit kamen sie mir ins Gehege. Ich verstand nicht einmal, was sie meinten, und wollte mich daher über die Grundlehren aller Philosophie besser informieren.“ „Um gleich aus den tiefsten Tiefen zu schöpfen, griff ich nach Hegel; aber welch unklaren, gedankenlosen Wortschwall sollte ich da finden! Mein Unstern führte mich von Hegel zu Schopenhauer. […] Ja, selbst bei Kant konnte ich verschiedenes so wenig begreifen, daß ich bei dessen sonstigem Scharfsinn fast vermutete, daß er den Leser zum besten haben wolle oder gar heuchle.“ Einen Vortrag vor der Philosophischen Gesellschaft in Wien am 21. Jänner 1905 hatte Boltzmann ursprünglich als „Beweis, daß Schopenhauer ein geistloser, unwissender, Unsinn schmierender, die Köpfe durch hohlen Wortkram von Grund aus und auf immer degenerierender Philosophaster sei“ ankündigen wollen, ein fast wörtliches Zitat aus Schopenhauers „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, von Schopenhauer auf Hegel gemünzt. Anlässlich seines Aufenthaltes an der Universität Berkeley äußerte er sich auch über deren Namensgeber, George Berkeley, „dem man sogar nachrühmt, der Erfinder der größten Narrheit zu sein, die je ein Menschenhirn ausgebrütet hat, des philosophischen Idealismus, der die Existenz der materiellen Welt leugnet“. Boltzmanns materialistische Weltanschauung lehnt die Existenz eines von der Materie unabhängigen „Geistes“ ab. Im 20. Jahrhundert prägte Gilbert Ryle für diesen „Geist“ den Begriff des „Gespensts in der Maschine“ („ghost in the machine“). „Nach meiner Ansicht ist alles Heil für die Philosophie zu erwarten von der Lehre Darwins. So lange man an einen besonderen Geist glaubt, der ohne mechanische Mittel imstande ist, die Objekte zu erkennen, an einen besonderen Willen, der wieder ohne mechanische Mittel geeignet ist, das für uns Zuträgliche zu wollen, kann man die einfachsten psychologischen Erscheinungen nicht erklären.“ „Erst wenn man einsieht, daß Geist und Wille nicht ein Etwas außer dem Körper, daß sie vielmehr komplizierte Wirkungen von Teilen der Materie sind, deren Wirkungsfähigkeit durch Entwicklung immer vollkommener wird, erst wenn man einsieht, daß Vorstellung, Wille und Selbstbewußtsein nur die höchsten Entwicklungsstufen derjenigen physikalisch-chemischen Kräfte der Materie sind, durch welche Protoplasmabläschen zunächst befähigt wurden, solche Regionen aufzusuchen, die für sie günstiger sind, solche zu vermeiden, die ihnen ungünstig sind, wird einem in der Psychologie alles klar.“ Nachwirkung Boltzmanns Einfluss auf seine Zeitgenossen Boltzmanns Nachfolger auf seinem Lehrstuhl wurde sein Schüler Friedrich Hasenöhrl, dieser fiel jedoch bereits 1915 im Ersten Weltkrieg. Sein Assistent Stefan Meyer wandte sich der Radiumforschung zu und wurde 1920 Vorstand des Instituts für Radiumforschung. Eine Kontinuität der Boltzmann’schen Lehre gab es nur sehr eingeschränkt, Boltzmann gilt daher mehr als Vollender der klassischen Physik und nicht so sehr als Wegbereiter der Physik des 20. Jahrhunderts. Demgegenüber urteilt jedoch seine Studentin Lise Meitner: „… mit seiner thermodynamischen Forschung und der Einführung statistischer Methoden hat er wesentlich zum Übergang von der klassischen zur modernen, der Mikrophysik, beigetragen.“ Zwei seiner Grazer Studenten, Svante Arrhenius und Walther Nernst, erbrachten bedeutende Leistungen im Gebiet der Physikalischen Chemie und wurden mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Boltzmanns Schüler Paul Ehrenfest führte dessen Arbeiten in statistischer Mechanik fort und schrieb gemeinsam mit seiner Frau Tatjana den Artikel Begriffliche Grundlagen der statistischen Auffassung in der Mechanik in Kleins Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften. Nicht zu unterschätzen ist Boltzmanns Einfluss auf Albert Einstein. Einstein studierte Boltzmanns Arbeiten zur statistischen Mechanik sorgfältig und kritisierte sie wiederholt. Etliche von Einsteins frühen Arbeiten beschäftigen sich mit Thermodynamik und bauen auf den Arbeiten Maxwells und Boltzmanns auf. Max Planck, der 14 Jahre jünger als Boltzmann war, lehnte dessen statistischen Zugang zur Physik viele Jahre lang ab. Im Jahre 1900 leitete er mit Boltzmanns statistischen Methoden das Energiespektrum des schwarzen Strahlers her, was er als einen „Akt der Verzweiflung“ bezeichnete. Mit dieser Verallgemeinerung des Stefan-Boltzmann-Gesetzes führte er das Plancksche Wirkungsquantum ein und legte somit den Grundstein für die moderne Quantentheorie. Der junge Erwin Schrödinger begann 1906 sein Physikstudium an der Universität Wien. Boltzmanns Tod unmittelbar vor Semesterbeginn erschütterte ihn schwer. Seine Lehre wurde ihm jedoch durch Hasenöhrl und Franz Serafin Exner vermittelt und beeinflusste ihn entscheidend. Bedeutung für die heutige Wissenschaft Zahlreiche nach Boltzmann benannte Formeln, Ideen und Konzepte zeugen von seiner Bedeutung für die moderne Physik und andere Wissenschaften: Boltzmann-Konstante; Stefan-Boltzmann-Konstante und Stefan-Boltzmann-Gesetz; Boltzmann-Gleichung; Boltzmann-Statistik; Maxwell-Boltzmann-Verteilung; Boltzmann-Faktor; Poisson-Boltzmann-Gleichung; Boltzmann-Maschine, ein stochastisches neuronales Netzwerk; Boltzmann-Gehirn, ein hypothetisches, durch Vakuumfluktuationen entstandenes Gehirn; Lattice-Boltzmann-Methode, ein Rechenverfahren der numerischen Strömungsmechanik. Persönliches Ehe und Familie Im Mai 1873 lernte Boltzmann die achtzehnjährige Henriette von Aigentler anlässlich des Jahresausflugs der Lehrerinnenbildungsanstalt in Graz kennen. Henriette wurde am 16. November 1854 in Stainz geboren. Sie stammte aus einer angesehenen österreichischen Familie, ihr Vater Hugo war Jurist und starb bereits 1864, als Henriette neun Jahre alt war; am 30. Dezember 1873 starb auch ihre Mutter Henrika. Die Vollwaise wurde von der Familie des Grazer Bürgermeisters Wilhelm Kienzl unterstützt, dem Vater des Komponisten Wilhelm Kienzl. Henriette besuchte die Grazer Lehrerinnenbildungsanstalt und wollte Lehrerin für Mathematik und Physik werden, wozu der Besuch von Vorlesungen an der Universität Graz erforderlich war. Frauen waren damals zum Universitätsstudium nicht zugelassen. Wiederholt wandte sie sich an Boltzmann um Rat und Unterstützung in Studienangelegenheiten. Es gelang ihr, alle Schwierigkeiten zu überwinden und als erste Studentin der Universität Graz Vorlesungen in Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie als außerordentliche Hörerin zu besuchen. Am 27. September 1875 machte Boltzmann ihr schriftlich einen Heiratsantrag, den sie postwendend annahm. Am 17. Juli 1876 fand in der Grazer Stadtpfarrkirche die Hochzeit statt. Mit der Eheschließung beendete Henriette ihre Studien. Henriette und Ludwig Boltzmann hatten fünf Kinder. Die ersten vier kamen in Graz zur Welt, die jüngste Tochter Elsa in München. Ludwig Hugo Boltzmann (* 1878; † 1889), Boltzmanns ältester Sohn, starb im Alter von elf Jahren in Graz an einer Blinddarmentzündung. Henriette Boltzmann (* 12. Mai 1880; † 8. März 1945) war Lehrerin. Arthur Ludwig Boltzmann (* 25. Mai 1881; † 6. November 1952) studierte Physik, Maschinenbau und Elektrotechnik. Am 1. Jänner 1924 wurde er Leiter der Abteilung E3 Elektrisches Messwesen im neu gegründeten Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen und Hofrat. Seine Frau Pauline Boltzmann war die Tochter des Laryngologen Ottokar von Chiari, der Boltzmann behandelt hatte. Das Paar hatte drei Kinder, Ludwig (1943 im Zweiten Weltkrieg bei Smolensk gefallen), Ilse-Maria Fasol-Boltzmann (verheiratet mit Karl Heinz Fasol; zugleich wissenschaftliche Nachlassverwalterin ihres Großvaters Ludwig Boltzmann sowie hierzu Herausgeberin von Schriften und Gedenkbänden) und Helga Boltzmann (verheiratet mit Hans Rodinger). Letztere wurde 1951 an der Universität Innsbruck mit dem Thema „Bevölkerungsgeographische Untersuchungen über den Lungau“ promoviert. Ida Boltzmann (* 17. September 1884; † 11. April 1910,) studierte Mathematik und Physik. Elsa Boltzmann (* 4. August 1891; † 27. August 1965) wurde in Schweden zur Heilgymnastin ausgebildet. Am 12. Juli 1920 heiratete sie den Physiker Ludwig Flamm, einen Schüler ihres Vaters. Albert Einstein schickte ein Glückwunschtelegramm. Sie hatten vier Kinder, Maria, Werner, Eilhard und Dieter. Boltzmanns Frau überlebte ihn um 32 Jahre und starb am 3. Dezember 1938 in Wien. Interessen Boltzmann war vielseitig interessiert und hoch gebildet und beschäftigte sich, dem humanistischen Bildungsideal entsprechend, ausgiebig mit Musik und Literatur. Er spielte ausgezeichnet Klavier, in späteren Jahren begleitete er seinen Sohn Arthur, der Geige spielte. Auch einige Gedichte aus seiner Hand sind bekannt, das „Scherzgedicht“ Beethoven im Himmel wurde mehrmals abgedruckt. Seine besondere Verehrung galt Friedrich Schiller. Die Populären Schriften widmete er „den Manen Schillers“ und schreibt dazu im „forwort“: „di forangestellte widmung ist keine frase, ich danke den werken göthe’s, dessen faust fileicht das grösste aller kunstwerke ist und dem ich di mottos meiner ersten bücher entnommen, shakespeares etc. di höchste geistige erhebung; aber bei schiller ist es etwas anders, durch schiller bin ich geworden, one in könnte es einen mann mit gleicher bart- und nasenform wi ich, aber nimals mich geben.“ Die eigenwillige Orthografie ist ein Protest gegen die Rechtschreibreform von 1901. Mit großem Interesse verfolgte er aktuelle Entwicklungen in Technik und Wissenschaft, die nicht sein unmittelbares Fachgebiet betrafen. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der Luftfahrt, über die er 1894 einen Vortrag in der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien hielt. Er korrespondierte mit den Flugpionieren Otto Lilienthal und Wilhelm Kress. Boltzmann im Urteil seiner Zeitgenossen und Schüler Boltzmann galt als hervorragender Vortragender. Zahlreiche Hörer seiner Vorlesungen rühmten die Klarheit und die „eigentümliche Eleganz und Durchsichtigkeit seiner Ausführungen“. Lise Meitner schrieb „Er war ein ungewöhnlich guter, temperamentvoller, anregender Vortragender, immer lebhaft diskutierend, und konnte … seine eigene Begeisterung auf die Zuhörer übertragen.“ Im Gegensatz dazu galten seine oft umfangreichen und weitschweifigen wissenschaftlichen Arbeiten als schwer verständlich, nicht nur wegen der anspruchsvollen mathematischen Herleitungen. Bekannt ist das Urteil Maxwells: „By the study of Boltzmann I have been unable to understand him. He could not understand me on account of my shortness, and his length was and is an equal stumbling block to me“ („Beim Studium Boltzmanns war ich nicht in der Lage, ihn zu verstehen. Er konnte mich wegen meiner Kürze nicht verstehen, und seine Länge war und ist gleichermaßen ein Stolperstein für mich“). Einstein überliefert „die Vorschrift des genialen Theoretikers L. Boltzmann, man solle die Eleganz Sache der Schneider und Schuster sein lassen“. Zahlreiche Anekdoten zeugen von Boltzmanns Mangel an Gewandtheit in Gesellschaft. In einem Brief an Hans Benndorf im Jahre 1944 berichtete Stefan Meyer: „Unvergesslich sind mir die Einladungen zu Boltzmanns wegen deren unglaublicher Naivität und Unbeholfenheit“; er urteilt aber: „Man bekäme wohl ein ganz falsches, schiefes Urteil über den wirklich erstklassig großen Boltzmann, wollte man ihn nach solchen ‚Geschichteln‘ beurteilen. Er war nicht nur ein großer Gelehrter, sondern trotz all seiner Wunderlichkeit ein innerlich guter Mensch, mit stark ausgesprochenem Familiensinn und Wohlwollen für Andere.“ Ostwald schrieb in seinem Nachruf auf Boltzmann: „Derselbe Mann, dessen mathematischem Scharfsinn nicht die kleinste wissenschaftliche Unstimmigkeit entging, war im täglichen Leben von der Harmlosigkeit und Unerfahrenheit eines Kindes.“ Wilhelm Kienzl schrieb: „Er verfügte über ein hohes Maß allgemeiner Bildung, was der auffallenden, fast kindlichen Naivität seines Wesens keinerlei Eintrag tat …“ Gerhard Kowalewski, der Boltzmann bei dessen Aufenthalt in Leipzig kennenlernte, schrieb: „Ein Grundzug seines Wesens war grenzenlose Menschenfreundlichkeit.“ Ähnlich Lise Meitner: „Von Charakter weich, verletzbar und zartfühlend … voll Herzensgüte, Glauben an Ideale und Ehrfurcht gegenüber den Wundern der Naturgesetzlichkeit“. Ehrungen Eine Liste der Ehrungen und Auszeichnungen, vor allem der zahlreichen Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereinigungen, ist im Abschnitt Ehrungen (nach vorhandenen Urkunden) in Ludwig Boltzmann (1844–1906) zu finden. Ehrendoktorate Drei Universitäten verliehen Boltzmann ein Ehrendoktorat. Bei den beiden ersten Verleihungen war er persönlich anwesend. Oxford University am 15. August 1894. George Hartley Bryan schrieb 1906 in seinem Nachruf auf Boltzmann, dass dieser sich belustigt zeigte, zum Doktor der Rechte (Doctor of Law) ernannt worden zu sein. „It was, however, pointed out that as an authority on the laws of thermodynamics the title was a fitting one.“ („Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass dieser Titel für ihn als Autorität über die Gesetze der Thermodynamik ein passender wäre.“) Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Clark University in Worcester hielt er vier Vorlesungen Über die Grundprincipien und Grundgleichungen der Mechanik und erhielt am 10. Juli 1899 die Ehrendoktorwürde der Universität. Königliche Friedrichs-Universität in Christiania am 6. September 1902 Ebenfalls 1902 erhielt er eine Einladung zur 200-Jahr-Feier der Yale University, zu der Gibbs vier Physiker eingeladen hatte: Lord Rayleigh, Poincaré, Boltzmann und Lord Kelvin. Die Teilnahme wäre mit der Verleihung eines Ehrendoktorats verbunden gewesen. Boltzmann sagte krankheitsbedingt ab, bedankte sich jedoch in einem Brief an Gibbs „für die erwiesene Auszeichnung“ – aufgrund eines Missverständnisses hielt sich Boltzmann für einen Ehrendoktor von Yale. Nominierungen zum Nobelpreis Der Physiknobelpreis wurde 1901 zum ersten Mal vergeben. Boltzmann wurde insgesamt fünfmal vorgeschlagen, 1903 vom Chemiker Adolf von Baeyer (Nobelpreis 1905), 1905 und 1906 von Max Planck (Nobelpreis 1918), 1906 von Philipp Lenard, der im Jahr zuvor selber den Nobelpreis erhalten hatte, und vom Chirurgen Vinzenz Czerny. Weitere Ehrungen zu Lebzeiten 1895 wurde Boltzmann in die Royal Society of Edinburgh und 1897 in die American Academy of Arts and Sciences gewählt, 1899 in die Russische Akademie der Wissenschaften, 1900 in die Académie des sciences und 1904 in die National Academy of Sciences. An seinem 60. Geburtstag am 20. Februar 1904 fand zu seinen Ehren eine große Festveranstaltung statt, bei der eine umfangreiche und prachtvoll ausgestattete Festschrift überreicht wurde. Auf fast 1000 Seiten enthält die Festschrift Beiträge von 117 Autoren, die einen Überblick über den damaligen Stand der Physik geben, darunter von Max Planck, Johannes van der Waals, Johannes Stark, Ernst Mach, Arnold Sommerfeld. Eine Erhebung in den Adelsstand lehnte Boltzmann – ungeachtet der aristokratischen Herkunft seiner Frau, deren Urgroßvater Joseph Aigentler 1783 von Kaiser Joseph II. geadelt worden war – ab: „Meinen Vorfahren, meinem Vater war der Name Boltzmann gut genug und soll es auch mir, meinen Kindern und Enkeln sein“. Posthume Ehrungen Am 7. Dezember 1912 wurde eine Büste Boltzmanns im Arkadenhof der Universität Wien enthüllt. Wie damals üblich wurden die Kosten durch eine Spendensammlung aufgebracht, zahlreiche prominente Wissenschaftler wie Albert Einstein, Loránd Eötvös, Arnold Sommerfeld und Ernest Rutherford sind im Spendenverzeichnis zu finden. 1929 wurden Boltzmanns sterbliche Überreste aus dem Döblinger Friedhof exhumiert und in ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof überführt. Einem Professorenkomitee „fiel die ehrenvolle Aufgabe zu, für die Errichtung eines würdigen Grabdenkmales vorzusorgen“, das dann in Form einer Büste aus Carrara-Marmor verwirklicht wurde. Die Büste ist das Werk von Gustinus Ambrosi, dessen stark heroisierende Darstellung allerdings wenig Ähnlichkeit mit Boltzmann zeigt. Im Hintergrund ist die berühmte Formel in den Marmor eingeschrieben. Das Grabdenkmal wurde am 4. Juli 1933 in Anwesenheit von Stadtrat Julius Tandler, Wolfgang Pauli, Hans Thirring, Boltzmanns Witwe und Sohn Arthur und vielen anderen feierlich enthüllt. Seit 1953 verleiht die Österreichische Physikalische Gesellschaft den Ludwig-Boltzmann-Preis für besondere Leistungen in der theoretischen Physik. 1960 wurde in Wien die Ludwig Boltzmann Gesellschaft als gemeinnütziger Verein zur Forschungsförderung gegründet. Im Jahr 1965 wurde das erste Ludwig Boltzmann Institut, das LBI für Festkörperphysik, errichtet. Weitere Institute der Ludwig Boltzmann Gesellschaft sind bzw. waren: Ludwig Boltzmann Institut für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie, Wien, außeruniversitär Institut für Freizeit- und Tourismusforschung (IFT), ein ehemaliges Ludwig-Boltzmann-Institut in Österreich Ludwig Boltzmann Institut für Angewandte Gerontologie Ludwig-Boltzmann-Institut für Funktionelle Hirntopographie, ehemaliges Institut Ludwig Boltzmann Institut für Biologischen Landbau und Angewandte Ökologie Ludwig Boltzmann Institut für Leukämieforschung und Hämatologie und Mikrobiologie, Labordiagnostik, Apotheke Ludwig Boltzmann Institut für Homöopathie, ehemaliges Institut Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte, außeruniversitär Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien, Innsbruck, außeruniversitär Seit 1975 wird alle drei Jahre von der IUPAP die Boltzmann-Medaille für Verdienste um die statistische Physik verliehen. Ein Mondkrater wurde 1964 Boltzmann genannt und ein 1991 entdeckter Asteroid erhielt den Namen (24712) Boltzmann. Zu den Jubiläen seines Geburts- und Todestages fanden etliche Gedenkveranstaltungen statt, so 1944 im Zweiten Weltkrieg in Wien, wo Arnold Sommerfeld die Festrede zu Boltzmanns 100. Geburtstag hielt. 1981 gab die Österreichische Post eine Sonderbriefmarke zu Boltzmanns 75. Todestag heraus. Zu seinem 100. Todestag fand am 4. September 2006 im Kastell von Duino ein Boltzmann Memorial Meeting statt. Am Gebäude des United World College of the Adriatic, in dem früher das Hotel Ples untergebracht war, wurde eine Gedenktafel enthüllt. Benennungen von Straßen In Österreich sind mindestens sieben Straßen, in Deutschland mindestens fünf – zwei davon in Berlin – nach Boltzmann benannt: Boltzmanngasse in Wien: am 27. Februar 1913 wurde die Waisenhausgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk, in der sich das 1910 gegründete Institut für Radiumforschung und das neu errichtete Gebäude des Physikalischen Instituts befanden, in Boltzmanngasse umbenannt. Boltzmannstraße in Linz, Klagenfurt, Berlin-Dahlem, Garching bei München (die zentrale Achse im Hochschul- und Forschungszentrum) und in Rhede. Ludwig-Boltzmann-Gasse in Graz Ludwig-Boltzmann-Straße in Neusiedl am See, Potsdam, Berlin-Adlershof (am Campus der Humboldt-Universität) Ludwig Boltzmann-Straße in Wiener Neustadt Schriften Wissenschaftliche Originalarbeiten Die 139 wissenschaftlichen Arbeiten Boltzmanns wurden nach seinem Tod von Fritz Hasenöhrl gesammelt und 1909 bei Johann Ambrosius Barth in drei Bänden veröffentlicht. Sie sind an der Universität Wien online zugänglich: Wissenschaftliche Abhandlungen von Ludwig Boltzmann. I. Band (1865–1874) Wissenschaftliche Abhandlungen von Ludwig Boltzmann. II. Band (1875–1881) Wissenschaftliche Abhandlungen von Ludwig Boltzmann. III. Band (1882–1905) Das Exemplar der Universität Wien stammt aus dem Besitz Stefan Meyers und hat eine handschriftliche Widmung Fritz Hasenöhrls. 2012 wurden die Wissenschaftlichen Abhandlungen von Cambridge University Press nachgedruckt. Boltzmanns letzte Arbeit, 1905 gemeinsam mit seinem Assistenten Josef Nabl verfasst, ist nicht in den gesammelten Abhandlungen enthalten und posthum 1907 erschienen: Ludwig Boltzmann und Josef Nabl: Kinetische Theorie der Materie. In: Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Band 5 Physik, S. 493–557 Lehrbücher Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichtes I. Theil. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1891. Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichtes II. Theil. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1893. Vorlesungen über Gastheorie I. Theil. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1896. Vorlesungen über Gastheorie II. Theil. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1898. Vorlesungen über die Principe der Mechanik I. Theil. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1897. Vorlesungen über die Prinzipe der Mechanik II. Teil. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1904. Hugo Buchholz (Hrsg.): Ludwig Boltzmanns Vorlesungen über die Prinzipe der Mechanik III. Teil. Elastizitätstheorie und Hydromechanik. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1920, Die handschriftlichen Unterlagen zu seinen Vorlesungen über Naturphilosophie befinden sich in Familienbesitz und wurden 1990 von seiner Enkelin Ilse Fasol-Boltzmann veröffentlicht: Ilse M. Fasol-Boltzmann (Hrsg.): Ludwig Boltzmann Principien der Naturfilosofi: Lectures on Natural Philosophy 1903–1906. Springer, Berlin 1990, ISBN 3-540-51716-2. Populäre Schriften Ein Sammelband mit verschiedenen Aufsätzen aus den Jahren 1873 bis 1905 wurde 1905 unter dem Namen „Populäre Schriften“ veröffentlicht: Populäre Schriften. Leipzig, Johann Ambrosius Barth 1905. Die populären Schriften enthalten unter anderem Aufsätze zu wissenschaftlichen und philosophischen Themen (z. B. Über Maxwells Elektrizitätstheorie, Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik in der Naturwissenschaft, Über eine These Schopenhauers), Nachrufe auf verstorbene Wissenschaftler (Gustav Robert Kirchhoff, Josef Stefan, Josef Loschmidt) und Berichte zu aktuellen Entwicklungen in Wissenschaft und Technik (Über Luftschiffahrt, Röntgens neue Strahlen). Häufig nachgedruckt wurde die Reise eines deutschen Professors ins Eldorado, ein humorvoller Bericht über seine Reise nach Kalifornien im Sommer 1905. Briefe Es wurden zwei Bände mit Boltzmanns Briefen veröffentlicht: Walter Höflechner (Hrsg.): Ludwig Boltzmann. Leben und Briefe. Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 30 (= Ludwig Boltzmann Gesamtausgabe, Band 9), Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1994, ISBN 3-201-01629-2. Erich Zöllner, der Gatte von Boltzmanns Enkelin Maria Flamm, entdeckte zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt in Boltzmanns Wohnung in der Haizingergasse in Wien-Währing 125 Briefe, die zwischen Boltzmann und seiner späteren Gattin Henriette von Aigentler in der Zeit von 1873 bis zu ihrer Hochzeit im Juli 1876 gewechselt wurden. Dieter Flamm (Hrsg.): Hochgeehrter Herr Professor! Innig geliebter Louis!. Ludwig Boltzmann, Henriette von Aigentler. Briefwechsel. Böhlau, Wien 1995, ISBN 3-205-98266-5. Gesamtausgabe In den 1980er Jahren wurde unter der Leitung von Roman Sexl mit der Herausgabe einer Gesamtausgabe von Boltzmanns Schriften begonnen. Bis 1982 erschienen drei Bände, Band 1 (Vorlesungen über Gastheorie), Band 2 (Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichtes) und Band 8 (Ausgewählte Abhandlungen). Nach dem frühen Tod des Herausgebers geriet die Gesamtausgabe jedoch ins Stocken, bis 1998 erschienen lediglich zwei weitere Bände, Band 9 (Leben und Briefe, siehe oben) und Band 10 (Vorlesung über Experimentalphysik in Graz). Die Gesamtausgabe ist bis heute (2015) unvollendet. Literatur Engelbert Broda: Ludwig Boltzmann: Mensch • Physiker • Philosoph. Franz Deuticke, Wien 1955. Englische Übersetzung: Ludwig Boltzmann: Man–Physicist–Philosopher, Ox Bow Press 1983, ISBN 0-918024-24-2. Wolfgang Stiller: Ludwig Boltzmann: Altmeister der klassischen Physik. Wegbereiter der Quantenphysik und Evolutionstheorie. Barth, Leipzig 1988. Carlo Cercignani: Ludwig Boltzmann: The Man Who Trusted Atoms. Oxford 2006, ISBN 0-19-857064-3. John T. Blackmore (Hrsg.): Ludwig Boltzmann: His Later Life and Philosophy, 1900–1906. A Documentary History. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 1995, ISBN 978-90-481-4492-1. David Lindley: Boltzmanns Atom: The Great Debate That Launched A Revolution In Physics. Free Press 2001, ISBN 0-684-85186-5. Ilse Maria Fasol-Boltzmann, Gerhard Ludwig Fasol (Hrsg.): Ludwig Boltzmann (1844–1906). Zum hundertsten Todestag. Springer, Wien/New York, ISBN 978-3-211-33140-8. Theodor Leiber: Vom mechanistischen Weltbild zur Selbstorganisation des Lebens. Helmholtz’ und Boltzmanns Forschungsprogramme und ihre Bedeutung für Physik, Chemie, Biologie und Philosophie. Freiburg: Alber Verlag 2000, ISBN 978-3-495-47979-7. Weblinks Jos Uffink: Boltzmann’s Work in Statistical Physics. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2015 Edition). Chen Ning Yang: Ludwig Boltzmann and Modern Physics. Wiener Nobelpreisträgerseminar 2006. Video-Aufzeichnung einer Veranstaltung am Donnerstag, dem 29. Juni 2006 im Festsaal des Wiener Rathauses. Walter Höflechner: Ludwig Boltzmann – Persönlichkeit – Karriere – Bedeutung. Vortrag gehalten in Wien am 24. November 2006 zu Boltzmanns 100. Todestag. Gabriele Dörflinger: Boltzmann, Ludwig (20.2.1844 – 5.9.1906). (PDF, 1 MB, erstellt 2015) in der Sammlung Homo Heidelbergensis mathematicus Stimmaufnahme von Ludwig Boltzmann im Online-Archiv der Österreichischen Mediathek Einzelnachweise Physikochemiker Chemiker (19. Jahrhundert) Physiker (19. Jahrhundert) Rektor (Universität Graz) Hochschullehrer (Universität Wien) Hochschullehrer (Universität Graz) Hochschullehrer (Universität Leipzig) Absolvent der Universität Wien Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Träger des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst Auswärtiges Mitglied der Royal Society Mitglied der Royal Society of Edinburgh Mitglied der Accademia dei Lincei Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Korrespondierendes Mitglied der Académie des sciences Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglied des Physikalischen Vereins Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Person (Kaisertum Österreich) Person (Cisleithanien) Geboren 1844 Gestorben 1906 Mann Ehrendoktor der Universität Oslo Ehrendoktor der University of Oxford Mitglied der National Academy of Sciences
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Jacques Brel
Jacques Romain Georges Brel (; * 8. April 1929 in Schaerbeek/Schaarbeek, Belgien; † 9. Oktober 1978 in Bobigny, Frankreich) war ein belgischer Chansonnier und Schauspieler. Seine Lieder, meist in französischer Sprache, machten ihn zu einem der wichtigsten Repräsentanten des französischen Chansons. Mit Charles Trenet und Georges Brassens nimmt er unter den Chansonniers, die ihre eigenen Lieder vortragen, eine herausragende Stellung ein. Die Themen seiner Chansons decken ein weites Spektrum von Liebesliedern bis zu scharfer Gesellschaftskritik ab. Seine Auftritte waren gekennzeichnet durch einen expressiven, dramatischen Vortrag. Zahlreiche andere Sänger interpretierten Brels Chansons wie Ne me quitte pas, Amsterdam, Le Plat Pays, La chanson de Jacky oder Orly und übertrugen sie in andere Sprachen, so auch den internationalen Hit Seasons in the Sun (im Original Le Moribond). Bekannte Brel-Interpreten in deutscher Sprache sind Michael Heltau und Klaus Hoffmann. Aufgewachsen in Brüssel ging Brel 1953 in der Hoffnung auf eine Karriere als Chansonnier nach Paris. In Frankreich sang er lange nur auf kleinen Bühnen und Tourneen durch die Provinz, bis ihm Ende der 1950er Jahre der Durchbruch gelang und er zu einem der größten zeitgenössischen Stars der Chansonszene wurde. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere trat Brel 1967 von der Bühne ab. In der Folge übertrug er das Musical Der Mann von La Mancha ins Französische, in dem er selbst die Rolle des Don Quijote übernahm. Er spielte in zehn Spielfilmen, von denen er zwei in eigener Regie realisierte. Nach dem Misserfolg seines zweiten Films zog er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und frönte zwei privaten Leidenschaften, der Fliegerei und dem Segeln. Im Jahr 1976 ließ er sich auf Hiva Oa, einer Insel in Polynesien, nieder, von der er 1977 noch einmal nach Paris zurückkehrte, um nach langer künstlerischer Pause seine letzte Platte aufzunehmen. Der an Lungenkrebs erkrankte Brel starb im Folgejahr. Leben Jugend in Brüssel Jacques Brel war das jüngste Kind von Romain Brel (1883–1964) und dessen Frau Elisabeth, geborene Lambertine (1896–1964). Ein Zwillingspaar war 1922 kurz nach der Geburt gestorben, der ältere Bruder Pierre wurde 1923 geboren. Romain Brel, ein französischsprachiger Flame, arbeitete in der Import/Export-Branche und lebte zeitweilig im Kongo, ehe er als Teilhaber in die Kartonagenfabrik seines Schwagers einstieg, die von diesem Zeitpunkt an unter Vanneste & Brel firmierte und inzwischen von der SCA übernommen wurde. Elisabeth, genannt „Lisette“, stammte aus Schaerbeek, wo auch ihre Söhne aufwuchsen. Der Vater galt als zurückhaltend und schweigsam, seine 13 Jahre jüngere Frau als temperamentvoll, unternehmungslustig und gefühlvoll. „Jacky“, wie der kleine Jacques genannt wurde, beschrieb seine behütete Kindheit in der bürgerlichen Familie rückblickend als durch Einsamkeit und Langeweile gekennzeichnet. Sein Chanson Mon enfance beginnt mit den Versen: „Mon enfance passa De grisailles en silences“ „Meine Kindheit verging In Alltagsgrau und Schweigen“ Von 1941 an ging Jacques auf die Privatschule Institut Saint-Louis. Er war ein schlechter Schüler und musste mehrfach Klassen wiederholen. Zu allerlei Streichen aufgelegt und für gute Stimmung sorgend war er bei den Mitschülern ebenso beliebt wie in seiner Pfadfindergruppe. Einen Hang zur Übertreibung bewies sein Spiel in der Schultheatergruppe, die er mit aufgebaut hatte. Brel, der viel las – besonders beeinflusste ihn Antoine de Saint-Exupéry – und sich ohne musikalische Ausbildung am Klavierspiel versuchte, verfasste einige jugendliche Novellen und mit 15 sein erstes Lied. Als im Jahr 1947 die dritte Wiederholung der neunten Klasse drohte, nahmen ihn seine Eltern von der Schule. Der Sohn begann in der familiären Kartonagenfabrik zu arbeiten, wo ihm eine bürgerliche Laufbahn bevorstand, die er als trist und mittelmäßig empfand. Seine geistige Heimat fand Brel zu dieser Zeit in der katholischen Jugendbewegung Franche Cordée um ihren Gründer Hector Bruyndonckx. Im Jahr 1949 übernahm er die Präsidentschaft der Gruppe. Diese war bestimmt von christlichen Moralprinzipien, sie ermöglichte aber auch einen überkonfessionellen Gedankenaustausch und förderte soziale Aktivitäten wie die Fürsorge für Kinder aus armen Vierteln oder kulturelle Auftritte in Krankenhäusern und Altenheimen. In der Gruppe sang Brel seine ersten Lieder zur Gitarre, und er traf auf die zwei Jahre ältere Thérèse Michielsen, genannt „Miche“, die er am 1. Juni 1950 heiratete. Das Paar bekam drei Töchter: Chantal (1951–1999), France (* 1953) und Isabelle (* 1958). Der monotonen Arbeit in der Fabrik wurde Brel derweil immer überdrüssiger. Nach einem Streit mit seinem Vater entstand die Ausbruchsphantasie Il pleut: „Les corridors crasseux sont les seuls que je vois Les escaliers qui montent ils sont toujours pour moi“ „Die Treppen die hinaufführen sind immer für mich Die dreckigen Flure sind die einzigen, die ich sehe“ Brel verspürte den Drang zur Bühne, um seine selbst geschriebenen Lieder vorzutragen. Er trat in kleinen Clubs in der Brüsseler Gegend auf und nahm erfolglos an Wettbewerben teil, so im Seebad Knokke, wo er den vorletzten Platz belegte. Auf Wunsch seines Vaters legte er sich vorübergehend den Künstlernamen „Bérel“ zu. Unterstützung fand Brel bei der Radiomoderatorin Angéle Guller, die er auf Vortragsreisen begleitete und deren Bekanntschaft im Februar 1953 zu einer ersten Plattenaufnahme bei Philips führte. Von der Single mit den beiden Liedern La foire und Il y a verkauften sich gerade mal 200 Stück, doch Jacques Canetti, der künstlerische Leiter von Philips, wurde auf Brel aufmerksam und lud den Nachwuchssänger nach Paris ein. Der Vater akzeptierte eine einjährige Berufspause seines Sohnes, Miche war mit der vorübergehenden Trennung einverstanden, und Brel reiste Anfang Juni 1953 in der Hoffnung auf den Durchbruch in die Metropole des Chansons. Chansonnier in Paris In der französischen Hauptstadt fiel es Brel lange schwer, Fuß zu fassen. Rückblickend beschrieb er: „Ich habe lange debütiert, fünf Jahre lang.“ Aufgrund seines Aussehens riet Canetti dem Sänger, hinter der Bühne zu bleiben und für andere Interpreten zu schreiben. Zurückweisungen wegen Brels vermeintlicher Hässlichkeit zogen sich durch dessen Leben und finden sich als häufiges Thema in den Chansons. Auch Brels Bühnenpräsenz wirkte noch unbeholfen und provinziell. Dennoch ermöglichte Canetti im September 1953 den ersten Auftritt in seinem Theater Les Trois Baudets. Zahlreiche andere Bewerbungen in Cabarets und beim Rundfunk blieben zumeist erfolglos. Immerhin setzten sich einige bereits berühmtere Kollegen für ihn ein, so Georges Brassens, den zeitlebens eine wechselhafte Freundschaft mit Brel verband, und Juliette Gréco, die sein Lied Le diable (Ça va) bekannt machte. Im Februar 1954 produzierte Canetti Brels erste Langspielplatte, doch die Kritiken waren ablehnend, so wollte die Paris-Soir den Belgier postwendend per Bahn in die Heimat zurückschicken. Bei seinem ersten, wenig erfolgreichen Auftritt im legendären Olympia im Juni 1954 sang Brel noch im Vorprogramm. Erst sieben Jahre später feierte er dort als Star der Veranstaltung Erfolge; er war für die erkrankte Marlene Dietrich eingesprungen. Im Sommer 1954 engagierte Canetti Brel erstmals für eine Tournee. Dieser begann Geschmack am Tourneeleben zu finden, den täglichen Fahrten und abendlichen Auftritten auf Provinzbühnen Frankreichs, Belgiens oder Nordafrikas. Mit seiner Tourneepartnerin Catherine Sauvage begann er eine kurze Liaison. Auf einer Tournee im Sommer 1955 lernte er Suzanne Gabriello, genannt „Zizou“, kennen, mit der ihn in den folgenden fünf Jahren eine leidenschaftliche Liebesaffäre samt zahlreichen Trennungen und Wiederversöhnungen verband. Die Beziehung wurde auch nicht getrübt, als Miche vorübergehend mit den Kindern nach Paris nachkam, um ihren Mann zu unterstützen, ehe sie zur Geburt des dritten Kindes endgültig ins heimische Brüssel zurückkehrte und bis auf wenige gemeinsame Wochen im Jahr von ihrem Mann getrennt lebte. Gabriello behauptete später, Brel habe sein berühmtes Chanson Ne me quitte pas für sie geschrieben. „Ne me quitte pas Il faut oublier Tout peut s’oublier Qui s’enfuit déjà“ „Geh nicht fort von mir und was war vergiß wenn du kannst vergiß die Vergangenheit“ Das Lied Quand on n’a que l’amour wurde 1956 Brels erster Verkaufserfolg. Die Hymne über die Macht der Liebe erreichte Platz drei der französischen Hitparade und erhielt den Grand Prix du Disque der Akademie Charles Cros. Im selben Jahr lernte Brel den Pianisten und Komponisten François Rauber kennen, der das Arrangement seiner Lieder übernahm. Zwei Jahre später kam der Pianist Gérard Jouannest hinzu, 1960 der Akkordeonist Jean Corti, der später durch Marcel Azzola abgelöst wurde. Durch ihre Mitarbeit erhielten Brels Chansons neue Impulse, viele Lieder entstanden gemeinschaftlich. Zudem ermöglichten seine Begleitmusiker Brel, von der obligatorischen Gitarre befreit, eine freiere Entfaltung auf der Bühne. Unter Einsatz seines ganzen Körpers gelang es ihm zunehmend, das Publikum in seinen Bann zu ziehen, etwa als er im Jahr 1959 vor begeisterten Zuschauern im Bobino, neben dem Olympia eine der großen Pariser Music Halls jener Zeit, erstmals das Hauptprogramm bestritt. Auf seinen Tourneen absolvierte Brel bis zu dreihundert Konzerte im Jahr, während in den Hotelzimmern viele seiner bekanntesten Chansons wie Amsterdam, Mathilde oder Ces gens-là entstanden. Im Jahr 1959 hatte Brel endgültig den Durchbruch geschafft. Mit den Konzerterfolgen stiegen auch die Verkaufszahlen seiner Platten an, und ihm wurden zahlreiche Ehrungen zuteil. Von 1962 an hielten seine Chansontexte als Unterrichtsmaterial Einzug in die Schulen. Am 7. März des Jahres verließ Brel seine bisherige Plattenfirma Philips und wechselte zu Barclay Records, was großes Aufsehen erregte: Kolportiert wurde ein Vertrag auf Lebenszeit, tatsächlich ließ das französische Recht aber nur eine 30-jährige Vertragsbindung zu, die später noch verlängert wurde. Privat führte Brel ein Doppelleben. Seit 1960 lebte er in Paris mit der Pressesprecherin eines Schallplattenkonzerns zusammen, die er 1970 verließ, um mit ihrer Freundin eine Beziehung einzugehen. Dennoch blieb er weiterhin mit Miche verheiratet, die sich um geschäftliche Belange kümmerte, etwa Brels 1962 gegründete Éditions Pouchenel, die seine Lieder vermarktete. Regelmäßig besuchte der Chansonnier seine Familie in Brüssel, wo er sich gegenüber den Kindern als konservativer Familienvater zeigte, der kaum etwas von jener Zärtlichkeit zu transportieren vermochte, die in Chansons wie Un enfant gerade gegenüber Kindern zu spüren ist: „Un enfant Ça vous décroche un rêve“ „Ein Kind das bringt dir einen Traum ans Licht“ Treuer als den Frauen blieb er seinem Freund Georges Pasquier, genannt „Jojo“, der in diesen Jahren nicht von Brels Seite wich, lebhafte politische Diskussionen mit ihm führte und als Brels „Mann für alles“ fungierte. Im Jahr 1964 starben kurz nacheinander Brels Eltern. Ein Jahr zuvor hatte Brel noch das Chanson Les vieux geschrieben: „Et l’autre reste là, le meilleur ou le pire, le doux ou le sévère Cela n’importe pas, celui des deux qui reste se retrouve en enfer“ „Und der andere bleibt da, der der bessere war, vielleicht auch schlechter war. Nicht mehr wichtig für ihn, denn für den, der da bleibt, ist doch die Hölle da.“ Rückzug und neue Projekte Im Jahr 1965 hatte Brel längst auch im Ausland den Status eines Aushängeschilds der frankophonen Kultur erreicht. Nach Erfolgen in der Schweiz und in Kanada führten ihn Tourneen durch die Sowjetunion und die USA. Auftritten in der New Yorker Carnegie Hall folgte 1966 die Londoner Royal Albert Hall. Noch in London, bei einem Festessen mit Charles Aznavour, äußerte Brel erstmals die Absicht, von der Bühne abzutreten: Er habe einen Höhepunkt erreicht, von dem aus es nur noch bergab gehen könne, doch er wolle sein Publikum nicht betrügen. Im Oktober 1966, ein letztes Mal im Olympia, begann Brels Abschiedstournee, die er am 16. Mai 1967 in Roubaix mit seinem letzten öffentlichen Konzert beschloss. Auch nach seinem Abschied von der Bühne blieb das Interesse des Publikums an Brel und seinen Alben unverändert groß. 1968 brachte er seine – vorläufig – letzte Platte heraus, eingeleitet vom Chanson J’arrive. Im selben Jahr wurde Brel selbst zum Gegenstand eines Bühnenstücks unter dem Titel Jacques Brel Is Alive and Well and Living in Paris, in dem Mort Shuman und Eric Blau seine Chansons in Form eines Musicals ins Englische übertrugen. Die Produktion wurde ein internationaler Erfolg. Brel allerdings verstand sie als eine Art Nachruf und vermied ein Jahr lang den Besuch einer Aufführung. Ein weiteres Musical brachte ihn 1968 in eigener Person wieder auf die Bühne, wenn auch mit fremden Liedern. Brel übertrug die amerikanische Produktion Man of La Mancha von Mitch Leigh, Dale Wasserman und Joe Darion ins Französische und übernahm bei den mehrmonatigen Aufführungen in Brüssel und Paris die Hauptrolle. Mit der Figur des Don Quijote zwischen Rebell, Träumer und Narr fühlte sich Brel auf Anhieb verbunden, dessen „unmöglichen Traum“ im Chanson La quête interpretierte er mit Inbrunst: „Brûle encore, bien qu’ayant tout brûlé Brûle encore, même trop, même mal Pour atteindre à s’en écarteler Pour atteindre l’inaccessible étoile.“ „Brennt noch selbst wenn er alles verbrannt hat Brennt noch, sogar zu sehr, sogar schlecht Bis er sich vierteilt, um ihn zu erreichen Um ihn zu erreichen, den unerreichbaren Stern.“ Ein weiteres Musical für Kinder, das unter dem Titel Voyage sur la lune geplant war und auf neuen Liedern Brels basierte, sagte dieser 1970 zwei Tage vor der Premiere noch ab, weil er für die unbefriedigende Umsetzung nicht seinen Namen hergeben wollte. Von der Bühne wechselte Brel in den folgenden Jahren auf die Leinwand. Zwischen 1967 und 1973 spielte er in insgesamt zehn Spielfilmen, darunter Mein Onkel Benjamin an der Seite von Claude Jade und Die Filzlaus neben Lino Ventura. Bei den Dreharbeiten zu Die Entführer lassen grüßen lernte er 1971 Maddly Bamy kennen, eine junge Frau aus Guadeloupe, mit der er eine dritte parallele Beziehung einging. Die wenigen Chansons, die Brel in diesen Jahren schrieb, dienten überwiegend zur Untermalung der Filme. Seine künstlerischen Ambitionen galten zwei Filmprojekten, die er nach eigenem Drehbuch und unter eigener Regie verwirklichte. Franz, eine Low-Budget-Produktion mit Brels Chanson-Kollegin Barbara, ist ein Film über eine unglückliche Dreiecksbeziehung. Der Film erreichte kein breites Publikum, die persönliche Handschrift des Autorenfilms erhielt aber respektvolle Kritiken. Zu einem vollständigen Misserfolg entwickelte sich dagegen Le Far-West, Belgiens Beitrag zu den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1973. Die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die im Wilden Westen nach dem verlorenen Paradies ihrer Kindheit suchen, traf weder beim Publikum noch bei der Kritik auf Verständnis. Aufbruch in die Südsee Nach dem Scheitern von Le Far-West zog sich Brel vom Film und weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. In den folgenden Jahren widmete er sich vorrangig zwei privaten Leidenschaften, der Fliegerei und dem Segeln. Schon im Jahr 1964 hatte Brel den Flugschein und sein erstes Kleinflugzeug der Marke Gardan Horizon erworben, 1970 folgte die Lizenz für den Instrumentenflug. Seit dem Jahr 1967 besaß er ein Segelboot, mit dem er zahlreiche Fahrten unternahm; im Jahr 1973 überquerte er erstmals den Atlantik. Brel, des Lebens in der menschlichen Gemeinschaft mehr und mehr überdrüssig, stellte im Chanson L’ostendaise seinen Ausbruch dem geregelten Lebensentwurf der Gesellschaft gegenüber: „Il y a deux sortes de gens Il y a les vivants Et moi je suis en mer.“ „Es gibt zwei Arten von Leuten Die Lebenden … Und ich bin auf See.“ Anfang des Jahres 1974 plante er eine fünfjährige Weltumsegelung in Begleitung seiner Tochter France und seiner Geliebten Maddly. Doch die Fahrt mit der frisch erworbenen Askoy II wurde gleich zu Beginn auf den Azoren und den Kanarischen Inseln zweimal unterbrochen. Zuerst starb Brels langjähriger Freund Jojo, zu dessen Beerdigung er zurückreiste, dann wurde bei Brel nach einem Zusammenbruch Lungenkrebs diagnostiziert und er musste sich in Brüssel einer Operation unterziehen, bei der ein Teil seiner Lunge entfernt wurde. Dennoch ließ Brel nicht von seinen Reiseplänen ab und startete sechs Wochen nach der Operation zur Atlantiküberquerung nach Martinique, wo France im Januar 1975 nach Streitigkeiten an Bord das Schiff verließ und Brel allein mit Maddly in Richtung Stiller Ozean weitersegelte. Beeinflusst von Robert Merles Roman L’île hegte Brel schon lange den Traum eines Lebens fernab der Zivilisation. Bereits 1962 hatte er seiner Sehnsucht im Chanson Une île Worte verliehen: „Voici qu’une île est en partance Et qui sommeillait en nos yeux Depuis les portes de l’enfance“ „Eine Insel die die Anker lichtet Und die seit den Pforten der Kindheit In unseren Augen schlummerte“ Seine Insel fand er in Hiva Oa, einer der Marquesas-Inseln, auf der einst schon der Maler Paul Gauguin seine letzten Jahre verbracht hatte. Im Juni 1976 mietete Brel ein Häuschen im Dorf Atuona, wo er sich gemeinsam mit Maddly niederließ. Im Folgejahr beantragte er bei den polynesischen Behörden das ständige Wohnrecht auf der Insel. Brel verkaufte sein Boot und erwarb ein Flugzeug vom Typ Twin Bonanza, das er Jojo taufte. Regelmäßig flog er nach Tahiti und machte sich auf den Inseln nützlich, etwa indem er die Post nach Ua Pou transportierte. In der Abgeschiedenheit der Marquesas fand Brel noch einmal die Inspiration für neue Chansons, die um seinen Rückzugsort kreisten, aber auch immer wieder um den nahenden Tod. Für die Aufnahme der Chansons reiste Brel im August 1977 nach Paris zurück, wo er seine alten Weggefährten wiedertraf und von der Krankheit gezeichnet seine letzte Platte einsang. Diese löste nach der langen künstlerischen Pause ein enormes Echo aus. Bereits vor ihrer Auslieferung gingen eine Million Vorbestellungen ein. In seiner Heimat Belgien verursachte Les F…, ein Schmählied auf die Flamen, noch einmal einen Skandal, doch Brel befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Rückreise zu seiner Insel. Er fühlte sich von französischen Journalisten verfolgt, die mit allen Mitteln an Fotos des krebskranken Sängers zu gelangen versuchten, und erwirkte im September die Beschlagnahmung einer Ausgabe der Illustrierten Paris Match. Im Juli 1978 hatte sich Brels Gesundheitszustand so weit verschlechtert, dass er erneut nach Paris zu einer Chemotherapie zurückkehren musste. Er erholte sich einige Wochen in Genf und plante den Umzug nach Avignon, doch mit Anzeichen einer Lungenembolie wurde er am 7. Oktober nach Bobigny bei Paris zurücktransportiert, wo er zwei Tage später an Herzversagen starb. Sein Leichnam wurde nach Hiva Oa überführt und unweit vom Grab Gauguins beigesetzt. Chansons Jacques Brel trug beinahe ausschließlich eigene Chansons vor. Im Lauf seiner Karriere veröffentlichte er rund 150 Aufnahmen. Fünf Chansons, die er bei der Produktion seiner letzten Platte aussortiert hatte, wurden erst im Jahr 2003 postum veröffentlicht. Zur Auflistung seiner Werke siehe die Liste der Chansons und Veröffentlichungen von Jacques Brel. Neben eigenen Liedern schrieb Brel sieben Chansons für andere Interpreten, die er nicht in sein eigenes Repertoire aufnahm, siehe dazu auch die Liste von Interpreten der Chansons von Jacques Brel. Weiterhin schrieb er Liedtexte für zwei Musicals. Insgesamt registrierte Brel bei der französischen Verwertungsgesellschaft SACEM über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg 192 Liedtexte. Texte Über die Frage, inwiefern Chansons im Allgemeinen und Brels Chansons im Besonderen als Poesie aufzufassen seien, gibt es umfangreiche Debatten, die insbesondere durch die Herausgabe der Texte Brassens’ und Brels Anfang der 1960er Jahre in der Reihe Poètes d’aujourd’hui der Éditions Seghers angefacht wurden. Obwohl zahlreiche Stimmen die poetische Natur seiner Chansons bestätigen, lehnte Brel selbst den Poesiebegriff ab. Im Vergleich zu anderen Chansongrößen wie Georges Brassens, Charles Trenet und Leo Ferré gelten Brels Chansons allgemein als literarisch weniger bedeutend und wirken stärker durch ihre szenische Darbietung. Dennoch sind gerade Brels Chansontexte inzwischen literarisch kanonisiert und stehen neben Brassens oder Jacques Prévert in französischen Lehrbüchern. Wiederholt waren sie Prüfungsstoff im Baccalauréat. Während die frühen, eher idealistischen Chansons Brels durch lyrische Stilelemente geprägt sind, dominieren im späteren Werk die dramatischen Chansons, die eine theatralische Interpretation auf der Bühne verlangen. Sie beruhen auf zwei unterschiedlichen, zum Teil auch kombinierten Stilmitteln: zum einen der dramatischen Ausgestaltung einer Situation und ihrer Entwicklung – etwa in Madeleine, Jef oder Les bonbons –, zum anderen dem gesteigerten dramatischen Ausdruck menschlicher Empfindungen – etwa in Ne me quitte pas, La Fanette oder J’arrive. Daneben erzählt Brel häufig Fabeln – allerdings kaum wie etwa in Le cheval oder Le lion konkret Tierfabeln – und eher selten Parabeln wie Sur la place oder das stark verschlüsselte Regarde bien, petit. Zur Zeichnung der Gesellschaft bedient er sich mit Vorliebe der Karikatur und Satire. Brels Sprache ist die französische Standardsprache, die häufig an den umgangssprachlichen Gebrauch angepasst wird. Im Unterschied zu Brassens und Ferré verwendet er weder Vokabular noch rhetorische Mittel des hohen Stils. Auch fehlen bei ihm deren intertextuelle Verweise auf Literatur und Mythologie. Wo Brel solche Verweise einsetzt, bleiben sie zumeist innerhalb der Welt des Chansons. Wie Prévert hat Brel eine Vorliebe für einfache poetische Bilder, so erscheinen auch bei ihm mehrfach dessen „feuilles mortes“. Das auffälligste stilistische Mittel ist eine Vielzahl von Neologismen, die sich laut Michaela Weiss durch ihre Prägnanz und Anschaulichkeit auszeichnen und vielfach Anthropomorphismen sind. Daneben fallen vor allem die strukturellen Wortwiederholungen auf. Die Syntax zeigt häufige Ellipsen und Satzumstellungen gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch. Brel orientiert sich an traditionellen Versmaßen, handhabt die Metrik jedoch unregelmäßig und passt sie bei Bedarf flexibel an. Für Sara Poole liegt ein großer Teil der Wirkung von Brels Chansons in ihrer Mehrdeutigkeit, die an die Imagination des Zuhörers appelliert, sie mittels eigener Phantasie auszugestalten. Ein Chanson wie Ces gens-là etwa setze lediglich einen Rahmen, angefüllt mit realistischen Details und den zugrundeliegenden Beziehungen und Emotionen, doch in jedem Hörer entstehe ein anderes Bild „dieser Leute da“. Die „Söhne des Novembers“, die in Le Plat Pays im Mai wiederkehren, lassen sich als Aussaat auf den Feldern, Seeleute auf großer Fahrt oder Zugvögel verstehen. In Je ne sais pas bleibt uneindeutig, welche der drei Personen ein Paar bilden und wer tatsächlich wen verlässt. La Fanette lässt nicht nur das Schicksal der Angebeteten offen, es genügt auch der Austausch eines einzigen Buchstabens in einem ansonsten identischen Satz, um das Schicksal der Protagonisten vollständig zu ändern („m’aimait / l’aimait“ – „liebte mich / liebte ihn“). Häufig verwendet Brel Symbole, so das Wasser in all seinen Variationen, wobei die positive Bedeutung dem fließenden, unbegrenzten Wasser vorbehalten bleibt. Tiermetaphern wie in Les singes oder Les biches werden fast ausschließlich verwendet, um negative Wesenszüge von Menschen zu veranschaulichen, mit Ausnahme des Pferdes in Le cheval, das für die ungebändigte Männlichkeit steht. Der Kontrast von Statik und Dynamik spielt nicht nur auf inhaltlicher Ebene eine wesentliche Rolle in Brels Werk, sondern findet sich auch in der formalen Konstruktion wieder. Viele Chansons handeln in der Situation des Wartens, soziale und regionale Veränderungen, insbesondere das Motiv des Reisens, sind positiv besetzt. Musik Während Brel seine Texte stets eigenhändig verfasste, blieb er bei der musikalischen Umsetzung auf die Zusammenarbeit mit anderen Musikern angewiesen. Der Chansonnier, der sich autodidaktisch das Spiel auf Gitarre und Orgel beigebracht hatte, konnte weder Noten lesen noch Partituren ausarbeiten, so dass zu Beginn seiner Karriere verschiedene Orchesterleiter das musikalische Arrangement übernahmen. Dabei instrumentierten André Grassi und Michel Legrand noch im zeittypischen Big-Band-Sound, André Popp zurückhaltender und stärker auf Brel akzentuiert. Entscheidend prägte Brels Stil die Zusammenarbeit mit François Rauber und Gérard Jouannest, die seit 1956 beziehungsweise 1958 für das Arrangement seiner Chansons verantwortlich waren und teilweise die Musik komponierten. Beide hatten unterschiedliche Arbeitsweisen: Während Rauber stets nach fertiggestelltem Text arbeitete, entwickelten Brel und Jouannest Text und Musik zumeist im Zusammenspiel. Bereits beim Schreiben der Chansontexte hatte Brel klare Vorstellungen von der passenden Musik, Rhythmik und Melodie. Seine Musiker nannten dies ein „bildliches Vorstellungsvermögen“, das Brel ihnen anschließend vermittelte, während Rauber, Jouannest oder Jean Corti nach Brels Vorgaben eigene Ideen einbrachten und die Chansons in der Zusammenarbeit immer weiter verfeinerten. Brel sang in der Stimmlage eines Baritons und beherrschte einen großen Tonumfang. Der Publizist Olivier Todd beschreibt seine Stimme als „die eines begabten Amateurs – klar, aber ohne Volumen.“ Dabei hatte er anfänglich einen leichten Brüsseler Akzent, über den er sich selbst in Les bonbons 67 lustig machte. Sein stimmlicher Vortrag reichte laut Thomas Weick vom dezenten Gesang mit Timbre in Le Plat Pays über die raue, latent monoton-weinerliche Stimme in Je ne sais pas bis zum voluminösen, kraftvollen Vortrag mit überschlagender Stimme in Amsterdam. Die dominierenden Instrumente in Brels Chansons sind das Klavier und das Akkordeon. Zur Kolorierung werden auch andere Instrumente eingesetzt, etwa Hirtenflöte und Jagdhorn zur Charakterisierung des Milieus in Les bergers, Streicher und Harfe für die Bewegung des Meeres in La Fanette. Dort findet mit der Ondes Martenot auch eines der sparsam verwendeten elektronischen Instrumente seinen Einsatz. Im Verlauf seiner Karriere änderte Brel die Instrumentierung mancher Chansons mehrfach. So liegen etwa vom frühen Hit Quand on n’a que l’amour neben der Ursprungsfassung aus dem Jahr 1956 eine neu arrangierte Live-Version von 1961 und eine aufwendig im Studio eingespielte Fassung von 1972 vor. Brel griff in seinen Chansons gerne auf bekannte musikalische Grundformen wie Walzer, Charleston, Tango oder Samba zurück, die jedoch oft verfremdet sind. So nimmt der Walzer in La valse à mille temps unaufhörlich in seinem Tempo zu, und die Samba Clara steht im ungewohnten 5/4-Takt. Die Tangos in Rosa oder Knokke-le-Zoute tango untermalen den Inhalt, im ersten Fall die schulische Domestizierung der Jugend, im letzten eine karikierte Ausschweifung im Stile des Tango Argentino. Titine dagegen zitiert parodistisch den Charleston Je cherche après Titine aus dem Jahr 1917. Auch Zitate klassischer Musik sind immer wieder zu finden, so erinnert der Auftakt des Klaviers in Ne me quitte pas an die Sechste Ungarische Rhapsodie von Franz Liszt oder L’air de la bêtise an Arien im Stile Rossinis. Die Stilzitate dienen zumeist einer Ironisierung oder Parodie. Vortrag Brels Bühnenauftritte wurden oft mit drastischen Worten beschrieben. Le Figaro sprach von einem „Orkan namens Brel“, und Der Spiegel charakterisierte den Chansonnier bei seinen Auftritten als „[e]mphatisch und ungestüm wie ein singendes Tier“, um weiter auszuführen: „Brel grimassierte und fuchtelte, wenn er vors Publikum trat, und er sang dabei mit pathetischem Elan, mal frivol und salopp, mal larmoyant, oft verhalten, meist aggressiv und bisweilen auch mit sehr viel Geschmack fürs Makabre“. Laut Olivier Todd sei Brel bei seinen Auftritten in all seine Figuren geschlüpft, habe sich vom betrunkenen Matrosen in Amsterdam zum Stier in Les toros verwandelt. Er habe gesungen, „wie ein Boxer boxt“, bei seinen Auftritten eine große Menge Schweiß abgesondert und sich derart verausgabt, dass er – nach Messungen Jean Clouzets – in anderthalb Stunden bis zu 800 Gramm abgenommen habe. Brels Programme umfassten in der Regel 15 oder 16 Chansons, die ohne Moderation aufeinander folgten. Zugaben verweigerte Brel aus Prinzip, was er mit einem Schauspieler verglich, von dem man auch nicht den erneuten Vortrag einer Szene verlangte. Er trat überwiegend im neutralen schwarzen Anzug auf, der die Blicke der Zuschauer auf seine Mimik und Gestik lenkte. Nachdem er sich zu Anfang seiner Karriere selbst auf der Gitarre begleitet hatte, spielte diese in späteren Jahren nur noch als Requisit bei einzelnen Chansons wie Quand on n’a que l’amour und Le Plat Pays eine Rolle. Brels Auftritte waren zu dieser Zeit vielmehr durch einen expressiven, dramatischen Vortrag vor einem Standmikrofon geprägt, den Michaela Weiss als gleichzeitig „intensiv“ und „exzessiv“ bezeichnet. Brel gehe es dabei nicht um die Erzeugung einer Illusion, sondern er setze bewusst Mittel der Stilisierung und karikaturistischen Überzeichnung ein, wobei er sich nicht vor der Wirkung von Lächerlichkeit scheue. Er behalte aber auch das Gespür für feine Differenzierungen, wenn etwa im Chanson Les vieux die raumgreifende Bewegung eines Pendels – als Symbol der verstreichenden Zeit – mit dem Zittern der Hände der Alten kontrastiert wird. Trotz solcher einstudierter Gesten ließ sich Brel beim Vortrag immer wieder zu spontanen Improvisationen hinreißen, wie der Vergleich verschiedener Aufzeichnungen desselben Liedes zeigt. Robert Alden merkte zu einem Auftritt Brels in der New Yorker Carnegie Hall an, dass es dem amerikanischen Publikum auch ohne Sprachkenntnis allein aufgrund Brels Vortrag, seiner Verwendung von Stimme, Hände und Körper, möglich gewesen sei, den Inhalt der Lieder auf der Gefühlsebene nachzuempfinden und von ihm gefangen genommen zu werden. Auch Brels Pianist Gérard Jouannest, der ihn bei seinen Konzerten begleitete, beschrieb, wie Abend für Abend der Funke von Brels emotionalen Vortrag auf sein Publikum übersprang. Brels komprimierte „Miniaturdramen“ erforderten die volle Aufmerksamkeit seiner Zuhörer und standen einem beiläufigen Konsum als Schlager- oder Tanzmusik entgegen. Brel grenzte sich selbst gegen den Stil eines Crooners, wie etwa Frank Sinatra, ab. Seine Chansons waren bereits vom textlichen Entwurf an auf ihre Bühnenwirkung hin konzipiert. So finden sich dort dramatische Elemente wie Onomatopoesie, etwa das lautmalerische Schlürfen in Ces gens-là, oder Pointen, wie das ausgelassene Wort „con“ in Les bourgeois, die später von Brel auf der Bühne effektvoll eingesetzt wurden. Themen Glaube, Agnostizismus, Humanismus Brels Anfänge als Chansonnier waren noch stark geprägt von seiner katholischen Herkunft und insbesondere den Einflüssen der Jugendorganisation Franche Cordée. Auch in seinen Liedern fand sich eine christlich-idealistische Weltanschauung wieder, so dass Brassens für seinen Kollegen den Spitznamen „l’abbé Brel“ prägte. Michaela Weiss führt die Inhalte vieler früher Chansons auf die Formel „Liebe, Glaube, Hoffnung“ zurück. Zwar manifestiert sich in der Welt seiner Lieder durchaus das Böse, wovon Brel im Chanson Le diable (Ça va) den Teufel höchstpersönlich Bericht erstatten lässt. Doch der Glaube an den Menschen und dessen Fähigkeit, das Ideal einer besseren Welt zu realisieren, bleibt ungebrochen, wie die Hymne Quand on n’a que l’amour beschwört. Allerdings zeigen sich schon in den frühen Chansons erste Ansätze von Skeptizismus. So wendet sich Brel in seiner Glaubenssuche in Grand Jacques explizit gegen die traditionell-kirchlichen Rezepte: „Tais-toi donc, grand Jacques Que connais-tu du Bon Dieu Un cantique, une image Tu n’en connais rien de mieux“ „Sei doch still Grand Jacques denn was weißt du schon von Gott Ein Choral eine Ikone Nichts vom Leben nichts vom Tod“ Für Chris Tinker benützte der junge naiv-romantische Brel lediglich einen losen christlichen Rahmen, um seine moralische Agenda zu verpacken, die sich etwa in Chansons wie L’air de la bêtise, Sur la place und S’il te faut gegen die Ignoranz der Menschen richtet. Im Verlauf des Werks nehme Brel, der sich selbst in späten Interviews als Atheisten bezeichnete, hingegen immer mehr die Position des Agnostizismus ein. So bleibt im Chanson Seul der Mensch letztlich auf sich selbst und eine absurde Existenz zurückgeworfen, deren einzige Gewissheit der Tod ist. In Le Bon Dieu geht der Chansonnier schließlich so weit, Gott und den Menschen in eins zu setzen: „Mais tu n’es pas le Bon Dieu Toi tu es beaucoup mieux Tu es un homme“ „Aber du bist nicht der liebe Gott Du bist viel besser Du bist ein Mensch“ Im Zentrum seiner Chansons steht stets der Mensch, seine Stellung in der Welt und die allgemeinen Menschheitsfragen. Carole A. Holdsworth sieht in Brel daher den Vertreter eines zeitgenössischen Humanismus. Liebe und Frauen Ein zentrales Thema in Brels Œuvre ist die Liebe. Allerdings behauptet Jean Clouzet, Brel habe nie ein wirkliches Liebeslied geschrieben, seine Chansons handelten vielmehr stets von unglücklicher Liebe. Ähnlich wie beim Thema Glauben gibt es auch bei der Liebe eine zeitliche Entwicklung in Brels Chansons. In jungen Jahren entwarf Brel ein hoch idealisiertes Bild von romantischer Liebe, die ihre Erfüllung in einer dauerhaften Bindung sucht, etwa im Chanson Heureux: „Heureux les amants que nous sommes Et qui demain loin l’un de l’autre S’aimeront s’aimeront Par-dessus les hommes.“ „Glück ist: wie wir verliebt zu sein und: auch entfernt einer vom andern Liebe sein, Liebe sein Ewig Liebe bleiben“ Chris Tinker betont allerdings die narzisstische Perspektive vieler der Brel’schen Liebeslieder, in deren Mittelpunkt stets die Gefühle des Liebenden stehen, während diejenigen der Geliebten kaum eine Rolle spielen. Zudem überhöhten die Chansons den Gegenstand ihrer Liebe und überfrachteten ihn derart mit moralischen Erwartungen, dass die Enttäuschung bereits vorgezeichnet scheine. Folgerichtig sei es, dass Brels Protagonisten mit dem Ende der 1950er Jahre, als sie allgemein ihren frühen Idealismus verlieren und stärker dem Pessimismus zuneigen, ihre verlorene, unglückliche oder unerreichbare Liebe ebenso ausführlich betrauern, wie sie sie zuvor erwartungsfreudig herbeigesehnt haben. Das Frauenbild, das Brel in seiner späten Phase zeichnete, ist zynisch bis zur Misogynie, wie ihm auch vielfach von Kritikern vorgeworfen wurde. Nun bevölkern vor allem Frauenfiguren die Chansons, die Männer ausnützen und betrügen. In Les filles et les chiens stellt Brel die Frage, ob Frauen oder Hunde die besseren Gefährten eines Mannes abgäben. In Les biches vergleicht er sie mit Hirschkühen: „Elles sont notre pire ennemie Lorsqu’elles savent leur pouvoir Mais qu’elles savent leur sursis Les biches“ „Sie sind unsere schlimmsten Feinde Wenn sie ihre Macht kennen Aber auch ihre Gnadenfrist Die Kühe“ Carole A. Holdsworth verwies allerdings darauf, dass Brels späte Werke ebenso negative Zeichnungen von männlichen Figuren enthielten, und dass die Schuld zwischen den Geschlechtern oft gleichmäßig verteilt sei. In diesem Sinne habe allgemein Brels Misanthropie zugenommen, die sich mit einer Misogamie, also einer Abneigung gegen die Ehe, verbunden habe. Manche Stimmen sehen als wahre Liebeslieder in Brels Werk jene, die von Männerfreundschaften handeln, wie etwa die Tröstung des unglücklichen Jef im gleichnamigen Chanson. Erst in Orly, einem seiner letzten Chansons, wird eine Frau als vom Mann Verlassene gezeigt, der das Mitgefühl des Chansonniers zuteilwird. Für Anne Bauer ist es das „einzige Chanson von Brel, in dem es eine Liebe ohne Vorbehalte, ohne Hintergedanken und ohne Lüge gibt“. Brels Chansons zeigen ab Beginn der 1960er Jahre mehrere Wege auf, die Enttäuschungen der Liebe zu überwinden. Einige „chansons dramatiques“, dramatische Lieder, die besonders von der Präsentation auf der Bühne leben, führen einen Helden vor, der in seinen anfänglichen Träumen von der Realität mehr und mehr desillusioniert wird, doch am Ende seine Zuversicht zurückgewinnt und wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Hierzu gehört das bekannte Chanson Madeleine, dessen Erzähler jeden Abend vergeblich auf seine Angebetete wartet und trotzdem am Ende zuversichtlich auf ihr Erscheinen am folgenden Tag vertraut. Auch Les bonbons und dessen Fortsetzung Les bonbons 67 sind solche „chansons dramatiques“, in denen ein junger Mann mit Bonbons aussichtslos um seine Angebetete wirbt, wobei Brel seinen Helden derart überzeichnet, dass die Brautwerbung in eine parodistische Farce umschlägt. Im späten La chanson des vieux amants führt Brel schließlich einen gereiften und illusionslos-pragmatischen Umgang mit Liebesbeziehungen aus der Sicht eines miteinander alt gewordenen Paares vor. Kindheit, Alter und Tod Kinder und die Kindheit an sich sind ein häufiges Thema in Brels Chansons. Die Kindheit wird als ein Idealzustand gezeichnet, voller Freiheit, Energie, erfüllter Wünsche und ungebrochener Träume. Häufig verwendet Brel dafür die Metapher „Far West“ („Wilder Westen“). In den späteren Chansons ist es vor allem ein nostalgischer Blick, den ein Erwachsener auf das verlorene Paradies der Kindheit zurückwirft, etwa im Chanson L’enfance aus dem Film Le Far-West: „L’enfance C’est encore le droit de rêver Et le droit de rêver encore“ „Die Kindheit Das ist das Recht zu träumen, Noch und noch zu träumen“ Die Kindheit steht unter ständiger Bedrohung durch Erwachsene, die ihren Kindern, im Bemühen, sie zu behüten, die unbeschwerten Abenteuer der Kindheit rauben. Immer wieder beschreibt Brel in seinen Liedern, wie der Krieg, auch er ein Teil der Erwachsenenwelt, seine eigene Kindheit auf einen Schlag beendete. Altern ist für Brel ein negativer, gefürchteter Prozess. In L’age idiot ist jedes Alter, egal ob mit 20, 30 oder 60, ein „idiotisches Alter“. In La chanson de Jacky erweist sich die Rückkehr in die verlorene Kindheit, die Zeit als Jacques noch „Jacky“ genannt wurde, als unmöglich, in Marieke jene in die Zeit der ersten Liebe. Im Alter verlieren die Menschen wie in Les vieux ihre Illusionen, in Le prochain amour wird die Vergänglichkeit der Liebe bewusst. Die ultimative Trennung durch den Tod drückt das Chanson Fernand aus: „Dire que Fernand est mort Dire qu’il est mort Fernand Dire que je suis seul derrière Dire qu’il est seul devant“ „Wenn man bedenkt daß Fernand tot ist Wenn man bedenkt daß er tot ist Fernand Wenn man bedenkt daß ich da hinten allein bin Wenn man bedenkt daß er da vorne allein ist“ Das zweithäufigste Thema nach der Liebe in Brels Chansons ist der Tod. Er bildet für seine Chansonhelden den natürlichen Abschluss des Lebens. Sie treten ihm in Le dernier repas mit Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit entgegen, in Le moribond mit einem letzten Aufbegehren von Lebensfreude und Hedonismus. Zum Teil sehnen Brels Chansons den Tod regelrecht herbei, so L’age idiot, wo er als das Goldene Zeitalter bezeichnet wird, Les Marquises, wo er die Menschen mit Ruhe erfüllt, und Vieillir, wo der plötzliche Tod dem schleichenden Prozess des Alterns vorgezogen wird. Brels Chanson Jojo, geschrieben aus Trauer um seinen verstorbenen Freund Jojo Pasquier, macht zwar die Einsamkeit des Hinterbliebenen spürbar, doch seine fortdauernde Freundschaft verleiht dem Toten eine Form von Unsterblichkeit. Kritik an der Gesellschaft In Brels Werk finden sich zahlreiche bittere Anklagen und scharfe Attacken gegen die Gesellschaft, in der er lebt. Für Carole A. Holdsworth ist das Motto seines Werkes der Kampf des Individuums gegen seine Umwelt und die Verweigerung, sich von dieser formen zu lassen. Obwohl für Brel die Probleme nicht in erster Linie ökonomischer, sondern psychologischer Natur sind, gilt seine Sympathie, der er selbst aus einer begüterten Bürgerfamilie stammt, den Armen, Unterdrückten und Schwachen. Seine kritischen Attacken richten sich nie gegen einzelne Individuen, sondern generalisieren, wie schon der bestimmte Artikel in vielen Chansontiteln verrät: Les bigotes, La dame patronnesse, Les flamands, Les paumés du petit matin, Les timides, Les bourgeois. Insbesondere die Bourgeoisie war für Brel wie für viele andere linksintellektuelle Künstler seiner Generation eine bevorzugte Zielscheibe. Er widmete ihr das Chanson Les bourgeois, dessen Refrain lautet: „Les bourgeois c’est comme les cochons Plus ça devient vieux plus ça devient bête“ „Bürger sind wie das Schwein im Stall, denn, je älter, umso mehr sind sie dreckig.“ Das Lied, in dem eine Gruppe Jugendlicher den Bürgern den blanken Hintern zeigt, nimmt in der letzten Strophe die Wendung, dass es nun die alt gewordenen Bürgerschrecke von einst sind, die von einer neuen jungen Generation als „Bourgeois“ beschimpft und verspottet werden. Hier zeigt sich, dass Brels Begriff der Bourgeoisie nicht in erster Linie eine Frage der sozialen Klasse ist, vielmehr geißelt er eine Lebenseinstellung. Zum Bourgeois im Brel’schen Sinne wird man, wenn man seine Spontaneität und Neugier verliert und sich Stagnation, Passivität und Stillstand überlässt. Teil der abgelehnten bürgerlichen Welt sind für Brel auch die Institutionen der Familie, Schule und katholischen Kirche mit ihrer Einschränkung der individuellen Freiheit. Trotz seiner kritischen Bestandsaufnahme der Gesellschaft und ihrer sozialen Ungerechtigkeiten fehlt Brels Chansons jeder konkrete politische Lösungsansatz zu einer Veränderung. Er stellt im Chanson La Bastille mit dem Sturm auf die Bastille sogar die gesamte Französische Revolution in Frage, die nicht das vergossene Blut wert gewesen sei: „Dis-le-toi désormais Même s’il est sincère Aucun rêve jamais Ne mérite une guerre“ „Sag dir von nun an Daß kein Traum Selbst kein ernstzunehmender Einen Krieg wert ist“ Die Menschen in Brels Chansons verharren oft in Passivität und Fatalismus, unfähig, eine Veränderung zu bewirken. Ihr Gefühl eines persönlichen Versagens paart sich mit Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Restriktionen. So gehen die Chansons nicht über eine Anklage der Verhältnisse hinaus, ermutigen den Zuhörer jedoch zum eigenen kritischen Denken. Brel und Belgien Brels Verhältnis zu seiner Heimat war schwierig. Er fühlte sich in Belgien eingeengt, betonte aber dennoch in seiner Wahlheimat Frankreich stets seine belgische Herkunft. Olivier Todd sprach von einer „Hassliebe“, die erkennen ließ, dass Brel für sein Heimatland Stolz und Scham gleichermaßen empfand. Mit der flämischen Sprache hatte Brel, der zwar flämischer Abstammung, aber französischsprachig aufgewachsen war, bereits in der Schulzeit Probleme, später verglich er sie mit „Hundegebell“. Mit mehreren seiner Lieder brüskierte Brel seine flämischen Landsleute. Das Chanson Les flamands beschreibt den strengen, freudlosen Tanz der Fläminnen als Konstante in ihrem tristen Lebenskreislauf. Obwohl von einer zärtlichen Ironie geprägt, löste das Lied 1959 Proteste und Drohbriefe aus, die Brel damals noch überraschten. Sieben Jahre später, ausgerechnet am Festtag der belgischen Dynastie im Brüsseler Palais des Beaux-Arts, provozierte er in La… la… la… mit voller Absicht: „J’habiterai une quelconque Belgique Qui m’insultera tout autant que maintenant Quand je lui chanterai Vive la République Vivent les Belgiens merde pour les Flamingants…“ „Ich werde in irgendeinem Belgien wohnen Das mich genauso beschimpfen wird wie jetzt Wenn ich ihm Vive la Republique vorsinge Es leben die Belgier scheiß auf die Flamen…“ Das Chanson beschwor in Belgien 1966 einen Skandal herauf. Die flämische Volksbewegung behauptete einen „Affront gegen die Ehre des flämischen Volkes“ und erklärte Brel zur persona non grata, sogar das belgische Parlament debattierte über Brels Chanson. Der Chansonnier selbst betonte in Interviews stets den Unterschied der Begriffe „flamands“, die Bewohner Flanderns, die er keineswegs in ihrer Gesamtheit angreifen wolle, und „flamingants“, die flämischen Nationalisten, die er schlicht für Faschisten hielt. Ein Jahr vor seinem Tod wiederholte er mit dem Schmählied Les F… noch einmal seine Attacke, und auch die Reaktion, vom Skandal in der Öffentlichkeit bis zur Anfrage vor dem Parlament und einer gerichtlichen Anzeige, blieb dieselbe. Im Chanson charakterisierte Brel die „Flamingants“ als: „Nazis durant les guerres et catholiques entre elles“ „Nazis während der Kriege und Katholiken in der Zwischenzeit“ Für Chris Tinker sind Brels Tiraden allerdings weniger spezifisch gegen die Flamen gerichtet, als dass sie in der Tradition seiner sonstigen Gesellschaftskritik an Bourgeoisie und Nationalismus stehen. Hingegen seien Brels Übertragungen verschiedener Chansons ins Flämische, darunter auch Le Plat Pays (Mijn vlakke land), als persönliche Geste an die flämische Kultur und Sprache zu verstehen. Mit der Verknüpfung flämischer und frankophoner Verse in Marieke habe der Chansonnier sogar eine Allegorie auf das zweisprachige Belgien geschrieben. Sara Poole sieht gerade auch in der belgischen Kultur und der Lyrik Émile Verhaerens einen entscheidenden Einfluss auf viele der Brel’schen Chansons wie Le Plat Pays. Für Carole A. Holdsworth ist dieses Chanson der vier Winde, die über die belgische Landschaft wehen, eine äußerst atmosphärische Beschreibung Belgiens, und der wiederkehrende einzeilige Refrain des Chansons stelle klar, dass trotz aller kritischen Äußerungen Brels Identifikation mit seinem Heimatland ungebrochen bleibe: „Le plat pays qui est le mien“ „Mein flaches Land du bist mein Land“ Filme Auch die beiden Filmprojekte Brels beruhen laut Stéphane Hirschi auf dem Motivkatalog seiner Chansons. So nimmt Hirschi etwa in der Dreiecksgeschichte Franz die implizite Präsenz von rund 50 Brel-Chansons wahr und setzt einige Filmdialoge vollständig aus sinngemäßen Passagen von Liedtexten zusammen. Das Medium Film füge den Brel’schen Chansons schlicht eine neue Dimension hinzu, indem sich die Bilder nun konkret darstellen und nicht nur im Kopf des Zuhörers suggerieren ließen. Dabei gelte Brels besonderes Augenmerk mit der Tonspur und der musikalischen Untermalung weiterhin dem Medium, aus dem er stammte. Brel selbst beschrieb, dass er seinen ersten Film ganz wie ein Chansonprogramm aufgebaut habe, indem er alle neun Minuten auf einen Höhepunkt zusteuerte. Für Olivier Todd stellte Léon, der Protagonist von Franz, eine jener Durchschnittsexistenzen dar, als die Brel selbst hätte enden können, wenn er in Belgien geblieben wäre. Der Erfolg des Filmes sei allerdings auch deswegen ausgeblieben, weil das Publikum die Welt des Chansonniers nicht in jener des Films wiederfinden konnte. Während sein erster Film realistisch bis zum Naturalismus sei, habe Brel im zweiten Film Le Far-West auf die reine Phantasie gesetzt. Doch die Suche einer Gruppe von Erwachsenen nach den Träumen ihrer Kindheit, dem Paradies, das sie im Wilden Westen wähnen, scheitert ebenso wie Léons Suche nach der Liebe in Franz. Auf die Protagonisten wartet in beiden Filmen der Tod: Léon wählt den Freitod, der Cowboy Jacques stirbt im Kugelhagel. Als Schauspieler sammelte Brel seine ersten Erfahrungen im Jahr 1956 mit einem belgischen 10-Minuten-Kurzfilm für einen Wettbewerb, bei dem er selbst das Drehbuch überarbeitet hatte und die Hauptrolle spielte. Das Ergebnis war allerdings mangelhaft und wurde nie in den Kinos gezeigt. Seine späteren zehn Filme von 1967 bis 1973 verglich Olivier Todd mit Brels Entwicklung als Chansonnier: einer Periode als Prediger und Weltverbesserer unter den Regisseuren André Cayatte und Marcel Carné folge eine Phase als Witzbold und Lebemann unter Édouard Molinaro und Alain Levent. Dem politischen Kino habe sich Brel unter Philippe Fourastié und Jean Valère verschrieben, während seine eigenen Regiearbeiten Brels späten Pessimismus widerspiegeln. Der abschließende Film Die Filzlaus zeige ihn schließlich als schüchternen Träumer. Dabei überzeugte Brel laut Todd nur in jenen Filmen, in denen die dargestellte Figur seiner eigenen Persönlichkeit ähnelte, wobei er die Rolle des Landarzt Benjamin als Brels Paraderolle betrachtet. Mein Onkel Benjamin blieb der bekannteste von Brels Filmen. Rezeption Bedeutung und Nachwirkung Jacques Brel zählt zu den führenden Repräsentanten des französischen Chansons. Nahezu einhellig wird er gemeinsam mit Charles Trenet und Georges Brassens zu den drei bedeutendsten Chansonniers, die ihre eigenen Chansons interpretierten, gezählt, wobei er laut Michaela Weiss im 21. Jahrhundert inzwischen eine nachhaltigere Wirkung und Vorbildfunktion erzielt hat als seine beiden Kollegen. Bereits Anfang der 1960er Jahre gehörte Brel laut Olivier Todd zu den zehn „Superstars“ des französischen Chansons, von denen die Hälfte allerdings reine Interpreten waren. In einer Reihe mit Brel listet er – nach absteigendem Alter sortiert – Maurice Chevalier, Charles Trenet, Leo Ferré, Yves Montand, Georges Brassens, Charles Aznavour, Gilbert Bécaud, Sacha Distel und Johnny Hallyday auf. 20 Jahre nach seinem Tod gehörten Brels Alben – insbesondere neben denen Édith Piafs – laut Marc Robine nach wie vor zu den meistverkauften Alben in französischer Sprache. Noch im 21. Jahrhundert verkauften sie sich in einer Größenordnung von 250.000 Stück pro Jahr, und die Textausgabe seiner Werke blieb seit ihrer Erstausgabe 1982 mit zahlreichen Neuauflagen permanent im Angebot. Brel wurde nicht nur zu einer Institution des französischen Chansons, sondern gehört inzwischen ganz allgemein – neben etwa Eddy Merckx, René Magritte oder Georges Simenon – zu den bekanntesten Belgiern. Die französische Journalistin Danièle Janovsky bezeichnete den französisch singenden Flamen gar als „Symbol für Belgien schlechthin“. Zum 25. Todestag Brels erklärte die Stadt Brüssel das Jahr 2003 zum Brel-Jahr, in dem diverse Ausstellungen und Veranstaltungen rund um den Chansonnier organisiert wurden. Noch 2005 belegte Brel bei einer Publikumswahl zum „größten Belgier“ in der wallonischen Ausgabe Le plus grand Belge den Spitzenplatz, beim flämischen Gegenstück De Grootste Belg erreichte er Rang 7. Im Brüsseler Stadtteil Anderlecht trägt eine Métro-Station der Linie 5 den Namen Jacques Brel. Nach dem Chansonnier wurden eine Bibliothek, zahlreiche Kultur- und Freizeitzentren, Schulen, Jugendherbergen, Restaurants, Plätze und Straßen benannt. Im August 1988 entdeckte der belgische Astronom Eric Walter Elst einen Asteroiden, den er auf den Namen (3918) Brel taufte. Seit dem gleichen Jahr steht am Predikherenrei in Brügge eine Statue von Jef Claerhout, die Brels Chanson Marieke gewidmet ist. Das Werk Brels wird seit 2006 von der Éditions Jacques Brel verwaltet, einer Vereinigung des 1962 gegründeten Musikverlags Éditions musicales Pouchenel und der 1981 ins Leben gerufenen Fondation Brel seiner Tochter France, die seither auch die Éditions leitet. Mythos Brel Die Verehrung für Jacques Brel nahm laut einer Untersuchung Thomas Weicks im Lauf der Zeit Züge eines Massenmythos an, zu dem gleichermaßen Brels Werk wie sein Leben beitrugen. Brels Chansons trafen mit einer kompromisslosen Verweigerung des gesellschaftlichen Konformismus, verbunden mit dem Ausdruck eines ideellen Humanismus, auf die Bedürfnisse der jungen Nachkriegsgeneration. Den Ausbruch aus der Gesellschaft fand die Öffentlichkeit später auch mehrfach in Brels Leben verkörpert, von der frühen Lossagung von seinem familiären Milieu, dem Abbruch der Chansonkarriere auf ihrem Höhepunkt bis zur Zivilisationsflucht, wodurch der Chansonnier für sein Publikum zum Stellvertreter wurde, der ihren Drang nach Freiheit und Abenteuer sowie ihre Glückssuche realisierte. Dabei führte Brels anfängliche Zurückweisung – gerade auch wegen seiner Physis – zum Bild eines „leidenden Helden“, der durch die Überwindung der Kränkungen und seinen Aufstieg zum anerkannten Star zur positiven Identifikationsfigur avancierte. Die Machtlosigkeit gegenüber seiner Krankheit und der frühe Tod appellierten hingegen an das Mitgefühl. Zu seiner Popularität beigetragen haben eine – etwa im Vergleich zu Georges Brassens und Leo Ferré – einfache und klare Sprache ebenso wie die durch die Chansons transportierten Themen und Ideale, in denen sich die Zuhörer wiederfanden. Die Widersprüchlichkeit zwischen Brels Leben und Werk wurde vom zeitgenössischen Publikum, das den Chansonnier auf die Aussagen seiner Lieder reduzierte, weitgehend übersehen. Später führten gerade auch die unauflösbaren Widersprüche zu einer Mystifikation und zur Überlebensfähigkeit des Mythos. Dabei lässt sich in Brels Rezeption eine besondere Häufung von Vergleichen mit anderen mythischen Gestalten oder Begriffen ausmachen, so insbesondere seit dem Musical L’homme de La Mancha der Vergleich mit Don Quijote und nach seiner Übersiedlung in die Südsee die betonte Gemeinsamkeit mit Paul Gauguin sowie der allgemeine Mythos der Suche nach dem Paradies. Sara Poole hebt insbesondere die Tatsache hervor, dass Brels Werk, im Unterschied etwa zu dem Georges Brassens’, weltweit importierbar sei, dass seine Form des Vortrags über Stimme und Körper, Musik und Gesten die Barrieren der Sprache überwunden habe. Brels Einfühlungsvermögen und die Ansprache des Publikums habe eine breite Zuhörerschaft quer durch alle Alters- und Bevölkerungsschichten gefunden. Dabei ist die Identifikation laut Olivier Todd gerade bei jenen Teilen des Publikums hoch, die in Brels Chansons nicht besonders gut wegkommen: bei den Frauen, die er in seinen Texten immer wieder brüskierte, und bei der Jugend, der er gerne Moralpredigten hielt. Interpreten Zahlreiche Künstler haben Brels Chansons interpretiert, sei es im französischen Original oder in Übertragungen in andere Sprachen. Bereits im Jahr 1988 existierten in den Vereinigten Staaten 270 und in Japan 38 Fassungen von Brels Erfolgslied Ne me quitte pas. Neben der grundsätzlichen Problematik der Übertragung von Liedern in fremde Sprachen gelten Brels Chansons als besonders schwer interpretierbar. So macht Thomas Weick als Ursachen des häufigen Misslingens der Interpretationen – als Beispiel nennt er die kommerziell erfolgreiche Fassung Ces gens-là der Band Ange – mangelnde Vertrautheit mit Brels Persönlichkeit und Werk sowie ein fehlendes Talent für dessen ausdrucksvolle dramatische Vermittlung aus. Bruno Hongre und Paul Lidsky gehen so weit, dass niemand außer Brel selbst seine Chansons singen könne, da sie im Gegensatz zu Werken anderer Chansonniers in ihrer Inszenierung, ihrem Rhythmus und Fluss vollkommen auf Brels Vortrag zugeschnitten seien. Sie seien weniger als Lieder zu verstehen, denn als komprimierte, intensive Dramen. Die erste Brel-Interpretin war Juliette Gréco, die 1954 bei einem Auftritt im Olympia sein Chanson Le diable (Ça va) vortrug. Nach ihr nahmen in Frankreich Serge Lama, Barbara, Isabelle Aubret und Jean-Claude Pascal mehrere seiner Lieder in ihr Repertoire, zahlreiche weitere Sänger und Sängerinnen sangen lediglich einzelne Chansons. Liesbeth List machte Brels Chansons in flämischer Sprache bekannt, und auch Herman van Veen übertrug einige seiner Lieder. In den englischen Sprachraum führten Brel vor allem Mort Shuman und Eric Blau sowie Rod McKuen ein. Dessen Fassung Seasons in the Sun, gesungen von Terry Jacks, wurde im Jahr 1974 ein Welthit. Auch Scott Walker war mit mehreren Brel-Übertragungen erfolgreich. Einzelne Lieder interpretierten Tom Jones, Andy Williams, Dusty Springfield, Shirley Bassey, Daliah Lavi, David Bowie und Sting. Seit 1990 hat der ehemalige Englischprofessor Arnold Johnston mehrere Revuen ins Englische übertragen und wird allgemein für seine authentischen Übersetzungen der Texte Brels anerkannt. Die ersten deutschen Fassungen sang der österreichische Schauspieler und Chansonnier Michael Heltau, der Brel in Antwerpen noch persönlich kennengelernt hatte. Die von Heltau interpretierten sehr freien Nachdichtungen stammten von Werner Schneyder. Näher am Original blieben die Adaptionen Heinz Riedels, die der deutsche Liedermacher Klaus Hoffmann vortrug. Später übersetzte er Brels Chansons selbst und widmete ihm 1997 das Musical Brel – die letzte Vorstellung. Weitere deutschsprachige Brel-Interpreten sind Gottfried Schlögl, Gisela May, Konstantin Wecker und Hildegard Knef. Der Schauspieler und Sänger Dominique Horwitz interpretiert Brels Chansons im französischen Original. Verschiedene Kollegen widmeten Brel musikalische Hommagen, so etwa Dalida, Pierre Perret, Mannick, Jean Roger Caussimon, Jean-Claude Pascal und Sacha Distel. Juliette Gréco stellte anlässlich Brels zehntem Todestag ein Programm aus seinen Liedern zusammen, Barbara zog in ihrem Chanson Gauguin Parallelen zwischen Maler und Sänger. Unter der Vielzahl von Künstlern, auf die Brel einen starken stilistischen Einfluss ausübte, listet Stéphane Hirschi beispielhaft Claude Nougaro, Bernard Lavilliers, Francis Lalanne, Jean-Jacques Goldman und Mano Solo auf. Auch Brels Neffe Bruno Brel folgte seinem Onkel im Beruf des Chansonniers. Im Jahr 2001 sang er eine CD namens Moitié Bruno, moitié Brel ein, die zur Hälfte aus eigenen Liedern, zur Hälfte aus Chansons seines Onkels besteht. Werke Diskografie (Auswahl) Jacques Brel veröffentlichte zahlreiche LPs, EPs und Singles, sowie Kompilationen aus zuvor veröffentlichten Aufnahmen. Die Auswahl beschränkt sich hier auf die 15 Alben der Gesamtausgabe von 2003. Da die meisten Alben Brels zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung keinen Titel trugen, sind zur Identifikation die CD-Titel von 2003 angegeben. 1954: Grand Jacques 1957: Quand on n’a que l’amour 1958: Au printemps 1959: La valse à mille temps 1961: Marieke 1962: Olympia 1961 (live) 1962: Les bourgeois 1964: Olympia 1964 (live) 1966: Les bonbons 1966: Ces gens-là 1967: Jacques Brel 67 1968: J’arrive 1968: L’homme de la Mancha (französische Fassung des Musicals Der Mann von La Mancha) 1972: Ne me quitte pas (modernisierte Neuaufnahmen älterer Chansons) 1977: Les Marquises (Originaltitel: BREL) Filmografie 1956: La grande peur de Monsieur Clément (Kurzfilm) – Regie: Paul Deliens (Buch, Darsteller) 1967: Verleumdung / Berufsrisiko (Les risques du métier) – Regie: André Cayatte (Darsteller, Musik) 1968: La bande à Bonnot (Darsteller, Musik) 1969: Mein Onkel Benjamin (Mon oncle Benjamin) (Darsteller, Musik) 1970: Mont-Dragon – Regie: Jean Valère (Darsteller) 1971: Mörder nach Vorschrift / Mörder im Namen der Ordnung (Les assassins de l’ordre) – Regie: Marcel Carné (Darsteller) 1972: Franz (Regie, Buch, Darsteller, Musik) 1972: Die Entführer lassen grüßen (L’aventure c’est l’aventure) (Darsteller) 1972: Ein charmanter Gauner (Le Bar de la fourche) – Regie: Alain Levent (Darsteller, Musik) 1973: Die Filzlaus (L’emmerdeur) (Darsteller, Musik) 1973: Le Far-West (Regie, Buch, Darsteller, Musik) Literatur Biografien deutsch Jens Rosteck: Brel – Der Mann, der eine Insel war. Mare, Hamburg 2016. ISBN 978-3-86648-239-5 Olivier Todd: Jacques Brel – ein Leben. Achilla-Presse, Hamburg 1997, ISBN 3-928398-23-7. französisch Marc Robine: Le Roman de Jacques Brel. Carrière, Paris 2003, ISBN 2-253-15083-5. Olivier Todd: Jacques Brel. Une vie. Laffont, Paris 1984, ISBN 2-221-01192-9. englisch Alan Clayson: Jacques Brel. La Vie Bohème. Chrome Dreams, New Malden 2010, ISBN 978-1-84240-535-2. Textsammlungen deutsch-französisch Heinz Riedel: Der zivilisierte Affe. Damokles, Ahrensburg 1970. französisch Jacques Brel: Tout Brel. Laffont, Paris 2003, ISBN 2-264-03371-1. Jacques Brel: Œuvre intégrale. Laffont, Paris 1983, ISBN 2-221-01068-X. Jean Clouzet (Hrsg.): Jacques Brel. Choix de textes, discographie, portraits. Reihe Poètes d’aujourd’hui 119. Seghers, Paris 1964. Untersuchungen deutsch Anne Bauer: Jacques Brel: Ein Feuer ohne Schlacken. In: Siegfried Schmidt-Joos (Hrsg.): Idole 2. Zwischen Poesie und Protest. John Lennon. Van Morrison. Randy Newman. Jacques Brel. Ullstein, Berlin 1984, ISBN 3-548-36503-5, S. 145–179. Thomas Weick: Die Rezeption des Werkes von Jacques Brel. Lang, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-631-42936-3. Michaela Weiss: Das authentische Dreiminutenkunstwerk. Léo Ferré und Jacques Brel – Chanson zwischen Poesie und Engagement. Winter, Heidelberg 2003, ISBN 3-8253-1448-0. französisch Patrick Baton: Jacques Brel. L’imagination de l’impossible. Labor, Brüssel 2003, ISBN 2-8040-1749-4. Stéphane Hirschi: Jacques Brel. Chant contre silence. Nizet, Paris 1995, ISBN 2-7078-1199-8. Bruno Hongre, Paul Lidsky: L’univers poétique de Jacques Brel. L’Harmattan, Paris 1998, ISBN 2-7384-6745-8. Monique Watrin: Brel. La quête du bonheur. Sévigny, Clamart 1990, ISBN 2-907763-10-5. englisch Carole A. Holdsworth: Modern Minstrelsy. Miguel Hernandez and Jacques Brel. Lang, Bern 1979, ISBN 3-261-04642-2. Sara Poole: Brel and Chanson. A Critical Appreciation. University Press of America, Lanham 2004, ISBN 0-7618-2919-9. Chris Tinker: Georges Brassens and Jacques Brel. Personal and Social Narratives in Post-War Chanson. Liverpool University Press, Liverpool 2005, ISBN 0-85323-758-1. Weblinks Offizielle Website der Éditions Jacques Brel (mehrsprachig) Wolfgang Rössig: In: Kindlers Literatur Lexikon. Maegie Koreen und Manfred Weiss: sechs fuss erde – und doch nicht tot. Jacques Brel 1929–1978 (PDF; 190 kB) Einzelnachweise Chansonnier Chansonsänger Liedtexter Filmschauspieler Musicaldarsteller Person als Namensgeber für einen Asteroiden Belgier Geboren 1929 Gestorben 1978 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fasan
Fasan
Der Fasan (Phasianus colchicus; Plural Fasane oder Fasanen) ist eine Vogelart aus der Ordnung der Hühnervögel. Wie bei anderen Fasanenartigen fällt der Hahn durch sein farbenprächtiges Gefieder und seine deutlich längeren Schwanzfedern auf. Hennen zeigen eine bräunliche Tarnfärbung. Der Ruf des Hahns ist ein lautes, charakteristisches und oft gereihtes gö-göck (). Das natürliche Verbreitungsgebiet des Fasans reicht vom Schwarzen Meer über die Trockengebiete Mittelasiens bis in den Osten Asiens. Während die zahlreichen zentralasiatischen Verbreitungsinseln größtenteils voneinander isoliert sind, besiedeln die ostasiatischen Populationen in China, Korea und Sibirien ein großes zusammenhängendes Areal, wo zahlreiche weitere Unterarten leben, die sich teils an den Grenzen ihrer Verbreitungsgebiete untereinander mischen. Von einigen Autoren wird auch der japanische Buntfasan dieser Art zugeordnet. Vor allem zu Jagdzwecken wurde der Fasan in Europa, den USA und anderen Teilen der Welt eingebürgert, ein stabiler Bestand kann sich aber auf Dauer meist nur durch Hegemaßnahmen und Aussetzungen halten. In Südeuropa wurde die Art vermutlich schon während der Antike als Ziervogel und wegen ihres wohlschmeckenden Fleisches eingeführt und sowohl wild als auch in Gefangenschaft gehalten. Die Römer sorgten wahrscheinlich für eine Verbreitung in Mittel- und Westeuropa. Seit dem frühen Mittelalter ist die Fasanenhaltung vereinzelt an Fürstenhöfen und Klöstern belegt, und seit dem ausgehenden Mittelalter oder der frühen Neuzeit ist ein freilebender Bestand oder ein solcher in großen Fasanerien bekannt. Viele Teile Europas – wie beispielsweise Nordeuropa – wurden aber auch erst im 19. Jahrhundert besiedelt. Heute ist der Großteil des europäischen Bestands in den Ländern Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Ungarn und Rumänien zu finden. Die hier lebenden Vögel sind meist Mischformen verschiedener Unterarten, hauptsächlich des torquatus-Typs, dessen Hähne einen weißen Halsring und einen grauen Bürzel zeigen, und des colchicus-Typs, dem der Halsring fehlt und der rotbraunes Bürzelgefieder hat. Der Fasan besiedelt halboffene Landschaften, lichte Wälder mit Unterwuchs oder schilfbestandene Feuchtgebiete, die ihm gute Deckung und offene Flächen zur Nahrungssuche bieten. In Europa findet man ihn häufig in der Kulturlandschaft. Er ernährt sich zumeist von pflanzlicher Nahrung wie Sämereien und Beeren, gerne auch von Insekten und anderen Kleintieren. So vertilgt das Neozoon Fasan große Mengen des Neozoons Kartoffelkäfer, die sonst als Larven die Blätter der Kartoffelpflanzen kahlfressen. Ein Hahn lebt zur Brutzeit meist mit ein bis zwei Hennen zusammen. Der Fasan überwintert zumeist in den Brutgebieten. Bisweilen weicht er im Winter über kurze Strecken in mehr Deckung oder Nahrung bietende Lebensräume aus. Aussehen Der Fasan gehört mit 70–90 cm Körperlänge beim Männchen (wobei etwa 45–60 cm auf den langen, spitzen Schwanz entfallen) und 55–70 cm beim Weibchen (dessen Schwanz etwa 20–25 cm lang ist) zu den mittelgroßen Hühnervögeln. Die Flügellänge liegt bei mitteleuropäischen Hähnen zwischen 230 und 267 mm, bei der Henne zwischen 218 und 237 mm. Einige Unterarten weisen größere Maße auf. Das Gewicht eines adulten Hahnes beträgt zwischen 1,4 und 1,5 kg, das einer Henne zwischen 1,1 und 1,4 kg. Die Füße sind unbefiedert. Männchen haben einen nach hinten gerichteten Sporn am Lauf, der mit dem Alter in der Länge wächst. Weibchen haben an Stelle des Sporns einen kleinen Knopf, der auch fehlen kann. Die Iris ist beim Hahn blass orange, bei der Henne orange bis bernsteinfarben und bei Küken braun. Der Schnabel ist beim Hahn grünlich hornfarben, bei der Henne dunkel bräunlich hornfarben. Die Geschlechter weisen einen deutlichen Sexualdimorphismus bezüglich des Gefieders auf. Männchen Beim Hahn sind Kopf und Hals glänzend dunkelgrün, wobei die glänzenden Partien auf dem Scheitel bronzefarben, an den Halsseiten purpur bis blau überhaucht sind. Die Federn am Hinterkopf sind verlängert und bilden die gattungstypischen „Federohren“. Die nackten Kopfseiten sind intensiv rot und tragen Schwellkörper, die zur Fortpflanzungszeit zu Stirn- und Kinnlappen erweitert sind und als „Rosen“ bezeichnet werden. Eine kleine, schmale Partie unter dem Auge ist befiedert. Die Federn an Nacken, Brust, Körperseiten und Flanken sind kupferfarben bis rötlich golden mit dunklerer Basis und tragen einen blauschwarz glänzenden Saum oder einen entsprechenden Spitzenfleck. Zur Brust hin sind sie deutlich gerundet und, je nach Unterart oder Stammform, mehr oder weniger breit gerandet. Die Rücken- und Schulterfedern sind dunkel kupferrot und tragen einen sandfarbenen, u-förmig schwarzgerandeten Mittelfleck. Bürzel und Oberschwanzdecken zeigen ein grünlich-purpurn glänzendes Kupferrot. Die Unterseite ist matt schwarzbraun mit dunkel glänzenden, zu den Unterschwanzdecken hin rötlich glänzenden Spitzen. Die Unterschwanzdecken sind rotbraun und zeigen teils einen schwarzglänzenden Spitzenfleck. Die Handschwingen sind dunkelbraun, die Armschwingen hellgraubraun und tragen unregelmäßige, beige Querbinden. Die Außenfahnen der Armschwingen sind bräunlich verwaschen. Die großen Oberflügeldecken sind gelblich graubraun und tragen auf der Außenfahne eine helle, bogenförmige Zeichnung mit dunklen Rändern. Die übrigen Flügeldecken sind zimtfarben und zeigen wie die inneren Armschwingen einen kupfrigen Glanz. Die mittleren Schwanzfedern sind stark verlängert und auf gelb- bis olivbraunem Grund fein schwarzgesprenkelt und in einigem Abstand breit quergebändert. Die Sprenkelung nimmt zu den Rändern hin zu, die Querbinden werden zum Kiel hin breiter und laufen zum Rand hin aus. Weibchen Im Gegensatz zu dem des Hahns ist das Kleid der Henne recht unauffällig und hat eine insgesamt bräunliche Tarnfärbung. Der Scheitel ist schwarzbraun mit hellen Säumen und Binden, die Halsoberseite zeigt ein Rötlichbeige mit schwarzen, subterminalen Flecken. Zügel und Überaugenstreif sowie ein Fleck zwischen dem Auge und den Ohrdecken sind hellbeige. Letzterer ist unten schmal schwarz gerandet. Das Kinn ist rötlich beige, Kehle und Vorderbrust sind rötlichbraun mit dunklen Federzentren und rosa Säumen. Die übrige Brust und die Flanken sind deutlich brauner mit grober, dunkler Zeichnung. Die Unterseite und die Unterschwanzdecken sind auf hell bräunlichem Grund dunkel quergewellt. Die Federn der Oberseite sind rotbraun mit einem sandfarbenen und schwarzen Fleck in U-Form, hellem Saum und schwarzem, mittigen Keilfleck. Auf den Schultern zeigen die Federn einen kastanienfarbenen, teils kupfern schillernden Subterminalfleck. Die Schwingen ähneln denen des Männchens, zeigen aber ein deutliches, weniger verwaschenes Muster. Die großen Oberflügeldecken sind dunkelbraun, die übrigen hell graubraun und tragen eine heller quergebänderte bzw. gesprenkelte Zeichnung. Die Steuerfedern tragen auf rötlich braunem Grund breite dunkle Querbänder mit heller Mitte und sandfarbene Ränder. Jungvögel Das Dunenkleid ist unterseits rahmfarben bis beige, oberseits etwas dunkler gelblich braun gefärbt. Vom Scheitel verlaufen ein breiter, dunkel gefasster, rotbrauner Streifen, helle Scheitelseitenstreifen und dunkle Überaugenstreifen bis in den Nacken. Hinter dem Auge befindet sich ein dunkler Fleck. Das Kopfmuster setzt sich auf dem Rücken mit breitem Mittelstreif und blasseren Seitenstreifen fort. Die Flügel sind rostbraun mit hellem Saum. Die Grundfärbung ist recht variabel. So gibt es rotbraune Individuen mit schwächerem Muster. Im Jugendkleid sind Fasane unterseits ähnlich wie die Henne gefärbt, die Steuerfedern sind noch recht kurz. Kopf und Hals sind oberseits dunkelbraun, die Oberseite ist schwarzbraun mit hellbraunen Säumen und Schaftstrichen. Das Flügelgefieder ähnelt dem der Altvögel, ist aber teils noch verwaschen gezeichnet. Die Geschlechter unterscheiden sich nur geringfügig. Im ersten Jahreskleid sehen die Jungvögel bereits wie Altvögel aus. „Jagdfasan“ In Europa und anderen Teilen der Welt, in denen die Art eingebürgert wurde, gibt es Mischformen mit den Merkmalen meist mehrerer Unterarten, die man unter der Bezeichnung „Jagdfasan“ zusammenfasst. Je nach Ausprägung der Unterartmerkmale kann man vor allem zwei Typen unterscheiden. Der colchicus-Typ („Böhmischer Kupferfasan“) ist der oben beschriebenen Nominatform recht ähnlich. Der torquatus-Typ („Chinesischer Reisfasan“) zeigt einen mehr oder weniger ausgeprägten weißen Halsring, der zur Brust oder zum Nacken hin offen sein kann. Zudem zeigt diese Form meist einen helleren Scheitel und einen oft dunkel gesäumten, weißen Brauenstrich. Die Grundfärbung des Vorderrückens ist eher bräunlich bis golden. Die Bürzel- und Oberschwanzdecken-Partie changiert blau- bis grüngrau, zeigt aber mehr oder weniger breit fuchs- bis kupferrote Bürzelseiten. Die kupferroten Federn der Vorderbrust sind an der Spitze relativ stark eingeschnitten und schmaler gerandet als beim colchicus-Typ. Die hellen Federn der Flanken und der hinteren Brust sind strohgelb bis golden, die Steuerfedern sind hell oliv mit recht breiten Querbinden und violettrotem Rand. Die Oberflügeldecken zeigen ein bläuliches Grau. Weibchen vom torquatus-Typ sind heller als beim colchicus-Typ mit breiteren, hellen Federsäumen, Kinn und Kehle sind oft ganz ohne schwarze Zeichnung. Vielfach sind in Europa und Nordamerika auch Vögel der mittelasiatischen mongolicus-Gruppe eingekreuzt, was an den weißen Oberflügeldecken und dem vorne nicht geschlossenen Halsring erkennbar ist. Mutationen und Zuchtformen In der Fasanenzucht sind immer wieder Mutationen aufgetreten, von denen einige als reinvererbende Rassen herausgezüchtet wurden und mehrere auch gelegentlich neben den beschriebenen Haupttypen in freilebenden Populationen auftreten. Der häufigste Typ ist der tenebrosus-Typ. Obwohl er dem japanischen Buntfasan (Phasianus versicolor) nicht unähnlich ist, handelt es sich um eine melanistische Form – Mischformen mit letzterer Art sehen deutlich anders aus. Er entstand um 1880 in Norfolk und hat sich seit den 1930er Jahren vor allem in England und Amerika durchgesetzt. Die Oberseite des Männchens ist überwiegend metallisch grün. Flügeldecken und Unterbauch sind dunkel bräunlich und der Schwanz goldbraun mit bronzefarbenen Säumen und schwarzer Bänderung. Brust- und Körperseiten zeigen eine purpurglänzend dunkelblaue Färbung mit isabellfarbenen Schaftstreifen. Die Henne ist rußschwarz. Eine weitere Mutation ist der Isabellfasan, bei dem die verschiedenen, sonst kupferfarbenen und rotbraunen Partien des Männchens blass isabellfarben sind, Kopf und Hals aber wie sonst auch glänzend dunkelgrün. Die Variante tritt auch bei wildlebenden Populationen auf und pflanzt sich meist reinerbig fort. Zwei weitere Mutationen sind der Weiße Jagdfasan, der nahezu pigmentlos ist, und der Gescheckte Jagdfasan, bei dem man eine rotscheckige und eine blauscheckige Variante unterscheidet. Hierbei handelt es sich meist um reine Zuchtformen. Mauser Die Mauser der Altvögel ist eine Vollmauser; sie findet nach der Fortpflanzungszeit ab Juni oder Juli statt und ist meistens bis September, manchmal erst im Oktober abgeschlossen. Hähne mausern etwas früher als Hennen, die, wenn sie Junge führen, meistens zeitgleich mit deren Jugendmauser zu mausern beginnen. Letztere setzt ein, bevor das Dunenkleid vollständig abgelegt ist. Mit etwa 140 Tagen sind die Jungvögel weitgehend ausgefiedert und die Geschlechter deutlich zu unterscheiden. Das Großgefiederwachstum ist aber erst einen Monat später abgeschlossen. Stimme Der Fasanenhahn verfügt über ein breites Lautrepertoire, das zu einem großen Teil aus unmelodisch rauen, krähenden oder metallisch lauten Rufen besteht. Häufigster Ruf ist der Revierruf, der zur Fortpflanzungszeit, vereinzelt aber auch im Herbst zu hören ist – ein zweisilbiges, lautes und unmelodisches göö-gock oder kotock (Hörbeispiel). Die individuellen Rufe einzelner Hähne sind dabei auch für das menschliche Ohr gut zu unterscheiden. Diesjährige Hähne äußern im Herbst bereits eine noch nicht ganz ausgereift klingende Variante. Aufgescheuchte Hähne geben ein gögök ähnlicher Qualität von sich, das bei Aufregung gereiht vorgetragen wird und sich zu einem fast kreischenden kuttuk-kuttuk kuttuk kuttuk-uk steigern kann (Hörbeispiel). Beim abendlichen Aufsuchen des Schlafplatzes wird zur Fortpflanzungszeit ein zwei- bis dreisilbiger Melderuf, ein kokokok oder toketok, geäußert. Weitere Rufe sind meist nur während des Balzgeschehens oder bei Kampfhandlungen zu vernehmen, wie ein in Balzstimmung laufend geäußertes, gluckendes gu gu gu guuu oder der Futterlockruf gaugau gau oder kutj kutj kutj. Von streitenden Hähnen hört man ein trr-trr-trr-trr oder ein tiefes, raues krrrah als Kampfruf. Misstrauen wird mit vorgestrecktem Kopf und einem krrk-Laut ausgedrückt. Die Lautäußerungen der Hennen sind wenig auffällig und selten zu vernehmen. Aufgescheucht äußern sie ein zischendes zi-zik zi-zik oder bei großer Erregung ein durchdringendes iii-äss iii-äas. Die bei Streitigkeiten unter Hennen geäußerten Laute ähneln denen der Hähne. Als Paarungsaufforderung wird ein raues kia kia abgegeben. Führt das Weibchen Küken, kann man bisweilen einen tiefen, gereihten Warnruf, einen gluckenden Sammelruf oder ein hohes ki ki ki … als Lockruf vernehmen. Die bis zu sieben Wochen alten Küken äußern ein ter-rit oder ter-wit als Stimmfühlungsruf. Der Warnlaut ist ein lautes tjurip. Fühlen sie sich verlassen, geben sie ein langgezogenes tiieerp von sich. Verhalten und Aktivität Der Fasan schreitet meist mit recht langen Schritten, wobei der Schwanz in der Waagerechten oder schräg in die Höhe gehalten wird. Wird er aufgescheucht, fliegt er geräuschvoll auf, aber meist nur über kurze Strecken. Geschieht dies mehrfach, versucht er schließlich, zu Fuß zu entkommen und Deckung zu finden. Er läuft schnell und ausdauernd. Der Flug wirkt unbeholfen mit flatterndem Flügelschlag, ist aber mit 40–60 km/h recht schnell. In dichtem Gelände fliegt der Fasan oft nahezu senkrecht auf. In den Sumpfgebieten seines mittelasiatischen Verbreitungsgebiets bewegt sich der Fasan zum Teil auch über kurze Strecken schwimmend fort. Fasane schlafen meistenteils in Bäumen, manche Unterarten wohl auch auf dem Boden oder im dichten Schilf. Im Sommerhalbjahr beginnen die Hähne etwa eine bis anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang zu rufen und verlassen den Schlafplatz bei Sonnenaufgang. Bei vollem Tageslicht ist dann der Revierruf immer wieder in kurzen Abständen zu vernehmen, und die Vögel beginnen auf offenen Flächen des Reviers mit der Nahrungsaufnahme. Nach zwei bis drei Stunden wird oft eine Tränke und danach ein Ruheplatz aufgesucht. Der Rückzug wird wieder von Revierrufen begleitet. Der Ruheplatz liegt meist gut verborgen im Buschwerk, wo in ausgescharrten Mulden Sandbäder genommen und die Mittagsstunden ruhend verbracht werden. Ein zweiter Aktivitätsgipfel liegt in den späten Nachmittagsstunden, die wiederum mit der Nahrungssuche verbracht werden, bevor sich dann die Vögel nach Sonnenuntergang mit gefülltem Kropf zu den Schlafplätzen zurückziehen. Von dort sind dann die abendlichen Melderufe bis zum Einbruch der Dunkelheit zu vernehmen. Bei schlechtem Wetter kann sich der Ablauf verzögern, im Winter ist die Aktivität oft stark eingeschränkt. Bei winterlicher Kälte übernachten die Vögel oft in eng zusammenrückenden Schlafgemeinschaften. Verbreitung Die natürliche Verbreitung des Fasans erstreckt sich durch den Süden der Zentral- und Ostpaläarktis sowie über Teile der Orientalischen Region. Sie reicht zum einen vom Schwarzen Meer in einem breiten Gürtel südlich der Wald- und Steppenzone ostwärts bis ins westchinesische Qinghai und zum Südrand der Gobi. Das Areal ist hier sehr stark zergliedert, wobei die Teilareale meist auf einzelne Unterarten entfallen und größtenteils isoliert voneinander liegen. Zum anderen erstreckt sich östlich davon vom äußersten Südosten Sibiriens und dem nordöstlichen China ein großes, geschlossenes Areal südwärts über den größten Teil Chinas sowie Korea und Taiwan bis in den Norden von Vietnam, Laos, Thailand und Myanmar. Hier sind die Übergänge zwischen den Unterarten meist fließend. Ob es sich bei den Populationen an der türkischen Schwarzmeerküste, in Thrakien und Makedonien um autochthone Vorkommen handelt, ist umstritten. Zudem wurde die Art in vielen Teilen der Welt mit unterschiedlichem Erfolg eingebürgert. Heute besiedelt sie große Teile Europas. Selten ist sie hier nur in Griechenland, den italienischen Alpen und in Teilen des südlichen Frankreichs. Auf der iberischen Halbinsel sowie im Norden Fennoskandiens fehlt sie fast ganz. In Nordamerika kommt sie in weiten Teilen des südlichen Kanada und den gemäßigten Breiten der USA vor und wurde zudem auf Hawaii eingebürgert. Lokal gibt es die Art in Chile, auf beiden Hauptinseln Neuseelands und im südaustralischen Bundesstaat Victoria. Auch auf zahlreichen Inseln hat es Ansiedelungsversuche gegeben. In Japan wurde die Unterart Ph. c. karpowi auf Hokkaidō eingebürgert. Geografische Variation Die geografische Variation der Weibchen ist wenig ausgeprägt, die der Männchen aber sehr deutlich, so dass über 30 Unterarten in 5 Gruppen unterschieden werden können. Dabei verlaufen die Unterschiede teils sehr allmählich (klinal), teils gibt es deutliche Brüche zwischen geografisch benachbarten Populationen. Ein Merkmal, das in einer deutlich klinalen Reihe variiert, ist die Ausprägung der überwiegend kupferfarbenen Brustfedern, die bei den westlichen Unterarten an der Spitze wenig eingekerbt und breit schwarz gerandet, nach Osten hin stärker eingekerbt und schmal schwarz gerandet bis bespitzt sind. torquatus-Gruppe Die Unterarten dieser Gruppe, die vorwiegend in China beheimatet ist, zeigen einen grünlich- oder bläulichgrauen Bürzel und bläulichgraue Oberflügeldecken. Der Schwanz ist auf gelblich- bis olivbraunem Grund breit schwarz gebändert. Bei den östlichen Unterarten sind ein weißer Halsring und helle Brauenstreifen ausgeprägt. Bei den beiden Unterarten strauchi und sohokhotensis ist der erstere schmal, der letztere fehlt. Bei den westlicheren Unterarten fehlt – mit Ausnahme der isolierten Population hagenbecki – auch der Halsring. Ph. c. pallasi , 1903 – südöstliches Sibirien und nordöstliches China Ph. c. karpowi , 1904 – nordöstliches China (südliche Mandschurei und nördliches Hebei) und Korea, auf Hokkaidō eingebürgert Ph. c. kiangsuensis , 1904 – nordöstliches China (nördliches Shanxi und Shaanxi) sowie südöstliche Mongolei Ph. c. alaschanicus & , 1908 – nördliches und mittleres China (westliche Ausläufer des Helan-Gebirges) Ph. c. edzinensis , 1926 – isoliertes Vorkommen in Oasen der Gobi im Becken des unteren Edsin Gol, Norden von Gansu Ph. c. satscheuensis , 1892 – isoliertes Vorkommen in der Region Dunhuang, äußerster Westen von Gansu Ph. c. torquatus , 1789 – östliches China (Shandong und südwärts bis zur vietnamesischen Grenze) Ph. c. takatsukasae , 1927 – südliches China (Süden von Guangxi) und nördliches Vietnam Ph. c. formosanus , 1870 – Taiwan Ph. c. strauchi , 1876 – mittleres China (südliches Shaanxi und südliches und mittleres Gansu) Ph. c. sohokhotensis , 1908 – Soho-Khoto-Oase bei Minqin, östliches Gansu, eventuell sind auch die Vögel im Qilian-Gebirge dieser Unterart zugehörig Ph. c. vlangallii , 1876 – isoliertes Vorkommen in den Schilfsümpfen westlich des Qaidam-Beckens im Nordwesten von Qinghai Ph. c. suehschanensis , 1906 – westliches und mittleres China (Nordwesten von Sichuan) Ph. c. elegans , 1870 – westliches und mittleres China (westliches Sichuan) Ph. c. decollatus , 1870 – mittleres China (Sichuan ostwärts bis ins westliche Hubei und südwärts bis ins nordöstliche Yunnan und nach Guizhou) Ph. c. rothschildi , 1922 – südliches und mittleres China (östliches Yunnan) und nördliches Vietnam Ph. c. hagenbecki , 1901 – isoliertes Vorkommen im Westen der Mongolei: nördlicher Gobi-Altai bis zum Khara-Usu-See und Flussbecken des Chowd Gol bis zum Achit Nuur tarimensis-Gruppe Diese beiden Unterarten stehen zwischen den westlichen und den chinesischen Unterarten. Die Brustfedern sind relativ stark eingeschnitten und die Steuerfedern auf gelblichem Grund breit gebändert wie bei der torquatus-Gruppe. Zudem haben sie ein grünglänzendes Band um die Bauchmitte. Ph. c. shawii , 1870 – westliches und südliches Xinjiang von Hotan ostwärts durch das Tarimbecken bis zum Unterlauf des Aksu, am Oberlauf des Tarim Ph. c. tarimensis , 1888 – Ost- und Südteil des Tarimbeckens bis zum Lop Nur, Mischpopulationen mit shawii westwärts bis Maralbexi mongolicus-Gruppe Diese Gruppe bewohnt – im Gegensatz zu dem, was der Name impliziert – nicht die Mongolei, sondern lebt westlich des Altai. Die beiden Unterarten zeigen einen breiten, vorne nicht geschlossenen, weißen Halsring und oberseits ein grünglänzendes Kupferrot, weiße Oberflügeldecken und rötliche Bürzel. Die Bänderung des eher rötlichen Schwanzes ist schmal. Ph. c. turcestanicus , 1896 – Kasachstan, Flusstal des Syrdarja Ph. c. mongolicus , 1844 – Südost-Kasachstan vom Qaratau bis zum Siebenstromland und bis nach Xinjiang principalis-Gruppe Diesen Unterarten fehlt der Halsring oder er ist nur angedeutet. Die Oberseite ist rötlich getönt und die Oberflügeldecken sind weiß. Auch hier ist der Bürzel rotbraun und der rötliche Schwanz schmal gebändert. Ph. c. zerafschanicus , 1893 – Tal des Serafschan von Samarkand westwärts Ph. c. chrysomelas , 1875 – Unterlauf des Amudarja von Darganata abwärts Ph. c. bergii , 1914 – Inseln im Aralsee Ph. c. bianchii , 1904 – Oberlauf des Amudarja von Kelif in Turkmenistan ostwärts bis ins östliche Usbekistan, das südliche Tadschikistan und den Norden Afghanistans Ph. c. zarudnyi , 1904 – Täler des mittleren Amudarja von Kerki nordwärts bis Darganata Ph. c. principalis , 1885 – Östliche Ausläufer des Kopet-Dag, Flusstäler von Tejen, Murgab und Kushka, im Iran bis Chorasan und in Afghanistan bis zum Tal des Hari Rud Ph. c. septentrionalis , 1888 – Flussniederungen von Kuban, Terek und Kuma sowie nordwestliche Küste des Kaspischen Meeres colchicus-Gruppe Diese Gruppe ist eher purpurn getönt und der Halsring fehlt. Die Oberflügeldecken sind gelbbraun und der Bürzel rotbraun. Der rötliche Schwanz ist schmal gebändert, wie bei allen westlichen Unterarten. Ph. c. persicus , 1875 – Gebiet des Kopet-Dag, vermischt sich im Westen mit Ph. c. talischensis Ph. c. talischensis , 1888 – Südrand des Kaspischen Meeres von der unteren Kura bis Babolsar Ph. c. colchicus , 1758 – Westliches Georgien, nordöstliches Aserbaidschan, südliches Armenien und nordwestlicher Iran Systematik Von einigen Autoren wird auch der in Japan beheimatete Buntfasan (Phasianus versicolor) mit den drei Unterarten versicolor, robustipes und tanensis dem Fasan zugeordnet. Dafür spricht, dass die Ausprägung der Brustfedern die eindeutige Fortsetzung der klinalen Reihe bei den Unterarten von Phasianus colchicus darstellt und auch die Steuerfedern, der Bürzel und die Oberflügeldecken sich von der letztgenannten Art nicht deutlich abheben. Auffälliges Unterscheidungsmerkmal ist aber die dunkelgrüne Färbung des Körpergefieders, so dass der Buntfasan meist als eigene Art mit dem Fasan in eine Superspezies gestellt wird. Lebensraum Der Fasan benötigt in seinem Lebensraum ausreichende Deckung, offene Flächen, die zur Nahrungsaufnahme und zur Balz genutzt werden können, sowie ein ganzjährig gewährleistetes Nahrungsangebot. Eine weitere Voraussetzung ist das Vorhandensein von Trinkwasser: Besonders in den Trockengebieten Mittelasiens ist die Art daher an Flussläufe und Gewässer gebunden, doch auch in anderen Teilen des Verbreitungsgebiets werden solche Lebensräume bevorzugt angenommen. Im Winter werden schneereiche Gebiete gemieden, was oft die Höhenverbreitung limitiert. Im Sommer begnügt sich die Art teils auch mit notdürftiger oder kleinräumiger Deckung; im Winter muss diese auch bei strenger Witterung genügend Schutz bieten. Ist dies im Sommerrevier nicht gegeben, findet zum Winter hin ein Biotopwechsel statt. Die Art wandert aber meist nur wenige Kilometer. Aufgrund der geselligen Lebensweise im Winterhalbjahr können dann ganze Populationen mit relativ kleinen Überwinterungsgebieten auskommen. Die ursprüngliche Verbreitung der Art liegt aufgrund dieser Ansprüche vor allem südlich der geschlossenen Wald- und Steppenzonen, wo natürlicherweise ein kleinräumiges Mosaik aus Feuchtgebieten, lichten Wäldern und Buschland sowie offenen Gras- und Halbwüsten optimale Bedingungen bietet. Diese Bedingungen finden sich auch in der europäischen Kulturlandschaft, so dass sich die Art hier im Vergleich zu anderen Hühnervögeln recht erfolgreich einbürgern ließ. Die einzelnen Unterarten unterscheiden sich dabei in ihren ökologischen Ansprüchen teils recht deutlich, was sich auch in den unterschiedlichen Einbürgerungserfolgen niedergeschlagen hat und an Orten, wo heute sowohl der colchicus- als auch der torquatus-Typ vorkommen, besonders auffällig wird. Während ersterer eher an Wälder gebunden ist, besiedelt der letztere durchaus auch relativ offene Gras- und Kulturlandschaften. In der Kaukasusregion und am Kaspischen Meer kommt der Fasan in lichten Wäldern mit dichtem Unterwuchs aus Brombeeren, in Galerie- und Auwäldern, Röhricht- oder Weidenbeständen und sumpfigen Dickichten vor. Die Höhenverbreitung reicht hier in bewaldeten Tälern bis 800 m. Bisweilen besiedelt die Art hier auch Teeplantagen. In den Trockengebieten zwischen dem Kaspischen Meer und dem Alai lebt der Fasan hauptsächlich an Flüssen und Gewässern und besiedelt hier Schilf- und Rohrbestände, Tamariskendschungel, Bestände aus Weiden und Ravennagras sowie Galeriewälder und Tugais. Seltener dringt die Art auch in Gebüsche in den Randbereichen der Trockensteppe vor. In der Kulturlandschaft ist sie auch an mit Pfahlrohr bewachsenen Gräben zu finden. In den Bergen kommt sie unter anderem in Gebüschen am Rande der Laubwaldzone vor, wandert aber im Winter in die Ebene ab. Die Höhenverbreitung reicht hier teils bis etwa 3400 m. Die Unterarten des Tarimbeckens besiedeln hohe Grasbestände und Schilfdickichte. Über jene am Südrand der Gobi ist wenig bekannt. Im geschlossenen ostasiatischen Verbreitungsgebiet bewohnen die drei westlichen Unterarten Ph. c. rothschildii, elegans und suehschanensis mit hohem Gras und Farnen bestandene Hänge und Gipfelflächen sowie – mit Ausnahme von suehschanensis – auch lichte Nadelwälder. Die nördlichen Unterarten Ph. c. pallasi, karpowi, strauchi und kiangsuensis zeigen ähnliche Ansprüche wie die der Kaukasusregion und der Buntfasan. Sie brauchen lichte Wälder mit dichtem Unterwuchs, Feldgehölze, Ufer- und Buschvegetation sowie zur Nahrungssuche weite Graswiesen, Felder oder Pflanzungen wie Teeplantagen. Diese Unterarten kommen auch im Bergland und auf Hochebenen in Höhen bis zu 3000 m vor. Die südöstlichen Unterarten Ph. c. torquatus, takatsukasae, decollatus und formosanus leben bevorzugt in Schilfsümpfen, zeigen sich zur Nahrungssuche aber viel auf Ödland und in der Kulturlandschaft, wie beispielsweise Reis- und Getreidefeldern. Sie sind nicht an Wälder gebunden und bevorzugen die Ebene oder hügelige Vorgebirge. Ernährung Die Nahrung des Fasans ist weitgehend vom Angebot bestimmt, den allergrößten Anteil macht dabei aber pflanzliche Kost aus. Lediglich in den ersten vier Lebenswochen besteht sie überwiegend aus Insekten, danach nimmt der Anteil der tierischen Nahrung stark ab. Die pflanzliche Nahrung besteht meist aus Sämereien, aber auch aus unterirdischen Pflanzenteilen wie Brutknöllchen, Zwiebeln und Wurzeln. Das Spektrum reicht dabei von den winzigen Samen kleiner Nelkengewächse bis hin zu Nüssen oder Eicheln. Hartschalige Früchte werden genauso gefressen wie für den Menschen giftige Beeren. Im ausgehenden Winter und im Frühling werden vermehrt Sprosse und frische Blättchen aufgenommen. Das Spektrum der tierischen Nahrung reicht von winzigen Arthropoden über Regenwürmer und Schnecken bis hin zu kleinen Wirbeltieren wie jungen Schlangen oder Wühlmäusen. Kleininsekten und deren Larven werden oft in erstaunlicher Menge und Individuenzahl aufgesammelt. Zur Verdauung werden 1–5 mm große Kiesel (Gastrolithen) oder in deren Ermangelung Teile von Schneckenhäusern oder kleine Knochen aufgenommen. Zur Fortpflanzungszeit werden von den Weibchen vermehrt kalkhaltige Kiesel geschluckt, die möglicherweise am Geschmack erkannt werden. Die Nahrungssuche erfolgt überwiegend am Boden, wobei teils mit den Füßen in der Erde gescharrt, zu einem überwiegenden Teil aber in seitlicher Bewegung mit dem Schnabel gegraben wird. Dabei arbeitet sich der Vogel auch bisweilen durch bis zu 30–35 cm tiefen Neuschnee. Kleine Lebewesen werden in geduckter Pirschjagd erbeutet, hängende Beeren teils vom Boden hochspringend, teils aber auch sitzend in Bäumen und Sträuchern abgeerntet. Oft wird die Nahrung in Form winziger Bestandteile aufgepickt, aus größeren Früchten werden Stücke herausgebissen. Wanderungen und Wintergesellschaften Im Allgemeinen ist der Fasan ein Standvogel. Bietet das Sommerrevier nicht genug Deckung oder Ernährungsmöglichkeiten, dann wird lediglich das Biotop gewechselt. Die Wanderungsbewegungen finden bei Bedarf statt und liegen meist bei wenigen Kilometern. Nur von den nördlichen Unterarten Ph. c. turcestanicus, mongolicus und pallasi sind jährliche Abwanderungen über teils größere Strecken bekannt. Sie wandern schon frühzeitig im Jahr aus schneereichen Bergregionen in die Ebenen ab. Ist der Fasan zur Brutzeit territorial, so lebt er im Winterhalbjahr in kleinen oder größeren Gesellschaften, die nicht selten nur aus Vögeln gleichen Geschlechts bestehen. Die Verbände der Weibchen umfassen dabei zwischen 10 und 30, selten bis zu 100 Individuen. Die der Männchen sind kleiner und bestehen bei gemischtgeschlechtlichen Trupps aus drei bis vier Hähnen und wenigen Hennen oder nur aus zwei bis zehn Hähnen. Besonders in den Gesellschaften der Hähne besteht eine strenge Rangordnung, Streitigkeiten um Futter werden oft vehement ausgetragen. Ähnliche Strukturen gibt es auch bei den Hennen, die in der Rangordnung immer unter den Hähnen stehen, dort fallen aber die Streitigkeiten meist weniger heftig aus. Die Rangordnung bleibt auch in der Fortpflanzungszeit bestehen: Dominante Hähne besetzen eher Reviere als subdominante Tiere. Fortpflanzung Fasane werden im ersten Jahr geschlechtsreif. Während junge Hähne schon im ersten Herbst fortpflanzungsfähig sind, reifen die Ovarien der Hennen erst im Frühjahr. Zur Fortpflanzungszeit lebt der Fasan in Harem-Polygynie, ein Hahn verpaart sich meist mit ein bis zwei, manchmal drei oder mehr Hennen. Einen Extremfall stellt der Bericht von einem Hybridfasan aus den USA dar, der einen Harem von 16 Hennen hielt. Nach der Auflösung der Wintergesellschaften besetzt der Hahn ein Revier, in dem er hindurchziehende Hennen an sich zu binden versucht. Ist dies erfolgreich, begleitet er die Hennen auf den täglichen Streifzügen durch das Revier. Die Balz findet jeweils paarweise statt. Nach erfolgreicher Begattung sondert sich das Weibchen vom Harem ab und geht alleine dem Brutgeschäft innerhalb des Reviers nach, während der Hahn sich gegebenenfalls mit weiteren Weibchen verpaart. Sind alle Hennen am Brüten, verliert der Hahn das Interesse am Revier und verteidigt es nicht weiter. Nur in seltenen Ausnahmefällen wurde davon berichtet, dass Hähne sich am Brutgeschäft und der Jungenaufzucht beteiligten. Nach der Brutzeit vergesellschaften sie sich dann zum Teil wieder mit Trupps, die sich aus diesjährigen Jungvögeln zusammensetzen. Die Fortpflanzungszeit liegt im gesamten natürlichen Verbreitungsgebiet mit leichten geografisch und witterungsbedingten Verschiebungen zwischen März und Juni. In Mitteleuropa beginnt sie ab Mitte März und ist meist gegen Ende Mai oder Anfang Juni abgeschlossen. Kopulationen wurden von Ende März bis Ende Juni festgestellt. Es findet nur eine Jahresbrut statt. Bei Gelegeverlust kommt es aber bis zu zwei Mal zu Nachgelegen, so dass späte Bruten im August und September nicht selten sind. Abweichungen von der üblichen Phänologie kann es in Gebieten geben, in denen der Fasan eingeführt wurde. So beträgt die Dauer der Fortpflanzungszeit im klimatisch günstigen Neuseeland teilweise bis zu acht Monate. Hier kommt es wohl auch zu Zweitbruten. Revierverhalten Erste Anzeichen von Revierverhalten kann es in den Wintertrupps der Hähne schon bei warmer Witterung im Herbst und dann wieder ab Februar geben. Die Gesellschaften lösen sich aber meist erst bei dauerhaft mildem Wetter ab März auf. Ranghohe Hähne werden dabei oft von einem rangniederen Tier begleitet. Sie patrouillieren nun auf festgelegten Wegen durch ein Revier, das oft dem vom Vorjahr entspricht, und lassen immer häufiger und regelmäßig den Revierruf hören. Sie dulden zunächst noch die rangniederen „Trabanten“ in ihrer Nähe, später werden diese aber als Rivalen vehement vertrieben und ziehen sich an die Reviergrenzen zurück, wo sie auf eine Gelegenheit warten, ein eigenes Revier zu besetzen oder in Abwesenheit des Revierinhabers Kontakt zu dessen Hennen zu suchen. Nicht selten kommt es dabei zu Kopulationsversuchen. Manche dieser Hähne wandern hingegen ab und mitunter gelingt ihnen die Besiedelung neuer Gebiete. Der Fasanenhahn bekundet seinen Revieranspruch durch lautes Rufen, das er auf dem Höhepunkt der Fortpflanzungszeit alle 10 bis 15 Minuten wiederholt. Dazu sucht er sich eine erhöhte Stelle wie einen Grasbulten, richtet sich auf und schlägt zunächst lautlos mit den Flügeln. Der Schwanz wird dabei aufgerichtet oder als Stütze genutzt. Dann wirft der Vogel den Kopf auf und lässt neben einem lauten Go-gock ein weithin hörbares „Flügelpurren“ hören. Wenn sie in Hörweite sind, reagieren Männchen in benachbarten Revieren darauf mit einem etwas leiseren Doppelruf. Nicht selten kommt es an Reviergrenzen zu Streitigkeiten. Die Hähne sehen sich mit gesträubtem Gefieder und geschwollenen roten Gesichtspartien an und laufen unter drohenden Rufen an der Reviergrenze nebeneinanderher oder fixieren sich mit herabgehaltenen Köpfen und rupfen demonstrativ Gras aus. Kommt es zum Angriff, fliegen die Hähne Brust an Brust in die Höhe und versuchen sich dann mittels Schnabel und Füßen zu verletzen. Meist gibt einer der Hähne aber recht schnell auf und wird dann vom Sieger verjagt. Oft enden Revierstreitigkeiten auch, indem ein unterlegener Hahn auf die Drohpose des anderen hin eine unterwürfige Haltung einnimmt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Größe der roten Gesichtspartien, die bei dominanten Hähnen meist stark geschwollen und beim Unterlegenen meist klein bleiben. Versuche, bei denen diese Partien durch aufgemaltes Rot künstlich vergrößert wurden, führten zu längeren Auseinandersetzungen. Die Größe eines Fasanenreviers liegt zwischen 12 und 45 ha und kann während der gesamten Brutzeit noch stark schwanken. Anpaarung und Balz Die Wintergesellschaften der Weibchen lösen sich etwa zur Zeit der Revierbildung bei den Hähnen auf, und die Hennen streifen hernach auf offenen Flächen durch die bereits besetzten Reviere. Sie werden dann von den balzenden Hähnen umworben, die um die Hennen mit gesträubtem Rückengefieder, geschwollenen roten Gesichtspartien und gefächertem Schwanz herumlaufen und ihnen dabei mit abgesenktem Flügel die Seite zuwenden. Mittels der Luftsäcke erzeugen sie dabei ein zischendes Geräusch und lassen die Schwanzfedern geräuschvoll vibrieren. Nach der Anpaarung gesellt sich die Henne gegebenenfalls zu einem bestehenden Harem. Der Hahn folgt nun offenbar auf den täglichen Streifzügen den Hennen, die zum Teil auch durch ihren Aktionsradius die Größe des Reviers beeinflussen und damit auch Revierstreitigkeiten zwischen Hähnen herbeiführen können. Während der Streifzüge durch das Revier gibt der Hahn fortwährend glucksende Kontaktlaute von sich. Bisweilen lockt er eine Henne mit dem Futterlockruf kuj-kutj-kutj herbei und präsentiert ein entdecktes Stück Nahrung mit erhobenem Schwanz und geduckter Haltung dem Weibchen. Ebenso balzt er bisweilen eine Henne in der bereits beschriebenen „Seitenbalz“ an. In deren Verlauf kann es zu Verfolgungsläufen, aber auch zu einer Paarungsaufforderung des Weibchens und einer Kopulation kommen. Später finden auch ohne Balz auf eine kurze Aufforderung des Weibchens hin Kopulationen statt. Balz und Kopulation werden jeweils abseits des Harems ausgeführt, und eine Henne kann sich dadurch entziehen, dass sie sich wieder den anderen Hennen anschließt. Zwischen den Hennen eines Harems kommt es nicht selten zu rivalisierendem Verhalten und Kämpfen, wobei nicht abschließend geklärt ist, worum es in diesen Auseinandersetzungen geht. Brütende Hennen scheiden aus dem Harem aus. Bisweilen kommen auch nach der Brutzeit noch Hennen dazu oder einzelne Hennen verlassen das Revier, was vom Hahn nicht weiter beachtet wird. Erst wenn die letzte Henne brütet, gibt er das Revier auf oder versucht weitere Hennen aus den Nachbarrevieren abzuwerben. Nestbau, Gelege und Bebrütung Das Nest besteht aus einer flachen Mulde von 12–27 cm Durchmesser und 2–12 cm Tiefe. Diese ist entweder schon vorhanden oder wird vom Weibchen ausgescharrt oder geformt und höchstens mit einigen spärlichen Halmen, Wurzeln oder Reisern ausgekleidet. Sie befindet sich meist auf dem Boden und ist von der Krautschicht oder der unteren Strauchschicht gut gedeckt. Oft werden Nester am Rande von Dickichten oder Hecken angelegt und nicht selten stehen sie in der Mitte von Grasbulten. Einige Nester finden sich auch erhöht auf Heuballen oder Kopfweiden oder auch in verlassenen Nestern von Tauben, Krähen oder Greifvögeln. Diese können sich bis zu 10 m hoch befinden. Die mäßig bis stark glänzenden Eier sind ungezeichnet, stumpfoval und durchschnittlich 46 mm × 36 mm groß. Die Färbung liegt zwischen braun bis olivbraun und olivgrün bis blaugrau und kann innerhalb eines Geleges stark variieren. Die Gelegegröße variiert teils bei den Unterarten und liegt zwischen 4 und 16 Eiern, meist aber zwischen 8 und 12. Größere Gelege stammen vermutlich meist von zwei Hennen. Ersatzgelege sind meistens kleiner. Ist noch kein Nest vorhanden, verlegen Hennen die ersten Eier häufig in die Nester anderer Hennen oder sogar anderer Vogelarten wie anderen Hühnervögeln, Enten oder Rallen. Manche Eier werden auch einfach in der Landschaft abgelegt. Zu kleine Gelege werden bisweilen durch runde Kieselsteine ergänzt. Die Eier werden meist mit 24 Stunden Abstand in der Mittagszeit abgelegt, bisweilen wird eine bis zu zweitägige Pause eingelegt. Der früheste Legebeginn liegt in Mitteleuropa Mitte März, die meisten Eier werden zwischen Ende April und Anfang Juni abgelegt. Die Bebrütung beginnt nach Ablage des letzten Eies oder 1 bis 2 Tage später. Sie dauert etwa 23 Tage, bei häufigen Störungen auch länger. Jungenaufzucht Junge Fasane sind Nestflüchter, die nach dem Schlüpfen nur wenige Stunden zum Trocknen im Nest bleiben, dann der Henne folgen und in deren Nähe eigenständig ihre Nahrung suchen. Sie sind mit 10–12 Tagen flugfähig und noch etwa 70–80 Tage von der Henne abhängig, die ihnen Futterquellen aufzeigt und sie gegen Feinde verteidigt. Auf Bodenfeinde reagiert sie durch Verleiten, gegen kleinere Luftfeinde werden die Küken verteidigt, bis sie Deckung aufgesucht haben. Sterblichkeit und Alter Im natürlichen Verbreitungsgebiet in Mittelasien zählen zu den hauptsächlichen Prädatoren Goldschakal, Rotfuchs und Rohrkatze, verwilderte Hauskatzen und streunende Hunde sowie Greifvögel, Eulen und Rabenvögel. Der Anteil der Gelegeverluste liegt mit 42 und 85 % oft recht hoch. Aufgrund von Nachgelegen haben jedoch meist 70–80 % der Weibchen einen Bruterfolg. Durchschnittlich liegt die Anzahl der überlebenden Jungvögel bis zum Zeitpunkt der Selbständigkeit bei 3,4–7 pro Henne. Verschiedene Untersuchungen aus Europa belegen eine hohe Sterblichkeit von etwas über 80 % im ersten Jahr. Die Ursachen sind nicht ganz klar. Später liegt sie bei knapp 60 %. Die durchschnittliche Jahressterblichkeit bei Hähnen liegt bei knapp 80 %, bei Hennen etwas über 60 %. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Hähne nach dem ersten Jahr beträgt 9 Monate, die für Hennen 14 Monate. Eine Population besteht also meist nur aus wenigen Jahrgängen. Das durch einen Ringfund belegte Höchstalter eines freilebenden Fasans betrug 7 Jahre und 7 Monate. Bestandsentwicklung Der Fasan ist zwar die einzige Hühnervogelart, die mit wirklichem Erfolg außerhalb ihrer natürlichen Verbreitung angesiedelt wurde, jedoch unterliegen die Bestände dort immer großen Schwankungen und können meist nicht auf Dauer ohne Aussetzungen von Zuchtvögeln und Winterfütterungen überleben. Besonders deutlich wurde dies während und nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Mitteleuropa die Bestände bis auf Restvorkommen in optimalen Habitaten fast vollständig zusammengebrochen waren und nur durch massive Aussetzungen in den 1950er- und 60er-Jahren wieder auf den alten Stand gebracht werden konnten. In den Niederlanden gab es um die 1990er-Jahre starke Rückgänge (um 50 %), nachdem Aussetzungen weitgehend unterbunden worden waren, und in Baden-Württemberg ist eine ähnliche Entwicklung durch ausbleibende Aussetzungen spürbar gewesen. Zum Teil sind die Bestandsrückgänge aber auch auf die Intensivierung der Landwirtschaft zurückzuführen, deren Auswirkungen auch Aussetzungen nicht maßgeblich mindern können. In optimalen Habitaten wie Auenlandschaften oder Moorgebieten kann die Entwicklung jedoch auch deutlich anders aussehen. Hier gibt es offenbar auch ohne Aussetzungen bisweilen deutliche Bestandszunahmen. Über die Bestandsentwicklungen im natürlichen Verbreitungsgebiet liegen nur wenige Daten vor. Eine deutliche Verkleinerung der Vorkommen der Unterart Ph. c. colchicus seit der Antike und Untersuchungen der Ausbreitungsgeschichte in den mittelasiatischen Trockengebieten lassen langfristige Arealverluste vermuten. Kurzfristig wirken sich schneereiche Winter auf die Bestände aus und sorgen oft für erhebliche Bestandseinbußen, die aber aufgrund der hohen Reproduktionsfähigkeit meist recht bald wieder ausgeglichen werden. Die Bestandssituation des Fasans wurde 2016 in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN als „“ = „nicht gefährdet“ eingestuft. Der Weltbestand wird grob auf 45–300 Millionen Vögel, der europäische Bestand auf 3.400.000–4.700.000 Brutpaare geschätzt. Fasan und Mensch Ausbreitungsgeschichte Die Verbreitung des Fasans durch den Menschen ist zum Teil recht gut durch historische Quellen belegt, wird aber nur ungenügend durch archäologische Befunde gestützt. Ein Problem ist zudem die Differenzierung zwischen der Haltung in Zuchtbetrieben und der durch Auswilderung begründeten freilebenden Populationen. Zwischen diesen Phasen der Ausbreitung kann oft ein erheblicher Zeitraum liegen, wie beispielsweise in Dänemark, wo seit 1560 Fasanenhaltungen belegt sind, die endgültige Einbürgerung aber offenbar erst 1840 stattgefunden hat. Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. ist die Art bei den Griechen bekannt und wurde dort offenbar gehalten, wie griechische Grabinschriften zum Gedenken an „Fasanenmeister“ (φασιανάριοι) belegen. Vermutlich gelangten die Vögel über den Schwarzmeerhandel dorthin. Die nächsten Nachweise stammen aus der Zeit der Ptolemäer, dann gibt es erst wieder Erwähnungen aus der Römischen Kaiserzeit. Wie weit der Fasan durch die Römer verbreitet wurde und ob es zu diesen Zeiten in Mittel- und Westeuropa schon freilebende Populationen gab, ist nicht bekannt. Auch im frühen Mittelalter beziehen sich die meisten Nachweise auf die Zucht. So verfügte etwa Karl der Große die Haltung auf seinen Pfalzen. Im Kloster St. Gallen und in Böhmen begann die Haltung etwa im 11. Jahrhundert. In England wurden zwar Reste von Fasanen aus römischer Zeit gefunden, vermutlich wurde er dort aber erst endgültig von den Normannen um 1059 eingeführt. Erste freilebende Populationen in Mitteleuropa gibt es offenbar seit dem 12. und 13. Jahrhundert im Rheinland. Albertus Magnus beschrieb frei lebende Fasane in einem Kölner Klostergarten. Im Bereich des alten Deutschen Reiches breitete sich der Fasan im 15. Jahrhundert in Tirol und Sachsen aus. Diese und andere Ausbreitungen des Verbreitungsgebietes gehen auf Auswilderung von Fasanen zurück. So setzte der Kurfürst Friedrich der Weise um 1500 200 Fasane in Sachsen aus. Im 16. Jahrhundert besiedelte die Art Ungarn, Hessen, die Steiermark und Schlesien und im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde er auch in Mecklenburg, Braunschweig, im Aargau, in Salzburg und in Hannover ansässig. Auch auf verschiedenen Inseln wurden im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit erfolgreich Fasane ausgesetzt, so auf St. Helena 1513 und auf Madeira 1667. Belgien und Holstein wurden vermutlich Mitte des 18. Jahrhunderts besiedelt, für Pommern ist das 19. Jahrhundert und für die Ostfriesischen Inseln das Ende desselbigen bestätigt. Anfang des 20. Jahrhunderts war der Fasan auch in großen Teilen Nordeuropas, Nordamerikas, auf Zypern, den Nordfriesischen Inseln, Neuseeland und Teilen Australiens eingeführt. In Japan wurde die Unterart Ph. c. karpowi vor dem 17. Jahrhundert auf Tsushima eingeführt, aber erst ab 1925 auf Hokkaidō. Mythologie und Kulturgeschichte Der Name des Fasans stammt aus der altgriechischen Argonautensage. Wie Agatharchides und später Martial berichten, fangen Jason und seine Mitstreiter am Fluss Phasis prächtige bunte Hühnervögel. Nach dem damaligen Namen der Landschaft – Kolchis – wählte Linné colchicus als Artname. Auch sonst gibt es bei den Griechen einige Erwähnungen: Aristophanes verspottet in einer seiner Schriften einen Fasanenzüchter namens Leogoras, und Aristoteles erwähnt das Sandbaden des Fasans gegen Läuse. Bei den Römern schreibt Plinius der Ältere über die Federohren des Fasans, Seneca nutzt ihn in seinen „Dialogen“ als Symbol für Tafelluxus. Galenus beschreibt Fleisch und Eier als bekömmlich. Aus der Antike sind zudem über 100 farbige Mosaike bekannt, die die Art zeigen. Im Mittelalter galt der Fasan als Inbegriff der Luxusspeisen und der Schwelgerei, er spielte aber auch in der Volksmedizin eine Rolle, wo Blut, Fett, Galle und Kot sowie als Räuchermittel die Federn Verwendung fanden. In Pesttraktaten wurde der Verzehr gegen Fieber und Pest empfohlen. In mittelalterlichen Buchmalereien tritt der Fasan lediglich als dekoratives Element in Erscheinung. In einer griechischen Rezension des Physiologus wird er jedoch aufgrund der Tatsache, dass Hennen den Jäger von ihren Küken fortlocken, als Sinnbild des Teufels angesehen. In der Symbolik der bildenden Kunst späterer Jahrhunderte ersetzt der Fasan oft den Pfau und steht dann entsprechend als Symbol der Auferstehung (Phönix), für die Göttin Hera, als Symbol der Liebe, der Wollust oder des Hochmuts. Besonders Fasanenpasteten wurden als Allegorie der Superbia und der Gula abgebildet – ab dem 15. Jahrhundert wurde der gebratene Fasan oft im vollen Gefieder serviert. Einzige eigenständige Bedeutung in der Ikonografie hat der vom Habicht verfolgte Fasan als Sinnbild der verfolgten Seele. Später ist der Fasan ein beliebtes Motiv in Jagdstillleben und Landschaftsgemälden. Eine besondere Rolle kam dem Fasan beim Fasanenfest 1454 am burgundischen Hof zu. In seiner ostasiatischen Heimat spielt der Fasan eine bedeutende Rolle in Symbolik und Volksaberglauben. In China steht er für Licht, Wohlstand, Glück und Schönheit, in Japan für Schutz, Mutterliebe und Tugend. Ließ der Fasan nicht zu Anfang des 12. Monats seinen Revierruf hören, war das ein Zeichen für die Ankunft einer großen Flut, hatte er zur Mitte desselben noch nicht gerufen, dann würden die Frauen unsittlich und würden – teils als Fasanengeister in Menschengestalt – die Männer verführen. Ein altes Brettspiel lässt den Fasan zum Gegner der Eule werden. Auch in der Mythologie taucht der Fasan häufig auf. So ist einer der drei Begleiter der Nüwa ein neunköpfiger Fasan, und der Fenghuang, eine Art Phönix, hat einen Fasanenkopf. Bejagung Da sich der Fasan in der Kulturlandschaft der gemäßigten Breiten verhältnismäßig gut hält, sein Sozial- und Fortpflanzungsverhalten für einen ständigen „Überschuss“ nichtterritorialer Hähne sorgt und die Reproduktionsfähigkeit recht hoch ist, ist er ein Jagdwild, das sich intensiv bewirtschaften lässt. Zudem ist die Art kulinarisch attraktiv, und Jäger schätzen, dass die aufgescheuchten Vögel recht hoch auffliegen, was sie für die Schießjagd prädestiniert. Noch bis 1900 gehörte der Fasan in Deutschland zum Hochwild, und in vorigen Jahrhunderten war die Jagd vielerorts den Landesherren vorbehalten. Wildbann und spezielle Jagdgesetze sind seit dem 13. Jahrhundert nachweisbar, und Wilderei wie die Entnahme von Eiern wurden bis in die Neuzeit mit hohen (Geld-)Strafen belegt. Im Mittelalter wurde der Fasan mit Netzen, Fangschlingen, Armbrust und Bogen bejagt. Bedeutender war aber die Beizjagd mit dem Habicht und größeren Falkenarten. Im 18. Jahrhundert nutzte man zum Aufstöbern einen Hund („Fasanenbeller“) und schoss den Vogel vom Baum, wenn dieser dort landete. Eine Variante war es, nachts im Mondlicht oder mit Unterstützung von Blendlaternen die Fasane am Schlafplatz zu erlegen. Zudem wurden Fasane mit Steckgarnen, in Treibnetzen und Schlingen gefangen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde durch die Verbesserung der Jagdwaffen, die Entwicklung von Schroten und die Dressur von Vorstehhunden die Schießjagd verbreiteter und verdrängte im Laufe des 19. Jahrhunderts andere Formen der Jagd auf Niederwild, die man nun als nicht mehr waidgerecht ansah. Heute wird der Fasan daher hauptsächlich suchend und buschierend in Einzeljagd oder in Gesellschaftstreibjagden bejagt. Letztere werden in großem Umfang in Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn, England und auch Dänemark angeboten, wo es Güter gibt, die ganz auf Fasanenjagd ausgerichtet sind und vorwiegend davon leben. Hier sind Tagesstrecken von 500 bis 800 Vögeln durchaus nicht ungewöhnlich. Die Jagdzeit liegt im Herbst und im Winter. In Deutschland beginnt sie gemäß Bundesjagdzeitenverordnung am 1. Oktober und endet am 15. Januar, einzelne Bundesländer haben jedoch kürzere Jagdzeiten. Es werden vorwiegend Hähne bejagt, um ein Geschlechterverhältnis um 1:5 zu erhalten. Wenn Hennen geschossen werden, dann meist ältere Tiere. Hege und Aussetzung Wenn sich auch freilebende Populationen des Fasans recht gut in der Kulturlandschaft Europas und Nordamerikas halten, sind doch meist Hegemaßnahmen und Aussetzungen erforderlich, um den Bestand auf Dauer aufrechtzuerhalten. Fasanenhöfe, die die Aufzucht für gezielte Aussetzungen in großem Maßstab betrieben, sind seit dem ausgehenden Mittelalter belegt. Man unterscheidet zwischen Zuchtfasanerien, die in großen Ausmaßen und unter künstlichen Bedingungen Eier und Jungvögel produzieren, und Wildfasanerien, in denen unter teils erheblichem Aufwand Eier durch Hühner oder Puten oder in Brutmaschinen ausgebrütet und die Jungvögel in möglichst natürlicher Umgebung aufgezogen werden. Die ausgesetzten Fasanenbestände werden dann durch weitere Hegemaßnahmen wie Winterfütterung mit Getreide und anderer pflanzlicher Nahrung oder der Anlage von Wildäckern unterstützt. Letztere gewährleisten in der intensiv bewirtschafteten Kulturlandschaft ein insektizidfreies Nahrungsangebot für die Küken und bieten zudem Deckung und Brutmöglichkeiten. Als bedenklich gilt die Verfolgung und Bejagung natürlicher Beutegreifer zum Schutz des Fasans, die besonders in den 1960er-Jahren intensiv betrieben wurde und manchmal auch noch heute betrieben wird. Nutzung Der Fasan wird als delikates Wildgeflügel geschätzt, das zur Jagdsaison auf Märkten, aber auch ganzjährig in manchen Fleischereien und Feinkostgeschäften sowie tiefgefroren in Supermärkten angeboten wird. Nicht selten stammen die Vögel dann aus Intensivtierhaltung. Das magere, helle Fleisch frischtoter Fasane ähnelt geschmacklich dem Hühnerfleisch, erst wenn der Vogel einige Zeit abgehangen hat, entwickelt es den typischen, milden Wildgeschmack. Der Zeitraum des Abhängens variiert je nach Temperatur, erwünschtem Geschmack sowie der Weiterverarbeitung und liegt heute meist zwischen drei und sieben Tagen, früher bei bis zu 15 Tagen oder länger. Wird das Fleisch gebeizt, ist die Zeit entsprechend kürzer. Die Zubereitungsformen und Beilagen sind ebenso vielfältig wie bei anderem Geflügel. Auch die Eier finden bisweilen in der Küche Verwendung. Fasanenfedern waren zu allen Zeiten und in vielen Kulturen Bestandteil der Mode als Hutschmuck, Helmzier, als Accessoire an Trachten, Uniformen und Kostümen oder in Fächern und Wedeln. Belege Literatur Urs N. Glutz von Blotzheim, Kurt M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 5, Galliformes – Gruiformes. Aula-Verlag, Wiesbaden, 2. Auflage, 1994, ISBN 3-923527-00-4, S. 322–370. Heinz-Sigurd Raethel: Hühnervögel der Welt. Verlag J. Neumann-Neudamm GmbH & Co. KG, Melsungen 1988, ISBN 3-7888-0440-8. Alexander V. Solokha: Evolution of the Pheasant (Phasianus colchicus L.) in Middle Asia. In: Victor Fet/Khabibulla I. Atamuradov (Hrsg.): Biogeography and Ecology of Turkmenistan. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 1994, ISBN 0-7923-2738-1. Jochen Hölzinger: Die Vögel Baden-Württembergs. Bd. 2/2, Nicht-Singvögel: Tetraonidae (Rauhfußhühner) – Alcidae (Alken), Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 2002, ISBN 978-3-8001-3441-0. R. G. Bijlsma, D. Hill: Phasianus colchicus. In: W. J. M. Hagemeijer, M. J. Blair: The EBCC Atlas of European Breeding Birds – their distribution and abundance. T & A D Poyser, London 1997, ISBN 0-85661-091-7, S. 218–219. Christian Wilhelm Hünemörder: „Phasianus“ – Studien zur Kulturgeschichte des Fasans. Philosophische Fakultät; Rheinische Friedrich Wilhelm Univ., Bonn 1970 (Inhalt) Weblinks Fasan bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach Federn des Fasans Einzelnachweise Fasanenartige Federwild
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https://de.wikipedia.org/wiki/Claudius
Claudius
Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus (vor seinem Herrschaftsantritt Tiberius Claudius Nero Germanicus; * 1. August 10 v. Chr. in Lugdunum, heute Lyon; † 13. Oktober 54 n. Chr.) war der vierte römische Kaiser der julisch-claudischen Dynastie. Er regierte vom 24. Januar 41 n. Chr. bis zu seinem Tod im Jahr 54. Geboren wurde er in Lugdunum als Sohn des Nero Claudius Drusus und der Antonia Minor. Er war der erste römische Kaiser, der außerhalb Italiens geboren wurde. Claudius galt als aussichtsloser Kandidat auf die Nachfolge im Kaiseramt: Der Überlieferung zufolge litt er an physischen Gebrechen. Bevor ihn sein Neffe Caligula im Jahr 37 zum Konsul machte, wurde er von seiner Familie von fast allen öffentlichen Auftritten und Ämtern ausgeschlossen. Dies ersparte ihm wohl umgekehrt das Schicksal, das zahlreiche andere vornehme Römer ereilte, die den politischen Säuberungsaktionen während der Herrschaft des Tiberius und des Caligula zum Opfer fielen. Stattdessen konnte er sich historischen Studien zuwenden. Als letzter männlicher Erwachsener seiner Familie wurde Claudius nach Caligulas Ermordung überraschend dessen Nachfolger. Er war dabei der erste römische Kaiser, an dessen Erhebung das Militär wesentlichen Anteil hatte. Trotz seines Mangels an politischer Erfahrung erwies sich Claudius als fähiger Verwalter und entfaltete eine rege Bautätigkeit. In seine Herrschaftszeit fällt die Eroberung Britanniens. Kaiser Claudius interessierte sich besonders für die römische Rechtsprechung, beispielsweise führte er den Vorsitz in öffentlichen Prozessen und gab bis zu 20 Verordnungen am Tag heraus. Während seiner gesamten Regierungszeit fühlte er sich allerdings durch die Aristokratie bedroht. Zahlreiche Senatoren wurden aus unterschiedlichen Gründen hingerichtet, teils im Zusammenhang mit angeblichen Verschwörungen, teils aufgrund von Parteibildungen und Intrigen in der Umgebung des Kaisers. Die antiken Geschichtsschreiber und Biographen beschreiben Claudius vor seiner Zeit als Kaiser als einen verwahrlosten, kränklichen und lächerlichen Mann; als Kaiser charakterisierte man ihn als ignorant, schwächlich und böswillig. Nach seinem Tod wurde er von Seneca verspottet und verunglimpft. Die moderne Forschung kommt zu einem differenzierteren Urteil und würdigt Claudius auch als umsichtigen und fähigen Herrscher. Anfänge Persönlichkeit und Leiden Claudius litt an einer Lähmung, möglicherweise Folge eines Geburtstraumas, und einem auffälligen Maß an Unkontrolliertheit der Bewegungen sowie Stottern. Der Biograf Sueton, der allerdings kein Zeitgenosse war, beschreibt dabei sehr ausführlich die angeblichen körperlichen Leiden des Claudius: Seine Knie waren schwach, gaben unter ihm leicht nach, und sein Kopf zitterte. Er stammelte, und seine Reden waren konfus. Wenn er aufgeregt war, lief seine Nase und er sabberte. Allerdings bemerkte Sueton wiederum, dass er körperlich nicht missgebildet gewesen sei und es ihm nicht an Würde gefehlt habe, wenn er still stand oder saß. Der Stoiker Seneca, der von Claudius zeitweilig verbannt worden war, äußerte in seiner Apocolocyntosis („Verkürbissung“), die den Kaiser nach dessen Tod verhöhnte, dass Gestalt und Gang des Claudius nicht an ein Lebewesen erinnert hätten. Bei Verärgerung oder Stress verschlimmerten sich die Symptome offenbar; sie verbesserten sich jedoch bemerkenswerterweise nach seiner Thronbesteigung. Claudius selbst behauptete als Kaiser, dass er seine Leiden zuvor übertrieben habe, um sich selbst zu schützen. Die antiken Quellen beschreiben Claudius außerdem als einen großzügigen Mann, der spröde Witze machte, unkontrolliert lachte und manchmal demonstrativ mit dem einfachen Volk zu Mittag speiste. Andererseits wird er aber auch als blutrünstig und grausam dargestellt, da er sowohl von Gladiatorenkämpfen als auch von Hinrichtungen äußerst angetan gewesen sei. So ließ er beispielsweise angeblich in seiner Gegenwart foltern und schaute gern Hinrichtungen zu, die nach grässlichen archaischen Methoden vorgenommen wurden. Für seine Zornanfälle, die ihm durchaus bewusst waren, entschuldigte er sich öffentlich. Es ist unklar, wie viel von diesen Berichten der Tyrannentopik geschuldet ist, mit der die antiken Autoren den Kaiser schildern. Außerdem war Claudius angeblich überaus vertrauensselig und damit von seinen Frauen und Freigelassenen leicht manipulierbar. Andererseits wird er als paranoid, apathisch, dumm und leicht verwirrt beschrieben. Andere Quellen bezeugen jedoch, dass Claudius einerseits ein intelligenter und belesener Gelehrter war und andererseits ein gewissenhafter Verwalter, der Wert auf Sorgfalt und Gerechtigkeit legte. Sein Charakter ist demnach widersprüchlich und schwer zu bestimmen, weil die Darstellung der meisten erhaltenen literarischen Quellen offensichtlich feindselig verzerrt ist. Herkunft und Jugend Claudius wurde am 1. August 10 v. Chr., angeblich am Jahrestag der Weihung des örtlichen Augustus-Altars, als Tiberius Claudius Drusus in Lugdunum geboren. Seine Eltern waren Drusus und Antonia Minor. Claudius hatte mit Germanicus und Livilla zwei ältere Geschwister. Außerdem hatte Antonia noch zwei weitere Kinder, diese starben jedoch früh. Seine Großeltern mütterlicherseits waren Marcus Antonius und Octavia Minor, die Schwester des Kaisers Augustus. Seine Großeltern väterlicherseits waren Augustus’ dritte Ehefrau Livia Drusilla und Tiberius Claudius Nero. Während seiner Herrschaft ließ Claudius wiederholt das Gerücht streuen, dass sein Vater Drusus der uneheliche Sohn des Augustus war. Im Jahr 9 v. Chr. starb Drusus während eines Feldzuges im Inneren Germaniens unerwartet an den Folgen eines Sturzes vom Pferd. Claudius wurde von seiner Mutter aufgezogen, die nie wieder heiratete. Das Verhältnis zu seiner Familie verschlechterte sich, je offensichtlicher Claudius’ Leiden wurden. Antonia schilderte ihn als ein Ungeheuer, das die Natur begonnen, aber nicht vollendet habe. Sie scheint ihren Sohn für einige Jahre seiner Großmutter Livia übergeben zu haben. Livia war kaum freundlicher, denn sie sprach mit ihm wenig und übte Kritik nur in schriftlicher Form. Da man glaubte, dass sein Zustand an Faulheit und einem Mangel an Willensstärke liege, kam er schließlich unter die Obhut eines ehemaligen Aufsehers für Lasttierknechte, um diszipliniert zu werden. Nachdem er in dieser Weise seine Jugend verbracht hatte, nahmen die Symptome anscheinend ab, und seine Familie erkannte sein Interesse für Geschichte. Im Jahr 7 wurde Titus Livius zusammen mit Sulpicius Flavus an den Hof berufen, um Claudius in Geschichte zu unterrichten. Er verbrachte fortan viel Zeit mit Flavus und dem Philosophen Athenodoros Kananites. Nach einem Brief des Augustus war jener von der rhetorischen Gewandtheit des Claudius überrascht. Die Erwartungen an Claudius bezüglich seiner Zukunft stiegen. Nach einer Vermutung von Vincent Scramuzza war es jedoch ausgerechnet seine Arbeit als Nachwuchshistoriker, die seine frühe politische Karriere zerstört habe. Seine Arbeit an einem Geschichtswerk über die Römischen Bürgerkriege nach dem Tod Caesars brach er nach zwei Büchern ab, weil es politisch zu brisant war. Der Zeitpunkt für ein solches Geschichtswerk war wohl zu früh, denn es dürfte Augustus daran erinnert haben, dass Claudius der Nachkomme des Marcus Antonius war. Seine Mutter und seine Großmutter beendeten recht bald seine schriftstellerischen Ambitionen. Die Kaiserfamilie traute ihm nicht zu, an der Spitze der Gesellschaft zu stehen. Als Claudius sich später wieder seiner Historikertätigkeit widmete, überging er die Bürgerkriege und das zweite Triumvirat. Trotzdem blieb das Ansehen des Claudius beschädigt, und die Familie hielt ihn im Hintergrund. Als im Jahr 8 der Triumphbogen von Pavia errichtet wurde, um das Kaiserhaus zu ehren, wurde Claudius’ Name (jetzt Tiberius Claudius Nero Germanicus) nur am Rand eingeschrieben – hinter den verstorbenen Gaius und Lucius Caesar sowie den Kindern des Germanicus. In der Forschung wurde darüber spekuliert, dass die Inschrift Jahrzehnte später von Claudius selbst angebracht worden sein könnte. Als Augustus im Jahre 14 n. Chr. starb, appellierte Claudius als 23-Jähriger an seinen Onkel Tiberius, ihm Eintritt in den cursus honorum, die politische Laufbahn, zu gewähren. Der neue Kaiser Tiberius verlieh Claudius zwar die ornamenta consularia (konsularische Ehrungen), vereitelte jedoch einen Senatsbeschluss, der Claudius das Recht gewähren sollte, sein Votum unter den Consularen abzugeben. Da Tiberius ihm ebenso wie Augustus kein öffentliches Amt zugestand, gab Claudius die Hoffnung auf eine öffentliche Tätigkeit auf und verbrachte Tiberius’ übrige Regierungszeit auf seinen Landgütern bei Rom und in Campanien. Trotz der Verachtung der kaiserlichen Familie scheint Claudius sehr früh in der Öffentlichkeit respektiert worden zu sein. Nach dem Tod des Augustus wählten die Equites Claudius mehrmals zu ihrem Repräsentanten. Als sein Haus niederbrannte, forderte der Senat, es aus öffentlichen Ausgaben wieder aufbauen zu lassen. Es gab sogar die Forderung, Claudius zu erlauben, im Senat zu debattieren. Obwohl Tiberius dies ablehnte, änderte sich die öffentliche Einstellung zu Claudius nicht. Unmittelbar nach dem Tod von Tiberius’ Sohn Drusus wurde Claudius von bestimmten Senatsfraktionen als möglicher Erbe benannt, was verdeutlicht, dass Claudius politische Ambitionen hatte, obwohl er vom öffentlichen Leben ausgeschlossen war. Tatsächlich wurde Claudius jedoch in seinen politischen Einflussmöglichkeiten weiter zurückgestellt. Nach dem Tod des Tiberius bemerkte der neue Kaiser Caligula, dass sein Onkel Claudius politisch nützlich sein könnte. Er bestimmte ihn im Jahr 37 zu seinem Mitkonsul, um dabei an seinen verstorbenen Vater Germanicus zu erinnern. Trotzdem wurde Claudius auch von Caligula gedemütigt, der ihn verspottete, enorme finanzielle Summen von ihm forderte oder ihn vor dem Senat lächerlich machte. Der Prinzipat des Claudius Regierungsantritt Am 24. Januar 41 wurde Caligula im Rahmen einer umfassenden Verschwörung, in die der Prätorianer Cassius Chaerea und zahlreiche Senatoren verwickelt waren, umgebracht. Es ist nicht erwiesen, ob Claudius am Attentat beteiligt war, obwohl er vom Komplott gewusst haben musste, vor allem, weil er kurz zuvor den Ort des Verbrechens verlassen hatte. Nach der Ermordung Milonia Caesonias, der Frau Caligulas, und ihrer Tochter war es offensichtlich nötig, über die Verschwörung hinaus die ganze kaiserliche Familie auszulöschen. In dem Chaos im Anschluss an den Mord an Caligula floh Claudius zum Palast, um sein Leben zu retten. Nach der Überlieferung versteckte sich Claudius hinter einem Vorhang, er wurde aber vom Prätorianer Gratus entdeckt und schließlich zum Kaiser ausgerufen. Ein Teil der Wache könnte vorher geplant haben, Claudius als künftigen Kaiser zu erwählen, möglicherweise sogar mit seiner Zustimmung. Diese Prätorianer versicherten ihm, dass sie nicht eines der Bataillone seien, die Rache suchten. Claudius wurde in das Lager der Prätorianer gebracht und unter ihren Schutz gestellt. Er maß der Schutzhaft im Prätorianerlager große Bedeutung bei und zeigte dies auch einige Zeit später in einer Münzprägung, die an diesen Vorgang erinnerte. Der Senat trat zusammen und begann über die neue Regierung zu beraten, was schließlich zu einem Streit führte, wer der neue Princeps sein solle. Im Senat gab es gar den Vorschlag, die restlichen Mitglieder des Kaiserhauses zu beseitigen und die Republik wiederherzustellen. Als die Senatoren erfuhren, dass Claudius in Frage komme, forderten sie ihn auf, ihnen seine Zustimmung mitzuteilen, aber Claudius lehnte dies ab, da er um die Gefahren wusste, die eine Einwilligung mit sich bringen würde. Der jüdische Historiker Flavius Josephus berichtet, dass Claudius in seinen Tätigkeiten durch den jüdischen König Herodes Agrippa beeinflusst wurde. Obwohl eine frühere Darstellung des Josephus den Einfluss des Herodes Agrippa bei der Thronbesteigung des Claudius herunterspielt, ist es letztlich ungewiss, in welcher Weise Claudius bei der Thronbesteigung von Agrippa unterstützt wurde. Claudius wurde von den Prätorianern als Imperator akklamiert. Schließlich stimmte der Senat am 25. Januar seiner Machtübernahme zu. Eine darauffolgende Amnestie des Claudius, von der nur die unmittelbaren Mörder ausgenommen waren, schuf Voraussetzungen zum Abbau der Spannungen. Obwohl er nicht zuließ, dass der Senat die damnatio memoriae über Caligula verhängte, ließ er dennoch alle Statuen Caligulas beseitigen. Claudius erhielt mit der tribunicia potestas und dem imperium proconsulare unmittelbar nach Herrschaftsantritt die üblichen Rechte des Princeps. Claudius unternahm zahlreiche Schritte, um seine Herrschaft gegenüber potenziellen Usurpatoren zu legitimieren, indem er den meisten einen Platz in der julisch-claudischen Familie zuwies. Er übernahm den Namen „Caesar“ als Cognomen, der immer noch große Bedeutung in der Bevölkerung hatte. Ebenso wie seine beiden Vorgänger nahm er den Namen „Augustus“ an. Den Ehrenbeinamen „Germanicus“ behielt er, um seine Verbindungen zum beliebten Bruder zu verdeutlichen. In seiner Politik versuchte er seine Legitimität durch demonstrative Anknüpfung an Augustus zu untermauern. So divinisierte er gleich nach seinem Regierungsantritt die im Jahre 29 verstorbene Livia, um ihre Position als Frau des vergöttlichten Augustus hervorzuheben. Oft verwendete er die Bezeichnung filius Drusi („Sohn des Drusus“) in seinen Titeln, um das Volk an seinen legendären Vater zu erinnern. Claudius war der erste Princeps, der nicht vom Senat, sondern von der Prätorianergarde als Kaiser proklamiert wurde. Indem er jedem Mann der Garde ein Donativum von 15.000 Sesterzen versprach, war er auch der erste Kaiser, der sich durch Bestechung die Loyalität des Heeres sicherte. Da Tiberius und Augustus dem Heer in ihren Testamenten Geldgeschenke zugesagt hatten, wurden diese wohl auch nach dem Tod des Caligula erwartet, wenngleich die testamentarische Verfügung des Caligula dazu nicht bekannt ist. Claudius zeigte sich außerdem dankbar gegenüber den Prätorianern, indem er ihre Rolle bei der Kaisererhebung auf Münzen herausstellte. Verhältnis zum Senat Obwohl der Senat Claudius nach seiner Akklamation durch die Prätorianer zunächst zum Staatsfeind erklärt hatte, bemühte sich Claudius, durch Entgegenkommen eine Zusammenarbeit zu ermöglichen. So beteiligte er den Senat demonstrativ an Entscheidungen, schaffte die verhassten Majestätsprozesse ab und behandelte die Senatoren bewusst wie Standesgenossen. Ebenso versuchte er durch höfliche Umgangsformen mit dem Senat dieses Ziel zu erreichen; so saß er während der regulären Sitzungsperioden unter den Senatoren und sprach nur, wenn er an der Reihe war. Viele Senatoren wurden von Claudius mit den ornamenta triumphalia ausgezeichnet. Die zahlreichen Suffektkonsulate sollten das Verhältnis zwischen ihm und den Senat entspannen, hierzu gehört auch ein zweites Konsulat an besonders wichtige Senatoren. So wurde Lucius Vitellius, der mit Claudius im Jahr 47/48 die Zensur übernahm, sogar dreimal Konsul. Die römischen Provinzen Macedonia und Achaea wurden dem Senat zurückgegeben. Der Senat durfte außerdem das erste Mal seit Augustus wieder Münzen mit Bronzeprägungen emittieren lassen. Beim Ausschluss von Senatoren aus dem Senat war Claudius ebenso rücksichtsvoll wie Augustus, da er versuchte, die entlassenen Senatoren gleichzeitig durch geeignete Männer aus den Provinzen zu ersetzen. Eine 1528 in Lyon gefundene Bronzetafel enthält eine Rede des Claudius, in der er den Wunsch vorträgt, gallische Aristokraten in den Senat aufzunehmen. In dieser Rede – von Tacitus in einer bearbeiteten Version überliefert – äußert sich Claudius ehrfurchtsvoll, aber kritisch darüber, dass der Senat diese Provinzialen verachtete. Claudius erhöhte außerdem die Zahl der Patrizier, indem er als Reaktion auf ihre schwindende Anzahl in der adligen Gesellschaft weitere Familien hinzufügte. Hierin folgte er dem Vorbild von Lucius Iunius Brutus und Gaius Iulius Caesar. Trotz dieser Maßnahmen blieben viele Senatoren Claudius gegenüber feindlich eingestellt. Diese Feindschaft war derart nachhaltig, dass Claudius den Senat nie ohne Schutztruppe betrat und sich gezwungen sah, den Senat zu reduzieren, um ein effektives Arbeiten zu ermöglichen. Der Hass vieler Senatoren fand ihren Ausdruck in Senecas Apocolocyntosis. Indem Claudius die Macht zunehmend zentralisierte, drängte der Kaiser den Senat aus seiner Machtposition und förderte stattdessen seine gut organisierte Reichsverwaltung. Dementsprechend wurde die Verwaltung Ostias einem Prokurator übergeben, nachdem der Hafen von Ostia vollendet worden war. Die Finanzpolitik wurde überwiegend ritterlichen Prokuratoren oder Freigelassenen übertragen, die er dafür ehrte. So erhielt sein Freigelassener Pallas die ornamenta praetoria, eine exklusive Würdigung, die Senatoren vorbehalten war. Diese Politik führte zu weiteren Verstimmungen in der Oberschicht, die argwöhnte, dass die Freigelassenen den Kaiser beherrschten. Während der Herrschaft des Claudius gab es daher mehrere Putschversuche, in deren Folge zahlreiche Senatoren hingerichtet wurden. So wurde der Senator Gaius Appius Iunius Silanus unter unklaren Umständen zu Anfang der Herrschaft des Claudius hingerichtet. Kurz darauf kam es zu einer großen Rebellion der Senatoren unter der Leitung von Scribonianus, dem Statthalter von Dalmatien, der mit seinen zwei Legionen von Claudius abfiel. Der Aufstand brach allerdings nach wenigen Tagen zusammen, weil Scribonianus von seinen Truppen verlassen und auf der Flucht getötet wurde. Zahlreiche andere Senatoren wurden aus unterschiedlichen Gründen hingerichtet, manchmal in Zusammenhang mit Verschwörungen, manchmal wegen Intrigen und Kämpfen in der engeren Umgebung. Der Schwiegersohn des Claudius, Gnaeus Pompeius Magnus, wurde für seine Teilnahme an einer Verschwörung zusammen mit seinem Vater Crassus Frugi exekutiert. In ein anderes Komplott waren die Konsularen Lusius Saturninus, Cornelius Lupus und Pompeius Pedo verwickelt. Im Jahr 46 wurden Asinius Gallus, der Enkel des Gaius Asinius Pollio, und Statilius Corvinus wegen Verrats in die Verbannung geschickt, wobei zahlreiche Freigelassene des Claudius an der Intrige beteiligt waren. Der Konsul Valerius Asiaticus wurde 47 beschuldigt, Verbindungen zu gallischen Potentaten aufgenommen zu haben, um gegen Claudius zu putschen. Im Schnellverfahren wurde er durch Publius Suillius Rufus vor Claudius angeklagt und verurteilt. Claudius gestand ihm die Wahl der Todesart zu, worauf Asiaticus sich die Pulsadern aufschneiden ließ. Die Anschuldigungen wurden von Claudius’ Ehefrau Messalina gestreut, da er nicht ihr Liebhaber werden wollte. Asiaticus war wohl an Caligulas Ermordung beteiligt und hegte vielleicht selbst Ambitionen auf den Kaiserthron. Claudius selbst könnte sich von ihm daher in seiner Macht bedroht gefühlt haben, so dass er ihn bei einer günstigen Gelegenheit beseitigen lassen wollte. In seiner Rede über die Gallier spricht Claudius ein Jahr später mit größter Verachtung über Asiaticus. Die meisten dieser Verschwörungen erhoben sich, bevor Claudius Zensor wurde. Da er durch das Zensorenamt Senatoren aus dem Senat ausschließen konnte, dürfte er somit veranlasst gewesen sein, sich nun die senatorischen Parteinahmen genauer anzusehen. Suetonius berichtet, dass insgesamt 35 Senatoren und über 300 Ritter für ihr Handeln während der Regierung des Claudius hingerichtet worden seien. Die Ritter stellten im Verlauf des Prinzipats auch den größten Teil der Opfer. Die vielen Verschwörungen belasteten das Verhältnis zwischen Senat und Kaiser zusätzlich. Rechtspolitik In seiner Regierungszeit machte Claudius die Gerichtsbarkeit zu einer der Hauptaufgaben des Prinzipats. Viele Rechtsangelegenheiten beurteilte er in seiner Amtszeit selbst. Als Richter soll Claudius unvorhersehbare und willkürliche, manchmal auch lächerliche Urteile gefällt haben. Zudem war er leicht beeinflussbar. Die Gerichtsferien verlegte er in den Winter. Claudius verabschiedete auch ein Gesetz, das die Kläger aufforderte, sich in der Stadt Rom aufzuhalten, während ihre Fälle in Bearbeitung waren, wozu vorher nur die Angeklagten verpflichtet waren. Diese Maßnahmen sollten dazu beitragen, die Prozessdetails besser klären zu können. Das Mindestalter für Geschworene wurde auf 25 angehoben, um zu gewährleisten, dass die Geschworenen möglichst erfahren waren. Im Jahr 53 wurde in den senatorischen Provinzen die Zivilgerichtsbarkeit in Steuerangelegenheiten von den Prokonsuln auf die kaiserlichen Prokuratoren übertragen. Claudius gab zahlreiche Verordnungen heraus, die von medizinischen Ratschlägen bis zu moralischen Urteilen reichten. Bekannt sind die beiden Beispiele: „Eibensaft ist ein höchst wirksames Mittel gegen Schlangenbisse“ und „In diesem Jahr ist die Weinernte besonders reichlich, deshalb muss jedermann seine Weinkrüge gut auspichen.“ Berühmt ist sein Erlass über den Umgang mit erkrankten Sklaven. Die Sklavenhalter setzten kränkelnde Sklaven am Tempel des Aesculapius zum Sterben aus, allerdings wollten sie die Sklaven zurückhaben, wenn diese überlebten. Claudius verfügte, dass Sklaven, die sich wieder erholten, frei seien. Außerdem wurden Sklavenhalter, die Sklaven lieber töteten, als die Fürsorge für sie zu übernehmen, als Mörder verurteilt. Bürgerrechtspolitik Ein Untersuchungsbeamter des Claudius entdeckte, dass viele angeblich alteingesessene römische Bürger mit Wohnsitz in der heutigen Stadt Trento in Wirklichkeit das Bürgerrecht gar nicht besaßen. Der Kaiser ließ daraufhin verlauten, dass sie künftig als Inhaber des Bürgerrechts gelten sollten, da eine Annullierung ihres Bürgerrechtsstatus größere Probleme verursacht hätte. Allerdings bestrafte Claudius in Einzelfällen die widerrechtliche Anmaßung des Bürgerrechts schwer und sprach darauf die Todesstrafe aus. Auch wurde jeder Freigelassene, der überführt wurde, Angehörige des Ritterstandes in Leibeigenschaft zu halten, zur Bestrafung wieder in die Sklaverei verkauft. Im Jahr 48 führte Claudius einen Zensus durch, bei dem 5.984.072 römische Bürger gezählt wurden, was einen Anstieg um eine Million gegenüber dem letzten von Augustus durchgeführten Zensus bedeutete. Diese erhöhte Bürgerzahl lässt sich daraus erklären, dass mehrere römische Kolonien mit Neubürgern gegründet wurden und die Verleihung des römischen Bürgerrechts an Provinziale intensiv gefördert wurde. Besonders die Gallier, Spanier, Griechen und auch die Britannier wurden mit dem römischen Bürgerrecht bedacht. Die zeitgenössische Kritik äußerte, dass Claudius wahllos und in gewaltigem Ausmaß Provinzialen das Bürgerrecht verliehen habe. Claudius berief sich bei Verleihungen zwar auf Augustus und Tiberius, nahm sie aber weit häufiger als seine Vorgänger vor. Im Westen wie im Osten trugen zahlreiche Personen den Namen Ti. Claudius. Ebenso scheint sich mit Claudius die Vergabe des Bürgerrechts an Auxiliarsoldaten nach 25 Jahren Dienst endgültig durchgesetzt zu haben, da die ersten Militärdiplome aus dem Jahr 52 stammen, in denen die Verleihung der civitas Romana dokumentiert wurde. Bautätigkeiten In seine Herrschaftszeit fielen zahlreiche Hungersnöte im Reich, die durch einen Mangel an Weizen ausgelöst wurden. Claudius versuchte die landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen und die für die Lebensmittelversorgung zuständigen Institutionen zu verbessern. Er entfaltete eine rege öffentliche Bautätigkeit, sowohl in der Hauptstadt als auch in den Provinzen. So besorgte er die Fertigstellung zweier Aquädukte: der von Caligula begonnenen Aqua Claudia und des Anio Novus. Beide wurden 52 n. Chr. in Rom vollendet; sie trafen sich an der Porta Maggiore. Außerdem stellte Claudius mit der Aqua Virgo einen dritten Aquädukt wieder her. Besondere Aufmerksamkeit widmete der Kaiser den Verkehrswegen. In ganz Italien und den Provinzen ließ er Straßen und Kanäle bauen. In Italien wurde die Verbindung nach Raetia ausgebaut, während zur Adria hin die via Claudia angelegt wurde. In Rom baute er einen schiffbaren Kanal, der den Tiber mit seinem neuen Hafen Portus Romae verbinden sollte. Diese Hafenstadt wurde in einem Halbkreis mit zwei Molen und einem Leuchtturm an der Öffnung des Hafenbeckens konstruiert. Die künstliche Anlage sollte die Überschwemmungen in Rom eindämmen, aber auch der besseren Getreideversorgung dienen. Zusätzlich sollte der neue Hafen den Getreidehändlern ermöglichen, auch außerhalb der Schifffahrtssaison nach Ägypten zu reisen. Neben dem Hafenbau sollte eine verlässlichere Getreideversorgung auch durch eine an Großhändler und Reeder gerichtete Anreizpolitik erreicht werden. Der Beginn des Hafenbaus wird gewöhnlich von der Forschung in das Jahr 42 datiert. Die Maßnahmen für eine bessere Getreideversorgung werden nicht mehr als Reaktion auf die Volksunruhen gegen den Kaiser in das Jahr 51 eingeordnet, sondern nach neuerer Sichtweise in einem Zusammenhang mit dem Hafenprojekt datiert. Durch die Datierung zu Beginn seiner Regierungszeit erscheint Claudius als politisch um- und weitsichtiger Herrscher. Den Seeleuten garantierte Claudius besondere Privilegien, wie das Bürgerrecht und die Befreiung von der Lex Papia Poppaea, einem Gesetz, das die Heirat regulierte. Außerdem schaffte Claudius die von Caligula eingeführte Nahrungsmittelsteuer ab und verringerte die Steuern für Gemeinden, die von Dürre oder Hunger betroffen waren. In Italien versuchte er die Gesamtfläche des anbaufähigen Landes zu erhöhen, unter anderem durch die Trockenlegung des Fuciner Sees – ein Projekt, das bereits Gaius Iulius Caesar in Angriff genommen hatte. Dazu legten 30.000 Arbeiter in elf Jahren andauernder Tätigkeit einen Entwässerungskanal an, der den Monte Salviano mittels eines Tunnels unterquerte. Da Tunnel und Kanal nicht hinreichend groß konzipiert waren, um die anfallenden Wassermengen gänzlich abzuführen, war der Versuch, den größten Binnensee Italiens in Ackerland umzuwandeln, nur zu einem geringen Teil erfolgreich. Auch die unter Trajan sowie Hadrian und im Mittelalter von Kaiser Friedrich II. durchgeführten Erweiterungen von Kanal- und Tunnelsystem führten nicht zur Trockenlegung. Diese gelang erst Alessandro Torlonia im 19. Jahrhundert, dessen Tunnelanlage dreimal so groß wie von Claudius geplant war. Die Bauten von Staatsdenkmälern unter Claudius weisen im Vergleich zu seinen Vorgängern zwei Änderungen auf. Zum einen finden sich an verschiedenen Orten sehr viel aufwändigere Denkmäler mit reichem Reliefschmuck als früher und zum anderen erscheint der Kaiser besonders häufig mit Augustus verbunden. Da es für Claudius wichtig war, sich dynastisch zu legitimieren, stellte er sich bewusst in die Nachfolge des Augustus. Religionspolitik In seiner Religionspolitik orientierte Claudius sich an Augustus. Im Gegensatz zur Selbstvergötterung seines Vorgängers Caligula war Claudius maßvoll und umgänglich in seinem Auftreten und lehnte alle übertriebenen Huldigungen ab. Für sich selbst beanspruchte Claudius lediglich die üblichen Amtstitel. Auch bei der Förderung von Kulten sah er Augustus als sein Vorbild an und teilte mit ihm dementsprechend die Vorliebe für Altrömisches. Ähnlich wie Augustus lehnte Claudius es zwar grundsätzlich ab, als Gott verehrt zu werden, erlaubte aber genauso viele Ausnahmen, wie Augustus und Tiberius dies getan hatten. In seinem Brief an die Alexandriner kurz nach seiner Thronbesteigung vom 10. November 41 verweigerte er eine Anfrage der alexandrinischen Griechen, seiner Göttlichkeit einen Tempel zu widmen, da er der Auffassung war, dass nur Götter neue Götter auswählen könnten. Damit rückte er von der Selbstvergötterung Caligulas ab, die zu massiven Konflikten zwischen Juden und Griechen geführt hatte. Auch einige alte Feste wurden von Claudius wieder eingeführt, während diejenigen religiösen Feiern, die Caligula hinzugefügt hatte, aufgehoben und stattdessen alte Bräuche und Sprachen wieder reaktiviert wurden. Claudius ließ die Säkularspiele im Jahre 47 zum 800. Geburtstag des Bestehens der Stadt Rom abhalten – nur 64 Jahre, nachdem sie zum letzten Mal stattgefunden hatten und zwar mit der Begründung, dass Augustus seine Säkularfeier vorzeitig veranstaltet habe und ohne den sakralrechtlich festgelegten Zeitpunkt abzuwarten. Im Jahr 52 ließ Claudius auf dem Fuciner See eine Naumachie veranstalten, die als die größte Inszenierung einer Seeschlacht in der Geschichte gilt. Claudius war wegen der Ausbreitung orientalischer Mysterienreligionen innerhalb der Stadt Rom beunruhigt und versuchte sie durch römische Kulte zu ersetzen. So förderte er die Mysterien von Eleusis, die während der römischen Republik abgehalten worden waren. Seine konservative Religionspolitik zeigte sich auch an der Vertreibung fremder Astrologen, wobei er als Ersatz in Gestalt der Haruspices alte römische Wahrsager rehabilitierte. Besonders energisch ging er mit einem Verbot gegen das Druidentum vor. Über die Gründe für dessen Unterdrückung kann bis heute nur spekuliert werden. Proselytismus bekämpfte Claudius bei jeder Religion, auch in Gegenden, wo er den Urbewohnern erlaubte, frei zu beten. Die Quellen berichten von verschiedenen Maßnahmen des Claudius gegenüber den in Rom lebenden Juden: Laut Cassius Dio hatte ihre Anzahl zu Beginn der Amtszeit des Claudius (41) so sehr zugenommen, dass sie nicht ohne Tumult hätten ausgewiesen werden können. Daher habe Claudius sie – im Gegensatz zur Ausweisung der Juden unter Tiberius im Jahr 19 – nicht vertrieben und ihnen ihre Lebensweise gelassen, aber ihre Versammlungen verboten. Laut Sueton vertrieb Claudius die Juden aus Rom, die auf Chrestus’ Anstiften beständig Unruhe verursacht hätten. Diese Maßnahme fand laut dem christlichen Geschichtsschreiber Orosius (Anfang 5. Jahrhundert), der sich auf Flavius Josephus beruft, im neunten Regierungsjahr des Claudius statt und wird daher meist in das Jahr 49 datiert. „Chrestus“ („der Nützliche“) war ein geläufiger Sklavenname, Sueton bezog sich hier jedoch wahrscheinlich unwissentlich auf einen Konflikt unter Juden in Rom um den Glauben von Judenchristen an Jesus Christus. Weil die römischen Herrscher damals Juden und Christen noch nicht unterscheiden und ihren Konflikt nicht befrieden konnten, ließ Claudius sie nun gemeinsam vertreiben. Die Aufstände in Alexandrien zwischen Juden und Griechen in seiner frühen Regierungszeit versuchte er durch einen Befriedungsversuch zu beschwichtigen, indem er einerseits der jüdischen Bevölkerung das alexandrinische Bürgerrecht verweigerte, sie andererseits jedoch vor den Übergriffen der Alexandriner schützte und beide Seiten zum Gewaltverzicht aufrief. Ferner bestätigte er Privilegien für alle jüdischen Gemeinden. Nach Josephus versicherte er den Juden im ganzen römischen Reich dieselben Rechte und Freiheit wie allen anderen Juden im Reich. Expansion und Provinzialpolitik Schon zu Beginn der Herrschaft des Claudius wurde das römische Reich erstmals seit der Regentschaft des Augustus wieder ausgedehnt. Thrakien, Mauretanien, Noricum, Pamphylien, Lykien wurden in das römische Reich eingegliedert und gelangten unter kaiserliche Verwaltung. Claudius gab Judäa mit Herodes Agrippa I. wieder einen König; nach dessen Tod wurde das Land aber im Jahr 44 zur Provinz gemacht und unter einen Prokurator gestellt. Obwohl der römische Einfluss an der Ostgrenze geschwächt wurde, kam es in Armenien und Parthien zu keinerlei militärischen Aktivitäten. Die Absetzung des Königs des Bosporanischen Reiches, Mithridates, brachte die ganze Region in Unruhe, bis Mithridates selbst im Jahre 49 entscheidend geschlagen wurde. Die Einsetzung des parthischen Prinzen Meherdates, der als Geisel in Rom gelebt hatte, erwies sich als Fehlschlag. Auch in Germanien blieben militärische Aktivitäten aus. So erlaubte Claudius dem Befehlshaber des niedergermanischen Heeres, Domitius Corbulo, weder auf der rechten Rheinseite gegen Germanenstämme militärisch vorzugehen noch dort Truppen zu stationieren. Auch bei den Kämpfen um die Herrschaft im Suebenreich sah Claudius von einer Intervention ab. Für die militärischen Erfolge während seiner Regierungszeit nahm der unsoldatische Claudius insgesamt 27 Imperatorenakklamationen an, wobei diese Zahl nur noch von dem römischen Kaiser Constantin II. überschritten wurde. Eroberung Britanniens Die bedeutendste Expansion des römischen Reiches zu dieser Zeit war jedoch die Eroberung Britanniens. Schon unter Caligula wurde eine Invasion erwartet, sie bedurfte jedoch längerer Vorbereitung, weil dafür zahlreiche Einheiten, wie Legionen und etwa 20.000 Mann starke Hilfstruppen, zusammengezogen werden mussten, ohne dadurch andere Regionen zu schwächen. Der aktuelle Anlass waren Unruhen im Süden der Insel, wo die Catuvellauni mehrere Nachbarstämme attackierten und den Atrebaten-Fürsten Verica veranlassten, bei den Römern Schutz zu suchen. Als andere Ursache gilt das Verlangen des Claudius, durch eine außergewöhnliche militärische Aktion sein Ansehen beim römischen Heer zu steigern. Neben diesen Gründen könnten auch irrige Vorstellungen von Topographie, Bodenschätzen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Insel eine Rolle gespielt haben. Außerdem war Britannien ein sicheres Rückzugsgebiet für gallische Rebellen. Im Jahr 43 wurde Aulus Plautius von Claudius mit vier römischen Legionen nach Britannien („Britannia“) geschickt. Claudius selbst brachte nach der Beendigung der Anfangsoffensive Verstärkung und Elefanten mit. Nach 16 Tagen auf der Insel und der Eroberung von Camulodunum verließ Claudius die neue Provinz. Der Senat bewilligte ihm dafür einen Triumphzug – eine Ehrung, die inzwischen de facto nur noch der kaiserlichen Familie zustand. Den Siegertitel „Britannicus“ lehnte Claudius für sich ab und gab ihn seinem Sohn. Als der britische König Caratacus nach langjährigem Widerstand im Jahre 51 gefangen genommen wurde, ließ Claudius Milde walten: Caratacus verbrachte sein weiteres Leben auf einem Landgut, das ihm vom Römischen Reich zur Verfügung gestellt wurde – ein ungewöhnliches Ende für einen feindlichen Heerführer, aber sinnvoll, um die Briten zu befrieden. Unter Claudius erlebte Gallien eine blühende Entwicklung der Wirtschaft; der Straßen- und Städtebau spielte eine wichtige Rolle für den Handel. Ausschlaggebend hierfür war der britannische Feldzug, da Gallien Ausgangspunkt für den Feldzug war und Hilfstruppen bereitstellte. Der Kaiserhof Freigelassene Claudius war der erste Kaiser, der eine eigene Verwaltung organisierte. Obwohl er keine gesetzlichen oder formalen Innovationen einführte, wurde der Kaiserhof erstmals in der Praxis das exekutive Zentrum der Verwaltung. Die persönlichen Angelegenheiten vertraute der Kaiser weder den Senatoren noch den Rittern an, sondern den Freigelassenen, die Staatsbeamte geworden waren. Dadurch konnte der Kaiser seine Unabhängigkeit von beiden Gruppierungen, dem Senat und der Ritterschaft, absichern und seine Macht in den Provinzen ausweiten. Das Sekretariat wurde in Büros eingeteilt, die unter der Führung eines Freigelassenen standen. Narcissus war als Sekretär zuständig für den Briefverkehr. Pallas erhielt das Amt des Sekretärs für Finanzen (‚a rationibus'). Callistus wurde Sekretär für die Justiz. Es gab ein viertes Büro für verschiedene Angelegenheiten, das Polybius führte, bis er wegen Verrats hingerichtet wurde. Dass Narcissus anstelle des Claudius sich vor der Eroberung von Britannien an die Truppen wendete, zeigt, dass die Freigelassenen für den Kaiser wichtige Aufgaben übernehmen konnten. Die Senatoren waren entsetzt, dass solch wichtige Positionen, die sie früher innehatten, sich nun in den Händen von Freigelassenen befanden. Durch ihren Einfluss auf die Finanzen, die Briefe und die Gesetze war es anscheinend nicht sehr schwierig, den Kaiser zu beeinflussen. Daher erhoben die antiken Historiker den Vorwurf, Claudius sei zu stark von seinen Freigelassenen abhängig. Andererseits sollen sie sich loyal gegenüber Claudius verhalten haben. Er war in gleicher Weise verständnisvoll zu den Freigelassenen und gab ihnen das Vertrauen in der Politik, wo er ihren Rat brauchte. Wenn sie jedoch verräterische Neigungen zeigten, wurden sie von Claudius bestraft, wie es das Beispiel von Polybius zeigt. Unabhängig vom Umfang ihrer politischen Stärke konnten die Freigelassen großen Reichtum anhäufen. Plinius der Ältere bemerkt, dass einige von ihnen reicher waren als Crassus, der zur Zeit der Römischen Republik der reichste Mann war. Frauen Edward Gibbon schreibt, dass Claudius’ Liebesleben ungewöhnlich für einen höherklassigen Römer war, da er weder der Päderastie verfallen noch homosexuell war. Gibbons Ansicht basierte auf der Aussage von Sueton, nach der Claudius eine große Leidenschaft für Frauen hatte, aber kein Interesse für Männer hegte. Sueton und die anderen Historiker nutzten sein Liebesleben gegen ihn. Sie beschuldigten ihn, dass seine Frauen wesentlichen Einfluss auf ihn ausübten. Claudius war als junger Mann zweimal verlobt, in beiden Fällen kam eine Ehe nicht zustande. Die erste Verlobung mit seiner 12-jährigen Cousine Aemilia Lepida wurde aufgelöst, als ihre Mutter 8 n. Chr. bei Augustus in Ungnade fiel. Die zweite Verlobung mit Livia Medullina endete mit dem plötzlichen Tod der Braut kurz vor der Hochzeit. Verheiratet war Claudius viermal. Seine erste Ehe schloss er mit Plautia Urgulanilla, einer Enkelin von Livias Vertrauter Urgulania. Während ihrer Verbindung wurde Claudius Drusus geboren. Kurz nach seiner Verlobung mit der Tochter des Seianus starb Drusus schon im Kindesalter an Erstickung. Später trennte sich Claudius von Urgulanilla wegen Ehebruchs und Verdachts der Ermordung ihrer Schwägerin Apronia. Als Urgulanilla nach der Scheidung eine Tochter namens Claudia gebar, lehnte Claudius das Kind ab, da der Vater einer der Freigelassenen war. Wahrscheinlich im Jahr 28 heiratete Claudius mit Aelia Paetina eine Verwandte des Seianus. Mit ihr hatte er die Tochter Claudia Antonia. Im Jahr 31 trennte er sich von ihr, vermutlich im Zusammenhang mit dem Sturz des Seianus. Noch vor seinem Herrschaftsantritt (etwa 39/40 n. Chr.) heiratete er die 14-jährige Valeria Messalina. Sie gebar Claudius zwei Kinder: im Jahre 40 die Tochter Claudia Octavia und kurz nach Claudius’ Herrschaftsantritt im Jahre 41 den Sohn Tiberius Claudius Germanicus, der als Britannicus bekannt wurde. Die antiken Quellen beschreiben Messalina als Nymphomanin, die Claudius ständig untreu war. Angeblich versuchte Messalina sogar mit einer Prostituierten zu konkurrieren und wollte seine Politik für ihre Zwecke ausnutzen, um Reichtum anzuhäufen. Im Jahr 48 heiratete sie in einer öffentlichen Zeremonie ihren Liebhaber Gaius Silius, während Claudius in Ostia war. Die Quellen sind in sich widersprüchlich darüber, ob sie vom Kaiser geschieden worden war oder nicht und ob sie die Absicht hatte, sich des Thrones zu bemächtigen. Der Claudius-Biograph Vincent Scramuzza meint, Silius habe Messalina überzeugt, dass Claudius zum Scheitern verurteilt sei und dass die Verbindung ihre einzige Hoffnung sei, ihre Position zu halten und ihre Kinder zu schützen, denn Agrippinas Bestrebungen, ihren Sohn Lucius Domitius Ahenobarbus (den späteren Nero), den einzigen Enkel des Germanicus, auf den Thron zu haben, seien schon zu diesem Zeitpunkt zu erkennen gewesen. Nach Tacitus könnte Claudius durch seine fortwährende Tätigkeit als Zensor („Sittenwächter“) davon abgehalten worden sein, die Affäre öffentlich zu rügen. Silius und Messalina und die meisten Personen aus ihrem Bekanntenkreis ließ Claudius 48 hinrichten. Claudius gab den Prätorianern das Versprechen, dass sie ihn umbringen dürften, wenn er jemals wieder heiraten würde. Trotz dieser Erklärung heiratete Claudius erneut. Nachdem er kurz überlegt hatte, seine zweite Frau noch einmal zu ehelichen oder die kinderlose Lollia Paulina, die Witwe seines Vorgängers zu heiraten, fiel die Wahl auf Agrippina die Jüngere, die aufgrund ihrer weiblichen Reize Claudius für sich gewann. Wahrscheinlich war es aber auch eine Heirat aus politischen Gründen. Der Putsch des Silius machte durchaus die schwache Position des Claudius deutlich. Seine Position wurde auch dadurch labiler, dass Claudius keinen erwachsenen Erben hatte, denn Britannicus war noch ein Knabe. Agrippina war die Urenkelin des Augustus und brachte mit ihrem elfjährigen Sohn einen weiteren Kaisernachfolger mit in die Ehe. Dieser war einer der letzten männlichen Nachkommen der kaiserlichen Familie. Da Agrippina Claudius’ Nichte war, wurden durch Senatsbeschluss generell Verbindungen zwischen Onkel und Nichte nicht mehr als Inzest angesehen. Vincent Scramuzza argumentiert, dass der Senat die Ehe durchsetzte, um den Streit zwischen Juliern und Claudiern zu beenden. Der Streit ging auf die Aktionen Agrippina der Älteren gegen Tiberius zurück, die letztgenannten für den Tod des Germanicus verantwortlich machte. Agrippina bekam Ehrenrechte und faktische Macht zuerkannt, wie keine Frau eines Princeps zuvor. So erhielt sie den Namen Augusta, und ihr Porträt erschien auf römischen Reichsmünzen. Von Anfang an bereitete Agrippina zielstrebig die Thronfolge ihres Sohnes vor. Der Philosoph Seneca wurde aus diesem Anlass aus seinem Exil auf Korsika zurückgerufen und zu Neros Erzieher ernannt. Am 25. Februar 50 wurde Domitius von Claudius adoptiert und hieß fortan Nero Claudius Caesar Drusus Germanicus. 53 wurde Nero mit Claudius’ Tochter Octavia verheiratet. Durch die Zuerkennung politischer Rechte wurde er deutlich als Nachfolger hervorgehoben. Dieses Verhalten hatte Tradition in der römischen Monarchie. So hatte Tiberius seinen Großneffen Caligula und seinen Enkel Tiberius Gemellus als Nachfolger herausgestellt. Damit wurde die aus der Zeit der Republik stammende Tradition fortgeführt, einen Erwachsenen oder Heranwachsenden zu adoptieren, wenn kein natürlicher Erbe vorhanden war. Es wurde vermutet, dass Claudius außerdem einen seiner Schwiegersöhne adoptierte, um seine eigene Herrschaft zu schützen, denn andernfalls hätten mögliche Usurpatoren versuchen können, die Herrschaft an sich zu reißen. Gelehrtentätigkeit Claudius war die meiste Zeit seines Lebens schriftstellerisch tätig. Arnaldo Momigliano erläutert, dass es während der Regentschaft des Tiberius, die den Höhepunkt der literarischen Tätigkeit des Claudius darstellte, politisch unklug war, über das republikanische Rom zu sprechen. Jüngere Autoren neigten eher dazu, die neue Ordnung zu beschreiben oder über unklare altertümliche Themen zu schreiben. Claudius war einer der wenigen Gelehrten, die beides abdeckten. Neben der Geschichte über die Herrschaft des Augustus in insgesamt 43 Büchern, die vor allem von Seiten seiner Mutter und Großmutter häufig zu Anfeindungen führte, waren seine Hauptarbeiten 20 Bücher über die Geschichte der Etrusker und acht Bücher über die Geschichte Karthagos sowie eine Abhandlung über das Würfelspielen, das er sehr liebte. Obwohl er die Behandlung der Kaiserzeit generell mied, verfasste er eine von großer Belesenheit zeugende Verteidigungsschrift für Cicero bezüglich der Strafen gegen Asinius Gallus. In der modernen Forschung gibt es zahlreiche Vermutungen, warum Claudius sich gerade diese Themen ausgesucht hat. Momigliano meint, dass das Interesse an Karthago gekoppelt sei an die Erinnerung der großen Zeit Roms. Barbara Levick sieht in Claudius einen Außenseiter, der deshalb gerne Außenseiter-Themen wählte, als Form des Eskapismus durch die Beschäftigung mit fernen und überdies romfeindlichen Völkern. Dabei gilt Claudius als der erste, der eine speziell karthagische Landesgeschichte verfasst hat. Neben seinen schriftstellerischen Tätigkeiten plante er eine Reform des Lateinischen Alphabets durch Hinzufügung dreier neuer Buchstaben. Der erste – Ɔ (antisigma) – entsprach einem gespiegelten lunaren Sigma und stand sehr wahrscheinlich für den Lautwert des griechischen Psi. Der zweite – Ⅎ (digamma inversum) – war dem archaischen griechischen Digamma nachempfunden, jedoch gedreht; er sollte zur Kennzeichnung des Lautes im Gegensatz zu und (durch den Buchstaben V) dienen. Der dritte – Ⱶ – ähnelte einem halben H und diente für den Laut zwischen und , analog zum griechischen Ypsilon. Die Reform führte er während seiner Zensorschaft ein, doch sie konnte sich nicht durchsetzen. Da das klassische Latein ohne Wortabstand geschrieben wurde, versuchte er, die alte Sitte des Setzens von Punkten zwischen den Wörtern wieder einzuführen. Schließlich verfasste er noch eine achtbändige Autobiographie, die von Sueton als „unpassend, aber stilvoll“ bezeichnet wurde. Keines dieser Werke ist erhalten geblieben. Der Verlust der Erkenntnisse, die die Werke des Claudius enthalten haben müssen, wird zu den schwersten Verlusten in der antiken Geschichtsschreibung gezählt. Die Autobiographie des Claudius wird von Sueton einmal zitiert, er dürfte sie häufig als Quelle herangezogen haben. Plinius der Ältere, der ihn öfters zitiert, reiht ihn unter die bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit ein. Tod Mit Ausnahme des Josephus, der zeitlich nächsten Quelle, der von einem bloßen Gerücht spricht, stellen alle Schriftsteller die Ermordung des Claudius durch ein vergiftetes Pilzgericht als gewiss hin, wobei Tacitus allerdings auffälligerweise nicht selbst die Verantwortung für diese Version übernimmt, sondern sich auf ungenannte „Geschichtsschreiber jener Zeit“ beruft. Fest steht: Claudius starb in den frühen Stunden des 13. Oktober 54. Allerdings unterscheiden sich die Darstellungen über den konkreten Vorgang sehr stark. Einerseits wird überliefert, dass Claudius’ Vorkoster, der Eunuch Halotus, ihm das Gift unter das Essen habe mischen lassen, oder dass die Schuld bei Gaius Stertinius Xenophon, seinem Leibarzt, zu suchen sei. Dieser soll von Agrippina bestochen worden sein und den Kaiser daraufhin mit einer Pfauenfeder, an deren Spitze sich Gift befand, getötet haben. Möglicherweise war, so Tacitus, die berüchtigte Giftmischerin Lucusta an der Vergiftung des Claudius beteiligt. Einige behaupten, dass er an einer Vergiftung durch eine einzige Dosis starb, während andere wiederum erläutern, Claudius habe die vergiftete Speise erbrochen, und man habe ihm nochmals Gift zugeführt. Der Überlieferung zufolge soll Claudius aufgrund der Vergiftung auch Durchfallsymptome gehabt haben. Seneca verfasste mit der Apocolocyntosis eine Satire auf den Tod des Kaisers Claudius, worin er ihm als Letzte Worte den Ausspruch: vae me, puto, concacavi me! („Oh weh, ich glaube, ich habe mich beschissen!“) in den Mund legt, was als Anspielung auf die erwähnten Durchfallsymptome zu verstehen ist. Ungeklärte Todesfälle von Herrschern zogen fast immer unbestätigte Mordgerüchte nach sich. Im Falle des Claudius weisen die meisten Traditionen die Gemeinsamkeit auf, dass seine vierte und letzte Ehefrau Agrippina beschuldigt wird, die Vergiftung im Namen Neros angestiftet zu haben. Agrippina und Claudius bekämpften sich laut diesen Quellen heimlich in den letzten Monaten vor dessen Tod. Claudius begann angeblich schon, die Ehe mit Agrippina sogar öffentlich zu bereuen und somit den heranwachsenden Britannicus, welcher noch der Ehe mit Messalina entstammte, hinsichtlich der Nachfolgefrage verstärkt zu berücksichtigen. Claudius’ letzter Wille soll sich kurz vor seinem Tod noch einmal geändert haben: Entweder sah er sowohl Nero als auch Britannicus oder nur Britannicus als seinen Nachfolger an. Agrippina beabsichtigte, die Nachfolge für ihren Sohn aus ihrer ersten Ehe, den älteren Nero, zu sichern, bevor Britannicus selbst alt genug war, um als einzig möglicher Nachfolger gelten zu können. Viele Althistoriker sind heute insgesamt deutlich skeptischer, was die antike Überlieferung zu Claudius’ Tod betrifft. Sie bezweifeln die Existenz von Mordmotiv und Komplott und gehen von einem natürlichen Tod oder einem Unfall aus (ein giftiger Pilz sei versehentlich ins Essen geraten). Claudius habe Neros Nachfolge in Wahrheit bis zum Schluss nie in Frage gestellt. Er habe Britannicus im Unterschied zu Nero nie jene Würden verliehen, die ihn als Nachfolger gekennzeichnet hätten, obwohl er alt genug dafür gewesen wäre; überdies lege Agrippinas Verhalten nahe, dass sie vom Tod des Kaisers überrascht wurde. Die Mordgerüchte seien daher erst im Nachhinein entstanden, als Nero längst als schlechter Kaiser galt, dem man die Beseitigung seines Vorgängers andichtete. Nach einer anderen Sichtweise könnte Claudius aber auch infolge eines Herzinfarkts verstorben sein, als er mit Agrippina um die Thronnachfolge stritt. Claudius’ vollständige Titulatur zum Zeitpunkt seines Todes war Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, Pontifex maximus, Tribuniciae potestatis XIV, Consul V, Imperator XXVII, Pater patriae. Nero wurde drei Tage nach Claudius’ Tod von den Prätorianern zum Kaiser ausgerufen; Britannicus wurde übergangen. Claudius’ Asche wurde am 24. Oktober im Augustusmausoleum beigesetzt. Von Nero und auf Senatsbeschluss hin wurde Claudius als Divus („Vergöttlichter“) konsekriert. Die von Seneca verfasste Leichenrede hielt Nero. Kurze Zeit nach Claudius’ Vergöttlichung erschien die ebenfalls von Seneca verfasste Apocolocyntosis, eine der boshaftesten Satiren, die je auf einen Herrscher geschrieben worden sind. Von den weniger treuen Anhängern des Claudius gingen viele schnell in das Lager Neros über. Nachwirkung Beurteilungen in der Antike Nero kritisierte häufig den verstorbenen Kaiser und missachtete viele Beschlüsse und Verfügungen des Claudius mit der Begründung, Claudius sei irre gewesen. Die Meinung, dass Claudius geistesgestört gewesen sei, blieb während der gesamten Herrschaft Kaiser Neros vorherrschend. Schließlich gab Nero die Bezugnahme auf seinen vergöttlichten Adoptivvater auf und orientierte sich wieder an seiner leiblichen Familie. Ein für den vergöttlichten Claudius vorgesehener Tempel wurde von Nero nicht vollendet und nach dem Tod seiner Mutter praktisch zerstört. Die Baustelle wurde als Verteilerstation für das von Claudius initiierte Aquäduktsystem weiter genutzt. Die negative Haltung Neros gegenüber Claudius beeinträchtigte auch den Claudius-Kult in den Provinzen. Vespasian, der unter Claudius bedeutende Schritte in seiner Karriere gemacht hatte, belebte den Claudius-Kult neu und ließ den Tempel des Claudius am Caelius wieder aufbauen, da es für die aufstrebende Dynastie der Flavier wichtig war, die Kontinuität durch die Beibehaltung der Staatsreligion auszudrücken. Als die Flavier jedoch ihre Herrschaft gefestigt hatten, hoben sie ihre eigenen Verdienste hervor, ohne sich mehr an Claudius anzulehnen. Später haben noch Titus, Domitian und Trajan das Andenken wohl weniger des Claudius selbst als seiner Regierung durch Münzen aufgefrischt. Die antiken Schriftsteller Tacitus, Cassius Dio und Sueton verfassten ihre Werke erst nach dem Tod des letzten Flaviers. Alle drei waren Senatoren oder Ritter. Die antiken Historiker übernahmen in den Konflikten zwischen dem Senat und dem Princeps oftmals die Position des Senats. Sueton beschreibt Claudius als eine lächerliche Person, setzte viele seiner Taten herab und wies die guten Taten des Kaisers seinem Gefolge zu. Tacitus schrieb sein Geschichtswerk für seine Mitsenatoren und fügte dabei die einzelnen Kaiser in ein bestimmtes Darstellungsschema. Bei Tacitus wird Claudius nahezu durchgängig als unselbständiger „Trottel“ gezeichnet, der seinen Frauen absolut hörig und entsprechend einfach zu manipulieren ist. Seine Beschreibung des Kaisers als Vollidioten machte sich auch dadurch bemerkbar, dass Tacitus selbst dort, wo er die Schriften des Claudius offenkundig als Quelle benutzte, die Urheberschaft des Claudius nicht nannte, sondern vielmehr den Schreibstil des Claudius verfälschte. Cassius Dio war als späterer Historiker weniger voreingenommen, scheint aber Sueton und Tacitus als Quellen benutzt zu haben. So blieb lange Zeit die Meinung über Claudius als eines Vollidioten bestehen, der von denen gesteuert wurde, die er angeblich beherrschte. Im Laufe der Zeit verlor Claudius außerhalb der historischen Darstellungen zunehmend an Bedeutung. Seine Bücher gingen verloren, sobald ihre altertümlichen Themen an Beliebtheit verloren. Am Ende des 2. Jahrhunderts überschattete der Geburtstag von Kaiser Pertinax, der seinen Geburtstag mit Claudius teilte, jede Erinnerungsfeier an Claudius. Im 3. Jahrhundert gab es dann einen weiteren Kaiser seines Namens, Claudius Gothicus (268 bis 270). Nach dem Tod des Claudius Gothicus wurde dieser vom Senat divinisiert und ersetzte Claudius im römischen Pantheon. So geriet Claudius am Ende des dritten Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit. Das Bild im Mittelalter und in der Neuzeit Bereits im 12. Jahrhundert gibt der britische Gelehrte Geoffrey von Monmouth in seinem Werk „Die Geschichte der Könige von Britannien“ mit eher patriotischer Tendenz ein sehr negatives Bild von den militärischen Eigenleistungen des Claudius während seiner Britannieninvasion. Der französische Kanzelredner Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) urteilte in seiner „Universalgeschichte“ über den Kaiser: „Claudius regiert trotz seiner Dummheit“. John Adams, zweiter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, gelangte in seiner „Sicht auf die Universalgeschichte“ von 1795 zu einem ähnlichen Urteil, wobei er Claudius außerdem als gänzlich dem Willen seiner Frauen und Freigelassenen ergeben beschrieb: Dieses relativ einhellige Urteil der älteren Geschichtsschreibung spiegelt sich auch in den Claudius-Dramen der Renaissance-Zeit wider. Bereits der elisabethanische Dramatiker William Shakespeare (1564–1616), der die antiken Kaiserbiographien im lateinischen Original las, gestaltet den Charakter des Polonius im Hamlet frei nach Charakterzügen von Kaiser Claudius. Dies wird besonders deutlich in jener Szene im Schlafgemach der Königin, wo Polonius sich hinter einem Vorhang verbirgt und von Hamlet erdolcht wird, der ihn mit dem König Claudius verwechselt (Is it the king?). Aus dem 17. Jahrhundert stammen die Tragödien des Thomas May, The Tragedy of Julia Agrippina (1639), sowie des Nathanial Richards, The Tragedy of Messalina, Empress of Rome (1640), die jeweils Claudius als treuliebenden Dummkopf darstellen, der durch die Intrigen seiner Frauen um den Verstand gebracht wird, wie etwa an der Abreise des Claudius nach Ostia bei Richards deutlich wird: Belletristik und Film im 20. Jahrhundert Die Romane des Robert von Ranke-Graves aus dem Jahr 1934, I, Claudius und Claudius the God (deutsche Ausgabe in einem Band: Ich, Claudius, Kaiser und Gott) gelten als die bedeutendste fiktive Darstellung über den römischen Kaiser Claudius. Beide Bücher sind in der ersten Person verfasst, um dem Leser den Eindruck zu vermitteln, es handele sich um eine Autobiografie. Graves setzte fiktionale Elemente ein, indem er angibt, dass kürzlich Übersetzungen der Schriften des Claudius entdeckt worden seien. Zu diesem Zweck erwähnt das Buch I, Claudius auch den Besuch eines Orakels. Das Orakel prophezeit, dass das Schriftstück fast 1900 Jahre später wiederentdeckt werden wird. Die erhaltenen Briefe, Reden und Sprüche des Claudius wurden besonders im zweiten Buch Claudius the God eingearbeitet, um Authentizität zu vermitteln. Im Jahr 1937 unternahm der Regisseur Josef von Sternberg mit dem Film I, Claudius einen erfolglosen Versuch, die Romane von Graves zu verfilmen. Für die Rolle des römischen Kaisers war Charles Laughton vorgesehen. Wegen eines schweren Unfalls der Hauptdarstellerin Merle Oberon wurde der Film allerdings nie abgeschlossen. Die noch vorhandenen Filmrollen wurden schließlich in der Dokumentation The Epic That Never Was von 1965 verwendet. Die beiden Bücher von Graves waren die Basis für eine dreizehnteilige, von der BBC produzierte Fernsehverfilmung Ich, Claudius, Kaiser und Gott (im englischen Original: I, Claudius). Die Miniserie, in der Derek Jacobi Claudius spielte, wurde 1976 übertragen und gewann mehrere BAFTA-Auszeichnungen. Neben den Verfilmungen der Bücher von Graves gab es noch zahlreiche andere filmische Bearbeitungen. Der italienische Regisseur Tinto Brass setzte 1979 den Skandalfilm Caligula (deutscher Untertitel Aufstieg und Fall eines Tyrannen) in Szene. Gore Vidal schrieb das Drehbuch. Die Rolle des Claudius spielte hier Giancarlo Badessi. Im Gegensatz zu den Büchern von Graves wird Claudius den nicht wohlwollenden antiken Quellen folgend deutlich als minderbemittelt dargestellt. Romane über Claudius und seine Zeitgenossen sind etwa der historische Roman Minutus der Römer von Mika Waltari, außerdem die beiden Science-Fiction-Romane Empire of the Atom und The Wizard of Linn des kanadischstämmigen Autors A. E. van Vogt, die auf der Darstellung von Graves basieren. Eine Buchreihe von Simon Scarrow spielt zur Zeit des Claudius und stellt gelegentlich Bezüge zum Kaiser her. Daneben ist Claudius eine Nebenfigur in den zahlreichen Romanen, die von seinen Ehefrauen Messalina und Agrippina handeln. Claudius in der historischen Forschung Das Urteil in der Forschung über den spezifischen Charakter der Regierungszeit des Claudius ist keineswegs einheitlich. Bei aller Divergenz der Forschung ist man sich dennoch darüber einig, dass mit Claudius ein Neubeginn oder zumindest eine doch ganz wesentliche Weiterentwicklung in der Administration des römischen Reiches festzustellen sei. Unschlüssig ist man sich allerdings darüber, ob diese Veränderungen Claudius selbst oder eher der Initiative seiner Freigelassenen zuzuschreiben sind. Theodor Mommsen sah Claudius als den „allerungeeignetsten“ Princeps an, da „unter ihm regiert wurde, er selbst aber nicht regierte“. Edmund Groag hingegen beurteilte den Prinzipat des Claudius sehr positiv. Die Herrschaft der Freigelassenen des Claudius war für ihn eine der besten, die das Römische Reich erlebt hatte. Claudius hingegen war für ihn ein Mann „ohne Autorität, ohne Halt und geistige Klarheit, furchtsam, geschwätzig, sinnlich“. Arnaldo Momigliano betonte die Leistungen des Gelehrten Claudius und erklärt das Scheitern des Kaisers aus dem Widerspruch zwischen seinem Willen zur Regierung und dem Wunsch nach Beliebtheit. Trotz des Widerspruchs habe Claudius erstmals ein administratives Zentrum am Hof eingerichtet. Hans-Georg Pflaum sah in Claudius einen „halben Narren“ und zeichnete damit eher die „Regierung der Favoriten des Claudius“ für die politischen Maßnahmen dieser Zeit verantwortlich, womit die Freigelassenen gemeint sind. In der 1990 erschienenen Biografie von Barbara Levick galt Claudius als der erste richtige Kaiser, da mit ihm das institutionalisierte Kaisertum beginne. Quellen Über Claudius und seine Zeit geben Suetons Kaiserbiographien, die Römische Geschichte des Cassius Dio und Tacitus’ Annalen Auskunft. Knapp wird er auch in den diversen spätantiken Breviarien behandelt. Sueton: Claudius. Antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3, englische Übersetzung und lateinisches Original Lateinische Übersetzung und deutsche Übersetzung Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh, Band 4 (= Bücher 51–60) und 5 (= Bücher 61–80), Artemis-Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-7608-3672-0 und, ISBN 3-7608-3673-9, (englische Übersetzung bei LacusCurtius; für Claudius sind insbesondere die Bücher 60–61 relevant). Tacitus: Annalen. Herausgegeben von Erich Heller, 3. Auflage. Düsseldorf/Zürich 1997. Die Bücher 11 und 12 der Annalen behandeln die Zeit des Claudius. In seinem Werk Apocolocyntosis, das als Menippeische Satire angelegt ist, greift Seneca den kürzlich Verstorbenen an, wahrscheinlich um sich für das unter seiner Regierung erlittene Unrecht zu rächen. Inhaltlich geht es darum, dass Claudius aus dem Leben scheidet, zum Gott erklärt wird und schließlich in den Himmel gelangt. Dort weiß man jedoch nichts mit ihm anzufangen, so dass er sich schließlich in der Unterwelt wiederfindet, wo ihm dann der Prozess wegen seiner Vergehen gemacht wird. L. Annaeus Seneca: Apocolocyntosis – Die Verkürbissung des Kaisers Claudius. Übersetzt und herausgegeben von Anton Bauer, Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-007676-5. Lateinischer Text von Senecas Apocolocyntosis Lateinischer Text, deutsche Übersetzung und Namenserklärung Literatur Biographien Michael Grant: Roms Caesaren. Von Julius Caesar bis Domitian. Beck, München 1978, ISBN 3-406-04501-4. Wilhelm Kierdorf: Claudius. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 4., aktualisierte Auflage. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 67–76. Barbara Levick: Claudius. Batsford, London 1993, ISBN 0-7134-5210-2. Arnaldo Momigliano: Claudius. The Emperor and his achievement. 2. Auflage. Cambridge 1961. Josiah Osgood: Claudius Caesar. Image and power in the early Roman Empire. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2011, ISBN 978-0-521-70825-8 (Rezension im Bryn Mawr Classical Review; Rezension in sehepunkte). Vincent Scramuzza: The Emperor Claudius. Harvard University Press, Cambridge 1940. Über die Herrschaft Claudius Helga Botermann: Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und „Christiani“ im 1. Jahrhundert (= Hermes Einzelschriften. Band 71). Steiner, Stuttgart 1996, ISBN 3-515-06863-5. David Alvarez Cineira: Die Religionspolitik des Kaisers Claudius und die paulinische Mission. Herder, Freiburg 1999, ISBN 3-451-26894-9. Hans-Markus von Kaenel: Münzprägung und Münzbildnis des Claudius. de Gruyter, Berlin 1986, ISBN 3-11-009810-5. Andreas Mehl: Tacitus über Kaiser Claudius. Die Ereignisse am Hof. Fink, München 1974. Volker Michael Strocka (Hrsg.): Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41–54 n. Chr.): Umbruch oder Episode? Internationales interdisziplinäres Symposion aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Archäologischen Instituts der Universität Freiburg i. Br., 16.–18. Februar 1991. Zabern, Mainz 1994, ISBN 3-8053-1503-1. Graham Webster: Rome against Caratacus. The Roman campaigns in Britain AD 48–58. Routledge, London 2003, ISBN 0-415-23987-7. Belletristik Robert (von Ranke-)Graves: Ich, Claudius, Kaiser und Gott. Übersetzt von Hans Rothe. List, München 2002, ISBN 3-471-78578-7 (englische Erstausgabe 1934: I Claudius und Claudius the God). Weblinks I, Claudius (UK 1937) Nie fertiggestellte Erstverfilmung von Robert Graves’ fiktiver Claudius-Biografie I, Claudius / Ich, Claudius, Kaiser und Gott (UK 1976) 13-teilige BBC-Miniserie von Robert Graves’ Roman mit Sir Derek Jacobi als Claudius. Lateinischer Originaltext der Lyoner Tafel (auf The Latin Library) Lateinischer Originaltext der Lyoner Tafel (auf Wikisource) Anmerkungen Kaiser (Rom) Censor Augur Historiker der Antike Autor Claudier Julier Mann Geboren 10 v. Chr. Gestorben 54 Herrscher (1. Jahrhundert) Britannien (Römisches Reich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stockton%20and%20Darlington%20Railway
Stockton and Darlington Railway
Die Stockton & Darlington Railway Company (S&DR) war die erste öffentliche Eisenbahn, die für den Güterverkehr Dampflokomotiven einsetzte. Die Linie hat für die Geschichte der Eisenbahn auch besondere Bedeutung, weil ihre Gleisspurweite von 1435 mm in der Folge weltweit bei den meisten Bahnen als Normalspur Verbreitung fand. Der Legende zufolge soll daneben die 1435-mm-Spur auf dem Abstand der Spurrillen der bis nach England führenden Fernwege des Römischen Reiches basieren. Tatsächlich wurde jedoch darauf geachtet, dass die Gleise der Stockton and Darlington Railway auch die Benutzung durch von Pferden gezogenen Kutschen für Passagiere und Kohlenwagen zuließen, die die älteren Fahrwege zu den umliegenden Kohlenminen benutzten. Dies scheint der Hauptgrund zu sein, dass das 4ft-8-½- bzw. 1435-mm-Maß übernommen und später fabrikationsbedingt als Standardspurweite weiterverbreitet wurde. Die 40 Kilometer lange Strecke in Nordostengland verband die Kohlengruben rund um Bishop Auckland mit den Ortschaften Shildon, Darlington, Stockton-on-Tees und später auch Port Darlington, das heutige Middlesbrough. Die Bahn bestand von 1825 bis 1863 als selbstständiges Unternehmen und ging danach im Netz größerer Eisenbahngesellschaften auf. Geschichte Kohlentransporte in Nordostengland im 19. Jahrhundert Ende des 18. Jahrhunderts entstand im Zuge der Industrialisierung in England zunehmend ein Bedarf an Kohle für die neu entstehenden Dampfmaschinen, zur Verhüttung von Erzen und nicht zuletzt auch für die Heizung der Häuser in London und anderen großen Städten. Gut verwertbare Kohlevorkommen fanden sich im nordöstlichen England und speziell auch in den Grafschaften um den Fluss Tees und Stockton-on-Tees. Seit dem Mittelalter wurde hier die Kohle mit Pferden zu den Flüssen gebracht, um von dort vor allem nach London verschifft zu werden. Im 16. Jahrhundert waren dazu Hunderte, vermutlich sogar Tausende von Packpferden in der ganzen Grafschaft zu allen Zeiten unterwegs. Die Pferde trugen die Kohle zunächst in seitlichen Packtaschen, später wurde die Kohle auch auf Karren verladen. Der Transport mit schweren Karren in der feuchtigkeitsgetränkten Erde von Nordostengland war jedoch mühsam. Daher entstanden hier bald „tramroads“ für den Güterverkehr, auf denen ein Pferd eine Tonne Kohle über neun bis zehn Meilen an einem Tag ziehen konnte. Diese „tramroads“ bestanden aus einer in den Boden eingelassenen, mit Holzbohlen ausgekleideten Spur, in der die Wagenräder einen leichteren Lauf als auf bloßer Erde hatten. Der Umfang dieser Transportgeschäfte begünstigte wirtschaftlich die Regionen und Orte, die darin einbezogen waren. Zwischen den umliegenden Orten bildete sich naturgemäß eine Konkurrenz heraus und wer nicht geographisch bevorteilt war, etwa mit einem gut gelegenen Hafen, der versuchte, diese Transportströme zu seinen Gunsten zu beeinflussen. So planten Bürger von Stockton-on-Tees einen Kanal von ihrer Stadt nach Evenwood am Gauge, den „Stockton and Auckland Canal“. Mit diesem sollten Kohlentransporte aus den Bergwerken der Grafschaft Durham gefördert und natürlich auch Gebühren eingenommen werden. Lokale Rivalitäten – Kanal oder „Tramroad“? Der geplante Kanalbau missfiel jedoch den in Darlington ansässigen Geschäftsleuten Edward Pease, Jonathan Backhouse und Francis Mewburn. Der Kanal hätte ihre Heimatstadt und die umliegenden Kohlebergwerke um 13 Kilometer verfehlt. Sie setzten sich daher für den Bau einer „tramroad“ ein, die von den Bergwerken um Bishop Auckland über Darlington nach Stockton führen sollte. Bereits zur damaligen Zeit war England so dicht besiedelt, dass Straßen und Transportwege unvermeidbar über privaten Landbesitz oder störend in deren Nähe verliefen. Neue Transportwege bedurften auch daher der parlamentarischen Genehmigung. Die Gruppe um Pease beschloss am 13. November 1818, den erforderlichen Parlamentsakt für den Bau der „tramroad“ (deutsch etwa: „Huntstraße“) zu beantragen. Durch günstigere Kapitalnachweise und Kostenberechnungen gelang es Pease zunächst, die Idee eines Bahnstreckenbaus überzeugender als das konkurrierende Kanalprojekt darzustellen. Dieses und ein weiteres Genehmigungsverfahren vor dem britischen Parlament verloren sie jedoch vor allem durch den Widerstand von Lord Darlington, der um seine zur Fuchsjagd genutzten Gebiete fürchtete. Mit einer neuen Linienführung wollte das Komitee von Darlington 1820 wieder vor das Parlament treten. Der Tod von König George III. am 29. Januar 1820 und die darauf folgende Neuwahl des Parlaments ließen die Eingabe jedoch erst 1821 zu. Die von George Overton neu entworfene Streckenführung umfasste 37 Meilen mit fünf Zweiglinien. Am 12. April 1821 wurde der Eingabe durch das House of Commons und am 17. April durch das House of Lords zugestimmt. Sie erhielt am 19. April die königliche Genehmigung von George IV. Die Genehmigung legte unter anderem fest, dass jedermann einen Eisenbahnwagen auf der Strecke fahren lassen konnte, vorausgesetzt, er zahlte die Gebühren und benutzte sichere Ausrüstung. Der Betrieb wurde zwischen 7 Uhr morgens und 6 Uhr nachmittags im Winter und zwischen 5 Uhr morgens und 10 Uhr abends im Sommer gestattet. Es wurde jedoch weder der Hauptzweck des Kohlentransports erwähnt noch eine eventuelle Beförderung von Passagieren. Um 1828 ist jedoch die regelmäßige Beförderung von Personen durch eine von einem Pferd gezogene Kutsche (Gesamtkapazität 16 Passagiere) dokumentiert. George Stephenson und die „Railway“ Noch während Pease am Abend des 19. April 1821 zu Hause in Darlington auf die entscheidende Nachricht aus London wartete, sprachen bei ihm der Manager der Zeche Killingworth, Nicholas Wood, und sein Ingenieur George Stephenson vor. Anekdotisch wird berichtet, dass Stephenson Peases Haus barfuß betrat. Gestritten wird jedoch, ob Stephenson barfuß nach Darlington gewandert sei, um sein Schuhwerk zu schonen, oder ob er aus Respekt vor dem einflussreichen Pease die Schuhe vor dessen Haus auszog. Stephenson schlug Pease vor, statt der „tramroad“ eine Schienenbahn („railway“) mit Lokomotiven zu errichten. Stephenson erklärte, dass „ein Pferd auf einer Eisenstraße 10 Tonnen im Vergleich zu einer Tonne auf einer normalen Straße ziehen“ würde. Er fügte hinzu, dass die von ihm in Killingworth gebaute Lokomotive Blücher „fünfzig Pferde wert“ wäre. Pease besichtigte diese Maschine in der Killingworth-Zeche und berichtete am 23. Juli 1821 den Komitee-Mitgliedern von ihrer beeindruckenden Leistung. Daraufhin wurde beschlossen, statt der „tramroad“ eine „railway“ zu bauen. Gegen den Widerstand einiger Komiteemitglieder setzte Pease zudem durch, dass die Streckenführung durch Stephenson neu festgelegt werde. Stephenson präsentierte das Ergebnis seiner Untersuchungen am 18. Januar 1822 und erhielt vier Tage später eine Festanstellung sowie den Auftrag zum Bau der Bahn. Er wurde mit 660 Pfund Sterling pro Jahr bezahlt. Im späteren Verlauf zeigte sich, dass Stephenson Schwierigkeiten hatte, die Lokomotiven rechtzeitig zu bauen. Pease erwog daher sogar, einer anderen Firma in Leeds den Bauauftrag für die Lokomotiven zu geben. Das Problem für Stephenson und seinen mitarbeitenden Sohn Robert war paradoxerweise, dass sie bei dem jetzt in England ausbrechenden „Eisenbahnfieber“ zu erfolgreich waren. Sie galten als führend auf ihrem Gebiet und übernahmen Aufträge für viele neue Bahnprojekte. So übernahm George Stephenson beratende Funktionen bei vier weiteren Eisenbahnprojekten und Sohn Robert reiste kurzerhand nach Südamerika, wo er einen Posten als Ingenieur bei der Columbian Mining Association übernahm und die nächsten drei Jahre zumeist in Venezuela und Bolivien arbeitete. Zwischenzeitlich bemühte sich das Komitee um eine parlamentarische Genehmigung für die von Stephenson geänderte Streckenführung und erhielt den entsprechenden Amending Act am 23. Mai 1823. Hiergegen erhob Lord Darlington wiederum Einspruch, der jetzt jedoch abgelehnt wurde. Das Dokument enthielt auch die Erlaubnis, eine Gebühr von 6 Schilling pro Meile von jedem zu erheben, der ein Fahrzeug mit Passagieren auf der Strecke fahren lassen wollte. Damit wird erstmals der Gedanke an eine Personenbeförderung auf Schienen belegt. Noch wichtiger war aber, dass auch der Betrieb mit einer selbstfahrenden Zugmaschine genehmigt wurde. Bau der Bahnlinie Für den Bau der Linie wurden 64.000 steinerne Schwellen mit hölzernem Unterbau gelegt. Die Steinschwellen hatten paarweise angeordnete Löcher für die Nägel, mit denen die Schienen durch die Steinlage hindurch am Holz befestigt wurden. Diese ersten Schwellen wurden allerdings in Anlehnung an die „tramroad“ noch so verwendet, dass sie längs unter den Schienen verliefen. Die sinnvollere Anordnung quer zum Gleis mit stabilerer Spurhaltung wurde erst einige Jahre später eingeführt. Ebenfalls in Anlehnung an die „tramroads“ wurden die Schienen in einem Abstand von vier Fuß und achteinhalb Zoll (1435 mm) gelegt, die in der Folge vor allem durch George und Robert Stephensons weltweite Beteiligung an den ersten Bahnbauten die meistverbreitete Bahn-Spurweite der Welt bzw. die Normalspur (bzw. Regelspur) wurde. Am 23. Mai 1822 legte der Komiteevorsitzende Thomas Meynell nahe St John’s Well in Stockton zeremoniell die erste stählerne Schiene auf die Schwellen. Im Sommer 1823 waren dann 22 von 26 Meilen Schienen gelegt. Mühsam zu bewältigen war dabei das sumpfige Land zwischen Heighington und Darlington, wo die Schienen trotz des tonnenweise aufgeschütteten Bodens immer wieder einsanken. Die im Oktober 1823 fertiggestellte eiserne Gaunless Bridge wurde durch ein starkes Hochwasser schwer beschädigt und musste im folgenden Jahr erneuert werden. Eine weitere Schwierigkeit für den Bau war das Gusseisen, das bis zu diesem Zeitpunkt normalerweise als Schiene verwendet wurde. Es war schwer und vor allem zu spröde für die Belastung durch rollende Eisenräder. Stephenson wich hier jedoch rechtzeitig auf walzbares Eisen aus und bewog das Komitee, einen Auftrag über £ 14,000 an die Bedlington Iron Works zur Produktion gewalzter Schienen zu vergeben. Um das Komitee zu überzeugen, verzichtete Stephenson dabei auf £ 500, die ihm als Patenthalter für das Schmiedeverfahren zugestanden hätten. Dadurch ging seine Freundschaft mit dem Co-Patenthalter William Losh in die Brüche, der dies als Betrug wertete. Das Problem war dabei, dass Stephenson damit auch den bisherigen Erbauer seiner Lokomotiven an der Killingworth-Zeche als Partner verlor. Mit der finanziellen Unterstützung durch Pease gründete daher George Stephenson mit seinem erst 19-jährigen, aber sehr gut ausgebildeten Sohn die „Robert Stephenson and Company Limited“ zum Bau von Lokomotiven. Am 7. November 1823 erteilte das Komitee für die Stockton- und Darlington-Bahn dieser Firma den ersten Auftrag über vier stationäre Zugmaschinen, die an den Steigungen bei Brusselton und Etherley eingesetzt werden sollten. Da Stephenson auch diese Maschine nicht termingerecht fertigstellen konnte, riefen die Schwierigkeiten alte Gegner wieder auf den Plan, die zuvor erfolglos versucht hatten, die parlamentarische Genehmigung zu verhindern. Sogar einer der eigenen Anteilseigentümer, ein Mr. Rowntree, forderte und bekam eine Entschädigung, da die vorgesehene Bahnlinie sein nahegelegenes Haus ihm zufolge unbewohnbar machen würde. Die erste Fahrt mit der Lokomotive Da Stephenson angesichts seiner vielfältigen Aktivitäten die zugesagte Lokomotive anscheinend nicht termingerecht fertigstellen konnte, berief Pease 1824 über Stephensons Kopf hinweg Michael Longbridge, den Eigner der Bedlington Iron Works, als ausführenden Ingenieur für die Robert Stephenson and Co. Longbridge war jedoch nicht in der Lage, die Probleme beim Bau der Lokomotiven zu bewältigen. Im April 1825 fiel jedoch das Genehmigungsverfahren für die Liverpool and Manchester Railway, eines von Stephensons Projekten, im House of Commons durch, und so war Stephenson plötzlich wieder frei für die Arbeit in seiner Fabrik und konnte die Locomotion No. 1 fertigstellen. Sie wurde am 16. September 1825 in Teile zerlegt und mit Pferdewagen zu der Bahnstation Aycliffe Village transportiert, dort zusammengebaut und auf die Schienen gesetzt. Am 26. September 1825 fanden Probefahrten und am darauf folgenden 27. September die Jungfernfahrt statt. Der Zug bestand aus 36 Wagen, von denen zwölf mit Kohle und Mehl, sechs mit Gästen und vierzehn mit Arbeitern beladen waren. Der Zug hatte auch einen eigens gebauten Passagierwagen, „Experiment“ genannt. Pease, die Stephensons und andere Gäste saßen in diesem Wagen, der 18 Sitzplätze hatte. Da er keine Federung besaß, muss die Fahrt darin sehr unbequem gewesen sein. Der Passagierwagen gilt als der erste seiner Art, obwohl bereits die Dampflokomotive Catch me who can 1808 Passagiere befördert hatte. An der Brusselton-Höhe zwischen West Auckland und Shildon begann die Fahrt des Zuges unter der Anteilnahme tausender Zuschauer. Angehängt an ein 1,2 Meilen langes Seil wurde der Zug zunächst von den stationären Maschinen hügelauf gezogen und eine halbe Meile weit wieder herabgelassen. Dann wurde der Zug an die Lokomotive angehängt, auf der George Stephensons Bruder James an den Hebeln stand. Zunächst gab es mehrere unvorhergesehene Halte, weil ein Wagen wiederholt aus den Schienen sprang und abgehängt werden musste. Ein nächster Halt musste wegen Dampfmangels aufgrund einer verstopften Leitung eingelegt werden. George Stephenson arbeitete 35 Minuten, bis er ein Stück eines alten Seils aus dem Rohr entfernen konnte. Diese Erstfahrt von Brusselton nach Darlington über neun Meilen dauerte zwei Stunden. Die weitere Fahrt bis Stockton (20 Meilen von Brusselton) mit zwischenzeitlicher Wasser-Ergänzung dauerte insgesamt fünf und dreiviertel Stunden. Auf dem Abhang zum Bahnhof Stockton erreichte der Zug eine Geschwindigkeit von 15 mph (24 km/h). Die Ankunft des Zuges wurde im Hafen von Stockton mit 21 Salutschüssen begrüßt. Timothy Hackworth und die Lokomotiven Am 1. Juli 1828 zerstörte ein Kesselzerknall die Locomotion No 1 bei Aycliffe Level (heute Heighington). Dabei wurde der Maschinist John Cree getötet und der Wasserpumper Edward Turnbull verkrüppelt, die Wrackteile bedeckten mehrere Felder. Weitere von Stephenson gebaute Maschinen waren die Nr. 2, Hope (November 1825), die Nr. 3, Black Diamond (April 1826) und Nr. 4, Diligence (Mai 1826). Von ihnen zerbarsten zwei ebenfalls und wurden zunächst abgestellt. Der Gesellschaft mangelte es daher an betriebsbereiten Lokomotiven. Auch das Wagenmaterial wurde als in sehr schlechtem Zustand befindlich beschrieben. Um die Betreuung der Maschinen zu sichern, stellte Pease Timothy Hackworth ein, den Mann, der bereits William Hedleys Lokomotive Puffing Billy gebaut hatte. Zuvor hatte ihm Stephenson sein halbes Salär angeboten, wenn er für ihn arbeitete. Da Hackworth jedoch selbstständig bleiben wollte, richtete das Komitee für ihn neben seiner Wohnung in Shildon eine Werkstatt mit 20 Arbeitern ein. Hackworth baute die explodierte Locomotion No 1 wieder auf und trug wesentlich zu ihrer erfolgreichen Nutzung bei – sie fuhr insgesamt 25.000 Meilen. Nach mehrfachen Entgleisungen in den Jahren 1837 und 1839 wurde die im Grunde unausgereifte Maschine 1841 außer Dienst gestellt. Von 1857 bis in die 1880er Jahre war sie in einem Gebäude des Ausbesserungswerks von Alfred Kitching in der Nähe der Hopetown Carriage Works der Bahngesellschaft ausgestellt und von 1892 bis 1975 auf einem der Bahnsteige des Hauptbahnhofs in Darlington, bis sie in das North Road Railway Museum in der North Road Station von Darlington gebracht wurde, wo sie bis heute zu besichtigen ist. Auch Stephensons andere havarierte Maschinen wurden von Hackworth in seiner Werkstatt in Shildon wieder in Betrieb gesetzt. Da sich Stephensons Lokomotiven als so schwach und unzuverlässig zeigten, ging sogar ihr Erbauer selbst zwischenzeitlich daran, so genannte „Dandy-Cart“-Wagen zu bauen. Diese konnten mit schwerer Ladung leicht von Pferden hangaufwärts gezogen werden. Auf dem Scheitelpunkt der Steigung konnten die Pferde abgeschirrt und in einen der Wagen verladen werden, in dem sie mitsamt den anderen Wagen hangabwärts rollten. Während der Abwärtsfahrt mit Futter versorgt, konnten sie an der nächsten Steigung erfrischt wieder vor den Wagen gespannt werden. Während die Bahneigner schon am Konzept der Lokomotiven zweifelten, glaubte nur Timothy Hackworth weiterhin daran. Nachdem er glaubhaft versichert hatte, alle Probleme lösen zu können, gaben ihm die Gesellschafter die Erlaubnis, in der Werkstatt in Shildon eine neue Maschine zu bauen. In der Zwischenzeit hatte Hackworth bereits angefangen, drei Maschinen in seiner freien Zeit zu bauen, denen er eine bessere Leistung zutraute als den Stephenson’schen Maschinen. 1827 stellte er die sechsrädrige Royal George fertig. Sie hatte die doppelte Heizfläche im Vergleich zu Stephensons Maschinen und eine Einrichtung, die den Dampf aus den Zylindern in den Schornstein entließ und damit die Feuerung wirkungsvoll anfachte. Stephensons Bruder John bewunderte sie beeindruckt als die „beste Maschine der Welt“. Sie schien jetzt die Erwartungen zu bestätigen, die die Gesellschaft in die Lokomotiven steckte. Doch im März 1828 flog auch die Royal George in die Luft und wurde zum Wiederaufbau nach Shildon gebracht. Insgesamt trug Hackworth offensichtlich deutlich mehr zu einem erfolgreichen Maschinenbetrieb der Stockton and Darlington Railway bei als der berühmtere Stephenson. Kontraktbasis und pferdebetriebene Personenbeförderung Die Stockton and Darlington Railways Company war mittlerweile auch hoch überschuldet, der wirtschaftlich notwendige Betrieb auf den Zweiglinien zu den Bergwerken bei Coundon und nach Croft konnte nicht aufgenommen werden. Es mussten sogar Ausgleichszahlungen an die Eigner der Coundon-Minen geleistet werden, weil diese weiterhin Pferdewagen benutzen mussten, um ihre Kohle zu der bereits fertiggestellten Bahnlinie zu bringen. In großem Umfang betrieb die Gesellschaft ihre Geschäfte daher auf Einzel-Kontrakt-Basis. Die Maschinisten der Lokomotiven durften für die beförderte Tonne Kohle pro Meile einen Farthing kassieren, mussten aber von diesem Geld selbst für die Feuerung, für Öl und für die Einstellung eines Heizers aufkommen. Passagiertransporte gehörten nicht zum ursprünglichen Betriebskonzept. Angesichts der finanziellen Probleme wurde aber der Passagierwagen Experiment für 200 Pfund pro Jahr an Richard Pickersgill vermietet, der den Wagen mit einem vorgespannten Pferd auf den Schienen fahren ließ und einen Passagierdienst betrieb. Pickersgill ließ dazu zwölf weitere Sitzplätze auf dem Dach des Wagens aufbauen. Andere Unternehmer folgten, und so betrieben ab Juli 1826 Martha Howson und Richard Scott zwei Kutschen namens Defence und Defiance auf der Linie. Im Oktober 1826 begann auch The Union, eine besonders elegante „Schienenkutsche“, die Fahrt. Der Eigner der Union ließ seine Kutsche an den Pubs entlang der Linie halten, und bald folgten andere Kutschenbetreiber diesem Gewinn versprechenden Konzept. Diese Nähe zum Alkohol erwies sich bald als Problem. Während die pferdebetriebenen Kutschen den lokomotivbetriebenen Zügen Vorfahrt geben mussten, waren sie bei Begegnungen auf der Schiene einander gleichgestellt. Da es keine Regeln gab, wurde um die Vorfahrt jedes Mal neu gestritten, und dies manchmal stundenlang. Der dabei genossene Alkohol konnte sowohl Passagiere als auch die Kutscher zur gewalttätigen Entfernung der gegnerischen Passagiere und des Wagens von den Schienen veranlassen. Es kam jedoch auch vor, dass die überlegene Mannschaft nach siegreicher Vorbeifahrt abstieg und der unterlegenen Gruppe wieder auf die Schienen half. Für die Kutschen gab es keine Begrenzung der Personenzahl, so war die Kutsche Defence einmal mit 46 Personen besetzt, von denen nur neun im Inneren saßen. Von den übrigen saßen etliche rund um die Dachkanten, andere standen in einer zusammengedrängten Gruppe auf dem Dach und der Rest klammerte sich an alles, was irgendeinen Halt bot. „Port Darlington“ – die erste „Eisenbahnstadt“ Um 1830 hatte die S&DR ein Streckennetz mit vier Zweiglinien und über 45 Meilen Länge. Die wichtigste Linie war zwar die zum Hafen von Stockton, doch erwies sich dieser häufig als zu flach und seefern für die zunehmende Zahl von Kohletransporten. Die Darlingtoner Pioniere planten daher ab 1827 eine Erweiterung zu den Salzmarschen von Middlesbrough. 1828 beantragten sie vor dem Parlament die Genehmigung dazu und hatten dabei hart gegen die Hafeneigner vom Tyne und dem Wear zu kämpfen. Auch innerhalb der Gesellschaft gab es Ärger, Leonard Raisbeck aus Stockton, Anwalt der ersten Stunde, und der Vorsitzende Thomas Meynell aus Yarm zogen sich zurück, weil sie Nachteile für ihre Städte fürchteten. So wurde die S&DR eine rein von der Darlingtoner Gruppe und der Familie Pease dominierte Gesellschaft. Nach zahlreichen Auseinandersetzungen konnte die Linie in Richtung Middlesbrough im November 1829 in Angriff genommen werden. Edward Peases Sohn Joseph machte hier das Geschäft seines Lebens. Zusammen mit den Quäkern Joseph Pease, Thomas Richardson, Henry Birbeck, Simon Martin und Francis Gibsonvier aus London und Norwich erwarb er 1829 von William Chilton für etwa 30.000 Pfund die Middlesbrough Estate, 520 Acres (2,1 km²) Salzmarschen. Diese „Middlesbrough-Eigner“ fingen an, hier einen Hafen zu bauen, den sie – sehr zum Ärger der Stocktoner – „Port Darlington“ nannten. Über den Tees entstand bei Stockton eine Hängebrücke, die sich aber als so schwach erwies, dass immer nur Gruppen von vier Wagen im Abstand von neun Fuß über die Brücke fahren konnten. 1844 wurde die Brücke durch eine andere Konstruktion von Robert Stephenson ersetzt. Die Kohle, die nach der Fahrt über die Brücke ankam, wurde dort von Dampf-Kränen, die von Timothy Hackworth konstruiert waren, in die Lastkähne verladen. Um 10 Uhr am 27. Dezember 1830 fuhr der erste Kohlenzug mit Ehrengästen über die Brücke zum Port Darlington. Dieser Tag wird als die Geburtsstunde der späteren „Eisenbahnstadt“ Middlesbrough betrachtet. Stabilisierung und Betriebsbereinigung 1832, acht Jahre nach der Betriebsaufnahme, verfügte die S&DR über 19 Lokomotiven, die dank der Fähigkeiten und des Einsatzes von Timothy Hackworth sämtlich betriebsbereit waren. Zwischen Brusselton (westlich von Darlington) und Stockton verlief die Bahn sogar zweigleisig, um das Verkehrsaufkommen zu bewältigen. Doch es gab weiterhin ein großes Problem – die Pferde und ihre Eigner. Die S&DR war eine öffentliche Einrichtung und Eigentümerin der Schienenanlagen, doch jeder war berechtigt, die Schienen zu benutzen, sofern er die Gebühren zahlte und die Regeln einhielt. Die S&DR betrieb selbst nur die Kohlenzüge und überließ den Passagierdienst anderen Unternehmern. Diese waren oft gleichzeitig die Wirte der Pubs, die als Haltestationen dienten. Dies führte zu „Anarchie“ auf den Schienen. So weigerten sich am 1. März 1832 zwei betrunkene Pferdeführer, vor der Lokomotive William IV in das Ausweichgleis zu fahren, legten nicht nur eine Schiene und einen Sitz über das Gleis, sondern sprangen auch auf die Lokomotive und gingen gewaltsam gegen das Maschinenpersonal vor. Nicht unüblich war es auch, dass Pferdeführer ihre Pferde und Wagen auf den Schienen stehen ließen und in einem nahegelegenen Pub zum Trinken verschwanden. Bei einer solchen Gelegenheit rammte beispielsweise die Lokomotive Globe bei Aycliffe Lane einen unbeleuchtet auf den Schienen stehenden Wagen. Im August 1833 wurden etliche Pferdewagen-Eigner für schuldig befunden, die Fahrten nicht korrekt gemeldet zu haben, um Gebühren zu sparen. Damit lieferten sie dem S&DR-Komitee den lang ersehnten Grund zur Kündigung. Im Oktober kaufte die S&DR die Kontraktoren für £ 316, 17 Schillinge und 8 Pence aus. Das Konzept des „Public Way“ war damit beendet. Die Bahngesellschaft konnte nun allein über ihre Schienen verfügen, wozu sie bereits vorausschauend Schritte eingeleitet hatte. So war Hackworth schon 1829 angewiesen worden, eine schnelllaufende Lokomotive für den Passagierdienst zu bauen. Die Maschinen für den Kohlentransport waren schwer und langsam, was zunächst nicht als Nachteil betrachtet wurde, da der zusätzliche Pferdebetrieb auf den Schienen keine schnellere Fahrt zuließ. Hackworth baute dann die oben erwähnte Globe in Robert Stephensons Werkstatt in Newcastle upon Tyne. Sie soll leichte hölzerne Räder besessen und eine Geschwindigkeit von knapp 50 mph erreicht haben. Der Maschinist stand dabei mangels anderem Platz in dem hölzernen Schlepptender. Als revolutionärste Einzelheit wurde jedoch die gekröpfte Achse für den zwischen den Rädern angeordneten Zylinder betrachtet, die zu ruhigem Lauf bei hoher Geschwindigkeit führte. Die Baukosten der Globe betrugen £ 515. Ihre erste Fahrt, geführt von Johnny Morgan, war gleichzeitig die Eröffnung der Verlängerung nach Port Darlington. Nach dem Hinauskauf der Pferdeführer wurde die Globe ausschließlich im Passagierdienst eingesetzt, bis sie im Januar 1839 mangels Wasserzufuhr bei Middlesbrough einen Kesselzerknall erlitt. Übernahmen und Fusionierungen, heutiger Betrieb Am 23. Juli 1858 wurde die erst 1846 gegründete Middlesbrough and Redcar Railway (M&RR) in die S&DR übernommen. Diese Bahnstrecke verlief acht Meilen entlang des südlichen Tees-Flussufers zur weiter seewärts gelegenen Ortschaft Redcar. Neu entdeckte Eisenerzvorkommen sowie der Gedanke an ein Seebad bewogen den S&DR-Direktor Henry Pease, die Linie 1861 über Redcar bis Saltburn-by-the-Sea an der Küste zu verlängern. Die Schienen führten dabei komfortabel bis in die Rückseite des dort erbauten Zetland-Hotels hinein. Am 13. Juli 1863 vereinigte sich die S&DR mit der erst wenige Jahre zuvor aus zwei anderen Bahngesellschaften gegründeten North Eastern Railway. Diese wurde 1923 in die London and North Eastern Railway (LNER) umgewandelt und ging 1948 selbst wieder in den British Railways auf. Die heute als Tees Valley Line bezeichnete Strecke von Bishop Auckland über Darlington und Stockton-on-Tees nach Middlesbrough und von dort weiter nach Saltburn wird bis heute als Teil des öffentlichen Verkehrssystems genutzt. Bis 2004 wurde der Bahnverkehr dort von Arriva Trains North betrieben, einer Privatbahn, die heute der Deutschen Bahn gehört. Seit 2004 fahren auf den Schienen stündlich und teils halbstündlich Züge der Northern Rail, eines Franchise-Unternehmens von einem Konsortium der englischen Abteilung der Nederlandse Spoorwegen, den NedRailways, und Serco, einem internationalen Betreiber öffentlicher Transportsysteme. Dieses Konsortium gewann 2003 die Ausschreibung zum Betrieb des nordostenglischen Bahnnetzes. An der Strecke befindet sich mit der Station in Stockton-on-Tees auch der weltweit älteste in Betrieb befindliche Bahnhof. Andere Anlagen wurden teilweise in ein Eisenbahnmuseum umgewandelt. Literatur James Stephen Jeans: Jubilee Memorial of the Railway System: History of the Stockton and Darlington Railway. Graham, Newcastle upon Tyne 1974, ISBN 0-85983-050-0 (englisch) Charles Alexander McDougall: The Stockton & Darlington Railway, 1821–1863. Durham County Council, Durham 1975, ISBN 0-904738-00-0 (englisch) Maurice W. Kirby: The Origins of Railway Enterprise. The Stockton and Darlington Railway 1821–1863. Cambridge University Press, Cambridge 2002, ISBN 0-521-89280-5 (englisch) Jakob Schmitz: Aufbruch auf Aktien, Verlag Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf 1996, ISBN 3-87881-101-2 Weblinks The Northern Echo: Geschichte der Stockton and Darlington Railway (englisch) Streckenkarte der Northern Rail mit dem Abschnitt Bishop Auckland – Middlesbrough – Saltburn Einzelnachweise Bahnstrecke in England Bahngesellschaft (England)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Star%20Trek%3A%20Deep%20Space%20Nine
Star Trek: Deep Space Nine
Star Trek: Deep Space Nine ist eine US-amerikanische Science-Fiction-Fernsehserie, die von 1993 bis 1999 erstausgestrahlt wurde. Sie ist ein Ableger der Fernsehserie Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert, deren kommerzieller Erfolg ausschlaggebend für ihre Entstehung war, und – unter Berücksichtigung der Zeichentrickserie Die Enterprise – die insgesamt vierte Fernsehserie, die im fiktiven Star-Trek-Universum spielt. Wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Serie hatte Ira Steven Behr, der ab der dritten Staffel Showrunner war. In Fan-Kreisen wird die Serie mit DS9 abgekürzt. In insgesamt 176 Episoden, die über sieben Staffeln verteilt sind, erzählt Deep Space Nine von den Geschehnissen, in die vor allem Besatzung, Bewohner und Besucher der gleichnamigen, in der Milchstraße gelegenen Raumstation involviert sind. Die Serie handelt zu einem wesentlichen Teil von einem Konflikt zwischen der Vereinten Föderation der Planeten und dem von Formwandlern geführten Dominion-Imperium. Der Konflikt spitzt sich im Laufe der Staffeln zu und eskaliert zu einem interstellaren Krieg, der in den letzten beiden Staffeln thematisiert wird. Von den anderen Star-Trek-Produktionen unterscheidet sich Deep Space Nine vor allem hinsichtlich der Abkehr des Hauptschauplatzes von einem Raumschiff. Charakteristisch für die Serie sind zudem die regelmäßigere Diskussion des Star-Trek-typischen Ideals einer friedvollen und kriegsfreien Zukunft, eine düsterere und konfliktreichere Atmosphäre, der ernstere Umgang mit Religion, eine Vielzahl wiederkehrender Nebenfiguren sowie die im Serienverlauf verstärkt episodenübergreifend geprägte Handlung. Die erzählten Geschichten weisen beabsichtigte Parallelen unter anderem zu globalen politischen Konflikten der 1990er Jahre und zum Nationalsozialismus auf. In den Vereinigten Staaten war die Serie für die ausstrahlenden Fernsehsender trotz fallender Zuschauerzahlen ein Erfolg. Im deutschsprachigen Raum wurde sie – mit Ausnahme des Pilotfilms – nur im Nachmittagsprogramm erstausgestrahlt und erfuhr außerhalb von Fan-Kreisen wenig Beachtung. Sie erhielt neben anderen Auszeichnungen 32 Nominierungen und vier Prämierungen für den Emmy Award. Sie wurde, wie auch die anderen Star-Trek-Serien, für zahlreiche Merchandising-Produkte adaptiert, darunter Romane, Comics und Spielzeug, und trug auch damit die Begeisterungswelle für Star Trek in den 1990er Jahren. Der neuere Teil der über 80 Romane setzt die Handlung der Fernsehserie nach ihrem Ende fort, teilweise als Crossover mit anderen Star-Trek-Romanreihen. Handlung Siehe Hauptartikel: Staffeln 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 Überblick Die Handlung baut auf den vorherigen Star-Trek-Produktionen auf. Im 24. Jahrhundert gehört eine Vielzahl von Planeten zur Vereinten Föderation der Planeten, einer von den Menschen im 22. Jahrhundert mitgegründeten und von der Erde aus regierten Allianz. Die Planeten befinden sich im Alpha- und im Beta-Quadranten, deren gemeinsame Grenze durch unsere Galaxie verläuft, die Milchstraße. Die Sternenflotte dient der Föderation zur Erforschung des Alls, wird aber auch zur Verteidigung genutzt. Nicht zur Föderation gehören unter anderem die Klingonen, die Romulaner, die Ferengi, die Cardassianer und die Bajoraner. Die Cardassianer, mit denen die Föderation 2367 nach langjährigem Krieg ein Waffenstillstandsabkommen vereinbart hat, plündern schon seit Jahrzehnten die Rohstoffe des Planeten Bajor und unterdrücken dessen Bewohner gewaltsam. Innerhalb der Hauptzeitleiste von Star Trek beginnt die Handlung von Deep Space Nine, Rückblenden unberücksichtigt, im Jahr 2369 und damit während der Handlung der sechsten Staffel von Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert. Sie spielt im Zeitraum bis 2375. Eine in der Serie übliche Zeitmessgröße ist die Sternzeit. Sie wird nur in einem Teil der Episoden und meist im Rahmen von Einträgen in das Computerlogbuch genannt, mit denen eine der Hauptfiguren – allen voran Benjamin Sisko – als Erzähler den Zuschauer informiert. Im Vorspann gleitet die Kamera durch einen Kometenschweif und nähert sich, passiert von entgegenkommenden Runabouts – in der deutschen Synchronfassung meist Shuttles genannt –, der Raumstation Deep Space Nine, die sie anschließend umkreist. Die Raumstation ist bei der Draufsicht kreisrund und besteht aus einem mittigen, runden Element, das die Kommandozentrale und das Promenadendeck beinhaltet und mit zwei es umschließenden Ringen verbunden ist, nämlich dem für Wohnquartiere vorgesehenen Habitatring und dem Andockring, an dem Raumschiffe anlegen können. Letzterer besitzt je drei obere und untere, nach innen hin gekrümmte Pylonen. Der Vorspann endet – mit Ausnahme des Pilotfilms – in den Episoden der ersten drei Staffeln damit, dass ein weiteres der Runabouts, die der Stationsbesatzung zum Überwinden großer Distanzen dienen, in das nahe gelegene, sich öffnende Wurmloch fliegt. Ab der vierten Staffel sieht der Zuschauer stattdessen das in der dritten Staffel neu eingeführte Raumschiff U.S.S. Defiant zum Wurmloch fliegen. Pilotfilm Im Jahr 2369 endet die Okkupation der Cardassianer über die Bajoraner, auch als Folge andauernden bajoranischen Widerstands. Dabei ziehen sich die bisherigen Besatzer von der nahe Bajor gelegenen cardassianischen Raumstation Terok Nor zurück, auf der sie zuvor unter Einsatz bajoranischer Zwangsarbeiter Erzaufbereitung betrieben. Um politische Stabilität in dieser Gegend des Universums zu sichern und den Bajoranern bei der Schaffung der Voraussetzungen für den Beitritt zur Föderation zu helfen, bezieht die Sternenflotte die Station, die von da an Deep Space Nine heißt und von den beiden Mächten kooperativ geführt wird. Das Kommando erhält der Sternenflottenoffizier Benjamin Sisko, erste Offizierin und zugleich Verbindungsoffizierin des bajoranischen Militärs zur Sternenflotte wird die Bajoranerin Kira Nerys. Weil sich das untereinander zerstrittene bajoranische Volk von Sisko erhofft, die Bajoraner miteinander zu vereinigen, wird er von den „Propheten“, den Göttern der Bajoraner, dazu auserkoren, entsprechend einer lange währenden bajoranischen Prophezeiung als „Abgesandter“ den „Himmelstempel“ zu entdecken. Wenig später entdeckt Sisko mithilfe seiner Crew in der Nähe von Bajor ein künstliches, stabiles Wurmloch, das zeitsparendes Reisen in eine 70.000 Lichtjahre entfernte Gegend des bislang kaum erforschten Gamma-Quadranten ermöglicht. Das Wurmloch beziehungsweise der Himmelstempel wird von Wesen bewohnt, die abseits räumlicher und zeitlicher Existenz leben und die von den Bajoranern als die Propheten verehrt werden. Nachdem Sisko die Wesen im Wurmloch davon überzeugt hat, dass die Föderation keine bösen Absichten hat, gewähren sie allen Raumschiffen freies Geleit durch das Wurmloch. Politische und religiöse Machtkämpfe In einem Teil der Episoden der ersten drei Staffeln stehen die politischen und religiösen Konflikte zwischen der Föderation, den Bajoranern und den Cardassianern im Mittelpunkt der Handlung. Nachdem die bajoranische Kai, die religiöse Führerin ihres Volkes, amtsunfähig geworden ist, vergrößert sich das Machtvakuum auf dem Planeten. Dies ausnutzend versucht die intrigante, orthodoxe Bajoranerin Winn, mit einem Mordanschlag einen ihrer Konkurrenten um die Führungsnachfolge zu beseitigen. Ebenfalls, um Macht zu gewinnen, unterstützt sie Anfang 2370 eine von den Cardassianern beeinflusste, bajoranische Fundamentalistengruppe, die die Föderation von Deep Space Nine vertreiben möchte, letztlich aber durch die Bemühungen von Föderation und Bajoranern keinen dauerhaften Erfolg damit hat. Durch den freiwilligen Verzicht ihres Mitbewerbers Bareil wird sie später doch zur Kai gewählt. Dennoch gelingt es Bareil 2371, die cardassianische Regierung zu einem Friedensvertrag mit Bajor zu bewegen. Durch Sabotage versucht der cardassianische Geheimdienst Obsidianischer Orden jedoch, das Fortbestehen des Friedensvertrages zu verhindern, hat damit aber keinen Erfolg. Nach dem plötzlichen Tod des bajoranischen Premierministers außerdem zwischenzeitlich Regierungschefin geworden, riskiert Winn zur Festigung ihrer Macht einen Bürgerkrieg, jedoch kandidiert sie aus Furcht vor dem Publikwerden ihres Verhaltens nicht bei den Neuwahlen. In sechs weiteren Episoden der Staffeln 2 bis 5 steht die Konfrontation der Föderation mit dem Maquis im Zentrum der Handlung. Diese von Siedlern getragene und teils aus abtrünnigen Föderationsmitgliedern bestehende Widerstandsbewegung richtet sich gegen die cardassianische Herrschaft über ehemalige Föderationskolonien, die im Grenzstreifen beider Welten liegen und im Sinne von dessen Begradigung laut Vertrag nunmehr den Cardassianern zugefallen sind. Der Maquis kämpft deshalb, unter anderem mit terroristischen Aktionen, sowohl gegen die Föderation als auch gegen Cardassia. Dadurch gerät der Friedensschluss zwischen den beiden Mächten Ende 2370 in Gefahr. Zwei Jahre später desertiert der bislang auf Deep Space Nine stationierte Sternenflottenoffizier Michael Eddington zum Maquis. Er lässt die Atmosphären zweier cardassianischer Planeten vergiften, um sie für Cardassianer unbewohnbar zu machen. Indem Sisko im Gegenzug damit beginnt, von Maquis-Kolonisten bewohnte Planeten zu vergiften, zwingt er Eddington dazu, sich Sisko zu stellen. 2373 wird der Maquis nach anhaltenden Kämpfen durch das Dominion weitgehend vernichtet. Bedrohung durch das Dominion Nach der Entdeckung des Wurmlochs kommt es beiderseits der Passage zunehmend zu Kontakten der Stationsbesatzung mit Vertretern bislang fremder Spezies aus dem Gamma-Quadranten. Ende 2370 beziehungsweise in der finalen Episode der zweiten Staffel treffen Stationsbewohner im Gamma-Quadranten auch auf Mitglieder des Dominion. Das Dominion, zu dem auch die kriegerischen Jem’Hadar gehören, betrachtet das Eindringen in sein Territorium als feindseligen Akt. Um die Gründer, die das Dominion anführen, zu suchen und davon zu überzeugen, dass die Föderation keine Gefahr für sie darstellt, erhält Sisko anschließend das Kommando über das Kriegsraumschiff Defiant, das mit einer Tarnvorrichtung ausgestattet ist. Die durch den zur Stationsbesatzung gehörigen Formwandler Odo maßgeblich vorangetriebene Suche ergibt, dass es sich bei den Gründern ebenfalls um Formwandler handelt, welche sich selbst als „Gründer“ bezeichnen. Um ihre ungefährdete Existenz zu sichern und um Ordnung im Universum zu schaffen, begannen die Gründer einst, die anderen Bewohner eines Teils des Gamma-Quadranten zu unterwerfen. Die Konfrontation der Stationsbesatzung mit dem Dominion bildet für den Rest des Serienverlaufs den bestimmenden Handlungshintergrund eines Teils der Episoden. Manche davon wiederum handeln von den bedeutenden Wendepunkten in dieser Konfrontation oder erzählen vom Wesen des Dominion, etwa von der Abhängigkeit der Jem’Hadar von der Droge Ketracel White, mit der die Gründer sie gefügig machen. Die dritte Staffel handelt unter anderem davon, dass sich viele Völker des Alpha-Quadranten der Gefahr eines Angriffes durch das Dominion ausgesetzt sehen. Deshalb schicken der romulanische und der cardassianische Geheimdienst Raumschiffe in den Gamma-Quadranten, um das Dominion durch einen Präventivschlag zu vernichten. Ihr Vorhaben misslingt jedoch, da sie in eine Falle des Dominion geraten, das die Romulaner und Cardassianer militärisch schwächen will. Den Plan eines Formwandlers, durch das Ersetzen von Föderationsoffizieren die Föderation in einen Krieg zu treiben und so militärisch zu schwächen, können Sisko und seine Mannschaft in letzter Minute verhindern. Die vierte Staffel beginnt damit, dass die Klingonen davon ausgehen, dass Formwandler zum Erlangen der Herrschaft über den Alpha-Quadranten die cardassianische Regierung infiltriert haben. Deshalb planen sie, Cardassia zu überfallen und die dortige Regierung zu beseitigen. Da die durch Sisko vertretene Föderation zur Vermeidung eines Krieges diesen Plan verhindern will, kündigen die Klingonen ihren Friedensvertrag mit der Föderation auf und greifen Deep Space Nine – letztlich aber erfolglos – mit einer Kriegsraumschiffflotte an. In der Folgezeit kommt es zu weiteren klingonischen Angriffen gegen militärische Ziele der Cardassianer und der Föderation. Zu Beginn der fünften Staffel erfährt der Zuschauer, wie Mitglieder der Stationsmannschaft einen Wechselbalg in der klingonischen Regierung enttarnen, der im Auftrag des Dominion die letztjährige klingonische Strategie maßgeblich vorantrieb. Unterdessen verursacht der Aufenthalt von Formwandlern auf der Erde unter der Erdbevölkerung Angst vor einem baldigen Angriff des Dominion. Diese Angst schürend, möchte ein Sternenflottenadmiral mit dem Ziel besserer militärischer Verteidigungsmöglichkeiten die demokratische Erdregierung durch eine Militärherrschaft ablösen. Weil dieser Putschversuch die Absicht des Dominion unterstützt, die Föderation zu destabilisieren, stoppen ihn Sisko und dessen Stationsmannschaft. In der fünften Staffel beginnt das Dominion, Flotten von Jem’Hadar-Raumschiffen im cardassianischen Territorium zu stationieren. Dabei enthüllt der cardassianische Gul Dukat, zu Zeiten der Besatzung Kommandant auf Deep Space Nine, dass Cardassia auf sein Bemühen hin dem Dominion beigetreten ist, um sein Reich, geschwächt durch Angriffe der Klingonen und des Maquis, zurück zu alter Stärke zu führen. Dukat, zudem zum neuen Herrscher Cardassias ernannt, fordert, dass die Föderation ebenfalls dem Dominion beitritt und die Raumstation wieder in cardassianische Herrschaft geht. Da sich das klingonische Reich durch das Bündnis zwischen Cardassia und dem Dominion ebenfalls bedroht sieht, stellt es nicht nur den Friedensvertrag mit der Föderation wieder her, sondern wird auch zu ihrem Alliierten. Dominion-Krieg In der finalen Episode der fünften Staffel erfährt der Zuschauer, dass die Romulaner und andere Völker des Alpha-Quadranten Nichtangriffspakte mit dem Dominion abgeschlossen haben. Auch durch diese Situation ausgelöst, lässt die Sternenflotte das Wurmloch verminen und dadurch unpassierbar machen, um zu verhindern, dass das Dominion seine Präsenz im Alpha-Quadranten weiter verstärkt und die von ihm ausgehende Bedrohung anwächst. Wohlwissend, dass die Blockade des Wurmlochs einen Krieg provoziert, veranlasst Sisko die bajoranische Regierung zum Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit dem Dominion. Wenig später greift eine Kriegsraumschiffflotte von Cardassianern und Jem’Hadar die mittlerweile beinahe vollständig evakuierte und von der Sternenflotte verlassene Station an und nimmt sie ein. Durch die Blockade des Wurmlochs vom Nachschub aus dem Gamma-Quadranten abgeschnitten, verbleibt von den Gründern nur ein Individuum, meist in der Gestalt einer Frau, im Alpha-Quadranten. Im Alpha-Quadranten entbrennt ein interstellarer Krieg, in dem das Dominion durch die Eroberung fremder Territorien seine Macht ausweiten und seine Gegner schwächen möchte. Indem Sternenflotte und Klingonen auf das Expansionsbestreben des Dominion reagieren, verlieren sie bei den zahlreichen Angriffen und Rückzügen mehrere Dutzend Raumschiffe. Zu den Missionen der Defiant gehört etwa die Zerstörung einer in der Hand des Dominion befindlichen Sensorstation. Unterdessen möchten auf Deep Space Nine verbliebene, bajoranische Militärangehörige mit einer neu gegründeten Widerstandszelle den Kriegsverlauf zu Ungunsten des Dominion beeinflussen und säen dazu Zwietracht zwischen Cardassianern und Jem’Hadar. Als die Föderationsallianz den Krieg zu verlieren droht, setzt sie Siskos Plan zur Rückeroberung von Deep Space Nine um und führt dabei eine mit hunderten Raumschiffen beiderseits verlustreiche Schlacht mit dem Dominion. Bis nach Deep Space Nine durchgedrungen, kann Sisko die Propheten davon überzeugen, die sich im Wurmloch der Station nähernde Flotte aus Jem’Hadar-Raumschiffen zu vernichten. Angesichts der dadurch ausgebliebenen Verstärkung wird das Dominion zum Rückzug von der Station gezwungen, wobei Dukat in die Kriegsgefangenschaft der nunmehr zurückgekehrten Stationscrew gerät. Dukats bisheriger Adjutant Damar wird infolgedessen neuer cardassianischer Herrscher. Mangels Nachschub aus dem Gamma-Quadranten stärkt das Dominion seine militärische Kraft im Alpha-Quadranten durch den Neubau von Raumschiffen und durch die Zucht neuer Jem’Hadar-Soldaten. In Kämpfen gegen das Dominion erleidet die Sternenflotte tausende Kriegsopfer. Um dem Dominion angesichts dessen größeren Widerstand entgegenzusetzen, möchte Sisko das Romulanische Imperium dazu bringen, in den Krieg gegen das Dominion einzutreten. Dazu sorgt er für die Durchführung mehrerer rechtlich und moralisch fragwürdiger Schritte und holt sich die Unterstützung des auf der Station lebenden Exil-Cardassianers Garak, dem er weitgehend freie Hand lässt. Als Folge einer dadurch von Garak eingeleiteten Intrige, bei der Garak auch für den – aus der Sicht der Romulaner durch das Dominion verursachten – Tod eines romulanischen Diplomaten sorgt, erfüllt sich letztlich Siskos Absicht. Wenig später führt Sisko, zur Planung der Invasion Cardassias auserkoren, einen aus Sternenflotte, Klingonen und Romulanern bestehenden Kampfverband in eine beiderseits verlustreiche Schlacht gegen das Dominion. Dabei gelingt die Einnahme des im Dominion-Territorium gelegenen Chin’toka-Planetensystems. 2375 verstärkt sich das Dominion, veranlasst durch die von einer degenerativen Krankheit geschwächte Gründerin, indem es ein neues Militärbündnis mit den Breen eingeht. Weil Damar in diese Entscheidung nicht mit einbezogen wurde und er um die cardassianische Eigenständigkeit besorgt ist, gründet er infolgedessen eine Widerstandsbewegung, um Cardassia vom Dominion zu befreien. Beim Aufbau der Bewegung wird er von Siskos Offizieren unterstützt. Unterdessen erobern die Breen das Chin’toka-System von der Föderationsallianz zurück und beschädigen dabei die Defiant so schwer, dass Sisko keine Wahl bleibt, als das Schiff aufzugeben; wenig später explodiert es. Sektion 31 ist eine zur Sternenflotte gehörige, von ihr aber offiziell verschwiegene Geheimorganisation, die zum Zwecke des Schutzes der Föderation auch illegale Missionen durchführt. Mit inoffizieller Unterstützung eines Sternenflottenadmirals sorgt sie etwa dafür, dass die Glaubwürdigkeit eines ihrer Agenten in der romulanischen Regierung gestärkt wird – auch, um zu verhindern, dass die Romulaner während des Dominion-Krieges die Seiten wechseln. Nachdem sich auch bei Odo Symptome der Krankheit gezeigt haben, findet Stationsarzt Dr. Bashir heraus, dass Sektion 31 die Schuld an der bereits drei Jahre zurückliegenden Infektion trägt. Die Absicht der Sektion 31 war es, Odo den Erreger an die Gründer übertragen zu lassen und die Gründer dadurch auszurotten. Bashir gelingt es in der Folge dieser Erkenntnisse, durch illegales Vorgehen ein Gegenmittel herzustellen und Odo zu heilen. Zum endgültigen Erlangen der Herrschaft über den Alpha-Quadranten und um sich neu zu formieren, lässt die Gründerin alle Dominion-Streitkräfte auf cardassianisches Territorium zurückziehen. Darauf sofort reagierend greifen Raumschiffe der Föderationsallianz, darunter auch ein von Sisko erstmals befehligtes, zur Defiant bau- und namensgleiches Schiff, die Stellungen des Dominion rund um Cardassia Prime an. Als sich cardassianische Schiffe, veranlasst durch einen Aufstand des cardassianischen Volks, auf die Seite der Föderation zu schlagen beginnen, lässt die Gründerin einen Völkermord an den Cardassianern beginnen und Millionen von ihnen töten. Als Gegenleistung für die vollständige Kapitulation des Dominion heilt Odo die Gründerin, indem er sich mit ihr verbindet. Die Gründerin und Vertreter von Föderation, Romulanern, Klingonen und Breen unterzeichnen wenig später ein Friedensabkommen, durch das der Krieg, der mehrere hundert Millionen Todesopfer gefordert hat, beendet wird. Indem sich Odo mit seinen Artgenossen im Gamma-Quadranten verbindet, heilt er sein Volk schließlich ebenfalls von der Krankheit. Pah-Geist-Kult Einer bajoranischen Legende zufolge waren die sogenannten Pah-Geister einstmals selbst Wurmlochbewohner, wurden von den Propheten aber aus dem Wurmloch verstoßen und strebten seitdem danach, ihren früheren Platz wieder einzunehmen. Im Gegensatz zu den Propheten, die durch die „Drehkörper“ genannten Artefakte mit sich kommunizieren lassen, erhalten Gläubige Zugang zu den Pah-Geistern, indem sie diese von sich Besitz ergreifen lassen. Die Pah-Geister stellen für die letzten beiden Staffeln und den Serienabschluss einen wichtigen Teil der Handlung dar. Dukat verfällt nach dem Tod seiner Tochter in Wahnvorstellungen, bei denen er auch zu der Erkenntnis gelangt, dass er die Bajoraner zutiefst hasst. Dazu entschlossen, sie alle zu töten, entkommt er 2374 aus der Gefangenschaft der Föderation. Einige Monate später lässt Dukat einen Pah-Geist von sich Besitz ergreifen, um so den Bajoranern und Sisko ihre Verbindung zu den Propheten zu entziehen und die Föderation militärisch zu schwächen. Dadurch wird der Eingang zum Wurmloch versiegelt. Durch das Auffinden eines Drehkörpers bekommt Sisko Anfang 2375 jedoch wieder Kontakt zu den Propheten, die daraufhin den Pah-Geist aus dem Wurmloch vertreiben und dessen Eingang wieder öffnen. Von den Propheten erfährt Sisko zudem, dass sie es waren, die einst seine Geburt veranlassten. Dukat schwingt sich auch zum Führer einer bajoranischen Sekte auf, die die Pah-Geister als die wahren Götter Bajors verehrt, flieht aber 2375 aus dieser Funktion, als er des Betruges an den Sektenmitgliedern überführt wird. Einige Monate später lässt sich Dukat chirurgisch in einen bajoranischen Bauern verwandeln und besucht in dieser Gestalt Kai Winn. Sie sieht in seinem Besuch eine Ankündigung der von ihr irrtümlich als die Propheten empfundenen Pah-Geister wahr werden, der zufolge sie gemeinsam dazu bestimmt seien, Bajor in eine Zeit der Erneuerung zu führen. Obwohl Winn bald seine wahre Identität erkennt, hat Dukat dadurch Erfolg mit seiner insgeheimen Absicht, Winn zur Abkehr vom Glauben an die Propheten und hin zum Glauben an die Pah-Geister zu bewegen, da Winn zu der Überzeugung gelangt, dass sie nur so ihre Macht erhalten könne. Ihren gemeinsamen Plan umsetzend, beginnt Winn etwas später in Dukats Beisein damit, die in einem Höhlensystem auf Bajor von den Propheten eingesperrten Pah-Geister zu befreien. Nachdem ihr dies gelungen ist, tötet Dukat Winn, weil er ihre Hilfe nicht mehr benötigt. Um die Geister in der Höhle gefangen zu halten, stößt der mittlerweile auf das Geschehen aufmerksam gewordene Sisko Dukat – und dabei auch sich selbst – in einen Abgrund. Im Himmelstempel erfährt Sisko von den Propheten, dass sie für ihn noch viele Aufgaben bereithalten. Einzelschicksale Vor dem Hintergrund der politischen und religiösen Handlung entfalten sich personenbezogene Geschichten, in die neben Sisko und seinen Führungsoffizieren auch andere, teils auf der Station lebende Individuen verschiedener Spezies involviert sind. Viele Episoden sind jeweils auf eine der Haupt- und mitunter auch Nebenfiguren fokussiert, sodass die anderen Figuren oft nur kurz, teilweise gar nicht mitwirken. Benjamin Sisko, anfangs im Rang eines Commanders und später eines Captains, verliebt sich einige Zeit nach dem Tod seiner Ehefrau in die Raumschiffkommandantin Kassidy Yates. Ihr Verhältnis leidet unter Yates’ Verstrickungen in Aktivitäten des Maquis, festigt sich im Handlungsverlauf aber wieder, bis sie schließlich heiraten. Sisko versucht seinen Sohn Jake erfolglos zu überzeugen, eine Laufbahn bei der Sternenflotte einzuschlagen. Stattdessen wird Jake Schriftsteller und berichtet als Journalist auch über den Dominion-Krieg. Sein beinahe gleichaltriger Freund Nog, ein Ferengi, ist zunächst Tagedieb und tritt später in die Sternenflotte ein. Als Fähnrich wird er im Dominion-Krieg schwer verwundet, kehrt aber alsbald in den Dienst zurück. Der für die Sicherheit auf der Station verantwortliche Formwandler Odo blieb an Bord lange Zeit der einzige seiner Art. Der Zuschauer erfährt erst nach und nach Bruchstücke seiner Vergangenheit, in der er als Kind von seinem Volk ausgesetzt wurde, um in dessen Auftrag die Galaxis zu erkunden. Als Bestrafung für das Töten eines anderen Wechselbalgs wird er durch sein Volk vorübergehend in einen Menschen verwandelt und seiner Formwandelfähigkeiten beraubt. In der Gesellschaft der Föderationsangehörigen, der Bajoraner und später des Hologramms Vic Fontaine erlernt er menschliche, soziale Fähigkeiten wie etwa Freundschaften zu schließen und Vertrauen zu fassen. Dabei verliebt er sich in Kira Nerys, die Erste Offizierin auf Deep Space Nine. Als gläubige Bajoranerin und frühere Widerstandskämpferin hegt sie den Cardassianern – vor allem ihrem Intimfeind Gul Dukat – gegenüber tiefes Misstrauen. Gegen Ende des Dominion-Krieges beteiligt sie sich allerdings am Widerstand der Cardassianer gegen das Dominion. Der wie die meisten seiner Artgenossen profitorientierte Ferengi Quark, Betreiber eines Glücksspielcasinos mit Restaurant an Bord der Station, ist häufig in illegale Geschäfte wie etwa Schmuggel verwickelt und steht deshalb unter besonderer Beobachtung Odos. Manchmal ist er in die Lösung politischer und wirtschaftlicher Probleme auf seinem Heimatplaneten und in das Liebesverhältnis seiner Mutter zum Großen Nagus Zek involviert, dem Ferengi-Oberhaupt. Quarks Bruder und anfänglicher Angestellter Rom, Nogs Vater, befreit sich aus der Abhängigkeit von Quark, wird Stationstechniker und schließlich zum Großen Nagus ernannt. Als ranghöchster Techniker ist der früher auf dem Raumschiff Enterprise eingesetzte Ingenieur Miles O’Brien meist mit der Instandsetzung und -haltung von Station und Defiant befasst. Er pflegt parallel zu seiner Ehe eine Freundschaft mit Julian Bashir, dem Stationsarzt. Über Bashir wird alsbald bekannt, dass er früher gentechnisch aufgewertet wurde. Da er deshalb eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz und außergewöhnliche physische Fähigkeiten besitzt, versucht ihn Sektion 31 mehrfach zu rekrutieren. Die Wissenschaftsoffizierin Jadzia Dax setzt sich als symbiotisches Trill-Lebewesen, bestehend aus der Wirtin Jadzia und dem Symbionten Dax, gelegentlich mit der Vergangenheit ihrer früheren Wirte und des Symbionten auseinander. Sie verliebt sich in den Klingonen und Sternenflottenoffizier Worf, früher ebenfalls auf der Enterprise tätig und nun für strategische Operationen zuständig. Er wird von seinem Volk wegen seiner Weigerung, die klingonische Offensive gegen Cardassia und die Föderation zu unterstützen, eine Zeitlang geächtet. Er dient mitunter an Bord des klingonischen Kriegsschiffes Rotaran unter dessen Kommandanten Martok, der das Klingonische Reich auf Deep Space Nine vertritt und dem Worf schließlich zum Erlangen der klingonischen Herrscherrolle verhilft. Nach Worfs Heirat mit Jadzia wird diese durch den von einem Pah-Geist besessenen Gul Dukat ermordet. Als Folge ihres Todes wird Dax mit der neuen Wirtin Ezri vereinigt. Ezri Dax arbeitet auf der Station fortan als psychologische Betreuerin. Mit Worf gerät sie eine Zeitlang in die Gefangenschaft der Breen und des Dominion, dabei wird sie sich ihrer Liebe zu Bashir bewusst. Garak arbeitet auf Deep Space Nine als Schneider. Alsbald wird bekannt, dass er zur Zeit der Besatzung im cardassianischen Geheimdienst tätig war. Seiner dabei erlangten Spezialkenntnisse bedienen sich die Mitglieder der Stationsbesatzung einige Male, zum Beispiel in der Episode In fahlem Mondlicht (Staffel 6). Garaks wahre Intentionen und Loyalität bleiben oftmals geheimnisvoll und widersprüchlich. Weyoun ist der Name mehrerer identitätsgleicher, im Auftrag der Gründer geklonter und diese als Götter verehrender Vorta-Individuen. Mehrere von Weyouns Klonen fungieren nacheinander als Grenzbotschafter des Dominion. Weitere Handlung Je eine Episode der Staffeln 2, 3, 4, 6 und 7 handelt von dem Paralleluniversum, das in der Episode Ein Parallel-Universum von Raumschiff Enterprise geschaffen wurde und in der die Geschichte einen abweichenden Verlauf nahm. Darin kämpfen die Rebellen, zu denen auch die als „Terraner“ bezeichneten Menschen gehören, gegen die „Allianz“ aus oftmals barbarisch agierenden Bajoranern, Klingonen und Cardassianern, darunter auch die unbarmherzige Intendantin, Kiras Pendant. Dabei wird unter anderem der Benjamin Sisko des diesseitigen Universums vorübergehend in das Spiegeluniversum entführt, um die Rebellen zu unterstützen. Einige Episoden handeln von geplanten oder unbeabsichtigten Zeitreisen. In dem Zweiteiler Gefangen in der Vergangenheit (Past Tense, Staffel 3) etwa geht es um Aufstände sozial benachteiligter Menschen im San Francisco des Jahres 2024, in das Stationsoffiziere durch eine Transporterfehlfunktion geraten. Andere Zeitreisen führen etwa in die Zeit Captain Kirks und nach Roswell 1947. Andere Episoden spielen, auch Rückblenden beinhaltend, während der cardassianischen Besatzungszeit. Dabei thematisieren sie die tyrannische Herrschaft der Cardassianer und die Rolle Gul Dukats auf der Station. Drei weitere Episoden spielen auf der zu Deep Space Nine baugleichen Raumstation Empok Nor. Mehrere Episoden der Staffeln 6 und 7 spielen im Rahmen eines Holosuite-Programmes in einem Club im Las Vegas der 1960er Jahre und handeln von emotionalen Sorgen der Stationsbewohner. Zwei Episoden der letzten beiden Staffeln handeln von Visionen Siskos, in denen er sich in der Rolle Benny Russells befindet, eines afroamerikanischen Science-Fiction-Schriftstellers, der in den 1950er Jahren in den USA seine Geschichte von einer Raumstation, die in ferner Zukunft durch einen schwarzen Captain kommandiert wird, veröffentlichen möchte und dabei mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert wird. Format und Inszenierung Titelmusik Lerner (2013) fand, dass zumindest die in den ersten drei Staffeln eingesetzte Titelmusik von Deep Space Nine – passend zum Schauplatz einer unbeweglichen Raumstation und verglichen mit der von Das nächste Jahrhundert – etwas weniger Vorwärtstreibendes suggerieren solle. Die letzte Phrase der Fanfare, mit der die Titelmusik beginnt, spiele, so Lerner, auf die Vorgängerserie an, indem sie die Tonhöhen der letzten Phrase des Themas von Das nächste Jahrhundert neu formuliere. Das darauf folgende Hauptthema entwickele dasselbe Arpeggio-Motiv wie in Das nächste Jahrhundert, aber mit einem deutlich spärlicheren Ensemble. Mit dem Trompetensolo wirke die Hauptmelodie zudem ähnlich abgeschieden und reflektierend wie Aaron Coplands Komposition Quiet City. Die ab der vierten Staffel eingesetzte Version füge der Melodie eine stärker vorwärtstreibende Basslinie hinzu. Genres Neben der Science-Fiction kann Deep Space Nine – wie auch die anderen Star-Trek-Fernsehserien – dem Subgenre Space Opera zugerechnet werden. Als ein weiteres Subgenre nennt Wenger (2006) in Bezug auf die gegenüber den Vorgängerserien verstärkte Thematisierung persönlicher Themen die Social Fiction, auch, weil die Diskussion der Serienideologie und andere typische, wissenschaftliche Star-Trek-Elemente vernachlässigt würden. Entsprechend werden manche Episoden wie etwa Die verlorene Tochter (Prodigal Daughter, Staffel 7) auch als Soap Opera eingestuft. Einzelne Episoden werden darüber hinaus anderen Genres zugeschrieben. Zur Vielfalt der Genres bemerkte Showrunner Ira Steven Behr anlässlich des Serienabschlusses 1999: „Jede Woche gaben wir ihnen [den Fans] eine andere Fernsehserie. Sie wussten nicht, ob sie eine Comedyserie, eine Space Opera, eine gesellschaftlich relevante Episode oder eine ruhige Charakter-Episode bekommen.“ Bei etlichen Episoden, darunter Der Maquis (The Maquis, Staffel 2), Die Front (Homefront) und Das verlorene Paradies (Paradise Lost, beide Staffel 4) handelt es sich, auch unter Berücksichtigung ihrer Inspirationsquellen (siehe auch Abschnitt Drehbücher und Stoffentwicklung), um Politthriller. Episoden höherer Staffeln zählen zum Genre Kriegsfilm. Bei den Episoden Die Schlacht um Ajilon Prime (Nor The Battle To The Strong, Staffel 5) und Die Belagerung von AR-558 (The Siege Of AR-558, Staffel 7) handelt es sich um Antikriegsfilme. Handlungsstruktur Die ersten Staffeln enthielten überwiegend alleinstehende Episoden und nur manche erzählten von der Rahmenhandlung. Mit zunehmender Serienlänge – oft werden die dritte oder vierte Staffel als Beginn dieser Entwicklung genannt – gab es eine stärkere inhaltliche Verknüpfung der Episoden untereinander, in früheren Episoden erzählte Geschichten wurden nun mehr und mehr fortgesetzt. Die höheren Staffeln – meist werden die letzten beiden genannt – wurden in dem Zusammenhang als Fortsetzungsgeschichte und als serialisiert bezeichnet, in Abgrenzung von der vorherigen, überwiegend episodischen Struktur. Allerdings beinhalten auch die sechste und siebte Staffel einige alleinstehende Episoden. Innerhalb von Star Trek stellte die Erzählweise als Fortsetzungsgeschichte ein Novum dar. Obwohl es in Das nächste Jahrhundert einige Handlungsstränge gibt, die die Hauptcharaktere über die Staffeln hinweg ausgestalten, besitzen Raumschiff Enterprise und Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert eine episodische Handlungsstruktur, bei der sich jede Episode – von einzelnen Zweiteilern abgesehen – einem separaten Geheimnis, Konflikt oder Rätsel widmet und an deren Ende der Status quo ante wiederhergestellt wird. Angesichts des zunehmend von episoden- und staffelübergreifenden Handlungsbögen geprägten Erzählstils kamen manche Autoren zu der Überzeugung, dass die Science-Fiction-Fernsehserie Babylon 5 für die Drehbuchautoren und Produzenten von Deep Space Nine ein Vorbild gewesen sei. Inszenierung Verglichen mit der Inszenierung der ersten beiden Staffeln und der von Das nächste Jahrhundert, die überwiegend in hellen, pastellfarbenen Tönen erscheine, gebe es in Deep Space Nine ab der dritten Staffel, so Ordway (2003), mehr Schatten und Kontraste, die Farbgebung sei dunkler und die Bilder wirkten, passend zur Handlung, düsterer. Wulff (2003) schrieb, dass sich Deep Space Nine, verglichen mit den Vorgängerserien und auch anspielend auf die in den höheren Staffeln gezeigten Raumschlachten, teilweise auf die Schauwerte und Wirkungsdramaturgien des Kinos verlege und die „Dürftigkeit“ der klassischen Inszenierungsweisen aufgebe. In den Szenen, in denen Benjamin Sisko als Abgesandter die Propheten trifft, wird der Himmelstempel, entsprechend der Beschreibung von Sennewald (2007), als weiße Lichtebene dargestellt oder als mit goldenem, diffusem Licht überstrahlter Raum. Durch die Lichteffekte würden eine unwirkliche Atmosphäre geschaffen und die Szenen magisch und religiös aufgeladen. Das überirdische Licht verdeutliche Siskos religiöse Funktion des Mittlers zwischen Propheten und Humanoiden. Die in der Episode Der Besuch (The Visitor, Staffel 4) verwendeten Techniken Rückblenden und Voice-over gingen auf die Absicht von Ira Steven Behr zurück, in der vierten Staffel vermehrt alternative Erzählformen auszuprobieren. Zu den filmischen Mitteln gehören auch – wie etwa in der Episode Badda-Bing, Badda-Bang (Staffel 7) – gelegentlich eingesetzte Zeitlupenszenen. Rückblenden auf bereits gezeigte Szenen gibt es in nennenswertem Umfang nur in der finalen Episode Das, was du zurücklässt – Teil 2 (What You Leave Behind (2)). Entstehungsgeschichte Das Budget für den Pilotfilm betrug 12 Millionen US-Dollar und war damals das höchste unter Pilotfilmen dramatischer Fernsehserien. Für die erste Staffel betrug es je nach Quelle zwischen 32 und 40 Millionen US-Dollar, mit Beginn der dritten Staffel wurde es erhöht. Die Zeitschrift Space View nannte 1997 den finanziellen Aufwand, der für die Serie betrieben wird, als mit keiner anderen zeitgemäßen Science-Fiction-Serie vergleichbar. Zusätzlich zu den Schauspielern waren pro Episode durchschnittlich 170 Personen an der Produktion beteiligt. Idee und Konzept Die Fernsehserie Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert hatte sich 1991 für das Filmstudio Paramount Pictures zu einem großen finanziellen Erfolg entwickelt. Da das Studio die Gefahren kreativen Ausbrennens, ansteigender Produktionskosten und sinkender Einnahmen sah, beschloss es die Entwicklung einer weiteren, im Star-Trek-Universum angesiedelten Fernsehserie. Von Bedeutung war dabei auch die Möglichkeit, unter anderem Bühnenbilder, Requisiten und Kostüme kostensparend wiederverwenden zu können. Die Überlegungen des Studios beinhalteten die Ideen einer vom klingonischen Imperium handelnden sowie einer auf einem kolonisierten Planeten spielenden Serie, die beide wegen zu hoch empfundener Kosten wieder verworfen wurden. George Takei, Darsteller des Hikaru Sulu in Raumschiff Enterprise, warb für eine von seiner Figur handelnde Serie, jedoch erfolglos, da Paramount darauf bestand, die Serie in derselben Zeitperiode wie Das nächste Jahrhundert spielen zu lassen. Man zog auch eine Raumstation als Haupthandlungsort in Erwägung, ähnlich den Sternenbasen, die bereits in Raumschiff Enterprise und den Star-Trek-Kinofilmen vorkamen. Das Studio schätzte das mit einer Raumstation verbundene dramatische Potential als besonders hoch ein und versprach sich davon mehr Konfliktreichtum, als es ein Raumschiff erlaube. Brandon Tartikoff, Vorsitzender von Paramount Pictures, konkretisierte die Idee und beschrieb sie als eine Art von „Rifleman im All“, bezugnehmend auf die Hauptfigur der Westernserie Westlich von Santa Fé. Das bedeutet, der Schauplatz sollte ein Ort in direkter Nähe der Grenze zu einem unerforschten Gebiet sein. Tartikoff trug die Idee an Rick Berman heran, den Executive Producer von Das nächste Jahrhundert. Zusammen mit dem leitenden Drehbuchautor Michael Piller gestaltete Berman das Konzept weiter aus. Berman und Piller beabsichtigten, durch das Element des Stillstehens einen tieferen, näheren Einblick in die Vereinigte Föderation der Planeten und das Star-Trek-Universum zu geben, als es in den Vorgängerserien der Fall war. Um die Konflikte unter den Charakteren nicht – wie noch in Das nächste Jahrhundert – von außen in die Geschichten zu bringen, entschieden sie sich dafür, auch Figuren aufzunehmen, die nicht der Sternenflotte angehören, sodass Konflikte von Sternenflottenangehörigen sowohl untereinander als auch mit anderen Figuren ermöglicht würden. Bereits 1989 versuchte der Autor und Produzent J. Michael Straczynski ohne Erfolg, sein detailliertes Konzept für die ebenfalls auf einer Raumstation spielende Science-Fiction-Fernsehserie Babylon 5 an Paramount Pictures zu verkaufen. Kurz nachdem schließlich Warner Bros. zugesagt hatte, Babylon 5 zu produzieren, gab Paramount die Produktion von Deep Space Nine bekannt, die Fernsehausstrahlung der neuen Star-Trek-Serie begann sieben Wochen vor der von Babylon 5. Für Straczynski stand fest, dass die Entwicklung von Deep Space Nine durch Babylon 5 beeinflusst worden sein müsse. In einem Internet-Forum äußerte er 1996 einen entsprechenden Verdacht. Straczynski gab sich 2001 in einem Usenet-Eintrag davon überzeugt, dass die Paramount-Chefs “wanted to co-opt what we were doing with B5” (deutsch: „das, was wir gerade mit B5 machten, kooptieren wollten“). In einem 2011 veröffentlichten Interview sagte Rick Berman, dass die Implikation, Piller und er hätten Straczynskis Idee ganz oder teilweise gestohlen, komplett unwahr sei, und dass er, Piller und Tartikoff Deep Space Nine völlig ohne Wissen von Straczynskis Serienkonzept erschaffen hätten. Drehbücher und Stoffentwicklung Anstelle der Jadzia Dax war zunächst eine andere Figur vorgesehen, die von einem Planeten mit geringer Gravitation stammt und deswegen auf einen Rollstuhl mit Antrieb angewiesen ist. Aus Kostengründen wurde diese Idee wieder verworfen, aber für eine Nebenfigur in der Episode Das „Melora“-Problem (Melora, Staffel 2) adaptiert. Vorbild für den Namen von Morn, dem Stammgast in Quarks Bar, den der Zuschauer – mit einer Ausnahme in der deutschen Synchronfassung – nie sprechen hört, war die Figur Norm aus der Sitcom Cheers. Vorbild für die in den Staffeln 6 und 7 wiederkehrende Rolle des Sängers Vic Fontaine war Frank Sinatra. Der cardassianische Geheimdienst Obsidian Order, in der deutschen Synchronisation zunächst als Obsidianisches Kommando und später als Obsidianischer Orden bezeichnet, sollte ursprünglich Gray Order heißen. Die Drehbuchautoren änderten den Namen aber, um eine Ähnlichkeit mit der Regierungsorganisation Gray Council (Grauer Rat) aus Babylon 5 zu vermeiden. Einige der für Das nächste Jahrhundert entstandenen, aber dort nie verfilmten Drehbücher wurden für Episoden von Deep Space Nine adaptiert. Auch Manuskripte wurden adaptiert, dabei jedoch intensiv umgearbeitet. Dazu gehört auch die Idee für die Rahmenhandlung der dreiteiligen Fortsetzungsgeschichte am Beginn der zweiten Staffel. Im Gegensatz zu Das nächste Jahrhundert entstanden für Deep Space Nine weitaus weniger, letztlich nicht verfilmte, Geschichten und Manuskripte. Ein potentieller Grund dafür sei laut Robb (2012) ein Mangel an neuen Ideen, nachdem viele davon bereits für die Mutterserie adaptiert oder durchgespielt worden waren. Für etliche Geschichten und Drehbücher dienten den Autoren, zu denen im Gegensatz zu den meisten anderen damals produzierten Fernsehserien auch freie Autoren gehörten, darüber hinaus Romane und Spielfilme unterschiedlicher Genres und überwiegend US-amerikanischen Ursprungs als Inspirationsquelle oder Vorlage. Dazu gehören Casablanca, Die sieben Samurai, Restoration – Zeit der Sinnlichkeit, Die Elenden, Gesprengte Ketten, Um Haaresbreite, Der Lohn der Mutigen, Rio Grande, Die phantastische Reise und Catch-22 – Der böse Trick. Auch Theaterstücke wurden für Episoden verwertet, darunter Ein Sommernachtstraum und Warten auf Godot. Als Inspirationsquelle für andere Episoden dienten, wie auch in anderen Star-Trek-Serien, Ereignisse im 20. Jahrhundert. Ein Beispiel ist die zweiteilige Episode Der Maquis (The Maquis) der zweiten Staffel, die überwiegend auf Ereignissen des Nahostkonflikts basiert. Im April 1994 erstausgestrahlt, diente sie dazu, die Widerstandsgruppe Maquis, die bereits wenige Wochen zuvor in Das nächste Jahrhundert eingeführt worden war, näher zu charakterisieren und so beim Zuschauer das Verständnis der Handlung der im Januar 1995 gestarteten Spin-off-Serie Star Trek: Raumschiff Voyager zu fördern. Drehbuchautor Ira Steven Behr war in der dritten Staffel von Das nächste Jahrhundert als Autor und Produzent tätig. Mit dieser Arbeit war er aber unzufrieden, vor allem war ihm die Handlung zu konfliktarm und er störte sich an den technischen Lösungen für eine Menge von Problemen. In Deep Space Nine wurde er durch den Abgang Michael Pillers, der sich – ebenso wie Rick Berman – fortan der Entwicklung von Raumschiff Voyager widmete, nach der zweiten Staffel Showrunner und Executive Producer. Dadurch gewannen Behr und Ronald D. Moore mehr Einfluss und konnten die Dominion-Handlung, die ursprünglich nur in einer Handvoll Episoden der dritten Staffel thematisiert werden sollte, zu dem zentralen Handlungsbogen der Serie ausbauen. Als Inspirationsquelle für das Dominion diente den Autoren die Foundation-Trilogie des Science-Fiction-Schriftstellers Isaac Asimov, die zu dem von ihm geschaffenen Foundation-Zyklus gehört. Zusammen mit Robert Hewitt Wolfe und Hans Beimler verfasste Behr die Drehbücher für die meisten Dominion-zentrierten Episoden. Von Behr stammt auch ein Großteil der Ferengi-zentrierten Episoden. Die Drehbuchautoren bauten die Rahmenhandlung laufend aus; sie war – im Gegensatz etwa zu Babylon 5 – nicht von Anfang an festgelegt. Nach dem Produktionsende von Das nächste Jahrhundert 1994 wechselten einige, bisher dort tätige Stabsmitglieder zum Produktionsteam von Deep Space Nine. Dazu gehörte auch der Drehbuchautor René Echevarria. Etliche Veröffentlichungen geben an, dass die Entscheidung der Autoren, zu Beginn der dritten Staffel das Kriegsraumschiff Defiant in die Handlung einzuführen, zum Steigern der Einschaltquoten gedient habe. Diese Darstellung verneinte Wolfe jedoch ausdrücklich und sagte, dass die Entscheidung zur Verbesserung der Serie gedient habe. Beabsichtigt war, mehr Mannschaftsmitglieder als zuvor auf Reisen in entfernte Gegenden des Alls schicken zu können und die Station besser gegen das neu eingeführte Dominion verteidigen zu können. Vom Filmstudio Paramount kam 1995 der Wunsch an die Produzenten und Drehbuchautoren, die Serie so zu überarbeiten, dass das Interesse der Zuschauer gesteigert wird. Sie entschieden sich dafür, mit Beginn der vierten Staffel die dem Zuschauer bereits aus den vorherigen Star-Trek-Produktionen bekannten Klingonen in die Handlung zu integrieren, nunmehr als Feinde der Föderation. Außerdem brachten sie die aus Das nächste Jahrhundert bekannte Figur Worf als zusätzliche Hauptrolle in die Serie ein. Zu den weiteren Maßnahmen, um dem Wunsch von Paramount nachzukommen, gehörten die Änderung der Frisur des Darstellers Avery Brooks, die nun mehr Entschlossenheit signalisieren sollte, und die Überarbeitung des Vorspanns, der die Raumstation fortan zusammen mit der Defiant und mit umfangreicherer äußerer Aktivität zeigt. Um den Zuschauer in die Neuerungen einzuführen, wurde Der Weg des Kriegers (The Way of the Warrior) als Pilotfilm zur vierten Staffel geschaffen, der aufgrund der Neuerungen auch als zweiter Pilotfilm der Serie bezeichnet wird. Ursprünglich planten die Drehbuchautoren, mit der aus den Episoden Die Front (Homefront) und Das verlorene Paradies (Paradise Lost) bestehenden Fortsetzungsgeschichte die dritte Staffel als Cliffhanger zu beenden und die vierte Staffel zu beginnen. Die Geschichte wurde aber, auch wegen der Neuerungen zum Beginn der vierten Staffel, zweimal verschoben und letztlich in deren Mitte umgesetzt. Die sechste Staffel beginnt mit sechs Episoden, in denen das Dominion die Raumstation besetzt und sich im Krieg mit der Föderationsallianz befindet. Diese Episoden konzipierten die Drehbuchautoren als einen zusammenhängenden Handlungsbogen. Sie beabsichtigten damit, der Komplexität der Dominion-Handlung besser gerecht zu werden, und empfanden ein serialisiertes Serienformat, bei dem die Episoden stärker miteinander verknüpft sind, für die Vielzahl an wiederkehrenden Nebendarstellern als passender als das bisherige, episodische Format mit überwiegend abgeschlossenen Episoden. Der Entstehungsprozess dieser Episoden war, verglichen sowohl mit den vorherigen Staffeln als auch den vorherigen Star-Trek-Serien, von wesentlich mehr Interaktion unter den Drehbuchautoren geprägt. Um die Serienhandlung abzuschließen und die Vielzahl an Handlungssträngen zu einem Ende zu führen, wurden – die finale Doppelepisode berücksichtigt – die letzten zehn Episoden der siebten Staffel ebenfalls als ein zusammenhängender Handlungsbogen konzipiert. Da Paramount verlangte, die finale Episode solle sich nicht um Krieg drehen, ließen die Autoren die Kriegshandlung bereits in der vorletzten Episode enden. Besetzung und deutsche Synchronfassung Beim Casting kamen für die Rolle des Benjamin Sisko etliche afroamerikanische Schauspieler in die engere Wahl. Dazu gehören Tony Todd, Michael Clarke Duncan, Eriq La Salle, James Earl Jones und Carl Weathers. Avery Brooks erhielt die Rolle schließlich und spielte als einziger Darsteller in allen 176 Episoden mit. Alle anderen Hauptdarsteller spielten – trotz Nennung im Vorspann – in einigen Episoden nicht mit, für Cirroc Lofton gilt dies sogar für mehr als die Hälfte aller Episoden. Mehrere Darsteller setzten ihre bereits in Das nächste Jahrhundert gespielten Rollen fort. Dazu gehören Colm Meaney als Miles O’Brien, Michael Dorn als Worf, Rosalind Chao als Keiko O’Brien, Robert O’Reilly als Gowron und – im Pilotfilm – Patrick Stewart als Jean-Luc Picard. Michelle Forbes war ebenfalls dafür vorgesehen, ihre Rolle der Ro Laren wieder aufzunehmen, dieses Mal aber als Hauptfigur. Forbes lehnte jedoch ab, sodass für Nana Visitor die Rolle der Kira Nerys in enger Anlehnung an die der Ro Laren geschaffen wurde. Für die Rolle der Jadzia Dax war zunächst Famke Janssen vorgesehen, die aber ebenfalls ablehnte. Die Rolle wurde schließlich mit Terry Farrell besetzt, und zwar erst, als die Dreharbeiten zum Pilotfilm bereits im Gange waren. Farrell verlängerte ihren mit der sechsten Staffel auslaufenden Vertrag auf eigenen Wunsch nicht und wurde durch Nicole de Boer ersetzt, die in der siebten Staffel die Figur Ezri Dax verkörperte. Armin Shimerman, Max Grodénchik und Marc Alaimo gehören ebenfalls zu den Schauspielern, die bereits in Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert mitwirkten. Alle drei waren dabei bereits als Ferengi bzw. Cardassianer zu sehen, allerdings teilweise in anderen Rollen. Die von Ken Marshall gespielte Rolle des Michael Eddington wurde in der dritten Staffel zu dem Zweck eingeführt, Colm Meaney zu ersetzen, falls dieser wegen anderweitiger Schauspieltätigkeit nicht mehr zur Verfügung stehen sollte. Für die von James Darren gespielte Rolle des Sängers Vic Fontaine waren ursprünglich die Sänger Frank Sinatra junior und Steve Lawrence vorgesehen. Jeffrey Combs spielte, nachdem er in einer Episode der dritten Staffel bereits die Gastrolle des Tiron verkörperte, in späteren Staffeln die wiederkehrenden Rollen sowohl von Weyoun als auch von Brunt. Die deutsche Synchronfassung stellte die Firma Arena Synchron in Berlin her. Das Dialogbuch für den Pilotfilm verfasste Ulrich Johannson, für alle anderen Episoden Boris Tessmann, der auch Dialogregisseur war. Szenenbild, Kostümdesign und Masken Das 1992 veranschlagte Budget für die Sets betrug 4 Millionen US-Dollar. Die Form der Raumstation basierte auf einem Gyroskop. Es kamen mindestens vier verschiedene, vom Szenenbildner Herman F. Zimmerman entworfene, Modelle der Raumstation zum Einsatz; sie waren bis zu 2 Meter groß und wurden abhängig von der Kameraperspektive und der Szene eingesetzt. Um die Station möglichst groß wirken zu lassen, wurde sie mit Weitwinkelobjektiven gefilmt. Als Vorbilder für die Lichtgebung des Stationsäußeren dienten Fotos von Space Shuttles der NASA. Die Kulissen des Promenadendecks der Raumstation wurden zu Beginn der zweiten Staffel erweitert, um mehr Platz zur Verfügung zu haben, und mit den Absichten umgestaltet, es belebter und geschäftiger wirken zu lassen. Eines der für das Raumschiff Defiant eingesetzten Modelle maß etwa 1,20 Meter. Das Set der Defiant-Brücke wurde nach Produktionsende in Star Trek: Raumschiff Voyager und Enterprise für andere Raumschiffe wiederverwendet. Mitunter wurden Kostüme und Kulissen aus Das nächste Jahrhundert und Raumschiff Voyager sowie den Filmen Der erste Kontakt und Der Aufstand wiederverwendet. Für das Kostümdesign war überwiegend Robert Blackman zuständig. Viele der für Schurkenrollen gefertigten Kostüme, darunter die schwarze Lederkleidung der Sektion-31-Agenten, entstanden inspiriert durch das Aussehen von SS- und Gestapo-Mitgliedern und anderer Nationalsozialisten. Weil René Auberjonois, Darsteller des Formwandlers Odo, erst so spät engagiert wurde, dass seine Maske nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte, wurde die Maske im Laufe der ersten Staffel mehrfach angepasst. Die Sprechrollen anderer in der Serie auftauchender Formwandler erhielten differenziert ausgestaltete Teilmasken, Darsteller ohne Sprechrollen dagegen Ganzkopfmasken aus Latex. Dreharbeiten Die Dreharbeiten zum Pilotfilm begannen am 18. August 1992, die für das Serienfinale endeten am 20. April 1999. Die durchschnittliche Drehzeit pro Episode dauerte sieben bis acht Tage, jeder Drehtag mindestens 13 Stunden. Um die düstere Atmosphäre der Raumstation zu betonen, wurde oft ungefiltertes Licht eingesetzt, wodurch die Sets besonders dunkel wirken. Bei der Beleuchtung der Sets kamen speziell gestaltete Decken und darüber installierte Spiegel zum Einsatz. Durch die Anpassung der Beleuchtung und die Veränderung der Raumausstattung wurden dieselben Sets für die Quartiere unterschiedlicher Besatzungsmitglieder verwendet. In den ersten beiden Staffeln wurden häufig Kameralinsen benutzt, die die Charaktere von ihrer Umgebung isolierten. Dies änderte man mit Beginn der dritten Staffel, um mehr Informationen über den Bildschirm vermitteln zu können. Über den Serienverlauf hinweg kamen insgesamt 34 Regisseure zum Einsatz, darunter einige, die auch in anderen Star-Trek-Serien Regie führten, und einige der Hauptdarsteller. Die aktivsten Regisseure waren David Livingston (17 Episoden), Les Landau (14), Winrich Kolbe (13), Allan Kroeker (13) und LeVar Burton (10) (siehe Hauptartikel: Liste der Star-Trek-Regisseure). Executive Producer Ira Steven Behr entschied, mit Beginn der fünften Staffel neue, in der Serie bislang noch nicht verwendete Regisseure mit dem Ziel einzusetzen, das Interesse der Zuschauer wach zu halten. Dazu gehörten neben Kroeker Victor Lobl, John Kretchmer, Jesús Salvador Treviño, Gabrielle Beaumont und Michael Vejar. Als Kameramann kamen Jonathan West (118 Episoden), Marvin V. Rush (45) und Kris Krosskove (20) zum Einsatz. In der finalen Episode waren auch das Drehbuchautorenteam und einige unkostümierte Darsteller normalerweise nur mit Maske auftretender Figuren zu sehen. Spezial- und visuelle Effekte Zu Serienbeginn entstand ein Großteil der Außenaufnahmen von Raumschiffen und -stationen unter Einsatz der Motion-Control-Fotografie. Im Serienverlauf ging man zunehmend dazu über, Raumschiff- und Weltallszenen mit der CGI-Technik zu produzieren, sodass in den letzten beiden Staffeln beinahe alle dieser Szenen unter Verwendung von CGI entstanden. Gründe für den zunehmenden CGI-Einsatz waren eine besser werdende Qualität und abnehmende finanzielle Aufwände. Die Verwendbarkeit von CGI war wesentlicher Grund dafür, dass im Rahmen des Dominion-Krieges Flotten aus mehreren Dutzend Raumschiffen gezeigt werden konnten. Die verhältnismäßig wenigen in den ersten fünf Staffeln enthaltenen CGI-Effekte, darunter die Morphing-Szenen Odos, produzierte die Firma VisionArt. Die CGI-Aufnahmen von Raumschiffen, dreidimensionalen Effekten, Raumschlachten und Außerirdischen in den Staffeln 6 bis 7 stammen von den Firmen Foundation Imaging, die zuvor durch Paramount von Babylon 5 abgeworben wurde, und Digital Muse. Für die Herstellung der CGI-Aufnahmen kam überwiegend die Software LightWave 3D zum Einsatz. An den Spezialeffekten, darunter der Generierung des Wurmlochs, war auch die Firma Rhythm & Hues beteiligt. Beispielsweise für Landschaftsbilder von Planeten wurden Matte Paintings angefertigt, woran auch die Firma Illusion Arts beteiligt war. Manche der ursprünglich vorgesehenen Spezialeffekte konnten infolge von Budgetkürzungen zugunsten anderer Episoden nur eingeschränkt umgesetzt werden, darunter in den Episoden Die Front (Homefront) und Das verlorene Paradies (Paradise Lost, beide Staffel 4). Wie bei Das nächste Jahrhundert wurden die optischen Effekte nicht auf Negativfilm aufgenommen, sondern mit dem Ziel einer Zeit- und Kostenersparnis auf Video (siehe Hauptartikel: Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert). Anlässlich des 30-jährigen Star-Trek-Jubiläums wurde für die fünfte Staffel die Episode Immer die Last mit den Tribbles produziert. Darin wurden in wiederverwendeten Szenen aus Raumschiff-Enterprise-Episoden Deep Space Nine-Figuren mittels digitaler Bildbearbeitung eingefügt (siehe Hauptartikel: Staffel 5). Vertonung Der Soundtrack jeder Episode besteht aus bis zu 30 verschiedenen, individuellen Aufnahmen. Dazu gehören neben der Musik und den Dialogen der Darsteller Stimmen aus dem Off, darunter Computerstimmen, und Geräusche etwa von Tricordern, Phasern und sich öffnenden und schließenden Türen. Der Soundtrack jeder auf Deep Space Nine spielenden Szene beinhaltet Borduns – unterschwellige, tiefe Töne –, mit denen dem Zuschauer der Eindruck vermitteln werden soll, die Charaktere seien Teil einer in Betrieb befindlichen Maschine. Für die Abmischung der akustischen Elemente und das Automatic Dialogue Recording war die in Hollywood ansässige Firma Modern Sound verantwortlich. Im Rahmen der Vertonung der Episoden kam auch eine Digital Audio Workstation von Sonic Solutions zum Einsatz. Für den Großteil der Episoden komponierten Dennis McCarthy und Jay Chattaway die Musik. Bei den anderen Komponisten handelt es sich um David Bell, Paul Baillargeon, Gregory Darryl Smith und John Debney. Bei den meisten der vom Fontaine-Darsteller James Darren in den letzten beiden Staffeln gesungenen Lieder handelt es sich um Interpretationen und Coverversionen von Songs bekannter Sänger, darunter vor allem Frank Sinatras. Zu den Stücken gehören unter anderen That Old Black Magic, It’s Only a Paper Moon, Sophisticated Lady, I’ve Got You Under My Skin, The Way You Look Tonight und Night and Day. Dennis McCarthy komponierte auch die Titelmelodie. An seiner Stelle war ursprünglich Jerry Goldsmith vorgesehen, der wegen Zeitmangels aber absagte. McCarthy überarbeitete die Titelmelodie im Zuge der visuellen Umgestaltung des Vorspanns mit Beginn der vierten Staffel. Fernsehausstrahlung Die Serie wurde – wie auch die anderen Star-Trek-Produktionen – für andere Sprachen synchronisiert und in zahlreichen Ländern ausgestrahlt. Vereinigte Staaten Die Erstausstrahlung von Deep Space Nine startete in den USA am 2. Januar 1993. Sie erfolgte im wöchentlichen Rhythmus und syndiziert, das heißt nicht durch ein bestimmtes Fernseh-Network, sondern durch regionale Fernsehstationen. Der Pilotfilm wurde mit etwa 12 Millionen Zuschauern beziehungsweise 18,8 Prozent Marktanteil zur bis dahin meistgesehenen Premierenepisode syndiziert ausgestrahlter Fernsehserien. Die erste Staffel erreichte durchschnittlich 8,7 Millionen Haushalte. Werberelevante Zielgruppe waren junge, männliche Zuschauer. Die Einschaltquoten der dritten Staffel lagen etwa 20 Prozent über denen der damals stärksten Konkurrenzserie Baywatch. Bis zur finalen Staffel sank die Anzahl regelmäßiger Zuschauer auf durchschnittlich 4,5 Millionen. Zumindest ab der vierten Staffel wirkte sich die zunehmende Konkurrenz von anderen phantastischen Fernsehserien wie Hercules und Xena mindernd auf die Einschaltquoten von Deep Space Nine aus; auch deswegen erreichte die Serie nicht annähernd so hohe Einschaltquoten wie das ebenfalls syndiziert ausgestrahlte Das nächste Jahrhundert. Deutschsprachige Länder In den deutschsprachigen Ländern wurde Deep Space Nine beginnend im Januar 1994 durch Sat.1 erstausgestrahlt. Bis zu dem Zeitpunkt war die Erstausstrahlung von Das nächste Jahrhundert erst bis zur Mitte der vierten Staffel fortgeschritten, weshalb die deutschen Zuschauer die Handlungselemente, auf denen Deep Space Nine aufbaut, noch nicht zu sehen bekommen hatten. Der Pilotfilm lief im Abendprogramm des 28. Januars 1994 erstmals und wurde in Deutschland von etwa 4,4 Millionen Zuschauern gesehen. Die weiteren Episoden der ersten Staffel liefen im Winter und Frühjahr 1994 in wöchentlichem Rhythmus am Sonntagnachmittag mit einer Reichweite von durchschnittlich 1,7 Millionen Zuschauern, wobei nur die ersten drei Episoden mehr als 2 Millionen Zuschauer hatten. Die zweite Staffel lief im Spätsommer bzw. Herbst 1994 montags bis freitags (fünfmal pro Woche). Die dritte und vierte Staffel sendete Sat.1 1996 montags bis samstags (sechsmal pro Woche). Der Ausstrahlungsrhythmus wurde für die erst 1998 erstausgestrahlte fünfte Staffel beibehalten. Die für das Star-Trek-Jubiläum entstandene Episode Immer die Last mit den Tribbles (Trials and Tribble-ations) lief aber bereits im Dezember 1997 erstmals. Die Staffeln 2 bis 5 erreichten bei ihrer Erstausstrahlung durchschnittlich zwischen 1 und 1,5 Millionen Zuschauer. Der überwiegende Teil der Staffeln 6 und 7 wurde 1998 bis 2000 samstags von 16 bis 17 Uhr gezeigt, allerdings mit Ausnahme von Bayern, wo zu der Zeit ein Fensterprogramm gesendet wurde. In Bayern waren die Episoden dieser beiden Staffeln – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur in der nächtlichen Wiederholung zu sehen. Die Zuschauerzahlen sanken auf durchschnittlich etwas unter eine Million pro Episode. Bei Wiederholungen der ersten sechs Staffeln auf Sat.1 in den 1990er Jahren erreichten manche Episoden noch höhere Einschaltquoten als bei ihrer Erstausstrahlung. Die Serie wurde außerdem bei Kabel eins, Tele 5 und im Pay-TV wiederholt. Andere Veröffentlichungsformen Heimkino-Veröffentlichung In den USA begann Paramount 1996 mit der Veröffentlichung der Episoden auf Videokassetten, brach sie 2002 nach der fünften Staffel aber wieder ab. Von 1996 bis 1999 wurden die ersten 60 Episoden zudem auf Laserdisc veröffentlicht. Für den deutschen Markt erschienen alle sieben Staffeln zwischen 1995 und 2002 deutsch synchronisiert auf VHS. Dabei veröffentlichte CIC zumeist jeden Monat eine neue Kassette mit zwei Episoden. Die zweite Hälfte der zweiten Staffel wurde erst nach der vierten Staffel veröffentlicht, die dritte Staffel erst nach der siebten Staffel. Mit der Veröffentlichung der vierten Staffel begann CIC 1996 bereits vor deren deutscher Erstausstrahlung. Alle sieben Staffeln wurden sowohl in den USA (Regionalcode 1) als auch in den deutschsprachigen Ländern (Regionalcode 2) 2003 in mehrwöchigen Abständen in DVD-Boxen veröffentlicht. Die für den deutschen Markt bestimmten Boxen werden von Paramount Home Entertainment vertrieben und enthalten Tonspuren in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Die in Hartplastik-Boxen erstveröffentlichten DVDs sind im Handel heute zu deutlich höheren Preisen als die später erschienenen Ausgaben erhältlich. Alle Staffeln wurden im April 2009 neu veröffentlicht, nunmehr in 14 Boxen mit jeweils einer Staffelhälfte auf drei bzw. vier DVDs. Die erste Hälfte der siebten Staffel ist von der FSK ab 16 Jahren freigegeben, alle anderen Staffelhälften ab 12 Jahren. Deep Space Nine erschien vollständig im Dezember 2012 in einer DVD-Komplettbox. Bei dieser Ausgabe berichtete ein Teil der Käufer über Wiedergabeprobleme. Die DVD-Ausgaben mit dem Regionalcode 2 sind europaweit inhaltsgleich. Um in Großbritannien eine Freigabe ab 18 Jahren durch die BBFC zu vermeiden, wurde für die europäische DVD-Veröffentlichung das Bildmaterial der Episode Die Abtrünnigen gegenüber der Originalfassung zensiert und leicht gekürzt; die Episode Söhne und Töchter wurde aus den gleichen Gründen um 26 Sekunden gekürzt. Das deutsche Free-TV strahlte diese Episoden jeweils ungeschnitten aus. Die Serie ist zudem bei verschiedenen Video-on-Demand-Anbietern verfügbar, darunter Amazon Prime Video und Netflix. Dokumentation Ira Steven Behr hat mittels Crowdfunding Geld für eine Dokumentation mit dem Titel What we left behind gesammelt. Der Titel nimmt Bezug auf die letzte Doppelepisode. An dieser Dokumentation waren auch Ronald D. Moore, Renè Echevarria und Robert Hewitt Wolfe beteiligt. Mit Ausnahme von Avery Brooks haben alle ehemaligen Hauptdarsteller an der Dokumentation teilgenommen. Es wurden über 570.000 $ gesammelt. Dadurch war es möglich, die Dauer der Dokumentation auf 90 Minuten zu verlängern und weitere Vorteile einzuarbeiten. Soundtrack Das Musiklabel GNP Crescendo Records veröffentlichte den Soundtrack zum Pilotfilm und die Titelmelodie 1993 auf zwei separaten Audio-CDs. Musik aus der Serie erschien auch in diversen Alben, die Stücke von verschiedenen Star-Trek-Serien und -Filmen enthalten, zum Beispiel im Album Music from the Star Trek Saga (2013). 1999 erschien bei Concord Records das Album This One’s from the Heart mit 17 Songs, die James Darren für seine Auftritte in den letzten beiden Staffeln aufgenommen hatte. 2013 erschien beim Label La-La Land Records die auf 3000 Exemplare limitierte CD-Box Star Trek: Deep Space Nine Collection, die auf vier CDs mit über fünf Stunden Laufzeit eine Auswahl an episodenspezifischen Kompositionen und verschiedene Versionen der Titelmelodie enthält. Zum Beispiel bei Amazon.de gibt es den Soundtrack auch als MP3-Downloads. Die Partitur der Titelmelodie wird als Digitaldruck online zum Kauf angeboten, etwa durch sheetmusicplus.com. Zumindest die Titelmelodie wurde neben anderen Star-Trek-Kompositionen auch bei Konzerten aufgeführt, so zum Beispiel 2008 in der Roy Thomson Hall in Toronto. Themen, Deutungen und Motive Politik, Terrorismus und Krieg Mit dem Pilotfilm beabsichtigte Michael Piller, der Serie eine Aussage über die Koexistenz und das Zusammenkommen der Menschen zu geben. Dafür ließ er sich in Bezug auf den ausgeschlachteten, verwüsteten Zustand der Raumstation von den Zerstörungen inspirieren, die bei den Unruhen in Los Angeles 1992 entstanden waren. Gregory (2000) war davon überzeugt, dass die Beteiligung der Sternenflotte am Betrieb der Raumstation und ihre vermittelnde Rolle im Konflikt zwischen Bajoranern und Cardassianern dem Kurs der Vereinigten Staaten in zahlreichen politischen Situationen entspreche, die Sternenflotte werde insofern als “peace-makers”, als Friedensstifter, porträtiert. Robb (2012) sah es ähnlich und sprach über die Stationsbesatzung von einer “United Nations-style peacekeeping crew”, einer den Vereinten Nationen ähnlichen, friedensbewahrenden Mannschaft. Mit dieser Ausgangskonstellation, so Geraghty (2009), bleibe die Serie klar der positiven Zukunftsvision treu, die die vorherigen Star-Trek-Serien prägte und bei der vor allem die Föderation als fortschrittlich, integer und optimistisch charakterisiert wurde. Dennoch weicht Deep Space Nine in mancher Hinsicht von dieser Botschaft ab. Das zeigt sich unter anderem in der Bewältigung der bajoranisch-cardassianischen Nachkriegszeit, einem im Serienverlauf wiederholt aufgegriffenen politischen Thema, und damit einhergehend an Kiras Anerkennung der Humanität ihrer früheren cardassianischen Unterdrücker in der vierten Staffel. Laut Gregory (2000) stimme die Serie der Notwendigkeit zu, dass sich zur Bewältigung von Nachkriegskonflikten und, um wirklichen Frieden zu sichern, die bisherigen Einstellungen der beiden kontrahierenden Seiten verändern müssten. In dieser Hinsicht reflektiere die Serie die gegenwärtige politische Realität, etwa von Nordirland, Südafrika, Jugoslawien oder dem Libanon. Damit bewege sich die Serie zudem über den idealistischen, aber vereinfachenden Linksliberalismus Gene Roddenberrys in den früheren Star-Trek-Produktionen hinaus. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen dem cardassianischen Imperium und Nazideutschland. Laut Nolton (2008) würden sie deutlich an der Besatzung der Cardassianer über Bajor und an den Arbeitslagern, in denen die Cardassianer bajoranische Gefangene, ähnlich wie die Nationalsozialisten unter anderem jüdische Häftlinge in Konzentrationslagern, Zwangsarbeit verrichten ließen. Dass die Autoren diese Parallelen beabsichtigten, zeigt sich deutlich an der Episode Der undurchschaubare Marritza (Duet, Staffel 1), in der von einem Holocaust die Rede ist und die inspiriert wurde durch den Spielfilm The Man in the Glass Booth (1975), welcher die Geschichte Adolf Eichmanns reflektiert. In Bezug auf die Parallelen nannte etwa Booker (2004) die Cardassianer auch “outer-space Nazis”, „Weltraumnazis“. Als eine Inspirationsquelle für den cardassianischen Geheimdienst Obsidianischer Orden diente einem der Autoren die Gestapo. Carney (2013) verglich die Darstellung der Bajoraner mit dem Vichy-Regime und der französischen Résistance. Produktionsdesigner Herman Zimmerman beschrieb Cardassia als Militärstaat, bestehend aus zahlreichen, gegnerischen Interessensgruppen, und als spartanisch, kompromiss- und erbarmungslos. Für die Gestaltung der cardassianischen Architektur orientierte er sich am Roman 1984. Bezugnehmend auf die Parallelen zwischen dem Roman und Cardassia, interpretierte Hahlbohm (2003) Cardassia als einen totalitären Überwachungsstaat, denn an den manchmal eingeblendeten Bildschirmen mit redenden Herrschern zeige sich deutlich die auf absolute Kontrolle über seine Bürger bedachte Grundhaltung des cardassianischen Imperiums. Laut Putman (2013) reflektierten die terroristischen Aktionen des Maquis die in den USA zu Beginn der 1990er Jahre wachsende Gefahr von rechtem, inländischen Terrorismus, vor allem durch die Milizbewegung. Beispiele seien die Konflikte von Ruby Ridge 1992 und zwischen Davidianern und Beamten des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms 1993. Die Maquis-Mitglieder ähnelten den an solchen Konflikten beteiligten Extremisten. Diese hätten sich ebenfalls aufgegeben und bedroht gefühlt von einer expandierenden, machtvollen Regierung, die auf manche den Eindruck erweckt habe, die amerikanische Unabhängigkeit zugunsten einer Neuen Weltordnung wie etwa den Vereinten Nationen aufzugeben. Passend dazu ließen sich die Drehbuchautoren für die Handlung der Episode In eigener Sache (For the Cause, Staffel 4) durch die Reaktionen der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf den Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City 1995 inspirieren, dem Höhepunkt der Gewalt durch die Milizbewegung. Die in den Staffeln 3, 4 und 5 erzählten und vom Dominion-Konflikt handelnden Geschichten sind geprägt durch das Element der Paranoia. Der Grund für diese Paranoia liegt in der Angst der Föderation vor einer Infiltration durch die Gründer, die sich im Gegensatz zu Odo in perfekte Imitationen des menschlichen Körpers verwandeln können. Die Maßnahmen, die die Föderation als Reaktion auf die Bedrohung durch das Dominion ergreift, etwa die Stationierung des Kriegsschiffes Defiant oder die Aufrüstung der Raumstation, werden vom Dominion seinerseits als Gefahr wahrgenommen, die es in der Folge etwa durch das Bündnis mit Cardassia zu eliminieren versucht. Auch, weil es am Ende dieser Eskalation zu einem Krieg kommt, kann sie als klassisches Sicherheitsdilemma gelten. Für Raum-Deinzer et al. (2000) stand fest, dass etliche Veränderungen an der Rahmenhandlung der Staffeln 4 und 5 durch den Handlungsverlauf von Babylon 5 inspiriert worden seien, darunter das Bündnis zwischen dem Dominion und den dabei erstarkenden Cardassianern, das an den Pakt zwischen Centauri und Schatten erinnere. Der Dominion-Krieg wurde als eine Nachbildung des Ersten Weltkrieges verstanden, was sich etwa an den kostspieligen Militärbündnissen und den umfangreichen Opferlisten zeigt. Der Dominion-Krieg stellt einen deutlichen Gegensatz zu Gene Roddenberrys Traum von einem friedvollen Universum dar, mit dem er die vorherigen Star-Trek-Serien zu prägen versuchte. Ein Beispiel für diesen Gegensatz ist die Episode In fahlem Mondlicht (In The Pale Moonlight, Staffel 6), in der Sisko das Romulanische Imperium zum Kriegseintritt bewegt. Für Sisko, so Raum-Deinzer et al. (2000), heilige darin der Zweck die Mittel, Pragmatismus sei ihm kriegsbedingt wichtiger als moralische Erwägungen. Dass sich moralische Ideale im Krieg schwer aufrechterhalten lassen, wurde am Beispiel dieser Episode als zentrales Thema der Serie interpretiert. Beispielhaft für den Gegensatz zu Roddenberrys Traum ist zudem die Existenz des Sternenflottengeheimdienstes Sektion 31. Seine Absichten betreffs der Einführung der Sektion 31 erklärend, sagte Drehbuchautor Ira Steven Behr, dass die Erde im 24. Jahrhundert deshalb ein Paradies sei, weil es mit der Sektion 31 jemanden gebe, der darüber wache und all die schmutzigen Dinge erledige, an die niemand zu denken bereit sei. Diesen Aspekt erkannte ein Artikel der Zeitschrift The Atlantic im Jahr 2013 als eine Gemeinsamkeit mit der NSA, die das streng geheime PRISM-Überwachungsprogramm betreibt. Ein Unterschied zwischen beiden Geheimdiensten sei aber, dass die NSA wenigstens durch den United States Foreign Intelligence Surveillance Court überwacht wird, während die Sektion 31 keiner Stelle gegenüber verantwortlich ist. Raum-Deinzer et al. vermuteten in der Einführung der Geheimorganisation in die Handlung darüber hinaus die Absicht der Autoren, auf der in den 1990er Jahren aufgekommenen Welle aus Mystery-Produktionen wie etwa Akte X mitzuschwimmen. Kultur, Beziehungen und Wandlung der Figuren Die von den Erschaffern beabsichtigte, dunklere Zeichnung der Charaktere wurde von mehreren Autoren als ein wesentlicher Unterschied zu Das nächste Jahrhundert erkannt. Zum Beispiel Mason (1993) interpretierte diesen Aspekt wie folgt: „Während ‚Das nächste Jahrhundert‘ eine utopische Gemeinschaft in das All projiziert, schlägt ‚Deep Space Nine‘ eine Gesellschaft aus Eigenbrötlern, Rebellen, Außenseitern, Hooligans und Zynikern vor. Es gibt einige Ausnahmen, aber die meisten Charaktere hegen einen Groll. Ärger und Egoismus motivieren hier eine Figur mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit, wie es Ehre und Mut in ‚Das nächste Jahrhundert‘ vermögen.“ Geraghty (2003) hob hervor, dass Familien oder familienähnliche Beziehungen – im deutlichen Gegensatz zu Raumschiff Enterprise – eine dauerhaft wichtige Bedeutung in der Serie besitzen. Episoden wie Der Besuch (The Visitor, Staffel 4), Das Zeitportal (Time’s Orphan, Staffel 6) und die Abschlussfolge Das, was du zurücklässt (What You Leave Behind) veranschaulichten die starken, die ganze Serie durchziehenden Bindungen von Familie, Heirat und Elternschaft. Mit der starken Konzentration auf zwischenmenschliche Beziehungen ähnele Deep Space Nine zeitgenössischen Fernsehserien der 1990er Jahre wie etwa Friends, so der Autor in einer späteren Publikation (2009). In der Kultur der Cardassianer spiegeln sich, so Carney (2013), typische Werte und Eigenschaften der Deutschen. Wie sich in mehreren Episoden zeige, seien für die Cardassianer, ebenso wie für die Deutschen, Sauberkeit, Befehlsgehorsam, Pünktlichkeit und Effizienz typisch. Die cardassianische Staatsdienlichkeit, die etwa in Aussagen des Cardassianers Garak in der Episode Das Implantat (The Wire, Staffel 2) deutlich wird, sei vergleichbar mit der preußischen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie den nationalsozialistischen Anfängen. Bezug nehmend auf die kulturellen Parallelen interpretierte Regisseur Winrich Kolbe die Cardassianer als „die Preußen des Universums“. Piller und Berman beschrieben die Ferengi als „hässliche, sexistische, gierige, kleine Aliens, die nur an Profit interessiert sind und daran, alles in ihre Finger zu bekommen, worauf sie gerade Lust haben.“ Sennewald (2007) bezeichnete sie aufgrund ihres Aussehens und ihres Benehmens als „Karikaturen der ‚gierigen Kapitalisten‘“. Cowan (2010) nannte als Beispiel für einen solchen Kapitalisten Gordon Gekko, den skrupellosen Finanzinvestor in dem Börsendrama Wall Street. Anhänger der Serie wie auch Winn (2003) sahen in dieser Charakterisierung starke Ähnlichkeiten mit gängigen antisemitischen Stereotypen. Pareles (1996) bezeichnete die Ferengi in der New York Times als „Shylocks des Weltraums“ und verglich sie damit bezüglich ihrer kapitalistischen Veranlagung mit dem jüdischen, Wucher treibenden Geldverleiher in der Shakespeare-Komödie Der Kaufmann von Venedig. Winn (2003) sah in der Figur Nog und dessen Verwandlung von einem „niederen und verabscheuungswürdigen“ Ferengi in einen ehrbaren Sternenflottenoffizier ein Beispiel für interkulturelle Probleme in der Serie. In den ersten drei Staffeln verhalte sich Nog auf eine für Ferengi stereotypische Weise, indem er lügt, betrügt und stiehlt, und somit wie ein Enfant terrible. Ab der dritten Staffel, in der sich Nog durch seine Entscheidung, die Sternenflottenakademie zu besuchen, zu verändern beginnt, scheine er die Werte und das moralisch redliche Verhalten respektablerer Star-Trek-Rassen wie etwa Menschen zu adaptieren, da er nunmehr für Ferengi-untypische Ziele arbeitet. Wichtige Beispiele für seine diesbezügliche Entwicklung seien die Episode Die Belagerung von AR-558 (The Siege Of AR-558, Staffel 7), in der er, ohne Aussicht auf finanziellen Profit, im Kampf für die Föderation sein Leben riskiert und dafür mit dem Verlust seines Beines bezahlt, sowie seine spätere Beförderung zum Lieutenant. In Deep Space Nine komme deswegen die Absicht zum Ausdruck, dass Nogs bewusste Entscheidung, die Mainstream-Kultur des Star-Trek-Universums zu adaptieren, edel und wünschenswert sei. Diesbetreffend erhalte die Serie rassische Stereotypen aufrecht und fördere Assimilation in eine Mainstream-Kultur als den richtigen Weg für die Existenz der ethnisierten „Anderen“. Auch andere Figuren ändern sich im Laufe der Serie. Vedek beziehungsweise Kai Winn zum Beispiel habe sich, so Raum-Deinzer et al. (2000), von einer arroganten Frau, die verzweifelt auf Visionen der Propheten hofft, aber doch immer das Beste für Bajor wollte, zu einer unkontrollierbaren, hinterhältigen Mörderin entwickelt. Booker (2004) charakterisierte Dukat, der ebenso wie Winn ein Antagonist ist, einerseits als brutalen Rassisten, als völlig skrupellosen politischen Manipulator und als einen Mann, der – inklusive Folter und Massenmord – dazu bereit sei, zum Verfolgen seiner Ambitionen bis zum Äußersten zu gehen. Andererseits sei er ein loyaler Familienmensch, der manchmal den anderen Hauptfiguren hilft, und manchmal scheine es, als sei er selbst ein Opfer der Umstände. Dukats Facetten und Tiefen würden von keinem Schurken in den anderen Star-Trek-Serien erreicht. Die Episode Wiedervereinigt (Rejoined, Staffel 4) handelt von dem Tabu in der Trill-Kultur, dass es vereinigten Trills verboten ist, eine Beziehung mit einem Partner aus einem früheren Leben zu beginnen. Unter anderem küssen sich darin die vereinigten Trills Jadzia Dax und Lenara Kahn. Kahn ist eine von Dax’ früheren Ehefrauen. Die Drehbuchautoren beabsichtigten mit der Wahl eines weiblichen Wirts für Kahn, das damals tabuisierte Thema Homosexualität aufzugreifen. Der Kuss führte nach der US-Erstausstrahlung der Episode im Oktober 1995 zu übermäßig vielen, in ihrem Tenor aber geteilten Reaktionen von Zuschauern – manche zeigten sich empört, andere begeistert. Seither wird der Kuss unter Anhängern der Serie und in der Literatur als erster gleichgeschlechtlicher Kuss innerhalb von Star Trek rezipiert. Das Tabu der Wiedervereinigung diene in der Serie, so Stengel (2005), dazu, Sex als gefährlich, aber Freundschaft als lebensnotwendig darzustellen, was sich auch an anderen gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb der Serie zeige. Keiko O’Brien zum Beispiel verbringt im Serienverlauf berufsbedingt immer weniger Zeit mit ihrem Ehemann Miles, dieser dafür umso mehr Zeit mit Julien Bashir. Miles O’Brien, so Stengel weiter, verlasse sich dadurch nicht auf seine Frau, um emotionale Intimität zu behalten. Statt eines sozialen Abstiegs durch eine scheiternde Ehe sei diese Situation eine Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf der Raumstation. Unter anderem aus diesen Beispielen folgernd, hält es Stengel für besorgniserregend, dass in der idealisierten Zukunft von Deep Space Nine Menschen ihre primären Intimitäten nicht sicher innerhalb ihrer romantischen beziehungsweise sexuellen Beziehungen ausleben können. Es bestehe etwa die Gefahr, dass Generationen junger Männer aufwachsen, die ihren Partnern misstrauen und unwillens sind, sich außerhalb platonischer Freundschaften emotional mitzuteilen. Geraghty (2003) betonte, dass die Freundschaft zwischen Bashir und O’Brien eine Reaktion der 1990er Jahre auf Fragen bezüglich der annähernd homosexuellen Beziehung zwischen Kirk und Spock sei, dass sie die Balance wieder herstelle und die Liebe für den jeweils anderen durch die Liebe zu ihren Partnerinnen und der Familie ersetze. Religion In den vorangegangenen Star-Trek-Serien wurden Religion und Geld meist als unnötig und als geringgeschätzt dargestellt, vor allem weil Gene Roddenberry im Rahmen seiner rationalen, humanistischen Zukunftsvision davon überzeugt war, dass es sich dabei um primitive Elemente handele, die die Menschheit im 23. und 24. Jahrhundert längst hinter sich gelassen habe. Ira Steven Behr war diesbetreffend anderer Ansicht, auch, weil er es mit der von den Vorgängerserien abweichenden und stärker episodenübergreifenden Handlungsstruktur Deep Space Nines als ermöglicht ansah, Religion und andere, tiefgründigere Themen als einen festen Bestandteil des Lebens in der Zukunft zu behandeln. Mehrere Autoren verglichen die Themenkreise um den „Abgesandten“ und um die Pah-Geister mit den Bibelgeschichten. Cassidy (2003) etwa erkannte in Siskos Rolle als Abgesandter Parallelen mit Jesus Christus. Ebenso wie Jesus opfere sich Sisko selbst für die Erlösung aller, begebe sich willentlich in einen fürchterlichen Tod, werde durch göttliche Intervention gerettet und körperlich in ein himmlisches Reich transportiert, wo er viel zu lernen habe. Die Darstellung der Pah-Geister ähnele dem christlichen Verständnis vom Teufel, etwa im Evangelium nach Matthäus. Lamp (2010) entdeckte Unterschiede und schrieb, dass die messianische Darstellung Siskos im Vergleich zur Porträtierung Jesu im Neuen Testament in der Serie spürbar abfalle, denn Sisko sei nur allzu menschlich und – obwohl Nachkomme der „Propheten“ – nicht mit außergewöhnlichen moralischen, religiösen oder spirituellen Sinnen ausgestattet. Sisko erfülle die Wünsche der „Propheten“ nicht aus Gehorsam oder um sich dem göttlichen Willen zu unterwerfen, sondern aus Gründen, die in seiner Rolle als Sternenflottenoffizier als angemessen erachtet werden. Linford (1999) war ebenfalls der Auffassung, dass Sisko nichtreligiösen Zwecken Vorrang vor dem religiösen Glauben einräume, und glaubte darin eine „Marginalisierung religiöser Wahrheit“ zu erkennen. Zu den religiös geprägten Themen in Deep Space Nine gehören auch die in einigen Episoden gezeigten Riten, die Bestandteil der klingonischen Religion sind, darunter der rituelle Selbstmord, den Worfs Bruder Kurn in der Episode Die Söhne von Mogh (Sons Of Mogh, Staffel 4) durchzuführen versucht. Ein anderes, religiöses Thema ist die Vergötterung der Gründer durch die Vorta und die Jem’Hadar. Weil sich die Gründer zu diesem Zweck der Gentechnologie bedienen, kam unter anderem Cowan (2010) zu der festen Überzeugung, dass die Gründer als falsche Götter gelten können. Die kapitalistische Philosophie der Ferengi wurde mehrfach ebenfalls als religiös interpretiert. Für Ferengi ist Kommerz Religion, fand etwa Cowan. Das zeige sich an ihrem Glauben an Transzendenz in das „große materielle Kontinuum“ und in die „himmlische Schatzkammer“ und ähnele realen religiösen Traditionen, darunter denen der alten Ägypter, die ihren Verstorbenen Grabbeigaben für das Leben nach dem Tod bereitstellen. Trotz Linfords Deutung stellt Deep Space Nine, vor allem wegen des ernsteren und weitaus weniger geringschätzenden Umgangs mit Religion, eine deutliche Abkehr von den säkularen, rationalen Werten der Vorgängerserien dar. Dafür sei Barret und Barret zufolge auch die Episode Jenseits der Sterne (Far Beyond The Stars, Staffel 6) mit der in einem völlig abweichenden, repräsentativen Stil erzählten Geschichte um Sisko alias Benny Russell in hohem Maße beispielhaft. Wenger (2006) sah mit den religiösen Themen der Serie das von Vernunft geprägte Paradigma der Star-Trek-Welt relativiert. Die Religionsdarstellung in der Serie ist nicht ohne Fehler. Cowan etwa bemerkte, dass sie gefüllt sei mit non sequiturs, logischen Inkonsistenzen und offenen Fragen. Johnson-Smith (2005) verwies auf die nicht im Voraus geplante Handlung als Ursache dafür, dass sich Sisko, obwohl er den Wurmlochwesen bei der ersten Begegnung noch völlig unbekannt war, in der siebten Staffel als ihr Kind herausstellt. Kritik Zeitgenössische Kritik Zu Beginn der US-Erstausstrahlung bemängelte die New York Times, dass Deep Space Nine neben anderen, damals neuen Serien wie Time Trax und Space Rangers, der Erwartungshaltung an Science-Fiction nicht gerecht werde, weil sie den Fokus auf die Zukunft vermissen lasse. Statt eines Schrittes vorwärts von der über 26 Jahre dauernden Ära von Raumschiff Enterprise vermittelten die Serien eine Art von Déjà-vu und böten unter ihrer futuristischen Oberfläche altbekannte, meist von früheren Fernsehserien und Spielfilmen geborgte Prämissen und Handlungen. Die Produzenten der neuen Serien hätten das Star-Trek-Konzept und dessen militärisches Modell, in dem die Hauptcharaktere hierarchisch aneinander gebunden sind, so „sklavisch“ wiederholt, dass sie dabei die Chance verpasst hätten, andere Arten der sozialen Organisation zu erforschen. Wenigstens, so das Blatt weiter, sei Deep Space Nine wegen der großen Vielfalt an Spezies auf der Raumstation gut genug dafür, sich gegen ethnische Vorurteile zu stellen. Die Drehbuchautoren und Produzenten erhielten unter anderem per Post oder während Conventions Kritik von Fans. Zum Beispiel kritisierten die Anhänger während der US-Erstausstrahlung der zweiten Staffel Geschichten mit philosophischen und intellektuellen Themen wie Religion und Politik und äußerten die Wünsche, die Stationsbesatzung stärker mit Außenstehenden interagieren und mehr reisen zu lassen sowie gefährlicheren Situationen auszusetzen. Showrunner Ira Steven Behr sagte anlässlich des Endes der Serie 1999, dass Deep Space Nine während der Erstausstrahlung von den Medien und den Zuschauern zu wenig Aufmerksamkeit erhalten habe. Wahrscheinliche Gründe dafür seien die Konzentration vieler Kritiker auf die parallel ausgestrahlten Star-Trek-Fernsehserien und die episoden- und staffelübergreifenden Handlungsbögen, die neuen Zuschauern das Verständnis erschwert hätten. Von einem solchen Aufmerksamkeitsmangel sprachen auch Robb (2012) und Owen (1999). Auch in Deutschland hielt sich die Aufmerksamkeit von Seiten der Kritik während der Erstausstrahlung in Grenzen. Zumindest das Fernsehmagazin Gong äußerte sich 1994 zum Pilotfilm und beanstandete ihn als „langatmig“ und „pseudo-intellektuell“. In einer circa 1997 durchgeführten Umfrage des US-Fernsehmagazins TV Guide wurde die Episode Der Besuch (The Visitor, Staffel 4) zur besten Star-Trek-Episode aller Zeiten gewählt. An der deutschen Synchronisation wurde unter anderem die Wahl mancher Episodentitel beanstandet. Zum Beispiel klinge der deutsche Titel Der undurchschaubare Marritza für die Episode Duet unpassenderweise mehr wie eine „billige Verwechslungskomödie“, so Raum-Deinzer et al. (2000). Kritisiert wurde außerdem, dass manche Namen falsch ausgesprochen werden. Ein Beispiel ist die Figur Winn, die in den ersten beiden Staffeln fälschlicherweise Wunn genannt wird. Spätere Bewertungen 2013 hob die Internet-Zeitung Hollywood.com das Thema Personenvielfalt hervor, denn 1993 sei es verglichen mit heutigen Fernsehserien ein „triumphaler Balance-Akt“ gewesen, dass Deep Space Nine klargemacht habe, dass Rasse und Ethnizität nur ein Teil der Einzigartigkeit jeder Figur gewesen seien. „Revolutionär“ sei es gewesen, mit Avery Brooks einen Afroamerikaner als Protagonisten für eine Serie zu besetzen, die sich nicht primär an ein afroamerikanisches Publikum richtet. Mit Alexander Siddig die möglicherweise erste arabischstämmige Hauptfigur im Drama-Genre des US-amerikanischen Primetime-Fernsehens zu besetzen, sei „bahnbrechend“ gewesen. Manche Kritiker, darunter Autoren des Time Magazine (2012) und der Tageszeitung Milwaukee Journal Sentinel (1999), hielten Deep Space Nine für die beste Star-Trek-Fernsehserie. In letzterem Blatt hieß es zur Begründung unter anderem, dass die Kontinuität – etwa durch die Vielzahl wiederkehrender Nebenrollen – viel stärker als in den Vorgängerserien ausgeprägt sei. Mit ihren langen Handlungsbögen habe die Serie ihren regelmäßigen Zuschauern ein bei Star Trek zuvor nicht erreichtes Niveau an Realismus und Glaubwürdigkeit geboten. Die österreichische Zeitung Die Presse hob 2004 die intensive Entwicklung der Charaktere und klar gezeichnete Spannungsbögen als Begründung hervor. Zudem gehörten die Dialoge zwischen Odo und Quark zum Amüsantesten, was die Autoren im Star-Trek-Universum je generiert haben. Das Webzine The Internet Review of Science Fiction beurteilte das Figurenensemble 2008 als das interessanteste der fünf Realfilm-Star-Trek-Serien. Wegen des Dominion-Krieges beinhalte die Serie „vieles vom reichhaltigsten und aufregendsten Drama“ des Star-Trek-Franchise. Zudem habe die Serie trotz konzeptueller Gemeinsamkeiten mit Babylon 5 ihre Unterscheidbarkeit bewahrt. Ian Johnson-Smith lobte in seinem Buch American Science Fiction TV (2005) die Infragestellung der hegemonischen Ideologie der Sternenflotte in höheren Staffeln als „erfrischend“. Allerdings beanstandete er, dass die Serie wegen ihrer völligen Zentrierung auf die Charaktere nicht effektiv genug sei: Der Krieg gegen das Dominion und Cardassia werde ausschließlich in Form von individuellen Erfahrungen der Protagonisten und Antagonisten und nicht in seiner größeren Bedeutung thematisiert; die Serie versuche nicht, die persönlichen oder individuellen Erfahrungen einer kleinen Gruppe von Offizieren zu verlassen. Demgegenüber lobte die Zeitschrift Space View (1998) die Drehbuchautoren dafür, dass sie sich dem Thema Krieg mit der entsprechenden „epischen Breite“ gewidmet hätten. Die Figuren hätten „sichtlich keinen ‚Spaß‘ am Krieg“ und die kriegsbedingt in ihnen hervorgerufenen Veränderungen wie etwa Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Wut seien ausgesprochen subtil und deshalb „überzeugend und eindringlich“ umgesetzt. Darüber hinaus lobte die Space View die Serie für die „ungewöhnlich vielen“ Mainstream-Elemente, etwa die persönlichen Beziehungen der Figuren (1997); für das Szenenbild, das das „wohl phantasievollste und aufwendigste“ der damaligen Serien sei (1998); und für die „atemberaubenden Spezialeffekte“. Buchautor Johnson-Smith (2005) kritisierte, dass die Serie viel Zeit in alleinstehende, leichtgewichtige Episoden investiere, die von der übergeordneten, um den Dominion-Krieg kreisenden Handlung eher ablenkten als diese in irgendeiner Hinsicht auszugestalten. Zum Beispiel verbringen Ezri Dax und Worf als Gefangene der Breen und des Dominion mehr Zeit damit, über ihre Beziehung zueinander als über den Widerstand gegen ihre Entführer zu sprechen. Der langjährige Herausgeber des US-amerikanischen Star-Trek-Magazins, Brian J. Robb, urteilte 2012, dass die Serie zu komplex für das episodische Fernsehen gewesen sei und zu viele Handlungsstränge und Charaktere verfolgt haben mag, die Welt von Star Trek ohne Deep Space Nine aber weitaus uninteressanter gewesen wäre. Die Serie habe ein „interessantes Anti-Star-Trek-Experiment“ mit „schonungsloser“ Erzählweise und Serialisierung gewagt und sei auch deswegen – im Gegensatz zu Raumschiff Voyager und Enterprise – kreativ erfolgreich geworden. Zur DVD-Erstveröffentlichung 2003 erschienen auf einschlägigen Review-Websites Rezensionen zu den Staffeln. DVD Talk etwa lobte die Kontinuität zu Das nächste Jahrhundert, denn vom Aufgreifen bestehender Handlungsstränge anstelle des Erfindens neuer Außerirdischer profitiere die Serie, zumindest in der ersten Staffel. Von wenigen Episoden abgesehen, gab es von DVD Center, Filmszene.de und DVD Verdict wenig Zustimmung für die ersten beiden Staffeln. DVD Verdict etwa sprach über die zweite Staffel von einem „uneinheitlichen Flickwerk aus Themen und Kurskorrekturen“. Die Seite beanstandete zudem die Lösung astrophysikalischer Probleme in der Serie als oftmals zu simpel, etwa wenn Kira und Bashir dem Spiegeluniversum entfliehen, indem sie denselben Kurs und dieselbe Geschwindigkeit verwenden. Die Staffeln 3, 4 und 5 erhielten von DVD Talk und DVD Center Lob für die stärkere Konzentration vieler Episoden auf die Dominion-Rahmenhandlung und das Fortführen bestehender Handlungsstränge, während DVD Verdict in der vierten Staffel wegen vieler inkonsequent wirkender Episoden die bisher schwächste sah und die Ergänzung der Besetzung um die Figur Worf als unnötig empfand. Auf der Seite hieß es weiterhin, dass Avery Brooks’ „übertriebenes, dramatisches Schauspiel“ in der dritten Staffel Sinn zu ergeben beginne, da Sisko nun öfters im Stress sei. Unter allen Staffeln erhielt die sechste Staffel die positivste Resonanz, DVD Talk zufolge vereine die Staffel alle Stärken der Serie, und zwar „exzellentes Geschichtenerzählen“ durch einen kohäsiven Handlungsbogen, gut entwickelte, dreidimensionale Charaktere und die Bereitschaft, sich all den Zwischentönen zu stellen, die schwierige ethische Probleme mit sich brächten. Während die Rezensenten über die Einführung der Figur Ezri Dax in der siebten Staffel geteilter Meinung waren, beanstandete DVD Verdict, dass im finalen, 10-teiligen Handlungsbogen zu viele Dinge in zu kurzer Zeit geschähen und die Qualität der Drehbücher auf Kosten des Serienabschlusses gegangen sei. Auszeichnungen Deep Space Nine wurde für zahlreiche Preise nominiert und einige Male prämiert, hauptsächlich in technischen Kategorien. Insgesamt 32 Nominierungen gab es für den Emmy, je Staffel eine in den Kategorien Make-up und Frisur sowie mehrfach in den Kategorien Künstlerische Leitung, Musik, Visuelle Spezialeffekte und Kostümdesign. Vier Prämierungen gab es, darunter eine für die Titelmelodie sowie zwei für das Make-up in den Episoden Tosk, der Gejagte (Captive Pursuit, Staffel 1) und Ferne Stimmen (Distant Voices, Staffel 3). Darüber hinaus wurde die Serie fünfmal mit dem ASCAP Award für die beste Fernsehserie ausgezeichnet. Acht Nominierungen gab es für den Saturn Award, davon vier in der Kategorie Beste Syndication-/Kabel-Fernsehserie. Außerdem gab es zwei Nominierungen für den renommierten Science-fiction-Preis Hugo Award. Adaptionen Adaptionen durch andere Star-Trek-Produktionen Die zweiteilige Episode Geheime Mission auf Celtris Drei (Chain of Command) der sechsten Staffel von Das nächste Jahrhundert wurde im Dezember 1992 erstausgestrahlt, wenige Wochen vor dem Beginn von Deep Space Nine. Zwecks inhaltlicher Kontinuität führte sie den Zuschauer in den Rückzug der Cardassianer vom Planeten Bajor ein und war ursprünglich als Crossover mit Deep Space Nine geplant. Ein solches wurde wenige Monate später mit dem Zweiteiler Der Moment der Erkenntnis (Birthright) umgesetzt, der auf der Raumstation spielt und auch von Deep Space Nine-Charakteren handelt. Ein Crossover stellt auch der Pilotfilm Der Fürsorger (1995) von Star Trek: Raumschiff Voyager dar, der als einen Handlungsort ebenfalls die Raumstation beinhaltet. Auch deswegen handelt es sich bei Raumschiff Voyager um ein Spin-off von Deep Space Nine. Im Kinofilm Star Trek: Der erste Kontakt (1998) spielt auch das Raumschiff Defiant eine Rolle; die Drehbuchautoren des Films planten ursprünglich, es in der Handlung zerstören zu lassen. Von der Vorgeschichte des Sternenflottengeheimdienstes Sektion 31 erzählt die Prequel-Serie Star Trek: Enterprise (2001–2005) in mehreren Episoden. Sektion 31 wird auch im Prequel-Kinofilm Star Trek Into Darkness (2013) erwähnt. Nach dem Ende der Erstausstrahlung von Deep Space Nine wurden die Episode Valiant (Staffel 6) und eine der darin gezeigten Crew ähnelnde Mannschaft aus Sternenflottenkadetten in die Überlegungen zu einer neuen Star-Trek-Fernsehserie einbezogen. Romane Überblick Die Fernsehserie wurde für über 70 Romane adaptiert, die im US-Verlag Pocket Books, einem Imprint von Simon & Schuster, ab 1993 veröffentlicht wurden. In den 1990er Jahren erschienen davon etwa fünf bis sieben Titel pro Jahr. Etwa 60 Prozent der Romane wurden auch auf Deutsch herausgegeben. Beginnend 1993 – und damit noch vor dem Start der deutschen Erstausstrahlung – publizierte der Heyne Verlag die meisten deutschen Übersetzungen der bis 1996 auf Englisch erschienenen Bände. Der Verkaufserfolg war für Heyne in Deutschland unbefriedigend, weshalb der Verlag die Erstveröffentlichung deutscher Übersetzungen im Jahr 2000 vorläufig einstellte, ein letzter Band (Sektion 31: Der Abgrund) erschien 2002. Drei Bände publizierte der VGS Verlag 1995 und 1996 erstmals. Der Verlag Cross Cult setzte die deutschen Erstveröffentlichungen 2009 fort. Bei Heyne erscheinen Nachdrucke und Neuauflagen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, spielen die bis 2000 erstveröffentlichten Romane während der Handlungszeit der Fernsehserie (2369–2375). Anfangs erschienen überwiegend Romane mit abgeschlossener Handlung; ab dem Ende der 1990er Jahre kamen verstärkt Mehrteiler hinzu. Bei acht Romanen handelt es sich um Nacherzählungen von für die Rahmenhandlung besonders bedeutsamen Episoden der Fernsehserie, zu denen die ersten beiden Episoden der ersten, dritten und vierten Staffel und die finale Doppelepisode gehören. Bei den Romanen Verlorener Friede und Beendet den Krieg! handelt es sich um Nacherzählungen der sieben Episoden 124 (Zu den Waffen, Staffel 5) bis 130 (Sieg oder Niederlage?, Staffel 6), die während der Belagerung und der Rückeroberung der Raumstation spielen. Beide Romane gehören zu der vierteiligen Roman-Miniserie Der Dominion-Krieg, die ein Crossover mit der Romanreihe Star Trek: The Next Generation darstellt und deren andere beide Teile die Enterprise-E als Haupthandlungsort beinhalten. Bei Pocket Books erschienen überdies zwölf Romane, die sich an jugendliche Leser richten und vor allem auf Jake Sisko und Nog zentriert sind; auf Deutsch gab Heyne acht davon unter dem Reihentitel Starfleet Kadetten (deutsche Erstveröffentlichung) bzw. Starfleet Academy (höhere Auflagen) heraus. In einigen Romanen wird die in der Fernsehserie in das Star-Trek-Universum eingeführte Sektion 31 weiter thematisiert, die neben Bashir auch andere, genetisch aufgewertete Personen rekrutiert. Zu den Romanen gehören vor allem die in der Miniserie Sektion 31 enthaltenen, die ebenfalls als Crossover-Serie Verbindungen zu den Romanreihen von Raumschiff Enterprise, Das nächste Jahrhundert und Voyager schafft. Nach Episode 176 handelnde Romane Mittlerweile über 30 Romane gehören zum sogenannten Relaunch. Dabei handelt es sich um eine auch von Simon & Schuster verwendete Sammelbezeichnung für Geschichten, die die Handlung der Fernsehserie nach der letzten Episode fortsetzen. Marco Palmieri, zumindest bis 2005 Herausgeber und Lektor bei Pocket Books, entwarf einen erzählerischen Rahmen, innerhalb dessen die Geschichten spielen und der – im Gegensatz zum Großteil der vorherigen Romane – die meisten davon zu einer Fortsetzungsgeschichte miteinander verknüpft. Der größte Teil der zum Relaunch gehörigen Romane erschien bei Cross Cult auf Deutsch, übersetzt von Christian Humberg. 13 Romane nummerierte Cross Cult – eine achte und eine neunte Staffel der Fernsehserie suggerierend – mit 8.01 bis 8.10 und 9.01 bis 9.03. Den Auftakt sowohl des Relaunchs als auch der sogenannten achten Staffel bildete der 2001 erstveröffentlichte Roman-Zweiteiler Offenbarung, dessen Handlung drei Monate nach dem Ende der finalen Doppelepisode Das, was du zurücklässt einsetzt. Die zur Fortsetzung der Fernsehserie gehörenden Romane führen einige Hauptfiguren neu ein und rücken andere Star-Trek-Nebenfiguren in den Mittelpunkt des Geschehens. Die einst am Ende der Fernsehserie Das nächste Jahrhundert zum Maquis übergelaufene Bajoranerin Ro Laren etwa wird neue Sicherheitschefin auf Deep Space Nine. Elias Vaughn wird erster Offizier auf der Station und Kommandant der Defiant, mit der er eine Forschungsexpedition in den Gamma-Quadranten anführt. In den Romanen So der Sohn (8.09) und Einheit (8.10) geht es auch um Wiederentdeckung und Rückkehr des Abgesandten Ben Sisko. Die Romane thematisieren auch die Vorbereitungen zur Aufnahme Bajors in die Föderation. Mit zum Relaunch von Deep Space Nine gezählt werden auch die Roman-Miniserien Destiny (3 Romane, Englisch 2008, Deutsch 2010), Typhon Pact (8 Romane, Englisch 2010–2012, Deutsch 2013–2014) und The Fall (5 Romane, Englisch 2013, Deutsch ab 2015). Bei ihnen handelt es sich um Crossover mit anderen Star-Trek-Romanserien, insbesondere mit The Next Generation und Titan. Die Romane bauen inhaltlich sowohl aufeinander als auch auf den Romanen auf, die die Fernsehserien Deep Space Nine beziehungsweise Das nächste Jahrhundert fortsetzen. Den Ausgangspunkt der in ihnen erzählten Geschichten bildet ein verheerender Angriff der Borg auf zahlreiche Welten im Alpha- und Beta-Quadranten, der weitreichende Verwüstungen und über 60 Milliarden Todesopfer verursacht. Das Machtgefüge in diesen Quadranten verschiebt sich dadurch dahingehend, dass das Bündnis „Typhon-Pakt“ entsteht, zu dem unter anderem die Romulaner und die Breen gehören und das eine Opposition zur Föderation darstellt. Mitglieder des Typhon-Paktes zerstören in den Romanen Heimsuchung und Schatten die Raumstation Deep Space Nine, wodurch die Sternenflotte in der Folge eine neue, technisch weiterentwickelte, gleichnamige Station errichtet. Vier Bände der Serie The Fall platzierten sich 2013 und 2014 in der Kategorie “Paperback Mass-Market Fiction”, die 25 Plätze umfasst, der Bestseller-Liste der New York Times (siehe Hauptartikel: Star-Trek-Belletristik). Kurzgeschichten Pocket Books verlegte auch einige Anthologie-Bände, die Kurzgeschichten enthalten. Die nachfolgend genannten Anthologien sind noch nicht auf Deutsch erschienen. Der 1999 veröffentlichte Band The Lives of Dax enthält zehn Kurzgeschichten mit Biografien der Dax-Symbionten und einer Rahmengeschichte, die nach dem Ende der Handlung der Fernsehserie spielt, weswegen der Band auch zum Relaunch gezählt wird. Prophecy and Change erschien mit zwölf Kurzgeschichten 2003 anlässlich des 10-jährigen Erstausstrahlungsjubiläums. Der nicht innerhalb der Hauptreihe Deep Space Nine erschienene Band Tales of the Dominion War erzählt in ebenfalls zwölf Kurzgeschichten von den Auswirkungen des Dominion-Krieges auf die Föderation und andere Welten, wobei auch die Crews aus anderen Star-Trek-Romanhauptreihen bzw. -Fernsehserien fokussiert werden. In der zehnbändigen Anthologie-Reihe Strange New Worlds, die 209 Star-Trek-bezogene Kurzgeschichten enthält, befinden sich mindestens 26, auf Deep Space Nine zentrierte. Comics Der US-Verlag Malibu Comics veröffentlichte 1993 bis 1995 Deep-Space-Nine-bezogene Comics. Dazu gehört eine in 32 Nummern, überwiegend in monatlichem Rhythmus erschienene Reihe von Heften mit meist je einer Geschichte, teilweise mit je zwei oder drei Geschichten. Die ersten vier Nummern gab der Robert Gabor Verlag 1994 und 1995 mit dem Untertitel Faszinierende Weltraum-Abenteuer auf Deutsch heraus. Ferner erschienen bei Malibu einige One Shots und Comic-Miniserien, etwa zentriert auf den Maquis oder auf Worf. Vier Hefte von 1994 und 1995, von denen je zwei bei Malibu und bei DC Comics erschienen, stellen ein Crossover von Deep Space Nine mit Das nächste Jahrhundert dar; auf Deutsch veröffentlichte der Carlsen Verlag diese Comics 1995 in dem Band Die Wurmloch-Falle. Beim US-Verlag Marvel Comics erschienen von 1996 bis 1998 die monatlichen, auf Deutsch unveröffentlicht gebliebenen Comic-Heftreihen Star Trek: Deep Space Nine (15 Ausgaben) und Star Trek: Starfleet Academy (19 Ausgaben). In der letztgenannten Reihe ist Nog eine Hauptfigur. Im US-Verlag Wildstorm (2000/01) und Deutsch übersetzt im Dino Verlag (2002) erschienen die je vierteiligen Miniserien N-Vector, die nach dem Ende der Handlung der Fernsehserie spielt, und Divided We Fall (Deutsch: Symbiose), die ein Crossover mit Das nächste Jahrhundert bildet. Die 2009/10 bei IDW Publishing erschienene Miniserie Fool’s Gold blieb auf Deutsch bislang unveröffentlicht (Stand: 18. April 2015). Andere literarische Adaptionen Inhalte der Serie wurden nicht nur in erzählender Literatur verarbeitet. Dazu gehören zwei auch auf Deutsch übersetzte Bücher, die sich mit den 285 Erwerbsregeln der Ferengi befassen. Die Erwerbsregeln der Ferengi (Heyne Verlag 1997), von Ira Steven Behr, enthält alle Erwerbsregeln. Die Mythen und Legenden der Ferengi (Heel Verlag 2000), von Behr und Robert Hewitt Wolfe, stellt eine Sammlung von Geschichten und philosophischen Betrachtungen rund um die Erwerbsregeln dar. Das technische Handbuch (Heel 1999), vom Szenenbildner Herman Zimmerman sowie Rick Sternbach und Doug Drexler, enthält Wissen rund um die Technik von Raumstation und Defiant. Cap’n Beckmessers Führer durch Star Trek Deep Space Nine (Heyne 2000), von Phil Farrand, ist eine Sammlung von Fehlern, Ungereimtheiten und Pannen, zumindest aus den ersten vier Staffeln. Zu den Sachbüchern, die sich mit mehreren Star-Trek-Produktionen befassen, gehört etwa Die visuelle Enzyklopädie: Die ganze Welt von Raumschiff Enterprise (Dorling Kindersley 2013). Von 1993 bis 1998 erschien in den USA die Zeitschrift The Official Star Trek: Deep Space Nine Magazine in 25 Ausgaben, von 1996 bis 1997 in 15 Ausgaben eine Posterzeitschrift. Die Serie war darüber hinaus wichtiges Thema von Zeitschriften, die sich mit Star Trek oder Science-Fiction-Produktionen allgemein beschäftigen. Auf Fan-Fiction-Websites veröffentlichten Fans der Serie selbstgeschriebene Geschichten. Allein auf FanFiction.net, der größten dieser Plattformen, sind über 1300 Geschichten abrufbar, die von Deep Space Nine erzählen (siehe auch: Star-Trek-Fan-Fiction). Computerspiele Sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch erschienen vier Videospiele, die von Deep Space Nine handeln. Angegeben sind die Plattformen, für die die Spiele auf Deutsch erschienen. Crossroads of Time ist ein 1995 erschienenes Action-Adventure sowohl für Sega Mega Drive als auch für Super Nintendo, in dem der Spieler, sich in der Rolle von Benjamin Sisko befindend, verschiedene mysteriöse Zwischenfälle an Bord der Station aufklären muss. Harbinger ist ein Abenteuerspiel für DOS von 1996, in dem der Spieler als diplomatischer Botschafter der Föderation einen Mord auf der Raumstation aufzuklären hat. The Fallen ist ein Third-Person-Shooter für Microsoft Windows von 2001, in dem der Spieler wahlweise als Benjamin Sisko, Kira Nerys oder Worf die Aufgabe hat, die verschollenen Drehkörper der Pah-Geister zu finden. Dominion Wars ist ein Echtzeit-Strategiespiel für Microsoft Windows von 2001, in dem der Spieler bis zu sechs Raumschiffe gleichzeitig kommandiert und am Krieg gegen das Dominion teilnimmt. Teile der Serie wurden zudem in anderen Star-Trek-Videospielen verarbeitet, darunter dem MMO-RPG Star Trek Online. Das 2010 erschienene und von Keen Games entwickelte Browserspiel Star Trek: Infinite Space ist zeitlich und thematisch während der vierten und fünften Staffel angesiedelt. Das Studio gab seine Entwicklung 2012 wieder auf, nachdem sich kein Nachfolger für den Publisher Gameforge gefunden hatte. Literatur Englischsprachig Jeff Ayers: Voyages of Imagination. The Star Trek Fiction Companion, Pocket Books, New York 2006, ISBN 978-1-4165-0349-1 Michèle und Duncan Barrett: Star Trek: The Human Frontier. Routledge, New York 2001, ISBN 0-415-92982-2 M. Keith Booker: Science fiction Television. Praeger Publishers, Westport 2004, ISBN 0-275-98164-9 Douglas E. 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Emmett Winn: Racial Issues and Star Trek’s Deep Space Nine. In: Kinema (University of Waterloo), Frühjahr 2003 Deutschsprachig Armin Breitenbach: Deep Space Nine. Hinter den Kulissen der Raumstation, Heel Verlag, Königswinter 1995, ISBN 3-89365-450-X Mike Hillenbrand, Thomas Höhl: Dies sind die Abenteuer – Star Trek 40 Jahre. Heel Verlag, Königswinter 2006, ISBN 978-3-89880-668-8 Star Trek in Deutschland. „Wie Captain Kirk nach Deutschland kam“. Heel Verlag, Königswinter 2008, ISBN 978-3-86852-006-4 Michael Peinkofer, Uwe Raum-Deinzer: Das große STAR TREK Buch, Medien-, Publikations- und Werbegesellschaft mbH, Hille 1997, ISBN 3-931608-14-X Uwe Raum-Deinzer, Michael Peinkofer, Inken Ebinger, Jürgen Krainhöfner: TV Highlights Serien Hits Science Fiction 3: Star Trek Deep Space Nine, Medien-, Publikations- und Werbegesellschaft mbH, Hille 2000 Andreas Rauscher: Das Phänomen STAR TREK – Virtuelle Räume und metaphorische Welten, Ventil Verlag, Mainz 2003, ISBN 3-930559-98-6 (Dissertation, Johannes Gutenberg-Universität Mainz) Judith und Garfield Reeves-Stevens: Star Trek: Deep Space Nine. Die Realisierung einer Idee. Heyne Verlag, München 1996, ISBN 3-453-10982-1. Aus dem Englischen übersetzt von Ralph Sander (US-amerikanische Originalausgabe: The Making of Star Trek Deep Space Nine, 1996) Moviestar-Sonderheft Nr. 5/1994: Star Trek: Deep Space Nine, Medien-, Publikations- und Werbegesellschaft mbH, Hille 1994. Nina Rogotzki et al. (Hrsg.): Faszinierend! STAR TREK und die Wissenschaften. Verlag Ludwig, Kiel 2003, ISBN 3-933598-25-7 (Band 1), ISBN 3-933598-69-9 (Band 2) Ralph Sander: Das STAR TREK Universum, Heyne Verlag, München; 1994: Bände 1 und 2, ISBN 978-3-453-07759-1.; 1995: Band 3, ISBN 3-453-07760-1.; 1998: Band 4, ISBN 978-3-453-13370-9. Nadja Sennewald: Alien Gender. Die Inszenierung von Geschlecht in Science-Fiction-Serien, transcript Verlag, Bielefeld 2007, ISBN 978-3-89942-805-6 Sebastian Stoppe: Unterwegs zu neuen Welten. Star Trek als politische Utopie. Büchner-Verlag, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-941310-40-7 Julian Wangler: Über den Rand des Universums. Der Dominion-Krieg – Die Jahre 2373 bis 2375, in: S. D. Perry: Star Trek: Deep Space Nine – Offenbarung, Buch 1, Cross Cult (Amigo Grafik), Ludwigsburg 2009, ISBN 978-3-941248-51-9, S. 275–282 Christian Wenger: Jenseits der Sterne. Gemeinschaft und Identität in Fankulturen. Zur Konstitution des Star Trek-Fandoms. transcript Verlag, Bielefeld 2006, ISBN 978-3-89942-600-7, S. 112–114 Hans J. Wulff: STAR TREK zwischen Wissensagentur und Populärkultur. In: Rogotzki et al. 2003, Band 1, S. 19–40 Weblinks Offizielle Seiten bei StarTrek.de (deutsch) und StarTrek.com (englisch) Episodenführer beim Deutschen StarTrek-Index TREKnews.de – Informationen über Star Trek The Deep Space 9 Transcripts – Transkripte aller Episoden (englisch) Einzelnachweise Episodenverweise beziehen sich – sofern nicht anders angegeben – auf die deutsche Synchronfassung. Fernsehserie (Vereinigte Staaten) Deep Space Nine Fernsehserie der 1990er Jahre
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https://de.wikipedia.org/wiki/Perg
Perg
Perg ist eine oberösterreichische Stadtgemeinde im unteren Mühlviertel am nördlichen Rand des Machlands mit Einwohnern (Stand: ). Die Stadt liegt 35 km östlich von Linz und 7 km nördlich der Donau an der Naarn auf , ist seit 1868 Verwaltungssitz des Bezirks Perg und Standort des Bezirksgerichtes Perg. Bereits 1269 verlieh König Ottokar II. von Böhmen den Bürgern von Perg Marktrechte. Den Namen verdankt Perg den Herren von Perg, die wirtschaftliche Bedeutung ab dem 14. Jahrhundert unter anderem der Mühlsteinbrecher- und der Hafnerzunft. Vom Ortsbild des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind auf Grund mehrerer verheerender Brände nur noch die Pfarrkirche aus dem 15. und das Seifensiederhaus aus dem 16. Jahrhundert erhalten. Seit 1938 besteht das Gemeindegebiet aus dem ursprünglichen Markt Perg und den bis zur Eingemeindung selbständigen Gemeinden Pergkirchen und Weinzierl. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich Perg zum Wirtschafts-, Verwaltungs-, Ärzte-, Schul- und Freizeitzentrum des Bezirkes Perg. 1969 wurde der Markt von der Oberösterreichischen Landesregierung zur Stadt erhoben. Auf Grund des überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstums ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Perg bezogen auf die Einwohneranzahl größte Stadt des Mühlviertels. Durch die Anbindung an den Donauradweg gewann der Tourismus in den 1990er Jahren an wirtschaftlicher Bedeutung. Seit 2010 liegt Perg am österreichisch-bayerischen Weitwanderweg Donausteig und verfügt mit dem Kugelmanderlweg über eine eigene Donaurunde. Geografie Lage und Umgebung Das Gebiet der Stadtgemeinde Perg bedeckt eine Fläche von  km². Die größte Ausdehnung beträgt in Ost-West-Richtung 8,1 km und in Nord-Süd-Richtung 6,3 km. Die Landeshauptstadt Linz ist 35 km in westlicher, die Bundeshauptstadt Wien 150 km in östlicher Richtung von Perg entfernt. Der nächste Grenzübergang nach Tschechien, Wullowitz in der Gemeinde Leopoldschlag, befindet sich nördlich von Perg in 55 km Entfernung. Der Bezirk Perg grenzt im Osten und im Süden an Niederösterreich. Im Osten befindet sich die Landesgrenze zwischen Ober- und Niederösterreich in einer Entfernung von 30 km bei Hirschenau in der Gemeinde St. Nikola an der Donau. In Richtung Süden führt der Weg nach Niederösterreich über die Donaubrücken in Mauthausen und Grein sowie über die eingeschränkt befahrbare Straße des Kraftwerks Wallsee-Mitterkirchen. Die höchsten Erhebungen befinden sich in der Ortschaft Lehenbrunn nördlich des Anwesens Preschnitzer (Preschmitzer) auf rund an den Gemeindegrenzen zu Münzbach und Windhaag sowie in der Ortschaft Lanzenberg (rund ) in der Nähe der Gemeindegrenze zu Allerheiligen. Die tiefsten Punkte des Gemeindegebietes mit weniger als liegen südöstlich von Perg in der Ortschaft Auhof am Naarnkanal in Richtung Arbing. Das Gemeindegebiet befindet sich einerseits in der fruchtbaren Machlandebene und andererseits im Untermühlviertler Schollenland, einem Ausläufer des Granit- und Gneisplateaus. Perg grenzt zwar nicht an die Donau, diese fließt aber nur wenige Kilometer südwestlich und südlich an den Nachbargemeinden Naarn und Mitterkirchen im Machland vorbei. Aus geologischer und geomorphologischer Sicht sowie unter Aspekten der Raumnutzung gehört das Gemeindegebiet von Perg zu 3 der 41 Raumeinheiten des Bundeslandes Oberösterreich. Alle Ortschaften und Ortschaftsteile des Gemeindegebietes in der Ebene liegen in der Raumeinheit Machland. Ein kleiner Teil des Perger Gemeindegebietes in den Ortschaften Lehenbrunn, Weinzierl und Lanzenberg gehört zur Raumeinheit Aist-Naarn-Kuppenland. Zwischen den beiden eben erwähnten Raumeinheiten liegt die Raumeinheit Südliche Mühlviertler Randlagen, zu der die teilweise dicht besiedelten südlich ausgerichteten Abhänge des Gemeindegebietes zählen. Die Grenze zwischen Machland und Südlichen Mühlviertler Randlagen verläuft von Aisthofen über Weinzierl, Zeitling, Perg, Thurnhof, Auhof und Tobra entlang der Straßen am Rand der Ebene. Geologie Der im Untermühlviertler Schollenland liegende Teil des Perger Gemeindegebietes besteht aus entlang von Brüchen abgesenkten Becken, die zum Teil mit paläogenen Meeres- und Flussablagerungen gefüllt sind. Dazwischen sind Horste erhalten geblieben. Die sich daraus ergebenden großen Höhenunterschiede bewegen sich in Perg zwischen 250 und 415 m. Der Wechsel von weiten Tälern mit engen felsigen Durchbruchstälern bedingt eine Untergliederung des Raumes in Kleinlandschaften. In den jüngeren Ablagerungen befinden sich die landwirtschaftlich am besten nutzbaren Böden. Das Bergland im Norden des Gemeindegebietes stellt kristallines Grundgebirge dar und besteht aus Granit, während im Süden des Gemeindegebietes dieses Grundgebirge ein verhältnismäßig seichtes Becken vom Typus eines jungen Sedimentbeckens bildet. In der Gegend um Perg finden sich sowohl der ältere, grobkörnige Weinsberger Granit als auch die jüngeren, mittel- bis feinkörnige Mauthausener und Perger Granite. Zu den Verwitterungsprodukten des Grundgebirges auf dem Gemeindegebiet von Perg zählt der in Weinzierl abgebaute Kaolin. Vom Paläozoikum bis zum Känozoikum war das Gebiet Festland, danach sanken weite Teile des Landes unter den Meeresspiegel und wurden Meeresboden. Daher ist in Perg beispielsweise im Erdstall Ratgöbluckn auf Granit abgelagerter Meeressand vorzufinden. Darin haben sich Fossilien wie Haifischzähne, Fischschuppen oder Knochen von Seekühen (Schädelteil einer Seekuh: Metaxytherium pergense) erhalten. Im letzten Teil der geologischen Neuzeit hob sich das kristalline Grundgebirge wieder und es entstand kristalliner Sandstein, der in Perg für die Mühlsteinerzeugung verwendet wurde. Als nutzbare Rohstoffe gibt es daher auf dem Gemeindegebiet heute insbesondere Granit, Sandstein und Kaolin, weshalb der Bergbau in Granit- und Sandsteinbrüchen sowie der Kaolinabbau insbesondere in den letzten Jahrhunderten in Perg und Umgebung wirtschaftlich eine Rolle spielte. Das in der Donauebene des Machlandes befindliche Gebiet der Stadtgemeinde liegt in der Ebene auf 240 bis 260 m und zählt zu den niedrigst gelegenen Gebieten des Mühlviertels. Der stufenartige Abfall zur Donau längs deutlicher Erosionsränder hat entsprechende ökologische Unterschiede zur Folge, die von den Deckschichten und deren Böden, der Überschwemmungshäufigkeit und der Tiefenlage des fast geschlossenen Grundwasserkörpers abhängen. Perg ist seit historischer Zeit frei von Donauhochwassern. Die häufigen Überschwemmungen in der Perger Au, die fallweise auch das Stadtgebiet von Perg betreffen, sind auf die Hochwasser der Naarn und ihrer Zubringer zurückzuführen. Insbesondere die Fußzonen des Massivabfalls zählen in Perg zu den bevorzugten Siedlungszonen. Die Beckenlage mit dem temperaturbegünstigten südexponierten Hangfuß des Massivrandes ist eine ehemalige Weinbauzone, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder belebt wurde. Gewässer Die Naarn fließt von Norden nach Süden durch die Gemeinde, zuerst in einem engen, tief eingeschnittenen Durchbruchtal und im Machland im regulierten Bett des Naarnkanals. Perg wird im Westen in der Ortschaft Aisthofen von der Aist und im Osten in der Ortschaft Tobra teilweise vom Tobrabach begrenzt. Weitere Fließgewässer auf dem Gemeindegebiet sind der in die Aist entwässernde Aisthofnerbach, sowie die in die Naarn entwässernden Bäche Zeitlingerbach, Hinterbach, Thurnhofbach (im Oberlauf Lamplbach genannt), Auhofbach (im Oberlauf Pergkirchnerbach genannt) und der Tobrabach (im Oberlauf Kropfmühlbach oder Altenburgerbach beziehungsweise Modlerbach genannt). Süd- und südöstlich von Perg wurden im 18. und 20. Jahrhundert in der Perger Au die Naarn und ihre Zubringerbäche reguliert. Die auf dem Gemeindegebiet von Perg entspringenden Bäche Thurnhofbach und Auhofbach münden noch auf dem Gemeindegebiet in den künstlich angelegten Kleinen Naarnkanal, der als einziger Zufluss den in die Große Naarn mündenden Tobrakanal speist. Der in der Nähe des Bauernhofes Kloiber auf dem Gemeindegebiet von Windhaag entspringende und zunächst Modlerbach beziehungsweise Altenburgerbach oder Kropfmühlbach genannte Tobrabach gelangt bei Altenburg (Gemeinde Windhaag) in der Nähe der Kropfmühle auf das Gemeindegebiet von Perg und bildet zunächst die Grenze zwischen Perg und Münzbach sowie ab der Einmündung des Falkenauerbaches die Grenze zwischen Perg und Arbing. Er besitzt ein Einzugsgebiet von 47,8 km² und wurde auf einer Länge von 17,3 km kartiert. In der Ortschaft Tobra wurde der Bach kanalisiert, südlich der Eisenbahnbrücke wird auf der rechten Seite der Tobrakanal ausgeleitet. Der Tobrabach ist vom Bereich der Ausleitung auf eine Länge von 200 Metern verrohrt, ändert etwa einen Kilometer flussabwärts der Ortschaft Tobra die Richtung in einem beinahe rechten Winkel und bildet dann die Grenze zwischen Arbing und Mitterkirchen. Bei den stehenden Gewässern im Gemeindegebiet handelt es sich einerseits um künstlich angelegte Teiche, meist Löschwasserteiche oder Fischteiche im Umkreis von Ortschaften, beispielsweise in Pergkirchen, und andererseits um Grundwasseransammlungen in aufgelassenen Steinbrüchen und Tagbaugebieten, die weitgehend der natürlichen Sukzession überlassen werden, beispielsweise der ehemalige Mühlsteinbruch Kerngraben oder das seit Jahren weitgehend stillgelegte Kaolinabbaugebiet Weinzierl. Perg war im 20. und 21. Jahrhundert ebenso wie in den vorangegangenen Jahrhunderten (siehe Hauptartikel Perger Au) von Hochwasserkatastrophen betroffen. Im Juli 1954 und im August 2002 mit teilweise höheren Wasserständen als 1954, gab es beträchtliche Überflutungen durch die Naarn und ihre Zubringer, verursacht durch lang anhaltende Niederschläge im Hinterland. Insbesondere die Naarntalstraße musste wegen der Hochwasserschäden 2002/03 umfassend saniert werden; das Naarntal war längere Zeit nicht durchgehend befahrbar. Große Schäden entstanden beispielsweise an den Kraftwerksanlagen und Druckrohrleitungen des Elektrizitätswerks Perg. Stadtgliederung und Flächennutzung Der seit dem 13. Jahrhundert bestehende Markt Perg wurde 1784 Katastralgemeinde und 1848 Marktgemeinde. Die Gemeinde Perg besteht seit den Eingemeindungen vom 1. November 1938 aus den Gebieten der Ortsgemeinden Markt Perg, Pergkirchen und Weinzierl. Die vorhandene Gliederung in Katastralgemeinden blieb dabei erhalten. 1946 gab es Bestrebungen, die Eingemeindung von Pergkirchen rückgängig zu machen. Bei einer Volksabstimmung sprachen sich jedoch 85 % der Pergkirchner Einwohner für einen Verbleib bei Perg aus. Die drei ehemals selbständigen Gemeinden sind in folgende Ortschaften unterteilt (in Klammern Einwohnerzahl Stand ): Die Katastralgemeinde (KG) Perg mit einer Fläche von 7,61 km² umfasst das engere Ortsgebiet von Perg () und die Ortschaft Kickenau (). Die KG Pergkirchen mit 10,95 km² besteht aus den Ortschaften Auhof (), Dörfl (), Karlingberg (), Lehenbrunn (), Mitterberg (), Pergkirchen (), Thurnhof () und Tobra (). Auf dem Gebiet der 7,88 km² großen KG Weinzierl befinden sich die Ortschaften Aisthofen (), Lanzenberg (), Weinzierl () und Zeitling (). Die Ortschaftsbezeichnungen Markt, Obervormarkt, Untervormarkt, Hainbuchen, Kropfmühle und Pasching sind zwar noch umgangssprachlich gebräuchlich, werden jedoch nicht mehr als offizielle Ortschafts- oder Straßennamen von Perg verwendet. Die Gesamtfläche der Stadt ist folgendermaßen aufgeteilt: Fast fünf Sechstel des Perger Gemeindegebietes bestehen aus land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen, wobei auf die Landwirtschaft 65,35 % und auf Wald 17,39 % entfallen. Die verbleibenden Flächen teilen sich in 0,97 % Wasserflächen, 1,8 % Bauflächen, 7,78 % Gärten und 6,71 % sonstige Flächen auf. Nachbargemeinden Perg ist von sieben Gemeinden umgeben, die alle dem Bezirk Perg angehören. Im Norden grenzt die Stadtgemeinde Perg an die Gemeinden Allerheiligen und Windhaag, im Westen und Nordwesten an die Marktgemeinde Schwertberg sowie im Süden und Südwesten an die Marktgemeinde Naarn. Mitterkirchen befindet sich südlich von Perg. Östlich von Perg schließt das Gebiet der Gemeinde Arbing und der Marktgemeinde Münzbach an jenes von Perg an. In den Ortschaften Karlingberg und Lehenbrunn grenzen die Siedlungen der Stadt Perg nördlich direkt an Wohngebiete der Gemeinde Windhaag. In der Ortschaft Tobra reicht im Osten eine Siedlung der Gemeinde Arbing bis an die Gemeindegrenze heran. Die Ortschaft Aisthofen trifft am Nordrand unmittelbar auf ein Wohngebiet der Gemeinde Schwertberg. Klima Die nächstgelegenen Klimastationen befinden sich in Allerheiligen (), Amstetten (), Linz () und Pabneukirchen (). Deren Daten bilden die Grundlage für die Beschreibungen des Klimas in den drei für Perg relevanten Raumeinheiten. Das Jahresmittel der Lufttemperatur im Hügelland ist 8 bis 9 °C und in der Ebene 10 °C. Kühlster Monat ist der Jänner mit mittleren Temperaturen von −1,5 bis −2,1 °C und wärmster der Juli mit einem Temperaturmittel zwischen 17,7 und 18,8 °C. Die Niederschläge liegen sowohl in der Machlandebene als auch auf den Hanglagen des Untermühlviertler Schollenlandes zwischen 700 und 800 mm pro Jahr. Winde kommen am häufigsten aus dem Westen, am zweithäufigsten aus dem Osten. Im Heimatbuch von 1933 wurden die klimatischen Verhältnisse im Markt Perg beschrieben: Der Markt Perg liegt in sehr geschützter Lage; die Berge im Westen halten die rauen Westwinde ab, ebenso die nördlich gelegenen Berge die kalten Nordwinde. Da die Landschaft gegen Süden, gegen das Machland, offen ist, können die warmen Südwinde ungehindert heran. Im Naarntal ist die Temperatur im Winter niedriger als in der Ebene. Allerdings leidet der Ort im Spätherbst und Vorfrühling unter dem starken Donaunebel, der gar oft bis in den Ort eindringt. Besonders nasse, heiße und trockene Sommer und besonders milde Winter sind dort bis ins 11. Jahrhundert zurück aufgelistet. Am 11. Februar 1929 konnten - 30 °C und am 25. Jänner 1834 + 14 °C in Perg gemessen werden. Die Stadtgemeinde Perg ist seit 2001 Klimabündnis-Partnerstadt und kann auf eine Reihe von eigenen Aktivitäten zur Lösung globaler Umweltprobleme verweisen. Als Beispiele für die lokalen Maßnahmen sind insbesondere die Förderaktionen für energiesparende Maßnahmen privater Haushalte, der Anschluss öffentlicher Gebäude an das Fernwärmenetz des örtlichen Fernheizwerkes, die Abwärmenutzung des Blockheizkraftwerkes im Machlandbad und bewusstseinsbildende Maßnahmen anzuführen. Bevölkerung Bevölkerungsentwicklung Zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben auf dem heutigen Gemeindegebiet von Perg um die 2000 Personen gelebt. 1809 wurde die Anzahl der Häuser mit 320 angegeben. 1851 hatte Perg einschließlich der beiden später eingemeindeten Katastralgemeinden Pergkirchen und Weinzierl 2313 Einwohner. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges stieg die Einwohnerzahl auf 3512 an. Sie wächst seit den 1950er Jahren deutlich stärker als die des Bezirks Perg und des Bundeslandes Oberösterreich. Bevölkerungsstruktur nach Geschlecht, Alter und Bildung Die Stadt Perg hatte am 1. Jänner 2018 8.388 Einwohner, davon 4.109 Männer und 4.279 Frauen, und ist damit, bezogen auf die Einwohneranzahl, die größte Stadt des Mühlviertels, gefolgt von Freistadt. Von den Gemeinden des Mühlviertels hatte am angeführten Stichtag nur die Gemeinde Engerwitzdorf mehr Einwohner als die Stadtgemeinde Perg. Die grobe Altersstruktur der Perger Bevölkerung liegt zum 31. Oktober 2012 vor und zeigt, dass 69 % der Perger über 15 und unter 65 Jahre alt sind. Mit 16,1 % ist rund ein Sechstel der Bevölkerung jünger und mit 14,9 % rund ein Siebentel der Bevölkerung älter. Während der Frauenanteil in der Hauptgruppe annähernd dem Anteil an der gesamten Bevölkerung entspricht, liegt er bei der jüngeren Bevölkerung mit 49,3 % bereits deutlich unter und bei der älteren Bevölkerung mit 56,9 % deutlich über dem Anteil an der gesamten Bevölkerung. Von den 6.981 Pergern, die 2015 über 15 Jahre alt waren, verfügen 727, das sind 10 %, über den Abschluss einer Universität, Fachhochschule oder Akademie. Weitere 876 Perger, das sind 13 % der relevanten Bevölkerungsgruppe, haben maturiert. 3.307 Perger, das sind mit 47 % fast die Hälfte der über Fünfzehnjährigen, haben eine Lehre oder berufsbildende mittlere Schule abgeschlossen. 2071 oder 30 % der Perger haben nur einen Pflichtschulabschluss. Herkunft und Sprache Herkunft und Sprache der Bevölkerung von Perg zeigt zwischen der Volkszählung vom 15. Mai 2001 und der Registerzählung zum 31. Oktober 2011 folgende Entwicklung: (Werte 2001 in Klammer, überarbeitet): 90,1 (91,2) % der Perger Einwohner sind österreichische Staatsbürger und 86,5 (89,9) % wurden in Österreich geboren. 2,5 (0,8) % der Perger kommen aus anderen EU-Staaten, 7,3 (9,3) % aus Nicht-EU-Staaten. Der mittel- oder donaubairische Dialekt ist eine bairische Dialektform, die in ganz Oberösterreich verbreitet ist. Der ostösterreichische Zweig des Mittelbairischen geht auf die Mundart des durch die bairische Ostsiedlung entstandenen babenbergischen Herrschaftsgebietes Ostarrichi zurück. Religion Bei der Volkszählung 2001 haben 6.057 Personen (85 %) römisch-katholisch als Religionsbekenntnis angegeben, 512 (7,2 %) islamisch, 114 (1,6 %) evangelisch, 62 (0,9 %) orthodox und 95 (1,4 %) sonstige Glaubensrichtungen. 289 (4,1 %) Perger haben sich zu keiner Religion bekannt. Das Dekanat Perg der katholischen Diözese Linz wurde 1974 gegründet. Der Dechant wird aus dem Kreis der Pfarrer des Dekanats gewählt. Seit September 2010 ist Pfarrer Konrad Hörmanseder, der Pfarrer von Perg und Pergkirchen Dechant. Damit kam erstmals seit Bestehen des Dekanates der Dechant aus einer der beiden Pfarren des Gemeindegebiets. Im Perger Pfarrgebäude ist die für den gesamten Bezirk Perg zuständige Kirchenbeitragsstelle untergebracht. Der Seelsorgsraum Perg umfasst innerhalb des Dekanats Perg die Pfarren Allerheiligen, Münzbach, Perg, Pergkirchen Rechberg und Windhaag. Auf dem Gebiet der Stadtgemeinde Perg befinden sich die katholischen Pfarren Perg und Pergkirchen. Die Pfarre Perg reicht im Norden über das Gebiet der Stadtgemeinde Perg hinaus. Von der Gemeinde Allerheiligen gehört ein Teil der Katastralgemeinde Lebing und von der Gemeinde Windhaag die Ortschaft Kuchlmühle und der Großteil von Karlingberg dazu. Aisthofen gehört zur Pfarre Schwertberg. Die Grenzen der Pfarrgemeinde Pergkirchen entsprechen weitgehend denen der gleichnamigen Katastralgemeinde. In Perg bestehen neben den katholischen Kirchen in Perg und Pergkirchen Versammlungsräume der Christlichen Gemeinde (Freikirche), der Muslime und der Zeugen Jehovas. Die Mitglieder der evangelischen Kirche gehören zur Pfarrgemeinde Enns. Die Muslime haben in Perg mehrere lokale Kulturvereine gegründet, darunter den ALIF (Integration und Kultur Verein – Perg Egitim Merkezi (PEM)) und den Perger Alevi Kültür Dernegi (Perger Alevitischen Kultur Verein – PAKD) Letzter begann im Juli 2013 im Westen von Perg mit der Errichtung eines Vereinshauses mit etwa 900 Quadratmeter Nutzfläche auf einem 2600 Quadratmeter großen Areal, wo sich regelmäßig etwa 100 und bei Großveranstaltungen bis zu 250 Personen treffen können. Die Barmherzige Schwestern vom heiligen Kreuz (Kreuzschwestern) sind seit 1891 mit einem Stützpunkt in Perg vertreten. Die einzige zuletzt noch in Perg verbliebene Ordensschwester leitete bis Mitte 2010 den Kindergarten des Kindergartenvereins Perg in der Friedhofstraße. Geschichte Urzeit und Antike In der Ortschaft Weinzierl wurde in den 1990er Jahren eine eiszeitliche Jägerstation aus der späten Altsteinzeit (vor rund 30.000 Jahren, Aurignacien) festgemacht. Die Anwesenheit von Menschen in der Jungsteinzeit ist durch diverse Funde von Steinbeilen und deren Bruchstücke aus der Zeit zwischen 5000 und 1500 vor Christus belegt. Bedeutsam ist der Fund von Wohngruben und eines Töpferofens aus der Hallstattzeit (600 vor Christus) in der Ortschaft Auhof bei Perg. Während der Römerzeit lag die Gegend um Perg nördlich der Grenze der Provinz Noricum am Limes des Römischen Reiches - der damals in diesem Bereich von der Donau gebildet wurde - innerhalb einer 7,5 km breiten Pufferzone zwischen Römern und Barbaren. Das römische Kastell Adiuvense (Wallsee) und das römische Militärlager Lauriacum (Enns/Lorch) lagen in Sichtweite. Siedlungsspuren aus dieser Zeit sind auf dem Gebiet der Gemeinde Perg nicht nachweisbar. Mittelalter Nach der Völkerwanderungszeit siedelten sich in der Gegend von Perg zeitgleich Baiern und Slawen an. Beide Völker hinterließen Spuren in den Orts- und Hausbezeichnungen. Funde von Grabbeigaben aus dem bei Auhof entdeckten Gräberfeld aus dem 7. und 8. Jahrhundert nach Christus belegen den in dieser Zeit dort erfolgten Übergang vom Heidentum zum Christentum. Ab dem 9. Jahrhundert gehörte das Gebiet zur Awarenmark. Der Herrensitz in der Ortschaft Aisthofen auf dem Gebiet der Katastralgemeinde Weinzierl war Mittelpunkt und Verwaltungssitz des jahrhundertelang so genannten Regensburger Luß. In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts wurden die Babenberger mit der Befriedung der Donaumark betraut. Das Machland war Teil dieser Mark, die als Kernland Österreichs gilt und vom Erlabach östlich der Enns beiderseits der Donau bis westlich des Wienerwaldes reichte. Leopold I. wurde 976 Markgraf und 996 erfolgte erstmals die urkundliche Erwähnung der Bezeichnung Ostarrichi (Österreich) für diese Gegend. Die schriftlich belegbare Geschichte der heutigen Ortschaft und Katastralgemeinde Pergkirchen begann mit dem Auftreten der Herren von Perg und Machland etwa ab 1050. Bereits 1088 wurde in Pergkirchen die Martinskirche geweiht, die 1142 zur Pfarrkirche Pergkirchen wurde. Markgraf Leopold III., der Heilige, war um 1100 in erster Ehe mit einer Tochter der Herren von Perg verheiratet. Die Vogtburg der Herren von Perg stand oberhalb der frühen Siedlung Perg auf der Anhöhe Dollberg. Die Feste Mitterberg der Herren von Perg auf dem Gebiet von Pergkirchen fiel wie die Burg Perg nach dem Aussterben der Herren von Perg spätestens 1191 an die Babenberger. Mitterberg wurde zur größten Burganlage des Mühlviertels ausgebaut und war nach der Burg Schaunburg (Gemeinde Hartkirchen) die zweitgrößte Burg im Gebiet des heutigen Oberösterreich. Von 1278 bis 1491 war Mitterberg Sitz des Landgerichtes Machland. Die Ortschaft Perg ist eine Gründung der Babenberger, und deren Bürger erhielten bereits 1269 Marktrechte. Im mittelalterlichen Markt Perg spielte die Bürgerschaft, unter anderem die bedeutenden Zünfte der Mühlsteinbrecher, Steinmetze und der Hafner, eine wichtige Rolle. Der habsburgische Landesherr Rudolf I. unterstellte den Markt Perg der großen Herrschaft Freistadt. Die Eigenständigkeit blieb zwar erhalten, es musste aber bei grundlegenden Entscheidungen die Bewilligung der landesfürstlichen Herrschaft eingeholt werden und die Bürger des Marktes mussten eine jährliche Abgabe an die jeweiligen Grundherrschaften entrichten. Über Perg führten bereits ab dem 11. Jahrhundert Routen des Jakobswegs aus Böhmen (Budweis – Neumarkt im Mühlkreis – Schönau im Mühlkreis – Perg) und aus Mähren (Kautzen – Zwettl – Altmelon – Nöchling – Perg) und dann weiter nach Asten. Urkundlich erwähnt wurde in Perg erst 1416 eine Jakobskapelle. Neuzeit 16. bis 19. Jahrhundert Die Pfarre Perg entstand 1542 durch Abtrennung von der Altpfarre Naarn, bereits zuvor wurde eine Jakobskapelle beziehungsweise Jakobskirche mit einem ersten Perger Friedhof um die Kirche errichtet. Im Markt Perg spielte die Reformation keine besondere Rolle. Es gab in der Pfarre Perg keine protestantischen Pfarrer. An Stelle katholischer Schulmeister wurden ab 1609 Prädikanten und lutherische Schulmeister beschäftigt. Der Perger Bürger Leonhard Lanß, der Vater von Thomas Lanß, dem späteren Professor am Collegium Illustre in Tübingen, dürfte Protestant gewesen sein, da er seinen Sohn bereits Anfang der 1590er Jahre an die Evangelische Landschaftsschule nach Linz schickte. Die Pfarre Pergkirchen gehörte im 16. Jahrhundert zur Herrschaft Windhaag. Da der Vogtherr, Friedrich von Prag, protestantisch war, bestellte er in Pergkirchen wahrscheinlich ab 1558 oder 1574 protestantische Pfarrer. Diese hatten beträchtlichen Zulauf aus nahen und entfernten Gemeinden, da es in der Gegend nur wenige Pastoren gab. 1624 mussten alle protestantischen Prediger und Schulmeister abdanken und das Land verlassen. Die Perger und Pergkirchner wurden wieder katholisch gemacht. Während der Napoleonischen Kriege wurde das Machland immer wieder von feindlichen Verbänden durchzogen. 1805 richteten französische Truppen unter General Édouard Adolphe Mortier unter anderem in Perg ein Lager ein, 1809 marschierten württembergische Soldaten durch das Mühlviertel, verbunden mit Einquartierungen und Plünderungen. Die Gegend um Perg war zeitweilig Kriegsschauplatz. General Scheibler schlug mit österreichischen Truppen sein Hauptquartier in Perg auf. Der Gemeinschaftsbesitz der Perger Bürger ging nach der Revolution von 1848/1849 im Kaisertum Österreich auf die Marktkommune Perg über. Der größte Teil der Grundstücke wurde auf die Eigentümer der Bürgerhäuser aufgeteilt. 1958 wurde die Marktkommune aufgelöst. Die Marktgemeinde Perg übernahm ihre Verpflichtungen, die Gebäude und einzelne Grundstücke. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg waren im Frühjahr viele Personen etwa vier Wochen lang mit der Scheiterschwemme auf der Naarn beschäftigt. Siehe dazu auch Hauptartikel: Perger Schwemmplatz. 20. und 21. Jahrhundert Von den Ereignissen des Ersten Weltkrieges wird berichtet, dass ein Großteil der Glocken der Pfarrkirchen in Perg und Pergkirchen sowie der Perger Kalvarienbergkirche als kriegswichtiger Rohstoff abzuliefern waren, ebenso wie ein Großteil der Pferde, die in den Kriegsdienst gestellt wurden. Die Nahrungsmittelversorgung war auch in Perg katastrophal und für die Versorgung von Verwundeten wurden Reservelazarette eingerichtet, die der Gemeindearzt betreute. Nach dem Krieg ließen die auf dem Gebiet des heutigen Perg liegenden Gemeinden und Ortschaften Notgeld drucken. In die Zwischenkriegszeit fiel in Perg die Verwirklichung von öffentlichen Bauvorhaben wie der Bau der Hauptschule und des Feuerwehrzeughauses. Der Turnverein errichtete eine neue Turnhalle. Am 12. März 1938 marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Auch in Perg machte eine kleinere Einheit des deutschen Militärs Station. Die Volksabstimmung ergab auch in Perg eine fast vollständige Zustimmung zum Anschluss an das Deutsche Reich. Perg gehörte vom Anschluss bis 8. Mai 1945 zum Gau Oberdonau. Mit der Eingliederung wurde sofort begonnen. Dies war verbunden mit Währungswechsel, Zensur, Auflösung von Parteien und Vereinen und anderen Maßnahmen. Durch die Zusammenlegung der Katastralgemeinden Pergkirchen und Weinzierl mit der Marktgemeinde Perg am 1. November 1938 erreichte die Stadt Perg die heutige Ausdehnung. Perg wurde Kreishauptstadt. In Perg wurde der Reichsarbeitsdienst mit der Naarnregulierung und Entsumpfung der Au beauftragt, die Arbeiten kamen jedoch kriegsbedingt wieder ins Stocken. Im Verlauf des Krieges wurden in Perg neuerlich Reservelazarette eingerichtet. An Stelle der im Kriegseinsatz befindlichen Männer und Burschen wurden zunehmend Frauen und Mädchen für Arbeitseinsätze herangezogen. Perg war von gezielten Bombenangriffen nicht betroffen. Gefahr drohte von Notabwürfen im Verlauf von Luftkämpfen beim Anflug auf Linz. Insgesamt sind in Perg und Pergkirchen 197 Soldaten gefallen. 1945 lag Perg ab 5. Mai 1945 kurze Zeit in der amerikanischen und ab 9. Mai 1945 bis 1955 in der sowjetischen Besatzungszone. Die unmittelbare Nachkriegszeit war geprägt von der Auflösung des Konzentrationslagers Mauthausen und den damit verbundenen Flüchtlingsströmen, Versorgungsmängeln und der anschließenden Normalisierung mit den ersten freien Wahlen in Österreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere aber nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen im Jahr 1955, entwickelte sich Perg zu einem wesentlichen Wirtschafts-, Verwaltungs-, Ärzte-, Schul- und Freizeitzentrum des Bezirks Perg. Damit verbunden war ein überdurchschnittliches Ansteigen der Einwohnerzahl, die sich seit 1851 mehr als verdreifachte, sowie eine rege Wohnbautätigkeit in allen drei ehemals selbständigen Gemeinden. Als Gründe für die überdurchschnittliche Entwicklung sind weitsichtige Planungen und die kontinuierliche Wohnbau- und Schulbautätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg bei gleichzeitigem Auf- und Ausbau der Infrastruktur anzusehen. Beispiele sind der Ortsbebauungsplan aus dem Jahr 1948, die ersten Wohnbauten 1953 und zahlreiche Schulbauten zunächst im Bereich der Pflichtschulen, später auch im Bereich der mittleren und höheren Schulen. 700 Jahre nach Erlangung der Marktrechte wurde Perg 1969 von der Oberösterreichischen Landesregierung zur Stadt erhoben. 2002 war Perg von einem Doppel-Hochwasser betroffen mit katastrophalen Überflutungen sowohl an der Naarn als auch an ihren Zubringern und beträchtlichen Schäden an Straßen, Uferbefestigungen, Kraftwerksanlagen und Druckrohrleitungen. Politik Marktrichter und Marktkommune Perg wurde in den letzten Jahrzehnten der Babenbergerzeit Ende des 12. oder in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründet. Hinweise auf die Gründungszeit ergeben sich aus der rechteckigen Form des Hauptplatzes. Nach der Verleihung der Marktrechte 1269 wurde 1280 ein judicium (Marktgericht) für Perg beurkundet. Die Namen der Marktrichter sind erst für den Zeitraum ab 1566 bis 1848 bekannt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielten die Marktrichter die Funktion eines Bürgermeisters, dem ein Syndikus zur Seite stand. Der letzte Perger Marktrichter, Karl Gabessamb, war von 1848 bis 1855 der erste Bürgermeister der ab 1848 selbständigen Marktgemeinde Perg. Das Archiv der Marktkommune Perg ist unvollständig. Die noch vorhandenen Urkunden enthalten neben den Bestätigungen von Marktprivilegien durch die Landesfürsten und dem Marktbuch mit Abschriften aus dem 16. bis 19. Jahrhundert insbesondere fast alle Gerichtsprotokolle von 1603 bis 1800. Gemeinderat Der Gemeinderat hat 37 Mitglieder. 1945 erreichte die ÖVP die absolute Mehrheit, gefolgt von der SPÖ und weit abgeschlagen der KPÖ. Ab 1949 war die SPÖ die stärkste Partei und erreichte 1955 die absolute Mehrheit. Die Wahlpartei der Unabhängigen (WdU) erreichte 1949 rund 1/6 der Stimmen, die Kommunisten und Linkssozialisten hatten unbedeutende Stimmanteile. Seit 1961 ist die ÖVP in Perg stärkste Partei und erzielte 1967 bis 1985 und ab 2003 die absolute Mehrheit der Stimmen bzw. Mandate. Die SPÖ als bis 2015 zweitstärkste Partei erzielte Stimmanteile zwischen 18,9 und 42,3 %, die Freiheitliche Partei zwischen 5,1 und 24,05 %. Sie löste 2015 die SPÖ als zweitstärkste Partei ab. 1991 und 1997 kandidierte die Bürgerliste engagierter Perger (BEP) und stellte mit jeweils vier Mandaten auch einen Stadtrat. Die Grünen kandidierten 2015 erstmals für den Perger Gemeinderat und erhielten mit 10,15 % der Stimmen 3 Gemeinderatssitze. Mit den Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in Oberösterreich 2003 hatte der Gemeinderat folgende Verteilung: 16 ÖVP, 13 SPÖ und 2 FPÖ. (31 Mandate) Mit den Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in Oberösterreich 2009 hatte der Gemeinderat folgende Verteilung: 18 ÖVP, 10 SPÖ und 3 FPÖ. (31 Mandate) Mit den Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in Oberösterreich 2015 hatte der Gemeinderat folgende Verteilung: 19 ÖVP, 8 FPÖ, 7 SPÖ und 3 GRÜNE. (37 Mandate) Mit den Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen in Oberösterreich 2021 hat der Gemeinderat folgende Verteilung: 16 ÖVP, 9 FPÖ, 6 SPÖ und 6 GRÜNE. (37 Mandate) Bürgermeister 1961–1985 Josef Waidhofer (ÖVP) 1985–2007 Hermann Peham (ÖVP) seit 2007 Anton Froschauer (ÖVP) Stadtfinanzen Im Jahr 2014 hatte die Stadtgemeinde Perg Gesamteinnahmen von 20,1 Mio. Euro und Gesamtausgaben in Höhe gleicher Höhe. Die größten Einnahmequellen waren die Ertragsanteile aus dem Finanzausgleich mit 6,2 Mio. Euro und die Kommunalsteuer mit 4,5 Mio. Euro. Perg hatte mit 1.453 Euro nach Schwertberg die größte Finanzkraft pro Kopf im Bezirk Perg und lag an 33. Stelle von 444 Gemeinden in Oberösterreich. Die Gemeindeschulden pro Kopf betrugen 1.432 Euro; Perg nahm damit im Bezirk Rang 20 von 26 und in Oberösterreich Rang 277 von 444 Gemeinden ein. Städtepartnerschaft Perg unterhält seit 1989 eine Städtepartnerschaft mit Schrobenhausen, einer Stadt im oberbayerischen Landkreis Neuburg-Schrobenhausen in Deutschland. Das Fundament der Partnerschaft ist historisch. Der aus Perg stammende Seilermeister Martin Neugschwendtner trug im Jahr 1704 mitten im Spanischen Erbfolgekrieg dazu bei, die Stadt Schrobenhausen vor Kriegsschäden zu bewahren. Wappen Blasonierung: „In Rot auf schwarzem Dreiberg ein silbernes, auf der mittleren und hinteren Kuppe stehendes, aufgerichtetes Einhorn.“ Die Stadtfarben sind Rot-Weiß-Schwarz. Es ist nicht bekannt, wann der Markt beziehungsweise die heutige Stadt Perg ihr Wappen erhielt. Erstmals ist im Jahr 1432 von einem Wappen mit den heute bekannten Merkmalen die Rede. Die Bedeutung des Einhorns im Stadtwappen ist ungeklärt. Anlässlich der Stadterhebung 1969 hat der Landeshauptmann von Oberösterreich die auf Antrag des Perger Gemeinderates von der Oberösterreichischen Landesregierung gefassten Beschlüsse am 21. April 1969 beurkundet. Die Urkunde enthält die Erhebung zur Stadt, die Berechtigung zur Führung der Bezeichnung Stadtgemeinde und zur Weiterverwendung des bisherigen Wappens sowie die Genehmigung der Stadtfarben. Kultur Sehenswerte Bauwerke Die Pfarrkirche Perg aus dem 15. Jahrhundert ist das ältestes Bauwerk in Perg am Hauptplatz. Das Seifensiederhaus (Hauptplatz 11) aus dem Jahr 1563 ist mit den Stuckverzierungen und dem Erker etwas Besonderes am Perger Hauptplatz. Ähnliche Stuckverzierungen und einen geschwungenen Giebel zeigt das Hofer-Haus (Hauptplatz 21). Das Perger Rathaus (Hauptplatz 4) ist wesentlich jünger. Es wurde im Gründerzeitstil (Wiener Ringstrassenstil) nach einem Großbrand 1876 erbaut. Auch die alte Volksschule (Linzerstrasse 20) und das ehemalige Hotel Waldhör (Herrenstraße 28) zeigen noch gepflegten Gründerzeitstil. Ebenso das Reichmann-Haus (Hauptplatz 1). Die ehemalige Perger Hauptschule (Linzerstrasse 18). Entworfen vom Architekten Mauriz Balzarek ist sie bereits an der Moderne in der Architektur orientiert. Auch die Villa Reindl (Bahnhofstraße 12) stammt von Mauriz Balzarek. Der Erdstall Ratgöbluckn, eine Außenanlage des Stadtmuseums, ist ein Gangsystem, das als Zufluchts- und Versteckmöglichkeit gedient haben mag. Er ist als schützenswertes Kulturgut nach der Haager Konvention eingestuft. Der Scherer-Mühlsteinbruch (nahe Haus Mühlsteinstraße 40), auch eine Außenanlage des Stadtmuseums, ist ein einzigartiges Handwerksdenkmal. Das Steinbrecherhaus (Mühlsteinstraße 43), 2007 für Museumszwecke renoviert, gibt Einblicke in die Lebensweise der Perger Mühlsteinhauer. Das Mühlsteinmuseum zeigt erhaltene Mühlsteine und die hierher übertragene Meisingermühle. Die Kalvarienbergkirche aus dem 18. Jahrhundert. Sie ist ein Wahrzeichen von Perg. Umgeben ist sie vom Friedhof Perg. Die Burgruine Mitterberg nordöstlich von Perg und am Thurnhofbach war einst die größte Burg im Mühlviertel. Im Wald verborgen finden sich noch Fundamente und Mauerreste. Das Schloss Auhof in der nahen Ortschaft Auhof östlich von Perg ist ein alter Adelssitz. Das 1882 aus- und umgebaute Schlossgebäude ist bewohnt. Ältere historische Anlagen umgeben alles. Die Wasserburg Thurnhof in der nahen Ortschaft Thurnhof östlich von Perg war ein alter Edelmannssitz. Bemerkenswert ist der erhaltene mittelalterliche Wohnturm. Die Pfarrkirche Pergkirchen nordöstlich von Perg. Dort stand einst eine frühmittelalterliche Burgkirchenanlage der Herren von Perg und Machland. Kleindenkmäler sind verteilt im Stadtgebiet. Auf dem Perger Hauptplatz befinden sich der Pranger mit der Jahreszahl 1583, die Pestsäule aus dem Jahr 1681 und der Karbrunnen aus dem 17. Jahrhundert. Mehrere Burgfriedsteine und ein Hauptburgfriedstein markieren die Grenzen des alten Burgfriedens, an denen die Gewalt der Marktrichter einst endete. Einige dieser Steine erhielten sich. Ein Wegkreuz (Gedenksäule) westlich von Perg an der Hauderer-Straße (B3c Alte Donaustraße) markiert die Stelle, an der einst Verurteilte an das Hochgericht der Herrschaft Schwertberg übergeben wurden. Dieses Hochgericht stand unweit der Galgenhäusl (Weinzierl-Süd N° 15 und 16) etwas erhöht neben der Straße. Gedenktafeln an Gebäuden erinnern an Bundeskanzler Johann Schober, Diözesanbischof Josephus Calasanz Fließer und Martin Neugschwendtner, dem Retter von Schrobenhausen (Deutschland), sowie dem Komponisten Anton Bruckner und sein Perger Präludium. Museen und Galerien Der 1967 gegründete Heimat- und Museumsverein Perg führt das Heimathaus-Stadtmuseum Perg. Betreut werden von diesem auch die seit 2009 denkmalgeschützten musealen Freilichtanlagen Mühlsteinbruch Scherer, Erdstall Ratgöbluckn und Steinbrecherhaus. Schwerpunkte der Ausstellung im Heimathaus bilden die Schausammlungen zur Stein- beziehungsweise Mühlsteinindustrie, zum Kaolinbergwerk bei Weinzierl, zu den Ausgrabungen auf dem Gräberfeld bei Auhof und zu Keramikfunden bei der Burgruine Mitterberg. Seit 2004 gibt es die Dauerausstellung Kätes Puppenwelt mit über 400 Exponaten. Oldy-Kai nennt sich ein Privatmuseum, das alte Radios, Grammophone, Tonbandgeräte und Zweiradnostalgie zeigt. Johannas Galerie stellt vorwiegend Werke zeitgenössischer regionaler Künstler aus. In der Galerie im Zeughaus organisiert die Theatergruppe Perg Bilder- und Fotoausstellungen. Kino, Theater, Puppenbühne, Musik, Literatur, Fotografie Für die regionalen Veranstaltungen stehen in Perg mehrere Veranstaltungsorte zur Verfügung, darunter die Bezirkssporthalle und das Kultur-Zeughaus. Gelegentlich finden geeignete Veranstaltungen in der Stadtpfarrkirche Perg, in der Perger Kalvarienbergkirche und in der Pfarrkirche Pergkirchen außerhalb der religiösen Feiern statt. In Perg gibt es seit 1923 ein Kino mit ursprünglich 365 Sitzplätzen. Heute besteht es aus einem kleineren Saal mit 40 und einem größeren mit 118 Sitzplätzen. Am Ostermontag 2012 hat das Kino seinen Betrieb endgültig eingestellt. Theateraufführungen, Vorträge, Ausstellungen, Konzerte und Lesungen werden von Privatpersonen und von den örtlichen Vereinen und Bildungseinrichtungen angeboten, beispielsweise von den Musikvereinen Stadtkapelle Perg und Pergkirchen, der Perger Theatergruppe um Gerhard Pilz (Schauspieler) und dem bei internationalen Chorwettbewerben erfolgreichen Chor die lautmaler. Perger Kasperl: In den 1970er Jahren gründeten Helga und Robert Wandl eine Puppenbühne mit dem Ziel, ein konstantes Kinderprogramm für die Perger Kinder zu schaffen. Seither gelangt regelmäßig jeweils eine der 40 von den Akteuren selbst geschriebene Kasperlgeschichten zur Aufführung, mittlerweile gehören 50 Handpuppen zum Ensemble. Der Perger Kasperl agiert mit viel Witz und Geschick sowie stets gewaltlos. Gerald Kreuzer leitet die Perger Puppenbühne, die nahezu monatlich mit einer Kasperltheateraufführung im Kulturzeughaus an die Öffentlichkeit tritt. Einzelne Akteure der Puppenbühne haben an vom ORF aufgezeichneten Kasperl-Episoden mitgewirkt, die im Rahmen der Kindersendung Kasperltheater (Fernsehsendung) immer wieder ausgestrahlt werden. Die Perger Faschingsgilde wurde 2004 gegründet. Die Lions-Clubs Perg und Machland, der Rotary Club Perg und die Kiwanis führen regelmäßig Benefizveranstaltungen durch. Seit 2005 finden unter dem Motto Perg liest Lesetage im April, eine Bücherbörse, Literaturkreise, ein Lesewettbewerb, die Gratis-Buchstabensuppe und ein Poetry-Slam statt. Seit April 2011 nimmt die Stadt am internationalen Bookcrossing teil und hat dazu 14 Rastplätze als offizielle Bookcrossing Zonen für die wandernden Bücher eingerichtet. Schwerpunkte der 1954 gegründeten und seit 1999 mit dem Qualitätssiegel des Erwachsenenbildungsforums Oberösterreich (EBQS) ausgestatteten Stadtbibliothek Perg sind Belletristik und Kinder- und Jugendliteratur. Seit einigen Jahren können neben den herkömmlichen Büchern, Zeitungen und Zeitschriften auch audiovisuelle Medien und Spiele einschließlich Computerspiele ausgeliehen werden. Weitere, heute nicht mehr bestehende oder nicht mehr öffentliche Leihbibliotheken wurden von Privaten, öffentlichen und pfarrlichen Organisationen betrieben. Ein beachtliches Medienangebot bieten die Bibliotheken der Perger Schulen. Mitglieder des Fotoklubs VHS-AK Perg waren mehrfach mit international preisgekrönten Fotografien erfolgreich. Der Klub stellt immer wieder Staatsmeister in verschiedenen Disziplinen der wettbewerbsmäßigen Amateurfotografie. Naturdenkmäler Im Naturschutzbuch der oberösterreichischen Landesregierung sind eine Rotbuche beim Schloss Auhof und eine Torba-Eiche in Auhof als Naturdenkmäler ausgewiesen. Perger Natur-Erlebensräume 2013 wurde nördlich des Stadtzentrums sieben Stationen eingerichtet, die durch einen etwa vier Kilometer weiten Rundweg zu den Perger Natur-Erlebensräumen verbunden wurden. Die ökologischen und geologischen Verhältnisse können vor Ort betrachtet werden. Schautafeln geben Informationen zur Tier- und Pflanzenwelt. Sport An der Naarn besteht ein Waldbad als Erholungsanlage, das 1881 als Badeanstalt errichtet und 1954 sowie 2008/09 saniert wurde. Das Gelände wird vom Waldbad 69ers Dome Club, für Beachvolleyball und vom Kneipp-Aktiv Club genutzt. Eigentümer der Liegenschaft ist der 1879 gegründete Perger Verschönerungsverein, der das Areal an die Stadtgemeinde langfristig verpachtet hat. Die Machland-Badewelt besteht aus einem fast ganzjährig geöffneten Hallenbad und einem Freibad mit einer Gesamtwasserfläche von 1140 m². Angeschlossen sind ein Fitness- und Wellnessclub, ein Massageinstitut und die Praxis eines Heilmasseurs. In der Machlandbadewelt ist der Erste Perger Schwimmverein beheimatet. Die 1983 eröffnete Bezirkssporthalle im Schul- und Freizeitzentrum besteht aus drei Turnhallen und ist für Sport- und Kulturveranstaltungen geeignet. Werktags nutzen sie die angrenzenden Schulen zum Turnunterricht. In der Bezirkssporthalle ist auch das von einem Erhalterverein mit Unterstützung der Stadtgemeinde Perg geführte Perger Jugendzentrum untergebracht. Der Turnverein Perg 1897 wickelt den Turnbetrieb in einer eigenen Turnhalle mit zwei Turnsälen ab und hat zusätzlich die angrenzende Tennishalle gepachtet. Die Perger Sportvereine, die in zahlreichen Sektionen verschiedene Sportarten für ihre Mitglieder anbieten, verfügen unter anderem über das Machlandstadion und einen Sechs-Loch-Golfplatz. Zu den Sportvereinen der Stadt Perg mit auf Landes- und Bundesebene und teilweise auch international erfolgreichen Sportlern zählen der Turnverein Perg 1897, der Schützenverein Perg, der 1. Perger Schwimmverein, die DSG Union Perg und die ASKÖ Perg. Ein Skatepark sowie mehrere markierte Rad- und Wanderwege sind weitere Angebote für die sportliche Betätigung. Perg ist immer wieder Austragungsort von überregionalen Sportveranstaltungen, beispielsweise: Der Turnverein Perg 1897 richtete 1972 das erste Gaujugendtreffen des Turngaues Oberösterreich aus und war 1997 Organisator der 35. ÖTB-Jahnwanderung und Gastgeber der oberösterreichischen Landesmeisterschaften in Geräteturnen. Das sechste oberösterreichische Landesjugendturnfest des Österreichischen Turnerbundes fand 2008 in Perg statt und 2010 war Perg Austragungsort der Bundesmeisterschaft Turn10 des Österreichischen Fachverbandes für Turnen. Der Turnverein Perg 1897 war Gastgeber der Faustball-Europameisterschaft 1981. Auf Grund des langjährigen Verbleibs der Faustballmannschaft in der Staatsliga A, der höchsten Spielklasse Österreichs, fanden in Perg in den 1970er Jahren mehrfach Faustballmeisterschafts- und Faustballfreundschaftsspiele auf nationaler und vereinzelt auch internationaler Ebene statt. Die 26. Rotary Rad-Weltmeisterschaft wurde 2010 erstmals in Österreich ausgetragen. Veranstaltungsort war Perg. Als Veranstalter fungierten die Rotary Clubs Enns, Gallneukirchen und Perg. 1994 war Perg Austragungsort der Militärweltmeisterschaft in Fallschirmspringen mit Teilnehmern aus 32 Nationen. In der Machland-Badewelt in Perg fanden 2010 die oberösterreichischen Landesschwimmmeisterschaften statt. Gastgeber war der 1. Perger Schwimmverein. Es nahmen 260 Schwimmer aus 17 Vereinen daran teil, darunter auch vier Olympiateilnehmer. Es waren 1067 Einzel- und 48 Staffelnennungen zu betreuen. Regelmäßige Veranstaltungen Von Juni bis August finden im Rahmen des Musiksommers Platzkonzerte verschiedener Musikrichtungen auf dem Hauptplatz und an weiteren Veranstaltungsorten statt. Perg Jam im Zentrum (seit 2005) und Volksmusik beim Steinbrecherhaus (seit 2007) sind Beispiele dafür. Speziell für Familien veranstaltet die Pfarre Perg seit 1976 die Mühlviertler Kinderspiele im Park bei der Alten Volksschule (Hauptschule 1), seit der Errichtung eines weiteren Schulgebäudes findet das Fest in der Bahnhofstraße statt; ab Mitte der 1980er-Jahre bis zur Abschaffung wegen strenger Sicherheitsauflagen veranstaltete die Stadtgemeinde im August das Pergfest im Stadtzentrum; die Bezirks-ÖVP organisiert Anfang August seit dem Jahr 2000 das Vinum, ein Weinfest mit mehr als 100 Winzern aus allen nationalen Weingegenden. Ende August findet das Zeltfest der ASKÖ statt. Im Herbst führen die Sportvereine den Perger Sparkassen-Halbmarathon durch. Der Musikalische Christkindlmarkt wird mit umfangreichem Rahmenprogramm als Standlmarkt und Verkaufsausstellung im Pfarrsaal abgehalten. Wirtschaft und Infrastruktur Die Stadtgemeinde Perg ist gemeinsam mit der benachbarten Marktgemeinde Schwertberg das wirtschaftliche Zentrum des Bezirks. Die Stadt Perg ist eine von 24 Gemeinden der LEADER Region Perg-Strudengau. Beschäftigung Die Anzahl der Arbeitsstätten stieg zwischen den beiden letzten Volkszählungen 1991 und 2001 um 37,7 % auf 449. Die Anzahl der Arbeitsplätze erhöhte sich im selben Zeitraum um 18 % auf 5126. 2015 waren in Perg 748 Arbeitsstätten registriert, die insgesamt 7.097 Arbeitsplätze bereit stellten. Perg bot 2001 für 3496 außerhalb der Gemeinde wohnende Personen Arbeitsplätze, während 1660 Perger auswärts arbeiteten. Der größere Teil der Einpendler kommt aus dem Bezirk Perg, ebenso bleibt der Großteil der Auspendler innerhalb der Grenzen des Bezirkes. Für die Pendler bedeutet der in den letzten Jahren erfolgte Ausbau des Straßennetzes und der Ausbau des regionalen Schienenverkehrs eine deutliche Verbesserung. Beispiele für die in den letzten Jahren umgesetzten Maßnahmen sind der Bau der Perger Ortsumfahrung und des Münzbacher Zubringers sowie der Bau der Ennsdorfer Schleife und der Einsatz moderner Zugsgarnituren zwischen dem Bezirk Perg und der Landeshauptstadt. Die Struktur der Erwerbstätigkeit hat sich wie folgt verändert: Zwischen 2001 und 2015 hat sich der Anteil der in der Land- und Forstwirtschaft tätigen Personen mit rund 2 % der in Perg insgesamt beschäftigten erwerbstätigen Personen kaum verändert. Hingegen ist der Anteil der in Industrie, Gewerbe und Bauwesen Personen von rund 44 % im Jahr 2001 neuerlich deutlich gesunken und betrug 2015 32 %, während der Anteil der im Dienstleistungsbereich tätigen Personen bis 2015 auf 65 % gestiegen ist. Die Erwerbsquote war im Bezirk Perg im Jahr 2006 mit 47,6 % höher als im oberösterreichischen Durchschnitt und hat sich bis 2015 auf 54 % weiter verbessert. Verkehr Die Donauuferbahn und die Donau Straße B 3 erschließen den Bezirk Perg in westöstlicher Richtung. Landesstraßen führen in die umliegenden Orte und in die benachbarten Bezirke und Regionen. Straßenverbindungen Die nächsten Anschlussstellen an die Westautobahn befinden sich im Westen bei St. Valentin, Enns und Asten, im Süden in Oed und Amstetten West, sowie im Osten in Ybbs an der Donau, wobei die Anfahrtszeit im Westen und Süden durchschnittlich 20 Minuten und im Osten ungefähr 40 Minuten in Anspruch nimmt. Seit 1999 wird Perg auf dem neuerrichteten Teilstück der Donau Straße zwischen den Anschlussstellen Perg West in der Ortschaft Furth (Gemeinde Schwertberg) und Perg Ost in der Ortschaft Auhof umfahren. Weitere Anschlussstellen sind Perg Zentrum und Perg Süd. Die ehemalige B 3 ist als B 3c weiterhin Ortsdurchfahrt von Perg und führt von der Anschlussstelle Perg West Richtung Osten bis zur Kreuzung mit dem Münzbacher Zubringer kurz nach dem Stadtzentrum. Gleichzeitig mit der Eröffnung der neuen B 3 wurde die Perger Ostumfahrung für den Verkehr zugelassen. Sie diente zunächst nur als Verbindung zwischen alter und neuer B 3 und nahm vor allem den Verkehr aus dem Naarntal auf. Die Verkehrsfreigabe des Münzbacher Zubringers Teil 2 erfolgte am 30. November 2008 nach 17-jähriger Planungs- und zweieinhalbjähriger Ausführungsphase. Öffentlicher Personennahverkehr Perg liegt an der im Jahr 1898 eröffneten Donauuferbahn von Mauthausen nach Grein und verfügt über eine Haltestelle in der Ortschaft Aisthofen, einen Bahnhof in der Nähe des über die Bahnhofstraße erreichbaren Stadtzentrums sowie die Haltestelle Perg Schulzentrum an der Machlandstraße. Sowohl am Bahnhof Perg als auch bei der Haltestelle Perg Schulzentrum befindet sich eine Park&Ride-Anlage. Züge verkehren auf der Donauuferbahn in Richtung Osten bis St. Nikola-Struden, nachdem der Abschnitt Sarmingstein–Emmersdorf 2010 und St. Nikola an der Donau–Sarmingstein 2019 für den Personenverkehr eingestellt und großteils rückgebaut wurde. Richtung Westen verkehren seit Eröffnung der Ennsdorfer Schleife 2005 Züge abwechselnd nach St. Valentin oder Linz Hauptbahnhof. In beiden Endbahnhöfen besteht Anschluss an das Fernzügenetz. Bis 2029 ist eine Elektrifizierung der kompletten Strecke von St. Valentin bis St. Nikola an der Donau vorgesehen. Zusätzlich ist geplant im Abschnitt St. Valentin/Linz–Perg einen Halbstundentakt einzuführen. Busverbindungen werden in die umliegenden Bezirke angeboten. Folgende Linien werden regelmäßig bedient: Bus 352 Perg–Ried/Riedmark–Lungitz Bus 357 Perg–Bad Zell Bus 373 Mauthausen–Perg–Bad Kreuzen Bus 374 Perg–Windhaag–Rechberg voestalpine Schichtverkehr Linz–Mauthausen–Perg–Arbing, Linz–Perg–St. Georgen/Walde Schülerverkehre Seit Ende 2019 besteht mit dem "PERGshuttle" Montag bis Freitag von 8 bis 16 Uhr ein Mikro-ÖV-Angebot innerhalb der Stadtgemeinde, welches als Anruf-Sammeltaxi 11 Haltestellen zu vorgegebenen Zeiten bedient, sofern eine Fahrt angemeldet wurde. Radwege 13,3 % aller Wege in Perg sind Radwege, die die wichtigsten Zielpunkte wie Schulzentrum, Freizeitzentrum, Ortszentrum, Bahnhof und periphere Siedlungen erschließen. Sie sind gekennzeichnet durch Mehrweckstreifen auf den Fahrbahnen und auf dem Ortsplan eingezeichnet. 60 % der Einbahnen im Stadtgebiet sind für Fahrräder in beiden Richtungen befahrbar. Am Bahnhof stehen Fahrradboxen zur Verfügung. Medien In Perg erschien von 1895 bis 1929 die Wochenzeitung Machländer Volksbote. Über die lokalen Ereignisse berichten die in Oberösterreich erscheinenden Tageszeitungen, insbesondere die Oberösterreichischen Nachrichten und die Oberösterreich-Ausgabe der Kronenzeitung. Mit den Perger TIPS erscheint wöchentlich eine kostenlose Regionalzeitung. Sie gehört zur Tips Zeitungs GmbH & Co KG und zu 100 % der J. Wimmer GmbH, die mehrheitlich an der Tageszeitung Oberösterreichische Nachrichten beteiligt ist. Seit Jahresbeginn 2009 erscheint als Nachfolgerin der großformatigen Wochenzeitung Perger Rundschau die kleinformatige Gratiszeitung Bezirksrundschau. In Perg befindet sich der Sitz des CDA Verlags, der sich mit der Herausgabe von Computerzeitschriften in Österreich und im deutschsprachigen Raum beschäftigt. Das Amtsblatt der Stadt Perg wird unter dem Titel Perger Gemeindezeitung viermal jährlich zu Quartalsbeginn herausgegeben, das Pfarrblatt der Pfarre Perg sowie die Informationsblätter der politischen Parteien erscheinen ebenfalls ungefähr vierteljährlich. In Perg sind sämtliche Fernsehprogramme des Österreichischen Rundfunks digital (DVB-T), über das Satellitensystem Astra und über Kabel (Liwest) zu empfangen, ebenso die Hörfunkprogramme des ORF und privater Radiosender, die auch analog ausgestrahlt werden. Die privaten Fernsehsender Mühlviertel TV beziehungsweise LiveTV senden aus Freistadt und Gallneukirchen für das Mühlviertel in verschiedenen örtlichen Kabel-TV-Netzen und teilweise im Internet. Es handelt sich um Programme, die mehrmals ausgestrahlt und wöchentlich erneuert werden. LT1 ist ein Privat-TV-Sender, der digital-terrestrisch (DVB-T) über Antenne empfangen werden kann und mit LT1 Mühlviertel ein Regionalprogramm für das Mühlviertel anbietet. Das halbstündige Programm wird mehrmals wiederholt und täglich erneuert. Austria24 TV war ein im Jahr 2013 gegründeter Regional-TV-Sender mit Sitz in Perg, welcher digital über DVB-T, in Kabel-TV-Netzen im Bezirk Perg und über Internet empfangen werden konnte. Der Betrieb wurde nach wenigen Jahren wieder eingestellt. Behörden, Gericht und sonstige Einrichtungen Perg ist als Hauptort des gleichnamigen Bezirks Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, eines Bezirksgerichts, des Finanzamts Perg-Kirchdorf-Steyr sowie von Bezirksstellen der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse, des Arbeitsmarktservice, der Wirtschaftskammer, der Arbeiterkammer und der Landwirtschaftskammer. Die Bezirkssekretariate der politischen Parteien befinden sich in einem der Stadtgemeinde Perg gehörenden Amtsgebäude. Eine regionale Straßenmeisterei ist für die ehemaligen Bundesstraßen sowie die Landes- und Bezirksstraßen zuständig. Ein Postamt gibt es in Perg seit 1849, sukzessive wurden die weiteren Bereiche wie Telegrafendienst, Postscheckverkehr, Telefon und Telefax eingerichtet. Das Postamt war seit der Eröffnung in verschiedenen Gebäuden in der Herrenstraße und ist seit 1967 in einem eigenen Gebäude in der Dirnbergerstraße untergebracht. Das Bezirkspolizeikommando und eine Polizeiinspektion teilen sich ein Gebäude in der Linzer Straße. Der Gendarmerieposten Perg wurde 1869 eingerichtet und hatte zusätzlich die Aufgaben eines Bezirksgendarmeriekommandos wahrzunehmen. Energie und Infrastruktur Perg wird überwiegend von der gemeindeeigenen Elektrizitätswerk Perg GmbH mit Strom versorgt, die eng mit der Linz AG zusammenarbeitet. Erdgas kommt über das Leitungsnetz der OÖ. Ferngas AG, Linz, in die Perger Haushalte. Fernwärme wird seit 2008 vom örtlichen Betreiber eines Biomasse-Fernheizkraftwerkes, der Bioenergie Perg GmbH, geliefert. Die Trink- und Nutzwasserversorgung obliegt dem öffentlich-rechtlichen Wasserverband Gruppenwasserversorgung Perg und Umgebung mit Speicherbehältern im Gemeindegebiet. Die Kanalisation, die Müllabfuhr, ein Altstoffsammelzentrum sowie Altpapier- und Altglas-Sammelplätze sind ebenfalls Gemeindeangelegenheit. Die Kläranlage befindet sich außerhalb der Siedlungsgebiete im Süden der Stadt. Die örtliche Bauernschaft betreibt einen Kompostierplatz. Kabelfernsehen, Telefon und Internet werden über die LIWEST angeboten, ein Großteil der Bewohner ist jedoch mit Satelliten-Empfangsanlagen ausgestattet und verfügt über Festnetz- oder Mobiltelefonanschlüsse verschiedener Anbieter. Die Freiwillige Feuerwehr Perg wurde 1873 auf Initiative von Karl Terpinitz gegründet. Zuvor bestanden im Markt bereits Löscheinrichtungen und jeder Hausbesitzer musste Feuerbekämpfungsgeräte besitzen und instand halten. 1874 wurden die ersten Mannschaftswagen mit den dazugehörenden Schläuchen und Leitern angeschafft, 1933 folgte die Einweihung des Zeughauses am Töpferweg. Nach dem Krieg wurde nach und nach der Fahrzeug- und Gerätepark modernisiert. 1994 konnte das neue Feuerwehrhaus im Einsatzzentrum seiner Bestimmung übergeben werden. Die Freiwillige Feuerwehr Pergkirchen besteht seit 1905 und verfügt über ein eigenes Feuerwehrzeughaus am Rande des Dorfplatzes in Pergkirchen. An der überregionalen Zusammenarbeit zur Bereitstellung von Infrastruktur sind Euregio Bayerischer Wald, Böhmerwald, Regionalverkehr Donauraum Perg, der Bezirksabfallverband Perg mit einem Altstoffsammelzentrum in Perg, die Reinhalteverbände und der Fernwasserverband beteiligt. Bildung Die Stadt Perg hat sich im 20. Jahrhundert zu einem Schul- und Ausbildungszentrum entwickelt: Perg verfügt im Pflichtschulbereich über je eine Volksschule in Perg und Pergkirchen, zwei Hauptschulen (Neue Mittelschule) und eine Polytechnische Schule. Das Angebot an mittleren und höheren Schulen reicht von einem Bundesoberstufen-Realgymnasium über eine Bundes-Handelsakademie und -Handelsschule, eine Höhere Lehranstalt und Fachschule für wirtschaftliche Berufe bis hin zu einer Höheren Technischen Bundeslehranstalt. Einrichtungen für Erwachsenenbildung (Volkshochschule und Katholisches Bildungswerk sowie WIFI und BFI) und eine Landesmusikschule ergänzen das Bildungsangebot. Für die vorschulische Kinderbetreuung gibt es private Kinderbetreuungseinrichtungen. Es bestehen Krabbelstuben des Kindergartenvereins Perg bzw. seit 2017 des Oberösterreichischen Hilfswerks, ein Eltern-Kind-Zentrum des Vereins Kinderhaus, Tagesmütter des Vereins Aktion Tagesmütter Oberösterreich, der Omadienst des Katholischen Familienverbandes Oberösterreich, drei Kindergärten des Kindergartenvereins Perg bzw. seit 2017 des Oberösterreichischen Hilfswerks, ein Kindergarten des Vereins Spielwerkstatt Unteres Mühlviertel, alle mit finanzieller Unterstützung durch die Stadtgemeinde Perg. Gesundheit und Soziales In Perg ist die ärztliche Versorgung des Bezirkes konzentriert. Das Einzugsgebiet zahlreicher Perger Fachärzte erstreckt sich teilweise auf den ganzen Bezirk. Die nächsten Krankenhäuser befinden sich in Enns (wurde 2013 geschlossen), Steyr, Amstetten und Linz. Das Rote Kreuz Perg wurde 1914 vom Feuerwehrkommando Perg als Sanitätsabteilung gegründet und ein Rettungswagen angeschafft. Dienststellen befanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst im Reichmann-Haus, später im Rathaus. 1960 wurde der Neubau in der Gartenstraße eröffnet und 1963 der Katastrophenhilfszug gegründet. 1994 konnte die neue Dienststelle im Einsatzzentrum mit Räumlichkeiten der Ortsstelle, dem Notarztstützpunkt und dem Bezirkssekretariat des Roten Kreuzes bezogen werden. In Perg werden seit 1. September 1989 hilfsbedürftige Menschen vom Roten Kreuz täglich mit Essen-auf-Rädern mit warmem Essen versorgt. 1990 wurde der Mobile Altenhilfsdienst ins Leben gerufen. Seit 1992 existiert die Notstandshilfe für Bedürftige und eine Flüchtlingsbetreuung. Seit 2013 ist auch der Hausärztliche Notdienst (HÄND) im Rotkreuz-Zentrum untergebracht. Seit 1994 besteht eine Sozialberatungsstelle mit Sozialmedizinischem Stützpunkt des Roten Kreuzes. Das Familien- und Sozialzentrum (FAMOS) sowie eine Jugendkoordinationsstelle und Jugendservicestelle der Oberösterreichischen Landesregierung bestehen seit 2001. Das Seniorenheim des Sozialhilfeverbandes des Bezirkes Perg in der Severinstraße mit wenigen pflegegerechten Einheiten wurde 1984 eröffnet. Ab 1989 wurden sukzessive Doppel- in Einzelzimmer umgebaut und Einzelzimmer im Erdgeschoß als Pflegezimmer hergerichtet. Das Heim verfügte 1997 über 94 Senioren- und 27 Pflegeplätze; es entspricht jedoch nicht mehr den aktuellen Standards, sodass ab 2012 keine Betriebsbewilligung mehr dafür erteilt wird. Das System der Altersversorgung wird durch betreubare Wohneinrichtungen und Einrichtungen der Hauskrankenpflege sowie Essen auf Räder ergänzt. Unternehmen In Perg besteht ein Technologiezentrum mit Schwerpunkt Bautechnologie und Baumanagement. Es werden Gründungsunternehmen sowie junge Technologieunternehmen aus Produktions- und Dienstleistungsbereichen betreut. Die Starthilfe umfasst neben der betrieblichen Beratung die Bereitstellung von günstigen Büroflächen und die gemeinsame Nutzung der Infrastruktur. Das Gebäude hat eine Bruttogeschoßfläche von 3400 Quadratmetern. Zur Sicherung und Weiterentwicklung der Betriebe in der Region und damit zur Erhaltung von Arbeitsplätzen ist Perg gemeinsam mit Arbing, Klam, Mitterkirchen und Saxen Mitglied im Regionalen Wirtschaftsverband Machland. Dieser hat gemeinsam mit 14 weiteren derartigen Verbänden unter der Bezeichnung Interkommunale Betriebsansiedlung (INKOBA) die gemeinsame Entwicklung, Erschließung und Vermarktung von Betriebsstandorten als Aufgabe. In Perg stehen 27,3 Hektar Gewerbeflächen für die Schaffung von Technologieparks bereit (Stand März 2009). 2009 wurde von den Bürgermeistern der Gemeinden Perg, Arbing und Baumgartenberg unter Einbindung der INKOBA der Wirtschaftspark Machland Perg geschaffen, der auf nicht zusammenhängenden Flächen entlang der Donau Straße und der Donauuferbahn im Bereich von Perg westlich des Technologiezentrums bis Baumgartenberg östlich der bestehenden Industriebetriebe auf potentiell 100 Hektar Fläche innerhalb der nächsten zehn Jahre rund 1000 neue Arbeitsplätze in Großbetrieben schaffen soll. Alle Gemeinden des Bezirks sollen in das Projekt eingebunden werden. Perg ist Sitz der nach eigenen Angaben zu den fünf größten Baukonzernen Österreichs zählenden Habau-Gruppe mit insgesamt rund 2800 Beschäftigten, davon etwa 1100 im Hauptunternehmen in Perg, sowie der ebenfalls im Baugewerbe tätigen GLS mit 160 Mitarbeitern und der Firma Krückl mit 150 Mitarbeitern. Ebenfalls in Perg ansässig sind der zur Chemischen Industrie zählenden Marktführer für Baufarben, die Synthesa-Gruppe, mit österreichweit rund 700 Mitarbeitern, davon etwa 300 im Mutterunternehmen in Perg. 2012 investierte das Unternehmen € 12 Mio. für die Errichtung eines Dämmstoffwerkes am Standort Perg. Weiters hat der zum Transportgewerbe zählenden Petschl-Konzern seinen Stammsitz in Perg. Der Standort des Unternehmens wurde 2015 auf das Gebiet der Nachbargemeinde Naarn im Machland verlagert. Die durch ihre Mannerschnitten weltbekannte, der Nahrungs- und Genussmittelindustrie angehörende Markenfirma Manner beschäftigte in Perg rund 80 Mitarbeiter und erzeugte mit dem größten Waffelofen der Welt in Perg ihre Produkte Das Werk wurde im Frühjahr 2016 geschlossen. Der aus der Maschinenfabrik Schöberl (Jumbo) hervorgegangene Staplerhersteller Bulmor industries (ehemals TERRA-Technik) beschäftigt in Perg rund 135 Mitarbeiter und ist stark exportorientiert. Am Standort Perg werden unter anderem Seitenstapler, Mehrwege Seitenstapler und Ambuliftfahrzeuge entwickelt und produziert. Das sowohl für die örtliche Wirtschaft als auch für die Nahversorgung im Unteren Mühl-, Wald- und Mostviertel jahrzehntelang bedeutende und mit einem eigenen Fuhrpark ausgestattete Groß- und Einzelhandelsunternehmen Tobias Altzinger hat durch die allgemein in Österreich zu beobachtenden Umstrukturierungen im Handelsbereich an Bedeutung verloren. Die Eigentümer haben einen Teil der Liegenschaften in Perg für die Schaffung von Einkaufszentren im Stadtzentrum und im Süden der Stadt verpachtet. Neben den ortsansässigen Klein- und Mittelbetrieben sind zahlreiche überregional tätige Handelsbetriebe in Perg vertreten, wobei sich die Betriebe im Stadtzentrum (Hauptplatz und angrenzende Geschäftsstraßen) sowie entlang der Naarner Straße und insbesondere in den Einkaufszentren im Süden der Stadt konzentrieren. Bergbau Das 1922 gegründete und in Schwertberg ansässige Bergbauunternehmen Kamig – Österreichische Kaolin- und Montanindustrie Aktiengesellschaft – hat die Verwaltung, einen Teil der Kaolinaufbereitung und das Kaolinlager auf Grund des dort vorhandenen Bahnanschlusses in Aisthofen angesiedelt. Nach Anpassung des Geschäftsbetriebes und Reduzierung der Mitarbeiteranzahl um mehr als 500 in den 1960er-Jahren auf rund 60 Beschäftigte (Stand 2009) wurde die Aktiengesellschaft in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt. In Weinzierl befindet sich eine kleinere Kaolinlagerstätte, die seit 1952 im Tagbau abgebaut wird. Das Kaolin wird über bis zu acht Kilometer lange Rohrförderleitungen von den Abbaustätten nach Aisthofen transportiert. In Perg befinden sich mehrere Granitsteinbrüche des 1839 von Anton Poschacher (Industrieller, 1812) gegründeten Granitwerks Anton Poschacher, jetzt Poschacher Natursteinwerke, Mauthausen, von denen nur noch einer in der Naarntalstraße am rechten Naarnufer in Betrieb ist. Abgebaut werden der sogenannte Mauthausner Granit und Perger Granit. Die Perger Granitsteinbrüche waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Teil der größten Granitwerke der österreichisch-ungarischen Monarchie und Teil der Mauthausner Steinindustrie. Auch in Perg wurde Mauthausner Granit abgebaut. Jahrhundertelang wurden in Perg Mühlsteine aus Sandstein hergestellt. Ende des 19. Jahrhunderts ging der Absatz an Natur-Mühlsteinen stark zurück, weshalb von einigen Mühlsteinerzeugern 1872 die Erste österreichische Fabriksgesellschaft für Erzeugung deutscher Mühlsteine zu Perg Fries, Burgholzer und Comp. zur Kunststeinproduktion gegründet wurde. Später wurde aus dem Sandstein Edelputz erzeugt. Das Unternehmen wurde in den 1990er Jahren an die Deutschen Amphibolin-Werke verkauft, nennt sich jetzt Capatect Baustoffindustrie GmbH und ist ein Schwesterbetrieb der ebenfalls in Perg ansässigen Synthesa-Gruppe. Land- und Forstwirtschaft In Perg bestanden 1999 118 land- und forstwirtschaftliche Betriebe, die eine Fläche von 2.658 Hektar bewirtschafteten. Davon waren 48 Haupterwerbsbetriebe mit 1.468 Hektar, 65 Nebenerwerbsbetriebe mit 1.073 Hektar und 4 Betriebe juristischer Personen mit 117 Hektar. Ein land- und forstwirtschaftlicher Betrieb in Perg bewirtschaftet durchschnittlich 22,7 Hektar, wobei die Haupterwerbsbetriebe 30,6 Hektar und die Nebenerwerbsbetriebe 16,5 Hektar zu bearbeiten haben. Wie überall auf Bezirks- und Bundeslandebene haben sich sowohl die Anzahl der Betriebe als auch die bewirtschafteten land- und forstwirtschaftlichen Flächen im Vergleich zum vorhergegangenen Erhebungszeitpunkt 1995 verringert. Die Anzahl der Haupterwerbsbetriebe und die von diesen bewirtschafteten Flächen sind zu Lasten der Nebenerwerbsbetriebe gestiegen. In Perg waren 1999 356 Personen in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt, davon 311 familieneigene Arbeitskräfte, von denen 52 vollbeschäftigt waren. 153 waren mit weniger als 25 % ihrer Arbeitszeit in der Landwirtschaft tätig, die übrigen 106 zwischen 25 und 99 %. Tourismus Historisch ist Perg bereits seit dem 19. Jahrhundert als Sommerfrische bekannt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es vor allem in der Zwischenkriegszeit Bemühungen, den Zustrom von Sommergästen zu fördern. Als Anziehungspunkte wurden das Baden in der Naarn, in der Schwimmschule, in der Kuchlmühle und unterhalb des Holzschwemmplatzes sowie das Wandern im Stephaniehain sowie Autofahrten ins Hinterland durch das romantische Naarntal bis Königswiesen und weiter bis ins Waldviertel angepriesen. Perg ist in der Region touristisch im Museumsland Donauland Strudengau im Mühlviertel sowie auf Bundeslandebene in Urlaub in Oberösterreich und Radfahren in Oberösterreich überregional eingebunden. Zahlreiche Gaststätten bieten ihre Leistungen entlang von fünf im Machland und im Hügelland nach Rechberg mit der Bezeichnung RadKulTOUR ausgeschilderten Routen an. Im Tourismusjahr 2011 (November 2010 bis Oktober 2011) wurden in der Stadt insgesamt 16.453 Übernachtungen mit durchschnittlich 1,7 Aufenthaltstagen verzeichnet. 39 % der Nächtigungen entfielen auf inländische Gäste, wobei Besucher aus Oberösterreich mit 32 % den größten Anteil hatten, gefolgt von der Steiermark mit 14 % und Wien mit 11 %. Bei den ausländischen Gästen waren die Gäste aus Deutschland mit rund 46 % weit vor jenen aus den Niederlanden mit rund 10 % und aus Italien mit rund 8 % der Ausländer-Nächtigungen. Die Nächtigungen entfallen schwerpunktmäßig auf den Radtourismus (Donauradweg) sowie auf Geschäftsreisende und Seminarteilnehmer. In der Statistik sind nur die gewerblichen Beherbungsbetriebe enthalten. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren ergab sich 2011 ein Nächtigungsplus von rund 10 %, wodurch der Rückgang von 9 % im Jahr 2010 fast zur Gänze aufgeholt werden konnte. Es gibt 50 Betten in einem Viersternhotel, 8 Betten in einem Viersterne-Privatquartier, 129 in drei Dreisterne-Gasthöfen und 45 in drei nicht kategorisierten Landgasthöfen. Eine weitere Belebung des Tourismus hat ab 2010 die Anbindung an den Donausteig gebracht. In diesem Zusammenhang wurden die örtlichen Wanderwege sowie der Kugelmanderlweg als offizielle Donaurunde ausgeschildert. Persönlichkeiten Der Gemeinderat von Perg hat eine Reihe von Persönlichkeiten zu Ehrenbürgern ernannt oder ihnen Ehrenringe oder andere Ehrenzeichen verliehen. Ehrenbürger waren beispielsweise die langjährig als Pfarrer in der Pfarre Perg tätigen Priester Karl Mayr († 1963) und Franz Auzinger († 2007). Perger, die in der Landespolitik tätig waren, sind der Landtagsabgeordnete und einige Zeit auch Landesrat von Oberösterreich, Josef Dirnberger (Bürgermeister des Marktes Perg von 1910 bis 1934) und der Landtagsabgeordnete Josef Waidhofer (Bürgermeister des Marktes und später der Stadt Perg von 1961 bis 1985). Der Perger Franz Hiesl (Gemeinderat von Perg seit 1979) war ab 1985 Landtagsabgeordneter, ab 1995 Landesrat und von 2000 bis 2015 Landeshauptmann-Stellvertreter von Oberösterreich. Der gebürtige Perger Karl Grienberger war 1884 kurzzeitig Landeshauptmann im Kronland Österreich ob der Enns (heute: Oberösterreich), der in Perg von 1902 bis 1909 als Gerichtsvorsteher tätige Josef Schlegel war von 1927 bis 1934 Landeshauptmann von Oberösterreich. Zu den in der Bundespolitik tätigen Pergern zählen der dreimalige Bundeskanzler, Außenminister, Wiener Polizeipräsident und erste Präsident der Interpol, Johann Schober, Maria Berger, Mitglied des Europäischen Parlaments von 1996 bis 2009, unterbrochen durch ihre Funktion als Justizministerin im Kabinett Gusenbauer I und seit Oktober 2009 Richterin am EuGH, und der in Perg geborene langjährige Bürgermeister von Schwertberg, Kurt Gaßner als Nationalrat. Erfolgreiche Perger Sportler waren unter anderen der Olympiateilnehmer 2008 in Peking, David Brandl (Schwimmsport), und der Olympiateilnehmer 2000 in Sydney und 2004 in Athen Bernd Wakolbinger (Rudersport). Der höchste aus Perg stammende kirchliche Würdenträger war der katholische Diözesanbischof von Linz, Josephus Calasanz Fließer. Günther Maria Garzaner (1951–2015) und Ernst Reinhard Schöggl (* 1948), zwei österreichische Schriftsteller mit Bezug zu Perg, sind Mitglied des Österreichischen P.E.N. Clubs. Literatur Eduard Straßmayr: Das Archiv der Marktkommune Perg in Oberösterreich, Linz 1909. Florian Eibensteiner und Konrad Eibensteiner: Das Heimatbuch von Perg, Oberösterreich, Selbstverlag, Linz 1933 (). Gustav Brachmann: Zur Brandgeschichte des Marktes Perg, in: Mühlviertler Heimatblätter, Zeitschrift für Kunst, Kultur, Wirtschaft und Heimatpflege, Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Mühlviertler Künstlergilde im OÖ. Volksbildungswerk, Jahrgang II, Ausgabe 7/8, S. 16–18, Linz 1962 (). Rudolf Zach: Perg heute, Die Wirtschaft, Perg im Spiegel der Geschichte, in: Stadtgemeinde Perg (Herausgeber): Perg, Festschrift anlässlich der Stadterhebung 1969, Linz 1969. Stadtamt Perg (Herausgeber): 25 Jahre Stadt Perg, Chronik von 1969 bis 1994, Perg 1994. Franz Moser: Museumspädagogische Unterlagen Stadtmuseum Perg für die Arbeit mit SchülerInnen im Museum, Perg im Eigenverlag Heimathaus-Stadtmuseum Perg, Perg 1993. Heinz Steinkellner, Erwin Hölzl, Martin Lehner, Erwin Kastner: Unsere Heimat, der Bezirk Perg, Verein zur Herausgabe eines Bezirksheimatbuches Perg – Gemeinden des Bezirkes Perg (Herausgeber), Linz 1995 und 1996. Bundesdenkmalamt Österreich (Hrsg.): Dehio – Oberösterreich Mühlviertel. Verlag Berger, Horn/Wien 2003, ISBN 978-3-85028-362-5. Franz Moser und 10 weitere Autoren: Heimatbuch der Stadt Perg 2009, Herausgeber: Heimatverein Perg und Stadtgemeinde Perg, Linz 2009, ISBN 978-3-902598-90-5. Eckhard Oberklammer: Bezirk Perg – Kunst und Geschichte, Linz 2010, ISBN 978-3-85499-826-6, S. 156 ff. Weblinks Webpräsenz der Stadtgemeinde Perg Land Oberösterreich – Gemeindeinformation Einzelnachweise Bezirkshauptstadt in Österreich Aist-Naarn-Kuppenland Südliche Mühlviertler Randlagen Machland Stadtrechtsverleihung 1969
86822
https://de.wikipedia.org/wiki/Moormerland
Moormerland
Moormerland ist eine aus ursprünglich elf eigenständigen Dörfern gebildete Einheitsgemeinde im Landkreis Leer in Ostfriesland. Sie ist im innerostfriesischen und auch im niedersächsischen Vergleich eine relativ dicht besiedelte ländliche Gemeinde, am dichtesten im Südosten ihres Gebiets, nahe der Kreisstadt Leer. Moormerland hat  Einwohner und ist nach der Kreisstadt die zweitgrößte Gemeinde im Landkreis und nach Emden, Aurich, Leer und Norden – noch vor den Städten Wittmund, Weener und Wiesmoor – die fünftgrößte Kommune Ostfrieslands. Sitz der Gemeindeverwaltung ist Warsingsfehn. Der Name Moormerland stammt von einer friesischen Landesgemeinde, die sich vor und während der Häuptlingszeit in diesem Gebiet befand. Das Moormerland war die Heimat des Geschlechts der ostfriesischen Häuptlinge Ukena, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine einflussreiche Rolle in der ostfriesischen Geschichte spielten. Es ist neben dem Overledingerland, dem Lengenerland und dem Rheiderland eine der vier historischen Landschaften im Landkreis Leer, umfasste jedoch ein deutlich größeres Gebiet als die heutige Gemeinde. Der Ortsteil Oldersum ist historisch bedeutend als früherer Handelsort an der Ems, vor allem aber als Ort des Oldersumer Religionsgesprächs, das den Anstoß zur Reformation in Ostfriesland gab. Wirtschaftlich ist die Gemeinde von Landwirtschaft, Tourismus und mittelständischen Produktions-, Handwerks- und Handelsbetrieben geprägt. Die Kommune ist in deutlichem Maß eine Auspendler-Gemeinde, vor allem in die Nachbarstädte Emden und Leer. Geografie Lage und Ausdehnung Moormerland liegt im nordwestlichen Teil des Landkreises Leer an der Ems mit einer Uferlänge von etwa zehn Kilometern. Der Fluss, der meist ungefähr in Süd-Nord-Richtung fließt, beschreibt dort einen Bogen und biegt nach Westen in Richtung Dollart um. Moormerland liegt innerhalb des Städtedreiecks Emden–Aurich–Leer und wird damit von den drei größten ostfriesischen Städten „eingerahmt“. An zwei dieser Städte, Emden und Leer, grenzt die Gemeinde unmittelbar an. Nahe gelegene Großstädte sind Oldenburg (zirka 54 Kilometer ostsüdöstlich) und Groningen in den Niederlanden (zirka 62 Kilometer westsüdwestlich). Das Regionale Raumordnungsprogramm des Landkreises Leer teilt dem Hauptort Warsingsfehn sowie den Orten Neermoor und Veenhusen die Funktion eines Grundzentrums für das Gemeindegebiet zu. Benannt wurde die Gemeinde nach der gleichnamigen friesischen Landesgemeinde des Mittelalters. Die Landesgemeinde umfasste neben dem modernen Moormerland auch das Gebiet der heutigen Samtgemeinden Jümme und Hesel sowie der Stadt Leer. Das Moormerland ist eine der vier historischen Regionen auf dem Gebiet des Kreises Leer. Neben dem Moormerland sind dies das Rheiderland am gegenüberliegenden Ufer der Ems sowie das Lengenerland und das Overledingerland. Nach den beiden letztgenannten sind seit den 1970er Jahren ebenfalls moderne Gemeinden benannt (Westoverledingen, Uplengen). Die Gemeinde erstreckt sich auf 122 Quadratkilometern, was sie flächenmäßig zur zweitgrößten im Landkreis Leer (nach Uplengen) und zur neuntgrößten Ostfrieslands macht. Bei rund 22.500 Einwohnern ergibt sich eine Einwohnerdichte von rund 184 pro Quadratkilometer. Sie liegt damit über dem ostfriesischen (rund 148) und auch über dem niedersächsischen (etwa 166), jedoch unter dem Durchschnitt der Bundesrepublik Deutschland mit ungefähr 229 Einwohnern pro Quadratkilometer. Die größte Ost-West-Ausdehnung beträgt ungefähr 17,2 Kilometer zwischen der Grenze zur Samtgemeinde Hesel in der Gemarkung Jheringsfehn und der Grenze zur Stadt Emden bei Gandersum, die größte Nord-Süd-Ausdehnung etwa 10,7 Kilometer zwischen dem Fehntjer Tief im Norden und der Grenze zur Stadt Leer südlich von Veenhusen. Geologie und Böden Der geologische Untergrund des Moormerlands wird durch Sedimente aus dem Pleistozän und Holozän bestimmt. Das Gemeindegebiet ist von den Flussmarschen der Ems und ausgedehnten Moorgebieten im östlichen Teil der Gemeindefläche geprägt. Das Gebiet der Gemeinde Moormerland vereint die drei typischen Landschaftsformen des ostfriesischen Festlands: Marsch, Geest und Moor. Diese verlaufen jeweils grob in Nord-Süd-Richtung und befinden sich in der genannten Reihenfolge von West nach Ost. Entlang der Ems liegt die Marsch, die im äußersten Nordwesten der Gemeinde nahe Oldersum fruchtbare Jungmarschböden aufweist. Weiter südlich entlang der Ems gibt es überschlickte Randmoore (Überflutungsmoore). In Richtung Osten schließt sich ein schmaler Geeststreifen an, der teilweise von Niedermoorflächen durchbrochen wird. Der Ortsteil Tergast im äußersten Nordwesten liegt auf einer Geestinsel inmitten von Marsch und überschlickten Randmooren. Der Osten des Gemeindegebietes besteht aus Hochmoor, ganz im Norden liegt die Flussmarsch des Fehntjer Tiefs. Die Böden der Gemeinde weisen dieselbe Vielfalt auf wie der geologische Aufbau. Außendeichs an der Ems befinden sich noch unentwickelte Flussmarschböden, denen unmittelbar binnendeichs Übergangs-Brackmarschböden folgen, weiter im Binnenland dann abgelöst von schweren Knickmarschböden und Moormarschböden. Die beiden letztgenannten weisen eine hohe Dichte auf, weil in früheren Jahrhunderten bei Überflutungen die feinsten Schwebstoffe am weitesten landeinwärts drangen und sich ablagerten, die Körnigkeit des Bodens daher sehr fein ist. Dementsprechend sind die Knick- und Moormarschböden ackerbaulich auch schwerer zu bearbeiten als die Brackmarschböden. Im Bereich um den Ortsteil Tergast findet sich Braunerde, weite Teile der Gemarkungen Neermoor und Hatshausen bestehen aus Podsolböden in trockener Lage mit Ortstein darunter. Der Osten des Gemeindegebietes wird von Hochmoor- und Niedermoorböden gebildet, die fast ausnahmslos kultiviert sind. Die höchste Erhebung in der Gemeinde ist der künstlich aufgeschüttete, 14,8 Meter hohe Fehntjer Berg in Warsingsfehn. Er entstand Anfang der 1970er Jahre durch Sandaufschüttungen beim Ausbaggern des Sauteler Kanals (siehe Gewässer). Gewässer Die Gemeinde wird im Westen von der Ems begrenzt, die dort bereits Seeschiffstiefe aufweist. Zwei größere Fließgewässer sind das Fehntjer Tief und der Sauteler Kanal, deren Quellen auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Großefehn liegen. Sie dienen der Entwässerung der tief liegenden Gebiete. Für diese Aufgabe ist der Entwässerungsverband Oldersum verantwortlich. Während das Fehntjer Tief in seinem Oberlauf natürlichen Ursprungs ist und mäandrierend nach Westen fließt, ist der Sauteler Kanal ein künstlich angelegtes Gewässer, das Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zur Verbesserung der Entwässerung angelegt wurde. Pläne zum Bau des Kanals gab es jedoch schon einige Jahrzehnte früher. Der Sauteler Kanal entwässert ein Gebiet von rund 20.000 Hektar (200 Quadratkilometer) und damit etwas mehr als 1/16 der gesamten ostfriesischen Landfläche. Er hat eine Länge von ca. 23 Kilometern. Der Kanal beginnt wenige hundert Meter westlich von Aurich-Oldendorf in der Nachbargemeinde Großefehn und mündet südlich des Moormerländer Ortsteils Terborg mit einem Schöpfwerk in die Ems. Vom Sauteler Kanal zweigen die Fehnkanäle der Ortschaften Warsingsfehn, Jheringsfehn und Boekzetelerfehn ab. Die kleineren unter ihnen heißen Wieken und sind zu schmal und zu flach, um selbst von kleineren Motorbooten befahren werden zu können. Während der Abtorfung der Fehne wurden sie allerdings mit flachgehenden Booten befahren (bzw. getreidelt), die den gestochenen Torf abtransportierten. Größere Fehnkanäle wie der Warsingsfehnkanal und die Heuwieke können von Motorbooten befahren werden. Der Warsingsfehnkanal ist mit dem Rorichumer Tief und über die Heuwieke mit dem Fehntjer Tief verbunden. Das Fehntjer Tief endet in Emden, von dort ist das Wasserstraßennetz im Landkreis Aurich über weitere Kanäle angebunden. Das Rorichumer Tief endet in Oldersum und von dort führt das Oldersumer Tief ebenfalls zum Fehntjer Tief; es besteht auch ein Durchlass zur Ems. Der Sauteler Kanal ist auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Neukamperfehn über den Neuefehnkanal mit dem Fehntjer Tief verbunden, so dass nahezu sämtliche Wasserstraßen der Gemeinde untereinander und über das Fehntjer Tief mit Kanälen in den Nachbargemeinden verbunden sind. Der Ems-Seitenkanal, der den Emder Hafen mit dem Hafen in Oldersum verbindet und parallel zur Ems verläuft, wurde ebenfalls künstlich angelegt. Auf dem Gemeindegebiet befindet sich mit dem Boekzeteler Meer ein Niedermoorsee, die Gemeinde grenzt an das westliche Ufer des Timmeler Meeres. Ein weiterer, wenn auch deutlich kleinerer Moorsee ist das Wolfsmeer im Südosten der Gemeinde. Bei Neermoor und Veenhusen gibt es mehrere Baggerseen, aus denen Sand gewonnen wird. Am östlichen Dorfrand von Tergast befinden sich mehrere Seen, die teils der Trinkwassergewinnung für die Stadtwerke Emden dienen, teils mit Fischen besetzt wurden und für Angler zur Verfügung stehen; einige von ihnen waren früher Kiesgruben. Nachbargemeinden Im Nordwesten grenzt die Gemeinde Moormerland an die kreisfreie Stadt Emden, im Norden an die zum Landkreis Aurich gehörenden Gemeinden Ihlow und Großefehn. Die Grenze zur Gemeinde Ihlow wird überwiegend vom Fehntjer Tief gebildet, die Grenze zur Gemeinde Großefehn vollständig vom südlichen Arm des Fehntjer Tiefs sowie vom Timmeler Meer und dem Boekzeteler Meer, die beide vom südlichen Arm des Tiefs durchflossen werden. Im Osten grenzt Moormerland an drei Mitgliedsgemeinden der Samtgemeinde Hesel: Neukamperfehn, Hesel und auf einem sehr kurzen Abschnitt Holtland. Südlich des Gemeindegebietes liegt die Kreisstadt Leer. Die Gemeinde Jemgum liegt jenseits der Ems im Rheiderland, die Flussmitte bildet die Grenze. Flächennutzung Das Gemeindegebiet wird überwiegend (zu fast 73 Prozent) landwirtschaftlich genutzt. Damit liegt Moormerland knapp unter dem ostfriesischen Durchschnitt von rund 75 Prozent, jedoch deutlich über dem bundesrepublikanischen Durchschnitt von 52,3 Prozent. Etwa 7,5 Prozent der Gesamtfläche Moormerlands sind mit Entwässerungsgräben, Fehnkanälen, Tiefs und Binnenseen von Wasser bedeckt, womit der Bundesdurchschnitt von 2,4 Prozent Wasserflächenanteil um etwas mehr als das Dreifache überschritten wird. Extrem unterdurchschnittlich ausgeprägt ist hingegen der Waldanteil im Moormerland. Mit 1,23 Prozent unterschreitet er sogar den ostfriesischen Mittelwert von 2,6 Prozent, der seinerseits im deutschlandweiten Vergleich sehr niedrig ist: Der Waldanteil an der Gesamtfläche der Bundesrepublik liegt bei 30,1 Prozent. Im Gemeindegebiet gibt es nur wenige kleinere aufgeforstete Flächen. Gemeindegliederung Die Gemeinde Moormerland besteht aus elf Ortschaften. Sie sind nachfolgend nach ihrer Einwohnerzahl (in Klammern) sortiert (Stand: 31. Dezember 2011). Der Bevölkerungsschwerpunkt befindet sich im Südosten der Gemeinde beiderseits der Autobahn mit den Ortsteilen Warsingsfehn, Jheringsfehn, Veenhusen und Neermoor, in denen zusammen etwa 18.500 der gut 22.000 Einwohner der Gemeinde leben. Insbesondere die Ortsteile Warsingsfehn und Veenhusen sind zusammengewachsen, Lücken in der Bebauung gibt es kaum. Der Übergang von Warsingsfehn nach Jheringsfehn ist ebenfalls fließend. Neermoor westlich der Autobahn wird zwar durch deren Trasse von den beiden Fehnen getrennt. Die Flächen beiderseits der Autobahn sind jedoch fast lückenlos von Gewerbebetrieben bebaut. Im Nordwesten des Gemeindegebietes findet sich mit Oldersum, Tergast, Rorichum und Gandersum ein zweiter, aber sehr viel kleinerer Siedlungsschwerpunkt. Auch Oldersum und Rorichum sind enger zusammengewachsen. Im Norden der Gemeinde gibt es hingegen nur die kleinen Dörfer Hatshausen und Ayenwolde mit ausgeprägt lockerer Bebauung sowie weitere Wohnplätze und weite unbebaute, teils als Naturschutzgebiete ausgewiesene oder landwirtschaftlich genutzte Flächen. Der Südwesten des Gemeindegebietes entlang der Ems ist ebenfalls sehr dünn besiedelt, wird landwirtschaftlich genutzt und hat keinen Siedlungskern. Klima Moormerland liegt in der gemäßigten Klimazone, hauptsächlich im direkten Einfluss der Nordsee. Im Sommer sind die Tagestemperaturen tiefer, im Winter häufig höher als im weiteren Inland. Das Klima ist von der mitteleuropäischen Westwindzone geprägt. Nach der Klimaklassifikation von Köppen befindet sich Moormerland in der Einteilung Cfb. (Klimazone C: warm-gemäßigtes Klima, Klimatyp f: feucht-gemäßigtes Klima, Untertyp b: warme Sommer) Innerhalb der gemäßigten Zone wird es dem Klimabezirk Niedersächsisches Flachland Nordsee-Küste zugeordnet, der maritim geprägt ist und sich durch relativ kühle und regenreiche Sommer, verhältnismäßig milde, schneearme Winter, vorherrschende West- und Südwestwinde sowie hohe Jahresniederschläge auszeichnet. Die nächstgelegene Wetterstation befindet sich im benachbarten Emden. Schutzgebiete Naturschutzgebiete (NSG) befinden sich vor allem im Nordteil des Gemeindegebietes. Am NSG Fehntjer Tief-Nord hat die Gemeinde nur einen sehr geringen Anteil, am Gebiet Fehntjer Tief-Süd hingegen den Löwenanteil. Beide Gebiete sind geprägt von Grünland und Feuchtwiesen und werden überwiegend extensiv landwirtschaftlich genutzt. Sie sind Teil des FFH-Gebietes Fehntjer Tief und Umgebung und des EU-Vogelschutzgebietes Fehntjer Tief. Im Nordosten der Gemeinde liegt das NSG Boekzeteler Meer, ein Niedermoorsee mit Verlandungszonen. Das Wolfmeer ist ein verlandender See in einem Moorgebiet im Südosten der Gemeinde. Entlang der Ems befinden sich zwei weitere Schutzgebiete. Die Emsauen zwischen Ledamündung und Oldersum sind Teil eines EU-Vogelschutzgebietes und dienen dem Erhalt des Deichvorlandes als Brutgebiet für Vögel. Den gleichen Schutzzweck erfüllt das NSG Petkumer Deichvorland, das sich größtenteils auf dem Gebiet der Nachbarstadt Emden erstreckt, aber in geringerem Umfang auch auf Moormerländer Areal liegt. Zum Schutzgebiet Emsauen gehört auch die Binneninsel Hatzumer Sand. Geschichte Die Gemeinde Moormerland entstand im Rahmen der Niedersächsischen Gemeindereform am 1. Januar 1973 aus den ehemaligen eigenständigen Gemeinden Boekzetelerfehn, Gandersum, Hatshausen, Jheringsfehn, Neermoor, Oldersum, Rorichum, Terborg, Tergast, Veenhusen und Warsingsfehn. Die neue Gemeinde wurde nach der gleichnamigen friesischen Landesgemeinde benannt, die im Mittelalter auf diesem Gebiet gelegen hatte. Das historische Moormerland war jedoch ungleich größer und umfasste auch die größten Teile der heutigen Samtgemeinden Jümme und Hesel sowie der Stadt Leer. Die Geschichte der einzelnen Ortschaften ist deutlich älter und lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Entwicklung des Gemeindenamens Der Name Moormerland ist mittelalterlichen Ursprungs. Als Herkunftsbezeichnung van Moormannerlande wurde er erstmals 1346 schriftlich erwähnt, 1432 gab es den Namen Mormer Lande. Der Name ist auf die weiten Hochmoorareale zurückzuführen, die einen Gutteil des Gemeindegebietes ausmachen. Als zweiter Appellativ kam Mann hinzu, ergänzt um das Herkunftssuffix -er. Dies verschmolz zum kürzeren -mer. Moormerland (mit der Betonung auf der ersten Silbe und kurz ausgesprochenem „e“) bedeutet also Land der Mannen aus dem Moor. Einige Ortsnamen in der Gemeinde werden mit dem Gattungsbegriff Fehn (oder Veen, wie im Niederländischen) gebildet, darunter der Hauptort Warsingsfehn. Die Endung -fehn verweist darauf, dass es sich um eine Moorsiedlung handelt. In niederdeutschen Urkunden aus dem 15. Jahrhundert bedeutet das Wort Fehn zunächst nur Siedlung im Moor, im Moormerland-Gebiet trifft dies auf Veenhusen zu. Erst nach der Anlage von Großefehn (1633) bekam das Wort in Ostfriesland eine weitere, konkretere Bedeutung als Bezeichnung für eine Moorsiedlung, die entlang eines ausgehobenen Kanals, eines Fehnkanals, angelegt wurde. Gleichwohl gab es auch in der Folgezeit Moorsiedlungen, die nicht entlang eines Fehnkanals angelegt wurden und trotzdem die Namensendung -fehn tragen, im Moormerland trifft dies für Büschersfehn zu. Im Allgemeinen wird unter einem Fehn (auch: Fehnsiedlung, Fehnkolonie) dennoch eine Moorkolonie entlang eines Kanals verstanden. Zur genaueren Unterscheidung wird in der Literatur aber zuweilen auch zwischen echten (mit Fehnkanal) und unechten Fehnen (ohne Kanal) unterschieden. Mit Ausnahme von Büschersfehn handelt es sich im Moormerland ausschließlich um echte Fehnsiedlungen. Ur- und Frühgeschichte Älteste archäologische Fundstücke im Moormerland sind mittelsteinzeitliche Kochgruben (ca. 7000 v. Chr.). Sie wurden 1989 bei Grabungen in dem auf der Geest liegenden Ortsteil Neermoor gefunden. Die Menschen jener urgeschichtlichen Epoche waren Wildbeuter, deren bevorzugte Aufenthaltsorte in den Hanglagen zwischen den verschiedenen Vegetationszonen lagen: den Kiefernwäldern auf der Geest und dem Bruchwald entlang der Ems. Ein jungsteinzeitliches Flintbeil wurde im Hochmoor nahe Jheringsfehn aufgefunden. Der Beiltyp ist charakteristisch für die Einzelgrabkultur. Keramik der Trichterbecherkultur kam bei Grabungen in Neermoor zum Vorschein. Die Bauern des Neolithikums siedelten generell in allen Landesteilen Ostfrieslands außer den unzugänglichsten Hochmoorarealen. Im vorliegenden Gebiet ist dies – neben den erwähnten Orten Jheringsfehn und Neermoor – auch für diejenigen Teile der Gemarkung Warsingsfehn nachgewiesen, die sich auf Geestinseln befinden. Funde aus der jüngeren Bronzezeit und der älteren vorrömischen Eisenzeit sind hingegen im vorliegenden Gebiet bislang kaum entdeckt worden. Eine Ausnahme bilden Urnengefäße, die im Raum Warsingsfehn zutage traten. Sie sind der Urnenfelderkultur zuzuordnen, mithin einer Epoche des Übergangs von der Körper- zur Brandbestattung. Im Jahr 12 v. Chr. erreichten die Römer unter ihrem Feldherren Drusus erstmals Ostfriesland. Wenige Jahre später ankerte Germanicus in der Amisia (Ems). In Rorichum wurden Keramikscherben aus der römischen Kaiserzeit gefunden. Früh- und Hochmittelalter: Siedlungen an der Ems Im 5. Jahrhundert kam es zu einem starken Rückgang der Besiedlung. Ursache dafür könnte der Anstieg des Meeresspiegels und die dadurch bedingte Überflutung der Marsch und die Vernässung der Geest gewesen sein. Der Rückgang der Bevölkerung macht sich ausschließlich in fehlenden archäologischen Funden für das 5. und 6. Jahrhundert bemerkbar. Nach diesem Siedlungsrückgang, der mit der Dünkirchen II-Transgression erklärt wird, folgte ab dem 7. oder 8. Jahrhundert eine erneute stärkere Besiedlung. In Oldersum wurden auf der Dorfwarft nahe der Kirche Fundstücke aus dem 7., möglicherweise auch 6. Jahrhundert entdeckt. Dieser Fund relativierte die ältere Aussage eines Bevölkerungsrückgangs zumindest für das 6. Jahrhundert und zumindest für den Ort Oldersum. Der Ort entwickelte sich in der Übergangsphase vom Früh- zum Hochmittelalter zu einer Wik-Siedlung, einer dörflichen Handelssiedlung mit Hochseezugang, wie sie zu jener Zeit auch in Emden, Nesse oder Groothusen bestanden. Entlang des Flusses gab es im Hochmittelalter die Siedlungen Gandersum, Oldersum, Rorichum und Terborg an der Ems. Bis auf Oldersum wurden diese Ortschaften bereits in den Werdener Urbaren erwähnt. Auch die auf einer Geestinsel gelegene Ortschaft Tergast bestand bereits um das Jahr 1000. Durch das Moormerländer Gebiet verlief im Mittelalter einer der sieben Friesischen Heerwege: derjenige von Münster nach Emden. Er wurde in den Siebzehn Küren erwähnt, die die Vertreter der einzelnen friesischen Regionen am Upstalsboom beschlossen. In den Küren ist festgelegt, dass Händler gegen Zahlung eines Wegegeldes Schutz genießen bei der Benutzung dieser Fernhandelswege. Die Küren werden auf das 11. Jahrhundert datiert, der darin erwähnte Weg war jedoch bereits älteren Datums und geht auf das 8. bis 10. Jahrhundert zurück. Er führte, aus Richtung Süden über Leer kommend, nach Neermoor und weiter nach Tergast, dabei die Ein-Meter-Höhenlinie zwischen Geest und Emsmarsch ausnutzend. Von Tergast führte der Weg weiter über Oldersum an der Ems entlang zum Hafenort Emden. Mit der Anlage von Deichen wurde um das Jahr 1000 begonnen. Wegen des Anstiegs des Meeresspiegels musste im 12./13. Jahrhundert dennoch die Ortschaft Neermoor weiter östlich auf die hohe Geest verlagert werden. Im 13. Jahrhundert wurde in den Emsdörfern sowie in dem auf einer Geestinsel nahe der Ems gelegenen Ort Tergast begonnen, ältere Holzkirchen durch Steinbauten zu ersetzen. Älteste erhaltene Backsteinkirche ist diejenige in Tergast. Neermoor wie auch das südlich gelegene Veenhusen und das nördlich gelegene Rorichmoor waren Reihendörfer. Dies ergab sich aus den geologischen Gegebenheiten, die die Siedler vorfanden: einem in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Geeststreifen zwischen der westlich gelegenen Flussmarsch und dem östlich gelegenen Moor. Um die Moore nutzbar zu machen, wurden parallel zueinander Entwässerungsgräben in die Moore gegraben, im vorliegenden Fall in östliche Richtung. Jeder der Siedler hatte dabei ein Anrecht auf einen Streifen Moor in einer zuvor vereinbarten Breite. Dieses durfte er in der Länge so weit kolonisieren, bis er auf ein natürliches Hindernis oder (in dem Fall, dass ein Moorgebiet von zwei gegenüberliegenden Seiten urbar gemacht wurde) das Kolonat eines anderen traf. Allerdings war die Länge beim damaligen Stand der Mittel schon allein technisch limitiert. Die Nutzung der Moore beschränkte sich also zunächst auf die Randzonen. Das Ergebnis dieses Vorgangs waren die Reihendörfer mit ihren so genannten Aufstreckungen. Zwei weitere Beispiele für die Moorkolonisation in Upstreeken finden sich in den nördlich der Hochmoorzone gelegenen Dörfern Ayenwolde und Hatshausen, deren Kolonate sich mit der Zeit verzahnten, da die Streifenfluren nicht direkt parallel zueinander verliefen. Mit einem weitgehenden Abschluss dieser mittelalterlichen Moorkolonisation muss für das 13, spätestens aber 14. Jahrhundert gerechnet werden. Häuptlingszeit Die Sturmfluten des 14. Jahrhunderts, besonders die Zweite Marcellusflut (Grote Mandränke) im Jahr 1362, suchten auch das Gebiet der heutigen Gemeinde Moormerland heim. Diese Sturmfluten sowie eine Pestepidemie in den Jahren 1349/1350 führten zu politischen Veränderungen in Ostfriesland. Häuptlinge taten sich unter den freien Bauern hervor und begründeten eigene Dynastien. Die seit dem Hochmittelalter bestehende Friesische Freiheit der grundbesitzenden Bauern wurde dadurch nach und nach ausgehöhlt. In verschiedenen Regionen Ostfrieslands gewannen einzelne Familien eine herausragende Stellung. Im Bereich des Moormerlands waren dies die Ukena. Der bedeutendste Sohn dieses vermutlich aus Neermoor stammenden Geschlechts war Focko Ukena, der sich gemeinsam mit anderen Häuptlingen der immer mächtiger werdenden und eine ausgedehnte Landesherrschaft anstrebenden Häuptlingsfamilie tom Brok entgegenstellte und diese in den Schlachten von Detern 1426 und auf den Wilden Äckern 1427 entscheidend schlug. Da Ukena selbst jedoch unter den Häuptlingen eine hervorgehobene Stellung beanspruchte, geriet er in Opposition zur Partei der Familie Cirksena, die den Freiheitsbund der Sieben Ostfrieslande anführte und die 1431 die Burg des Focko Ukena in Leer eroberte. Ukena floh daraufhin nach Münster, später auf das Schloss seiner zweiten Frau Hiddeke van Garreweer in Dijkhuizen in den Ommelanden (Niederlande), wo er auch verstarb. Die Episode der Moormerländer Häuptlingsfamilie als mächtigste in Ostfriesland blieb somit auf wenige Jahre beschränkt. In der Grafschaft Ostfriesland Nach der Errichtung der Grafschaft Ostfriesland im Jahr 1464 gehörte das Moormerland zum Amt Leerort. Eine Ausnahme bildete die Herrlichkeit Oldersum, die sich in den folgenden rund 170 Jahren ein gewisses Maß an Autonomie innerhalb der Landesherrschaft bewahrte. Neben Emden hat Oldersum für die ostfriesische Religionsgeschichte – und damit für die ostfriesische Historie überhaupt – eine hohe Bedeutung: Dort fand 1526 das Oldersumer Religionsgespräch statt, ein Disput zwischen dem Emder Prediger Georg Aportanus (protestantisch-lutherisch) und dem katholischen Dominikanerprior Laurens Laurensen aus Groningen. Die von Ulrich von Dornum, dem Herren der Oldersumer Burg, verfasste Niederschrift trug entscheidend zur weiten Verbreitung und zur schnellen Durchsetzung der Reformation in Ostfriesland bei. So ist bereits für 1528 ein reformierter Pastor in Tergast gesichert, für 1552 dann auch in Gandersum. Der Pastor von Rorichum nahm selbst am Oldersumer Religionsgespräch teil, auch seine Gemeinde wandte sich der neuen Richtung zu. Nachdem sich die Herrlichkeit Oldersum im 15. und 16. Jahrhundert vorteilhaft entwickelt hatte und zum Marktflecken geworden war, führte hohe Verschuldung des Herrscherhauses dazu, dass die Stadt Emden die Herrlichkeit mitsamt den Dörfern Gandersum, Tergast, Rorichum und Simonswolde 1631 aufkaufte. Emden war es beim Erwerb mehrerer Herrlichkeiten im Osten des Stadtgebiets vor allem an der Sicherung der Verkehrswege gelegen. Im Dreißigjährigen Krieg war Ostfriesland zwar nicht Schauplatz von Kampfhandlungen, wurde jedoch von Truppen als Ruheraum genutzt. Dreimal (1622–1624, 1627–1631 und 1637–1651) zogen fremde Truppen nach Ostfriesland ein, worunter auch das vorliegende Gebiet zu leiden hatte. Besonders stark betroffen war die Region von der Besetzung durch die Mansfelder. Die beiden folgenden Besetzungen bedeuteten zwar ebenfalls Belastungen durch Kontributionen. Die Besatzer von 1627 bis 1631 jedoch, kaiserliche Truppen unter Tilly, „hielten Manneszucht und vermieden Ausschreitungen“ desgleichen die von 1637 bis 1651 einquartierten hessischen Truppen unter Wilhelm V. von Hessen-Kassel. Auch materiell stellte sich die Situation unter den beiden Besetzungen anders dar als unter Mansfeld: Es wurden zwar Kontributionen eingetrieben, doch wurden diese auch wieder in der Region ausgegeben. Während des Krieges brach in Ostfriesland auch die Pest aus, Todeszahlen für das vorliegende Gebiet sind jedoch nicht dokumentiert. Moorkolonisierung ab 1647 Die Moorkolonisierung durch Fehne auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Moormerland wurde im 17. Jahrhundert begonnen. Den Anfang machte Boekzetelerfehn (1647), das damit zu den ältesten Fehnkolonien Ostfrieslands zählt. Es entstand 14 Jahre nach der Gründung der ersten ostfriesischen Fehnkolonie Großefehn. In Boekzetelerfehn verlief die Kolonisierung jedoch noch nicht nach dem späteren idealtypischen Rahmen, indem ein Entwässerungskanal schnurgerade ins Moor gegraben wurde. Vielmehr legten die ersten Siedler den Haupt-Fehnkanal noch am natürlichen Moorrand an, der Kanal hatte dementsprechend einen kurvigen Verlauf. Erst später ging man dazu über, den Kanal gerade ins Moor zu treiben. Das benachbarte Hookster Fehn entstand ab 1660. Es erhielt seinen Namen, weil es in der Ecke (ostfriesisch plattdeutsch hoek oder hook) zwischen Boekzetelerfehn und Neuefehn liegt. Deutlich ausgebaut wurde das Hookster Fehn ab 1754 und nach dem Auricher Regierungsdirektor Sebastian Jhering (1700–1759) benannt; diesen Namen trägt Jheringsfehn noch heute. Um den Abtransport des Torfs aus den Fehnen nach Emden zu verbessern, wurde im 17. Jahrhundert das Fehntjer Tief von einer Stelle wenige Kilometer nördlich von Oldersum (beim Hof Monnikeborgum) durch Ausheben künstlich in Richtung Westen verlängert. Bis dahin war das Tief über Oldersum zur Ems geflossen, seither endet es in Emden. Das letzte natürliche Teilstück heißt seitdem Oldersumer Sieltief. Von Hatshausen aus wurde ab dem frühen 18. Jahrhundert die Moorbrandkultur in Ostfriesland erneut eingeführt. Zwar wurden bereits in früheren Jahrhunderten Moore durch Abbrennen kultiviert; diese Methode war jedoch in Vergessenheit geraten. Der Pastor Anton Christian Bolenius, der von 1707 bis 1716 in Hatshausen tätig war, führte die Methode aus den Niederlanden erneut in Ostfriesland ein. Die Weihnachtsflut 1717 richtete an der ostfriesischen Küste große Schäden an. Das Moormerland als Teil des Amtes Leerort war davon jedoch weniger betroffen als die Küstenlandstriche im Norden Ostfrieslands. Im gesamten Amt Leerort sowie in der Herrlichkeit Oldersum waren insgesamt sechs Tote zu beklagen, verglichen mit bspw. fast 600 im Amt Berum. Allerdings ertranken im Amt Leeroort, dessen küstennächster Teil das Moormerland war, fast 130 Pferde und mehr als 800 Rinder, Schafe und Schweine. 149 Häuser wurden nach einer zeitgenössischen Übersicht des Prädikanten Jacobus Isebrandi Harkenroth teilweise und zwölf völlig zerstört. Warsingsfehn wurde ab 1735 angelegt, als Gründungsdatum gilt jedoch die Unterzeichnung des Erbpachtvertrags mit Fehngründer Gerhard Warsing am 16. November 1736. Warsing, der auf Gut Sieve nahe Tergast lebte, ließ von dort aus in südöstlicher Richtung den Warsingsfehnkanal graben, mit dem die zirka 225 Hektar Hochmoorfläche entwässert und erschlossen wurden. Bis 1779 pachtete sein Sohn Hermann etwa 122 Hektar hinzu. Die Flächen wurden, wie in den Fehnsiedlungen üblich, an Unterpächter weitergegeben, die Abgaben zahlten und für die Anlage der Zweigkanäle, Inwieken genannt, verantwortlich waren. Sie trugen die Hauptlast der Kolonisierung der Moore. Wie in den anderen ostfriesischen Fehnorten entwickelte sich in den folgenden rund 200 Jahren die Schifffahrt zu einem weiteren Erwerbszweig der Fehntjer, neben dem Torfabbau und einer – zumeist bescheidenen – Landwirtschaft. Grundlage dieses Berufsstandes war die selbstständige Abfuhr des Torfes in die Absatzgebiete, in erster Linie die Städte Emden und Leer sowie die Marschen. Preußisch von 1744 bis 1806 Nachdem der letzte Graf von Ostfriesland, Carl Edzard, bereits in einem frühen Lebensalter kinderlos verstorben war, fiel Ostfriesland im Jahr 1744 durch eine seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bestehende Exspektanz an Preußen. Das Moormerland wurde während des Siebenjährigen Krieges zweimal von fremden Truppen besetzt. Truppen der französischen Generale Dumourier und d’Auvet besetzten den Landstrich 1757, Truppen der Marquis de Conflans 1761. Die Besatzer verlangten Naturalleistungen und Kontributionen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden in Ostfriesland mehr als 80 neue Moorkolonien angelegt. Auch im Moormerland wurden neue Dörfer angelegt, darunter 1764 die Neermoor-Kolonie etwa drei Kilometer südlich des namensgebenden Mutterortes sowie im gleichen Jahr die Veenhusen-Kolonie westlich des Mutterortes. 1772, nach der Unterzeichnung des Urbarmachungsediktes durch Friedrich den Großen (1765), kam Büschersfehn südöstlich von Hatshausen hinzu. Die zentralen Orte jener Zeit, in der sich Kaufleute und Handwerker konzentrierten, waren Neermoor und vor allem Oldersum. Die Hatshauser Kirchengemeinde wandte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie viele andere ostfriesische Gemeinden dem Pietismus zu. Der von 1797 bis 1814 in Hatshausen wirkende Pastor Georg Siegmund Stracke wurde der Leiter der Missionssozietät vom Senfkorn, des ersten Missionsvereins einer evangelischen Kirche in Deutschland. Sie wurde 1798 in Hatshausen gegründet und entwickelte sich zu einer „Missionsvorschule für die angehenden Missionare, bevor sie über London in die afrikanischen und orientalischen Missionsgebiete entsandt wurden“. Vom Königreich Holland zum Königreich Hannover (1806–1866) Das Gemeindegebiet kam mit ganz Ostfriesland nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt an das (napoleonische) Königreich Holland. Dieses wurde wiederum 1810 in das Kaiserreich Frankreich integriert. Nach den Befreiungskriegen wurde Ostfriesland für kurze Zeit wieder preußisch. Allerdings hatten sich die am Wiener Kongress beteiligten Staaten auf den Tausch von Gebieten geeinigt, davon war auch Ostfriesland betroffen. Es kam zum Königreich Hannover und blieb dort bis zu dessen Auflösung nach dem Deutschen Einigungskrieg (1866). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Schifffahrt für die Fehnbewohner stetig zu. Neben der Binnenschifffahrt, die im Wesentlichen aus dem Transport des Torfs in die Städte Emden und Leer sowie die umliegenden Marschgebiete bestand, wuchs auch die Bedeutung des Seeverkehrs, wobei aufgrund der Größe der Fehnkanäle naturgemäß der tatsächliche Heimathafen nicht das Fehn sein konnte. Vielmehr lagen die Schiffe, so sie nicht unterwegs waren, in den Häfen an der Ems. Dies traf auf Emden zu, aber auch auf Oldersum, wo zugleich Werftbetriebe angesiedelt waren. Gab es 1751 in den drei Fehnorten Boekzetelerfehn, Jheringsfehn und Warsingsfehn zusammen gerade einmal 35 Binnenschiffe, so war der Gesamtbestand der Schiffe bis 1816 bereits auf 108 gestiegen, von denen 81 Binnen- und die anderen Seeschiffe waren. Die Hinwendung zum Seeverkehr, der sich zumeist entlang der Küsten bewegte, entstand zunächst aus der Erweiterung der Absatzgebiete des Torfs. Bei diesen Fahrten nahmen die Reeder jedoch nach und nach auch andere Waren an Bord, daraus entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte ein für die Fehne bedeutsames Gewerbe. 1846 wurde vom Königreich Hannover in Timmel, nur wenige Kilometer von den drei Fehnorten entfernt, eine Seefahrtschule gegründet, die bis 1918 bestand. Der Anschluss an das nationale Eisenbahnnetz erfolgte 1854 mit der Fertigstellung der Hannoverschen Westbahn zwischen Emden und Leer. Bahnhöfe entstanden in Neermoor und Oldersum. Der Abschnitt zwischen Emden und Neermoor kostete etwa 400.000 Reichstaler, derjenige zwischen Neermoor und Leer rund 290.000. Damit war der Bauabschnitt zwischen Emden und Neermoor – wegen des weichen Marschbodens – der teuerste Abschnitt zwischen Emden und Rheine. Neermoor war in der Mitte des 19. Jahrhunderts eines der ostfriesischen Zentren der Bewegung der altreformierten Gläubigen, die sich, ausgehend von den Niederlanden, von der Reformierten Kirche abspalteten, weil ihnen diese als zu liberal erschien. Kaiserreich Der Ausbau der Infrastruktur wurde im Kaiserreich weiterverfolgt. So entstand ab 1870 die Chaussee von Neermoor nach Timmel (heutige Landesstraße 14) und 1876 die Straße von Oldersum nach Aurich (heutige L 1). In den Jahren 1894–1897 wurde der Ems-Seitenkanal als Nebenkanal des Dortmund-Ems-Kanals gebaut, weil die damals üblichen schwerfälligen Schleppzüge bei stürmischen Wetterlagen dem Wellengang in der Höhe des Dollarts, insbesondere beim Ein- und Auslaufen in den/aus dem Emder Hafen, nicht gewachsen waren. Das heutige Gemeindegebiet verteilte sich seit der Kreisreform von 1885 auf drei Landkreise: Der Nordwesten um Oldersum gehörte zum Landkreis Emden, der Nordosten um Jheringsfehn und Hatshausen zum Landkreis Aurich und der einwohnerstärkste Süden um Neermoor und Warsingsfehn zum Landkreis Leer. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten viele Moormerländer in die USA aus. Dies führte zu einem Rückgang der Einwohnerzahlen und später zu langsamerem Ansteigen. Eine wesentliche Ursache war die steigende Kohleförderung, die nach und nach den Torf als Brennstoff verdrängte. Außerdem konnten viele Fehntjer Schiffer mit ihren hölzernen Seglern den Eisenrumpf-Schiffen auf der Hochsee nur wenig entgegensetzen und litten bei der Binnenschifffahrt unter der zunehmenden Konkurrenz der Eisenbahn. Die Zahlen der in den Fehnen beheimateten Schiffe belegt den Rückgang. Auf dem Höhepunkt der Warsingsfehntjer Schifffahrt 1882 gab es dort 102 Schiffe, davon 86 Binnen- und 16 Seeschiffe. In Jheringsfehn waren es zum gleichen Zeitpunkt 54 Schiffe, davon 39 Binnenschiffe und in Boekzetelerfehn nur noch 19 Schiffe, von denen allerdings 16 zur See fuhren. In Jheringsfehn und Boekzetelerfehn wurden die höchsten Schiffszahlen bereits in den 1860er Jahren registriert. Zusammen kamen die drei Fehnorte 1882 auf 175 Schiffe, davon 128 Binnenschiffe. Im Jahre 1900 war die Gesamtzahl auf 114 gesunken. Davon waren jedoch 94 Binnenschiffe und nur noch zehn Seeschiffe. Die Fehntjer Schiffer lieferten im Wesentlichen wieder Torf in die Umgebung, allerdings auf niedrigerem Niveau als im 19. Jahrhundert. Die Schifffahrt blieb jedoch als Arbeitsmarkt weiter von hoher Bedeutung. Zuvor selbstständige Schiffer ließen sich bei Reedern in anderen Orten anheuern, namentlich in Emden und Leer, aber auch darüber hinaus. Von Bedeutung waren etwa die Emder Heringsfischerei, aber auch Reedereien im Überseeverkehr. Bis in die 1960er Jahre rekrutierten die Schifffahrtsunternehmen viele ihrer Kapitäne, Steuerleute und Matrosen aus den Fehnsiedlungen, wo im Laufe der Jahrzehnte eine Berufstradition als Seefahrer entstanden war. Weimarer Republik Von den meisten Dörfern des Moormerlands ist bekannt, dass sich 1919 Einwohnerwehren zum Selbstschutz bildeten. Hintergrund waren die so genannten „Speckumzüge“ von Arbeitern, die sich unter Gewaltandrohung und – in Einzelfällen – auch -anwendung auf Bauernhöfen mit Lebensmitteln versorgten. Die Wähler in den einzelnen Gemeinden, die heute die Gemeinde Moormerland bilden, votierten mit zunehmender Dauer der Weimarer Republik radikaler. In der Gemeinde Hatshausen beispielsweise stimmten bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 noch mehr als 70 Prozent der Wähler für liberale Parteien, lediglich 10,6 Prozent für die DNVP. Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 erhielt die NSDAP 86,1 Prozent der Stimmen. In anderen Orten war dieser Umschwung zwar weniger ausgeprägt, aber ebenso spürbar. Besonders im Nordwesten des Gemeindegebietes und in den Fehnsiedlungen gab es auch starke linke Kräfte. Bei der ersten Reichstagswahl 1919 kam die SPD in Oldersum auf 46 Prozent. Bei der Wahl im November 1932 lag die SPD bei 22,4 Prozent. Die KPD kam auf 16,9 Prozent. NSDAP und DNVP lagen bei 33,2 und 18,8 Prozent. Die staatstragenden Parteien der Weimarer Republik erhielten zusammen lediglich ein Drittel der Wählerstimmen. Die im ostfrieslandweiten Vergleich dennoch starke Stellung der Arbeiterparteien SPD und KPD war nach Ansicht des Historikers Albert Janssen „sicherlich eine Folge der besonderen Berufs- und Sozialstrukturen, die in den Fehngemeinden bestanden. Dort lebten außerordentlich viele Seeleute, Werftarbeiter und kleine Kolonistenfamilien.“ Oldersum verfügte nicht nur über einen kleinen Hafen und einen Werftbetrieb, im Nordwesten des heutigen Gemeindegebietes spielten auch Pendler in die Hafenstadt Emden eine Rolle. Im Zuge der Auflösung des Landkreises Emden 1932 kamen neben Borkum die Orte Oldersum, Gandersum, Tergast und Rorichum zum Landkreis Leer. Die Orte, bis auf Borkum alle Teile der früheren Herrlichkeit Oldersum, gehören seitdem ununterbrochen zum Landkreis Leer. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Die NSDAP fasste im Landkreis Leer erst spät Fuß, im Gegensatz zu den ostfriesischen Nachbarlandkreisen Wittmund und Weener (bis 1932 noch selbstständig) sowie Teilen des Landkreises Aurich. Dies spiegelte sich auch in den letzten Kommunalwahlen vom 12. März 1933 wider. Im Gemeindegebiet waren die Nationalsozialisten zwar überall als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgegangen, gleichwohl blieben sie hinter den Ergebnissen ihrer Hochburgen deutlich zurück. Wiederum waren es der Nordwesten des Gemeindegebietes sowie die Fehnsiedlungen, in denen die NSDAP im ostfrieslandweiten Vergleich unterdurchschnittlich abschnitt. In Tergast lagen die Nationalsozialisten nur sehr knapp vor der SPD (36,3 zu 35,8 Prozent), auch in Oldersum, Neermoor und Warsingsfehn erzielten die beiden Arbeiterparteien zusammen noch Ergebnisse von mehr als 30 Prozent. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten konzentrierte sich zunächst auf die ostfriesischen Städte, dann auch auf die Landratsämter. Der Leeraner Landrat Hermann Conring behielt jedoch diese Funktion. Er spielte bei der sofort nach der Machtergreifung einsetzenden Verfolgung von politisch Andersdenkenden, besonders Kommunisten, eine aktive Rolle, setzte sich jedoch teils auch für die Freilassung von Inhaftierten ein, die in Konzentrationslager verschleppt worden waren. Während er die Freilassung des Petkumer Kommunisten Walter Spiegel befürwortete, sprach er sich für die weitere Inhaftierung des Neermoorer Kommunisten Gerhard Rabenberg aus und begründete dies wie folgt: Ende Juli 1933 befanden sich 30 Kommunisten aus dem Landkreis in Konzentrationslagern, vor allem im nahe gelegenen Börgermoor, wo auch mindestens vier Personen aus dem Moormerland inhaftiert waren. Die nationalsozialistischen Kampftruppen machten bei ihrem Streben nach der alleinigen Macht jedoch auch vor (einstigen) geistigen Weggefährten nicht Halt, wie es in einem Bericht des Leeraner Landrats dokumentiert ist: Ähnliche Übergriffe wurden auch aus Neermoor gemeldet. Landrat Conring setzte sich mit lokalen NS-Größen in Verbindung, um die SA-Männer zur Verantwortung zu ziehen. Sie wurden, ebenso wie der örtliche Sturmführer, vorläufig beurlaubt. Auch in den folgenden Monaten kam es zu weiteren Übergriffen. In Oldersum waren die Juden, die seit rund 300 Jahren ansässig waren, wie im gesamten Ostfriesland bereits seit 1933 Repressalien ausgesetzt. Ab 1. April standen SA-Posten vor jüdischen Geschäften, um den Boykott zu überwachen. In der Pogromnacht 1938 wurden auch Juden aus Oldersum, Warsingsfehn und Jheringsfehn verschleppt. Über Leer wurden sie nach Oldenburg und schließlich ins KZ Sachsenhausen verbracht, kehrten aber später zunächst von dort zurück. 1938/1939 wurden in Ostfriesland bis zu 250 Juden aus Wien als Zwangsarbeiter bei der Deicherhöhung an der Ems eingesetzt. Es waren meist Personen mit höherer Bildung; sie wurden neben vier anderen Standorten auch in einem Lager in Nüttermoor untergebracht, Kontakte zur einheimischen Bevölkerung gab es kaum. Die letzten Juden aus Oldersum wurden 1940 deportiert. Von 30 Personen mit Geburts- oder Wohnort Oldersum ist bekannt, dass sie in Konzentrationslagern ermordet wurden. Neun Personen mit Geburts- oder Wohnort Warsingsfehn wurden in den Konzentrationslagern Auschwitz, Sobibor und Kauen umgebracht. In Neermoor entstand während des Krieges ein Ausweichlager für ausgebombte Emder Familien. Während des Krieges war das Gebiet der Gemeinde Moormerland zunächst nicht von Luftangriffen betroffen, von vereinzelten Bombenabwürfen hauptsächlich auf Emden abgesehen. Nachdem die alliierten Truppen am 28./29. April 1945 Leer erobert hatten, rückten sie entlang der Ems gegen Norden nach Emden vor. Um den Vormarsch der 9. kanadischen Brigade zu verzögern, wurde in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai die Eisenbahnbrücke über das Rorichumer Tief, am 3. Mai die Straßenbrücke in Rorichum und am 4. Mai die Brücke über das Oldersumer Sieltief gesprengt. Vom gegenüberliegenden Emsufer wurde Gandersum beschossen und die Kirche beschädigt. Auch Rorichum geriet unter Beschuss und verzeichnete Gebäudeschäden. In Oldersum wurde der Volkssturm aufgeboten, der aber nicht mehr in Kriegseinsätze verwickelt war. Nachdem die Emder mit dem kanadischen Kommandanten die Übergabe der Stadt vereinbart hatten, wurden die Volkssturm-Angehörigen entlassen. Am 5. Mai wurde Emden von den Kanadiern besetzt, der Krieg war damit auch auf Moormerländer Gebiet vorbei. Nachkriegszeit Nach dem Krieg wurden auch in den Gemeinden des heutigen Moomerlands zahlreiche Vertriebene aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches aufgenommen. So wuchs der Ort Oldersum beispielsweise um fast 50 Prozent, ähnlich hoch war der Anteil zeitweise in Tergast. In anderen Ortsteilen war der Zuwachs geringer, in Warsingsfehn etwa belief er sich auf rund zehn Prozent. Der Landkreis Leer – und darin auch die Gemeinde Moormerland – nahm unter allen niedersächsischen Kreisen die meisten Personen auf, die schon in den Ostgebieten arbeits- oder berufslos waren. Auch der Anteil der über 65-Jährigen lag höher als im Durchschnitt Niedersachsens. Hingegen verzeichnete der Landkreis Leer unter allen niedersächsischen Landkreisen den geringsten Anteil an männlichen Ostflüchtlingen im Alter von 20 bis 45 Jahren. Dies trug in den Folgejahren erheblich dazu bei, dass die Arbeitslosenzahlen in den frühen 1950er Jahren weit überdurchschnittlich waren und die Abwanderung von Flüchtlingen in prosperierendere Regionen Deutschlands entsprechend hoch. Der Strukturwandel in der Landwirtschaft erfasste nach dem Krieg ganz Ostfriesland. Davon war auch das Moormerland betroffen: Die Zahl der Agrarbeschäftigten nahm infolge zunehmender Mechanisierung und Rationalisierung deutlich ab. Teils wurde der Arbeitskräfteüberschuss dadurch aufgefangen, dass sich seit den späten 1950er Jahren neue Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Gemeinde auftaten, so etwa ab 1957 durch ein Zweigwerk des Büromaschinenherstellers Olympia in Leer mit zeitweilig 2700 Beschäftigten oder seit 1964 durch die Ansiedlung des Volkswagenwerks Emden. Das Moormerland wurde zum Auspendlergebiet. Die Arbeitslosenzahlen blieben dennoch (teils weit) überdurchschnittlich. Im Zuge der Niedersächsischen Kommunalreform wurde am 1. Januar 1973 der Zusammenschluss der bisherigen Gemeinden Boekzetelerfehn, Gandersum, Hatshausen, Jheringsfehn, Neermoor, Oldersum, Rorichum, Terborg, Tergast, Veenhusen und Warsingsfehn zur heutigen Gemeinde Moormerland vollzogen. In den Dörfern im Nordwesten der Gemeinde, die bis 1932 noch zum Landkreis Emden gehört hatten, wurde auch eine Eingemeindung nach Emden hitzig diskutiert, letztlich aber von einer Mehrheit in den Räten verworfen. Noch im Sommer 1972 hatten sich alle am „Vereinigungsprozess“ beteiligten Gemeinden dafür starkgemacht, eine Samtgemeinde zu gründen, in der sie als Gemeinden eigenständig geblieben wären. Dies wurde nicht zuletzt deshalb favorisiert, weil mehrere Orte (Hatshausen mit Ayenwolde, Jheringsfehn, Boekzetelerfehn) seit 1885 zum Landkreis Aurich gehörten und mit der Eingliederung nach Moormerland auch die Kreiszugehörigkeit wechselten. Das Land Niedersachsen war dagegen von Anfang an für eine Einheitsgemeinde. Überraschenderweise stimmte der Rat der Gemeinde Veenhusen plötzlich gegen die Gründung der Samtgemeinde. Da die Zustimmung aller Gemeinden notwendig gewesen wäre, kam nur noch die Bildung einer Einheitsgemeinde in Frage. Dagegen sperrten sich allerdings einige andere Gemeinden, besonders Jheringsfehn und Boekzetelerfehn. Auf die Drohung des Landkreises Leer, dass im Falle einer Nichteinigung die Gemeinden zwangsweise zusammengeführt würden, ohne dass sie noch Einfluss nehmen könnten, beugten sich aber schließlich auch diese beiden Gemeinden. Umstritten war bis zuletzt der Sitz der Gemeindeverwaltung: Sowohl Neermoor als auch Warsingsfehn meldeten entsprechende Ansprüche an. Die Wahl fiel letztlich auf den deutlich jüngeren, aber größeren Ortsteil Warsingsfehn. Nach dem Zusammenschluss zur Gemeinde Moormerland wurde die Infrastruktur weiter ausgebaut. So entstand in Warsingsfehn das neue Rathaus der Großgemeinde, ebenso ein Schulzentrum (Haupt- und Realschule). In unmittelbarer Nachbarschaft zu Schule und Rathaus wurde ein Einkaufszentrum errichtet. In Warsingsfehn wurden in den frühen 1970er Jahren mehrere Fehnkanäle zugeschüttet, unter anderem mit dem bei der Aushebung des Sauteler Kanals ausgebaggerten Sand. Dies geschah zum einen aus Kostengründen, weil die Siedlungsreihen auf beiden Seiten der Fehnkanäle nun nur mit einer Versorgungsleitung statt vorher zwei erreicht werden konnten. Zum anderen konnten die Straßen breiter angelegt werden, um den zunehmenden Verkehr aufzunehmen. Allerdings verlor Warsingsfehn dadurch weitgehend seinen ursprünglichen Fehncharakter. Zehn sogenannte Inwieken, Zweigkanäle des Haupt-Fehnkanals, wurden zugeschüttet. Dadurch entstanden etwa sechs Kilometer Straße neu. Die Gemeinde litt weiterhin unter überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit. So wurden Mitte der 1980er Jahre im Arbeitsamtsbezirk Leer Arbeitslosenquoten von mehr als 20 Prozent verzeichnet, mit dem Höhepunkt im Jahr 1984 (23,1 Prozent). In jener Zeit verzeichnete der Landkreis Leer zeitweilig die höchste Arbeitslosenquote der Bundesrepublik. Ursache waren neben Entlassungen auf den Emder Werften auch die Schließung der beiden größten Leeraner Arbeitgeber, dem Olympia-Werk und der Jansen-Werft. Die Infrastruktur wurde in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten weiter ausgebaut. Der bereits in den 1970er Jahren auf dem Gemeindegebiet begonnene Bau der Autobahn 31 fand in den frühen 1990er Jahren mit dem Lückenschluss zwischen Veenhusen und dem Dreieck Leer seinen vorläufigen Abschluss. Derzeit (Stand: 2012) werden jedoch noch Standstreifen ergänzt, auf deren Anlage beim Bau zunächst verzichtet wurde. Zwischen 1998 und 2002 wurde bei Gandersum das Emssperrwerk errichtet, das zum einen dem Schutz des flussaufwärts liegenden Hinterlandes bei Sturmfluten dient, zum anderen das Aufstauen der Ems bei Überführungen der Kreuzfahrtschiffe der Meyer Werft ermöglicht. Investiert hat die Gemeinde in den vergangenen Jahren auch in die Förderung des Tourismus. Einwohnerentwicklung Eine systematische Erfassung der Einwohnerzahlen durch die Obrigkeit fand in Ostfriesland seit dem Beginn der preußischen Zeit (1744) statt. Allerdings sind aus jener Zeit selten offizielle Zahlen für einzelne Dörfer übermittelt, so dass die Heimatforschung sich oftmals auf kirchliche Quellen stützt. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen die Einwohnerzahlen besonders in den Fehndörfern stark zu, wohingegen die Dörfer in der Marsch bereits in der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts einen Rückgang zu verzeichnen hatten. Dies lag an der Zusammenlegung von Höfen, die nicht nur für die Bauern, sondern auch die Landarbeiter weniger Beschäftigungsmöglichkeiten bedeuteten. Die Sturmflut 1825 trug ebenfalls zum Rückgang bei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in allen Gemeindeteilen zur Auswanderung in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im vorliegenden Gebiet viele Ostflüchtlinge und Vertriebene aufgenommen, die zunächst einen deutlichen Bevölkerungsschub bedeuteten. Wegen der schlechten Arbeitsmarktlage wanderten jedoch viele der neu Hinzugezogenen wie auch Alteingesessene in den 1950er Jahren in prosperierende Regionen Deutschlands ab. In den 1960er Jahren erreichte das „Wirtschaftswunder“ auch Ostfriesland. Die Gemeinden des Moormerlands wuchsen durch die Ausweisung von neuen Baugebieten. Nach Bildung der Gemeinde Moormerland nahmen die Einwohnerzahlen bis Ende der 1980er Jahre insgesamt nur wenig zu, wozu auch die Abwanderung in andere Regionen angesichts hoher Arbeitslosenzahlen in den 1980er Jahren beitrug. Mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und dank des Zuzugs von Neubürgern aus den neuen Bundesländern sowie Aussiedlern wuchs die Gemeinde in den 1990er Jahren deutlich. In jüngerer Zeit spielen auch Ruheständler aus anderen Regionen Deutschlands, die in Ostfriesland ihren Lebensabend verbringen, eine Rolle. 1993 überschritt die Einwohnerzahl die 20.000er-Marke, 2002 dann die 22.000er-Marke. Seither liegt die Einwohnerzahl konstant über 22.000 mit dem Einwohnerhöchststand von genau 22.500 im Jahre 2008. Der Wegweiser Kommune der Bertelsmann-Stiftung prognostiziert der Gemeinde eine stabile Einwohnerzahl bis 2030: Demnach würde Moormerland weiterhin bei etwas mehr als 22.000 Einwohnern liegen. Das Niedersächsische Landesamt für Statistik hingegen geht für den gesamten Landkreis Leer von einem Rückgang der Einwohnerzahl bis 2030 aus (von zirka 165.000 auf rund 152.000), weist allerdings keine Prognosen für einzelne Kommunen aus. Religion Im Mittelalter unterstanden die Kirchen der Propstei Leer im Bistum Münster. Im Zuge der Reformation wandten sich die Gemeinden bereits in den 1520er Jahren dem neuen Bekenntnis zu (Veenhusen folgte um 1540). Seitdem ist Moormerland wie ganz Ostfriesland protestantisch geprägt. Es befindet sich im Übergangsgebiet zwischen den traditionell lutherischen und reformierten Gebieten. Der Osten ist eher lutherisch (Kirchengemeinden Hatshausen, Jherings-Boekzetelerfehn sowie Warsingsfehn), der Westen stärker reformiert (Kirchengemeinden Veenhusen, Neermoor, Neermoorpolder, Rorichum, Tergast, Oldersum und Gandersum). Die lutherischen Gemeinden gehören zum Kirchenkreis Leer mit insgesamt 19 Kirchengemeinden und etwa 40.000 Mitgliedern. Die reformierten Gemeinden sind Teil des Synodalverbandes Südliches Ostfriesland mit 23.000 Gemeindegliedern in 17 Kirchengemeinden. Evangelisch-Freikirchliche Christen, auch Baptisten genannt, haben im Ortsteil Veenhusen ihr Gemeindezentrum. Ihre Geschichte reicht in das Jahr 1857 zurück. Zunächst versammelten sich die Baptisten in Neermoor und Warsingsfehn zu unregelmäßigen Gottesdiensten; später stellte der Schiffer Jan Saathoff in seinem Haus einen Raum zur Verfügung, in dem mit regelmäßigen Sonntagsversammlungen begonnen wurde. Erst 1956 wurde ein eigenes Gotteshaus an der Königsmoorstraße in Veenhusen geweiht. 1968 erfolgte eine Erweiterung des Gemeindezentrums; 1983 wurde die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Veenhusen, bis dahin Zweiggemeinde der Baptistengemeinde Leer, selbstständig. Am 31. Oktober 2004 bezogen die Veenhuser Baptisten ihre neue Kirche in der Nachbarschaft des alten Gemeindezentrums. Weitere Freikirchen in Moormerland sind die evangelisch-altreformierte Gemeinde Neermoor, die Pfingstgemeinde in Jheringsfehn sowie die von der Tradition der Brüderbewegung geprägte Christliche Gemeinde Moormerland in Warsingsfehn. Römisch-katholische Christen haben ihr geistliches Zentrum in Oldersum. Hier befindet sich die Kirchengemeinde Mariä Himmelfahrt, die mit den katholischen Gemeinden Leer und Weener eine Pfarreiengemeinschaft bildet. Statistische Daten zur Zahl der Angehörigen anderer Glaubensrichtungen, etwa Muslime, liegen nicht vor. Die nächstgelegene Moschee ist die Eyüp-Sultan-Moschee in Emden. Politik Die Gemeinde ist, wie Ostfriesland in seiner Gesamtheit, seit Jahrzehnten eine Hochburg der SPD. Die Sozialdemokraten haben derzeit die relative Mehrheit der Sitze im Gemeinderat und stellen auch den Bürgermeister. Lediglich von 1999 bis 2006 gewann ein unabhängiger Kandidat das Bürgermeisteramt für sich. Bei Landtagswahlen setzen sich ebenso die SPD-Kandidaten durch, wohingegen der Bundestagswahlkreis (s. Abgeordnete) aufgrund der Struktur seit seiner Einrichtung von CDU-Kandidaten gewonnen wurde. Bei Bundestagswahlen ergibt sich im Moormerland allerdings die (absolute oder relative) Mehrheit für die Sozialdemokraten. Bei der Bundestagswahl 1949 erzielte die SPD mit Ausnahme des Ortsteils Terborg überall die relative Mehrheit, 1953 hingegen drehte sich das Ergebnis: Bis auf Gandersum und Jheringsfehn gewannen die Christdemokraten in den einzelnen Gemeinden des Moormerlands. Im Gegensatz zum restlichen Ostfriesland war die CDU im Landkreis Leer bereits frühzeitig organisiert und erzielte dort seinerzeit die besten Ergebnisse innerhalb der Region. Während CDU und SPD bei der Wahl 1969 noch ungefähr gleichauf lagen, bedeutete die „Willy-Brandt-Wahl“ 1972 für die Sozialdemokraten Rekordwerte in Ostfriesland im Allgemeinen und auch im Moormerland: Mit Ausnahme von Terborg und Hatshausen erzielte die SPD die absolute Mehrheit in den einzelnen Gemeinden. In den folgenden Jahrzehnten blieb es beim teils sehr deutlichen Vorsprung der Sozialdemokraten im Gemeindegebiet, so auch bei den vergangenen drei Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009. Allerdings mussten die Sozialdemokraten 2009 deutliche Verluste hinnehmen: Sie erreichten nur noch 38,4 Prozent gegenüber 56 Prozent vier Jahre vorher. Dennoch blieb die SPD stärkste Partei. Gemeinderat Der Gemeinderat der Gemeinde Moormerland besteht aus 34 Ratsfrauen und -herren. Dies ist die festgelegte Anzahl für eine Gemeinde mit einer Einwohnerzahl zwischen 20.001 und 30.000. Die 34 Ratsmitglieder werden in der Kommunalwahl für jeweils fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit begann am 1. November 2021 und endet am 31. Oktober 2026. Stimmberechtigt im Gemeinderat ist außerdem der hauptamtliche Bürgermeister Hendrik Schulz (SPD). Nach den Ergebnissen der niedersächsischen Kommunalwahl vom 12. September 2021 ergab sich folgende Sitzverteilung im Gemeinderat: Bei der Kommunalwahl 2021 lag die Wahlbeteiligung mit 55,4 % unter dem niedersächsischen Durchschnitt von 57,1 Prozent. Zum Vergleich – bei der vorherigen Kommunalwahl vom 11. September 2016 lag die Wahlbeteiligung bei 52,4 Prozent. Bürgermeister Hauptamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Moormerland ist Hendrik Schulz (SPD). Bei der letzten Bürgermeisterwahl 2021 löste er die bisherige Amtsinhaberin Bettina Stöhr (SPD) ab. Bei der Kommunalwahl 2021 trat Stöhr nicht erneut an. Keiner der fünf Bürgermeisterkandidaten erzielte die absolute Mehrheit. Am 26. September 2021 fand eine Stichwahl zwischen Hendrik Schulz von der SPD und der parteilosen Einzelbewerberin Birgit Struckholt, die von der CDU unterstützt wurde, statt. Schulz entschied die Wahl mit 58,6 % für sich, während Struckholt 41,4 % der Stimmen auf sich vereinte. Seit dem Zusammenschluss zur Großgemeinde Moormerland 1973 hatten dieses Amt inne: Harm Weber (SPD, 1973–1991), Herbert Welzel (SPD, 1991–1993), Anton Lücht (SPD, 1993–1999), Heinz Palm (parteilos, 1999–2006), Anton Lücht (SPD, 2006–2014) und Bettina Stöhr (SPD, 2014–2021). Vertreter im Land- und Bundestag Moormerland zählt zum Landtagswahlkreis Leer/Borkum. Er umfasst die Städte Borkum, Weener die Gemeinden Bunde, Jemgum, Moormerland und Westoverledingen sowie das gemeindefreie Gebiet Insel Lütje Hörn. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 gewann Nico Bloem (SPD) das Direktmandat mit 42,7 % der Stimmen. Über die Landesliste von Bündnis 90/Die Grünen zog Meta Janssen-Kucz erneut in den Landtag ein. Moormerland gehört zum Bundestagswahlkreis Unterems (Wahlkreis 25), der aus dem Landkreis Leer und dem nördlichen Teil des Landkreises Emsland besteht. Der Wahlkreis wurde zur Bundestagswahl 1980 neu zugeschnitten und ist seitdem unverändert. Bislang setzten sich in diesem Wahlkreis als Direktkandidaten ausschließlich Vertreter der CDU durch. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die CDU-Abgeordneten Gitta Connemann aus Leer direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zogen Anja Troff-Schaffarzyk (SPD) und Julian Pahlke (Grüne) aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein. Wappen und Flagge Städtepartnerschaft Seit 1990 besteht eine Partnerschaft zwischen Moormerland und der mecklenburgischen Stadt Malchow, die ebenfalls in wasserreicher Umgebung liegt. Neben Lokalpolitikern besuchen sich auch Mitglieder der Heimatvereine gegenseitig. Die Partnerschaft geht auf einen Kontakt des damaligen Moormerländer Bürgermeisters Harm Weber zu Mitgliedern des Runden Tisches in Malchow im Jahre 1989 zurück. Zwischen den Einwohnern der beiden Kommunen entwickelten sich daraufhin verschiedene Kontakte, die zur Besiegelung der Partnerschaft am 11. September 1990 führten. Kultur und Sehenswürdigkeiten Kirchen und Orgeln Da die Flussmarschen der Ems schon deutlich früher besiedelt waren als die Moorgegenden im Osten des Gemeindegebiets, befinden sich in den Dörfern nahe dem Fluss auch die deutlich älteren Kirchen. Einige reformierte Kirchen stammen aus mittelalterlicher Zeit und wurden als einschiffige Saalkirchen errichtet. In Boekzetelerfehn liegt der Friedhof der Kommende Boekzetel zwischen drei Gehöften. Sie gehörten zum Ordenshaus des Johanniterordens, deren Kommende im Jahr 1319 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Die bisherigen Bodenfunde waren aber wenig ergiebig. Die Tergaster Kirche wurde im 13. Jahrhundert auf einer Warft errichtet und ist die älteste Moormerlands. Die ursprüngliche Apsis und das Chorgewölbe sind nicht mehr vorhanden; die Portale an den Langseiten sind ebenso wie die Fensternischen der Nordwand zugemauert. Architektonisch einmalig in Ostfriesland ist der um 1400 eingebaute Lettner mit 15 spitzbogigen Nischen über vier großen Rundbögen. Gerd Sieben Janssen schuf 1839/40 die Orgel, deren Registerbestand zur Hälfte erhalten ist, während der Rest von Winold van der Putten aus dem niederländischen Finsterwolde in den Jahren 1999 und 2000 originalgetreu rekonstruiert wurde. Das Werk befand sich ursprünglich in Neustadtgödens und wurde im Jahr 1939 nach Tergast verkauft. Die Veenhuser Kirche stand ursprünglich auf der nahe gelegenen Emsinsel Osterwinsum. Als sich dort der Flussverlauf änderte, wurde das Gotteshaus im Jahr 1283 abgetragen und in Veenhusen neu errichtet. Die in den Jahren 1801 und 1802 von Johann Gottfried Rohlfs gebaute und weitgehend erhaltene Orgel verfügt über acht Register auf einem Manual und angehängtem Pedal. Der alte freistehende Glockenturm wich 1869 einem Westturm. Als sich die Dorfmitte im Zuge der fortschreitenden Moorkultivierung immer weiter ostwärts verlagerte, wurde 1984 im heutigen Ortszentrum eine neue Kirche errichtet. Übergangsweise fanden die Gottesdienste in der Schule statt, da den Einwohnern der neuen Kolonie der Weg zur alten Kirche zu weit war. Ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert stammt die Nicolai-Kirche in Rorichum, ein apsisloser Einraumsaal, dessen Glockenturm noch älter ist. Dort befindet sich die Petriglocke, gegossen 1497, die mit 125 Zentimeter Durchmesser die größte mittelalterliche Glocke Ostfrieslands ist. Sie stammt von Gerhard van Wou, einem der bedeutendsten Glockengießer des Mittelalters. Die einmanualige Orgel mit sieben Registern wurde in den Jahren 1867 bis 1869 von den Gebrüdern Rohlfs gebaut und ist weitgehend erhalten. Ebenfalls auf der Warft steht das alte Pastorat von 1791, das als Wohnhaus mit einer Gulfscheune an der Stelle des spätmittelalterlichen Steinhauses errichtet wurde. Zusammen mit dem ehemaligen Schulgebäude bilden die vier Gebäude auf der Warft ein ungewöhnliches Ensemble. Die spätromanische Gandersumer Kirche geht auch auf das 14. Jahrhundert zurück, wurde jedoch gründlich umgebaut. Ein Ostanbau in Gestalt einer Apsis oder eines Chors wurde am Ende des 18. Jahrhunderts abgerissen; die Einrichtungsgegenstände wurden bei weiteren Renovierungen ersetzt. Nachdem die Kirche im Jahr 1945 unter Artilleriebeschuss zu leiden hatte und das Dach eingestürzt war, blieben nur noch die Außenmauern stehen. Ein Wiederaufbau erfolgte in den Jahren 1958 bis 1962. Die kleine Orgel mit fünf Registern geht auf eine Hausorgel aus dem 18. Jahrhundert zurück. Bei der Schließung der Kirche etwa 1938 wurde das Instrument in die Emder Schweizer Kirche überführt und überstand auf diese Weise die Zerstörung der Gandersumer Kirche. Zur Wiedereröffnung wurde die Orgel zurückgeführt und 1990/91 von Winold van der Putten und Berend Veger umfassend restauriert und rekonstruiert. Die reformierte Kirche in Neermoor wurde 1797 als rechteckige Saalkirche gebaut. Im Jahr 1875 erfolgte die Aufstockung des Westturms auf 45 Meter und drei Geschosse. Wertvollster Einrichtungsgegenstand ist die Orgel von Hinrich Just Müller des Jahres 1798, die zum großen Teil original erhalten ist. Die Kanzel mit Schnitzwerk und gedrehten Ecksäulen stammt aus dem Vorgängergebäude und steht auf einem gemauerten Podest. Sie wurde vermutlich von Frerick Albers geschaffen. Die Kirchengemeinden in Hatshausen und Ayenwolde errichteten im Jahr 1783 die Maria-Magdalena-Kirche auf der Grenzlinie beider Orte, die axial durch Tür, Turm, Altar und Kanzel verläuft. Der Glockenturm mit Welscher Haube an der Südseite, der auch als Eingangsportal dient, wird auf 1808 datiert. Die Kanzel wurde aus der Vorgängerkirche von 1680 übernommen. Von der Orgel, die nach dem Tod von Johann Hinrich Klapmeyer von Johann Gottfried Rohlfs im Jahr 1793 vollendet wurde, ist nur der historische Prospekt erhalten. Dahinter befindet sich ein neues Werk der Firma Alfred Führer (1975/76) mit fünf Registern auf einem Manual. In ähnlicher Weise steht die neuromanische Jheringsfehner Kirche von 1864 auf der Grenze zu Boekzetelerfehn. Ein Jahr später wurde die Altreformierte Kirche in Neermoor errichtet, die nur über zwölf Bänke verfügt und eines der kleinsten Kirchengebäude Ostfrieslands ist. Profanbauwerke In den Ortsteilen Neermoor und Warsingsfehn befinden sich historische Windmühlen. Die Mühle in Neermoor stammt aus dem Jahre 1884 und war bis 1989 in Betrieb, wenn zuletzt auch nur mit Motorkraft, da Flügel und Kappe bereits 1964 abgenommen wurden. Im Jahr 2000 begann eine umfassende Sanierung. Bereits 1811/12 wurde die Warsingsfehntjer Mühle errichtet. Auch ihr Flügelwerk wurde 1967 demontiert, anschließend betrieb der Müller sie per Elektromotor noch einige Jahre weiter. Die Mühlenkappe wurde 1994 neu aufgesetzt, 1996 eine Galerie angebaut. Wohnhäuser aus vergangenen Jahrhunderten im für die Region typischen Klinker sowie Gulfhöfe befinden sich überall im Gemeindegebiet, wobei die Gulfhöfe der Marsch zumeist deutlich größer sind als diejenigen auf der Geest oder in Moorgebieten. Der Wirtschaftsteil des Hofs Janssen in Ayenwolde kann nach vorheriger Absprache auch von innen besichtigt werden. In den Fehnorten gibt es eine Vielzahl historischer Klappbrücken. Ein herausragendes technisches Bauwerk neueren Datums in der Gemeinde ist das 2002 fertiggestellte Emssperrwerk bei Gandersum. Die Besuchereinrichtungen werden im Jahresdurchschnitt von zirka 10.000 Personen besichtigt. Im Zuge von Dorferneuerungsprogrammen rettete man in der Vergangenheit in mehreren Dörfern alte Bausubstanz, wenn auch eine Vielzahl alter Häuser zuvor abgerissen worden war. Im Ortsteil Warsingsfehn wurden im Zuge des Ausbaus zum Zentrum der Gemeinde nicht nur alte Häuser abgerissen, sondern auch mehrere kleine Fehnseitenkanäle (die so genannten Inwieken) verfüllt, um auf diesen Trassen Straßen anzulegen. In Jheringsfehn hingegen lässt sich die Struktur eines Fehnorts nach wie vor erkennen. Museen Das Heimatmuseum der Gemeinde, „Heitens Huus“, befindet sich im Hauptort Warsingsfehn gegenüber der Windmühle. Im April 2011 wurde in Oldersum ein Seilermuseum eröffnet. Der Bau des Museums kostete die Gemeinde Moormerland rund 150.000 Euro. Es stellt die Geschichte dieses traditionellen Handwerks dar, denn mehr als 100 Jahre lang wurden in Oldersum Seile aus Naturfasern hergestellt, von kleinen Stricken für das Vieh bis hin zu Tauen zum Festmachen von Schiffen. Regelmäßige Veranstaltungen Zu den regelmäßigen Veranstaltungen gehören vor allem solche im musikalischen Bereich. Konzerte werden regelmäßig im Jugend- und Kulturzentrum Phoenix in Rorichum gegeben. Chöre und Orchester gibt es in den meisten Ortsteilen der Gemeinde, die dort regelmäßig Konzerte veranstalten. In Warsingsfehn wird seit 2015 alljährlich am ersten Wochenende im November ein Rockkonzert ehrenamtlich organisiert. Auf dem Benefiz-Festival November Rain spielen lokale Bands für krebskranke Kinder aus der Region. Des Weiteren gibt es eine Reihe von Traditionsveranstaltungen wie Schützen- und Volksfeste, die jedoch keine über den örtlichen Rahmen hinausgehende Bedeutung haben. Am Oldersumer Hafen finden außerdem alljährlich im Mai die Schollentage statt, mit denen an die Tradition des Fischfangs erinnert wird, und in einem historischen Fehnhaus namens Heitens Huus werden gelegentlich Ausstellungen gezeigt. Davon abgesehen sind Überführungen der Kreuzfahrtschiffe der Meyer Werft emsabwärts erwähnenswert. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine organisierte Veranstaltung, trotzdem lockt das Ereignis jedes Mal hunderte Schaulustige auf den Moormerländer Emsdeich. Sprache Im Moormerland wird neben Hochdeutsch Ostfriesisches Platt gesprochen. Durch den Zuzug niederländischer Glaubensflüchtlinge nach der Reformation war auch die Niederländische Sprache, die vor allem von den Pastoren eingebracht wurde, zumindest im reformierten Westen des Gemeindegebietes stark verbreitet. Sie ging aber im 19. Jahrhundert stark zurück, als sich Ostfriesland kulturell stärker nach Deutschland orientierte und die reformierten Pastoren in deutschsprachigen Gebieten ausgebildet wurden. 1936 wurde die niederländische Sprache in den Gottesdiensten der Altreformierten verboten. Heute spielt das Niederländische kaum noch eine Rolle, abgesehen von starken Einsprengseln in den lokalen Dialekt. Das Plattdeutsche ist in der Gemeinde verankert. Es gibt plattdeutsche Gottesdienste und Trauungen werden mitunter auf Plattdeutsch abgehalten. Sport In den größeren Ortsteilen der Gemeinde gibt es Universalsportvereine, deren größter mit rund 1250 Mitgliedern der SV Warsingsfehn ist. Weitere sind VfL Jheringsfehn, VfL Fortuna Veenhusen, TV Moormerland (in Veenhusen), TV Oldersum, SV Concordia Neermoor und SV Tergast. Andere Vereine betreiben einzelne Sportarten, darunter sind je eine Ortsgruppe des Anglervereins Leer und des Bezirksfischereiverbands Ostfriesland, der Yachtclub Unterems in Rorichum und ein weiterer Bootssportverein mit Sitz in Neermoor. Die Friesensportart Boßeln, bei der eine Kugel mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Strecke zu werfen ist, wird als Wettkampf in drei Vereinen betrieben. Hinzu kommen Sportschützen- und Reitervereine sowie ein Radfahrer- und ein Hockeyverein. Wirtschaft und Infrastruktur Die Wirtschaft Moormerlands ist mittelständisch geprägt, daher gibt es keine Großbetriebe mit mehr als 500 Beschäftigten und die Gemeinde ist kaum industrialisiert. Besonders im Norden und Westen Moormerlands spielt die Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Die Gemeinde verfügt über zwei größere Gewerbegebiete beiderseits der Autobahn-Anschlussstelle Neermoor sowie über ein weiteres autobahnnahes Gewerbegebiet in Oldersum. Der Einzelhandel konzentriert sich in den beiden größten Ortsteilen Warsingsfehn und Neermoor, in geringerem Umfang auch in Oldersum und Veenhusen. Daten zur Arbeitslosigkeit in der Gemeinde werden nicht erhoben. Im Geschäftsbereich Leer der Agentur für Arbeit, der den Landkreis Leer ohne Borkum umfasst, lag die Arbeitslosenquote im Dezember 2015 bei 6,3 Prozent. Sie lag damit 0,4 Prozentpunkte über dem niedersächsischen Durchschnitt. Das Moormerland ist eine Auspendler-Gemeinde. 1257 Einpendlern (Stand: 2006) aus anderen Gemeinden standen 4838 Auspendler gegenüber; das ergibt ein Negativsaldo von 3581. Die Pendler sind vor allem in den Nachbarstädten Leer und Emden beschäftigt. 6101 Moormerländer gingen einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach, in der Gemeinde selbst gab es 2520 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Etwa ein Prozent der abhängig Beschäftigten sind im Landwirtschaftssektor tätig. Die Zahl der insgesamt in der Landwirtschaft tätigen Personen ist jedoch ungleich höher, da die zumeist selbstständigen Landwirte sowie deren mithelfende Familienangehörige in dieser Statistik nicht auftauchen. Im produzierenden Gewerbe finden 29 Prozent, in Handel, Gastgewerbe und Verkehr 21 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ihr Auskommen. In anderen Dienstleistungsberufen sind 49 Prozent der Beschäftigten tätig. Landwirtschaft In der Gemeinde bewirtschafteten im Jahre 2005 179 landwirtschaftliche Betriebe eine Fläche von 8637 Hektar. Damit lag die durchschnittliche Betriebsgröße bei 48 Hektar. Zehn Jahre zuvor gab es noch 266 landwirtschaftliche Betriebe, die mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 31 Hektar eine Fläche von 8171 Hektar in Anspruch nahmen. Die Art des Bodens bedingt seine Nutzung: Auf den abgetorften Moorflächen wird wegen der geringen Bodenwertzahl zumeist Grünlandwirtschaft (Milchwirtschaft) betrieben. Dies betrifft auch weite Teile der Flussmarsch der Ems. Lediglich im Nordwesten des Gemeindegebietes wird in geringem Umfang auch Ackerbau betrieben. Das Moormerland ist geprägt von der Grünlandwirtschaft und der Milchviehhaltung, die in der Flussniederung, aber auch auf der Geest und im Moor zu finden ist. Beim Ackerbau ist der Anbau von Futterpflanzen vorherrschend. Der Landkreis Leer war 2021 der siebtgrößte Milcherzeuger-Landkreis in Deutschland. Als nach Fläche zweitgrößte Kommune des Landkreises trägt Moormerland zu diesem Umstand erheblich bei. Neben Kühen spielen auch Schafe in einem gewissen Umfang eine Rolle: Sie grasen auf dem Emsdeich, halten dort die Grasnarbe niedrig und trampeln zugleich den Boden fest, was für die Deichsicherheit von Bedeutung ist. Zusatzeinkünfte verdienen sich Landwirte durch die Vermietung von Zimmern an Feriengäste, aber auch durch den Betrieb von Windkraft- und in zunehmendem Maße Biogasanlagen. Diese Anlagen führen zu einer Flächenkonkurrenz und verteuern die Agrarlandpreise im Landkreis Leer. Insbesondere in den Nachbarregionen Emsland und Oldenburger Münsterland haben sich Landwirte auf die Herstellung von Biogas spezialisiert und benötigen für den Mais-Anbau in zunehmendem Maße auch Flächen im Landkreis Leer. Das Moormerland hatte schon in historischen Zeiten in den fruchtbaren Flussmarschen für die Siedlung und Landwirtschaft bessere Möglichkeiten als das benachbarte Auricher- und Lengenerland. Tourismus Die Bedeutung des Tourismus hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, auch wenn die Übernachtungszahlen klar unter denen der Inseln oder der Küstenbade- und Sielorte liegen. Im Jahr 2010 wurden 73.598 Übernachtungen registriert, das waren 8992 beziehungsweise 13,92 Prozent mehr als im Vorjahr. In der Gemeinde gibt es gegenwärtig 573 Gästebetten. Ein Wohnmobil-Stellplatz ist in Rorichum zu finden, einen Campingplatz gibt es in der Gemeinde hingegen nicht. Im Gegensatz zu den Inseln und einzelnen Küstenbadeorten erhebt die Gemeinde Moormerland keinen Kurbeitrag. Die Gemeinde macht sich beim Tourismus den Wasserreichtum zunutze und vermarktet besonders Wassersport und Bootstourismus. In den fischreichen Gewässern kann geangelt werden. Ein ehemaliger Baggersee bei Neermoor wurde zum Badesee umfunktioniert. An der Paddel- und Pedalstation am Rorichumer Tief können Touristen Fahrräder und Boote ausleihen und diese an Stationen in anderen Gemeinden wieder abgeben. Yachthäfen befinden sich am Schöpfwerk des Sauteler Siels, in Gandersum und im kleinen Hafen von Oldersum, alle drei unmittelbar an der Ems gelegen. Die Schleuse Oldersum landete beim Wettbewerb Wassersportfreundlichste Schleuse des Deutschen Motoryachtverbands auf Rang zwei von bundesweit 400 Schleusen. Mit den Mühlen in Neermoor und Warsingsfehn liegt die Gemeinde an der touristischen Themenroute Niedersächsische Mühlenstraße. Durch den Ortsteil Jheringsfehn führt die Deutsche Fehnroute. Ansässige Unternehmen In den Außenbereichen von Neermoor und Veenhusen baut die Firma Vetra Beton, ein Unternehmen des Holcim-Konzerns, das in Aurich seinen Sitz hat, in nennenswertem Umfang Sand ab. Wenige hundert Meter nordwestlich von Neermoor befindet sich in einem Industriegebiet ein Transportbeton- und Betonfertigteilewerk von Vetra, der einzige Betrieb in diesem Gebiet. Im Ortsteil Tergast liegt das Wasserwerk der Stadtwerke Emden. Im kleinen Oldersumer Hafen baut die Schiffswerft Diedrich unter anderem Fährschiffe zu den Inseln und hält die Schiffe instand. Im Gewerbegebiet Neermoor ist das Unternehmen Ulferts beheimatet, das sich auf Schwertransporte und Autokraneinsätze spezialisiert hat. Ulferts beschäftigt 110 Mitarbeiter und ist nach Übernahmen und Kooperationen im gesamten norddeutschen Raum eines der zehn größten Unternehmen in der Schwerkranbranche Deutschlands. Profitiert hat das Unternehmen vom Boom der Windenergie (Aufstellen der Türme von Windkraftanlagen). Einer der wenigen Industriebetriebe im Moormerland ist die Krantechnik-Sparte der Krefelder Unternehmensgruppe Siempelkamp. Das Unternehmen wurde 1987 als E & W Anlagenbau GmbH in der Gemeinde gegründet und 2008 von Siempelkamp übernommen. Zu den Kunden der Firma gehören Werften in Norddeutschland ebenso wie namhafte deutsche Maschinen- und Anlagenbaufirmen. Der Anlagenbauer Hansa Polytechnik ist ein Hersteller von technischen Produkten aus Stahl, Edelstahl und Aluminium und seit Anfang der 1990er Jahre im Moormerland beheimatet. Die Firma stellte unter anderem sämtliche Schalungsformen der Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas im Berliner Regierungsviertel her. Die weiteren Firmen in der Gemeinde Moormerland dienen zumeist der Nahversorgung und sind regional tätig. Verkehr Durch das Moormerland führt die A 31 (Emden–Bottrop) mit drei Anschlussstellen im Gemeindegebiet: Riepe/Oldersum, Neermoor und Veenhusen. Die Autobahn durchzieht, aus Richtung Süden kommend, in einer weiten Linkskurve Moormerland und folgt dem Lauf der wenige Kilometer entfernt fließenden Ems. Der Autobahnabschnitt zwischen Neermoor und Riepe ist der älteste der A 31 und wurde 1975 fertiggestellt. Von etwas geringerer Bedeutung für die Gemeinde sind die Anschlussstellen Leer-West, Leer-Nord und Leer-Ost an der A 31/A 28, abhängig von der Herkunft der Reisenden innerhalb des Gemeindegebietes und dem Fahrtziel. An der Anschlussstelle Neermoor beginnt die Bundesstraße 70. Sie verläuft zunächst etwa zwei Kilometer in Ost-West-Richtung und ändert ihre Richtung im Ortskern von Neermoor. Von führt sie in südlicher Richtung weiter und verlässt das Gemeindegebiet etwa einen Kilometer vor der Anschlussstelle Leer-Nord. Die Landesstraße 1 führt von Oldersum nördlich zur Autobahn und weiter nach Aurich. Von Emden kommend, verläuft die L 2 am Emsdeich entlang nach Oldersum und Terborg, wo sie landeinwärts nach Neermoor abknickt. Von der Autobahn-Anschlussstelle Neermoor führt die L 14 nach Nordosten über Warsingsfehn in Richtung Timmel und Aurich. Die L 24 von der Autobahn-Anschlussstelle Veenhusen in Richtung Hesel ist die ehemalige Bundesstraße 530, die nach der Fertigstellung des Autobahndreiecks Leer (A 28/A 31) in den 1990er Jahren zur Landesstraße herabgestuft wurde. Vor dem Lückenschluss nahm sie den Verkehr der A 31 aus Richtung Emden auf, der über Hesel zur A 28 in Richtung Oldenburg geleitet wurde. Daraus stammt der für eine Landesstraße hohe Ausbaustandard mit einer Hochstrecke auf einem Damm, zwei höhenungleichen Kreuzungen mit Auffahrten (in Veenhusen und im Südosten Jheringsfehns) sowie breiten Standstreifen. Durch die Gemeinde führt die Bahnstrecke Rheine–Norddeich Mole, die Züge halten jedoch nicht in Moormerland. Die Bahnhöfe in Neermoor und Oldersum wurden 1979 stillgelegt. Die nächstgelegenen Haltepunkte sind die Bahnhöfe in den Nachbarstädten Leer und Emden. Sie bieten tägliche Intercity-Verbindungen in Richtung Bremen/Hannover und Münster/Köln, der Bahnhof in Leer darüber hinaus eine zweistündliche Verbindung nach Groningen. Oldersum hat einen kleinen Hafen an der seeschiffstiefen Ems. Im Hafen ist eine kleinere Werft ansässig. Oldersum ist auch der Endpunkt des Ems-Seitenkanals, der im Emder Hafen beginnt und parallel zur Ems entlangführt. Er wurde im Zuge des Baus des Dortmund-Ems-Kanals angelegt, damit Binnenschiffe, die emsaufwärts fuhren, nicht durch die Große Seeschleuse in Emden geschleust werden mussten: Die Binnenschiffe wurden dadurch nicht dem Seegang auf dem Dollart ausgesetzt. Stattdessen fuhren sie bis Oldersum und wurden dort in die Ems geschleust. Der Seitenkanal hat aber ebenso wie die Fehnkanäle heute für die kommerzielle Binnenschifffahrt keine Bedeutung mehr und dient nur noch dem Ausflugsverkehr. Die nächstgelegenen Flugplätze liegen in Emden und Leer, wobei sich der Leeraner Flugplatz unmittelbar hinter der Südgrenze des Gemeindegebietes befindet. Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen mit Linienverkehr ist in Bremen. Medien Moormerland gehört zum im Verbreitungsgebiet der Ostfriesen-Zeitung, die praktisch eine Monopolstellung in der Gemeinde hat. Lediglich im äußersten Nordwesten der Gemeinde, an der Grenze zu Emden, ist zum Teil die Emder Zeitung verbreitet. Verschiedene anzeigenfinanzierte Blätter (Neue Zeitung, Sonntags-Report und andere) erscheinen wöchentlich beziehungsweise monatlich und ergänzen die lokale Berichterstattung. Aus der Gemeinde berichtet zudem der Bürgerrundfunksender Radio Ostfriesland. Öffentliche Einrichtungen Neben der Gemeindeverwaltung und ihren Betrieben in Moormerland ist in Warsingsfehn eine Polizeistation eingerichtet. Ihr Einsatzgebiet umfasst neben Moormerland die Samtgemeinden Hesel und Jümme sowie die Gemeinde Uplengen. Der Entwässerungsverband Oldersum und die Moormerländer Deichacht, beides Körperschaften öffentlichen Rechts, haben ihren Sitz in Oldersum. Sie sind für den Deichbau und -erhalt sowie die Entwässerung des Verbandsgebietes zuständig, das das gesamte Gemeindegebiet Moormerlands, aber auch weite Teile des Hinterlands bis in die Gemeinde Großefehn, umfasst. Behörden wie Finanzamt, Arbeitsagentur, Amtsgericht, Katasteramt befinden sich im benachbarten Leer, wo auch die Kreisverwaltung ihren Sitz hat und sich die nächstgelegenen Krankenhäuser befinden. Der Rettungsdienst wird vom DRK organisiert, das Rettungswachen in Leer und Hesel unterhält. Für die Feuerbekämpfung sind Freiwillige Feuerwehren zuständig. Bildung Im Schulzentrum Moormerland in Warsingsfehn ist die Integrierte Gesamtschule (IGS). Grundschulen gibt es in den Ortsteilen Oldersum, Neermoor, Veenhusen, Jheringsfehn und Warsingsfehn, in letzterem zwei. Die Schule am Fehntjer Berg in Warsingsfehn ist eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen. In Veenhusen befindet sich die Freie Christliche Schule Ostfriesland, die als Gesamtschule mit den Jahrgängen 1 bis 13 konzipiert ist. Träger der Schule ist der Verein für Evangelische Schulerziehung in Ostfriesland (VES), in dem sich Eltern und Förderer aus verschiedenen Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften zusammengeschlossen haben. Ein Gymnasium gibt es in Moormerland nicht, die nächstgelegenen sind das Ubbo-Emmius-Gymnasium und das Teletta-Groß-Gymnasium in Leer. Dort sind auch berufsbildende Schulen zu finden. Für die frühkindliche Bildung stehen in der Gemeinde Moormerland sieben Kindergärten und Kindertagesstätten zur Verfügung: drei in Veenhusen und je eine(r) in Jheringsfehn, Neermoor, Oldersum und Warsingsfehn. Unter den drei Veenhuser Einrichtungen befindet sich die der Baptistengemeinde verbundene Kindertagesstätte Spatzennest. Seit 2006 betreibt die Gemeinde ein eigenes Sozialwerk, dem die Tagesstätte und die sozialpädagogische Einrichtung Moormerland-Kids angehören. Die nächstgelegene Fachhochschule ist die Hochschule Emden/Leer, die nächstgelegene Universität die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Gemeinde Zu den berühmtesten Personen, die auf dem Gebiet der Gemeinde geboren wurden, zählen mehrere Wissenschaftler. Auch drei regionale Abgeordnete im Niedersächsischen Landtag und im Deutschen Bundestag befinden sich unter den Söhnen und Töchtern der Gemeinde. Der ostfriesische Häuptling Uko Fockena wurde vermutlich in Oldersum geboren. Im Bereich der Wissenschaft sind der Theologe und Heimatforscher Otto Galama Houtrouw (geboren 1838 in Gandersum) und der Archäologe Habbo Gerhard Lolling (geboren 1848 in Tergast) zu nennen. Ebenfalls als Heimatforscher war Gerhard Canzler tätig, der 1929 in Neermoor das Licht der Welt erblickte. Ommo Grupe (geboren 1930 in Warsingsfehn) gilt als Nestor der deutschen Sportwissenschaft: Er habilitierte sich 1968 als Erster in dieser Disziplin in der Bundesrepublik. Der Volkswirtschaftler und frühere Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft Johann Eekhoff wurde 1941 in Boekzetelerfehn geboren. Weitere bekannte Söhne Moormerlands sind Johann Temmen, geboren 1886 in Neermoor, SPD-Bundestagsabgeordneter während der ersten Wahlperiode von 1949 bis 1953, Harm Weber, 1928 in Warsingsfehn geboren, Bürgermeister und SPD-Landtagsabgeordneter, sowie Anton Lücht, geboren 1948 in Warsingsfehn, der bis 2014 Bürgermeister der Gemeinde war und von 1998 bis 2003 für die Sozialdemokratische Partei dem Niedersächsischen Landtag angehörte. Weitere Persönlichkeiten Der ostfriesische Häuptling Focko Ukena, geboren in Dykhusen in der heutigen Provinz Groningen (Niederlande), war im 15. Jahrhundert der Gegenspieler der mächtigen ostfriesischen Häuptlingsfamilie tom Brok. Er war vermutlich der jüngste Sohn Ukos, des Häuptlings von Neermoor. Nach dem Beamten Sebastian Eberhard Jhering (1700–1759), Urgroßvater des Juristen Rudolf von Jhering, wurde der Ortsteil Jheringsfehn benannt. Der 1889 in Esens geborene Pastor und Astronom Johann Gerhard Behrens, der sich als Pastor gegen das NS-Regime auflehnte, verbrachte die Zeit seines Vikariats in Warsingsfehn und starb später auch dort. Ehrenbürger Der frühere Moormerländer Bürgermeister, Landrat des Landkreises Leer und SPD-Landtagsabgeordnete Harm Weber ist seit 2008 Ehrenbürger der Gemeinde. Literatur Rita Badewien, Otto Saathoff, Bernhard Müller: Moormerland im Wandel 1973–1998. Hrsg. von der Gemeinde Moormerland, Verlag Sollermann, Leer 1999, ISBN 3-928612-50-6. (Das Autorenteam beschreibt mit dieser Foto-Dokumentation die Entwicklung des Moormerlands von der Gründung der Großgemeinde im Jahre 1973 bis zum Jahr 1998. Eingebunden sind auch historische Informationen aus der Zeit vor der Kommunalreform.) Ekkehard Wassermann: Siedlungsgeschichte der Moore. In: Karl-Ernst Behre, Hajo van Lengen (Hrsg.): Ostfriesland – Geschichte und Gestalt einer Kulturlandschaft. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1995, ISBN 3-925365-85-0, S. 93–112. (Der Autor beschreibt die Besiedlung der Moore in Ostfriesland und geht dabei auch auf die Upstreek-Siedlungen (Rorichmoor, Ayenwolde, Hatshausen) und Fehnsiedlungen (Warsingsfehn, Jheringsfehn, Boekzetelerfehn) in der Gemeinde Moormerland ein.) Daneben sind die folgenden Werke, die sich mit Ostfriesland im Allgemeinen beschäftigen, auch für die Historie und Beschreibung der Samtgemeinde insofern bedeutsam, als sie einzelne Aspekte beleuchten: Heinrich Schmidt: Politische Geschichte Ostfrieslands. Rautenberg, Leer 1975, . (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 5) Wolfgang Schwarz: Die Urgeschichte in Ostfriesland. Verlag Schuster, Leer 1995, ISBN 3-7963-0323-4. Karl-Heinz Sindowski u. a.: Geologische Entwicklung von Ostfriesland. Deichacht Krummhörn (Hrsg.). Selbstverlag, Pewsum 1969, . (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 1) Menno Smid: Ostfriesische Kirchengeschichte. Selbstverlag, Pewsum 1974, . (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 6) Harm Wiemann, Johannes Engelmann: Alte Wege und Straßen in Ostfriesland. Selbstverlag, Pewsum 1974, . (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 8) Weblinks Offizielle Seite der Gemeinde Moormerland Einzelnachweise Ort im Landkreis Leer Gemeindegründung 1973
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https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge%20Neuseelands
Flagge Neuseelands
Die Flagge Neuseelands wird in ihrer jetzigen Form bereits seit dem Jahr 1869 verwendet. Sie wurde mit dem am 12. Juni 1902 die offizielle Nationalflagge des Pazifikstaates. Die Flagge basiert auf der britischen . Beschreibung und Bedeutung Aufbau Die Flagge lässt sich in zwei Bereiche, die sich auf dunkelblauem Hintergrund befinden, unterteilen: Der , die Flagge der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien, befindet sich in der vorderen oberen Ecke der neuseeländischen Flagge und stellt deren Gösch dar. Die Benutzung des symbolisiert die Verbundenheit zum Vereinigten Königreich und die Mitgliedschaft Neuseelands im . Bei einer Flaggengröße von 240 cm Breite und 120 cm Höhe nimmt die Nationalflagge des Vereinigten Königreichs genau ein Viertel der Gesamtfläche ein und ist somit 120 cm breit und 60 cm hoch. Auf dem Flugteil befinden sich auf blauem Grund vier fünfzackige und von einer jeweils 1 cm starken weißen Einfassung umrahmte rote Sterne. Diese stellen das Sternbild Kreuz des Südens dar, das Neuseelands Lage auf der Südhalbkugel zum Ausdruck bringen soll. Es handelt sich hierbei nicht um ein symmetrisch angeordnetes Kreuz. Während der oberste, 12 cm breite, den Gacrux symbolisierende und der unterste, 14 cm breite, den Acrux darstellende Stern jeweils 24 cm vom oberen und unteren Flaggenende entfernt angeordnet sind und deren Verbindungsachse parallel zu den Flaggenseiten ausgerichtet ist, beschränkt die Anordnung der beiden anderen Sterne die Symmetrie erheblich: Sie liegen auf einer im mathematisch negativen Drehsinn um 82° zur Vertikalachse gedrehten Gerade; der rechte, der den Decrux darstellt, mit einem Durchmesser von 10 cm in einer Entfernung von 24 cm zum Schnittpunkt beider Achsen, der linke, der für den Becrux steht (mit einem Durchmesser von 12 cm) in einer Entfernung von 28 cm zum selben Schnittpunkt. Der kleinste Stern des Kreuz des Südens, , fehlt in der Flagge Neuseelands, während in der Flagge anderer südpazifischer Länder (Australien und Papua-Neuguinea) alle 5 Sterne des Sternbilds vorkommen. Farbgebung Sämtliche in der neuseeländischen Flagge vorkommenden Farben orientieren sich an der Farbgebung des britischen Union Jack, der ja das vordere obere Viertel der Flagge einnimmt. Die Angaben in HTML, im RGB-Farbraum, im CMYK-Farbmodell sowie als Pantone-Farbe stellen nicht genau denselben Farbton dar, sondern entsprechen einander nur ungefähr. Geschichte Flagge der Vereinigten Stämme (1834–1840) Die Idee, Neuseeland durch eine Flagge zu repräsentieren, kam zum ersten Mal 1830 auf. In diesem Jahr beschlagnahmten Zollbeamte im Hafen von Sydney ein am gefertigtes Handelsschiff, die , da keine Flagge dessen Herkunft anzeigte. Zu dieser Zeit wurde in Australien, Neuseelands wichtigstem Handelspartner, britisches Schiffsrecht angewandt. Dieses schrieb vor, dass jedes Schiff eine offizielle Bescheinigung mit sich führen musste, die Aufschluss über Bauort, Besitzer und eben Nationalität gab. Da Neuseeland zu diesem Zeitpunkt noch keine Kolonie des Vereinigten Königreiches war, konnte kein neuseeländisches Schiff unter britischer Flagge fahren. Und ohne eine Flagge, die die Herkunftsnation repräsentiert, würden Schiffe auch in Zukunft beschlagnahmt werden. Zum Zeitpunkt der Beschlagnahmung der befanden sich unter anderem zwei hohe -Anführer an Bord des Schiffes. Als diese Nachricht schließlich Neuseeland erreichte, waren viele äußerst empört über das Vorgehen der australischen Beamten. Auch in wurde man vermehrt auf die Notlage der Neuseeländer aufmerksam und es regten sich Sympathien für den kleinen Nachbarn. So verlangte zum Beispiel die wöchentlich erscheinende Zeitung eine Gesetzesänderung, um den Neuseeländern jegliche Hindernisse, die den aufblühenden Handel mit behinderten, aus dem Weg zu schaffen. Obwohl man der im August 1831 schließlich eine vorübergehende Handelslizenz gestattete, sah man es als notwendig an, eine eigene Flagge einzuführen. Nachdem britischer von Neuseeland geworden war, machte er der Kolonialverwaltung von klar, dass Neuseeland eine Flagge benötigte. Neben der Lösung der Handelsprobleme mit Australien hoffte er, mit der Einführung einer im ganzen Land geltenden Nationalflagge die zahlreichen -Stämme zur Zusammenarbeit bewegen und damit den Weg für eine zentrale Regierung in Neuseeland ebnen zu können. Einen australischen Vorschlag mit vier dunkelblauen, längs verlaufenden Streifen und dem in der linken oberen Ecke lehnte sofort ab, da er kaum die Farbe Rot enthielt, die für die von außerordentlicher Bedeutung ist. Am 20. März 1834 schließlich wählten 25 -Anführer sowie zahlreiche Missionare, Siedler und Kommandeure anliegender Schiffe unter drei Vorschlägen eine – später als (deutsch: Flagge der Vereinigten Stämme Neuseelands) bekannte – Flagge aus. Diese war von einem Missionar der , , entworfen worden. Ihr Hauptbestandteil ist ein rotes Georgskreuz auf weißem Grund, das die Flagge in vier gleich große Abschnitte teilt. In der linken oberen Ecke befindet sich ein weiteres rotes Georgskreuz auf blauem Grund. Auf jedem der blauen Felder ist ein weißer Stern eingezeichnet. Unstimmigkeiten gab es nur in Bezug auf die Rahmenfarbe des kleinen Kreuzes (schwarz oder weiß) sowie auf die Anzahl der Zacken der Sterne (8 oder 5). Der Union Jack (1840–1902) Nach der Unterzeichnung des Vertrags von wurde die Flagge der Vereinigten Stämme Neuseelands mitunter gewaltsam durch den des Vereinigten Königreiches ersetzt. Damit waren vor allem zahlreiche -Stämme nicht einverstanden, da die neue Staatsflagge ein Symbol der „Macht der Briten über die “ sei. Sie verlangten, dass die alte Flagge Neuseelands parallel zum gezeigt werden müsse. Die klare Ablehnung der neuen Nationalflagge wurde zum Beispiel am Vorgehen eines Anführers, , deutlich, als er zwischen 1844 und 1846 wiederholt den symbolisch wichtigen ersten Flaggenmast des Landes in niederschlug und damit die Neuseelandkriege auslöste. Zur See wurde Neuseeland bis 1865 auch durch britische Marine- und Handelsflaggen repräsentiert. Der selbst stellte bis zur offiziellen Einführung der aktuellen Flagge im Jahr 1902 die Nationalflagge des Pazifikstaates dar und wurde teilweise bis in die 1950er-Jahre parallel zu heutigen Fahnen gezeigt. Heutzutage wird der nur noch beim Besuch wichtiger britischer Staatsgäste gehisst. Die maritimen Ursprünge der neuseeländischen Flagge (1865–1902) Die Ursprünge der heutigen neuseeländischen Flagge reichen bis zum I aus dem Jahr 1865 zurück. Dieses Gesetz sah vor, dass alle Schiffe, die einer britischen Kolonialregierung gehörten und bis zu diesem Zeitpunkt entweder keine Flaggen, besondere Flaggen oder die Landesflagge verwendeten, zwingend mit einer fahren mussten, die in der rechten Hälfte mit dem offiziellen Abzeichen oder dem offiziellen Emblem des jeweiligen Staates zu versehen war. Da Neuseeland 1865 noch über kein eigenes Abzeichen oder Emblem verfügte, wurde eine simple ohne jegliches charakteristisches Unterscheidungsmerkmal benutzt. Als die neuseeländischen Dampfer und auf britische Schiffe stießen, wurden sie gerügt, weil sie unter keiner eigenen fuhren. Dieses peinliche Aufeinandertreffen veranlasste die neuseeländische Regierung dazu, eine eigene Ensign zu entwerfen. Zahlreiche Vorschläge gingen ein – beispielsweise sollte unter einem Siegel Neuseelands der Staatsname eingefügt werden. Da diese Kombination zu aufwändig war, gab es Überlegungen, stattdessen mit vier roten Sternen, die jeweils weiß eingerahmt werden sollten, das „Kreuz des Südens“ zu symbolisieren. Dieser Vorschlag wurde aber als zu wenig charakteristisch für Neuseeland angesehen. 1867 schließlich entschied sich die Regierung für die beiden Buchstaben „NZ“, die in roter Schrift mit einer weißen Umrahmung auf der neuseeländischen prangen sollten. Diese Flagge hatte jedoch nur kurz Bestand, denn schon zwei Jahre später wurde die Buchstabenkombination durch den vorangegangenen Vorschlag – das Kreuz des Südens – ersetzt; damit war die heutige neuseeländische Flagge geboren. Obwohl diese Flagge offiziell nur zur Verwendung auf hoher See bestimmt war, wurde sie immer öfter in Neuseeland selbst benutzt, auch wenn der weiterhin die Nationalflagge des Landes blieb. Weitere Verwirrung verursachte ein neuartiges internationales Signalbuch im Jahr 1899, das noch im selben Jahr eine neue neuseeländische Signalflagge einführte. Diese ähnelte der damaligen Seeflagge des Landes, doch unter dem Kreuz des Südens befand sich nun eine weiße Scheibe. Ursprünglich war auch diese Fahne nur zur Verwendung auf See oder in fremden Häfen gedacht, doch schon bald befand sie sich an öffentlichen Gebäuden und wurde zu Werbezwecken benutzt. Die Signalfahne mit dem weißen Kreis war Mittelpunkt vieler Debatten im neuseeländischen Parlament; die ursprüngliche Seeflagge Neuseelands sei hierdurch verstümmelt worden, hieß es etwa. Mit dem Ausbruch des Burenkriegs, an dem sich auch Neuseeland beteiligte, und nachfolgend einem erstarkenden Patriotismus gewannen Nationalsymbole an Bedeutung; dem damaligen Premierminister von Neuseeland war das ganze Durcheinander um die Flagge allerdings peinlich. Deswegen hatte er im Sinn, die ursprüngliche Neuseelands (ohne die weiße Scheibe) zur Nationalflagge des Landes zu machen. Im Vereinigten Königreich stieß das Vorhaben zuerst auf Widerstand, da die ursprünglich nur von Schiffen, die dem Staat gehörten, benutzt werden durfte. Mit Einschränkungen und nach Ausräumung kleinerer Unstimmigkeiten konnte das Vorhaben dennoch realisiert werden. So wurde Ende des Jahres 1901 beispielsweise festgelegt, dass in der Flagge nur vier Sterne vorkommen, nicht fünf wie in den meisten Flaggen, die auch das Kreuz des Südens verwenden. Am 24. März 1902 billigte König Eduard VII. schließlich das Gesetz, das am 12. Juni 1902 durch den neuseeländischen Gouverneur in der veröffentlicht wurde. Die Flaggendebatte Überblick über den Stand der Debatte Seit einigen Jahren gibt es immer wieder Vorschläge, die aktuelle Nationalflagge durch eine neue zu ersetzen. 1998 unterstützte die damalige Premierministerin das Vorhaben der Kulturministerin , eine neue Nationalflagge einzuführen. Zustimmung erhielt das Vorhaben auch vom neuseeländischen Tourismusverband (). Dabei bevorzugte sie die Silberfarn-Flagge, die ein neuseeländisches Nationalsymbol zeigt und damit den Prinzipien der Ahornblattflagge folgt. Die Diskussion nahm aber ein Ende, als bekannt wurde, dass der Verband Werbeverträge mit der Agentur abgeschlossen hatte. Deren damaliger Vorsitzender , ebenfalls ein Verfechter der Silberfarn-Flagge, war zudem ein guter Freund von . Eine weitere groß angelegte Aktion zur Änderung der Nationalflagge begann im Jahr 2003, als vom er Unternehmer der gegründet wurde. Diese Stiftung verfolgte das Ziel, ein unverbindliches Referendum zu diesem Thema herbeizuführen. Nach neuseeländischem Recht können Volksbegehren nur abgehalten werden, wenn sich mindestens 10 % der wahlfähigen Gesamtbevölkerung in eine Liste eintragen, die dann dem Parlament vorgelegt wird. Die Erstellung einer solchen Petition begann schließlich im Jahr 2004. Als Gegenbewegung zum wurde 2005 in das gegründet, das gegen eine Volksabstimmung war, die alte Nationalflagge des Landes verteidigte und versuchte, den Neuseeländern die Symbolik der veränderten britischen deutlich zu machen. Zur Überraschung einiger Anhänger dieser Bewegung sprach sich die (RSA), Neuseelands größte Organisation für Kriegsveteranen, nicht explizit für die Beibehaltung der alten Flagge aus, da sie sich nicht in die Politik einmischen wollte. Trotz alledem verfehlte die Petition das Ziel, bei den Parlamentswahlen im September 2005 vorgetragen zu werden. Die ganze Aktion wurde im darauf folgenden Juli beendet. Statt der benötigten 270.000 trugen sich nur etwa 100.000 Neuseeländer in die Liste ein. Während das das Fehlschlagen des Projekts als Unterstützung für die aktuelle Nationalflagge wertete, begründete der sein Scheitern mit dem mehrheitlichen Desinteresse der neuseeländischen Bevölkerung an einer Veränderung. Während sich im Juli 1999 ca. 64 % der Einwohner des Landes gegen und nur ca. 24 % für einen Wechsel aussprachen, waren 2004 noch 59 % gegen eine neue Nationalflagge. Die Zahl der Befürworter einer neuen Flagge stieg indessen auf 37 %. 2014 bis 2016: Auf dem Weg zum Referendum Im März 2014 kündigte Premierminister an, dass binnen drei Jahren ein Referendum über die Einführung einer neuen Flagge abgehalten werden solle. Die Oppositionsparteien unterstützten dies und sagten zu, im Falle eines Regierungswechsels an dem Vorhaben festzuhalten. Nach Ansicht von sollte die neue Flagge diejenige mit dem weißen Silberfarn auf schwarzem Grund sein, er sei aber für weitere Vorschläge offen. Im Jahr 2015 wurde eine 12-köpfige Kommission beauftragt, die Flaggendebatte landesweit voranzubringen; am Ende sollte in einem ersten Referendum der beste aus vier Entwürfen (im September 2015 um einen fünften Entwurf ergänzt) ausgewählt werden. Dieser wurde dann in einem zweiten Referendum von 3. bis 24. März 2016 als Ersatz der bisherigen Flagge von den Wählern abgelehnt. (Weiter unten sind noch andere Entwürfe dargestellt.) Option B war ein bekannter Entwurf von aus . Die Flagge, die der momentanen zumindest entfernt ähnlich sieht, wurde im Jahr 2000 entworfen und erregte 2004 die Aufmerksamkeit der neuseeländischen Öffentlichkeit, als sie bei einem Wettbewerb den ersten Platz belegte. Im darauf folgenden Jahr wurde sie sogar im Fernsehen auf TV3 gezeigt. Der Silberfarn repräsentiert die Menschen Neuseelands, die vier Sterne das Kreuz des Südens und damit die Lage des Pazifikstaates. Die blaue Farbe weckt Assoziationen an den Ozean, der das Land umgibt, die rote Farbe steht sowohl für die als auch für die Zeiten des Krieges, während das Weiß des Farns das „Land der langen weißen Wolke“, wie , die -Bezeichnung Neuseelands meist übersetzt wird, symbolisiert. Das erste Referendum Die Frage des ersten Referendums lautete: Die Abstimmung erfolgte nach dem Wahlsystem , d. h. die Wähler konnten die Vorschläge entsprechend ihrer Präferenz durchnummerieren (1. – 2. – 3. – 4. – 5. Präferenz). Da in der ersten Abstimmungsrunde keiner der fünf Entwürfe die Mehrheit der Erste-Präferenz-Stimmen erzielte, wurde der Entwurf mit der niedrigsten Erste-Präferenz-Stimmenzahl eliminiert und alle nachfolgenden rückten auf den Stimmzetteln eine Position auf. Anschließend wurden erneut die Erste-Präferenz-Stimmen gezählt. Dies wurde so lange wiederholt, bis ein Entwurf die Mehrheit der Erste-Präferenz-Stimmen hatte. Die Abstimmung fand vom 20. November 2015 bis 11. Dezember 2015 statt. Am 15. Dezember wurden die Ergebnisse bekanntgegeben. Die Entscheidung fiel dabei sehr knapp zwischen den beiden Silberfarn-Entwürfen von . Nicht transferierbare Stimmen bezeichnet die Stimmzettel, bei denen keine Präferenzen in die nächste Auszählungsrunde transferiert werden konnten, weil alle Optionen verbraucht waren. Dies konnte dann vorkommen, wenn die Wähler nicht alle Präferenzen auf dem Stimmzettel ausgenutzt hatten. Konkretes Beispiel: Es wurde Option C als erste und Option A als zweite Präferenz auf dem Stimmzettel angekreuzt. Dann wurde die Stimme in der dritten Auszählung als nicht transferierbar gewertet. Informelle Stimmen waren solche, bei denen der Wähler nicht eindeutig seine erste Präferenz gekennzeichnet hatte. Ungültige Stimmen waren solche, die nicht lesbar waren oder aus formalen Gründen als ungültig gewertet wurden. Das zweite Referendum Ein zweites Flaggenreferendum wurde vom 3. bis 24. März 2016 abgehalten. Hier wurden die Wähler gefragt, welche Flagge sie bevorzugen: den Siegerentwurf aus dem ersten Referendum oder die bisherige Flagge. Eine mögliche Reform hing also vom Ausgang dieses Referendums ab. Auf dem Wahlzettel waren die beiden Flaggenentwürfe im Miniaturformat in Farbe abgebildet. Einer der beiden Entwürfe war anzukreuzen. Argumente für die Beibehaltung der alten Flagge Das ist gegen die Einführung einer neuen Nationalflagge und für die Beibehaltung der alten. Seine wichtigsten Argumente sind: Sie ruft Emotionen bei Neuseeländern hervor. Die Flagge legt unmissverständlich die gemeinsame Geschichte mit dem Vereinigten Königreich innerhalb des Britischen Imperiums und nun des dar. Des Weiteren gibt sie Aufschluss über Neuseelands Lage auf der Südhalbkugel. Gegner einer neuen Flagge bemängeln, die meisten Vorschläge seien auf die oder Polynesien fixiert, obwohl ein Großteil der neuseeländischen Bevölkerung angelsächsischer oder keltischer Abstammung ist. Ein Argument für die Beibehaltung der aktuellen Flagge ist das farbenfrohe Design. Gegen die Einführung einer Flagge mit einem Silberfarn als Motiv spricht, dass diese Pflanze bereits seit 1893 offizielles Logo der , der neuseeländischen -Nationalmannschaft ist und daher meist mit Sport assoziiert wird. Einer der wichtigsten Punkte für die alte Flagge ist, dass viele Neuseeländer unter ihr in mehrere Kriege gezogen sind und dass die Einführung einer neuen Flagge daher das Gedenken an die Kriegsveteranen beeinträchtigen würde. Schließlich begründen die Befürworter der aktuellen Nationalflagge ihre Haltung mit der Tatsache, dass Neuseeland schon über 100 Jahre durch diese Flagge repräsentiert wird. Argumente für die Einführung einer neuen Flagge Der NZFlag.com Trust bemüht sich um die Einführung einer neuen Nationalflagge mit folgenden Argumenten: Die aktuelle Flagge ist eine verunstaltete britische Blue Ensign und lässt den Gedanken aufkommen, Neuseeland sei weiterhin eine Kolonie oder ein Landesteil des Vereinigten Königreiches. Des Weiteren lässt sie Neuseelands Lage im polynesischen Kulturraum im Allgemeinen sowie die , das indigene Volk des Pazifikstaates, im Speziellen unberücksichtigt. Außerdem hat die Flagge allein vom Aussehen her nur wenig Verbindung zum Land selbst. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Einführung einer neuen Flagge ist die Tatsache, dass die neuseeländische Flagge oft mit denen vieler anderer Länder, die ebenfalls auf einer Blue Ensign basieren (vor allem der australischen Flagge, von der sie sich im Wesentlichen nur in der Farbe und Anzahl der Sterne unterscheidet) verwechselt wird. Zudem hätte eine neue Flagge mit einem Silberfarn als Motiv einen besonderen Bezug zur Geschichte Neuseelands. Denn schon seit dem Burenkrieg stellt der Silberfarn ein neuseeländisches Militärabzeichen dar. Diese Tradition wurde sowohl im Ersten Weltkrieg als auch im Zweiten Weltkrieg fortgeführt. Daher ist der Silberfarn schon heute ein Nationalsymbol des Landes, das zum Beispiel im neuseeländischen Wappen und auf der 1-Dollar-Münze vorkommt. Zu guter Letzt bemängeln die Befürworter einer neuen Flagge das mangelnde Nationalgefühl in Bezug auf die britisch orientierte Flagge. Während viele Menschen in Kanada, den Vereinigten Staaten stolz ihre eigenen Nationalflaggen hissen, die in den jeweiligen Ländern längst zu Nationalsymbolen geworden sind, können sich die Neuseeländer mit ihrer eigenen nationalen Identität nicht mit der veränderten identifizieren. Vorschläge der Befürworter Unter den Befürwortern einer neuen Nationalflagge herrscht keine Einigkeit über das zukünftige Aussehen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurden bereits zahlreiche Flaggenwettbewerbe abgehalten, zu denen jeder seine eigenen Vorschläge beisteuern konnte. Neben der oben gezeigten Flagge mit dem von einer schwarzen Fläche umgebenden Silberfarn als Hauptmotiv, die die neuseeländischen Nationalfarben (Schwarz/Silber) enthält und vom bevorzugt wird, existieren noch zahlreiche weitere Vorschläge, die zum Teil erhebliches Interesse unter der neuseeländischen Bevölkerung hervorgerufen haben. Der Wahl-Neuseeländer Friedensreich Hundertwasser entwarf 1983 die Koruflagge, die inzwischen eine geschichtsreiche Alternative zur offiziellen Nationalflagge des Landes darstellt. Hauptmotiv dieser weißen Flagge, die links mit einem schwarzen Streifen versehen ist, bildet der , ein stilisiert dargestellter, sich entrollender Farnwedel, der inzwischen nicht mehr nur für die , sondern auch für die nationale Identität selbst eine große Rolle spielt. Auf diese Fahne trifft man im ganzen Land relativ häufig, besonders bei Anhängern der alternativen Subkultur. Weitere Flaggen in Zusammenhang mit Neuseeland Alle Schiffe der Royal New Zealand Navy müssen unter der New Zealand White Ensign, der neuseeländischen Seekriegsflagge, fahren. Zugleich wird die Fahne vor allen Einrichtungen der neuseeländischen Marine gehisst. Die Flagge selbst ersetzte erst im Jahr 1968 die zuvor gebräuchliche britische White Ensign, auf der ihr neuseeländisches Pendant basiert. In der vorderen oberen Ecke befindet sich der Union Jack, während die rechte Hälfte von vier roten, fünfzackigen Sternen auf weißem Hintergrund, die das Kreuz des Südens repräsentieren, dominiert wird. Die neuseeländische hat die britische zum Vorbild. Sie setzt sich aus dem in der vorderen oberen Ecke und vier weißen, fünfzackigen Sternen auf rotem Grund zusammen, die für das Kreuz des Südens stehen. Diese Flagge wurde im Jahr 1901 als Ersatz für die einfache britische eingeführt und übernahm ihre Rolle als Handelsflagge, unter der alle Schiffe der neuseeländischen Handelsmarine fahren mussten. Heutzutage müssen Schiffe, die der neuseeländischen Regierung gehören, aber nicht zur gehören, unter der Nationalflagge fahren. Alle anderen neuseeländischen Schiffe können frei zwischen der Nationalflagge, der und weiteren, vom Generalgouverneur Neuseelands erlaubten Flaggen entscheiden. Obwohl die Flagge eigentlich nur für den Einsatz auf hoher See gedacht war, wurde den , die von jeher die rote Farbe auf Flaggen bevorzugen (zuletzt im Flags, Emblems, and Names Protection Act aus dem Jahr 1981 zugesichert), gestattet, die auch zu Land verwenden zu dürfen. Außerdem ist es in Neuseeland im Hinblick auf langjährige -Traditionen erlaubt, offizielle Flaggen zu verändern. So benutzen viele -Stämme nicht nur eine einfache neuseeländische , sondern auch eine, auf der in der unteren Hälfte der Name des Stammes steht. Die neuseeländische wird im informellen Gebrauch an Land mehr und mehr durch eine neue -Flagge ersetzt, auf der jeglicher Bezug zur ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien fehlt. Diese Flagge wurde im Jahr 1990 von , und entworfen und in einem nationalen Flaggenwettbewerb als Sieger auserkoren. Seitdem diente sie als Symbol für , der Unabhängigkeitsbewegung der , und wurde von immer mehr Vertretern dieser Bevölkerungsgruppe benutzt. Seit 2009 ist sie die offizielle Flagge der und wird neben der Nationalflagge Neuseelands am gesetzt. Das Schwarz im oberen Teil der Flagge repräsentiert , den Bereich des möglichen Seins (englisch: ) und damit die lange Dunkelheit, aus der die heutige Welt hervorging. Das Weiß in der Mitte der Flagge steht für , den Bereich des Seins und des Lichts (englisch: ), stellt also die momentane Welt dar, die Reinheit, Harmonie und Erleuchtung symbolisiert. Das Rot, das den unteren Teil der Flagge dominiert, steht in diesem Zusammenhang für , also etwa das zukünftige Sein (englisch: ). Doch Rot spielt bei den eine noch weitaus größere Rolle: Aus der Farbe Rot wurden nämlich die ersten Menschen erschaffen. Die verwundene Stelle in der vorderen Hälfte der Flagge schließlich stellt ein , ein junges, sich entfaltendes Farnblatt dar. Es steht für die Entstehung von neuem Leben, für Wiedergeburt, für Erneuerung und für die Hoffnung auf die Zukunft. Die aktuelle Flagge der Luftwaffe, der (RNZAF), wird meist nur noch an neuseeländischen Luftstützpunkten und zu öffentlichen Anlässen verwendet. Sie ist fast mit der Flagge der britischen (RAF) identisch. Beide tragen in der vorderen oberen Ecke den , vor einem hellblauen Hintergrund befinden sich drei jeweils konzentrische Ringe in Dunkelblau, Weiß und Rot. In der neuseeländischen Flagge aber wurde innerhalb des roten Kreises noch die Buchstabenkombination „NZ“ hinzugefügt. Auf Flugzeugen und Hubschraubern der neuseeländischen Luftwaffe wird nicht die gesamte Flagge abgebildet, sondern nur ein Emblem. Letzteres gleicht aber nicht dem Symbol auf der Flagge. Für das neuseeländische Emblem diente zwar das britische als Vorbild, doch 1957 wurde als Unterscheidungsmerkmal auf der innersten roten Scheibe noch ein weißer Silberfarn hinzugefügt. Wegen der nicht gewünschten Ähnlichkeit mit einer Feder wurde der Farn jedoch bald darauf nur noch silbern verwendet. Weil diese Veränderung an den aluminiumfarbenen Flugzeugen jedoch danach aussah, als sei die Farbe abgeblättert, entschied man sich am 10. Oktober 1970 dafür, die innerste rote Scheibe durch einen roten zu ersetzen. Die Flagge der zivilen Luftfahrt Neuseelands (englisch: ) besteht aus einem dunkelblauen Kreuz mit einer weißen Umrahmung, das die Fahne in vier gleich große, hellblaue Bereiche unterteilt. In der vorderen oberen Ecke befindet sich der , in der rechten unteren Ecke vier rote, fünfzackige Sterne, die das Kreuz des Südens symbolisieren. Die Flagge wird an allen Flughäfen und Flugplätzen des Landes gehisst und befindet sich an jedem neuseeländischen Flugzeug. Außerdem weht die Flagge an allen Einrichtungen des neuseeländischen Ministeriums für Zivile Luftfahrt (). Siehe auch Wappen Neuseelands Flaggenstreit Literatur Weblinks Flags of the World – New Zealand (englisch) Neuseeländisches Kulturministerium – Flagge Neuseelands (englisch) Flags, Emblems, and Names Protection Act 1981 (englisch) NZFlag.com Trust (englisch) Regierung (www.govt.nz) zum Projekt neue Flagge: Überblick über vorgeschlagene Designs: NZ Flag – Gallery The NZ flag – your chance to decide Einzelnachweise Neuseeland Britisch-neuseeländische Beziehungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische%20Sommerspiele%201972
Olympische Sommerspiele 1972
Die Olympischen Sommerspiele 1972 (offiziell Spiele der XX. Olympiade genannt) fanden vom 26. August bis zum 11. September 1972 in München statt. Das IOC vergab sie am 26. April 1966 an München, das sich gegen die Mitbewerber Montreal, Madrid und Detroit durchsetzte. Die meisten Wettkämpfe wurden im Olympiapark München ausgetragen, mit dem Olympiastadion als zentrale Arena. Kiel-Schilksee war der Veranstaltungsort der Segelwettbewerbe. Die Wettbewerbe im Kanuslalom wurden in Augsburg ausgetragen. Die Fußballspiele fanden auch in Nürnberg, Augsburg, Ingolstadt, Regensburg und Passau statt. Überschattet wurden die Spiele durch das Münchner Olympia-Attentat vom 5. September 1972, bei dem 11 israelische Athleten zunächst als Geiseln genommen und dann ermordet wurden. Die Spiele wurden nach einem Trauertag dennoch fortgesetzt. Mit 121 teilnehmenden Mannschaften und 7170 Athleten stellten die Spiele von München einen neuen Teilnehmerrekord auf. Der herausragende Sportler der Spiele war der US-amerikanische Schwimmer Mark Spitz, der sieben Goldmedaillen gewann. Die Kunstturnerin Karin Janz aus der Deutschen Demokratischen Republik war mit zwei Gold-, zwei Silber- und einer Bronzemedaille die erfolgreichste deutsche Athletin. Wahl des Austragungsortes Die Idee, München zum Austragungsort der Olympischen Sommerspiele zu machen, stammte von Willi Daume, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees. Am 28. Oktober 1965 teilte er dem Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel seine Pläne mit. Viele Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) seien nach der Anerkennung einer eigenen Olympiamannschaft der DDR bereit, sich für die Bundesrepublik Deutschland einzusetzen. Die Aussichten, die Spiele ins eigene Land zu holen, seien deshalb gut, aber in Frage käme dafür nur München. Hans-Jochen Vogels Einwand, München besitze praktisch keinerlei Anlagen für Olympische Spiele, entgegnete Willi Daume mit der Feststellung, dies sei eher ein Vorteil, weil das IOC lieber neue Stadien sehe als alte. Dem Oberbürgermeister war schnell klar, dass München damit eine große Chance geboten wurde. Im Falle eines Erfolges würden auf die Stadt eine sechsjährige Phase enormer Belastungen und hoher finanzieller Aufwand zukommen. Auf der anderen Seite würden aber in einem kurzen Zeitraum und mit einem festen Fertigstellungstermin viele neue Anlagen geschaffen, welche die Stadt seit langem benötige. Da die Austragung der Olympischen Spiele in München also eine zusätzliche Schubkraft für die Entwicklung der Stadt bedeuten würde, stimmte der Oberbürgermeister der Bewerbung zu. Binnen weniger Wochen folgte auch die Zustimmung des Bundes, des Landes, des Nationalen Olympischen Komitees und auch des Stadtrats. Die Bewerbung wurde am 31. Dezember 1965 eingereicht, obwohl das IOC die Frist auf Bitten aus Wien, Amsterdam und Detroit bis zum 20. Januar 1966 verlängert hatte. Da die niederländische Regierung aber die Finanzierung ablehnte, kam es zum Rückzug der Amsterdam-Bewerbung (mit der Ankündigung, sich für 1976 erneut bewerben zu wollen). In der 65. IOC-Sitzung in Rom fiel am 26. April 1966 die Entscheidung. Zur Wahl standen Detroit, Madrid, Montreal und München. 61 stimmberechtigte IOC-Mitglieder waren anwesend; um ein endgültiges Ergebnis zu erzielen, mussten mindestens 31 Mitglieder für eine Bewerberstadt stimmen. Vor der Entscheidung stellten sich die Bewerberstädte mit je einem Kurzfilm und einer Rede vor. Hans-Jochen Vogel sprach sechs Minuten lang frei auf Englisch, Willi Daume drei Minuten lang auf Französisch. Beide konnten sich so gegen die abgelesenen Reden ihrer Mitbewerber durchsetzen. Eine Komplikation war die Forderung von IOC-Präsident Avery Brundage, die Mannschaft der DDR nicht zu diskriminieren. Die Bundesregierung wollte sich wegen der Hallstein-Doktrin nicht schriftlich verpflichten, doch Vogel und Daume fanden einen älteren englischsprachigen Text des Bundesinnenministers und legten ihn Brundage vor, der damit zufrieden war. Organisation Das Nationale Olympische Komitee für Deutschland beschloss am 19. Mai 1966 in Kassel die Gründung des „Organisationskomitees der XX. Olympischen Spiele München 1972 e. V.“, welches sich am 3. Juli 1966 im Münchner Rathaus konstituierte. Zu den 17 Gründungsmitgliedern gehörten unter anderem Bundesinnenminister Paul Lücke, der bayerische Kultusminister Ludwig Huber und Hans-Jochen Vogel als Oberbürgermeister von München. 1968 wuchs das Organisationskomitee durch die Berufung der Vertreter der olympischen Fachverbände auf 38 Mitglieder an. 1972, im Jahr der Olympischen Spiele, war Willi Daume Präsident des Organisationskomitees, Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, Ludwig Huber und Hans-Jochen Vogel fungierten als Vizepräsidenten. Schirmherr war Gustav Heinemann, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Nachdem vorübergehend nur eine Geschäftsstelle existierte, nahm am 1. Januar 1967 das Generalsekretariat seine Arbeit auf. Dieses verfügte über 13 Abteilungen, die jeweils in Referate unterteilt waren. Insgesamt waren hier mehrere Hundert Mitarbeiter beschäftigt. Verkehr Die wichtigste Aufgabe der Abteilung „Verkehr“ war der Bau der Linie U3 im Netz der Münchner U-Bahn. Nach der Vergabe der Spiele an die bayerische Landeshauptstadt galt es, ein leistungsfähiges Verkehrsnetz aufzubauen. Der Stadtrat änderte mit seinem Beschluss vom 16. Juni 1966 die bisherigen Planungen und beschloss, dem Zubringer zum Olympiagelände Vorrang einzuräumen. Die eigentlich für das Jahr 1974 vorgesehene Eröffnung des ersten Netzabschnittes musste deutlich vorgezogen werden. Am 8. Mai 1972 erfolgte schließlich die Aufnahme des Betriebs auf der U-Bahn-Linie U3 zwischen Münchner Freiheit und Olympiazentrum, nachdem zehn Tage zuvor auch die S-Bahn ihren Betrieb aufgenommen hatte. Diese führte bis zum eigens gebauten, aber heute aufgegebenen Bahnhof München Olympiastadion. Um dem Betrieb mit den erhöhten Anforderungen während der Olympischen Spiele gerecht zu werden, lieh man von der VAG aus Nürnberg vier Züge aus, die weitestgehend baugleich zu den Münchner Wagen waren. Während der Spiele verkehrte die U3 stets im Fünf-Minuten-Takt, bei wichtigen Veranstaltungen sogar im Zweieinhalb-Minuten-Takt. In 17 Tagen wurden etwa vier Millionen Besucher befördert. „Blaue Route“ Da ein Autobahnring um München noch nicht existierte, wurde der Fernstraßenverkehr mit weiträumigen Umgehungen an München vorbeigelotst. Entlang dieser Strecken wurden die Hinweisschilder und Wegweiser an Bundesstraßen mit farbigen Punkten und Ringen gekennzeichnet. Zum Beispiel wurde die Bundesstraße 20 zwischen Straubing und Piding (bei Bad Reichenhall) südwärts mit einem blauen Punkt, nordwärts mit einem blauen Ring deutlich markiert, was der Strecke den Beinamen „Blaue Route“ eingebracht hat. Finanzierung Bei der Finanzierung der Olympischen Spiele unterschied das Organisationskomitee zwischen „olympiabedingten Belastungen“ und „Investitionen“. Schon vor der Bewerbung war vereinbart worden, dass Bund, Land und Stadt je ein Drittel der Investitionen tragen, während das Organisationskomitee seinen Aufwand voll aus eigenen Einnahmen decken sollte. 1969 entschloss sich der Bund, seinen Anteil auf 50 % zu erhöhen, wodurch die Quoten für Land und Stadt auf je 25 % sanken. Das bedeutete für München eine erhebliche Entlastung. Die Eigenfinanzierung erfolgte hauptsächlich über das olympische Münzenprogramm, das der Deutsche Bundestag am 5. Februar 1969 beschlossen hatte. Im Gesetz war die Herausgabe von fünf Silbermünzen im Nennwert von je 10 DM festgelegt. Sie wurden von den Sammlern begeistert aufgenommen, sodass sich der Münzgewinn auf mehr als 731 Millionen DM belief. Davon kamen 8 Millionen DM dem Organisationskomitee zugute, 640 Millionen DM wurden zur Finanzierung der Wettkampfstätten verwendet. Die zweite große Einnahmequelle waren die Olympia-Lotterie und die Glücksspirale, bei denen es sich um eine Geld- und Sachwertlotterie handelte. Bei einer Teilnahmegebühr von 10 Pfennig betrug der Zweckertrag der Olympia-Lotterie bis zum Jahr 1974 etwa 250 Millionen DM. Durch die Glücksspirale wurden bei einem Lospreis von 5 DM in den Jahren 1970 bis 1972 insgesamt etwa 187 Millionen DM eingespielt. Weitere Einnahmequellen waren die Ausgabe von insgesamt 29 Briefmarken in sieben Serien und verschiedene Gedenkmedaillen. Sie und die normalen Einnahmen des Organisationskomitees erbrachten die Summe von rund 1,28 Milliarden DM. Weil fast 2 Milliarden DM benötigt wurden, musste nur noch rund ein Drittel der gesamten Kosten von den Steuerzahlern getragen werden. Fackellauf Der olympische Fackellauf, der auf eine Idee des Sportfunktionärs Carl Diem (1882–1962) zurückgeht, war erstmals 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin durchgeführt worden. 1972 wurde in Griechenland eine olympische Fackel entzündet und durch 5917 Fackelläufer zur Eröffnungsveranstaltung nach München getragen. Der Lauf führte durch acht Länder über eine Distanz von 5532 Kilometern. Verantwortlich für die Organisation des Laufes war Hans-Werner von der Planitz, Reichstrainer der deutschen Marathonläufer in den 1930er Jahren. Einer seiner Mitarbeiter war Fritz Schilgen, der Schlussläufer des Fackellaufes von 1936. Der Lauf begann am 28. Juli um 12 Uhr während einer Feierstunde im Heiligen Hain des antiken Stadions von Olympia. Das Feuer wurde mit Hilfe eines Hohlspiegels entzündet. Anschließend trugen 5976 Sportler die olympische Fackel insgesamt 5538 Kilometer weit – in 29 Tagen und 7 Stunden. Erster Fackelträger war der griechische Basketballspieler Ioannis Kirkilessis. Im Anschluss führte der Lauf unter anderem über die Stationen Athen (29. Juli), Delphi (30. Juli), Istanbul (7. August), Belgrad (17. August). Am 21. August kam es nach Österreich, wo es nach Plan um 10.10 Uhr durch Doppelolympiasiegerin Ellen Müller-Preis an der ungarischen Grenze in Nickelsdorf (bei starkem Regen und kühlen Temperaturen) übernommen wurde. Um 15.20 Uhr erreichte die Flamme die Stadtgrenze von Wien, wo sie von Sissy Schwarz in Empfang genommen und danach durch Herma Bauma auf den Rathausplatz gebracht wurde, wo durch Bundespräsident Franz Jonas die feierliche Verabschiedung der Olympiamannschaft erfolgte. Danach brachten andere prominente österreichische Sportler (wie u. a. Emmerich Danzer und Rudolf Flögel) die Flamme nach St. Pölten, wo sie „übernachtete“. Die nächste Station am 22. August war Vöcklabruck, am 23. August kam sie über die Stadt Salzburg und das „deutsche Eck“ (wo ein deutscher Läufer eingesetzt war) am 24. August um 14 Uhr nach Kufstein und dann noch nach Innsbruck, und kurz vor Mitternacht war die endgültige Ankunft auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Am 26. August um 16:20 Uhr erreichte die Fackel das Olympiastadion in München. Schlussläufer des Fackellaufes war der Leichtathlet Günter Zahn, er entzündete die olympische Flamme während der Eröffnungsveranstaltung. Nach Augsburg zu den Wettbewerben im Kanusport wurde die Flamme am 27. August gebracht, letzter Fackelträger war Karl Heinz Englet, Weltmeister im Kanuslalom. Am 28. August traf das Feuer in Kiel-Schilksee ein, letzter Träger war hier der Schüler Philipp Lubinus. Die Fackel durchquerte während des Laufes Griechenland, die Türkei, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und Österreich, bevor sie schließlich in Deutschland eintraf. Die von der Firma Hagri in Kettwig im Auftrag der Krupp GmbH hergestellte Fackel aus Edelstahl bestand aus Griff, Teller und Brennrohr. Eingraviert waren das Spiralemblem in der oberen Abdeckschale des Tellers, die olympischen Ringe mit dem Text „München 1972 Spiele der XX. Olympiade“ auf dem Handrohr sowie das Zeichen und der Name der Spenderfirma Krupp auf dem Boden der Verschlusskapsel. Die Fackel war 75 Zentimeter groß und wog 1350 Gramm, insgesamt wurden 6700 Exemplare angefertigt. Das Geretsrieder Unternehmen Georg Tyczka sorgte im Verbund mit der Münchener Gloria-Gas als „Olympiagas GmbH“ für das reibungslose Abfackeln des erstmals elektronisch überwachten Flüssiggases während der Spiele. Erscheinungsbild Unter der Leitung von Otl Aicher wurde ein umfassendes Erscheinungsbild entwickelt, von dem die Sportpiktogramme, die Plakate und das Logo zum Maßstab für alle späteren Spiele und viele andere Erscheinungsbilder wurden. Hausschrift war die Univers 55; im Farbschema wurde auf die Farben Schwarz und Rot verzichtet, da dies die Farben der Diktatur 1936 waren. Das Logo Für das Logo wurden aus der Bevölkerung 2332 Entwürfe eingereicht, die das Organisationskomitee jedoch nicht befriedigen konnten. Daraufhin beauftragte das Komitee die Gruppe unter der Leitung von Otl Aicher. Eine Jury entschied sich dann für einen Entwurf von Coordt von Mannstein mit Strahlenkranz und überlagerter Spirale, welcher den Begriff „Strahlendes München“ zum Ausdruck bringen sollte. Heute wird ein ähnliches Logo noch von der Glücksspirale verwendet, allerdings farblich abgewandelt. In nahezu unveränderter Form wird das Logo hingegen vom Zentralen Hochschulsport München (ZHS) weiterverwendet, die die Zentrale Hochschulsportanlage Münchens betreibt. Das Maskottchen Willi Daume hatte die Idee, einen Dackel als Maskottchen zu verwenden, da er selbst Besitzer eines Dackels war. So entstand „Olympia-Waldi“. Die Wahl fiel auf einen Dackel, weil diese Hunde Zähigkeit, Beweglichkeit und Widerstandsfähigkeit besitzen. Außerdem galt der Dackel damals als ein typisches Haustier der Münchner Bürger. Otl Aicher übernahm die Aufgabe, dem Maskottchen Form und Gestalt zu geben, bevor es zu wildwucherndem Souvenirkitsch kommen konnte. Der anschließend markenrechtlich geschützte Sympathieträger sollte außerdem ein weiteres wichtiges Standbein zur Finanzierung der Spiele werden. Waldi wurde nach allen werbestrategischen Regeln umfangreich vermarktet, warb für einige bekannte Produkte und konnte unter anderem auf Papiertüten, als Sticker, Poster, Anstecker, in Holz, Stoff, Frottee und Plüsch, als Knautschtier, Kissen und Puzzle erstanden werden. Auch als Figur mit wackelndem Schwanz zum Hinterherziehen war das Maskottchen in Spielwarenhäusern, -abteilungen und offiziellen Olympiaverkaufsständen zu haben. Olympische Standorte Wettkampfstätten Die Wettkampfstätten lagen zum Großteil im Großraum München. Das zentrale Gelände, der „Olympiapark“ auf dem nördlichen Teil des Oberwiesenfeldes, vereinte die größten Sportanlagen. Das Konzept der „Olympischen Spiele im Grünen“, hatte zur Folge, dass die Architektur der olympischen Bauten vom Standort der Grünanlagen bestimmt wurde. Das Architektenbüro um Günter Behnisch und Partner entwickelte den Gesamtentwurf für das Sport- und Erholungsgebiet, dessen Bau von 1968 bis 1972 dauerte. Insgesamt wurden für die Olympischen Spiele mehr als zwei Milliarden DM in den Bau neuer Sportstätten und des olympischen Dorfes investiert. Das Zentrum der Sportanlagen bildet das Olympiastadion, welches damals etwa 77.000 Zuschauern Platz bot und eine 400 Meter lange Laufbahn besitzt. Dort wurden alle Wettbewerbe in der Leichtathletik ausgetragen. Außerdem fanden dort Wettkämpfe im Reiten und einige Begegnungen im Fußball statt. Des Weiteren war es der Veranstaltungsort der Eröffnungs-, der Trauer- und der Abschlusszeremonie. Das Architektenbüro um Günter Behnisch entwarf auch die Schwimmhalle im Olympiapark mit einem 50-Meter-Becken sowie 9.182 Zuschauerplätzen. Hier wurden alle Wettbewerbe im Schwimmen und Wasserspringen sowie einige Wasserballspiele ausgetragen, dazu das 300-Meter-Freistilschwimmen im Modernen Fünfkampf. Im heutigen Eissportzentrum mit 7.360 Zuschauerplätzen fanden die Wettkämpfe im Boxen statt. 1970 bis 1972 wurde nach Plänen von Herbert Schürmann das Radstadion mit einem 285,714 Meter langen Holzoval errichtet, Austragungsort der Bahnradwettbewerbe, bei denen 4.157 Zuschauer anwesend sein konnten. In der Olympiahalle, einer Sport- und Mehrzweckhalle nordöstlich des Olympiastadions, fanden die Wettbewerbe im Turnen und einige Begegnungen im Handball statt; das Fassungsvermögen lag bei 10.563 Plätzen. Im Olympiapark wurde des Weiteren der 4000-Meter-Geländelauf im Modernen Fünfkampf veranstaltet. Weitere Wettkampfstätten auf diesem Gelände waren das Hockeystadion mit 21.900 und die Volleyballhalle mit 3.680 Plätzen. Auch außerhalb des Olympiaparks kamen zahlreiche Sportstätten zu olympischen Ehren. Auf dem alten Münchner Messegelände auf der Schwanthalerhöhe wurden eine Gewichtheberhalle mit 3.297, eine Ringer-Judo-Halle mit 5.750 und zwei Fechthallen mit 3.198 bzw. 978 Zuschauerplätzen eingerichtet. In Hochbrück wurde eine Schießanlage mit 4.500 Plätzen für die Schießwettbewerbe und das Pistolenschießen im Modernen Fünfkampf errichtet. Im Englischen Garten in München fanden vor bis zu 1.100 Zuschauern die Wettkämpfe im Bogenschießen statt. Im Reitstadion im Stadtteil Riem vor 23.000, in Poing vor über 38.000 und vor der Kulisse des Nymphenburger Schlosses vor 8.000 Zuschauern wurden die Reitwettbewerbe abgehalten. Auf dem Geländeparcours des Reitstadions in Riem wurde auch eine Disziplin im Modernen Fünfkampf ausgetragen, die Military-Wettkämpfe fanden auf einer Strecke bei Poing statt. Die Basketballwettkämpfe wurden in der Rudi-Sedlmayer-Halle mit 6.635 Sitzplätzen durchgeführt. Im nicht überdachten Dantebad fanden einige Wasserballbegegnungen statt, bei denen bis 3.200 Zuschauer anwesend sein konnten. In Oberschleißheim wurde eine Regattastrecke für die Wettbewerbe im Rudern und Kanurennsport angelegt. Diese Strecke war 2000 Meter lang und bot 41.000 Menschen Platz. Der 660 Meter lange Augsburger Eiskanal mit Platz für 25.000 Zuschauer war Austragungsort der Wettkämpfe im Kanuslalom. Die Wettbewerbe im Segeln und die Demonstrationssportart Wasserski wurden in Kiel – im neu erbauten Olympiazentrum Schilksee – ausgetragen. Die Wettbewerbe im Straßenradsport fanden außerhalb von München statt, das Straßenrennen fand auf dem Grünwald-Rundkurs statt, der von Grünwald über Straßlach, Baierbrunn, Schäftlarn und Höllriegelskreuth wieder nach Grünwald führte. Das Mannschaftszeitfahren hingegen fand auf der Bundesautobahn 95 statt. In verschiedenen Stadien und Hallen in Augsburg, Göppingen, Ingolstadt, Nürnberg, Passau, Regensburg, Ulm sowie der Sporthalle Böblingen fanden Vorrundenspiele im Fußball und Handball statt. Unterkünfte Nördlich des Olympiastadions entstanden zwei olympische Dörfer. Diese erstreckten sich entlang der Connollystraße, der Nadistraße, der Straßbergerstraße und des Helene-Mayer-Rings. Im Männerdorf fanden 11.715 Sportler und Betreuer Platz, im Frauendorf 1.772. Die olympischen Dörfer waren vom 1. August 1972 bis zum 18. September 1972 geöffnet. Die größte Auslastung lag am 30. August vor, als sich 10.562 Athleten und Betreuer im Dorf befanden, davon 9.104 Männer und 1.458 Frauen. Bürgermeister und entsprechender Abteilungsleiter im Organisationskomitee war der deutsche Jurist Walther Tröger. Das Dorf sollte ein Ort der Ruhe sein, an den sich die Sportler zurückziehen konnten. Zugleich ermöglichte es die kostengünstige Unterbringung und Verpflegung der Athleten und bot ihnen Trainingsmöglichkeiten sowie ein Unterhaltungsprogramm. Das olympische Dorf der Männer hatte 2995 Appartements, in denen je nach Typ zwischen zwei und sieben Athleten wohnten. Das olympische Dorf der Frauen hatte 1718 Appartements für je eine Sportlerin und nur neun Wohnungen für je sechs Athletinnen. Bestandteil der Dörfer waren neben den Wohngebäuden und zahlreichen verschiedenen Trainingsplätzen auch ein Kindergarten, eine Kirche, eine Schule, verschiedene Einzelhandelsgeschäfte sowie Arztpraxen, Restaurants, Cafés und eine Cafeteria, in der 2500 Sportler Platz fanden. Dort konnten sich die Athleten auch verpflegen. Darüber hinaus gab es verschiedene kulturelle Einrichtungen, beispielsweise einen Fernsehraum, Tischtennisplatten, einen Billardtisch, ein Theater mit 350 Plätzen und ein Kino mit 200 Plätzen. Nach Ende der Olympischen Spiele wurde das Gelände des Männerdorfes zu einem normalen Wohngebiet umfunktioniert, der Wohnwert dieser Gegend gilt heute als sehr hoch. Das ehemalige Frauendorf wurde in der Folge als Studentenwohnheim genutzt. Ende 2007 begann der Abriss und Neubau des Frauendorfs (Olydorf), da die Bauschäden im Laufe der Zeit überhandgenommen hatten. Teilnehmer Mit 121 teilnehmenden Mannschaften wurde in München ein neuer Teilnehmerrekord aufgestellt. Albanien, Saudi-Arabien und Nordkorea feierten ihre Premieren bei Olympischen Spielen. Die meisten Erstteilnahmen kamen jedoch aus Afrika. Gabun, Lesotho, Malawi, Somalia, Swasiland, Togo, Dahomey (das heutige Benin) und Obervolta (das heutige Burkina Faso) nahmen erstmals mit Athleten an dieser sportlichen Großveranstaltung teil. Auf seiner 70. Session 1970 in Amsterdam suspendierte das IOC das Nationale Olympische Komitee für Südafrika, das bereits von den Olympischen Spielen 1964 in Tokio und 1968 in Mexiko-Stadt ausgeschlossen worden war, weil es die Auflage nicht erfüllt hatte, die Diskriminierung der schwarzen Sportler zu unterbinden und eine Mannschaft mit weißen sowie schwarzen Sportlern aufzustellen. Nach einem Beschluss vom September 1971 gestattete das IOC der früheren britischen Kolonie Rhodesien die Entsendung einer Olympiamannschaft mit Sportlern unterschiedlicher Hautfarben nach München. Die 46 Teilnehmer mussten jedoch wieder abreisen, als das IOC dem Boykottdruck von 27 schwarzafrikanischen Staaten nachgab, die ihrerseits mit Abreise drohten. Nach sechstägigen Verhandlungen entschied sich das IOC am 22. August 1972 mit 36:34 Stimmen für den Ausschluss Rhodesiens. Medaillen Für die Olympischen Spiele in München wurden insgesamt 1.109 Medaillen für die drei Erstplatzierten hergestellt. Diese teilen sich in 364 Gold-, 364 Silber- und 381 Bronzemedaillen auf. Dass es 17 Bronzemedaillen mehr gab als bei den anderen, ergab sich daraus, dass in zwei Wettbewerben (Boxen mit Plus 11 und Judo mit Plus 6) zwei Bronzemedaillengewinner hervorgingen. Es gab mehr Olympiasieger als je zuvor. Entworfen wurde die Medaille von Giuseppe Cassioli und Gerhard Marcks, hergestellt vom Bayerischen Hauptmünzamt in München. Während von 1928 bis 1968 an dem Entwurf des italienischen Professors Giuseppe Cassioli festgehalten wurde, gestattete man dem Organisationskomitee in München, die Rückseite der Medaille selbst zu gestalten. Der Bildhauer Gerhard Marcks wählte als Abbildung für die Rückseite die antiken Halbbrüder Kastor und Polydeukes, die bei den Griechen als Schutzpatrone der Kampfspiele und Freundschaft galten. Auf der Vorderseite ist die Göttin des Sieges dargestellt, welche in ihrer linken Hand eine Palme und in ihrer rechten Hand eine Krone hält. Daneben prägte man die Inschrift „XX. Olympiade München 1972“. Außerdem waren die Medaillen mit einem Durchmesser von 60 Millimeter an Ketten aus Gold, Silber oder Bronze befestigt. Erstmals wurden in den Medaillenrand der Name des Sportlers und die Disziplin eingraviert, in der die Medaille gewonnen worden war. Die Dicke betrug drei Millimeter, bei den Goldmedaillen ist eine Goldauflage von sechs Gramm vorgeschrieben, der Silberanteil lag bei 92,5 Prozent. Insgesamt wurden bei 195 Wettbewerben in 21 Sportarten Medaillen vergeben. Wettkampfprogramm Insgesamt wurden 195 Wettbewerbe (132 für Männer, 43 für Frauen und 20 offene Wettbewerbe) in 21 Sportarten/28 Disziplinen ausgetragen. Das waren 23 Wettkämpfe und 3 Sportarten/4 Disziplinen mehr als in Mexiko-Stadt 1968. Der deutsche Grafiker Otl Aicher war Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele. Er entwarf unter anderem die Piktogramme der einzelnen Sportarten, welche dazu dienten, ein internationales und vielsprachiges Publikum zu den Veranstaltungsorten der verschiedenen Sportarten zu leiten. Nachfolgend die Änderungen zu den vorherigen Sommerspielen im Detail: Wiedereinführung des Bogenschießens in das olympische Programm (Einzel für Männer und Frauen). Bogenschießen war bis 1920 viermal olympisch. Im Gewichtheben wurden zwei Gewichtsklassen (Fliegengewicht und Superschwergewicht) für Männer hinzugefügt. Wiedereinführung der Mannschaftssportart Handball in das olympische Programm. In Berlin 1936 war bereits einmal Feldhandball olympisch gewesen. Wiedereinführung von Judo mit den Gewichtsklassen Leicht-, Halbmittel-, Mittel-, Halbschwer-, Schwergewicht und offene Klasse, nachdem es 1964 olympisches Debüt hatte und in Mexico 1968 fehlte. Beim Kanusport wurde die Disziplin Kanuslalom (C1, C2 und K1 für Männer und K1 für Frauen) hinzugefügt. In der Leichtathletik wurde das Programm um die 1500 m und die 4 × 400-m-Staffel für Frauen erweitert – darüber hinaus ersetzten die 100 m Hürden die 80 m Hürden bei den Frauen. Im Ringen wurde im Freistil das Papiergewicht wieder eingeführt – im griechisch-römischen Stil kam das Papiergewicht neu hinzu. Bei den beiden Disziplinen Freistil und Griechisch-römisch wurde das Superschwergewicht für Männer hinzugefügt. Im Schießen wurde das Kleinkalibergewehr Laufende Scheibe, 50 m als offener Klasse hinzugefügt. Im Segeln wurden die offenen Bootsklassen Soling und Tempest eingeführt. Olympische Sportarten/Disziplinen Basketball Gesamt (1) = Männer (1) Bogenschießen Gesamt (2) = Männer (1)/Frauen (1) Boxen Gesamt (11) = Männer (11) Fechten Gesamt (8) = Männer (6)/Frauen (2) Fußball Gesamt (1) = Männer (1) Gewichtheben Gesamt (9) = Männer (9) Handball Gesamt (1) = Männer (1) Hockey Gesamt (1) = Männer (1) Judo Gesamt (6) = Männer (6) Kanusport Kanurennsport Gesamt (7) = Männer (5)/Frauen (2) Kanuslalom Gesamt (4) = Männer (3)/Frauen (1) Leichtathletik Gesamt (38) = Männer (24)/Frauen (14) Moderner Fünfkampf Gesamt (2) = Männer (2) Radsport Bahn Gesamt (5) = Männer (5) Straße Gesamt (2) = Männer (2) Reiten Dressur Gesamt (2) = Offen (2) Springen Gesamt (2) = Offen (2) Vielseitigkeit Gesamt (2) = Offen (2) Ringen Freistil Gesamt (10) = Männer (10) Griechisch-römisch Gesamt (10) = Männer (10) Rudern Gesamt (7) = Männer (7) Schießen Gesamt (8) = Offen (8) Schwimmsport Schwimmen Gesamt (29) = Männer (15)/Frauen (14) Wasserball Gesamt (1) = Männer (1) Wasserspringen Gesamt (4) = Männer (2)/Frauen (2) Segeln Gesamt (6) = Offen (6) Turnen Gesamt (14) = Männer (8)/Frauen (6) Volleyball Gesamt (2) = Männer (1)/Frauen (1) Anzahl der Wettkämpfe in Klammern Zeitplan Farblegende Terroranschlag Am Morgen des 5. September 1972 ereignete sich ein folgenschweres Attentat, bei dem acht Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September über den Zaun des olympischen Dorfs kletterten und in das Appartement der israelischen Olympiamannschaft in der Connollystraße 31 eindrangen. Die mit Sturmgewehren bewaffneten Geiselnehmer hatten keine Mühe, die israelischen Sportler zu überwältigen, da die Türen zu ihren Wohnungen nicht abgeschlossen waren und die Sicherheitsbedingungen während der Olympischen Spiele bewusst locker gehalten wurden, um die Veränderung, die Deutschland seit den Olympischen Sommerspielen 1936 vollzogen hatte, zu präsentieren. Die Terroristen nahmen die elf israelischen Delegationsmitglieder David Mark Berger, Eliezer Halfin, Ze'ev Friedman, Yossef Gutfreund, Josef Romano, Amitzur Schapira, Kehat Shorr, Mark Slavin, André Spitzer, Yakov Springer und Mosche Weinberg als Geiseln. Der Ringertrainer Mosche Weinberg und der Gewichtheber Josef Romano wurden gleich zu Beginn der Aktion verwundet, beide starben noch im olympischen Dorf an ihren Verletzungen. Die palästinensischen Terroristen verlangten die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen sowie die Freilassung der deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof und des japanischen Terroristen Kōzō Okamoto. Die israelische Regierung reagierte sofort und ließ mitteilen, dass es keine Verhandlungen gebe. Bei einem gescheiterten Befreiungsversuch der deutschen Behörden wurden auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck alle anderen Geiseln, fünf Terroristen und ein deutscher Polizist getötet. Zu Beginn der Geiselnahme wurden die Spiele zunächst fortgesetzt und erst nach Protesten zahlreicher Teilnehmer und Besucher unterbrochen. Nach dem Tod der israelischen Sportler blieben die Spiele für einen Tag unterbrochen und nach einer Trauerfeier im Olympiastadion ließ IOC-Präsident Avery Brundage sie mit dem Satz „The games must go on!“ fortführen. Zeremonien Eröffnungsfeier Die Eröffnungsfeier im Olympiastadion begann am Samstag, dem 26. August 1972 um 15 Uhr, Stadionsprecher war Joachim Fuchsberger. Wenige Minuten vor dem Einzug der Nationen traf Bundespräsident Gustav Heinemann im Stadion ein, und die deutsche Nationalhymne erklang. Im Anschluss begann vor etwa 62.000 Zuschauern der Einzug der Nationen. In diesem etwa 90 Minuten dauernden Teil ertönte europäische, chinesische, arabische, afrikanische und südamerikanische Musik, gespielt von der Big Band von Kurt Edelhagen, der dieses Medley, welches zu den längsten der Musikgeschichte gehört, zusammen mit Dieter Reith, Jerry van Rooyen und Peter Herbolzheimer komponiert und zusammengestellt hatte. Fahnenträger für die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland war der Kanute Detlef Lewe, für die der Deutschen Demokratischen Republik der Boxer Manfred Wolke. Der traditionelle Gruß der Jugend, dargeboten von 3500 Münchner Schulkindern mit selbstgebundenen Bögen und Blumensträußen, begleitet vom Gesang des Tölzer Knabenchors mit dem Stück Rota, einem von Carl Orff neu arrangierten altenglischen Kanon aus dem 13. Jahrhundert, wurde international sehr positiv aufgenommen, wie etwa der Ausgabe der US-amerikanischen Tageszeitung „Daily News“ zu entnehmen war: „Flower Power“ verkündeten die Münchner Kinder – sie sind der Geist der Münchner Spiele, der Geist eines neuerstandenen Deutschland. Im Anschluss folgte die olympische Hymne in einer Variante von Alfred Goodman, die live vom Bundeswehrmusikkorps unter der Leitung von Hauptmann Ronald Lindner gespielt wurde. Hierbei wurde bewusst auf einen Chor verzichtet. Dann folgten die Ansprachen vom Präsidenten des Organisationskomitees, Willi Daume, vom Präsidenten des IOC, Avery Brundage, und schließlich die offizielle Eröffnung durch den Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Dieser offizielle Teil der Veranstaltung fand seine Fortführung mit dem Hineintragen und Hissen der Olympiaflagge durch Horst Meyer, Rüdiger Henning, Dirk Schreyer, Egbert Hirschfelder, Jörg Siebert, Niko Ott, Roland Böse und Gunther Tiersch. Diese hatten bei den Olympischen Sommerspielen 1968 in Mexiko-Stadt die Goldmedaille im Achter beim Rudern errungen. Im Anschluss wurde die Traditionsfahne an Oberbürgermeister Georg Kronawitter übergeben, der kurz vor den Olympischen Spielen die Nachfolge von Hans-Jochen Vogel angetreten hatte, und verschiedene Gruppen und Kapellen zeigten unter anderem den Mariachi und Schuhplattler. Als Botschafter des Friedens stiegen dann 5000 weiße Brieftauben in den Himmel auf. Als weiterer Höhepunkt erfolgte die Ankündigung des letzten Fackelläufers, der Schlussläufer Günter Zahn entzündete dann das olympische Feuer. Ihm folgte je ein Sportler aus jedem Kontinent: Kipchoge Keino aus Afrika, Jim Ryun aus Amerika, Kenji Kimihara aus Asien und Derek Clayton aus Ozeanien. Dann sprachen die Leichtathletin Heidi Schüller und der Kampfrichter Heinz Pollay den olympischen Eid. Als fröhlicher Ausklang fungierte dann der Auszug der Nationen, nach etwa zweieinhalb Stunden war das Programm beendet. Das Programm wurde international durchweg positiv aufgenommen, die französische Tageszeitung „L' Aurore“ äußerte sich in ihrer Ausgabe wie folgt: Die erste Goldmedaille für die Deutschen! Ja, sie würden sie verdienen, weil sie uns am Samstag das wunderbarste Schauspiel gezeigt haben, von dem man für die Eröffnung der Olympischen Spiele träumen kann. Präsident Gustav Heinemann und Kanzler Willy Brandt hatten allen Grund, ihre Genugtuung auszudrücken und diesen Erfolg mit Genuss zu kosten. Trauerfeier Nach der am 5. September verübten Geiselnahme an israelischen Athleten blieben die Olympischen Spiele für einen ganzen Tag unterbrochen und am 6. September wurde im Olympiastadion eine Gedenkstunde abgehalten. Der Beginn der Veranstaltung wurde musikalisch mit dem Trauermarsch aus der „Eroica“ von Ludwig van Beethoven gestaltet. Die Leitung hatte Rudolf Kempe, gespielt wurde das Werk von den Münchner Philharmonikern. Im Anschluss folgten Ansprachen von Willi Daume (Präsident des Organisationskomitees), Shmuel Lalkin (Vorsitzender der israelischen Olympiamannschaft), Gustav Heinemann (Bundespräsident) und durch Avery Brundage (Präsidenten des IOC): Das Ende der Trauerfeier wurde mit der Egmont-Ouvertüre von Ludwig van Beethoven untermalt. Die Leitung hatte hier Fritz Rieger, die Münchner Philharmoniker spielten auch dieses Werk. Schlussfeier Die Schlussfeier im Olympiastadion, ursprünglich für Sonntag, den 10. September 1972 geplant, begann am Montag, dem 11. September 1972 um 19:30 Uhr, Stadionsprecher war wie schon bei der Eröffnungsfeier Joachim Fuchsberger. Im Vorfeld fanden im Innenraum des Stadions noch verschiedene reiterliche Darbietungen statt, beispielsweise Voltigieren und Quadrillereiten. Nach der Geiselnahme vom 5. September 1972 wurde der geplante Ablauf der Feier leicht abgewandelt. Zu Beginn dieser Veranstaltung zogen die Athleten und Betreuer mit ihren Landesflaggen in das Stadion ein und nahmen in zwangloser Folge hinter den Fahnen Aufstellung. Bevor Avery Brundage das Podium betrat, wurden die Flaggen Griechenlands, der Bundesrepublik Deutschland und Kanadas gehisst und die Nationalhymnen gespielt. Dann folgte der letzte Auftritt des seit 1952 amtierenden IOC-Präsidenten, der am 30. September 1972 sein Amt an den Iren Lord Killanin übergeben würde. Als letzte Amtshandlung erklärte Avery Brundage die Spiele der XX. Olympiade für beendet und rief die Jugend der Welt auf, sich in vier Jahren in Montreal zu versammeln, um die XXI. Olympischen Spiele zu feiern. Die folgenden persönlichen Worte richtete er in deutscher Sprache an das Publikum: Liebe Münchner, Ihre herzliche und liebenswürdige Gastfreundschaft hat uns tief bewegt. Die Tage der strahlenden Freude haben wir zusammen gefeiert, und die schweren Stunden tiefster Dunkelheit haben wir mit Ihnen gemeinsam ertragen. Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Wir kehren in unsere Heimat zurück und rufen Ihnen allen zu: Auf Wiedersehen! Daraufhin folgte minutenlanger Beifall der Zuschauer. Als der 85-jährige Amerikaner zur Ehrentribüne zurückging, stand auf der Anzeigetafel des Stadions in großen Buchstaben – falsch geschrieben – „Thank you Avery Brandage“. Das Olympiastadion lag im Dunkeln, nur das olympische Feuer brannte noch. Um 20:02 Uhr erlosch die Flamme unter den Klängen von acht Pauken und einer Trompete. Anschließend erhoben sich die Zuschauer, um der Opfer des Anschlags zu gedenken. Bei spärlicher Beleuchtung wurde die Olympiaflagge eingeholt und aus dem Stadion getragen. Dann herrschte völlige Dunkelheit. Fünf 700 Meter lange, mit Helium gefüllte, 130 Meter hoch getragene, mit Scheinwerfern beleuchtete Polyethylen-Schläuche strahlten dann plötzlich als riesiger Regenbogen über dem Olympiasee, wo er vom Stadion aus zu sehen war („Olympia-Regenbogen“ von Otto Piene). Und als kurz darauf die Stadionbeleuchtung wieder eingeschaltet wurde, hatten sich 40 bayerische Trachtengruppen im Innenraum des Stadions aufgestellt. Ursprünglich hätten sie tanzen sollen, doch sie blieben mit ernster Miene unbewegt stehen. Fackelträger bildeten eine Lichterkette um das Stadionrund bis zum Marathontor. Unter den Klängen des von der Big Band der Bundeswehr unter Leitung von Günter Noris gespielten „Munich Fanfare March“ folgte der gemeinsame Ausmarsch von Athleten, Betreuern und Trachtengruppen aus dem Olympiastadion. Jeder der etwa 62.000 Stadionbesucher hatte ein kleines Lämpchen bekommen, um den Teilnehmern damit zuzuwinken. Im Laufe der Schlussfeier steuerte ein finnisches Passagierflugzeug ohne offizielle Genehmigung geradewegs auf die bayerische Landeshauptstadt zu. Verteidigungsminister Georg Leber nahm um 20:05 Uhr des 11. September 1972 von einem Adjutanten eine Meldung entgegen. Der olympische Sicherheitschef habe Alarm geschlagen, Terroristen hätten vor wenigen Minuten in Stuttgart ein Kleinflugzeug gestohlen. Man habe Erkenntnisse darüber, dass versucht werden sollte, aus dem gestohlenen Flugzeug über dem Olympiastadion in die Schlussfeier hinein Bomben zu werfen. In der Süddeutschen Zeitung beschrieb Fuchsberger, dass ihm August Everding, der Regisseur der Abschlussfeier, die Nachricht überbrachte, dass es wahrscheinlich einen Angriff auf das Olympiastadion gebe. Die Meldung lautete: „Nicht identifizierte Flugobjekte im Anflug auf das Olympiastadion – möglicherweise Bombenabwurf – sag, was du für richtig hältst.“ Die Abfangjäger hatte Fuchsberger bemerkt, aber Fuchsberger wusste nicht, wie er die Situation retten könne. „Ich war der einsamste und angeschissenste Mensch, den man sich vorstellen kann“, sagte er später der SZ. Er befürchtete eine Massenpanik und entschied sich daher gegen eine Räumung. Im Nachhinein wurde bekannt, dass es sich nicht um eine terroristische Bedrohung gehandelt hatte, sondern die Flugzeugbesatzung durch einen technischen Defekt kurzzeitig die Orientierung verloren hatte und trotzdem sicher auf dem Flughafen München-Riem landen konnte. Wettbewerbe Basketball Am nur für Männer ausgetragenen olympischen Basketballturnier nahmen insgesamt 191 Sportler aus 16 Ländern teil. Als Qualifikation für dieses Turnier diente die Weltmeisterschaft, die vom 10. bis 25. Mai 1970 in Jugoslawien stattgefunden hatte. Hinzu kamen die jeweils besten Kontinentalvertreter sowie der Gastgeber und die Vereinigten Staaten als amtierender Olympiasieger. Für eine Aufsehen erregende Diskussion sorgte im Vorfeld das IOC, das auf der 72. Session ernsthaft darüber nachdachte, die maximale Körpergröße der Spieler auf 1,75 Meter bis 1,80 Meter zu begrenzen. Schließlich setzte sich aber die Meinung durch, dass das nicht die Angelegenheit des IOC wäre. Im Anschluss des Vorrundenspiels zwischen Puerto Rico und Jugoslawien wurde der puerto-ricanische Spieler Miguel Coll des Dopings überführt, das Ergebnis – 79:74 für Puerto Rico – jedoch nicht revidiert. Die Fédération Internationale de Basketball drohte lediglich damit, die Mannschaft im Wiederholungsfall zu suspendieren. Nach dem palästinensischen Attentat verließ die ägyptische Mannschaft München. Ihr Zwischenrundenspiel gegen die Philippinen und ihr Finalrundenspiel gegen den Senegal wurde daher mit 2:0 zu ihren Ungunsten gewertet. Im Spiel um Platz drei trennten sich Kuba und Italien mit 66:65. Am 9. September um 21 Uhr standen sich im Finale die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten gegenüber. Erstere gewann nach dramatischem Spiel 51:50 und errang somit die Goldmedaille. Silber ging an die Vereinigten Staaten, Bronze an Kuba. Ein Protest der Vereinigten Staaten, wonach der Siegeswurf nicht in der regulären Spielzeit erfolgt sei, wurde abgewiesen. Die amerikanischen Spieler erschienen daraufhin nicht zur Siegerehrung und verweigerten die Annahme der Silbermedaillen. Im gesamten Turnierverlauf wurden 72 Spiele ausgetragen. Bogenschießen Das Bogenschießen, 1920 in Antwerpen letztmals ausgetragen, war in München nach 52 Jahren wieder olympisch. Es gab je einen Wettbewerb für Männer und Frauen; bei beiden war jeweils ein Teilnehmer je Land zugelassen. Maximal zwei weitere Schützen waren startberechtigt, wenn diese im Qualifikationszeitraum das Limit von 1.100 Ringen (bei Männern) beziehungsweise 1.050 Ringen (bei Frauen) erreicht hatten. Am Wettbewerb der Männer nahmen 55 Athleten aus 24 Ländern teil. Ausgetragen wurde eine doppelte FITA-Runde von jeweils 144 Pfeilen aus Entfernungen von 90, 70, 50 und 30 Metern. Am Wettbewerb der Frauen nahmen 40 Athletinnen aus 21 Ländern teil. Ausgetragen wurde auch hier eine doppelte FITA-Runde von jeweils 144 Pfeilen, jedoch aus Entfernungen von 70, 60, 50 und 30 Metern. Die beiden US-Amerikaner John Williams mit 2528 Ringen und Doreen Wilber mit 2424 Ringen stellten neue Weltrekorde auf und gewannen so die Goldmedaille der Männer bzw. der Frauen. Boxen Insgesamt 360 Sportler in elf Gewichtsklassen nahmen beim Boxen teil. Jedes Land durfte je Gewichtsklasse mit nur einem Sportler an den Start gehen. In München wurden erstmals Boxhandschuhe mit einer weißen Trefferfläche verwendet, dadurch sollten Treffer besser erkennbar sein. Überschattet wurden die Wettkämpfe durch zahlreiche Fehlurteile und Prügeleien. Der puerto-ricanische Fliegengewichtler Wilfredo Gómez wurde mit einem falschen Geburtsdatum gemeldet, damit er das verlangte Mindestalter von 17 Jahren erreichte, tatsächlich war er erst 16 Jahre alt. Er schied jedoch bereits in der zweiten Runde aus. Teófilo Stevenson, der Sieger im Schwergewicht wurde mit dem Val-Barker-Pokal für den technisch besten Boxer der Spiele ausgezeichnet. Im Finale seiner Gewichtsklasse konnte der Rumäne Ion Alexe wegen einer Handverletzung nicht mehr antreten. Die erfolgreichsten Boxer kamen aus Kuba; sie holten insgesamt drei Gold-, eine Silber- und eine Bronzemedaille. Fechten Im Fechten gab es acht Wettbewerbe, sechs für Männer und zwei für Frauen. Als Waffen dienten Floretts, Degen und Säbel. Zahlreiche Medaillenränge entschieden sich erst im Stechen, außerdem kam es des Öfteren zu Manipulationen: Im Einzelwettbewerb des Säbelfechtens schenkte Wiktor Sidjak dem Franzosen Regis Bonissent den zur Finalteilnahme fehlenden Sieg, der Franzose revanchierte sich dafür in der Finalrunde mit einer Niederlage. Außerdem führte Wiktor Sidjak seinen sowjetischen Landsmann Wladimir Naslymow mit einem geschenkten Sieg zur Bronzemedaille. Die erfolgreichsten Fechter kamen aus Ungarn, sie holten insgesamt zwei Gold-, vier Silber- und zwei Bronzemedaillen. Auch die Fechter aus der Sowjetunion waren mit zwei Gold-, zwei Silber- und drei Bronzemedaillen sehr erfolgreich. Fußball Am olympischen Fußballturnier, welches nur für Männer ausgetragen wurde, nahmen insgesamt 270 Sportler aus 16 Ländern teil. Der Gastgeber und Ungarn als amtierender Olympiasieger waren gesetzt, die übrigen vierzehn Teilnehmer wurden in eigenen Qualifikationsrunden der einzelnen Kontinentalverbände ermittelt. Alle Kader bestanden aus je 19 Spielern. Bei jedem Spiel durften zwei Ersatzspieler eingewechselt werden, wofür vor Spielbeginn fünf Kandidaten benannt werden mussten. Erstmals gab es nach der Vorrunde eine zweite Gruppenphase. Die jeweiligen Gruppensieger spielten im Finale um die Goldmedaille, die beiden Zweitplatzierten um Bronze. Neben dem Münchner Olympiastadion wurden die Fußballspiele im Rosenaustadion in Augsburg, im ESV-Stadion in Ingolstadt, im Städtischen Stadion in Nürnberg, im Dreiflüssestadion in Passau und im Jahnstadion in Regensburg ausgetragen. In der burmesischen Mannschaft, die mit zwei Niederlagen in der Vorrunde jedoch nicht die Zwischenrunde erreichen konnte, waren zwei Spieler mit dem Namen „Maung Aye“, die zur Unterscheidung mit Zahlen versehen werden mussten. Während der Zwischenrunde kam es zum ersten Aufeinandertreffen der beiden deutschen Mannschaften; die DDR siegte hierbei mit 3:2 und sicherte sich den Einzug in das Spiel um die Bronzemedaille. Mit etwa 80.000 Zuschauern war dieses Spiel das bestbesuchte des Turniers. Das Spiel um Platz drei zwischen der DDR und der Sowjetunion geriet zur „Farce der deutsch-sowjetischen Freundschaft“, als es nach regulärer Spielzeit 2:2 stand. In der Verlängerung setzten beide Mannschaften auf ein taktisches Unentschieden, weil ein Elfmeterschießen nicht vorgesehen war und somit beide Mannschaften die Bronzemedaille erhielten. Dieses Verhalten brachte ihnen ein Pfeifkonzert der 70.000 Zuschauer ein. Am 10. September um 20:15 Uhr standen sich im Finale Polen und Ungarn gegenüber. Nachdem Ungarn in der ersten Halbzeit in Führung gegangen war, konnte Polen durch zwei Tore von Kazimierz Deyna in der zweiten Halbzeit den Sieg feiern. Das Spiel endete 2:1, und Polen errang die Goldmedaille, Silber ging an Ungarn. Torschützenkönig mit neun Treffern wurde Kazimierz Deyna vor dem ungarischen Spieler Antal Dunai mit sieben Toren. Im gesamten Turnierverlauf wurden 38 Spiele ausgetragen und 135 Tore erzielt. Gewichtheben Im Gewichtheben nahmen insgesamt 188 Sportler in neun Gewichtsklassen teil. Neu in das Programm aufgenommen wurden Wettbewerbe im Fliegengewicht und Schwergewicht, wodurch erstmals neun und nicht mehr sieben Entscheidungen ausgetragen wurden. Letztmals wurde der Wettbewerb im Dreikampf (Reißen, Stoßen, Drücken) ausgetragen. Die ersten beiden offiziellen Dopingfälle überschatteten die Wettkämpfe: Der Iraner Arjomand Mohammad Nasehi und der Österreicher Walter Legel wurden wegen des unerlaubten Gebrauchs von Ephedrin disqualifiziert. Der Großteil der Spitze konsumierte Anabolika, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachweisbar waren, aber zu einer ungeahnten Leistungssteigerung führten. In vier Wettbewerben wurden im olympischen Dreikampf neue Weltrekorde aufgestellt: Bantamgewicht, Imre Földi (HUN): 377,50 Kilogramm Federgewicht, Norair Nurikjan (BUL): 402,50 Kilogramm Leichtgewicht, Mucharbi Kirschinow (URS): 460,00 Kilogramm Mittelgewicht, Jordan Bikow (BUL): 485,00 Kilogramm Die erfolgreichsten Gewichtheber kamen aus Bulgarien; sie holten insgesamt drei Gold- und drei Silbermedaillen. Auch die sowjetischen Athleten waren mit drei Gold-, einer Silber- und einer Bronzemedaille sehr erfolgreich. Handball 243 Sportler aus 16 Ländern nahmen an dem nur für Männer ausgetragenen olympischen Handballturnier teil. Als Turnierqualifikation diente die Weltmeisterschaft. Die übrigen Mannschaften wurden in Kontinentalmeisterschaften und einem Qualifikationsturnier bestimmt. Erstmals seit den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin war Handball wieder in das Programm aufgenommen worden. Es wurde ein zweiter Schiedsrichter eingeführt, die Spielfläche hatte eine Größe von 40 Meter × 20 Meter und außerdem wurden die Spiele erstmals in der Halle ausgetragen. Im Spiel um Platz drei trennten sich Rumänien und die DDR mit 19:16. Am 10. September um 21 Uhr standen sich im Finale Jugoslawien und die Tschechoslowakei gegenüber. Jugoslawien gewann 21:16 und errang somit die Goldmedaille. Silber ging an die Tschechoslowakei, Bronze an Rumänien. Im gesamten Turnierverlauf wurden 44 Spiele ausgetragen. Hockey Am nur für Männer ausgetragenen olympischen Hockeyturnier nahmen insgesamt 272 Sportler aus 16 Ländern teil. Als Qualifikation diente die 1. Feldhockey-Weltmeisterschaft, die 1971 in Barcelona stattgefunden hatte. Alle zehn damals teilnehmenden Mannschaften waren auch für das olympische Turnier startberechtigt. Die übrigen sechs Mannschaften wurden in Kontinentalmeisterschaften bestimmt. Im Spiel um Platz drei trennten sich Indien und die Niederlande mit 2:1. Am 10. September um 12 Uhr standen sich im Finale die Bundesrepublik Deutschland und Pakistan gegenüber. Erstere gewann 1:0 und errang somit die Goldmedaille. Das Tor im Finale erzielte in der 60. Minute Michael Krause durch Verwandlung einer Strafecke. Die Deutschen waren damit die ersten europäischen Hockeyolympiasieger seit 1920. Die pakistanischen Spieler weigerten sich bei der Siegerehrung, der deutschen Flagge die Ehre zu erweisen und traten auf ihre Medaillen ein. Außerdem bezichtigte die pakistanische Mannschaftsleitung den argentinischen Schiedsrichter Horacio Servetto und seinen australischen Kollegen Richard Jewell der Bestechlichkeit. Nachdem die pakistanischen Spieler dann die Umkleidekabinen beschädigten, wurden sie zunächst auf Lebenszeit gesperrt und von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Nachdem sich Staatspräsident Zulfikar Ali Bhutto bei der deutschen Bundesregierung entschuldigt hatte, wurde die Mannschaft jedoch bereits 1976 begnadigt. Da das IOC nur den im Finale eingesetzten 13 Spielern Goldmedaillen verliehen hatte, bestellte Bundesaußenminister Walter Scheel auf seine Rechnung fünf Nachprägungen für die Reservespieler. Judo Im Judo nahmen insgesamt 141 Sportler in fünf Gewichtsklassen teil. Außerdem wurde ein Wettbewerb mit 26 Teilnehmern in der „Offenen Klasse“ ausgetragen. Die Kampfzeit lag in der Vorrunde bei sechs, im Halbfinale bei acht und im Finale bei zehn Minuten. Zum Sieg reichte ein Ippon. Im Leichtgewicht belegte der Mongole Bachaawaagiin Bujadaa Platz zwei, wurde aber als erster Judoka in der Sportgeschichte disqualifiziert, da er mit Koffein gedopt war. Toyokazu Nomura, der japanische Olympiasieger im Weltergewicht, benötigte für seine fünf Kämpfe nur 10:49 Minuten. Die erfolgreichsten Judoka kamen aus Japan; sie holten insgesamt drei Gold- und eine Bronzemedaille. Auch die niederländischen Athleten waren mit zwei Goldmedaillen, welche beide Willem Ruska gewann, sehr erfolgreich. Kanu Im Kanusport wurden sieben Wettbewerbe im Kanurennsport und vier im Kanuslalom ausgetragen. Die fünf Entscheidungen im Rennsport der Männer gingen über eine Distanz von 1000 Meter, die beiden Entscheidungen der Frauen über 500 Meter. 17 der 21 Medaillen gewannen Athleten des Ostblocks, sechs Goldmedaillen gingen an Sportler der Sowjetunion. Während der Siegerehrung des Wettbewerbs im Einer-Kajak erlitt der Zweitplatzierte Rolf Peterson einen Schwächeanfall und musste sich auf das Siegertreppchen setzen, um sich auszuruhen. Im Einer-Kanadier sorgte der Rumäne Ivan Patzaichin für den einzigen nichtsowjetischen Sieg. Der Finallauf im Zweier-Kanadier endete mit dem knappsten Ergebnis eines olympischen Kanurennens. Ein 300-Meter-Endspurt brachte die rumänischen Titelverteidiger Ivan Patzaichin und Serghei Covaliov auf nur drei Hundertstelsekunden an die siegenden Sowjets heran, was aber erst auf dem Zielfoto ersichtlich wurde. Bereits im Jahr 1966 vorgeschlagen, wurde 1970 die Sportart Kanuslalom vom IOC in das olympische Programm aufgenommen. Für die Olympischen Spiele in München war vorgesehen, dass die vier Wettbewerbe (dreimal Männer; einmal Frauen) auf einer extra dafür errichteten künstlichen Wettkampfstrecke am Lech in Augsburg stattfinden sollten. Mit der Mitte 1971 erfolgten Fertigstellung dieses 660 Meter langen und mit 36 Hindernissen ausgestatteten Parcours begann gleichzeitig eine neue Ära im Wildwassersport, welche ein Training unabhängig von den bisherigen Unwägbarkeiten eines natürlichen Gewässers (unterschiedliche Wasserstände, Strömungsschwankungen) zuließen. Um den dadurch entstandenen Vorteil der gastgebenden bundesdeutschen Kanuten auszugleichen, wurde auf Initiative der DDR-Sportführung eine verkürzte Variante der Olympiastrecke an der Zwickauer Mulde nachgebaut. Diese Investition schien sich auszuzahlen, da die Mannschaft der DDR die olympischen Wettkämpfe dominierte und alle vier Olympiasieger stellte. Kanuslalom wurde nach den Olympischen Spielen in München aus dem Programm gestrichen und wurde erst ab den Olympischen Sommerspielen 1992 in Barcelona wieder olympisch. Leichtathletik In der Leichtathletik wurden 24 Wettbewerbe für Männer und 14 Wettbewerbe für Frauen ausgetragen. Die Teilnahme regelte der internationale Leichtathletikverband (IAAF), welcher Blutdoping verdammte. Es gab jedoch noch keine Möglichkeit, entsprechende Kontrollen durchzuführen. Die Zeitmessung erfolgte erstmals vollautomatisch auf Hundertstelsekunden, zuständig für die Zeitmessung war die Firma Junghans. Bei der Weitenmessung in den Wurfdisziplinen kam zum ersten Mal kein Maßband mehr zum Einsatz. Nun wurde die Aufschlagstelle mit einem Prismenreflektor markiert, auf den ein geodätisches Messgerät, ein elektronischer Tachymeter der Firma Carl Zeiss in Oberkochen, gerichtet wurde. Mittels infraroter Strahlen wurde die Entfernung dann gemessen. Der sowjetische Athlet Walerij Borsow gewann die Goldmedaillen im 100-Meter-Lauf und im 200-Meter-Lauf und sorgte damit für den ersten nichtamerikanischen Sprintdoppelsieg. Weil der US-amerikanische Trainer Stan Wright den schon Monate zuvor veröffentlichten Zeitplan nicht kannte, verpassten die Läufer Rey Robinson und Eddie Hart den Zwischenlauf. Nur Robert Taylor erreichte noch rechtzeitig das Stadion und musste seinen Lauf ohne jedes Aufwärmen absolvieren. Im Finallauf gewann er die Silbermedaille. Während der Siegerehrung des 400-Meter-Laufs sorgten die beiden US-Amerikaner Vince Matthews und Wayne Collett für einen Skandal, als sie demonstrativ salopp auftraten. Sie erschienen zu dieser Zeremonie barfuß, und während die Nationalhymne ertönte, spielten sie mit ihren Medaillen, tanzten, lachten, unterhielten sich und grüßten das Publikum mit erhobener Faust. Dies erinnerte viele an die Demonstration von Black Power bei den Olympischen Spielen 1968. Die US-amerikanische Mannschaftsleitung sperrte die beiden Sportler daraufhin. Da auch Lee Evans wegen seines angedrohten Boykotts bei einer rhodesischen Olympiateilnahme ausgeschlossen wurde und sich John Smith eine Oberschenkelverletzung zugezogen hatte, mussten die Vereinigten Staaten ihre Mannschaft in der 4-mal-400-Meter-Staffel zurückziehen. Von den sechs nominierten Läufern blieben lediglich Maurice Peoples und Tommy Turner übrig. In einem 5000-Meter-Vorlauf sollte auch der Äthiopier Miruts Yifter starten, versuchte jedoch das Olympiastadion durch einen falschen Eingang zu betreten. Da der Ordner kein Einsehen hatte, gelang es Yifter nicht, rechtzeitig zum Start anwesend zu sein. Der Finne Lasse Virén gewann den 5000-Meter-Lauf, trat im Finale des 10.000-Meter-Laufs jedoch während des fünften Kilometers auf die Bahninnenkante und stürzte. Daraufhin fiel der Tunesier Mohamed Gammoudi über ihn hinweg. Dieser setzte dann zwar das Rennen fort, gab aber bald auf, als er merkte, dass er nicht mehr an die Spitze herankam. Nach diesem Fauxpas konnte Lasse Virén auch diesen Lauf für sich entscheiden und wurde somit Doppelolympiasieger. Beim Marathonlauf stahl der 16-jährige Oberschüler Norbert Südhaus aus Wiedenbrück dem Sieger Frank Shorter die Show, indem er am Ende des Rennens kurz vor dem Stadion die Streckenabsperrung überwand und mit Sportkleidung und der falschen Meldenummer 72 unter dem Jubel von zehntausenden Zuschauern als Erster ins Olympiastadion rannte. Das ahnungslose Publikum feierte ihn statt des eigentlichen Siegers mit großen Ovationen, merkte es aber erst einige Zeit später. Norbert Südhaus wurde festgenommen und zu Willi Daume geführt. Irgendwann tat es ihm leid, und er schrieb dem US-Amerikaner einen Entschuldigungsbrief, auf den er aber nie eine Antwort erhielt. Letzter des Marathonlaufs wurde Maurice Charlotin, der von einem Elektrofahrzeug begleitet wurde. Als dieses auf den letzten Metern eine Panne hatte, blieb der Haitianer stehen, da er sich so an dieses Gefährt gewöhnt hatte. Christian Rudolph erlitt während des 400-Meter-Hürdenlaufs im Zwischenlauf an der letzten Hürde einen Achillessehnenriss und stürzte, wobei Dieter Büttner über ihn hinweg fiel. Der vom Deutschen Leichtathletik-Verband dagegen eingelegte Protest wurde aber von der Jury abgewiesen. In einem 3000-Meter-Hindernisvorlauf verlor der Australier Kerry O’Brien bei einer Rempelei 250 Meter vor dem Ziel einen Schuh, worauf er vor dem letzten Wassergraben das Rennen aufgab. Beim 20-Kilometer-Gehen siegte Peter Frenkel, was er im Anschluss auch mit seinem Masseur in Schwabing feierte. Als er erst am nächsten Morgen in das olympische Dorf zurückkehrte, galt er bei der Mannschaftsleitung der DDR bereits als abtrünnig. Teamleiter Manfred Ewald hatte deshalb bereits die bayerische Polizei um Amtshilfe gebeten. Christoph Höhne wurde kurz vor dem Start des 50-Kilometer-Gehens durch eine anonyme Anzeige bei der Mannschaftsleitung der DDR beschuldigt, während des Wettkampfes in die Bundesrepublik fliehen zu wollen. Obwohl dieser Denunziation kein Glaube geschenkt wurde, war der Leipziger psychisch derart angeschlagen, dass er nicht zu seiner normalen Form fand und nur Platz 14 belegte. Für den Hochsprung markierten die Spiele den Generationswechsel der Techniken. Während bei den Herren der Straddle für den sowjetischen Athleten Jurij Tarmak mit 2,23 m noch für Gold genügte, war dies bei den Damen schon nicht mehr der Fall. Überraschungssiegerin wurde hier die erst 16-jährige deutsche Jugendmeisterin Ulrike Meyfarth, die mit 1,92 m im rücklings gesprungenen Fosbury-Flop gleichzeitig den Weltrekord einstellte. Beim Speerwurf der Männer konnte sich der Deutsche Klaus Wolfermann gegen den favorisierten sowjetischen Olympiasieger von 1968 Jānis Lūsis mit einer Weite von 90,48 m die Goldmedaille sichern. Lusis blieb in seinem letzten Versuch lediglich 2 cm hinter dem Resultat des Deutschen. Wolfermann wurde noch im gleichen Jahr aufgrund seiner Popularität mit dem Titel Sportler des Jahres ausgezeichnet. Zu einer Kontroverse führten beim Stabhochsprung neue und leichtere Sprungstäbe, das Modell Cata-Pole. Auf Antrag der DDR wurde am 25. Juli 1972 der neue Stab vom Technischen Komitee der IAAF mit der Begründung verboten, dass neue Geräte allen Athleten ein Jahr vor dem Wettkampf zur Verfügung stehen müssten. Am 27. August wurde dieser Beschluss wieder aufgehoben, da es bei der Umsetzung praktische Schwierigkeiten gab. Drei Tage später, 24 Stunden vor dem Qualifikationswettkampf, revidierte sich die IAAF nach einem Dringlichkeitsantrag Griechenlands erneut. Die neuen Stäbe wurden verboten und konfisziert. Es wurden nur Stäbe gestattet, die mindestens ein Jahr lang in allen Ländern der Welt erhältlich waren. Der IAAF-Präsident David Cecil, einst selbst Olympiasieger, hatte zuvor in heftigen Diskussionen versucht, die Delegierten zu einer Zustimmung zu bringen. Bob Seagren, Zweitplatzierter im Wettkampf, zeigte sich als schlechter Verlierer. Mit einer demonstrativen Geste drückte er dem Präsidenten des Europäischen Leichtathletikverbandes, Adriaan Paulen, den Stab in die Hand, wofür er vom Publikum nur Pfiffe erntete. Während der anschließenden Siegerpressekonferenz beschimpfte er den Olympiasieger Wolfgang Nordwig aus der DDR, in dem er den Hauptschuldigen für den Protest zu erkennen glaubte. Nordwig wurde als erster Nicht-US-Amerikaner Olympiasieger in dieser technisch schwierigen Disziplin. Die erfolgreichsten Sportlerinnen bei den Wettbewerben der Frauen waren Heide Rosendahl, die für die Bundesrepublik Deutschland die Goldmedaille im Weitsprung und in der 4-mal-100-Meter-Staffel sowie die Silbermedaille im Fünfkampf gewann. Für die DDR gewann Renate Stecher im 100-Meter-Lauf und 200-Meter-Lauf und die Silbermedaille in der 4-mal-100-Meter-Staffel. Das Duell der beiden deutschen Damensprintstaffeln war einer der Höhepunkte der Sommerspiele. 20 der 42 Medaillen bei den Frauenwettbewerben gewannen Sportler der beiden deutschen Mannschaften. Ljudmila Bragina aus der Sowjetunion stellte im 1500-Meter-Lauf in allen drei Durchgängen einen Weltrekord auf und verbesserte den bis dahin bestehenden Rekord um mehr als fünf Sekunden. Die erfolgreichsten Leichtathleten kamen aus der Sowjetunion, die neun Gold-, sieben Silber- und eine Bronzemedaille gewannen. Die Sportler der DDR errangen acht Gold-, sieben Silber- und fünf Bronzemedaillen. Die Vereinigten Staaten konnten im Medaillenspiegel dieser Sportart mit sechs Gold- und je acht Silber- und Bronzemedaillen diesmal nur den dritten Platz erreichen. Mit John Akii-Bua gewann zum ersten Mal ein Leichtathlet aus Uganda die Goldmedaille. Nach dem Zieleinlauf bei den 400 Meter Hürden lief er außerdem zum ersten Mal eine Ehrenrunde. Moderner Fünfkampf Beim Modernen Fünfkampf nahmen bei zwei Wettbewerben für Männer insgesamt 59 Sportler aus 20 Ländern teil. Am ersten Tag wurde der 1000-Meter-Geländeritt ausgetragen. An den weiteren Tagen folgten die Wettkämpfe im Degenfechten, Pistolenschießen und 300-Meter-Freistilschwimmen. Am letzten Wettkampftag wurde der 4000-Meter-Geländelauf ausgetragen. Missklänge gab es beim Schießwettbewerb, als nach Protest des britischen Teamchefs alle Teilnehmer auf Drogen kontrolliert wurden. Dabei wurde festgestellt, dass 14 Athleten Beruhigungsmittel konsumiert hatten, diese wurden jedoch nicht disqualifiziert. Der Grund dafür war, dass diese Mittel zwar auf der Dopingliste des Fachverbandes, nicht aber auf jener der Medizinischen Kommission des IOC standen. Die Einsprüche gegen diese Entscheidung scheiterten ebenso wie ein Protest gegen den späteren Olympiasieger wegen angeblicher Regelwidrigkeiten beim Schießen. Der ungarische Athlet András Balczó gewann den Einzelwettbewerb mit 5.412 Punkten, beim Mannschaftswettbewerb siegte die Sowjetunion mit 15.968 Punkten. Dieses Resultat setzte sich aus den Einzelergebnissen der Teilnehmer zusammen. Ungarn und die Sowjetunion beherrschten die Wettkämpfe und gewannen fünf der sechs Medaillen. Radsport Sieben Wettbewerbe wurden im Radsport ausgetragen, davon fünf im Bahn- und zwei im Straßenradsport. Das 2000-Meter-Tandemrennen stand letztmals auf dem Programm, weil dieser Wettbewerb an Popularität verloren hatte. Bei diesem Wettkampf wurde die Sowjetunion überraschend Olympiasieger, sie errangen die Goldmedaille aber erst in einem dritten Lauf, in dem das Zielfoto entscheiden musste. Im Halbfinale der 4000-Meter-Mannschaftsverfolgung wurde die britische Mannschaft von der bundesdeutschen eingeholt. Auch in der 4000-Meter-Einzelverfolgung wurden im Viertel- und Halbfinale Fahrer eingeholt. Die Goldmedaille gewann der Norweger Knut Knudsen auf einem von der dänischen Mannschaft geliehenen Rennrad. Das 100-Kilometer-Mannschaftszeitfahren wurde auf dem damaligen Autobahnabschnitt München-Lindau (heute: Autobahn A 95 München-Garmisch) mit einer maximalen Steigung von 3,7 Prozent ausgetragen. Start-Zielbereich war zwischen dem Autobahndreieck Starnberg und der Ausfahrt Schäftlarn. Der Abstand der Mannschaften beim Start betrug zwei Minuten, die Startreihenfolge wurde ausgelost. Zuletzt, im Abstand von vier Minuten, gingen die zehn ersten Mannschaften der Weltmeisterschaft von 1971 auf die Strecke. Die Dopingproblematik überschattete sowohl das Mannschaftszeitfahren als auch das Einzel-Straßenrennen. Die drittplatzierte niederländische Mannschaft wurde disqualifiziert, weil Aad van den Hoek gedopt war, selbiges geschah mit dem Einzelbronzemedaillengewinner Jaime Huélamo. In beiden Entscheidungen wurden daraufhin keine Bronzemedaillen vergeben. Im Einzelrennen erschienen außerdem vier nordirische Sportler am Start, ohne akkreditiert zu sein, um gegen die Teilnahme der irischen Athleten zu protestieren. Die vier Angehörigen der Irisch-Republikanischen Armee wurden daraufhin festgenommen, später aber wieder freigelassen. Reiten Im Reiten wurden sechs Wettbewerbe ausgetragen, je ein Einzel- und Mannschaftswettkampf in der Dressur, im Military und im Springreiten. Beim Mannschaftswettbewerb im Dressurreiten war der Grand Prix vorgeschrieben: Die 38 Lektionen der olympischen Grundaufgabe wurden mit Punkten innerhalb der Skala von null bis zehn bewertet, bei drei besonders schweren Lektionen lag die maximale Punktzahl bei 20; für den Gesamteindruck konnten die fünf Wertungsrichter noch einmal maximal 90 Punkte vergeben, so dass eine Idealpunktzahl von 2500 möglich war. Die besten Zwölf ritten später das Stechen um die Einzelmedaillen, wobei für den Gesamteindruck maximal 80 Punkte vergeben werden konnten. Unter den fünf Preisrichtern war auch Heinz Pollay, Doppelolympiasieger von 1936 und in München erster Sprecher des olympischen Gelöbnisses der Kampfrichter. Stark differierende Kampfrichterurteile beeinflussten diese Wettbewerbe jedoch negativ. Der Militarywettbewerb, der in Poing östlich von München ausgetragen wurde, bestand aus einer Dressurprüfung mit 19 Lektionen, dem Geländeritt, und dem Springen. Von den vier Reitern einer Mannschaft kamen in der Mannschaftswertung die besten drei Sportler in die Wertung, anders als zuvor wurde aber auch der vierte ausgezeichnet. Das Vereinigte Königreich ging aus beiden Wettbewerben siegreich hervor. Der Einzelwettbewerb im Springreiten fand auf einem 760 Meter langen Parcours mit 14 Hindernissen statt. Der Mannschaftswettkampf wurde auf einem 860 Meter langen Parcours ausgetragen. Die Nominierung von Hans Günter Winkler in der bundesdeutschen Mannschaft war heftig umstritten. Elf andere Springreiter erklärten, dass sie mit ihm nicht in München teilnehmen würden. Hintergrund war, dass Hans Günter Winkler fünf Pferde bezog, die von seinen Konkurrenten als nicht olympiafähig bezeichnet wurden. Am Ende ritt er jedoch trotzdem und gewann sogar die Goldmedaille im Mannschaftswettbewerb. Alle Einzelmedaillen im Springreiten wurden im Stichkampf vergeben. Ringen Insgesamt 20 Wettbewerbe im Ringen wurden ausgetragen, in zwei Stilarten fanden in jeweils zehn Gewichtsklassen Wettkämpfe statt. Im Freistil gingen 215 Sportler an den Start, im griechisch-römischen Stil kämpften 195 Athleten um die Titel. Neu eingeführt wurden das Halbfliegengewicht und das Superschwergewicht. Die Kampfzeit war auf drei Mal drei Minuten beschränkt, auch die Punktvergabe wurde erneut modifiziert. Ein Ringer blieb solange im Turnier, bis er mit sechs Minuspunkten belastet war, Turniersieger wurde der Athlet mit der geringsten Zahl von Fehlpunkten. Im Freistilringen gewannen die US-Amerikaner Benjamin Peterson und John Peterson als erstes Bruderpaar im Ringen Gold und Silber. Iwan Jarygin aus der Sowjetunion, Olympiasieger im Schwergewicht, benötigte von der zur Verfügung stehenden Kampfzeit von 54 Minuten lediglich 15 Minuten und vier Sekunden. Als einziger Athlet im Wettkampf besiegte er alle seine Gegner auf Schulter, so dass er ohne einen Minuspunkt aus dem Turnier hervorging. Mit einem Gewicht von mehr als 180 Kilogramm war der US-Amerikaner Chris Taylor der schwerste Athlet, der jemals bei Olympischen Spielen an den Start ging und sogar die Bronzemedaille gewinnen konnte. Beim Olympiasieg von Georgi Markow im Federgewichtswettkampf des griechisch-römischen Stils wurde die Schwäche des damaligen Wertungssystems sichtbar. Der bulgarische Athlet traf auf keinen einzigen Ringer, der sich unter den ersten sechs platzieren konnte. Der zweitplatzierte DDR-Athlet Heinz-Helmut Wehling traf hingegen auf drei Ringer, die sich unter den ersten sechs platzieren konnten. Dominiert wurden die Wettkämpfe im Ringen durch die Sowjetunion, die neun Goldmedaillen gewinnen konnten. Rudern Im Rudern wurden sieben Wettbewerbe für Männer auf der Regattastrecke Oberschleißheim nördlich der bayerischen Landeshauptstadt ausgetragen. Die sowjetischen Athleten im Doppelzweier, Alexander Timoschinin und Gennadi Korschikow, saßen erst seit 1972 gemeinsam in einem Boot, konnten aber trotzdem Olympiasieger werden. Im Zweier ohne Steuermann siegten Siegfried Brietzke und Wolfgang Mager aus der DDR. Beide hatten erst durch eine Weihnachtssendung von 1967 des DDR-Fernsehsenders, moderiert von Heinz Quermann, zum Rudersport gefunden. Zur Enttäuschung der Gastgeber konnte einzig der Vierer mit Steuermann, der so genannte „Bullen-Vierer“ beziehungsweise „Bodensee-Vierer“, eine Goldmedaille für die Bundesrepublik gewinnen. Im Achter blufften die Neuseeländer im Halbfinale, als sie der Bundesrepublik Deutschland den Sieg überließen. Im Finallauf setzten sie sich aber deutlich durch, während die bundesdeutschen Sportler nur auf den fünften Platz fahren konnten. Die Schuld für diesen Misserfolg, trotz einer hervorragenden Ausrüstung, nahm Karl Adam auf sich, der behauptete, die falschen Riemen ausgewählt zu haben. Die neuseeländische Mannschaft hatte das Geld für Training und Ausrüstung bei einer Lotterie gewonnen. Die DDR-Ruderer waren noch überlegener als bei den Olympischen Sommerspielen 1968 und konnten in allen Bootsklassen Medaillen gewinnen. Neben drei Bronzemedaillen und einer Silbermedaille konnten sie auch drei Olympiasiege erringen. Schießen Im Schießen fanden acht Wettbewerbe statt. Gegenüber den Olympischen Spielen 1968 wurde das Programm um die Disziplin „Laufende Scheibe“ ergänzt, die die 1956 letztmals ausgetragene Disziplin „Laufender Hirsch“ ersetzte. Die Wiederaufnahme dieses Wettbewerbes wurde 1968 beschlossen und trug vorläufig den Namen „Laufender Keiler“. Auf Protest von Tierschützern wurde er dann jedoch in „Laufende Scheibe“ umbenannt und die Wildschweinsilhouette seit den Spielen von Barcelona 1992 durch eine neutrale Abbildung ersetzt. Wegen der hohen Kosten wurde die Disziplin „Freies Gewehr Dreistellungskampf“ letztmals ausgetragen. Ri Ho-jun, ein Soldat aus Pjöngjang, wurde in der Disziplin „Kleinkaliber liegend“ der erste nordkoreanische Olympiasieger. Auf der Pressekonferenz äußerte er, dass er „den Rat des Ministerpräsidenten befolgt und geschossen“ habe, als müsse er „mit jedem Schuss einen Feind treffen“. Die angestrebte Disqualifikation wegen unolympischen Verhaltens wurde durch die Behauptung der Mannschaftsleitung verhindert, dass Li Ho-Jun nur ein einfacher Soldat und geistig nicht sehr rege sei. Im Anschluss entschuldigte sich Li Ho-Jun und die Siegerehrung erfolgte mit vierstündiger Verspätung. Zuvor war es bereits im Wettkampf zu einem Versehen gekommen, als er mit 596 Ringen auf Platz 14 eingestuft wurde und erst eine nochmalige Überprüfung 599 Ringe und damit einen neuen Weltrekord ergab. Der Bayer Konrad Wirnhier, Olympiasieger im „Wurftaubenschießen Skeet“, schoss mit seiner selbstgebauten Flinte. Der sowjetische Weltmeister Juri Zuranow legte gegen die Kampfrichterentscheidung, wonach er die 18. Taube in der dritten Serie nicht getroffen haben sollte, Protest ein und verließ den Schießstand. Daraufhin beschloss die Jury, ihm drei Treffer abzuerkennen, ihn aber ansonsten im Wettbewerb zu belassen. Ohne diese Strafpunkte wäre er in den Stichkampf um die Goldmedaille gelangt, so belegte er nur den 13. Platz. Im „Wurftaubenschießen Trap“ verhinderte der Franzose Michel Carrega mit einer uralten Flinte einen italienischen Doppelsieg, vermutlich aber auch seinen eigenen Olympiasieg. Es gab keine überlegene Schützennation, es gingen Medaillen an 15 Länder. Schwimmen Im Schwimmen wurden 29 Wettbewerbe ausgetragen. Auch die Disziplinen Wasserball mit einem Wettbewerb und Wasserspringen mit vier Wettbewerben werden der Sportart Schwimmen zugerechnet. Die Zeitnahme erfolgte erstmals auch offiziell auf Hundertstelsekunden, welche auch bekanntgegeben wurden. Der herausragende Schwimmer war der US-Amerikaner Mark Spitz, der in den Disziplinen 100 Meter Freistil, 200 Meter Freistil, 100 Meter Schmetterling, 200 Meter Schmetterling und in den Staffeln über 4-mal 100 Meter Freistil, 4-mal 200 Meter Freistil und 4-mal 100 Meter Lagen antrat. In allen sieben Wettbewerben konnte er die Goldmedaille gewinnen, wobei er immer einen neuen Weltrekord aufstellte. Bei der Siegerehrung des 200-Meter-Freistilrennens sorgte er für einen Eklat, als er auf dem Siegerpodest seine Sportschuhe der Marke adidas nach oben hielt. Mark Spitz wurde daraufhin vor eine IOC-Kommission geladen, wo er erklärte, dass er sich zu dieser Aktion lediglich aus Freude über seinen Erfolg und nicht aus kommerziellen Überlegungen hatte hinreißen lassen, jedoch glaubte ihm niemand. Der US-Amerikaner Rick DeMont gewann das 400-Meter-Freistilfinale mit einer Zeit von 4:00,26 min. Drei Tage nachdem er mit der Goldmedaille ausgezeichnet worden war, erhielt er die Information, dass sein Dopingtest positiv war. Auf Empfehlung der Medizinischen Kommission wurde Rick DeMont, der das ephedrinhaltige Mittel Marax verwendet hatte, disqualifiziert und vom 1500-Meter-Freistilfinale ausgeschlossen. Bei der Untersuchung des Falles stellte sich einen Monat später heraus, dass der unter Asthma leidende Athlet das von ihm benutzte Mittel auf seinem medizinischen Fragebogen angegeben hatte, doch der US-Teamarzt diese Information nicht weitergegeben hatte. Der Australier Brad Cooper wurde nachträglich zum Olympiasieger erklärt, die Goldmedaille von Rick DeMont eingezogen und 1996 an das Olympische Museum in Lausanne übergeben. Roland Matthes aus der DDR verschenkte im 100-Meter-Schmetterlingsfinale eine mögliche Medaille, da er den Start verpasste. Wie gewohnt wollte er als Letzter auf den Startblock steigen, um einer zu langen Muskelanspannung zu entgehen. Da bei diesem Lauf jedoch ein neuer Starter fungierte, der nicht abwartete, bis alle Schwimmer in Startstellung gegangen waren, verpasste er den Anschluss und sprang dem Feld hinterher. Er wurde dann trotzdem noch Vierter. Bei den 400 Meter Lagen erreichten der Schwede Gunnar Larsson und der Amerikaner Alexander McKee eine Zeit von 4:31,98 min, so dass die Anzeigetafel zuerst beide als Erstplatzierte auswies. Im Anschluss wurden für eine endgültige Entscheidung die Tausendstelsekunden herangezogen. Da die Zeit für Gunnar Larsson 4:31,981 min und für Alexander McKee 4:31,983 min betrug, erhielt der Schwede die Goldmedaille. Bei einer Nachmessung von 1973 ergaben sich unterschiedliche Bahnlängen, die Bahn von Alexander McKee war etwa drei Millimeter zu lang. Bei den Frauenwettbewerben war die Australierin Shane Gould mit drei Goldmedaillen in Weltrekordzeit, einer Silber- und einer Bronzemedaille die erfolgreichste Athletin. Die US-Amerikanerin Sandy Neilson trug beim Start in München selbstbewusst ein T-Shirt mit der Aufschrift „Nicht alles was glitzert ist Gould“, genauso wie ihre Landsfrau Melissa Belote gewann auch sie drei Goldmedaillen. Dominiert wurden die Schwimmwettbewerbe von der US-amerikanischen Mannschaft, die 17 Gold-, 14 Silber- und 12 Bronzemedaillen gewinnen konnte. Insgesamt wurden in 24 der 29 Disziplinen neue Weltrekorde aufgestellt, der olympische Rekord wurde bei allen Wettkämpfen verbessert. Wasserball An dem nur für Männer ausgetragenen olympischen Wasserballturnier nahmen 176 Athleten aus 16 Ländern teil. In der Vorrunde wurde in drei Gruppen gespielt. Die Medaillengewinner der Olympischen Spiele 1968, Jugoslawien, die Sowjetunion und Ungarn, wurden gesetzt, die übrigen Mannschaften zugelost. Die beiden Besten jeder Gruppe gelangten in die Finalrunde I, wo wie in der Vorrunde jeder gegen jeden spielte. Die Dritt- und Viertplatzierten jeder Gruppe erreichten die Finalrunde II, in der die Plätze sieben bis zwölf ermittelt wurden. Die Vorrundenergebnisse wurden dabei mitgezählt. Erstmals wurde die 45-Sekunden-Regel angewendet, welche besagt, dass die Mannschaft die im Ballbesitz war, innerhalb von 45 Sekunden einen Torschuss abgeben musste. Anderenfalls erhielt die andere Mannschaft den Ball. Das Turnier fand auf einem sehr unfairen Niveau statt, im Vorrundenspiel zwischen Jugoslawien und Kuba, welches 7:5 ausging, wurden mehrere Spieler beider Mannschaften blutig geschlagen. Im Finalrundentreffen zwischen Ungarn und Italien mit dem Ergebnis von 8:7 mussten innerhalb von 38 Sekunden acht Spieler wegen grober Fouls herausgestellt werden. Die Sowjetunion konnte durch das bessere Torverhältnis gegenüber Ungarn die Goldmedaille gewinnen. Die Bronzemedaille ging an die Vereinigten Staaten. Wasserspringen Im Wasserspringen wurde je ein Wettbewerb im Kunstspringen und Turmspringen für Männer und Frauen ausgetragen. Die US-amerikanischen Wasserspringer erlebten ein Desaster, indem sie nur je eine Gold-, Silber- und Bronzemedaille gewinnen konnten. Im Kunstspringen der Männer wurden die US-Amerikaner, nach elf Siegen in Folge, durch Wladimir Wassin aus der Sowjetunion und Giorgio Cagnotto aus Italien geschlagen. Bei den Frauen gewann im Turmspringen die Tschechoslowakin Milena Duchková Silber. Die Wettkämpfe wurden durch europäische Staaten dominiert. Segeln Im Segeln wurden sechs Wettbewerbe ausgetragen. Aus dem Programm gestrichen wurde die 5,5-Meter-Klasse, welche durch die Bootsklassen Tempest und Soling ersetzt wurde. In jeder Klasse sollten sieben Wettfahrten ausgetragen werden, die jedoch wegen der schlechten Wind- und Wetterverhältnisse nicht in jedem Fall gestartet werden konnten. In der Drachenklasse und in der Solingklasse wurde die sechste Regatta mehrfach verlegt, die siebte abgesagt. In der Solingklasse wurde das dänische Boot in der fünften Wettfahrt, nach einer Kollision mit der französischen Jacht, disqualifiziert. Paul Elvstrøm reiste daraufhin am 8. September erbost ab, ohne an der sechsten Wettfahrt teilgenommen zu haben. Im Flying Dutchman wiederholte Rodney Pattison seinen Olympiasieg von 1968. Der Schotte war so überlegen, dass ihm nach sechs Wettfahrten die Goldmedaille nicht mehr zu nehmen war. Daher verzichtete er auf eine Teilnahme an der siebten Regatta. In der Finn-Dinghy belegte der spätere Präsident des IOC, der Belgier Jacques Rogge, den 14. Platz, der spätere spanische König Juan Carlos I. belegte im Drachen den 15. Platz. Turnen Das olympische Programm umfasste 14 Wettbewerbe – acht für Männer und sechs für Frauen. Dabei wurden erstmals bei Olympischen Spielen drei voneinander unabhängige, getrennte Wettbewerbe ausgetragen. Das waren die Einzelmehrkampffinals, Gerätefinale und Mannschaftsmehrkampffinals. In je einem Pflicht- und Kürdurchgang wurden die Sieger im Mannschaftswettbewerb ermittelt. Danach folgte das Einzelmehrkampffinale, für das die besten 36 Sportler qualifiziert waren. Mit 16 von 24 möglichen Medaillengewinnen wurden die Männerwettkämpfe klar von den japanischen Turnern dominiert. Dabei gingen allein im Einzelmehrkampf, am Barren und am Reck jeweils alle drei Medaillen an japanische Sportler, welche jedoch von den angestrebten acht Goldmedaillen „nur“ fünf gewinnen konnten. Mit drei Gold- und zwei Silbermedaillen war Sawao Katō der erfolgreichste Turner und der insgesamt zweiterfolgreichste Athlet dieser Olympischen Spiele nach dem Schwimmer Mark Spitz. Bei den Frauenwettbewerben beherrschte die UdSSR-Mannschaft das Geschehen, indem sie zehn von 18 möglichen Medaillen gewann. Die 17-jährige Olga Korbut, die damals bei einer Größe von 1,55 Meter nur 38 Kilogramm wog, avancierte als „Spatz von Grodno“ zum Publikumsliebling dieser Olympischen Spiele. Im Einzelmehrkampf als prestigeträchtigsten Wettbewerb scheiterte sie jedoch, als sie zum Abschluss ihrer Stufenbarrenkür, einer Schwebekippe am unteren Holm, mit den Füßen an der Matte hängenblieb. Mit der daraus resultierenden Wertung von 7,50 Punkten blieb Korbut in der Endabrechnung lediglich der siebte Rang. Nach ihrer Stufenbarrenkür im Einzelwettbewerb kam es zu einem Tumult, als sie mit 19,450 Punkten „nur“ die Silbermedaille erreichte. Das Publikum pfiff minutenlang, da es diese Übung für unterbewertet hielt. Insgesamt konnte Olga Korbut drei Goldmedaillen und eine Silbermedaille erringen, womit sie die erfolgreichste Turnerin dieser Olympischen Spiele war. Volleyball An den olympischen Volleyballturnieren nahmen 140 Männer aus zwölf Ländern und 93 Frauen aus acht Ländern teil. Eine wesentliche Änderung des Reglements war die Festlegung des Ballgewichtes auf 250 bis 280 Gramm, außerdem wurden an den Netzenden flexible Antennen installiert, um den Schiedsrichtern die Arbeit zu erleichtern. Der Austragungsmodus wurde ebenfalls verändert. Statt einer Turnierrunde gab es nun Vorrunden in Sechser- beziehungsweise Vierergruppen und Platzierungs-, Halbfinal- und Finalspiele. Beim Turnier der Männer waren neben dem Gastgeber die beiden Finalteilnehmer der Olympischen Sommerspiele 1968, die ersten drei der Weltmeisterschaft von 1970 in Sofia, die Kontinentalmeister aus Afrika und Asien und die beiden Finalteilnehmer der Panamerikanischen Spiele startberechtigt. Die beiden restlichen Plätze wurden 1972 bei einem Turnier in Paris vergeben. Im Spiel um Platz drei trennten sich die Sowjetunion und Bulgarien mit 3:0. Am 9. September um 21 Uhr standen sich im Finale Japan und die DDR gegenüber. Japan gewann 3:1 und errang somit die Goldmedaille. Im gesamten Turnierverlauf wurden 40 Spiele ausgetragen. Beim Turnier der Frauen waren neben dem Gastgeber der letzte Olympiasieger, die vier Erstplatzierten der Weltmeisterschaft von 1970, der Asienvertreter und der Gewinner der Panamerikanischen Spiele teilnahmeberechtigt. Im Spiel um Platz drei trennten sich Nordkorea und Südkorea mit 3:0. Nach der Niederlage reichte die südkoreanische Mannschaft einen Protest ein und behauptete, dass es sich bei Kim Zung-bok, von deren Leistung die nordkoreanische Mannschaft am meisten profitiert hatte, um einen Mann handeln würde. Der Protest wurde jedoch abgewiesen, da die Medizinische Kommission der Spielerin ein Weiblichkeitszertifikat erteilt hatte. Daraufhin behaupteten die Südkoreaner, dass die Spielerin Han Jong-suk, die in der Olympiaauswahl nicht eingesetzt worden war, zum Sextest erschienen sei. Am 7. September um 21 Uhr standen sich im Finale die Sowjetunion und Japan gegenüber. Die Sowjetunion gewann 3:2 und errang somit die Goldmedaille. Im gesamten Turnierverlauf wurden 20 Spiele ausgetragen. Demonstrationssportarten Das IOC erlaubte dem Organisationskomitee zwei Demonstrationssportarten im Rahmen der Olympischen Sommerspiele auszutragen. Dieses entschied sich zu Beginn des Jahres 1971 für Badminton und Wasserski, in beiden Fällen blieb der erhoffte Zuspruch des Publikums aber aus. Im Badminton fanden vier Wettbewerbe statt. Eingeladen hierzu waren die Finalisten der „All England Championships“, die von der International Badminton Federation als inoffizielle Weltmeisterschaften angesehen wurden. Ebenso waren die Medaillengewinner der Europameisterschaften teilnahmeberechtigt. Mit zwei ersten und je einem zweiten und dritten Platz waren die indonesischen Badmintonspieler die erfolgreichsten. Die bundesdeutschen Spieler konnten drei dritte Plätze erreichen. Beim Wasserski wurden je drei Wettkämpfe für Männer und Frauen ausgetragen. In den Disziplinen Slalom, Figurenlauf und Springen waren 17 Männer und acht Frauen aus 20 Ländern zugelassen. Durch ungünstige Wetterbedingungen mussten einige Wettbewerbe auf den Passader See verlegt werden. Die US-amerikanischen Sportler waren mit drei ersten, zwei zweiten und einem dritten Platz die erfolgreichsten bei diesen Demonstrationswettkämpfen. Herausragende Sportler und Leistungen Insgesamt wurden bei den Olympischen Sommerspielen in München 52 Weltrekorde und 96 olympische Rekorde aufgestellt. Die britische Reitsportlerin Lorna Johnstone war mit 70 Jahren und fünf Tagen die älteste Olympiateilnehmerin aller Zeiten. Die Schwimmerin Kornelia Ender (DDR) war mit 13 Jahren und 308 Tagen die jüngste Medaillengewinnerin dieses Turniers. Die jüngste Olympiasiegerin wurde Deena Deardurff (USA) mit 15 Jahren und 114 Tagen im Schwimmen (4 × 100 m Lagen). Der westdeutsche Reitsportler Josef Neckermann war mit 60 Jahren und 96 Tagen der älteste Medaillengewinner dieser Spiele. Der älteste Olympiasieger wurde Hans Günter Winkler (BRD) mit 46 Jahren und 50 Tagen im Springreiten. Berichterstattung Im Mai des Jahres 1968 gründeten ARD und ZDF das Deutsche Olympia-Zentrum (DOZ) mit Sitz in München, als Geschäftsführer wurde der Journalist und Fernsehmoderator Robert Lembke eingesetzt, außerdem wurde festgelegt, dass der NDR-Sportredakteur Horst Seifart Weltregie führen sollte. Das DOZ entwickelte zusammen mit Vertretern des Organisationskomitees und der Stadt München einen Zeitplan für die Olympischen Spiele. Als Pressechef fungierte der Journalist, Diplomat und spätere Politiker Hans Klein. Auf Anregung dieser Organisatoren wurde der Beginn der Eröffnungsfeier auf 15:00 Uhr festgelegt, damit sie rund um den Erdball zu einer empfangsgünstigen Zeit live ausgestrahlt werden konnte. In Deutschland wurde die Eröffnung im Hörfunk durch die ARD-Olympiawelle übertragen, Reporter waren hierbei Oskar Klose, Eberhard Stanjek und Peter Langer. Im Fernsehen wurde diese Veranstaltung durch das ZDF mit den Reportern Werner Schneider und Walther Schmieding ausgestrahlt. Auch die spannendsten Entscheidungen wurden zeitlich so gelegt, dass sie in möglichst vielen Ländern günstig übertragen werden konnten. Insgesamt wurden mehr als 4500 Journalisten akkreditiert. Erfasst wurden in München 1896 Journalisten der schreibenden Presse, 358 Fotografen, 502 Nachrichtenagenturen, 182 Rundfunkgesellschaften und 1400 TV-Techniker. In Kiel wurden 256 Fotografen und 80 Techniker registriert. Das Organisationskomitee verwaltete die Fernsehrechte und zog die Lizenzgebühren für die Übertragungsrechte ein, ein Viertel dieser Lizenzgebühren erhielt das IOC. Insgesamt wurden 25 Verträge geschlossen, an denen Fernsehstationen aus 95 Ländern beteiligt waren. Die höchste Einzellizenz mit 13,5 Millionen Dollar bezahlte die kommerzielle amerikanische Fernsehgesellschaft American Broadcasting Company (ABC). Frei von Lizenzkosten blieben die 78 Hörfunkstationen aus aller Welt, die während der Olympischen Spiele live berichteten. ARD und ZDF sendeten während der Wettkämpfe in täglichem Wechsel insgesamt 230 Stunden, der Bayerische Rundfunk hatte eine Olympiawelle eingerichtet, die täglich von 6 Uhr bis Mitternacht sendete. In gedruckter Form und in neun Sprachen erschienen 32 Ausgaben der „Olympia Press“. Diese Pressebulletins hatten eine Auflage von etwa 20.000 Stück. 1974 gab das Organisationskomitee einen dreiteiligen offiziellen Bericht heraus. In deutscher, englischer und französischer Fassung wurden darin auf fast 1200 Seiten alle Informationen zu den Olympischen Spielen 1972 in München veröffentlicht. Musik Im Jahr 1970 wurden alle deutschen Komponisten vom „Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972“ eingeladen, eine Olympia-Fanfare zu schaffen. Das Musikstück durfte nach Belieben instrumentiert werden, sollte nicht länger als zwei Minuten dauern und von dreiteiliger Form sein: Ein Kennmotiv von etwa zehn Sekunden, ein Mittelteil und eine „akustisch-dynamisch und musikalisch gesteigerte Reprise“. Einsendeschluss für den Wettbewerb, an dem auch Amateure teilnehmen durften, war der 31. Dezember 1970. In der Jury saßen Komponisten, Musikwissenschaftler, Musikhochschuldirektoren, Rundfunk- und Fernsehschaffende sowie zehn aktive Sportler. Am Samstag, dem 24. April 1971, fand die Endausscheidung zur Wahl der Olympia-Fanfare live im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF statt. Unter 719 Einsendungen waren sechs Komponisten für das Finale ausgewählt worden. Moderator Harry Valérien verkündete das Ergebnis: Das Stück des Hamburger Komponisten Herbert Rehbein, einem Weggefährten des bekannten Bandleaders Bert Kaempfert, hatte die meisten Stimmen erhalten und damit gewonnen. Die Studioversion der Olympia-Fanfare wurde vom Orchester des Bayerischen Rundfunks und Mitgliedern des Luftwaffenmusikkorps Neubiberg unter der Leitung von Willy Mattes aufgenommen und fand Verwendung als Erkennungsmelodie zum Beginn der Fernsehübertragungen des Deutschen Olympia-Zentrums (DOZ). Die Siegerehrungen nach den Wettkämpfen wurden jeweils ebenfalls durch die Olympia-Fanfare angekündigt. Kurt Edelhagen, der Leiter der Big-Band des Westdeutschen Rundfunks, hatte auf Willi Daumes Anfrage, ob er Lust habe, die Musik zur Eröffnungsfeier zu machen, sofort zugesagt. Als Verantwortlicher für Idee, Gestaltung und Produktion wählte er Volksmusikstücke aus allen Erdteilen und ließ sie von den drei Arrangeuren Peter Herbolzheimer, Dieter Reith und Jerry van Rooyen zu einer originellen Mischung aus Folklore und Swing aufpeppen. Eineinhalb Jahre Arbeit steckten Kapellmeister Edelhagen und sein Team in die 90-minütige Festmusik. Ein halbes Jahr vor den Spielen hatte man sich für die Playback-Variante entschieden, da die Arrangements mit teilweise aus Museen entliehenen alten Instrumenten beim besten Willen nicht für eine Live-Performance geeignet waren. Live zu hören waren nur die Trommler: Vier Schlagzeuger saßen mit hochempfindlichen Kopfhörern im engen Interviewstudio des Olympiastadions und schlugen den Einmarschrhythmus, wenn der Ton von einem Arrangement zum anderen wechselte, um Übergänge zu kaschieren. Zusätzlich zu der Musik von Kurt Edelhagen wurde auch eine Single von Bert Kaempfert veröffentlicht, deren Titel von Herbert Rehbein komponiert wurden: Olympia 1972 – Munich Fanfare (2:45) und Olympia 1972 – Under The Olympic Sign (2:50), veröffentlicht in Stereo auf Polydor 2001 247. Die olympische Hymne wurde erstmals in der Geschichte der Olympischen Spiele nur instrumental aufgeführt, üblich war bis dahin ein Chor. Der Knabenkapelle Dachau wurde die Teilnahme an den Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele verwehrt. Die Manager der Olympischen Spiele von München bestellten erst für ihre große Völkerverständigung die Posaunentöne auch bei dem Dachauer Kinderverein, schlossen sie dann jedoch vom Einmarsch ins Stadion aufgrund der Vergangenheit der Stadt Dachau im Zweiten Weltkrieg aus. Literatur Matthias Dahlke: Der Anschlag auf Olympia ’72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland. Martin Meidenbauer Verlag, München 2006, ISBN 3-89975-583-9. Roman Deininger, Uwe Ritzer: Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland. dtv, München 2021, ISBN 978-3-423-28303-8. Eva Maria Gajek: Imagepolitik im olympischen Wettstreit. Die Spiele von Rom 1960 und München 1972, Göttingen 2013, Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1196-1. Bodo Harenberg: München 1972. Daten zu den Olympischen Spielen 1972. Habel Verlag, Königswinter 1982, ISBN 3-87179-033-8. Matthias Hell: München ´72. Olympia-Architektur damals und heute. MünchenVerlag, München 2012, ISBN 978-3-937090-63-4, S. 108–111. (Gespräche mit Beteiligten und Kapitel „Der Olympische Alptraum“) Rupert Kaiser: Olympia Almanach von Athen 1896 bis Athen 2004. AGON Sportverlag, Kassel 2004, ISBN 3-89784-246-7. Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik III. Mexiko-Stadt 1968 – Los Angeles 1984. Sportverlag Berlin, Berlin 2000, ISBN 3-328-00741-5. Karl H. Krämer: Architektur und Wettbewerbe, Olympische Bauten München 1972. Krämer Verlag, Stuttgart 1970, ISBN 3-7828-0207-1. David Clay Large: Munich 1972. Tragedy, Terror and Triumph at the Olympic Games. Rowman & Littlefield Publishers, Lanham, Maryland, USA 2011, ISBN 978-0-520-26215-7. Eva Maria Modrey: Das Publikum und die Medien: Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1972. In: Frank Bösch, Patrick Schmidt (Hrsg.): Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-593-39198-4, S. 243–275. Werner Pietsch: Olympia in der Tasche – Treffpunkt München ’72. Ullstein Verlag, Berlin 1971, ISBN 3-550-06441-1. Kay Schiller, Christopher Young: The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany. University of California Press, Berkeley/ Los Angeles/ London 2010, ISBN 978-0-520-26213-3 (dt. Übersetzung aus dem Engl. von Sonja Hogl: München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland, Wallstein Verlag, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-1010-0). Werner Schneider: Die Olympischen Spiele 1972. München, Kiel, Sapporo. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1989, ISBN 3-570-04559-5. Harry Valérien: Olympia München 1972. München, Kiel, Sapporo. Südwest-Verlag, München 1982, ISBN 3-517-00930-X. Weblinks Seite des Deutschen Historischen Museums Seite des IOC Offizieller Bericht, Band 1 „The organisation“, Teil 1 (englisch, PDF-Datei, 20 MB) Offizieller Bericht, Band 1 „The organisation“, Teil 2 (englisch, PDF-Datei, 22 MB) Offizieller Bericht, Band 2 „The constructions“, Teil 1 (englisch, PDF-Datei, 21 MB) Offizieller Bericht, Band 2 „The constructions“, Teil 2 (englisch, PDF-Datei, 15 MB) Offizieller Bericht, Band 3 „The competitions“ (englisch, französisch, Deutsch, PDF-Datei, 28 MB) Olympia-Fanfare & DOZ-Intro München 1972 Filmothek im Bundesarchiv: UFA-Dabei 840/1972 29.08.1972: Aufnahmen von den XX. Olympischen Spielen UFA-Dabei 841/1972 06.09.1972: Aufnahmen von den XX. Olympischen Spielen Deutschlandspiegel 217/1972 27.09.1972: Aufnahmen von XX. Olympischen Spielen Einzelnachweise 1972 Olympische Spiele (Deutschland) Multisportveranstaltung 1972 Sportveranstaltung in München München im 20. Jahrhundert Olympiastadion München
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred%20North%20Whitehead
Alfred North Whitehead
Alfred North Whitehead OM (* 15. Februar 1861 in Ramsgate; † 30. Dezember 1947 in Cambridge, Massachusetts) war ein britischer Philosoph und Mathematiker. Bekannt wurde Alfred Whitehead durch das Standardwerk „Principia Mathematica“ über Logik, das er zusammen mit seinem langjährigen Schüler und Freund Bertrand Russell zwischen 1910 und 1913 in drei Bänden veröffentlichte. Es stellt den Versuch dar, im Sinne des logizistischen Programmes alle wahren mathematischen Aussagen und Beweise auf eine symbolische Logik zurückzuführen. Obwohl ein geplanter vierter Band nicht mehr veröffentlicht wurde und die Frage, ob der Versuch selbst erfolgreich war, weiterhin kontrovers diskutiert wird, wurde „Principia Mathematica“ zu einem der einflussreichsten Bücher der Geschichte der Mathematik und Logik. In seiner Londoner Zeit von 1911 bis 1924 machte Whitehead sich einen Namen als Naturphilosoph, als Wissenschaftstheoretiker, als Kritiker der Ausbildung an Großbritanniens Universitäten und als Autor mehrerer Bücher über Erziehung. Nach seiner Berufung an die Harvard University im Jahr 1924 konnte er sich ganz der weiteren Ausarbeitung seiner prozessphilosophischen Metaphysik widmen. Als sein philosophisches Hauptwerk gilt „Process and Reality“ (1929), in dem er seiner „Philosophy of Organism“ die Form gab, die später auch zur Grundlage der Prozesstheologie wurde. Darin strukturiert er auf der Grundlage der Rationalität und Kohärenz die Wirklichkeit als einen Organismus, der sich in elementaren Ereignissen vollzieht und sich in einer evolutionären Entwicklung befindet. Obwohl die philosophische Sekundärliteratur zu Whitehead umfangreich ist, ist der Einfluss seiner Metaphysik auf die akademische Philosophie bis heute bescheiden geblieben. Familie, Schule und Studium Alfred North Whitehead wurde 1861 in Ramsgate, einer kleinen Hafenstadt im Südosten Englands, geboren. Er war das jüngste der vier Kinder von Alfred Whitehead, einem anglikanischen Pfarrer, und Maria Sarah Buckmaster, einer Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Sein Vater unterrichtete ihn bis zum Alter von 14 Jahren zu Hause, da Alfreds Gesundheitszustand von den Eltern als zu schwach für den Besuch einer öffentlichen Schule und der damit verbundenen körperlichen Aktivität eingeschätzt wurde. Vom September 1875 an wurde er vier Jahre an der Sherbourne Independent School in Dorset unterrichtet, wo sich sein herausragendes mathematisches Talent zeigte. 1879 erhielt Whitehead ein Stipendium für das Trinity College in Cambridge und begann dort 1880 mit dem Studium der Mathematik. Am Trinity College besuchte er unter anderem Vorlesungen von James Whitbread Lee Glaisher, Arthur Cayley und George Gabriel Stokes. Bei den „Tripos“ (den nicht nur für eine mathematische Karriere entscheidenden schriftlichen, sehr kompetitiv angelegten Mathematik-Prüfungen in Cambridge) 1883/84, auf die er sich mit Edward Routh vorbereitete, wurde er Viertbester. Cambridge Beginn der Karriere 1884 wurde Whitehead Fellow und Assistant Lecturer und später (1888) Lecturer in Cambridge, obwohl er kaum publizierte. Ebenfalls 1884 wurde er in den Debattierclub der Cambridge Apostles aufgenommen. Hier lernte er Persönlichkeiten wie Moore, Keynes und McTaggart kennen, auch sein Interesse an Philosophie, Theologie und weiteren Wissenschaften wurde geweckt und entwickelt. 1884 schrieb Whitehead seine Examensarbeit über Maxwells Theorie der Elektrodynamik. Während eines Freisemesters 1885 reiste er nach Deutschland, um bei Felix Klein Mathematikvorlesungen zu besuchen. 1890 heiratete Whitehead Evelyn Willoughby Wade, die aus einer adligen Familie stammte und in Frankreich erzogen worden war. Das Paar hatte drei Kinder, zwei Söhne, Thomas North und Eric Alfred, sowie eine Tochter, Jessie Marie. Der jüngere der beiden Söhne, Eric Alfred Whitehead, fiel 1918 im Ersten Weltkrieg bei einem Patrouillenflug in Frankreich im Rang eines Leutnants der Royal Air Force. Die Ehe, die bis zu seinem Tod Bestand hatte, war von Beginn an eine große Bereicherung für Whiteheads Denken. Insbesondere das Interesse seiner Frau für Ästhetik inspirierte ihn, diese Aspekte in seine grundlegenden Reflexionen über die Natur einzubeziehen. Obwohl Alfred North Whitehead durch die Familie und Erziehung in der anglikanischen Kirche beheimatet war, begann er 1890 eine mehrjährige Auseinandersetzung mit den Lehren der römisch-katholischen Kirche. Angeregt und beeinflusst wurde dieses Interesse durch seine Frau und die Schriften von John Henry Newman. Diese Zeit endete nach einer Dekade mit der Feststellung Whiteheads, dass er nun eine agnostische Haltung gegenüber den Religionen eingenommen habe, nach eigenen Worten beeinflusst durch den raschen Fortschritt in der Physik und die damit verbundene Abkehr vom Newtonschen Weltbild. Principia Mathematica Ab 1891 arbeitete er an dem Werk „Treatise on Universal Algebra“, einer sehr ambitionierten Arbeit über vergleichende Untersuchungen rein symbolisch basierter Beweisführungen, die allerdings erst 1898 erschien. Aufgrund des Treatise wurde Whitehead 1903 in die Royal Society gewählt. Ab 1890 war Whitehead auch der Lehrer von Bertrand Russell, nachdem dieser in Cambridge sein Studium begann. Ihre Zusammenarbeit an den „Principia Mathematica“ begann wahrscheinlich Ende 1901 oder Anfang 1902. Anlass war ihr Besuch des Internationalen Mathematikkongresses in Paris 1900, wo sie die Arbeit von Giuseppe Peano über die Grundlagen der Mathematik kennenlernten. Whitehead und Russel wurden in der Folge auch privat gute Freunde. Russell führte Peanos Ansätze mit der herausragenden Veröffentlichung „Principles of Mathematics“ (1903) fort. Schon diesem Werk liegt der Anspruch zugrunde, die Logik als das fundamentale Prinzip der Mathematik darzustellen. Mit den „Principia Mathematica“ sollte dann gezeigt werden, dass die gesamte Arithmetik auf einen Satz aus Axiomen und Schlussregeln zurückgeführt werden kann, der direkt aus der Logik ableitbar ist. Damit führten die Autoren die grundlegenden Fortschritte der Mathematik und Logik durch George Boole, Charles S. Peirce, Gottlob Frege, Hermann Graßmann und anderen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter. Die Arbeit an den „Principia Mathematica“ führte beide an ihre physischen und psychischen Grenzen und nahm sie bis zur Veröffentlichung des ersten Bandes 1910 stark in Anspruch. Um die drei Bände letztlich beim Verlag Cambridge University Press zu veröffentlichen, mussten Whitehead und Russel jeweils 50 Pfund aus eigener Tasche beisteuern. Whitehead gab für diese Zusammenarbeit die Beschäftigung mit dem geplanten zweiten Band seiner Universellen Algebra auf. Trotz seiner Arbeit an „Principia Mathematica“ machte Whitehead in Cambridge keine typische Mathematikerkarriere. Sein Interesse blieb auf die Erfassung und Ausarbeitung der Grundlagen der Logik und Mathematik gerichtet. Einige seiner wenigen Veröffentlichungen in dieser Zeit sind „On Mathematical Concepts of the Material World“ (1905), „Axioms of Projective Geometry“ (1907) und „Axioms of Descriptive Geometry“ (1907). 1911 veröffentlichte Whitehead eine an die breite Leserschaft gerichtete Einführung in die Mathematik („An Introduction to Mathematics“), die weithin populär wurde und auch heute noch als eines der besten Bücher seiner Art gilt. London 1910 gab Whitehead seine Position in Cambridge auf und ging ohne die Aussicht auf eine konkrete Anstellung nach London. Äußerlicher Anlass war der Verlust der Fellowship seines Freundes und Kollegen Andrew Russell Forsyth. Ein Jahr später erhielt er eine Berufung als Lehrbeauftragter für reine Mathematik an das University College London und 1914 eine Professur für Angewandte Mathematik (damals nicht unterschieden vom Fach Physik) am Imperial College of Science. Theorie der Erziehung In seiner Londoner Zeit nahm Whitehead mehrere Stellen in der akademischen Administration an, unter anderem als Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät, als Mitglied verschiedener Kommissionen zur Reform der universitären Ausbildung und als Senatsmitglied der University of London. Hier versuchte er seine Kritik an den zu konservativen universitären Institutionen praktisch umzusetzen. In „The Aims of Education and Other Essays“ fasste er 1916 seine Forderungen an eine erfolgreiche Erziehung und Ausbildung zusammen. Kreativität und Genauigkeit oder Freiheit und Disziplin werden hier für Whitehead nicht nur die grundlegenden Elemente seiner Philosophie und die Ideale der Arbeitsweise in der Mathematik, sondern auch die allgemeinen Erziehungsideale eines Menschen. Erziehung sollte keine Vermittlung starrer Ideale und Inhalte sein, sondern den Menschen zur Selbstentwicklung stimulieren. Sie ist dann erfolgreich, wenn sie zu einer intensivierten Wahrnehmung der Gegenwart führt. Die Folge ist im idealen Fall die Entwicklung eines eigenen „geistigen Stiles“, der „höchsten Moralität des Geistes“, ein ästhetischer Wert, der allen Erfahrungsprozessen ihren Sinn verleiht und sich weiterhin in einer „Bewunderung“ für das direkte Erreichen eines Zieles ohne Überflüssigkeiten ausdrückt. Die Anfänge der Naturphilosophie Whitehead, der nie eine Vorlesung in Philosophie besucht hatte, begann nun nach und nach seine Vorstellungen von einer naturphilosophischen Grundlegung zu veröffentlichen. Sein lebenslanges Leitmotiv war dabei die Ausarbeitung einer Systematik der grundlegenden Elemente der Wirklichkeit, die er mithilfe einer kreativen spekulativen Philosophie formuliert, aber auch an den Kriterien der Logik und Kohärenz ständig überprüft hat. Am Beginn seiner Überlegungen standen häufig fundamentale philosophische Probleme aus der Theorie und Praxis der Logik, Mathematik und Physik. Geometrie und Logik Seit der griechischen Antike galt die euklidische Geometrie als Inbegriff für die Fähigkeit des Menschen, die Natur des Raumes in allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Dieses Wissen schien sogar a priori, also vor und unabhängig von jeder Erfahrung, möglich zu sein. Nach dem Aufkommen alternativer Geometrien im 19. Jahrhundert konnte dagegen keine Geometrie mehr beanspruchen, den wirklichen Raum zu beschreiben. Da aber die Einsteinsche Relativitätstheorie die Riemannsche Geometrie voraussetzt, folgerte Whitehead, dass es nicht entscheidbar ist, welche Geometrie den Raum tatsächlich beschreibt. Ebenso hat sich die Unumstößlichkeit der aristotelischen „klassischen Logik“ als Abbild der Wirklichkeit infolge der Fortschritte der Logik als trügerisch erwiesen. Dies führte nach Whiteheads Ansicht gar in eine Krise der Vernunft. Beide Erkenntnisse erschüttern demnach unsere Vorstellung, die Natur mit Hilfe unserer Alltagserfahrung zu verstehen. Raum, Zeit und Materie Grundlage der wissenschaftlichen Begrifflichkeit in der Newtonschen Physik und dem zugrunde liegenden Naturschema bilden die jeweils voneinander unabhängigen Kategorien „Raum“, „Zeit“ und „Materie“. Raum und Zeit sind bei Newton wie ein Behälter, in dem jedes Materieteil einen bestimmten Platz hat. Diese mechanistische Naturauffassung ist für Whitehead jedoch generell ungeeignet, um Veränderungen darzustellen. So müsste beispielsweise jede Richtungsänderung eines (theoretisch unendlich harten) Körpers in der klassischen Mechanik mit unendlich hoher Geschwindigkeit erfolgen. Die Anwendung dieses Schemas in der Physik führt nach Whitehead zum „Trugschluss der unangebrachten Konkretisierung“ („“). Er argumentiert dabei, dass sich die scheinbar eindeutige Zuordnung von sehr abstrakten und vereinfachenden Begriffen zu umfassenden Beschreibungen der Wirklichkeit nicht mit unseren unmittelbaren Erfahrungen deckt, denn wir brauchen immer eine konkrete Gesamtheit, um daraus ein Teil zu isolieren. Ein Teilproblem davon ist der „Trugschluss einfacher Lokalisierung“ („fallacy of simple location“). Die Zuweisung eines Raumpunktes zu einer bestimmten Form Materie setzt die Unabhängigkeit beider Kategorien voraus. Dies führt aber nach Whitehead unweigerlich in Widersprüche. Dasselbe gilt für die Beziehung zwischen Zeit und Materie. So muss Vergangenes in der Gegenwart anwesend sein, damit wir Erinnerung besitzen können, die ja mit der materiellen Form korrespondiert. Ebenso wird der Materie eine „instantane Existenz“ zugesprochen, also eine nicht-zeitliche Präsenz, die für Whitehead jeder Erfahrung widerspricht, die Existenz nur anhand einer Dauer vermittelt. Kritik am Substanzmaterialismus Die Substanzmetaphysik seit Aristoteles beruht nach Ansicht Whiteheads auf einer zu starken Orientierung des Denkens und der Philosophie an der Subjekt-Prädikat-Struktur der Alltagssprache. Dinge, die lange andauern, halten wir nach Whitehead für realer als Dinge, die nur kurz in unserem Bewusstsein auftauchen. Da aber jede Wahrnehmung, jede Messung und jedes Ereignis „andauert“, sind für Whitehead die Geschehnisse selbst und nicht die Dinge oder die Tatsachen (wie nach Wittgensteins Ontologie im Tractatus) die eigentlichen Grundbausteine der Realität. Die gewöhnliche, substanzmaterialistische Sicht ist, dass wir ein Geschehen immer an einer Substanz festmachen, „mit“ der etwas geschieht. Die Trennung der Substanzen „Materie“ und „Geist“ im cartesianischen Dualismus lehnt Whitehead strikt ab. Nichts in unserer Erfahrung, so schreibt er, bestehe ausschließlich aus Materie oder ausschließlich aus Geist. Whitehead erkennt allerdings die Unterschiede zwischen Materie und Geist an und versucht nicht, sie in einem neutralen Monismus aufzuheben. In seiner späteren Metaphysik bilden die Bereiche Materie und Geist die „Pole“ der „wirklichen Ereignisse“, die dann die grundlegenden Bausteine der Wirklichkeit sind. Wirkliche Ereignisse 1920 legte Whitehead in „The concept of Nature“ einen naturphilosophischen Ansatz vor, dessen grundlegender Terminus zur Bezeichnung dieser Grundbausteine das „wirkliche Ereignis“ („actual entity“, auch „wirkliches Einzelwesen“) ist. Das Ereignis ist das, was immer Teil der Realität ist, die substanzmaterialistischen Kategorien von Subjektivität und Objektivität oder von Wirklichkeit und Erscheinung spielen dafür keine Rolle. Ebenso vermeidet Whitehead so die Suche nach einer Seelensubstanz oder die Bestimmung des „Wesens der Materie“, die viele Ontologien bestimmt. Wirkliche Einzelwesen sind atomar, ihren Aspekten und Eigenschaften kann keine eigenständige Existenz zukommen. Das konkrete Bewusstsein eines Menschen in einem Augenblick ist ein wirkliches Einzelwesen, ebenso wie „der trivialste Hauch von Sein im weit entlegenen leeren Raum“ („Prozess und Realität“, S. 58) und letztlich ebenso Gott. Ihr Sein ist ein Prozess des Werdens, ihre Bestimmung ist im höchsten Maße von den Beziehungen zu letztlich allen anderen wirklichen Einzelwesen abhängig. Das scheinbare Andauern der Dinge leitet sich aus der ständigen Wiederholung der Ereignisse ab, die diese Dinge zum Inhalt haben. Dinge, die nur eine einzige mögliche Bestimmung haben, können sich nicht verändern und dauern somit ewig an. Diese nennt Whitehead „ewige Objekte“ („eternal objects“) oder „reine Möglichkeiten“ („pure potentials“). Zusammen mit dem Begriff der „Erfassung“ („prehensions“) bilden sie das Herzstück der späteren Metaphysik Whiteheads. Die Elemente der traditionellen Naturauffassung wie „Raum“ werden darauf aufbauend als Phänomen verstanden und konstruiert. „Dauer“, „Relationalität“ und „Bedeutung“ sind so keine nachträglich in den Naturwissenschaften konstruierte Begriffe, sondern werden bei Whitehead zu den Grundelementen der Naturauffassung. Ist nach der traditionellen Auffassung die Materie das Reale und die Veränderungen Erscheinungen daran, so wird die passive, unveränderliche Materie bei Whitehead zur Erscheinung der natürlichen Realität, die durch Ereignisse und Veränderungen bestimmt wird. Prägend für die Erscheinung der Dinglichkeit ist demnach eine ständige Wiederholung der Ereignisse; die Täuschung ist die Annahme der selbstständigen Existenz eines Dinges, das Reale ist das Ereignis. So ist beispielsweise die Messung des Atomgewichtes eines Bleiatomes ein einmaliges, reales Ereignis. Erst die Wiederholung dieses Ereignisses führt zur Annahme eines eigenständigen Objektes „Blei“ samt seiner Eigenschaft „Gewicht“. Beides sind konstruierte Abstraktionen und haben für Whitehead keine Entsprechung in der grundlegenden Realität der Natur. Wie Whitehead einräumt, besitzen wir noch keine wissenschaftliche Methode oder auch nur ein Prinzip zur Bestimmung der aktuellen – und notwendigerweise endlichen – Anzahl und Dauer wirklicher Ereignisse. Er sieht die Mathematik aber erst am Anfang ihrer Entwicklung und macht sich deshalb um diesen Umstand keine weiteren Gedanken. Methode der extensiven Abstraktion In „Enquiry concerning the Principles of Natural Knowledge“ (1919) stellte Whitehead seine Methode der „extensiven Abstraktion“ vor. Scheinbar einfache Grundelemente der euklidischen Geometrie, aber auch der mathematischen Physik wie ein Punkt, sind für Whitehead reine Abstraktionen. Um diese aus den wirklichen Elementen der Erfahrung abzuleiten, formuliert er eine Relation des „Ausgedehntseins-über“. Eine Menge von Ereignissen kann so zu einer komplexen Klasse zusammengestellt werden, die in einer Art Intervallschachtelung gegen das geometrische Element, ähnlich den russischen Puppen, konvergiert. Die Methode der extensiven Abstraktion ist später von Alfred Tarski erweitert worden und heute unter dem Namen „Point-free geometry“ bekannt. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte Whitehead untersucht die Wissenschaft als Teil des Lebensprozesses und ihre Methode der Erkenntnisgewinnung im Hinblick auf ihre naturphilosophische Deutung. Er kommt in seinen wissenschaftshistorischen Betrachtungen teilweise zu ähnlichen Ergebnissen wie später Paul Feyerabend und Kuhn, bewertet sie aber anders. Auch in den Wissenschaften gibt es nach Whitehead ähnlich wie in der Politik konservative und revolutionäre Tendenzen; Wissenschaft als ein rein nach Wahrheit und Erkenntnisgewinn strebendes Unternehmen zu sehen, ist in seinen Augen viel zu naiv. Wenn die konservativen, obskuranten, auf ihr Überleben eingestellten Wissenschaftsstrukturen die Oberhand gewinnen, wird alles Neue, das nicht in das Schema passt, als irrelevant eingestuft. So steht jede wissenschaftliche Methode in einer „Lebensphase“. Am Anfang werden Erfahrungen integriert, die vorher ignoriert wurden, dann folgt die Systematisierung (bei Kuhn: „normal science“) und die Endphase, in der nur noch über Nebensächliches diskutiert wird und die eigentlichen inhaltlichen Fragen nicht mehr behandelt werden. Die Relevanz neuer Erkenntnisziele wird geleugnet und die alte Methodik wird um ihrer selbst willen erhalten. Dem entgegen stellt Whitehead eine „methodisch kontrollierte Spekulation“, die einerseits vor Scharlatanerie und andererseits vor Obskurantismus schützen soll. Die Methode ist allgemein die Logik und die Mathematik. Der Obskurantismus der modernen Wissenschaft besteht für Whitehead vor allem in der widersinnigen Leugnung der Zweckmäßigkeit der Natur. So fragt Whitehead zugespitzt: Welchen Zweck verfolgt ein Naturwissenschaftler, der die Zweckmäßigkeit in der Natur leugnet? Die Zweckmäßigkeit einer Erkenntnisgewinnung, die per Definition über eine Erhaltung hinaus auf Neues gerichtet ist, müsse somit außerhalb einer Natur liegen, die selbst keiner Zweckmäßigkeit unterliegt. Harvard Anfang der zwanziger Jahre war Whitehead nicht nur einer der angesehensten Logiker und Mathematiker (er schrieb beispielsweise den Artikel „Mathematik“ für die 11. Auflage der Encyclopædia Britannica), sondern auch ein ebenso beachteter Wissenschaftsphilosoph. Am 6. Februar 1924, Whitehead war 63 Jahre alt, erhielt er eine Einladung für eine auf zunächst fünf Jahre befristete Philosophieprofessur ohne inhaltliche Beschränkung an die Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts, USA), die er im Oktober desselben Jahres antrat. Schnell wurde er dort dafür bekannt, dass er mit seinen Vorlesungen keine Rücksicht auf die Fähigkeit seiner Zuhörerschaft nahm, seinen komplexen und inhaltsschweren Ausführungen zu folgen. Während seiner Zeit in Amerika nahm Whitehead mehrere Gastprofessuren im Land an. In Amerika und im amerikanischen Pragmatismus, insbesondere in der von Peirce vertretenen Form, sah Whitehead auch in philosophischer Hinsicht die „Zukunft“. Kritik des Wissenschaftlichen Materialismus Aus mehreren Vorlesungen im Rahmen der Lowell Lectures an der Universität Boston ist eines seiner bemerkenswertesten Bücher hervorgegangen. In Science and the Modern World (1925) kritisiert Whitehead den in den Naturwissenschaften verbreiteten Materialismus als die Folge des Irrtums, der die abstrakten Systeme der mathematisch formulierten Physik für die Wirklichkeit hält. Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung sieht er im Beginn der naturwissenschaftlichen Forschung des 17. Jahrhunderts, als sich Wissenschaft und Philosophie den zunehmend getrennten Bereichen Natur und Geist zuwendeten. Dies kommt für Whitehead letztlich einer „Entsubjektivierung der Natur“ und einer „Denaturalisierung des Subjekts“ gleich. Diese Trennung des Menschen und seiner Erfahrung von einer postulierten objektiven Wirklichkeit im Newtonschen Wissenschaftsbild war ein häufiger Ansatzpunkt für Whiteheads Kritik und der Ausarbeitung seiner prozessorientierten Metaphysik. Ebenfalls auf der Grundlage von Vorlesungen folgten zwei weitere Schriften, in denen Whitehead seinen neuen philosophischen Ansatz ausbaute. In Religion in the Making (1926) entwickelt er die Idee eines immanenten Gottesverständnisses, das in der Prozesstheologie aufgenommen wurde. Eine eigenständige Theorie der Wahrnehmung, in der er sowohl den Empirismus David Humes als auch den Idealismus Kants kritisierte, legte er in Symbolism. Its Meaning and Effect (1927) vor. Process and Reality Im Januar 1927 erhielt Whitehead von der University of Edinburgh in Schottland eine Einladung zu einer Vorlesungsreihe der berühmten Gifford Lectures zur natürlichen Theologie. Die angesetzten zehn Vorträge baute Whitehead später zu 25 Kapiteln aus. Die Veröffentlichung in Buchform 1929 wurde mit „Process and Reality. An Essay in Cosmology“ sein philosophisches Hauptwerk und eines der wichtigsten der westlichen Metaphysik. Ähnlich wie seine Gifford Lectures, denen die Zuhörer in Scharen wegliefen, wurde „Process and Reality“, das wegen seines schwierigen Gedankengangs und einer eigenwilligen Sprache als schwer verständlich galt, von der Fachwelt nur zögerlich aufgenommen. In diesem Werk fällt auch Whiteheads berühmtes Zitat: Späte Schriften „The Function of Reason“ (Funktion der Vernunft) aus dem Jahr 1929 ist eine eher wissenschaftstheoretische Betrachtung, die die Prozessphilosophie ergänzt. 1929/1930 war Whitehead Mary Flexner Lecturer am Bryn Mawr College. Diese Vorlesungen wurden zusammen mit anderen, die er am Dartmouth College und als Davis Lecturer in Columbia gehalten hatte, 1933 unter dem Titel The Adventures of Ideas (Abenteuer der Ideen) veröffentlicht. Whitehead bezeichnete diese Arbeit als eine Studie über den Begriff der Zivilisation und als Versuch, zu verstehen, wie es zur Entstehung zivilisierter Wesen kommt. Neben ideengeschichtlichen Themen ergänzte Whitehead hier sein Werk auch um ästhetische Betrachtungen. Schließlich erschien 1938, kurz nach Whiteheads Emeritierung, Modes of Thought (Denkweisen), in der er seine Vorlesungen an der Universität Chicago, die er bereits unter dem Titel Nature and Life (1933) veröffentlicht hatte, sowie Vorlesungen am Wellesley College von 1937/1938 zusammenfasste. Ruhestand und Würdigung Nach seinem Schüler und Biographen Victor Lowe war Whitehead aufgrund seiner Höflichkeit und Hilfsbereitschaft ein beliebter Lehrer und Mensch, dazu klug, verbindlich, ruhig und bisweilen stur. Lowe charakterisierte ihn als einen durch eine viktorianische Lebenshaltung geprägten Menschen. Neben einer ausgeprägten Intuition zeichneten Whitehead auch ein klarer Verstand, ein realistischer Geist sowie Güte und Weisheit aus. Seinen Ruhestand trat Whitehead erst 1937 im Alter von 76 Jahren an. Aber auch danach blieb er noch produktiv, hielt noch Vorträge in Harvard und veröffentlichte unter anderem „Mathematics and the Good“ und „Immortality“ (beide 1941). Whitehead starb am 30. Dezember 1947; seine Leiche wurde auf seinen Wunsch hin verbrannt, seine Asche wurde am 6. Januar 1948 auf dem Friedhof der Harvard Memorial Church beigesetzt. Ebenfalls auf seinen Wunsch hin wurden alle unveröffentlichten Schriften aus seinem Besitz verbrannt. Whitehead erhielt viele Auszeichnungen während seiner Karriere. Die vielleicht wichtigste ist die Wahl in die Royal Society im Jahre 1903. Die Royal Society of Edinburgh verlieh ihm 1922 den James-Scott-Preis. Die Verleihung der Sylvester-Medaille im Jahre 1925 zeichnete seine Arbeit über die Grundlagen der Mathematik aus. Im selben Jahr wurde Whitehead in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Die Columbia University überreichte ihm ihre Butler-Medaille im Jahr 1930, und im darauf folgenden Jahr wurde er in die British Academy aufgenommen. Als Auszeichnung seines Lebenswerkes gilt die Verleihung des Order of Merit im Jahre 1945. Viele Universitäten verliehen ihm eine Ehrendoktorwürde, unter anderem Manchester, St. Andrews, Wisconsin, Harvard, Yale und Montreal. Prozessphilosophie Viele Ansätze und Überlegungen der Whiteheadschen spekulativen Philosophie kulminieren in seinem Hauptwerk „Process and Reality: An Essay in Cosmology“ zu der heute so genannten „Prozessphilosophie“. Whitehead selbst nannte seinen Ansatz „Philosophy of Organism“, was meist mit „organismische Philosophie“, teilweise auch mit „organistische Philosophie“ oder „organische Philosophie“ übersetzt wird. Formaler Kernpunkt dieser Betrachtung ist die Strukturierung der Welt nach Ereignissen und nicht nach „Dingen“. Die Ereignisse spielen sich nach dieser Auffassung also nicht anhand der Dinge ab und können so auch nicht auf Dinge reduziert oder aus ihnen abgeleitet werden. Whitehead hält die gegebenen Ereignisse für die grundlegenden Elemente der Wirklichkeit. Er versucht so die Struktur der Erfahrung selbst und nicht die Kategorien Substanz und Qualität zum Ausgangspunkt aller Naturbeschreibung zu machen. Das organische Element drückt zum einen das Werden und Vergehen der Ereignisse aus. Zum anderen bezieht sich Whitehead damit auf die Eigenschaften von Organismen, die gleichzeitig von Zweck- und Wirkursachen bestimmt werden, und überträgt diese dann auf die elementaren Ereignisse. Die Sichtweise unseres Alltagsverständnisses, aber auch die Sichtweise der Naturwissenschaften, die die Wirklichkeit als eine Ansammlung von Dingen (Materie, Energie usw.) beschreibt, wird demnach erst aus den Ereignissen durch Abstraktion abgeleitet. Diese Neudefinition der grundlegenden Elemente unserer Wirklichkeitsauffassung stellt sowohl die Lektüre als auch die Einordnung der prozessphilosophischen Werke Whiteheads vor andauernde Schwierigkeiten. Wie jede metaphysische Konzeption muss auch Whiteheads Ansatz bestehende Begriffe und Bedeutungsmuster übernehmen und diese einerseits mit logischer Schärfe begrenzen und andererseits für einen umfassenderen Gebrauch wiederum verallgemeinern. Dieser notwendigen Schwierigkeit der Neudefinition ist sich Whitehead bewusst, und er beschreibt sein Vorgehen explizit. Die wichtigsten Hilfsmittel zur Überprüfung der Brauchbarkeit seiner Terminologie sind für ihn dabei die Logik und die Kohärenz. Die bestehende Begriffsbildung der Wissenschaften folgt dagegen seiner Meinung nach zu sehr der Subjekt-Prädikat-Struktur der (englischen) Sprache sowie generell dem Dualismus zwischen Subjekt und Objekt als epistemologischer Kategorie. Dies erschwert das Verständnis und die Einordnung der metaphysischen Terminologie Whiteheads zusätzlich. So wird beispielsweise der prozessphilosophische Ansatz häufig als Panpsychismus eingeordnet. Whitehead selbst sieht diese Beurteilung dagegen wiederum nur als Ausdruck der unzulänglichen „Ontologie der Dinge“. Der Gegensatz zwischen Materie und Geist wie bei Descartes oder zwischen transzendentaler, metaphysischer und physikalisch-empirischer Realität wie bei Kant ist demnach erst eine Folge dieser Unzulänglichkeit. Wird „Panpsychismus“ aus diesen Dualitäten heraus definiert, dann gilt er als eine idealistische Position, gegen die sich Whitehead aber vehement wehrt. Reiner Wiehl bezeichnet die Metaphysik der Prozessphilosophie als „revidierten Panpsychismus“ oder als „Pansubjektivismus“, da jedes „wirkliche Ereignis“ einen physischen und einen mentalen Pol besitze. David R. Griffin kreierte den Begriff panexperientialism (with organizational duality) für Whiteheads Sichtweise. Weitere Charakterisierungen und Folgen Die wirklichen Ereignisse („actual entities“) als Grundbausteine der Wirklichkeit haben über das „Erfassen“ („prehension“) Anteil an allen anderen Ereignissen. Erfassen bedeutet so viel wie (unbewusste) Wahrnehmung oder Aufnahme eines Datums und stellt so das grundlegende, atomistische Element der Relation dar. Dieses Erfassen bezieht sich auf alle Arten von Abhängigkeiten, wie kausale und psychische Beeinflussung, aber auch intentionale. Überzeugungen und Bewertungen haben so Einfluss auf weitere Ereignisse. Nicht nur die Tatsache der Existenz eines Ereignisses, sondern auch die Art und Weise, „wie“ es geschieht, sind durch diese Bedingungen bestimmt. Sie repräsentieren somit die Vergangenheit eines Ereignisses und jedes Ereignis reflektiert letztlich die gesamte vergangene Wirklichkeit. Völlig gegensätzlich zur Substanz in der Substanzmetaphysik existieren wirkliche Ereignisse nicht unabhängig voneinander. Ein wirkliches Ereignis ist ein Produkt seiner Bezogenheit auf andere Ereignisse. Dagegen müssen Selbständigkeit und Autonomie oder auch die Vorstellung von einer Unabhängigkeit abgeschlossener Systeme nun aus dieser Wirklichkeit erst konstruiert werden. Relationalität innerhalb einer Substanzmetaphysik ist für Whitehead dagegen ein Unding. Jedes wirkliche Ereignis als erfahrendes Subjekt wird nach seiner Vollendung wiederum durch andere wirkliche Ereignisse als Objekt erfasst. Ereignisse können durch ihre Bezogenheit aufeinander gruppiert werden. Ereignisse, die durch die wechselseitige Aufnahme von Informationen miteinander verbunden sind, nennt Whitehead einen Nexus (Verbindung, Zusammenhang). Die Einheit eines Nexus ergibt sich in der Wahrnehmung durch andere Ereignisse. Der größte Nexus ist die Welt selbst, alle anderen sind ihm gleichsam untergeordnet. Weiterhin können Ereignisse als „Gesellschaften“ („Societies“) aufgefasst werden. Eine Gesellschaft besteht aus einer Menge von wirklichen Einzelwesen, die sich bestimmte Charakteristika teilen und sich so gegenüber einer Umwelt abgrenzen. Hinzu kommt noch die Forderung, dass sich Gesellschaften selbst tragen, indem sie ihre eigenen zeitlosen Gegenstände beständig realisieren. In Abgrenzung zum Nexus sind Gesellschaften zeitlich organisiert. Gesellschaften sind so Ausdruck der Objekte, die uns in unserem Alltagsverständnis begegnen, wie Menschen, Maschinen und andere Gegenstände unseres Alltags. Bei Whitehead können diese somit auch aus den Grundelementen seiner Metaphysik und nach seinen Anforderungen an Rationalität und Kohärenz konstruiert werden. Mit der Konzeption der „ewigen Objekte“ kommt Whitehead der Philosophie Platons und seiner Ideenlehre sehr nahe. Wirkliche Ereignisse haben die Möglichkeit, bestimmte Eigenschaften zu realisieren. Diesen „reinen Möglichkeiten“ selbst schreibt Whitehead ebenso eine Existenz zu, eine Existenz, die sich konkret realisieren kann und die sich durch die konkreten Realisierungen in Ereignissen wiederum definiert. Diese Möglichkeiten gehen in die konkreten Ereignisse ein, sie werden von ihnen ebenso erfasst wie andere wirkliche Ereignisse. So lässt sich für Whitehead auch die relative Stabilität der Naturgesetze und Dinge erklären, die sich letztlich im Prozess des Werdens aber ebenfalls verändern. Verhältnis zur Naturwissenschaft Whitehead sieht seine Philosophie in einer Kontinuität zu der Naturwissenschaft im Sinne ihres Verständnisses der Wirklichkeit. So integriert er die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Theoriebildung als Kenner der zeitgenössischen Forschung (insbesondere der Physik und Biologie) und nimmt sie mit als Ausgangspunkt für seine philosophischen Konzeptionen. Andererseits wird die philosophische Disziplin der Metaphysik oft pauschal als unvereinbar mit einer positivistischen und naturalistischen Ausrichtung, wie sie die heutigen Naturwissenschaften und die Wissenschaftstheorie dominiert, angesehen. Allerdings werden unter den naturphilosophischen Elementen, die den Modellen der heutigen Naturwissenschaften zugrunde liegen, nur diejenigen dort auch explizit behandelt, die sich operationalisieren und mathematisch beschreiben lassen (z. B. Raum, Zeit). Andere grundlegende Begriffe wie die Kausalität kommen in der praktischen Wissenschaft dagegen höchstens implizit zur Geltung. Bei Whitehead ist das Prinzip der Kausalität dagegen schon in der Konzeption der relationalen Ereignisse explizit gegeben. Sein Anliegen ist es, keine naturphilosophischen Elemente vom Inhalt der Naturwissenschaft auszuschließen, indem dieser nicht auf numerisch-mathematische Kategorien reduziert wird. Denn die Forderung nach invarianten und allgemeingültigen Naturgesetzen sowie die Ausrichtung auf mathematische Beschreibbarkeit und technologische Nutzbarkeit verkürzen den Naturbegriff in den Naturwissenschaften nach Whiteheads Auffassung unangemessen. Die Konkretheit sinnlichen Erlebens und der „Fluss der Erscheinungen“, die die eigentliche, unmittelbare Wirklichkeit ausmachten, sei damit nicht erfassbar. Der Kosmos verliert nach Whitehead in der mechanistischen Deutung seine Qualität und wird auf die Quantität reduziert, die Qualität wird fortan lediglich dem Subjekt und seiner sinnlichen Erfahrung zugesprochen. So verzichtet die moderne Naturwissenschaft zugunsten einer mathematischen Abstraktion auch auf eine adäquate und umfassende Beschreibung der Wirklichkeit. Das Ideal der reinen empirischen Wahrnehmung ohne subjektive Qualitäten aus den Naturwissenschaften ist demnach eine nachgeordnete Vorstellung, die erst aus der Wiederholung konkreter Erfahrungen konstruiert wird. Naturgesetze Whitehead identifiziert drei unterschiedliche Positionen, die das Verhältnis der Naturgesetze zur Wirklichkeit ausdrücken. Naturgesetze zwingen den Objekten von außen eine Gesetzmäßigkeit auf. Dies ist die klassische Position der Physik, wie sie durch Isaac Newton und Descartes formuliert wurde. Die positivistische Lehre der bloßen Naturbeschreibung. Wirklichkeit kommt hierbei nur der konkreten Messung zu. Die Lehre der immanenten Gesetze, wie sie von Whitehead bevorzugt wird. Die Kritik an den Positionen 1 und 2 zieht sich durch den größten Teil seiner naturphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Arbeit. Besonders die mathematische Physik erscheint Whitehead in vielerlei Hinsicht unbrauchbar zur adäquaten Beschreibung der Wirklichkeit. Die „Dinge“ sind hier sowohl voneinander als auch von den Gesetzen getrennt. Dies ist durch die konkrete Erfahrung aber nicht zu rechtfertigen. Weiterhin lässt sich so aus den Gesetzen weder das Wesen der Dinge herleiten noch umgekehrt aus der Beobachtung der Dinge auf die Gesetze schließen. Der notwendige Theismus in einer solchen Position war ihren Schöpfern im 17. Jahrhundert noch bewusst, wird aber heute meist übergangen. Evolution und Teleologie Ähnliches gilt für zweckgerichtete (teleologische) Aspekte in der Naturbeschreibung. Die grundlegenden Elemente der Realität werden für Whitehead nicht bar einer Zwecksetzung einfach nur dadurch, dass man sie genauer untersucht. Wert- und zweckfreie Konzeptionen sind deshalb in einer materialistischen Auffassung lediglich nebulöse Resultate einer konstruierten „Komplexität“ der Lebewesen. Whitehead bestreitet im selben Maße auch, dass Phänomene der Bewertung und Zwecksetzung weniger real sind als beispielsweise Phänomene der Gravitation. Bewertung und Zwecksetzung (bewusstseins-)idealistisch und die Gravitation realistisch zu beurteilen, ist demnach nicht gerechtfertigt. Wenn man die Evolutionstheorie voraussetzt und alles Leben als verwandt betrachtet, dann ist es „empirischer“, die Lebensformen nicht „von unten“ zu betrachten, sondern „von oben“. Der Zwang, spätere Lebensformen aus früheren zu erklären, ergibt sich nach Whitehead lediglich aus den konservativen Tendenzen in der Wissenschaft. Die nach Whitehead zweifelsfrei vorhandenen axiologischen und teleologischen Phänomene dürfen daher nicht als „abgeleitet“ oder „irrelevant“ betrachtet werden. Teleologie ist vielmehr eine zentrale Eigenschaft lebender Systeme. Dabei werden in der Prozessphilosophie zukünftige Zustände durch gegenwärtige antizipiert, aber nicht deterministisch bestimmt. Die organische und anorganische Natur ist für Whitehead ebenso abhängig von Gefühlen und Intentionen. Eine wissenschaftliche Methode, die diese Ausdrucksbeziehungen erforschbar machen könnte, haben wir nach Whitehead allerdings noch nicht. Weiterhin sieht Whitehead die offensichtlichen Gegebenheiten eines biologischen Organismus als unvereinbar mit einer materialistischen und mechanistischen Auffassung, wie sie den biologischen Naturwissenschaften zugrunde liegt. Zu einem Organismus gehöre untrennbar eine Dauer des Funktionierens, die reine Verteilung von Materie definiere dagegen noch keinen Organismus. Gott Als „subjektives Ziel“ bezeichnet Whitehead die Finalursache eines wirklichen Einzelwesens. Diese bestimmt zusammen mit den Erfassungen der reinen Daten als Wirkursache die Form des wirklichen Einzelwesens. Das subjektive Ziel bildet den Charakter des wirklichen Einzelwesens und kann somit nicht durch dieses selbst bestimmt sein. Um die Konsistenz des metaphysischen Ansatzes zu wahren, muss das Ideal jedes subjektiven Zieles demnach außerhalb liegen, wobei wiederum nur ein weiteres wirkliches Einzelwesen in Betracht kommt. Dieses spezielle wirkliche Einzelwesen muss alle Möglichkeiten zeitloser Gegenstände in sich vereinen und ebenso in die (begriffliche) Erfassung jedes anderen wirklichen Einzelwesens eingehen. Seine Existenz und Charakterisierung ist somit eine direkte Folge der ontologischen Struktur der organismischen Philosophie. Whitehead nennt dieses wirkliche Einzelwesen Gott. Gott umfasst somit alle zeitlosen Objekte und ermöglicht so eine Ordnung im Werden. Gleichzeitig geht er aber auch als wirkliches Einzelwesen in jede konkrete Erfahrung ein. Er ist damit bei Whitehead sowohl immanent als auch transzendent; transzendent als die Gesamtheit der Möglichkeiten, die den Wirklichkeiten gegenübergestellt sind, immanent als Teilhabe am Prozess der Wirklichkeit. Somit ändert sich Gott auch, indem er auf die Wirklichkeit bzw. die realisierte Auswahl der Möglichkeiten reagiert. Der Gott Whiteheads ist somit ein werdender Gott. Insofern gibt er auch keine finale Ordnung vor, sondern nur Ideale in einem pulsierenden Universum, in dem Ordnung und Chaos, Werden und Vergehen die wirkliche Natur ausmachen. Und Gottes Macht ist die Macht der Überredung, nicht des deterministischen Zwanges. Das „subjektive Ziel“ der wirklichen Einzelwesen ist von Gott beeinflusst, aber nicht bestimmt. Somit gibt es bei Whitehead auch kein eigenständiges göttliches Prinzip. Dieser Umstand wird oft als einer der wichtigsten Unterschiede zu konventionell theologischen Gottesbegriffen angesehen. Die Religionsphilosophen John B. Cobb, David Ray Griffin, Roland Faber, aber besonders Charles Hartshorne entwickelten die Prozessphilosophie weiter zur Prozesstheologie. Besonders im Zusammenhang mit dem amerikanisch geprägten Pragmatismus erhielt dieser Ansatz eine gewisse Bedeutung. In diesem Bereich liegt auch die wichtigste Rezeption der Metaphysik Whiteheads. D. W. Sherburne entwickelte aus der Prozessphilosophie eine Konzeption ohne Gott, um zu zeigen, dass dieses Element in einer vollständigen prozessphilosophischen Metaphysik nicht notwendig ist. Zeit Den „Irrtum einfacher Lokalisierung“ sieht Whitehead analog zum Raum auch im Umgang mit dem Zeitbegriff. So kann aus getrennten Zeitpunkten niemals ein Werden, eine Entwicklung oder ein Prozess abgeleitet werden. Die Lösung sieht er in einer Quantelung der Zeit, wie sie in den wirklichen Einzelwesen vollzogen ist. Das Werden dieser atomistischen Erfahrungen ist selbst nicht „in der Zeit“, sondern erst ihr Vollzug konstituiert Zeit auf der Beziehungsebene makroskopischer Prozesse. Den einzelnen Teilen eines wirklichen Einzelwesens kommt bei Whitehead keine separate Wirklichkeit zu, so dass man innerhalb einer elementaren Erfahrung nicht von einem Vorher und Nachher sprechen kann. Das Andauern in der Zeit ist dagegen eine Abstraktion von den wirklichen Ereignissen. Andauern bedeutet die ständige Wiederholung wirklicher Ereignisse (vgl. „Gesellschaften“), wobei sich eine Wiederholung immer nur auf bestimmte Charakteristika beziehen kann. Würde sich die gesamte Wirklichkeit wiederholen, gäbe es nichts, woran man dies feststellen könnte. Die Welt hat für Whitehead somit keinen Anfang in der Zeit und kein Ziel. Da die Welt immer schon war, kann man nicht von einem umfassenden oder absoluten Ideal sprechen, auf das sich eine Entwicklung im Ganzen hinbewegen könnte. Das Ideal der Schöpfung ist also in den Grundelementen der Wirklichkeit direkt zu suchen. So ist für Whitehead die größtmögliche Intensität der Erfahrung für jedes wirkliche Einzelwesen das eigentliche Ziel. Vernunft und Wert In Die Funktion der Vernunft („Function of Reason“) (1929) entwickelt Whitehead einen Vernunftbegriff, der den tatsächlichen Lebensbedingungen der Organismen angepasst ist. Vernunft leitet sich danach nicht nur vom Überleben eines Lebewesens, sondern ebenso vom „gut leben“ und vom „besser leben“ ab. Die Kunst zu leben besteht darin, dass man erstens überhaupt lebt, zweitens auf eine befriedigende Weise lebt und drittens einen noch höheren Grad von Befriedigung erreichen kann. Anorganische Strukturen sind oft perfekt im Andauern, sie sind dadurch aber nicht vernünftiger. „Gut leben“ und „besser leben“ sind für Whitehead die wertschaffenden Ziele der Lebewesen. Das bloße Andauern tritt hinter der Intensitätssteigerung im Erleben zurück. Demnach ist es für Whitehead falsch, das Andauern der unbelebten Dinge zum alleinigen Maßstab eines Vernunftbegriffes in den Naturwissenschaften zu machen. Wert kommt so den wirklichen Einzelwesen selbst zu und wird von Whitehead beschrieben als das Maß der Selbstverwirklichung in Bezug auf das Ideal des subjektiven Zieles. Je intensiver das Erleben der eigenen Subjektivität, desto höher ist der Wert des Ereignisses. Eine Steigerung dessen ist durch die Annäherung an das Ideal Gottes, aber auch durch ein höheres Maß an Freiheit, das den wirklichen Einzelwesen mitgegeben ist, möglich. Das Ideal der Schöpfung selbst ist gleichsam die größtmögliche Intensität aller Einzelwesen. Wertigkeit setzt in diesem Sinn Differenz voraus. Den indifferenten Objekten der wissenschaftlichen Abstraktionen kann nach Whitehead somit kein Wert zukommen. Kreativität Das Prinzip des Entstehens und Vergehens der wirklichen Einzelwesen ist für Whitehead nichts anderes als die Erfahrungstatsache der Kreativität. In der Metaphysik Whiteheads nimmt sie den Stellenwert einer Akzidienz ein und existiert nicht nur als Eigenschaft der Einzelwesen, sondern bildet zusammen mit dem Begriffspaar des Einen und des Vielen eine eigene Kategorie. In der Rezeption bleibt umstritten, welchen Stellenwert das Prinzip der Kreativität im Hinblick auf die Beschreibung der Welt einnimmt. Als reine Eigenschaft des Prozesses des Werdens verstanden, kommt ihr entweder lediglich eine abstrakte oder eine beschreibende Rolle zu. Als übergreifendes, strukturierendes Prinzip könnte Kreativität andererseits nicht nur auf den Seinsgrund verweisen, sondern auch den Erkenntnisgrund beschreiben. Einflüsse Mathematik und Philosophie Als junger Mathematiker führte Whitehead Ansätze und Arbeiten im Bereich der Logik und Mathematik fort, die von Gottlob Frege, George Boole, Giuseppe Peano und Hermann Graßmann im 19. Jahrhundert begonnen wurden. Die „Treatise of Universal Algebra“ ist eine der letzten bedeutenden Arbeiten auf dem Gebiet einer „Algebra der Logik“, die inhaltlich in der Tradition der booleschen Algebra steht. In der „Principia Mathematica“ verwenden Russell und Whitehead dann aber ein Notationssystem, welches deutlich von Frege und Peano beeinflusst ist. Dies betrifft besonders Vorgehensweisen wie die axiomatische, von den bekannten algebraischen Strukturen losgelöste Festlegung von Elementen, Methoden und Symbolen. Whitehead war ein großer Bewunderer Charles S. Peirces. Ähnlich wie Peirce sah er in den Entwicklungen der modernen Logik und Algebra über ihre Anwendung in der Mathematik hinaus ein neues Werkzeug zur Ausarbeitung einer Metaphysik, die den Erkenntnissen der Naturwissenschaften besser Rechnung tragen sollte. Russells Einfluss auf Whitehead ist eher gering. Zwar sympathisierten beide anfangs mit dem britischen Idealismus, aber je länger die Zusammenarbeit dauerte, umso stärker traten ihre unterschiedlichen philosophischen Positionen hervor. In der Tradition der britischen Empiristen wie John Locke und David Hume geht Whitehead in seiner Arbeit stets streng empirisch vor. Jede naturphilosophische Feststellung und jede metaphysische Konstruktion versucht er aus der direkten Sinneserfahrung abzuleiten. Einen besonderen Einfluss haben auch die Arbeiten Henri Bergsons. Whitehead greift die Kritik Bergsons an der „Verräumlichung“ der Naturprozesse auf, die über die Anwendung in den Naturwissenschaften auch unser Alltagsdenken prägt. Bei Bergson besteht eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen der Dauer als Qualität der Erfahrung einerseits und der Zeit als quantitativem Begriff eines Zeitkontinuums andererseits. Die Erfahrung ist „unausgedehnt“, aber jede Art der Zeitmessung involviert eine Projektion der Dauer in den Raum. Im Hinblick auf die Beziehung der (wissenschaftlichen) Begriffe und Theorien zur Wirklichkeit ist Whitehead ein empirischer Realist wie Kant, dessen transzendentalen Idealismus er jedoch ablehnt. Whitehead hat sich ausdrücklich auf Leibniz’ Monadenlehre berufen. In Abgrenzung zur Monadenlehre versucht er Gesetzmäßigkeiten aus den Wechselbeziehungen der Monaden bzw. der wirklichen Einzelwesen selbst abzuleiten. Allgemeine Gesetze haben dagegen bei Leibniz ihren Ursprung in Gott und sind den Dingen äußerlich auferlegt. Whitehead war einer der bedeutendsten Metaphysiker des 20. Jahrhunderts. Die Veröffentlichungen seiner wichtigsten philosophischen Werke in den Jahren 1920 bis 1940 fielen in eine Zeit, in der metaphysische Spekulation in der traditionskritischen Gegenwartsphilosophie kaum beachtet wurde. Das gilt in wechselndem Maß für alle positivistischen, sprachlogischen, marxistischen und existentialistischen Strömungen dieser Zeit. Einzig im Rahmen der Prozesstheologie hat sich eine breite und besonders in den USA bedeutende Rezeption von Whiteheads Prozessphilosophie etabliert. Sein Schüler Charles Hartshorne, der wichtigste Vertreter der Prozesstheologie, sieht die Ursache der Geringschätzung gar in der „Größe und Wahrheit“ der Philosophie Whiteheads selbst. Weitere bedeutende prozessphilosophische Arbeiten in der Tradition Whiteheads sind eher von Einzelnen bekannt, wie beispielsweise von Isabelle Stengers. Einige seiner Schüler wurden ebenfalls bekannte Philosophen mit eigenständigen Positionen: allen voran Bertrand Russell, aber auch Susanne K. Langer, William K. Frankena, Nelson Goodman, Willard Van Orman Quine und Donald Davidson. Naturwissenschaften Das naturwissenschaftliche Denken Whiteheads ist besonders durch den Elektromagnetismus Maxwells und die Relativitätstheorie Einsteins beeinflusst. Die Begriffe „Feld“ und „Kraft“ hält Whitehead zur Naturbeschreibung für wesentlich geeigneter als die Begriffe „Objekt“ und „Bewegung“ des mechanistischen Weltbildes der vorrelativistischen Physik. In „The Principle of Relativity“ entwirft er eine eigene Gravitationstheorie. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der zugrunde liegende geometrische Raum und die an den Objekten sich entfaltende Gravitation in zwei getrennten Metriken dargestellt werden. Er folgt damit der direkten Einwirkung physikalischer Kräfte auf die Geometrie durch Einstein in der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht, sondern verharrt auf der klassischen Trennung. Diese Veröffentlichung wurde allerdings weder von der Mathematik noch von der Physik weiter beachtet, obwohl dieser Ansatz heute als „bimetrische Gravitationstheorie“ bekannt und insofern praktikabel ist, als sie den drei klassischen Tests der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht widerspricht. Nach Clifford Will ist Whiteheads Theorie jedoch experimentell widerlegt. Viele bedeutende Ansätze und Erkenntnisse, die sich in den Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert etabliert haben, wurden durch die Metaphysik Whiteheads antizipiert. So ist der statistische Charakter der Naturgesetze eine direkte Folge der Abstraktion der Gesetze aus den Strukturidentitäten der wirklichen Ereignisse. Dies entspricht weitgehend der Interpretation der Gesetze der Quantenphysik und ihrer Aussagekraft. Auch die heute diskutierte Veränderung der Naturgesetze im Lauf der Zeit lässt sich auf einfache Weise aus den metaphysischen Konstruktionen Whiteheads ableiten. Einflüsse von Whiteheads prozessphilosophischer Metaphysik zeigen sich unter anderem bei Naturwissenschaftlern wie Ilya Prigogine, Henry Stapp, Rudolf Haag und David Bohm. Der Physiker Roger Penrose und der Quantenbiologe Stuart Hameroff interpretieren (in einer sehr umstrittenen Theorie) wirkliche Ereignisse als theoretische Grundlage einer Formulierung elementarer Bewusstseinsprozesse. Auch die systemtheoretischen Ansätze von Ervin László und Fritjof Capra nimmt Whitehead mit seiner Lehre der existentiellen Verbundenheit alles Seins im Kern vorweg. Die von Whitehead begründete Mereotopologie dient als Grundlage für spezielle Bereiche und Anwendungen in der Erforschung der künstlichen Intelligenz. Werke A Treatise on Universal Algebra with Applications. [1898] Cambridge University Press, Cambridge 1960 (online) Memoir on the Algebra of Symbolic Logic. American Journal of Mathematics, Vol. 23, No. 2 (Apr., 1901), pp. 139–165 (online) On Cardinal Numbers. American Journal of Mathematics, Vol. 24, No. 4 (Oct., 1902), pp. 367–394 (online) The Logic of Relations, Logical Substitution Groups, and Cardinal Numbers. American Journal of Mathematics, Vol. 25, No. 2 (Apr., 1903), pp. 157–178 (online) On Mathematical Concepts of the Material World, Philosophical Transactions, Royal Society of London, série A, Band 205, Dulau London 1906, 465–525 Liberty and the Enfranchisement of Women. Extract from the speech of A. N. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Gorgias%20%28Platon%29
Gorgias (Platon)
Der Gorgias (griechisch Gorgías) ist ein in Dialogform verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon, zu dessen umfangreichsten Schriften er zählt. Den Inhalt bildet ein fiktives, literarisch gestaltetes Gespräch. Platons Lehrer Sokrates diskutiert mit dem berühmten Redner Gorgias von Leontinoi, nach dem der Dialog benannt ist, sowie dessen Schüler Polos und dem vornehmen Athener Kallikles. Gorgias steht, nachdem er einen Vortrag gehalten hat, für beliebige Fragen aus dem Publikum zur Verfügung. Sokrates nutzt die Gelegenheit, mit ihm ins Gespräch zu kommen. In der ersten Phase des Dialogs debattieren abwechselnd Gorgias und Polos mit Sokrates. Später übernimmt Kallikles, der sich von Sokrates’ Haltung herausgefordert sieht, die Rolle von dessen Gegenspieler. Das Thema ist zunächst die Frage, worin der Sinn und Zweck der von Gorgias meisterhaft praktizierten Redekunst besteht. Es stellt sich heraus, dass sie darauf abzielt, die Zuhörer durch Schmeichelei zu überreden. Sie soll dem Redner in juristischen oder politischen Auseinandersetzungen den Sieg verschaffen. Damit soll sie für ihn, wie er glaubt, etwas Gutes bewirken. Sokrates bestreitet aber, dass die Rhetorik diese Erwartung erfüllen kann; er meint, der Redner bilde sich das nur ein. Um dies zu prüfen, muss man klären, worin eigentlich das Gute und Wünschenswerte besteht. Damit wendet sich die Diskussion ihrem Hauptthema zu, der Frage nach der richtigen Lebensweise. Darüber klaffen die Auffassungen schroff auseinander. Für Kallikles ist das Gute der Lustgewinn, der daher mit allen geeigneten Mitteln anzustreben ist; ethische und juristische Bedenken sind dabei belanglos. Sokrates stellt dem seine philosophische Überzeugung entgegen, wonach es besser ist Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, da begangenes Unrecht dem Täter seelisch den größten Schaden zufügt. Aus seiner Sicht beruhen das Gute und die Vortrefflichkeit auf der richtigen, naturgemäßen Ordnung, die der Mensch sowohl in der Gesellschaft als auch in seiner eigenen Seele zu wahren hat. Die seelische Ordnung erfordert, dass die chaotischen Begierden der Herrschaft der Vernunft unterstellt werden. Wer sich selbst beherrscht, ist tugendhaft, handelt daher richtig und führt ein gelungenes Leben. Er hat den Zustand der Eudaimonie („Glückseligkeit“) erlangt. Dafür wird nicht rhetorisches Geschick benötigt, sondern philosophische Einsicht. Eine Einigung wird nicht erzielt. Weder kann Sokrates seine Gesprächspartner überzeugen, noch gelingt es ihnen, seine Argumentation zu entkräften. Gorgias, Polos und Kallikles machen zwar einige Zugeständnisse, doch im Wesentlichen bleibt jeder bei seiner Ansicht. Ort, Zeit und Teilnehmer Die Debatte spielt sich in Athen im Haus des Kallikles ab. Eine eindeutige Datierung der fiktiven Handlung ist nicht möglich, da die chronologisch relevanten Angaben im Dialog widersprüchlich sind. Offenbar hat Platon diesbezüglich von seiner literarischen Freiheit großzügig Gebrauch gemacht. Einer Bemerkung zufolge scheint das Gespräch im Jahr 405 v. Chr. stattgefunden zu haben, doch andere Stellen deuten auf eine frühere Zeit. Es wird erwähnt, dass in Makedonien erst seit kurzem König Archelaos I. regiert. Dieser Herrscher ist frühestens 414, wahrscheinlich 413 v. Chr. an die Macht gekommen. Andererseits wird Perikles († 429) als kürzlich verstorben bezeichnet. Jedenfalls fällt die Diskussion in die Zeit des Peloponnesischen Krieges. Die auffälligen Anachronismen sind offenbar gewollt, sie sollen den Leser an die Fiktionalität des Textes erinnern. Die Gesprächspartner des Sokrates sind Gorgias, Polos, Kallikles und Chairephon. Bei Gorgias, Polos und Chairephon handelt es sich sicher um historische Gestalten. Dass auch Kallikles tatsächlich gelebt hat, ist früher oft bezweifelt worden, gilt aber heute als wahrscheinlich. Gorgias und Polos stammten aus dem griechisch besiedelten Teil Siziliens. Die Heimatstadt des Gorgias war Leontinoi, das heutige Lentini, die des Polos war Akragas, das heutige Agrigent. Gorgias, ein gefeierter Redner und Lehrer der Rhetorik, kam 427 v. Chr. nach Athen. Dort erregte er mit seiner außergewöhnlichen Beredsamkeit großes Aufsehen, sein Stil wurde richtungweisend. Mitunter wird er zu den Sophisten gezählt, den damals umherziehenden Wanderlehrern, die Jünglingen der Oberschicht ein als nützlich betrachtetes Wissen gegen Entgelt beibrachten. In der Forschung ist allerdings umstritten, ob diese Bezeichnung auf Gorgias zutrifft. Sein Schüler und Begleiter Polos war nach Platons Darstellung zum Zeitpunkt der Dialoghandlung noch jung und unerfahren, hatte aber bereits ein Rhetorik-Lehrbuch verfasst. Das Lehrbuch gab es wirklich, Aristoteles hat daraus zitiert. Kallikles, der Gastgeber des Gorgias, war ein junger, aristokratisch gesinnter Athener von vornehmer Herkunft mit politischen Ambitionen. Platons Schilderung zufolge war er gebildet, schätzte die Redekunst und verfügte über einige Kompetenz im philosophischen Diskurs; als nüchterner Pragmatiker und Techniker der Macht verachtete er aber die Philosophen ebenso wie die Sophisten, denn er sah in ihnen untüchtige Schwätzer. Chairephon war ein Altersgenosse, Freund und Schüler des Sokrates und begeisterte sich für dessen Philosophie. Die Ansichten von Platons Dialogfigur Gorgias unterscheiden sich erheblich von denen des historischen Rhetoriklehrers. Im Dialog lässt sich Platons Gorgias, der offenbar schon in vorgerücktem Alter steht, bereitwillig auf die ihm fremde philosophische Diskursmethode des Sokrates ein. Es stellt sich heraus, dass er ihren Anforderungen nicht gewachsen ist. Sein junger, hitziger Schüler Polos ist trotz seiner Unerfahrenheit bereit, mit Sokrates zu debattieren, um den ermüdeten Gorgias zu entlasten. Er tritt ebenso wie sein Lehrer mit der ausgeprägten Selbstsicherheit auf, die für manche Figuren – insbesondere die Sophisten – in Platons Dialogen charakteristisch ist und manchmal arrogant wirkt. Diese Haltung kontrastiert mit dem äußerlich bescheidenen Stil des Sokrates, der sich zwar unbefangen und lernwillig gibt, aber seine Geringschätzung der Rhetorik und Sophistik nicht verhehlt. Kallikles hält sich anfangs zurück, greift dann aber energisch ein und erweist sich als der härteste, konsequenteste Gegner der sokratischen Ethik. In seinen politischen Ansichten ist Platons Kallikles ambivalent; einerseits verachtet er die Moralvorstellungen der Schwachen und tritt für eine uneingeschränkte Herrschaft der Starken ein, was auf eine oligarchische oder tyrannische Gesinnung deutet, andererseits akzeptiert er das demokratische System und will darin Karriere machen, indem er sich den Stimmungen der Menge anpasst. Chairephon ist eine Randfigur, an der philosophischen Auseinandersetzung beteiligt er sich nicht. Inhalt Einleitungsgespräch und Beginn der Debatte Sokrates und Chairephon sind gekommen, um einen Vortrag des Gorgias zu hören. Da sie sich verspätet haben, ist ihnen das Erlebnis entgangen. Als Gastgeber des Gorgias macht sie Kallikles darauf aufmerksam, dass sein Gast bereit ist, beliebige Fragen zu beantworten. Man begibt sich ins Haus des Kallikles, wo nun die Gelegenheit besteht, den berühmten Meister der Rhetorik zu konsultieren. Sokrates schlägt Chairephon vor, den Dialog mit der Frage zu eröffnen, was Gorgias sei, das heißt, worin seine berufliche Tätigkeit bestehe. Polos mischt sich ein, er will anstelle seines nach dem Vortrag etwas ermüdeten Lehrers die Fragenbeantwortung übernehmen. Die nötige Kompetenz traut er sich ohne weiteres zu. Auf Chairephons Frage antwortet er aber nicht mit der verlangten Auskunft, sondern mit einem allgemeinen, rhetorisch ausgestalteten Lob der Rhetorik, welche die bedeutendste aller Künste sei. Sokrates greift ein und stellt missbilligend fest, Polos könne zwar gut reden, gehe aber nicht auf die gestellte Frage ein. Gefragt wurde nach einer Begriffsbestimmung der Rhetorik, nicht nach einem Urteil über sie. Daraufhin ergreift Gorgias selbst das Wort. Die Debatte zwischen Sokrates und Gorgias um die Funktion der Rhetorik Zunächst bestimmt Gorgias sein Fach als die Rhetorik, die Kunst des Redens. Diese Bestimmung erweist sich aber als zu allgemein, denn jeder Fachmann ist in der Lage, auf seinem Gebiet zu urteilen und zu reden, was ihn aber nicht zum Redner macht. Gemeint ist also nicht das Darlegen von Fachwissen, sondern das Reden als solches. Inhaltlich bezieht sich das hier gemeinte Reden auf das, was für Gorgias das Wichtigste und Beste unter allen menschlichen Belangen ist. Aus seiner Sicht sind die höchsten Güter nicht Gesundheit, Schönheit oder Reichtum. Vielmehr ist das höchste erreichbare Gut – das, was die Rhetorik dem Redner verschafft – die Freiheit. Sie ermöglicht ihm, über andere Macht auszuüben und selbst von niemand beherrscht zu werden. Dazu ist er in der Lage, wenn er weiß, wie man vor Gericht und in politischen Versammlungen überzeugend auftritt und die Anwesenden überredet. Demnach ist die Rhetorik die Kunst des Überzeugens. Es geht aber nicht um ein beliebiges Überzeugen, denn auch ein Mathematiklehrer überzeugt seine Schüler von der Richtigkeit seiner Aussagen. Vielmehr überzeugt der Redner sein Publikum hinsichtlich der Frage, was als „gerecht“ und was als „ungerecht“ zu betrachten ist, was also zu tun und was zu unterlassen ist. Das griechische Wort für „gerecht“, díkaios, bezeichnet zugleich allgemein das Richtige, Angemessene und Angebrachte. Es handelt sich also um richtiges Verhalten schlechthin und insbesondere um richtige politische Entscheidungen. Entsprechende Beschlüsse kann ein Redner im demokratisch organisierten athenischen Staat durch sein Auftreten vor der Volksversammlung herbeiführen. Solches Überzeugen vollzieht sich aber, wie Gorgias einräumen muss, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Behauptungen des Redners. Dieser befähigt sein unwissendes Publikum nicht, den Wahrheitsgehalt zu beurteilen. Also kann die Redekunst, wie Sokrates feststellt, grundsätzlich kein Wissen vermitteln, sondern nur einen Glauben erzeugen. Schon die Kürze der Zeit schließt aus, dass ein Politiker als Redner seinen Zuhörern zu Erkenntnissen verhilft. Außerdem ist er fachlich ebenso ignorant wie sie. Dennoch führt er die Beschlüsse herbei, die dann von den Fachleuten – beispielsweise Baumeistern oder Heerführern – umgesetzt werden. Das findet Sokrates erstaunlich. Gorgias betont, es komme im Leben letztlich nicht auf Fachkompetenz an, sondern auf Überzeugungskraft. Nicht das werde ausgeführt, was ein Sachverständiger aufgrund seines Wissens empfehle, sondern das, wovon ein rhetorisch geschulter Politiker die Entscheidungsträger überzeugen könne. Wer zwar den Durchblick habe, nicht aber die nötige Kommunikationsfähigkeit, der werde unterliegen und nichts erreichen. Nun gelingt es Sokrates zu zeigen, dass sich sein Gesprächspartner in einen Widerspruch verwickelt hat. Gorgias hat den Rhetoriker als Fachmann für das Gerechte oder Richtige und Angebrachte definiert. Das setzt voraus, dass der Rhetoriker die Richtigkeit von Handlungsweisen korrekt beurteilen kann. Dies muss auch für sein eigenes Verhalten gelten. Daraus folgt, dass er selbst sich aufgrund seines Wissens stets richtig verhält. Dabei ist mit dem „Richtigen“ sowohl das „Gerechte“ im ethischen Sinn gemeint als auch das, was im richtig verstandenen Interesse des Staates und seiner Bürger liegt. Andererseits hat Gorgias aber auch festgestellt, dass die Rhetorik vorsätzlich missbraucht werden kann und dann zu Fehlentscheidungen führt. Dies wäre ausgeschlossen, wenn der gut ausgebildete Rhetoriker als solcher tatsächlich über ein Wissen vom Richtigen und Falschen verfügte. Sein korrektes Verständnis würde ihn dann von jedem Missbrauch abhalten, denn Missbrauch ist ein Fehler, der Unwissenheit hinsichtlich des Gerechten und Richtigen voraussetzt. Der Sinn der Rhetorik nach Sokrates Polos greift wieder ein. Er will jetzt herausfinden, ob Sokrates selbst die Frage, worin die Redekunst besteht, besser beantworten kann als der Rhetoriker Gorgias. Nun bekennt Sokrates offen, dass die Rhetorik aus seiner Sicht gar keine Kunst ist, sondern nur eine durch Erfahrung erworbene Gewandtheit im Erzeugen von Lust und Wohlgefallen. Er vergleicht sie mit der Kochkunst, die er ebenfalls nicht für eine Kunst hält, sondern für eine durch Routine gewonnene Befähigung, Vergnügen zu bereiten. Dasselbe gelte für die „Putzkunst“ (Kosmetik, Schmuck, Kleiderluxus), die mit Farben und Formen betrüge, und für die Sophistik. Diese vier Fertigkeiten seien Erscheinungsformen der Schmeichelei. Ihnen sei gemeinsam, dass ihr Ziel die Gefälligkeit sei, ihr Sinn sich im Erzeugen angenehmer Eindrücke erschöpfe und ein Bezug zu höheren Bestrebungen fehle. Erkenntnisse und ein Verständnis des eigenen Handelns seien mit solchen Betätigungen nicht verbunden. Die Macht der Redner als Ohnmacht Polos weist auf den großen politischen Einfluss der Redner hin, aus dem er den Rang und Wert der Rhetorik ableitet. Sokrates widerspricht ihm. Nach seinem Verständnis, das er nun erläutert, verfügen die Redner nur scheinbar über außerordentliche Macht. Anscheinend können sie nach Belieben ihren Willen durchsetzen. Ebenso wie Tyrannen sind sie imstande, willkürlich Todesurteile, Vermögenskonfiskationen und Verbannungen herbeizuführen. In Wirklichkeit sind aber gerade sie die machtlosesten Menschen, wenn man unter Macht die Fähigkeit versteht, für sich selbst etwas Gutes, Erstrebenswertes zu erreichen. Da sie nicht wissen, was das Beste ist, können sie es auch nicht für sich bewirken, sondern sie erreichen nur das, was sie irrtümlich für das Beste halten. Sie können zwar viel ausrichten, aber vom Ziel jedes Menschen, für sich das Beste zu verwirklichen, sind sie weiter entfernt als alle anderen. Daraus ist ihre Machtlosigkeit ersichtlich. Sie suchen ihren Vorteil, fügen sich aber aus Unwissenheit nur Schaden zu. Begangenes und erlittenes Unrecht Von seinen Überlegungen über die Ohnmacht der scheinbar Mächtigen ausgehend stellt Sokrates sein Konzept vom Umgang mit Unrecht vor. In der Auseinandersetzung mit Polos, für den äußerliche Macht an sich ein höchstrangiger Wert ist, begründet er seine These, dass es grundsätzlich weniger schlimm ist Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Nach seinen Ausführungen ist Unrecht für jeden Beteiligten oder Betroffenen ein Übel, aber das größte Übel ist es nicht für das Opfer, sondern für den Täter. Wenn somit jemand seine Entscheidungsgewalt dazu benutzt, sich durch eine Übeltat selbst das größte Übel zuzufügen, ist er nicht im eigentlichen Sinne mächtig, sondern bedauernswert. Daher stellt eine Verfügungsgewalt an sich keinen Wert dar, sondern nur gerechte Machtausübung ist gut. Nach Sokrates’ Verständnis führt Unrecht zwangsläufig ins Elend. Dagegen wendet Polos ein, es sei offenkundig, dass viele Unrechttäter glücklich seien. Ein Beispiel sei König Archelaos I. von Makedonien, der sich auf skrupellose Weise durch Verwandtenmorde die Herrschaft verschafft habe und nun sein Glück genießen könne. Nach Sokrates’ Maßstab müsste Archelaos der unglücklichste aller Makedonen sein. Diese Sichtweise hält Polos für abwegig. Sokrates räumt ein, dass fast alle Athener so denken wie Polos, misst dem aber keine Bedeutung zu. Sinn und Wirkung von Strafen Für Polos ist die Voraussetzung des Glücks, das die Unrechttäter genießen, dass sie für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ihre Macht schützt sie vor Strafe. Auch in diesem Punkt vertritt Sokrates die gegenteilige Auffassung. Nach seinem Verständnis sind die Unrechttäter, die der Strafe entgehen, noch unglücklicher als die, die bestraft werden. Polos wendet ein, dann müsse ein unangefochten regierender Tyrann unglücklicher sein als ein Übeltäter, der gefasst und zur Strafe gefoltert und grausam hingerichtet wird. Von diesem Einwand lässt sich Sokrates nicht beirren. Zur Begründung seiner Position greift Sokrates auf die Begriffe des „Schönen“ und des „Hässlichen“ zurück. Im Altgriechischen bezeichnen die Wörter für „schön“ und „hässlich“ zugleich das Ehrenvolle und Lobenswerte bzw. das Schändliche und Schmachvolle. Sie stehen also auch für das im Sinne herkömmlicher Wertvorstellungen moralisch Richtige bzw. Verwerfliche. Polos räumt ein, dass er wie Sokrates das Begehen von Unrecht „hässlicher“ (unmoralischer) findet als das Erleiden. Er bestreitet aber, dass das Hässlichere das „Schlimmere“ ist. Mit „schlimm“ (kakós) ist dasjenige gemeint, was nicht im Interesse der betreffenden Person liegt, sondern ihr schadet. Für Polos kann das Hässlichere durchaus das Vorteilhaftere sein. Sokrates ist anderer Meinung; er will zeigen, dass das moralisch Verwerfliche notwendigerweise immer auch „schlimmer“ ist, das heißt, dass es auch unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses zu verwerfen ist. Seine Argumentation lautet: Der Grund, aus dem ein hässliches Ding ein anderes an Hässlichkeit übertrifft, kann nur darin liegen, dass es entweder schlimmer ist oder größere Unlust erzeugt oder beides. Wenn also – was Polos wie die meisten Leute zugibt – das Begehen hässlicher ist als das Erleiden, der Grund dafür aber nicht in größerer Unlust liegt, dann kann er nur darin liegen, dass das Begehen schlimmer ist. Daraus folgt, dass das Begehen das größere Übel sein muss. Polos räumt das ein. Von diesem Ergebnis ausgehend wendet sich Sokrates wieder der Bedeutung von Strafen zu. Hier lautet sein Gedankengang: Jeder Erleidende erleidet genau das, was der Begehende begeht. Wenn beispielsweise ein Schlagender heftig schlägt, wird der Geschlagene heftig geschlagen. Wer gerecht straft, vollzieht etwas Gerechtes und daher Schönes, denn alles Gerechte ist notwendigerweise schön. Also widerfährt dem Bestraften etwas Gerechtes und Schönes, somit etwas auch für ihn Gutes. Die Strafe bessert ihn, sie befreit ihn von der Ungerechtigkeit in seiner Seele, dem größten aller Übel. Dabei erlebt er zwar Schmerz, doch verhält es sich damit wie mit einer ärztlichen Behandlung, die schmerzt, aber die Gesundheit wiederherstellt. Die Strafe – darunter versteht Sokrates auch Tadel und Zurechtweisung – führt zu einer seelischen Gesundung, indem sie den Bestraften auf einen besseren Weg führt. Bleibt ein Übeltäter jedoch unbestraft, so wird er in seiner Ungerechtigkeit verharren, und das ist das Schlimmste, was ihm geschehen kann. Polos findet dagegen keinen Einwand, er muss wiederum zustimmen. Diesen Befund wendet nun Sokrates auf die Rhetorik an, was zu einem paradoxen Resultat führt. Wer ein Unrecht begangen hat, der müsste, wenn er sich einen Vorteil verschaffen will, sein eigener Ankläger sein. Er hätte seine Tat ans Licht zu bringen, um dafür bestraft zu werden. Wer seinem Feind Schaden zufügen will, der müsste dessen Übeltaten vertuschen und ihn verteidigen, um ihm die erlösende Strafe vorzuenthalten. Demnach hätte die Rhetorik vor Gericht nur dann eine Berechtigung, wenn sie das Gegenteil dessen bezweckte, was ihre normale Funktion ist. Analog hätte sich ein Redner in der Politik zu verhalten, etwa wenn es um ein Unrecht geht, das vom eigenen Heimatland begangen wurde. Polos ist verwirrt. Er räumt die Schlüssigkeit des Gedankengangs ein, hält aber das Ergebnis weiterhin für absurd. Die Wertordnung des Kallikles Kallikles hat schweigend zugehört, doch nun ist er über den Diskussionsverlauf so erzürnt, dass er sich energisch einmischt. Der restliche Teil des Dialogs spielt sich zwischen ihm und Sokrates ab. Als reiner Praktiker ist Kallikles kein Sophist, von trickreicher Argumentiertechnik hält er wenig, doch teilt er die weltanschauliche Grundhaltung von Gorgias und Polos völlig. Nach seiner Einschätzung, die er unverblümt äußert, hat Sokrates seine beiden Debattengegner nacheinander in eine Falle gelockt. Er hat sie dazu gebracht, ihm aus Rücksicht auf fragwürdige gesellschaftliche Normen Zugeständnisse zu machen, zu denen er sie argumentativ nicht zwingen konnte. Dadurch sind sie inkonsequent geworden und in Selbstwidersprüche geraten, die Sokrates ihnen dann nachweisen konnte. Beide haben es nicht gewagt, sich der öffentlichen Meinung zu widersetzen, und sind so ihrer Scham zum Opfer gefallen. Gorgias hätte sich nicht auf die Behauptung einlassen sollen, dass es zu seinen Aufgaben als Rhetoriklehrer gehöre, über die Gerechtigkeit Bescheid zu wissen und dieses Wissen seinen Schülern bei Bedarf zu vermitteln. Polos hätte dem Grundsatz, dass das Begehen von Unrecht hässlicher und schändlicher sei als das Erleiden, nicht zustimmen sollen. Mit dieser Konzession an die sokratische Ethik hat Polos nur einer sehr verbreiteten, aber aus Kallikles’ Sicht grundfalschen Vorstellung gehuldigt. Wie Gorgias hat er es aus unangebrachter Scham versäumt, sich konsequent zu seiner Meinung zu bekennen. Nach seiner Distanzierung von der Nachgiebigkeit der beiden Rhetoriker legt Kallikles sein eigenes Konzept vor, einen konsequenten, kompromisslosen Gegenentwurf zum Ethikverständnis des Sokrates. Zwar setzt er wie Sokrates – und im Gegensatz zu Polos – das „Schöne“ oder moralisch Richtige mit dem gleich, was im Eigeninteresse des Handelnden liegt, doch ist für ihn das moralisch Richtige etwas ganz anderes als für Sokrates. Er geht von einem fundamentalen Gegensatz zwischen der Natur und dem „Gesetz“ aus. Unter der Natur oder dem Natürlichen versteht er die spontanen, von keiner angelernten Rücksichtnahme behinderten Impulse der vornehmen, kraftvollen, machtbewussten und durchsetzungswilligen Persönlichkeiten. Diese Impulse und ihre Verwirklichung stellen für Kallikles das wahrhaft Gerechte, Gute und Schöne dar, das vorbehaltlos zu bejahen ist. Mit dem „Gesetz“ meint er diejenigen menschlichen Einrichtungen und Gewohnheiten, die er für naturwidrig und daher schlecht hält. Das sind bestimmte gesellschaftliche Konventionen und eine auf ihnen basierende Gesetzgebung zum Schutz und Vorteil der Schwachen und Untüchtigen. Im demokratisch organisierten athenischen Staat übt die Mehrheit der Schwachen, Untüchtigen und somit Schlechten die Herrschaft aus. Das ist widernatürlich, da die Natur selbst sowohl im Tierreich als auch unter den Menschen die kräftigsten und durchsetzungsfähigsten Individuen bevorzugt. Ihnen gewährt sie Erfolg, Besitztümer und Herrschaft. Diese Güter stehen ihnen somit von Natur aus zu. Demnach ist die Unterdrückung und Beraubung der Schwachen kein Unrecht, vielmehr ist sie im Sinne des Naturgesetzes das Gerechte. Wer in der Lage ist, sich gewaltsam durchzusetzen, der wird von der Natur begünstigt, und daher ist sein Vorgehen berechtigt, denn die Natur setzt die ethischen Normen. Die Philosophie ist aus Kallikles’ Sicht eine passende Beschäftigung für die Jugend, nicht aber für reife Männer. Wer zu lange an ihr festhält, wird zum müßigen Schwätzer, macht sich lächerlich und wird untauglich zu männlichen Taten. Die Auseinandersetzung über die Werte des Kallikles Sokrates weiß die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit einer so radikalen Gegenposition zu schätzen. In Kallikles’ These vom Recht des Stärkeren findet er einen Widerspruch: Die Schwachen sind gemeinsam stärker als der Starke und können ihm daher ihre Regeln aufzwingen. Daraus folgt, dass ihre Normen den seinigen von Natur aus überlegen sind, wenn die Durchsetzungsfähigkeit, wie Kallikles behauptet, das naturgemäße Kriterium für Vortrefflichkeit ist. Dieses Argument zwingt Kallikles, sein Konzept der Überlegenheit und des Herrschaftsanspruchs der „Besseren“, die er zunächst mit den Stärkeren gleichgesetzt hat, anders zu fundieren. Nun versucht er neu zu bestimmen, wodurch sie besser sind. Er charakterisiert die Besseren als die Edleren und Verständigeren und weist auch auf ihre Tapferkeit hin. Doch auch diese Bestimmungen erweisen sich, wie Sokrates zeigt, als problematisch. Der Einsichtsvollste kann zufälligerweise zugleich der Schwächlichste sein; worin das Bessersein, das zur Machtausübung legitimeren soll, letztlich besteht, bleibt unklar. Auf einen weiteren Aspekt macht Sokrates aufmerksam, indem er fragt, wen die aus Kallikles’ Sicht Besseren und Würdigeren beherrschen sollen – nur die anderen oder auch sich selbst, das heißt: ihre Begierden. Wiederum gehen die Auffassungen diametral auseinander. Sokrates plädiert für Selbstbeherrschung, Kallikles tritt dafür ein, die Begierden so stark wie möglich werden zu lassen, um sie dann zu befriedigen. Tapferkeit und Klugheit will Kallikles in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung stellen. Somit ist seine Ethik hedonistisch (am Lustprinzip orientiert). Den Lebensentwurf des Kallikles kritisiert Sokrates mit dem Hinweis auf die Unersättlichkeit der Bedürfnisse, die Erfüllung ausschließe. Dieses Argument beeindruckt Kallikles jedoch nicht, denn auch diesbezüglich ist sein Konzept fundamental anders. Für Sokrates ist ein dauerhaft optimierter Gemütszustand erstrebenswert, Kallikles hingegen kann einer solchen Zielsetzung nichts abgewinnen. Er plädiert zwar für Bedürfnisbefriedigung als höchstrangiges Ziel, erwartet von ihr aber keinen andauernden Glückszustand und hält einen solchen nicht einmal für wünschenswert, denn für ihn ist alles Statische unlebendig wie ein Stein. Es gibt keine permanente Lust, sondern der Genuss ist seiner Natur nach dynamisch und erfordert einen fortwährenden Wechsel von Lust und Unlust. Gleichnishaft ausgedrückt muss vorhandene Lust abfließen wie Flüssigkeit aus einem löchrigen Fass, damit neue hinzufließen kann, und das Hinzufließen erzeugt den Genuss. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Löchrigkeit des Fasses nicht, wie Sokrates meint, ein Unglück, sondern die Voraussetzung für ein lustvolles Leben. Für Sokrates beruht die genussorientierte Wertordnung auf der irrigen Gleichsetzung des Angenehmen und der Lust mit dem Guten. Daher versucht er zu zeigen, dass das Gute und Erstrebenswerte nicht mit dem Angenehmen oder Genussreichen identisch sein könne. Er gibt zu bedenken, eine Begierde sei Ausdruck eines Mangels und daher unangenehm, ihre Befriedigung hingegen genussvoll. Mit der Befriedigung höre die mit dem Mangel verbundene Unlust auf, zugleich aber auch der Genuss. Das Gute hingegen ende nicht zugleich mit dem Schlechten, sondern es beginne mit dem Ende des Schlechten und umgekehrt. Somit sei die Gleichsetzung des Guten mit dem Genuss falsch. Außerdem sei auch für Kallikles die Gutheit mit Tapferkeit und Klugheit verbunden, die Schlechtigkeit mit Feigheit und Dummheit. Die Lust der Feigen sei aber nicht geringer als die der Tapferen. Somit bestehe kein Zusammenhang zwischen Lust und Gutheit einerseits und zwischen Unlust und Schlechtigkeit andererseits. Die Lust könne nicht schlechthin gut sein. Nun gibt Kallikles zu, dass es gute und schlechte Lust und auch gute und schlechte Unlust gebe; schlechte Lust sei zu meiden, denn nur Gutes könne erstrebenswert sein. Damit widerfährt Kallikles das, was er zuvor bei Gorgias und Polos angeprangert hat: Seine Scham wird ihm zum Verhängnis. Er kann seine radikal hedonistische Position nicht konsistent durchhalten, ohne Lüste zu verteidigen, die auch aus seiner Sicht schimpflich sind, etwa die von Sokrates angeführte Lust des Kinderschänders. Somit sieht er sich gezwungen, die Lust einer ethischen Bewertung zu unterwerfen. Nachdem Sokrates dargelegt hat, dass die Lust und das Gute nicht zusammenfallen, sondern verschieden sind, illustriert er dies anhand verschiedener Tätigkeiten, die ausschließlich auf Genuss abzielen und nicht darauf, die Menschen besser zu machen. Diese Beschäftigungen zählt er zur Schmeichelei. Als Beispiele nennt er die Musik, das Theater, die Dichtkunst und die Rhetorik. In seine Kritik an der Rhetorik bezieht er sogar die berühmtesten Staatsmänner Athens ein, die als Redner den Staat gelenkt haben: Themistokles, Kimon, Miltiades und Perikles. Diese hätten sich an ihren unguten Begierden und an den Wünschen der Menge orientiert statt an den tatsächlichen Erfordernissen der Staatsführung. Sie hätten sich nicht bemüht, in den Seelen ihrer Mitbürger Ordnung zu schaffen. Das sei jedoch die Aufgabe derer, die als Redner Lenkungsfunktionen ausübten. Sokrates hat versucht, das Gespräch mit zahlreichen Fragen an Kallikles interaktiv zu führen und ihn so auf Schwächen des Hedonismus aufmerksam zu machen. Schließlich weigert sich Kallikles, sich weiter mit Fragen in die Enge treiben zu lassen. Er wirft dem hartnäckig nachbohrenden Sokrates Zudringlichkeit vor und will sich nicht mehr an der Debatte beteiligen. Gorgias möchte aber noch Näheres über die Alternative erfahren, die Sokrates dem Weltbild seines Widersachers entgegensetzt. Sokrates willigt ein, sein Konzept zusammenhängend darzulegen. Die Wertordnung des Sokrates Sokrates fasst seine Gedankengänge zusammen. Den Ausgangspunkt bildet die von Kallikles bereits akzeptierte Einsicht, dass das Gute und das Angenehme nicht identisch sind. Dann muss das Angenehme dem Guten untergeordnet sein, nicht umgekehrt. Gut ist jedes Ding durch das Vorhandensein seiner spezifischen „Gutheit“ oder Vortrefflichkeit, der aretḗ. Sie beruht auf der jeweils angemessenen Ordnung, die für das betreffende Objekt oder Lebewesen charakteristisch ist. Das gilt auch für die Seele. Sie hat eine Ordnung, die ihr von Natur aus zukommt und ihre Gutheit ausmacht, die aber nicht in jeder Seele gewahrt ist. Geordnete Seelen zeichnen sich durch Besonnenheit und Selbstdisziplin aus, schlechte Seelen sind zügellos und maßlos. Der Besonnene handelt notwendigerweise tapfer, gerecht und fromm. Er führt ein Leben in Eudaimonie. Dem Schlechten hingegen geht es elend. Der Schlechte kann weder mit Menschen noch mit Göttern befreundet sein, denn aufgrund seiner Maßlosigkeit ist er nicht gemeinschaftsfähig. Er fällt aus der Weltordnung heraus, die auf Gemeinschaft beruht. Der Kosmos als Ganzes ist ebenso wie seine einzelnen Teile sinnvoll geordnet, jeder seiner Teile spielt die ihm zukommende Rolle im Einklang mit den anderen. Vor diesem Hintergrund bekräftigt Sokrates seine Theorie vom Begehen und Erleiden des Unrechts. Das Erleiden ist möglichst zu vermeiden, das Begehen unter allen Umständen. Vor dem Erleiden ist man geschützt, wenn man selbst im Staat die Macht ausübt oder sich im Einvernehmen mit den herrschenden Kräften befindet. Eine solche Stellung bewahrt aber nicht vor dem weit größeren Übel, dem Begehen von Unrecht. Um dieses zu vermeiden, genügt der bloße Wille nicht; benötigt wird eine besondere Kompetenz, die man sich durch Studium und Übung anzueignen hat. Das größere Übel droht dann, wenn man dem kleineren entkommen ist: Wenn der Machthaber, zu dessen Parteigängern man gehört, ein ungerechter Herrscher ist, gerät man zwangsläufig in eine Verstrickung, die schweren Schaden an der Seele bewirkt. Wer sich der Beteiligung am Unrecht entzieht, indem er sich dem herrschenden System verweigert, gerät in Lebensgefahr. In einem solchen Dilemma hat man sich an der objektiven Wertordnung zu orientieren, in der nicht das eigene Überleben, sondern die Integrität der Seele den übergeordneten Wert bildet. Daher wäre es in derartigen Situationen verfehlt, am Leben zu hängen. Der Tod ist einem Leben als schlechter Mensch vorzuziehen. Das Vermeiden des Unrechts hat gegenüber allen anderen Zielen unbedingten Vorrang. Die Aufgabe des Staatsmanns sieht Sokrates darin, die Bürger zu besseren Menschen zu machen. Wer dazu nicht in der Lage ist, weil ihm dafür die Qualifikation fehlt oder weil die bestehenden Verhältnisse es nicht gestatten, der sollte nicht nach politischer Macht streben. Nach diesem Maßstab haben sich die vier von Sokrates kritisierten berühmten Staatsmänner Themistokles, Kimon, Miltiades und Perikles nicht bewährt. Sie sind alle beim Volk von Athen in Ungnade gefallen, wurden vor Gericht gestellt oder verbannt. Davor hat sie ihre vielgerühmte Redekunst nicht bewahrt. Also hat sich die Rhetorik letztlich als unwirksam erwiesen. Wenn die vier Staatsmänner die Athener zu besseren Menschen gemacht hätten, so hätten sich diese nicht undankbar gezeigt und wären nicht gegen ihre Wohltäter vorgegangen. In Wirklichkeit haben die vier nur danach gestrebt, dem Volk gefällig zu sein. Daher haben sie den gesellschaftlichen Niedergang nicht verhindert, sondern gefördert. Die gegenwärtigen Politiker sind in dieser Hinsicht ebenso untauglich und überdies fehlt ihnen die Tatkraft ihrer Vorgänger. Diesem Irrweg stellt Sokrates sein Politikerideal entgegen, wobei er allerdings einen Zweifel daran anklingen lässt, dass sich jemand findet, der es verwirklichen kann. Wer ein guter Ratgeber des Volkes sein will, verhält sich zu ihm wie ein Arzt, der eine benötigte Therapie vorschreibt, ob sie dem Patienten willkommen ist oder nicht. Sokrates selbst betätigt sich in diesem Sinne. Wegen seiner offenen Kritik an seinen Mitbürgern muss er aber damit rechnen, dass sie ihn anklagen und ihm nach dem Leben trachten. Das nimmt er in Kauf. Die Illustration von Sokrates’ Konzept durch einen Mythos Abschließend erzählt Sokrates einen Jenseitsmythos, mit dem er sein Gerechtigkeitsverständnis veranschaulicht. Dem Mythos zufolge werden die Seelen nach dem Tode für ihre Taten von den Göttern belohnt oder bestraft. Wer als Gerechter gelebt hat, gelangt auf die „Inseln der Seligen“, wo das Dasein vollkommen glückselig ist und es keine Übel gibt. Übeltäter hingegen kommen in den Tartaros, die Unterwelt, wo es ihnen übel ergeht. Früher kamen die Seelen am Todestage, noch bevor der Tod eintrat, vor die Richter, die über ihr weiteres Schicksal zu entscheiden hatten. Da sie sich noch in ihren Körpern befanden, kam es zu Fehlurteilen, da die Richter vom Aussehen der Körper beeinflusst wurden, was zu Befangenheit führte. Wer einen schönen Körper hatte und Verwandte, die als seine Fürsprecher auftraten, der wurde bevorzugt. Außerdem wurden die Richter durch ihre eigenen Körper behindert, denn wenn eine Seele vom Körper verhüllt ist, ist ihre Wahrnehmung weniger zuverlässig. Als die Folgen der Fehlurteile zu Beschwerden führten, beschloss der Göttervater Zeus, den Übelstand zu beheben. Er ordnete an, dass die Seelen künftig erst nach dem Tode vor dem Gericht erscheinen sollten, in „nacktem“ Zustand – also ohne ihre Körper – und ohne Fürsprecher. Auch die Richter sollten nackte Seelen sein. Seit der Reform des Zeus steht jede Seele entblößt vor ihrem Richter, der sie unmittelbar so erblickt wie sie ist. Der Richter weiß nicht, welche Person er vor sich hat, sondern er urteilt nur nach seiner Wahrnehmung. So wie ein Leichnam das Aussehen behält, das der Körper zu Lebzeiten des Verstorbenen angenommen hat, also beispielsweise groß, fett und langhaarig ist, so behält auch die Seele die Beschaffenheit, die sie während ihres Lebens im Körper erhalten hat. Wenn sie Untaten begangen hat, treten diese nun als sichtbare Verunstaltungen an ihr in Erscheinung, analog den Narben und Verformungen des Körpers. Die ethische Mangelhaftigkeit manifestiert sich ästhetisch als Hässlichkeit. Daher ist es unmöglich, den Richter zu täuschen. Die Urteile des Totengerichts beruhen auf unmittelbarem Augenschein und sind daher gerecht. Die Bestrafung der Verurteilten in der Unterwelt soll deren Besserung dienen, ihr Zweck ist Heilung. Davon sind allerdings einige besonders verbrecherische Seelen ausgenommen, da sie unheilbar sind. Sie verbleiben daher für immer in der Unterwelt. Zu ihnen zählen vor allem Tyrannen und andere ungerechte Herrscher, denen ihre Macht die Gelegenheit geboten hat, die schwersten Verbrechen zu begehen. Abschließend ruft Sokrates dazu auf, hieraus die Konsequenz zu ziehen und so zu leben, dass man einst als möglichst unversehrte Seele vor den Richter treten kann. Eine Rhetorik, die diesem Zweck dient und frei von Schmeichelei ist, erklärt er für legitim. Die Gesprächsführung Im Gorgias stellt Platon die sokratische Art der Gesprächsführung vor, die eng mit der entsprechenden Weltanschauung und Lebensweise verbunden ist. Der sokratische Dialog soll ein gemeinsames Bemühen der Beteiligten um Erkenntnisgewinn sein, verbunden mit der beständigen Bereitschaft, sich belehren und korrigieren zu lassen. Unbefangenheit, konstruktive Zielsetzung, philosophische Einsicht und gute Lebensführung bilden eine Einheit. Dahinter steht der hartnäckige Wille, sich und die anderen zu verbessern. Allerdings fällt auch die Schärfe und Schroffheit auf, mit der Platons Sokrates die Meinungen, Haltungen und Betätigungen, die er für schädlich hält, verurteilt und bekämpft. Damit trägt er erheblich zu einer konfrontativen Stimmung bei. Trotz seiner eindrücklichen Ausführungen scheint Sokrates letztlich erfolglos zu bleiben. Seine Gesprächspartner beugen sich zwar der Logik seiner Folgerungen, der sie wenig entgegensetzen können, verweigern sich aber den Konsequenzen, die sich für die Lebenspraxis ergeben. Sie hören ihm aus Höflichkeit oder Neugier zu, nicht aus einem echten Interesse an der Wahrheitssuche. Kallikles, der die fruchtbarsten Beiträge zur Formulierung und Begründung einer antisokratischen Position geleistet hat, beteiligt sich in der Schlussphase kaum noch inhaltlich am Diskurs, obwohl er weiterhin an seiner Meinung festhält. Er hat sich angewidert aus der Auseinandersetzung zurückgezogen und lässt Sokrates reden, damit das Gespräch, von dem er sich nichts mehr verspricht, baldmöglichst zu einem Ende kommt. Auf die letzten Ausführungen des Sokrates – den Mythos und den damit verbundenen Appell – reagiert er nicht mehr. Wie auch in anderen Werken Platons tritt Sokrates im Gorgias als entschiedener Befürworter eines sachbezogenen, nur auf Erkenntnis und ethische Verbesserung abzielenden Argumentierens auf. Er kritisiert die Gewohnheit, aufgrund persönlicher Empfindlichkeiten Andersdenkende fragwürdiger Motive zu verdächtigen und sie zu beschimpfen. Dennoch unterstellen ihm Polos und Kallikles gerade das unsachliche Verhalten, das er so nachdrücklich ablehnt. Polos wirft ihm vor, er strebe aus Freude am Widerlegen danach, Gorgias einen Widerspruch nachzuweisen, zu dem er ihn selbst verleitet habe. Kallikles beschuldigt ihn der Spitzfindigkeit und Rechthaberei. Somit kann Sokrates die beiden nicht von der Lauterkeit seiner Absichten überzeugen. Ein gemeinsames philosophisches Bemühen kommt nicht zustande. Philosophische Bilanz Wie auch bei anderen Dialogen Platons dreht sich die moderne philosophische Diskussion um die Schlüssigkeit der Argumentation des Sokrates. Verschiedentlich ist auf logische Mängel hingewiesen worden. Dazu zählen unrichtige Anwendung eines allgemeinen Prinzips auf einen Einzelfall, Zirkelschluss und die irrige Annahme, aus einer sprachlichen Form ergebe sich die logische Gültigkeit der Aussage. Unterschiedlich beurteilt wird in der Forschung die Qualität der Argumente, mit denen Platons Sokrates die Annahmen seiner drei Gesprächspartner widerlegen will. Dabei geht es um die Fragen, ob oder inwieweit im Gorgias unerkannte Trugschlüsse vorliegen und ob die Debattengegner des Sokrates der Widerlegung hätten entgehen können, wenn sie bestimmte Behauptungen unterlassen oder bestimmten Thesen des Sokrates ihre Zustimmung verweigert hätten. Bei Gorgias ist strittig, ob er mit einem Verzicht auf den Anspruch, er sei auch ein Lehrer der Gerechtigkeit, oder sogar ohne diesen Verzicht eine konsistente Position hätte aufrechterhalten können. Eine der erörterten Hypothesen lautet, dass der fatale Fehler, der ihn zum Selbstwiderspruch führte, in seiner übertriebenen Darstellung der Macht der Rhetorik besteht. James Doyle führt Gorgias’ Fehlschlag darauf zurück, dass er sich auf die Debatte eingelassen habe, ohne eine klare Vorstellung über das Verhältnis von Rhetorik und Ethik zu besitzen. Brad Levett meint, Platons Sokrates habe den Rhetoriklehrer überlistet. Dazu habe er sich einer rhetorischen Strategie bedient, die zu Gorgias’ eigenem Repertoire gehörte. Der Dialog biete somit eine Parodie von Gorgias’ Überredungskunst. Gregory Vlastos, Gerasimos Xenophon Santas und Peter Stemmer halten die Widerlegung des Polos nicht für zwingend. Sie meinen, Polos habe zugeben können, dass das Begehen von Unrecht hässlicher sei als das Erleiden, und zugleich an seiner Aussage festhalten können, es sei dem Erleiden vorzuziehen, ohne dadurch in den Selbstwiderspruch zu geraten, den Sokrates ihm unterstellt. Die Analyse von Vlastos hat eine Reihe von teils zustimmenden, teils ablehnenden Reaktionen hervorgerufen. Mary Margaret Mackenzie, Joseph Patrick Archie und Rebecca Bensen Cain verwerfen Vlastos’ Argumentation, kommen aber auf anderem Wege ebenfalls zum Ergebnis, dass die Widerlegung des Polos nicht schlüssig sei. Curtis N. Johnson meint, Polos habe vier unnötige Konzessionen gemacht, die alle vier für die Widerlegung seiner Position erforderlich gewesen seien. Charles H. Kahn verteidigt die Widerlegung, wenngleich er Schwächen einräumt. Er meint, Sokrates habe die Position der Gegenseite als unhaltbar erweisen können – allerdings nur in der von Polos vertretenen Version –, doch der Nachweis der Richtigkeit seiner eigenen Auffassung sei ihm nicht geglückt. Für die Stichhaltigkeit der Argumentation des Sokrates plädieren Scott Berman und Marcel van Ackeren. George Klosko untersucht die Position des Kallikles. Er kommt zum Ergebnis, dass sie erhebliche Schwächen aufweist und dass Kallikles seinen Immoralismus besser hätte verteidigen können, wenn er ihn nicht mit einem extremen Hedonismus verknüpft hätte. Dieser Ansicht ist auch Charles H. Kahn, der aber zu bedenken gibt, dass ein selektiver Hedonismus, der eine Rangordnung der Lüste etabliert und begründet, in Kombination mit der Weltanschauung des Kallikles ebenfalls problematisch und angreifbar wäre. Strittig ist auch, ob die paradoxe These des Sokrates, die Mächtigen seien aufgrund ihrer Unwissenheit in Wirklichkeit machtlos, stichhaltig begründet ist. Richard McKim weist darauf hin, dass nach der Überzeugung von Platons Sokrates das richtige Verständnis des Begehens und Erleidens von Unrecht in jedem Menschen bereits latent vorhanden ist. Der philosophische Dialog hat den Zweck, dieses latente Wissen ins Bewusstsein zu bringen. Dies geschieht, indem Sokrates seinen Gesprächspartnern demonstriert, dass ihre Scham sie daran hindert, ihre Positionen konsequent zu vertreten. Diese Scham lässt die wirkliche Haltung der Seele erkennen. Sie ist nicht, wie Kallikles glaubt, das Ergebnis einer naturwidrigen gesellschaftlichen Konditionierung, sondern ein Anzeichen für das in der Seele verborgene Wissen. Sie zeigt eine von vornherein bestehende ethische Orientierung. Dies im Diskussionsverlauf zu erkennen ist wichtiger als die Stringenz der Argumente. Ein in der Forschung kontrovers diskutiertes Thema ist die Einschätzung irrationaler Faktoren durch Platons Sokrates im Gorgias. In Platons frühen Dialogen vertritt sein Sokrates eine „intellektualistische“ Ethik, die auch im Gorgias deutlich zum Ausdruck kommt. Dieses Konzept besagt, dass alle das Gute wollen und niemand willentlich schlecht handelt. Wer das Gute richtig versteht, verhält sich zwangsläufig gut. Ethisch falsches Verhalten kann nur die Folge von Unwissenheit hinsichtlich des Guten sein. Ein Handeln wider besseres Wissen (akrasía) ist unmöglich. Andererseits legen manche Stellen im Gorgias die Existenz eines autonomen irrationalen Bereichs in der Seele nahe, wodurch die Möglichkeit der akrasia doch in Betracht zu kommen scheint. John M. Cooper nimmt an, dass die Argumentation des Sokrates im Gorgias mit bestimmten Schwächen und Unklarheiten behaftet sei, die Platon ihm vorsätzlich in den Mund gelegt habe. Damit habe Platon auf Mängel der sokratischen Handlungstheorie aufmerksam machen wollen, deren Behebung er erst später – im Dialog Politeia – in Angriff genommen habe. Daher könne man den Sokrates des Gorgias nicht einfach – wie es gewöhnlich geschieht – als Platons „Sprachrohr“ betrachten. Die Mängel, die Cooper meint, betreffen insbesondere die Bestreitung der Möglichkeit einer akrasia und irrationaler Motive. Entstehungszeit und historischer Hintergrund Meist wird der Gorgias zu Platons Frühwerken gezählt. Innerhalb der Gruppe der frühen Dialoge scheint er zu den späteren zu gehören. Jedenfalls entstand er nach dem Prozess des Sokrates, der im Frühjahr 399 v. Chr. stattfand. Als plausibel gilt die Datierung um 390/387. Strittig ist in der Forschung, ob Platon den Gorgias verfasst hat, bevor er um 388 v. Chr. seine erste Sizilienreise antrat, oder erst nach seiner Rückkehr von dieser Reise. Im Gegensatz zu früheren Dialogen, in denen Sokrates keine eigenen Antworten auf die erörterten Fragen vorträgt und das Gespräch in einer – zumindest vorläufigen – Ratlosigkeit (Aporie) endet, lässt Platon im Gorgias seinen Sokrates entschieden Position beziehen. Den realen Hintergrund des Dialoggeschehens bilden Platons Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen, maßgeblich von Rednern gestalteten Politik in Athen, sein Verzicht auf politische Betätigung in seiner Heimatstadt und die Kontroversen um die Hinrichtung seines Lehrers Sokrates. Im Gorgias sieht Platons Sokrates seinen Prozess und das Todesurteil voraus, er bietet eine Erklärung dafür und rechtfertigt sich bereits, obwohl die Anklage gegen ihn zum Zeitpunkt der Dialoghandlung noch nicht erhoben ist. Somit gehört der Gorgias zu den polemischen Texten, die im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Sokrates verbreitet wurden. Die vernichtenden Urteile, die Sokrates im Dialog über den athenischen Staat und dessen vier berühmteste Repräsentanten sowie über die Masse seiner Mitbürger fällt, spiegeln Platons tiefe Enttäuschung über den Politikbetrieb in Athen. Im Gorgias will er unter anderem seine Entscheidung, sich aus der Politik herauszuhalten, plausibel machen, indem er ein politisches Engagement als aussichtslos darstellt. Er suggeriert, man könne unter den herrschenden Verhältnissen nicht in die Politik eingreifen, ohne die eigene Integrität zu opfern. Vielen Lesern ist die leidenschaftliche Heftigkeit aufgefallen, mit der im Gorgias die Rhetorik und die Rolle der als Redner agierenden Politiker verdammt wird. Olof Gigon erklärt diese Polemik Platons mit dem Gegensatz zwischen dem Lebensentwurf des Redners und Politikers und demjenigen des Anhängers der platonischen Philosophie. Platon habe die Gefährlichkeit des Alternativmodells erkannt: „Man begreift, dass Platon alles daran setzte, diesen Rivalen unschädlich zu machen.“ Daher habe er zu Vereinfachungen, Verzerrungen und boshaften Unterstellungen gegriffen. In den Zusammenhang aktueller Konflikte gehört auch die im Gorgias vorgetragene Polemik gegen sophistische Tugendlehrer, die für ihren Unterricht ein Honorar verlangen und sich über die Undankbarkeit ihrer Schüler beklagen, wenn diese ihnen die Vergütung schuldig bleiben. Platons Sokrates argumentiert, die Undankbarkeit der Schüler beweise den Fehlschlag des Tugendunterrichts und damit dessen Wertlosigkeit. Wenn der Unterricht wertvoll und erfolgreich wäre, würde sich der Schüler von sich aus dankbar erweisen. Es sei schändlich, für Tugendunterricht Geld zu verlangen. Hier bildet eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen Platon und dem Rhetoriklehrer Isokrates über die Honorarfrage den Hintergrund. Isokrates erkannte den von Platon angeprangerten Widerspruch ebenfalls, zog aber daraus die entgegengesetzte Konsequenz. Er sah den Fehler nicht in der Honorarforderung, sondern wandte sich gegen die Behauptung, Tugend sei lehrbar. Rezeption Antike Die Nachwirkung des Gorgias in der Antike war stark, sowohl wegen der provokativen Kritik an der bei Griechen und Römern weithin populären Rhetorik als auch wegen des verbreiteten Interesses an der ethischen Thematik. Bezeichnend für den tiefen Eindruck, den der Dialog machte, ist eine Anekdote, der zufolge ein korinthischer Bauer, nachdem er den Gorgias gelesen hatte, seinen Beruf aufgab und Philosoph wurde. Athenaios überliefert anekdotisches Material aus einer antiplatonischen Quelle. Nach seinen Angaben hat Gorgias den nach ihm benannten Dialog gelesen und dazu geäußert: „Wie ironisch Platon schreiben kann!“ Gorgias soll auch, wie Athenaios erzählt, den Dialog in seinem Bekanntenkreis vorgelesen und dazu bemerkt haben, er habe in Wirklichkeit nichts von alledem gesagt oder gehört. Platons Zeitgenosse Isokrates, der als Rhetoriklehrer zu einem im Gorgias scharf angegriffenen Personenkreis gehörte, wandte sich gegen die dort vorgebrachte pauschale Kritik an den Athenern. Ohne ausdrücklich auf Platons Werk Bezug zu nehmen wies er darauf hin, dass er und viele seiner Mitbürger das Verhältnis von Machtbesitz und Glückseligkeit nicht auf die im Gorgias kritisierte oberflächliche und falsche Weise betrachteten. Für römische Rhetoriker war Platons Verdammung ihrer Betätigung eine Herausforderung, mit der sie sich auseinandersetzten. Ausführlich äußerte sich zu dem heiklen Thema Cicero. In seiner in Dialogform gestalteten Schrift De oratore („Über den Redner“) ließ er den Redner und Politiker Lucius Licinius Crassus († 91 v. Chr.) mitteilen, die verbreitete Kritik der Philosophenschulen – der Akademie, der Stoa und des Peripatos – an der Redekunst gehe auf den Gorgias zurück. Er – Crassus – habe in Athen in der Akademie den Gorgias aufmerksam gelesen. Dabei sei ihm aufgefallen, dass Platon, der Urheber der philosophischen Geringschätzung der Rhetorik, gerade in seiner Verspottung der Redner zeige, dass er selbst ein sehr bedeutender Redner sei. Die Unterstellung, den Rednern fehle es an Fachkompetenz hinsichtlich der von ihnen behandelten Fragen, sei falsch. Nur wer sich inhaltlich auskenne, könne als Redner erfolgreich sein. Wer über keine gute Allgemeinbildung verfüge, dürfe nicht Redner genannt werden. Ein weiteres in Ciceros De oratore vorgebrachtes Argument lautet, der historische Sokrates habe sich, falls er tatsächlich mit Gorgias debattierte, gegen diesen nur dann durchsetzen können, wenn er selbst der bessere Redner war. Auch Quintilian nahm eingehend zur Bewertung der Rhetorik im Gorgias Stellung. Er behauptete, Platons Kritik richte sich nur gegen die missbräuchliche Verwendung der Redekunst, nicht gegen das gute Reden an sich. Dies sei unter anderem daraus zu ersehen, dass Platon selbst die Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht sowie (im Dialog Menexenos) eine Lobrede auf die fürs Vaterland Gefallenen geschrieben habe. Gegner der Rhetorik, die sich auf den Gorgias beriefen, hätten den Dialog missverstanden. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Gorgias zur sechsten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte ihn zu den „widerlegenden“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über die Rhetorik“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Mittelplatonikers Thrasyllos. Der berühmte Stoiker Epiktet war stark vom Gorgias beeinflusst. Er schätzte nicht nur die von Platons Sokrates vertretenen ethischen Grundsätze, sondern auch dessen philosophische Untersuchungsmethode. In Epiktets Unterricht spielte der Gorgias wahrscheinlich eine wichtige Rolle. Auch der Mittelplatoniker Lukios Kalbenos Tauros legte in seiner Schule besonderes Gewicht auf die Behandlung dieses Dialogs, wie den Angaben seines Schülers Gellius zu entnehmen ist. Tauros verfasste einen anscheinend ausführlichen Gorgias-Kommentar, der bis auf die von Gellius überlieferten Zitate verloren ist. Gellius ging in seinem Werk Noctes Atticae auf die im Gorgias dargelegte Kritik des Kallikles an der Philosophie ein, wobei er ausführlich aus dem Dialog zitierte. Er meinte, die Kritik sei nicht gänzlich verfehlt, sondern habe eine gewisse Berechtigung, denn sie richte sich gegen angebliche Philosophen, die sich nur mit Spitzfindigkeiten befassten, statt sich einer philosophischen Lebensführung zu widmen. Davor habe Platon durch den Mund des Kallikles warnen wollen. Der Rhetoriker und Sophist Aelius Aristides verfasste drei Reden, in denen er sich mit dem Gorgias auseinandersetzte. Die erste schrieb er in den 140er Jahren; sie diente der Verteidigung der Rhetorik gegen Platons Kritik. Die zweite, bald darauf verfasste ist eine Antwort auf Angriffe gegen die erste Rede. In der dritten Rede, die in den 160er Jahren entstand, verteidigte Aelius Aristides die im Gorgias als unfähig dargestellten vier athenischen Staatsmänner. Er erwähnte, dass die Verdammung der Rhetorik im Gorgias in manchen Kreisen als der bewundernswerteste Teil von Platons Gesamtwerk galt. Nach seiner eigenen Interpretation war jedoch Platons Angriff auf die Rhetorik nicht ernst gemeint, sondern ein literarisches Kunstmittel zur Ergötzung des Publikums; der Philosoph sei selbst ein Meister jener Sprachkunst gewesen, die er anderen vorwarf. Der antiphilosophisch gesinnte Gelehrte Athenaios wies im Rahmen einer Polemik gegen Platon auf die chronologischen Unstimmigkeiten im Gorgias hin. Er verwertete Überlegungen, die wahrscheinlich letztlich auf eine verlorene Schrift des Grammatikers Herodikos von Seleukia zurückgehen. Der Sophist Flavius Philostratos äußerte sich in einem Brief an die Kaiserin Julia Domna über Platons Verhältnis zur sophistischen Rhetorik, das er im Sinne der üblichen Entschärfung des Gegensatzes zwecks Verteidigung der Rhetorik als positiv beschrieb; die literarische Gestaltung des Gorgias zeige, was der Philosoph von den Sophisten gelernt habe. Im 3. Jahrhundert verfasste ein in Athen lebender Mittelplatoniker namens Eubulos eine heute verlorene Schrift, in der er den Gorgias behandelte. Bei den spätantiken Neuplatonikern gehörte der Gorgias in den Philosophenschulen zum Unterrichtsstoff. Der einflussreiche Neuplatoniker Iamblichos († um 320/325) ordnete ihn den politischen Tugenden zu und legte im Lektürekanon seiner Schule fest, dass nach dem Großen Alkibiades, mit dem das Studium der Dialoge zu beginnen hatte, als zweiter Dialog der Gorgias zu behandeln war. In seinem Protreptikos zitierte Iamblichos den Gorgias ausgiebig. Vermutlich hat Plutarch von Athen († um 432), der Gründer der neuplatonischen Philosophenschule in Athen, einen Gorgias-Kommentar verfasst. Auch Hierokles von Alexandria nahm den Gorgias in seinem Unterricht durch. Der berühmte Neuplatoniker Proklos († 485) hat einen Gorgias-Kommentar geschrieben, der heute verloren ist; vielleicht behandelte er darin nur den Schlussmythos des Dialogs. Außerdem interpretierte Proklos den Mythos in seiner Platonischen Theologie. Erhalten ist – als Nachschrift eines Schülers – der ausführliche Gorgias-Kommentar Olympiodoros’ des Jüngeren, eines im 6. Jahrhundert tätigen Neuplatonikers. Sein Werk ist der einzige antike Kommentar zum Gorgias, der nicht verloren ist. Olympiodoros milderte die sehr negative Einschätzung der Rhetorik im Gorgias ab und rehabilitierte die vier von Platon angegriffenen Staatsmänner, insbesondere Perikles, teilweise. Der Verfasser der anonym überlieferten spätantiken „Prolegomena zur Philosophie Platons“ betonte, Platons eigentliche Absicht im Gorgias sei nicht die Zurückweisung des verkehrten Rhetorikkonzepts von Gorgias und Polos gewesen, vielmehr habe er dem Leser begreiflich machen wollen, worin eine authentische Rhetorik bestehe. Daraus ergebe sich als Nebeneffekt die Entlarvung der sophistischen Rhetorik. Auch bei christlichen Autoren fand der Gorgias Beachtung. Der spätantike Kirchenvater Eusebius von Caesarea zitierte eine lange Passage in seiner Praeparatio evangelica. Die antike Textüberlieferung beschränkt sich auf einige Papyrus-Fragmente aus der römischen Kaiserzeit. Mittelalter Die älteste erhaltene mittelalterliche Gorgias-Handschrift wurde im Jahr 895 im Byzantinischen Reich angefertigt. Das Interesse einzelner Gelehrter am Gorgias spiegelt sich in den zahlreichen Scholien (erläuternden Notizen), die im Mittelalter – teils vielleicht schon in der Spätantike – in Abschriften des Textes eingetragen wurden. In der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Westens war der Gorgias im Mittelalter unbekannt. Allerdings kannte man einige in dem Dialog dargelegte Gedanken aus antiken lateinischen Werken, in denen auf sie Bezug genommen wird. Dazu gehörten der Zusammenhang zwischen Rechtschaffenheit und Glückseligkeit einerseits, Ungerechtigkeit und Elend andererseits sowie die Behauptung, dass Übeltäter niemals das erreichen, was ihr eigentliches Ziel ist. Zu den Werken, die dem Mittelalter Gedankengut aus dem Gorgias vermittelten, zählten die Tusculanae disputationes Ciceros, der Kommentar zum Somnium Scipionis des Macrobius, die Schrift De Platone et eius dogmate des Apuleius, die Noctes Atticae des Gellius und die Consolatio philosophiae des Boethius. Frühe Neuzeit Im Westen wurde der Gorgias im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt, nachdem der byzantinische Gelehrte Manuel Chrysoloras in den 1390er Jahren eine Handschrift des griechischen Originaltextes nach Italien gebracht hatte. Die erste lateinische Übersetzung erstellte der italienische Humanist und Staatsmann Leonardo Bruni. Sie wurde im Herbst 1409 abgeschlossen und 1411 dem Gegenpapst Johannes XXIII. gewidmet. Im Widmungsbrief betonte Bruni, Platons Lehre stimme in grundlegenden Aussagen mit der christlichen überein. Damit wollte er dem Papst die Berechtigung der humanistischen Studien plausibel machen und den Widersachern des Humanismus am päpstlichen Hof entgegentreten. Allerdings war Bruni als Humanist selbst ein eifriger Befürworter der im Gorgias scharf kritisierten Rhetorik. Weder die Polemik gegen die Rhetoriker noch das abfällige Urteil von Platons Sokrates über die berühmten Staatsmänner Themistokles, Kimon, Miltiades und Perikles konnte im Kreis der Humanisten um Bruni Anklang finden. Brunis Unbehagen ist daraus ersichtlich, dass er sich in seiner lateinischen Fassung des Gorgias bemühte, die Schärfe der im Dialog aufeinanderprallenden Gegensätze abzumildern und dem Text eine harmlosere, erbaulichere Form zu geben. Zu einem ganz anderen Urteil gelangte der scharf antiplatonisch eingestellte Humanist Georgios Trapezuntios. Er verfasste 1458 eine Kampfschrift, in der er als Aristoteliker Platon mit Aristoteles verglich. Dort berichtete er, dass er schon in seiner Jugend Platon gehasst hatte, weil dieser im Gorgias die vier berühmtesten und erfolgreichsten Staatsmänner Athens und die Rhetorik angegriffen hatte. Platon habe sich als Feind alles Guten erwiesen. Auch der aristotelisch gesinnte byzantinische Humanist Theodoros Gazes, der 1446–1449 an der Universität von Ferrara unterrichtete und dabei unter anderem den Gorgias behandelte, beurteilte den Dialog kritisch; den Angriff auf Perikles führte er auf eine persönliche Antipathie Platons zurück. 1469 publizierte Kardinal Bessarion, ein platonisch gesinnter Gelehrter, eine Entgegnung auf die Polemik des Georgios Trapezuntios, die Schrift In calumniatorem Platonis („Gegen den Verleumder Platons“). Darin rechtfertigte er unter anderem Platons Kritik an den vier Staatsmännern im Gorgias. In den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts wurde Brunis lateinischer Gorgias in Bologna gedruckt. Eine weitere Übersetzung ins Lateinische stammt von Marsilio Ficino. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. In seiner Einleitung (argumentum) zu seinem lateinischen Gorgias versuchte Ficino ähnlich wie schon Bruni die in dem Dialog aufbrechenden tiefen Gegensätze zu verharmlosen. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio im Rahmen der von Markos Musuros herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke Platons. Moderne Literarische Aspekte Die Urteile über die literarische Qualität sind unterschiedlich ausgefallen. Friedrich Nietzsche bezeichnete den Dialog als „merkwürdig, weil die Auffassung total unkünstlerisch ist“. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff hielt den Gorgias nicht für ein Meisterwerk; er meinte, die Gliederung des Stoffs sei noch unvollkommen und das Buch sei zu lang geworden, die Auseinandersetzung mit Kallikles wirke schleppend und ermüdend; erst nach dem Dialog Menon habe Platon die Meisterschaft erreicht. Auch Alfred Edward Taylor fand den Gorgias schleppend und zu lang, was er auf die Unerfahrenheit des Autors zurückführte; es handle sich um ein Jugendwerk. 1959 veröffentlichte Eric Robertson Dodds eine kritische Ausgabe des Gorgias mit Einleitung und Kommentar. Sein Kommentar ist in der späteren Forschungsliteratur oft als vorbildliche Leistung gewürdigt worden. Paul Shorey sieht in den Ausführungen des Kallikles die eindrücklichste Formulierung der immoralistischen Haltung in der europäischen Literaturgeschichte. Für Olof Gigon ist der „ungewöhnlich klare Aufbau“ ein wesentlicher Vorzug des Gorgias. Die Ausdifferenzierung der Figuren sei hervorragend geglückt, die Radikalität der Fragestellungen sei eindrücklich. Charles H. Kahn lobt die Lebendigkeit und „unvergessliche Intensität“ der Darstellung, die sich aus der dramatischen Gestaltung und deren eindrücklicher Verknüpfung mit dem philosophischen Anliegen des Autors ergebe. Philosophische und politische Aspekte John Stuart Mill (1806–1873) bezeichnete den Gorgias als eines der schönsten Beispiele für Platons dialektische Fähigkeiten und dramatisches Talent. Die Argumentation des Sokrates fand er allerdings nicht überzeugend. Mill meinte, die Argumente des Sokrates seien fast alle Trugschlüsse; unter diesem Gesichtspunkt betrachtet sei der Gorgias eines der schwächsten Werke Platons. Die Behauptung, dass Tugend der Weg zur Glückseligkeit sei, treffe nicht zu, vielmehr widerspreche ihr die gesamte Erfahrung der Menschheit. Die Ausführungen von Platons Sokrates könnten nur diejenigen beeindrucken, die bereits dessen Überzeugung teilten. Die Liebe zur Tugend sei eine Sache des Gefühls, man könne nicht mit Argumenten zu ihr bekehrt werden. Zwar könne der Gorgias diese Liebe fördern, doch geschehe dies nicht durch einleuchtende Gründe, sondern indem der dafür empfängliche Leser emotional angesprochen werde. Letzteres hielt Mill für eine sehr verdienstvolle Leistung; er war der Ansicht, der Gorgias stelle einen der bedeutendsten Schritte in der Geschichte der Ethik dar. Oft ist ein Zusammenhang zwischen Nietzsches Konzept des Übermenschen und dem immoralistischen Menschenbild des Kallikles in Platons Gorgias vermutet worden. Allerdings fehlt ein Beleg dafür, und es bestehen neben manchen Gemeinsamkeiten auch fundamentale Unterschiede. Nietzsche bewunderte Perikles; Platons abfälliges Urteil über diesen Staatsmann und über das perikleische Athen missbilligte er scharf, er wertete es als Verfallssymptom. Nach der Einschätzung von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zählt die Überzeugung, für die Sokrates im Gorgias eintritt, nicht zur Philosophie, sondern ist „Glaubenswahrheit“; es ist zu beachten, dass „hier Religion gepredigt wird“, zwar nicht im gängigen Sinne des Begriffs, aber Religion als das, was „die Stellung des Menschen zur Aufgabe seines Lebens bestimmt“. Der große Reiz des Gorgias liegt für Wilamowitz darin, dass Sokrates „die moralischen Prinzipien auf die Spitze treibt“. Wie schon in der Antike hat Platons Angriff auf Themistokles, Kimon, Miltiades und Perikles auch bei modernen Lesern Befremden ausgelöst. Joachim Dalfen bezeichnet die Kritik an den vier Staatsmännern als unsachlich und historisch verfehlt, Olof Gigon sieht darin eine „geradezu absurde Bosheit“. Allerdings sind in der Forschungsliteratur die Meinungen über das im Gorgias dargelegte Geschichtsbild geteilt. William K. C. Guthrie billigt Platons sehr ungünstiger Gesamtbilanz von Perikles’ Wirken Berechtigung zu. Auch Eric Robertson Dodds bringt für die Kritik des Philosophen am athenischen Staat und dessen vergangener Glanzzeit Verständnis auf. Er hält die Ansicht für vertretbar, dass der Verlauf der Geschichte dem Philosophen recht gegeben habe. Karl Popper ergreift zwar nachdrücklich für Perikles und gegen Platon Partei, beurteilt den Gorgias aber überwiegend positiv. Er glaubt, Platon sei zu der Zeit, als er den Gorgias schrieb, noch von der Lehre des Sokrates beeinflusst gewesen, von der er sich erst später abgewendet habe. Der Grundsatz, dass es schlimmer sei Unrecht zu tun als es zu erleiden, sei wohl auf den historischen Sokrates zurückzuführen und sei Ausdruck von dessen individualistischer Haltung, die mit der christlichen Lehre sehr verwandt sei. Oft wird auf die zeitlose Aktualität der Thematik hingewiesen und ihre philosophische Bedeutung gewürdigt. Für Eric Robertson Dodds ist der Gorgias der modernste Dialog Platons. Seine Themen – die Macht der Propaganda im demokratischen Staat und die Neuetablierung ethischer Normen nach dem Verfall der herkömmlichen Werte – seien auch die zentralen Probleme des 20. Jahrhunderts. Michael Erler meint, die Thematik des Gorgias sei „von zeitloser Bedeutung“. Ernst Heitsch hält Platons Text für „revolutionär in mehrfacher Hinsicht, damals wie heute“. Theo Kobusch urteilt, der Gorgias sei einer der philosophisch gehaltvollsten und zugleich einer der kunstvollsten platonischen Dialoge. Franz von Kutschera stellt fest, der Dialog sei „glänzend geschrieben“ und sein zentrales Thema sei „die wichtigste Frage, die es überhaupt gibt, die Frage, wie man leben soll“; die Argumentation des Sokrates sei aber mangelhaft, sie zehre von Zugeständnissen der Gesprächspartner. Dies sei darauf zurückzuführen, dass Platons Konzepte damals noch nicht ausgereift gewesen seien. Die Philosophin Hannah Arendt befasst sich in ihrer postum veröffentlichten Arbeit Das Denken mit Sokrates, in dem sie einen vorbildlichen Denker sieht, und mit seiner Einschätzung des Begehens und Erleidens von Unrecht. Sie untersucht die Bedeutung der im Gorgias von Platons Sokrates geäußerten Auffassung, ein innerer Zwiespalt im Menschen sei schlimmer als Widerspruch aus der Außenwelt. Nach Arendts Verständnis existiert das geistige Ich nur in der Dualität, die sich im inneren Zwiegespräch des Denkens zeigt. Die inneren Gesprächspartner können sich nicht trennen, solange die Person denkt. Daher hat Sokrates größten Wert darauf gelegt, dass sie Freunde bleiben, dass die Eintracht des Individuums mit sich selbst gewahrt wird. Unrecht zu leiden ist besser als Unrecht zu tun, weil man als Opfer Freund des Leidenden bleiben kann, nicht aber als Täter Freund eines Mörders. Ausgaben und Übersetzungen Otto Apelt (Übersetzer): Platons Dialog Gorgias. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 1, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (Übersetzung mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922). Winfried Czapiewski (Übersetzer): Platon: Gorgias. 2. Auflage, Laufen, Oberhausen 2017, ISBN 978-3-87468-261-9 Joachim Dalfen (Übersetzer): Platon: Gorgias (= Ernst Heitsch, Carl Werner Müller (Hrsg.): Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar, Bd. VI 3). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-30422-6. Julius Deuschle (Übersetzer): Gorgias. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 1, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 301–409. Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden, Band 2, 5. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 269–503 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Maurice Croiset, 13. Auflage, Paris 1968, mit der deutschen Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1818). Michael Erler, Theo Kobusch (Hrsg.): Platon: Gorgias. Reclam, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-15-018896-5 (unkritische Ausgabe mit Übersetzung von Erler; Kommentar und Nachwort von Kobusch). Kurt Hildebrandt (Übersetzer): Platon: Gorgias oder Über die Beredsamkeit. Reclam, Stuttgart 1989, ISBN 3-15-002046-8. Rudolf Rufener (Übersetzer): Platon: Die Werke des Aufstiegs (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 2). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 269–400 (mit Einleitung von Olof Gigon S. 87–159). Ramón Serrano Cantarín, Mercedes Díaz de Cerio Díez (Hrsg.): Platón: Gorgias. Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Madrid 2000, ISBN 84-00-07972-8 (kritische Edition mit Einleitung und spanischer Übersetzung). lateinisch (humanistisch) Matteo Venier (Hrsg.): Platonis Gorgias Leonardo Aretino interprete. Società Internazionale per lo Studio del Medioevo Latino, Firenze 2011, ISBN 978-88-8450-408-1 (kritische Edition von Brunis Gorgias-Übersetzung). Literatur Übersichtsdarstellungen Louis-André Dorion: Gorgias. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 5, Teil 1, CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 771–780. Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 132–141, 596–598. Untersuchungen und Kommentare Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons. Grüner, Amsterdam 2003, ISBN 90-6032-368-8, S. 64–75, 96–122. Joachim Dalfen: Platon: Gorgias. Übersetzung und Kommentar (= Ernst Heitsch, Carl Werner Müller (Hrsg.): Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar, Bd. VI 3). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-30422-6. Michael Erler, Luc Brisson (Hrsg.): Gorgias – Menon. Selected Papers from the Seventh Symposium Platonicum. Academia Verlag, Sankt Augustin 2007, ISBN 978-3-89665-357-4 (zahlreiche Aufsätze) Charles H. Kahn: Drama and Dialectic in Plato’s Gorgias. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy. Bd. 1, 1983, S. 75–121. Richard McKim: Shame and Truth in Plato’s Gorgias. In: Charles J. Griswold (Hrsg.): Platonic Writings, Platonic Readings. Routledge, New York 1988, ISBN 0-415-00187-0, S. 34–48. Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. De Gruyter, Berlin 1985, ISBN 3-11-010272-2, S. 191–207. Weblinks Gorgias, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1903 Gorgias (PDF; 313 kB), deutsche Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher, bearbeitet Gorgias, deutsche Übersetzung von Julius Deuschle (1859) Robin Waterfield: Kommentar Anmerkungen Corpus Platonicum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hohentwiel
Hohentwiel
Der ist ein hoher Berg im Hegau in der Nähe des Bodensees. Auf dem Berg befindet sich die Festungsruine Hohentwiel. Er ist der Hausberg Singens und besteht hauptsächlich aus einem Phonolith-Schlotpfropfen. Vor 15 Millionen Jahren begann eine Phase aktiven Vulkanismus, in der der Hohentwiel ein Vulkan war. In einer zweiten, vor ungefähr acht Millionen Jahren beginnenden Vulkanismusphase konnte das Magma nicht mehr an die Oberfläche vordringen und bildete die charakteristische Quellkuppe, die in den Kaltzeiten des Quartärs durch Abtragungen der Gletscher freigelegt wurde. Die wichtigsten Gesteine, die den Berg aufbauen, sind Phonolith und Deckentuff. An Vegetation herrschen darauf Trockenrasen und Bewaldung vor. In den Felsen und Mauern der Ruine lebt beispielsweise die seltene Italienische Schönschrecke. Seit 9000 Jahren siedeln Menschen an den Hängen des Hohentwiel. Nachgewiesen sind Spuren aus der Jungsteinzeit, Rössener Kultur, La-Hoguette-Gruppe und der Kelten. Eine erste Befestigung des Berges um das Jahr 915 ist nachgewiesen. Die mittelalterliche Burg wurde ständig erweitert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ging sie in den Besitz der Württemberger über, die sie zu einer Staatsfestung ausbauten. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Festung fünfmal erfolglos belagert. Unter Napoleon wurde sie geschleift und entwickelte sich schon bald danach zu einer Touristenattraktion. Im Jahr 2008 besuchten 86.000 Menschen die Ruine. Eine Besonderheit ist das höchste Weinbaugebiet Deutschlands auf einer Höhe von : An der Südseite des Berges liegen zwei Weingüter. Der nördliche Teil des Hohentwiel ist seit 1988 für die Bundesautobahn 81 auf einer Länge von über 800 Metern untertunnelt. Namensherkunft Erstmals erwähnt wurde die Burg in der St. Galler Klosterchronik Ekkehards IV. (um 980 bis 1060) als castellum tuiel, das 915 belagert wurde. Seit dem Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit war neben Tuiel oder Twiel auch der Name Hohentwiel gebräuchlich. In dieser heutigen Form findet sich der Name erstmals im Jahre 1521 belegt. Twiel – obwohl ein in der alemannischsprachigen Region nicht seltener Örtlichkeitsname – wurde schon früh nicht mehr verstanden. Der Humanist Melchior Goldast wollte den Hegauer Burgnamen von lateinisch duellum ‚Ort, an dem gekämpft wird‘ herleiten, was von Ernst Förstemann in seinem Altdeutschen Namenbuch von 1859 verworfen wurde; stattdessen plädierte er für eine keltische Herkunft. Hermann Jellinghaus, der Förstemanns Namenbuch überarbeitete, zweifelte 1916 Förstemanns Herleitung an, sie sei „kaum keltisch“, der Name sei „in der Schweiz mehrfach wiederkehrend“, doch einen eigenen Erklärungsversuch vermochte er nicht zu erbringen. Wegen des Anlauts geht man in jüngerer Zeit von einem alemannischen Ursprung aus. Das Wort könnte auf eine indogermanische Wurzel tu- mit der Bedeutung ‚schwellen‘ zurückgehen. Gesichert ist diese Annahme nicht. Lage und Umgebung Der Hohentwiel befindet sich in der Vulkanregion Hegau im Süden von Baden-Württemberg. Sie gehört zum Regierungsbezirk Freiburg und zum Landkreis Konstanz. Der Berg erhebt sich nordwestlich von Singen, auf dessen Gemarkung er größtenteils liegt. Am Fuße des Osthangs verläuft die Radolfzeller Aach. Südöstlich liegt, zehn Kilometer entfernt, der Bodensee und westlich in drei Kilometer Entfernung Hilzingen, die zweite anteilige Gemarkung. Die Quellkuppe des Hohentwiel fällt nach allen Seiten steil ab und ist vollständig bewaldet. Den Bergfuß bilden nach Westen hin flachere Hänge, im Osten steigt der Berg direkt und steil rund 260 Meter aus dem Aachtal empor. Im Norden und Nordwesten ragen in einer Entfernung von vier, fünf und sechs Kilometern die ebenso markanten Vulkanreste von Hohenkrähen, Mägdeberg und Hohenstoffeln empor. Geologie Geologisch gesehen liegt der Hohentwiel in einer Einheit, die den Hegau und den westlichen Bodensee umfasst. Die verschiedenen Schichten der Umgebung sind durch Sedimentation entstanden. Durch die Entstehung der Alpen begannen vulkanische Aktivitäten in der Region. Ein Rest davon ist als großer Schlot der mit Deckentuff verfüllte Ur-Hohentwiel. An dessen Ostrand ragt der Phonolith als weiteres vulkanisches Zeugnis in die Höhe. Sedimentation seit dem Jura Vor 200 Millionen Jahren, im Jura, waren die Ränder des späteren Mitteleuropas von einem Schelfmeer bedeckt, das den Rand des Urozeans Tethys darstellte. Dabei lagerten sich durch Sedimentation die Schichten des Süddeutschen Juras ab. Mit Beginn der Alpenauffaltung vor rund 65 Millionen Jahren, im frühen Paläogen, hob sich das Land mehr und mehr aus dem Wasser. Grund hierfür war die Kollision der driftenden Kontinente Afrika und Europa. Als Ausgleich zu den Hebungsbewegungen senkte sich das Gebiet zwischen den neu aufgefalteten Alpen und der Schwäbischen Alb, damit auch der Hegau. Gleichzeitig begannen erosive Prozesse, die die trockene Oberfläche abtrugen. Dieses Material lagerte sich in der immer noch überfluteten Senke ab und bildete ein Molassebecken am Meeresboden in Form sogenannter Meeresmolasse. Im Bereich der Flusseinmündungen aus höhergelegenen, trockenen Gebieten lagerte sich das Material als Süßwassermolasse ab. So entstand eine 5000 Meter mächtige Molassedecke. Vulkanismus im Miozän Durch die Auffaltung der Alpen und der Hebung der Schwäbischen Alb kam es im Bereich des Hegaus auch zu Spannungen und Brüchen in der Tiefe. Nach Rückzug des Wassers begann im Miozän vor rund 15 Millionen Jahren Intraplattenvulkanismus. Dieser ist nicht wie beim tektonischen Vulkanismus an Plattengrenzen (Kontinentalgrenzen) gebunden, sondern tritt innerhalb einer kontinentalen Platte auf. Im Hegau ist der Vulkanismus auf eine Kreuzung der von Nordwest nach Südost verlaufenden Störungszone, dem Bonndorfer Graben und einen Nord-Süd verlaufenden Bruch vom Höwenegg nach Riedheim zurückzuführen. Sechs bis sieben Millionen Jahre gab es aktive Vulkane im Hegau. Die Zeitspanne kann in zwei Abschnitte gegliedert werden. In den ersten drei Millionen Jahren erreichten die Eruptionen die Erdoberfläche. Einer der Vulkane war der Ur-Hohentwiel, der im Laufe der Zeit durch Ausbrüche einen Tuff-Kegelberg ablagerte. Der Berg überragte seine Umgebung um 100 bis 200 Meter. Im Laufe der Zeit reduzierte sich die Mächtigkeit der Deckentuffe auf Grund fehlender Eruptionen durch Erosion wieder. Vor rund acht Millionen Jahren, im Tortonium, fand die zweite Phase der vulkanischen Tätigkeit statt. Das aufsteigende Magma erreichte die Oberfläche jedoch nicht mehr, sondern erstarrte in seinen Aufstiegsgängen durch die Molasse. Verursacht wurde dies vermutlich durch eine andere Zusammensetzung des Magmas, ein höherer Kieselsäureanteil machte die Masse zäher. So entstand der Schlotpfropfen, der damals unter der noch rund 100 Meter mächtigen Tuffdecke steckte. Quartäre Kaltzeiten Der letzte stark prägende Abschnitt waren im Quartär die vier Kaltzeiten (Günz, Mindel, Riß und Würm). Die Alpengletscher schürften die Landschaft immer weiter ab, unter anderem wurde die Tuffdecke über dem Hohentwiel-Schlotpfropfen abgetragen. In der letzten Kaltzeit, der Würm-Kaltzeit vor 20.000 Jahren, drang der Rheingletscher wieder nach Norden vor. Der Bodensee-Vorlandgletscher, Teil des Rheingletschers, trug dabei die Molasse- und Tuffschichten um den Hohentwiel-Pfropfen soweit ab, dass der Pfropfen an die Oberfläche gelangte. Heute ist an der Nord- und Ostseite der Tuff verschwunden und der Pfropfen ragt 100 Meter frei empor. Tuff ist nur im Westen vorhanden, da hier der Pfropfen die Wirkung der Eismassen in ihrer Vorstoßrichtung neutralisierte. Da die Eismächtigkeit in der Würmeiszeit nicht mehr so groß war, ragte die Spitze des Hohentwiel beim letzten Vordringen des Gletschers wohl aus dem Eis hervor. Schichtung und Gesteine 600 Meter unter der Erdoberfläche lagert im Bereich des Hohentwiels die nach Südost geneigte Schicht des Braunen Jura, darauf der parallel liegende Weiße Jura. 100 Meter darüber befinden sich die Schichten von Kimmeridgium und Tithonium. Diese jeweils 150 Meter mächtigen Schichten sind von der zweigeteilten Unteren Süßwassermolasse bedeckt. Dies ist zum einen die 150 Meter mächtige, aus Abtragungsmaterial jurazeitlicher Gesteine bestehende Schicht, zum anderen die darüber liegende Beckenfazies der Unteren Süßwassermolasse, die eine Mächtigkeit von 70 Metern aufweist. Es folgen die dünne Schicht der Brackwassermolasse und darüber die Obere Meerwassermolasse. Im Osten wird sie gefolgt von jüngerem Juranagelfluh der Oberen Süßwassermolasse, auf welcher eine Schicht Phonolithschutt lagert. Im Westen bildet der Deckentuff eine mächtige Schicht. Sie wird weiter westlich von Glimmersanden und Juranagelfluh der Oberen Süßwassermolasse begrenzt. Ganz im Westen des Berges werden diese von Moränenmaterial überlagert. Der markante Kryptodom besteht aus Phonolith, einem Gestein, das seinen Namen aufgrund des hellen Klanges beim Anschlagen hat. Die Hauptbestandteile des Hohentwiel-Phonoliths sind Nephelin, Nosean, Leucit, Sanidin und Augit. Letzteres enthält Zirkon, Apatit und Titanit. Der Kieselsäure-Gehalt des Phonolith beträgt zwischen 50 und 55 Prozent. Der Gehalt an Uran beträgt 350 Gramm pro Tonne. Die Deckentuffe bilden sowohl das Material im Schlot des Ur-Hohentwiel als auch seine Auswurfaufschüttungen im Umkreis. Es gibt vorwiegend betonartigen, grauen Deckentuff. Selten ist er locker und bräunlich-rötlich. Insgesamt sind in den Deckentuffen keine Schichtungen erkennbar. Der Kieselsäuregehalt der ausgeworfenen Lava betrug vermutlich um die 35 Prozent. Inhaltsmaterialien der Tuffe sind vulkanische Kristalle, Lapilli und vulkanische Bomben. Diese „Auswurflinge“ sind zu 20 Prozent Granite, Syenite und Diorite des Grundgebirges, 15 Prozent Kalksteine des Weißjura, hauptsächlich Massenkalke und Schwarzjura- sowie Braunjura-Tonsteine. An Mineralen enthalten die bis zu vier Zentimeter durchmessenden Lapilli vor allem Biotit, Hornblende, Montmorillonit, Calcit, Magnetit und Pyroxene. Diese Zusammensetzung ist identisch mit der des umgebenden Tuffgesteins. Eine Besonderheit des Hohentwiel-Tuffs sind Opal-Knollen. Klima Die Klimazone, in der der Hohentwiel liegt, ist nach der Köppen-Klassifikation „feuchtgemäßigt mit warmen Sommern“ (Cfb). Der Berg liegt in der globalen Westwindzone im Windschatten von Vogesen, Schwarzwald und Jura. Die Niederschläge verringern sich durch ihren Fall an den Barrieren. Sommergewitter machen die Monate Juni und Juli zu den niederschlagreichsten. Weiteren Einfluss haben Föhn-Wetterlagen, die die Lufttemperatur temporär erhöhen können. Auch das Mesoklima des Bodensees beeinflusst das Klima am Hohentwiel. Im Winter verhindert der See als Wärmespeicher tiefe Temperaturen. Die Wassermasse führt im Herbst und im Winter oft zur Nebelbildung, die eine starke nächtliche Abstrahlung verhindert. Seit dem 27. Dezember 1998 unterhält der private Wetterdienst Meteomedia eine Wetterstation auf dem Kirchturm der Festungsruine, die Temperatur und Windgeschwindigkeit misst. Der Deutsche Wetterdienst besitzt eine nebenamtliche Wetterstation am nördlichen Ausläufer des Hohentwiel. Auf dem Gelände des Schwärzehofes werden Niederschlag, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Erdwärme gemessen. Laut Meteomedia war der Hohentwiel 2007 mit 2142 Sonnenstunden nach Scheidegg der zweitsonnenreichste Ort Deutschlands. 2008 wurden 2057 Stunden gezählt, was den vierten Platz bedeutete. Der Orkan Lothar hatte seine europaweit höchste gemessene Windgeschwindigkeit mit 272 km/h auf dem Hohentwiel. Die Richtigkeit dieser Messung wird allerdings bezweifelt. Natur Der größte Eingriff in das Erscheinungsbild des Berges war 1890, als 12.000 Bäume zur Aufforstung gepflanzt wurden. Seit dem Mittelalter war der Berg relativ unbewaldet gewesen. 1923 wurden 20 Hektar Wald im Steilgebiet als Bannwald geschützt, da nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt Holzdiebstähle vorkamen. 1941 wurde das erste Naturschutzgebiet mit einer Fläche von 108 Hektar am Hohentwiel ausgewiesen; 2004 wurde es auf 138 Hektar erweitert. Das Naturschutzgebiet umfasst den gesamten Berg zwischen Singen und Twielfeld und 19 Hektar Bannwald. Im Osten, Süden und Westen wird es vom ebenfalls 2004 eingerichteten 63 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet mit Ruine, Staatsdomäne und Grünflächen am Fuß des Hohentwiel umrahmt. Die Gebiete sind auch Teil von Natura 2000, einem Schutzprojekt der Europäischen Union. Siehe auch → Hohentwiel (Naturschutzgebiet) Siehe auch → Hohentwiel/Hohenkrähen (Vogelschutzgebiet) Rund um den Hohentwiel führt der sogenannte Vulkanpfad Hohentwiel. Der drei Kilometer lange Lehrpfad umrundet den Hohentwiel ungefähr auf der 600-Meter-Höhenlinie. Anhand von zwölf Stationen mit Schautafeln werden hauptsächlich Informationen zur Flora und Fauna gegeben, aber auch geologische und den Weinbau betreffende Inhalte werden vermittelt. Vegetation Am Hohentwiel gedeihen an verschiedenen Plätzen seltene Pflanzenarten. Auf der südlichen Seite sind es eher mediterrane und auf der nördlichen Seite eher skandinavische Arten. Größere Teile bestehen aus Waldungen und Trockenrasen. Am Süd- und Westhang ist der Boden trocken und steinig und bildet die Grundlage für den Trockenrasen. Die steilen Hangteile sind den Sonnenstrahlen besonders stark ausgesetzt, so dass die hier wachsenden Pflanzen besondere Abwehrstrategien entwickeln müssen. Die Gewöhnliche Kuhschelle schützt sich beispielsweise mit dichtem Haarbewuchs. Oberhalb der Weinberge Twielfelds ist der Deckentuff kaum mit Humus bedeckt. An den nackten, sehr trockenen Felsen wachsen Gold-Aster, Breitblättriger Thymian, Blaugrünes Labkraut, Färberkamille, Glanz-Lieschgras und Blauer Lattich. Eine Sonderrolle nimmt der Ysop ein. Er ist vermutlich aus den Burgkräutergärten ausgewildert und stellt das bedeutendste Vorkommen seiner Art in Deutschland dar. Weitere Pflanzen sind Straußblütige Wucherblume, Pfirsichblättrige Glockenblume, Rundblättrige Glockenblume, Sonnenröschen, Gewöhnliche Kratzdistel, Möhre und Echtes Labkraut. Auch Steppenpflanzen wie Ähriger Ehrenpreis und Hainsalbei befinden sich im Rasen. Auf dem kargen, verwitterten Tuff sind Pflanzen wie Vogel-Wicke, Süß-Tragant, Bunte Kronwicke und Weißer Steinklee im Vorteil, die Stickstoff direkt aus der Luft aufnehmen können. Durch die Beweidung mit Schafen und Ziegen kann verhindert werden, dass Fransenenziane und Silberdisteln durch wuchernde, schattenspendende Gräser verdrängt werden. Im Frühling gedeiht auf den Weiden die Echte Schlüsselblume. In den südwestlich exponierten Weinbergen wachsen Kugeldisteln, Schwarznesseln und Rundblättriger Storchschnabel. An Sträuchern kommen hauptsächlich Schlehdorn, Rosenarten wie die Wein-Rose, Liguster und die Gemeine Hasel vor. An der Ost- und Südostseite, dem Olgaberg sind Halbtrockenrasen beheimatet. Hier wachsen Wiesensalbei, Karthäuser-Nelke, ebenfalls der breitblättrige Thymian und die Tauben-Skabiose. Als Strauch kommt der Weißdorn vor. Die kühleren, feuchteren Standorte auf der Nordseite sind größtenteils mit Wald bewachsen. Diese Bedingungen bevorzugen Pflanzen wie Wald-Geißbart, Gold-Hahnenfuß, Männliches Knabenkraut oder Kriechende Gämswurz. An den schattigen Phonolithschutthalden wachsen Bärlauch, Hohler Lerchensporn und Gelbes Windröschen. Auf den Schafweiden gedeiht die Nickende Distel. Auf den Felsbändern des Phonolith-Pfropfes wachsen Weiße Fetthenne, Berg-Lauch, Pfingstnelke, Dach-Hauswurz und Berg-Steinkraut, ebenso wie Mauer-, Nordischer und Schwäbischer Streifenfarn. Mit niedrigen Eichen, Felsenbirnen und Blauroter Steinsame ist der Übergang vom Hang zum steilen Fels bewachsen. Zahlreiche Spezialisten wachsen in den unverputzten Mauerfugen der Burgruine, teilweise häufiger als am natürlichen Fels. Dazu gehören Niedriges Habichtskraut, Berg-Steinkraut, Buckel-Fetthenne, Blauer Lattich, Rispen-Steinbrech und Dreiblättriger Baldrian. Es gibt zwei verschiedene Waldzusammensetzungen um den Phonolitkegel. Zum einen sind dies Spitzahorne und Sommer-Linden, zum anderen Eschen, Ulmen und Ahorne. Der erste Waldtyp wächst vermehrt an den Südhängen und bildet dort einen Steppenheidewald zusammen mit Feldahorn, Stieleiche und Hainbuche. In den Wäldern auf der Nordseite gedeiht ebenfalls die Sommer-Linde, dort aber in Verbindung mit Bergahorn, Esche und Bergulme. Tierwelt Die Trockenrasen sind die Heimat für verschiedene Tierarten. Dort leben die Schmetterlinge Himmelblauer Bläuling, Hauhechel-Bläuling, Schachbrett, Schwalbenschwanz und die Blauflüglige und Rotflügelige Ödlandschrecke, die Schlingnatter und die Käfer Grauflügliger Erdbock, Matter Pillenwälzer sowie der Dunkelblaue Laufkäfer. In den Felsen und am Berg brüten der Wander- und der Turmfalke, der Kolkrabe und der Neuntöter. In der Ruine leben die Italienische Schönschrecke und Mauereidechsen. Zwischen den Reben der Weinberge leben die Blauflügelige Ödlandschrecke und der Braunfühlerige Schnellläufer. Eschenfällung und Steinschlag 2019 Zunächst mussten zu Beginn des Jahres 2019 ungefähr 700 Eschen an den Hängen des Hohentwiels gefällt werden. Diese waren vom Falschen Weißen Stängelbecherchen befallen und bedrohten durch abbrechende Äste oder umstürzende Bäume die Besucher, weshalb sie aus Gründen der Verkehrssicherungspflicht gefällt werden mussten. Die gefällten Bäume werden zu 60–70 % als Totholz vor Ort belassen, auf eine umfangreiche Aufforstung wurde verzichtet. Ende April 2019 sorgte dann ein Steinschlag im Bereich der Festungsruine für eine anhaltende Sperrung für Besucher. Deshalb war bis zum Juli 2020 nur die Karlsbastion zugänglich. Zunächst wurden lose Gesteinsstücke abgeräumt, die weiteren Sicherungsmaßnahmen waren noch nicht abschätzbar, da diese beispielsweise auch noch ausgeschrieben werden mussten. Im November 2019 wurde ein Geröllfangzaun auf der westlichen Hangseite in Richtung Hilzingen installiert, der aber nur kurzer Zeit später durch einen neuen Steinschlag mit etwa eine Tonne Gesteine beschädigt wurde. Es war deshalb geplant, ein 75 Quadratmeter großes Drahtgeflecht am Hang anzubringen. Besiedelung Am Hohentwiel sind für die Zeit um 7500 v. Chr. erstmals menschliche Siedlungsspuren nachgewiesen. Beim Bau des Hohentwiel-Tunnels wurden jungsteinzeitliche Siedlungen gefunden. Östlich des Hohentwiel (Offwiese) fanden sich Spuren der Rössener Kultur (4500 v. Chr.). Bei der Erweiterung des Hegau-Bodensee-Klinikums (Torkelweg) in Singen 1998 wurden Gegenstände der La-Hoguette-Gruppe (6. Jahrtausend v. Chr.) entdeckt. An der gleichen Stelle befand sich in der Bronzezeit eine Keltensiedlung. Burg und Festung Die ehemalige Festung ist mit einer Größe von neun Hektar eine der größten Burgruinen Deutschlands. Sie gliedert sich in die Untere Festung am Westhang und die Obere Festung auf dem Gipfel des Hohentwiel. Erhalten sind zahlreiche Gebäude und Verteidigungsstrukturen. Der Turm der Kirche kann bestiegen werden. Seit 1969 finden Festivals auf Hohentwiel statt. Heute findet es unter dem Namen Hohentwiel-Festival statt und jedes Jahr haben bekannte Musiker ihre Auftritte. Mittelalter Die Geschichte des Hohentwiel ist geprägt durch die Burg Twiel und die Festung Hohentwiel. Sie beginnt um 915, als eine Befestigung am Hohentwiel belagert wurde. Damals war Burchard II. Herr von Twiel. Um welche Art von Befestigung es sich handelte, ist nicht bekannt; vermutet wird eine Erde-Holz-Konstruktion. Ebenfalls ist ungeklärt, ob sie sich bereits auf dem Gipfel befand. 970 begannen Burchard III. und seine Frau Hadwig damit, auf dem Twiel ein Kloster einzurichten. Nach dem Tod Burchards lebte seine Witwe weiter auf Twiel. Im 11. Jahrhundert kam der Twiel in die Hände der Zähringer und im 12. Jahrhundert übernahmen ihn die Herren von Singen. Die nächsten Besitzer waren im 13. Jahrhundert die Herren von Klingen. In Klingenberger Besitz kam der Twiel Anfang des 14. Jahrhunderts. Er wurde bei einer Fehde zwischen den Klingenbergern und den Werdenbergern 1464 belagert, ohne dass dabei größere Kämpfe dokumentiert sind. Neuzeit 1521 erwarb Herzog Ulrich von Württemberg das Nutzungsrecht für den Hohentwiel und begann ihn zur Festung auszubauen. Noch während der ersten Ausbauzeit brachen die Bauernkriege aus. Ulrich unterstützte die Aufständischen, da er sich in Opposition zu den Habsburgern befand. Kampfhandlungen gab es am Hohentwiel nicht. 1538 gelangte der Hohentwiel für 12.000 Gulden ganz an die Württemberger. Im Laufe des Dreißigjährigen Kriegs wurde der Hohentwiel in den Jahren 1635, 1639, 1640, 1641 und 1644 fünfmal erfolglos belagert. Eine besonders prachtvolle Darstellung des belagerten Hohentwiel bietet der Zavelsteiner Pfarrer Johann Ebermaier (1599–1666) in einem als Neujahrsgruß zum ersten Friedensjahr 1649 gestaltete Heft. Es ist Konrad Widerhold als Symbolfigur württembergischer Widerstandskraft gewidmet und trägt die merkwürdige Überschrift Beschützung der Burg Zion zue sondern Ehren und ewiger Namens Gedächtnus wie auch Glückhwünschung eines friden- und frewdenreichen Newen Jahres: ein türkisches Heer belagert den Hohentwiel. Die Darstellung lässt keinen Zweifel: Die "Ungläubigen" bekämpfen die Burg Zion. Aus dem Heer der katholischen Kontingente sind die ungläubigen Türken geworden. Doch der evangelischen Besatzung gelingt die Verteidigung ihrer Burg Zion. In den Jahren 1653, 1700 und 1735 erfolgte ein weiterer Ausbau der Festung, die mittlerweile als württembergisches Staatsgefängnis genutzt wurde. Ein bekannter Gefangener war von 1759 bis 1764 Johann Jacob Moser. 1799 wurde die Festung von den Franzosen eingenommen und 1801 geschleift. Nach 1804 kam es immer wieder zu Instandsetzungen, weil die Ruine inzwischen Touristen anzog. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg waren auf der Burg Fliegerwachen stationiert. Am Ende des Zweiten Weltkriegs beschossen Franzosen die Festung mit Panzern und richteten Schäden an der Bausubstanz an. Bis zum 1. Januar 1969 gehörte der Hohentwiel als ehemals württembergische Exklave in Baden zu Tuttlingen, erst dann kam er zu Singen. Die Festung verblieb jedoch beim Land Baden-Württemberg. Seit 1974 wurden bis 2009 in die Sicherung der Ruine 4,76 Millionen Euro investiert. Weinbau Zwei Weinbauflächen befinden sich an den Hängen des Hohentwiel. Nach Südosten exponiert ist der Olgaberg, den das Staatsweingut Meersburg betreibt. Der nach Südwesten ausgerichtete Elisabethenberg ist im Besitz des Weinguts Vollmayer. Beide Weinberge sind die höchsten Deutschlands, wobei am Olgaberg bis auf 530 Meter und am Elisabethenberg bis auf 562 Meter angebaut wird. Standortvorteile am Hohentwiel sind die nährstoffreichen und sich gut erwärmenden Vulkanverwitterungsböden. Nach der Jahrtausendwende wurde damit begonnen, die beiden Weinberge neu zu terrassieren. Dabei werden Kleinterrassen geschaffen, die besser bewirtschaftet werden können, außerdem optimieren sie die Sonneneinstrahlung. Der Weinbau am Hohentwiel ist seit dem Jahr 1538 belegt. Vermutet wird allerdings, dass bereits die Mönche im Jahr 970 Wein für den Eigenbedarf angebaut haben. Im 16. und 17. Jahrhundert war Wein nicht nur Getränk, sondern auch Teil des Soldaten-Soldes. Besucher der Burg trugen üblicherweise Steine als Baumaterial auf den Berg. Dafür erhielten sie Wein und durften sich im Fremdenbuch eintragen. Dort sind auch Hinweise auf den Wein enthalten. Nach der Schleifung der Burg wurden die Weinberge weiter bewirtschaftet. 1822 wurden alle Anbauflächen erstmals verpachtet und auf die besten Lagen reduziert. Schlechte Ernten zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten zu einer Einstellung des Weinbaus im Jahr 1912. 1928 begann Robert Vollmayer sen. mit der Wiederbepflanzung der Weinberge, 1930 konnte der erste Wein geerntet werden. Die Grundstücke am Olgaberg musste er 1934 dem Verpächter zurückgeben. Weil er aber am Elisabethenberg eine weitere Fläche von fünf Hektar gepachtet hatte, konnte der Weinbau weitergehen. 1948 ging das Weingut an Robert Vollmayer jun. über, der die Anbaufläche auf 6,3 Hektar vergrößerte. Zwischen 1963 und 1968 wurde der Betrieb auf 15 Hektar erweitert, diese Größe besitzt das Weingut noch heute. Angebaute Sorten sind Müller-Thurgau, Bacchus, Grauburgunder, Weißer Burgunder, Riesling, Traminer, Kerner, Chardonnay, Spätburgunder und Dornfelder. 1949 ging der Olgaberg an Walter Fahr, Besitzer der Maschinenfabrik Fahr in Gottmadingen über. Mit der Verwaltungsreform 1969 gelangte der Weinberg in den Besitz des Staatsweinguts Meersburg. 1974 betrug die Anbaufläche 7,5 Hektar. Dort werden Müller-Thurgau, Weißer Burgunder, Blauer Spätburgunder, Riesling und Cabernet Sauvignon angebaut. Landwirtschaft Landwirtschaft wird an den flachen Ausläufern im Westen und Norden betrieben, die Flächen werden als Weide, Wiese oder Feld genutzt. Die Geschichte der Landwirtschaft reicht ins 16. Jahrhundert zurück. 1593 wurde der Bergmaierhof als Domäne errichtet. Er ist der Vorgänger der heutigen Domäne. Heute stehen auf den Ausläufern zwei landwirtschaftliche Güter: die landeseigene Domäne Hohentwiel und der Schwärzehof. Von der Domäne wird auf den steilen Wiesen rund um den Hohentwiel Schafzucht mit etwa 650 Schafen und 50 Ziegen betrieben. Bewirtschaftet werden die Flächen extensiv, ohne künstliche Pflanzenschutzmittel und Futterzusatzstoffen und mit nur sechs Schafen pro Hektar Weidefläche. Gleichzeitig ist diese Art der Beweidung eine Form der Landschaftspflege, die das Erscheinungsbild des Hohentwiel auf den Weideflächen prägt. Daneben betreut die Domäne rund 800 Obstbäume. Hohentwiel-Tunnel Die Bundesautobahn 81 führt mit dem Hohentwiel-Tunnel nordwestlich unter den Ausläufern des Hohentwiels und des Staufen hindurch. Erste Planungen für einen Tunnel unter dem Hohentwiel gab es um 1975. 1976 und 1979 fanden Probebohrungen statt. 1985 wurde mit dem Bau begonnen, der Ende Juni 1988 nach dreieinhalbjähriger Bauzeit abgeschlossen war. In zwei zweispurigen Röhren verläuft seitdem die Autobahn unter dem Hohentwiel. Die Röhre nach Norden hat eine Länge von 785 Metern und die nach Süden von 833 Metern. Die Baukosten beliefen sich auf 65 Millionen DM. Die Tunnelvariante wurde einer oberirdischen Streckenführung vorgezogen, um das Landschaftsbild relativ natürlich zu erhalten. In den Jahren 2008 und 2009 wurde der Tunnel für 4,2 Millionen Euro den Sicherheitsstandards angepasst. Wanderwege Über den Hohentwiel führen neben einigen von der Stadt Singen ausgeschilderten Wanderwegen unter anderem auch der „Hegau-Panorama-Weg“ sowie der „Schwarzwald-Querweg Freiburg–Bodensee“. Literatur Casimir Bumiller: Hohentwiel: Die Geschichte einer Burg zwischen Festungsalltag und großer Politik. 2. Auflage. Stadler, Konstanz 1997, ISBN 3-7977-0370-8 Roland Kessinger (Hrsg.), Klaus-Michael Peter (Hrsg.): Hohentwiel-Buch: Kaiser, Herzöge, Ritter, Räuber, Revolutionäre, Jazzlegenden (= Hegau-Bibliothek, Band 115). MarkOrPlan, Singen (Hohentwiel)/Bonn 2002, ISBN 3-933356-17-2 3. Auflage 2009, ISBN 978-3-933356-17-8 Josef Weinberg: Der Kommandant vom Hohen-Twiel; Kurt Arnold Verlag, Stuttgart 1938 (historischer Roman). Roland Kessinger, Klaus-Michael Peter (Hrsg.): Der Hohentwiel – Der Berg im Fokus der Mächte Europas. 1. Auflage. MarkOrPlan, Singen (Hohentwiel)/ Bonn 2015, ISBN 978-3-933356-80-2. Weblinks Website der Festungsruine Hohentwiel Quellen Literatur Roland Kessinger (Hrsg.), Klaus-Michael Peter (Hrsg.): 1. Anhang 2004/05 zum Hohentwiel Buch. MarkOrPlan, Singen (Hohentwiel)/ Bonn 2004, ISBN 3-933356-27-X Roland Kessinger (Hrsg.), Klaus-Michael Peter (Hrsg.): Neue Hohentwiel Chronik (2. Anhang 2009/10 zum Hohentwiel Buch). MarkOrPlan, Singen (Hohentwiel) 2009, ISBN 978-3-933356-55-0 Albert Schreiner: Hegau und westlicher Bodensee. In: Peter Rothe: Sammlung Geologische Führer Band 62. 3. berichtigte Auflage. Borntraeger, Berlin/Stuttgart 2008, ISBN 978-3-443-15083-9 Ottmar Schönhuth: Geschichte Hohentwiel's, der unbezwungenen Veste im dreißigjährigen Krieg. Ein Beitrag zur Geschichte derselben aus urkundlichen Quellen. Freiburg im Breisgau 1836 (Digitalisat). Hans-Dieter Kuhn: Die Grabmale auf dem Hohentwielfriedhof. In: Jahrbuch 71/2014 Hegau-Geschichtsverein e.V., Singen (Hohentwiel), Seite 93–108. ISBN 978-3-933356-79-6 Einzelnachweise Berg in Europa Berg im Landkreis Konstanz Geographie (Singen (Hohentwiel)) Geographie (Hilzingen) Berg im Hegau Quellkuppe Baden (Weinanbaugebiet) Nationaler Geotop Geotop im Landkreis Konstanz Landschaftsschutzgebiet im Landkreis Konstanz Vulkanismus in Deutschland
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Hypatia
Hypatia (auch Hypatia von Alexandria, ; * um 355 in Alexandria; † März 415 oder März 416 in Alexandria) war eine griechische spätantike Mathematikerin, Astronomin und Philosophin. Von ihren Werken ist nichts erhalten geblieben, Einzelheiten ihrer Lehre sind nicht bekannt. Sie unterrichtete öffentlich und vertrat einen vermutlich mit kynischem Gedankengut angereicherten Neuplatonismus. Als Vertreterin einer nichtchristlichen philosophischen Tradition gehörte sie im überwiegend christlichen Alexandria der bedrängten paganen Minderheit an. Dennoch konnte sie lange unangefochten lehren und erfreute sich hohen Ansehens. Schließlich wurde sie aber das Opfer eines politischen Machtkampfs, in dem der Kirchenlehrer Kyrill von Alexandria religiöse Gegensätze instrumentalisierte. Ein aufgehetzter Mob aus christlichen Laienbrüdern und Mönchen (Parabolani) brachte sie schließlich in eine Kirche und ermordete sie dort. Der Leichnam wurde zerstückelt. Der Nachwelt blieb Hypatia hauptsächlich wegen der spektakulären Umstände ihrer Ermordung in Erinnerung. Seit dem 18. Jahrhundert wird der Fall von Heidenverfolgung oft von Kritikern der Kirche als Beispiel für Intoleranz und Wissenschaftsfeindlichkeit angeführt. Aus feministischer Sicht erscheint die Philosophin als frühe, mit überlegenem Wissen ausgestattete Vertreterin einer emanzipierten Weiblichkeit und als Opfer einer frauenfeindlichen Haltung ihrer Gegner. Moderne nichtwissenschaftliche Darstellungen und belletristische Bearbeitungen des Stoffs zeichnen ein Bild, das die spärliche antike Überlieferung ausschmückt und teils stark abwandelt. Schon vor Hypatia gab es eine Frau, die nach dem Zeugnis von Pappos in Alexandria Mathematik lehrte, Pandrosion. Quellen Über Hypatias Leben und Werk liegen nur spärliche Nachrichten vor. Die wichtigsten Quellen sind: sieben an Hypatia gerichtete Briefe des Neuplatonikers Synesios von Kyrene, der sie außerdem in weiteren Briefen und in seiner Abhandlung Über das Geschenk erwähnt. Als Schüler und Freund Hypatias war Synesios sehr gut informiert. Da er am Neuplatonismus festhielt, aber zugleich Christ war und sogar Bischof von Ptolemais wurde, ist seine Sichtweise relativ wenig von Parteinahme in den religiösen Konflikten geprägt. die Kirchengeschichte des Sokrates von Konstantinopel (Sokrates Scholastikos), der ein jüngerer Zeitgenosse Hypatias war. Ungeachtet des religiösen Gegensatzes schildert Sokrates die Philosophin respektvoll und verurteilt ihre Ermordung nachdrücklich als unchristliche Tat. Auf seinen Angaben fußen die meisten Darstellungen späterer byzantinischer Geschichtsschreiber, die aber die Vorgänge zum Teil anders bewerten als Sokrates. die nur fragmentarisch erhaltene Philosophische Geschichte des Neuplatonikers Damaskios, die im Zeitraum 517–526 entstanden ist. Damaskios war ein entschiedener Anhänger der alten Religion und Gegner des Christentums. Gleichwohl neigte er zu kritischen Urteilen über die Kompetenz von neuplatonischen Philosophen, die seinen eigenen Maßstäben nicht genügten, und auch seine Bemerkungen über Hypatia lassen eine abwertende Haltung erkennen. die Chronik des ägyptischen Bischofs Johannes von Nikiu. Johannes, der im 7. Jahrhundert schreibt, also aus großer zeitlicher Distanz berichtet, billigt Hypatias Ermordung und ergreift vorbehaltlos für ihre radikalen Gegner Partei. der Hypatia gewidmete Artikel in der Suda, einer byzantinischen Enzyklopädie des 10. Jahrhunderts. Dort sind Angaben unterschiedlicher Herkunft und Qualität unkritisch aneinandergereiht. Der Verfasser des Suda-Artikels verwertete Nachrichtenmaterial aus der Philosophischen Geschichte des Damaskios und wahrscheinlich auch aus einer weiteren spätantiken Quelle, der von Hesychios von Milet angelegten Sammlung von Literaten-Biographien, die heute bis auf Fragmente verloren ist. In seiner Darstellung ist legendenhafte Ausschmückung erkennbar. Leben Hypatias Vater war der Astronom und Mathematiker Theon von Alexandria, der letzte namentlich bekannte Wissenschaftler im Museion von Alexandria, einer berühmten staatlich finanzierten Forschungsstätte. Das Geburtsjahr von Hypatia wird zwischen etwa 350 und 370 n. Chr. datiert, der Chronist Johannes Malalas nennt sie zwar eine „alte Frau“, doch ist die Aussage spät und unzuverlässig. Sie scheint das ganze Leben in ihrer Heimatstadt Alexandria verbracht zu haben. Bei ihrem Vater erhielt sie eine mathematische und astronomische Ausbildung. Später beteiligte sie sich an seiner astronomischen Arbeit. Wer ihr Philosophielehrer war, ist unbekannt; einer Forschungshypothese zufolge kommt Antoninos, ein Sohn der Philosophin Sosipatra, in Betracht. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung begann sie, selbst Mathematik und Philosophie zu unterrichten. Nach Angaben der Suda verband sie rhetorische Begabung mit einer umsichtigen, durchdachten Vorgehensweise. Sokrates von Konstantinopel berichtet, von überall seien Hörer zu ihr gekommen. Manche ihrer Schüler waren Christen. Der berühmteste von ihnen war Synesios, der im letzten Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts bei ihr sowohl Philosophie als auch Astronomie studierte. Damaskios berichtet, Hypatia habe den Philosophenmantel (tríbōn) getragen und sei in der Stadt unterwegs gewesen, um öffentlich zu unterrichten und allen, die sie hören wollten, die Lehren Platons oder Aristoteles’ oder auch jedes beliebigen anderen Philosophen auszulegen. Wie diese Nachricht zu deuten ist, ist in der Forschung umstritten. Jedenfalls stützt sie nicht die Ansicht, Hypatia habe einen aus öffentlichen Mitteln finanzierten Lehrstuhl innegehabt; dafür gibt es keinen Beleg. Étienne Évrard interpretiert die Formulierung des Damaskios im Sinne eines Unterrichts auf offener Straße. Die überlieferte Darstellung von Hypatias Lehrweise rückt die Philosophin äußerlich in die Nähe des Kynismus, ebenso wie der Hinweis auf ihren Philosophenmantel, ein Kleidungsstück, das man mit Kynikern zu assoziieren pflegte. Damaskios lässt durchblicken, dass er Hypatias öffentliches Auftreten missbilligte. Er war der Meinung, dass Philosophieunterricht nicht in der Öffentlichkeit und nicht jedem, sondern nur entsprechend qualifizierten Schülern erteilt werden sollte. Möglicherweise hat er bei seiner Darstellung von Hypatias Tätigkeit karikierend übertrieben. Jedenfalls kann man seinen Worten entnehmen, dass sie philosophische Themen, die man sonst in geschlossenem Kreis unter einschlägig Gebildeten zu erörtern pflegte, einer relativ breiten Öffentlichkeit unterbreitete. In diese Richtung weist auch eine in der Suda überlieferte Anekdote, wonach sie einem in sie verliebten Schüler ihr Menstruationsblut als Symbol für die Unreinheit der materiellen Welt zeigte, um ihm die Fragwürdigkeit seines sexuellen Begehrens drastisch vor Augen zu führen. Die Geringschätzung des Körpers und der körperlichen Bedürfnisse war ein Merkmal der neuplatonischen Weltsicht. Wenn auch die Anekdote möglicherweise erst im Zuge der Legendenbildung entstanden ist, mag sie einen wahren Kern haben; jedenfalls war Hypatia dafür bekannt, vor einem bewusst provozierenden Verhalten nicht zurückzuschrecken. Dies ist ebenfalls ein Indiz für ein kynisches Element in ihrer philosophischen Haltung: Kyniker pflegten kalkuliert zu schockieren, um Erkenntnisse herbeizuführen. Neben dem Lehrstoff, den Hypatia der Öffentlichkeit vermittelte, gab es auch Geheimlehren, die einem engeren Schülerkreis vorbehalten bleiben sollten. Dies ist aus der Korrespondenz des Synesios ersichtlich, der gegenüber seinem Freund und Mitschüler Herkulianos mehrfach an das Gebot der Verschwiegenheit (echemythía) erinnert und Herkulianos vorwirft, sich nicht daran gehalten zu haben. Dabei verweist Synesios auf das Schweigegebot bei den Pythagoreern; die Vermittlung von Geheimwissen an unqualifizierte Personen führe dazu, dass solche eitlen und verständnislosen Hörer ihrerseits das Vernommene in verzerrter Form weitergäben, was letztlich eine Diskreditierung der Philosophie in der Öffentlichkeit bewirke. Sokrates von Konstantinopel schreibt, Hypatia sei in der Umgebung hoher Beamter aufgetreten. Sicher ist, dass sie zum Umkreis des römischen Präfekten Orestes gehörte. Hypatia blieb ihr ganzes Leben unverheiratet. Die Angabe in der Suda, sie habe sich mit einem Philosophen namens Isidoros vermählt, ist auf einen Irrtum zurückzuführen. Damaskios erwähnt ihre außergewöhnliche Schönheit. Im Rahmen ihrer naturwissenschaftlichen Arbeit befasste sich Hypatia auch mit Messgeräten. Dies ist aus der brieflichen Bitte des Synesios ersichtlich, sie möge ihm ein „Hydroskop“ schicken, womit offenbar ein Aräometer gemeint war. Ob das Instrument zur Erfassung und Beschreibung der Himmelskörperbewegungen, das Synesios bauen ließ, nach Anweisungen Hypatias konstruiert wurde, ist in der Forschung umstritten. Tod Hypatia wurde im März 415 oder im März 416 ermordet. Die Vorgeschichte bildete ein primär politischer und persönlicher Konflikt mit religiösen Aspekten, mit dem sie wohl ursprünglich nichts zu tun hatte. Vorgeschichte Schon in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts war es in Alexandria zu starken Spannungen zwischen Teilen der christlichen Bevölkerungsmehrheit und Anhängern der alten Kulte gekommen, die zu gewalttätigen Ausschreitungen mit Todesopfern führten. Im Lauf dieser Auseinandersetzungen wurde die Minderheit zunehmend zurückgedrängt. Der Patriarch Theophilos von Alexandria ließ Kultstätten zerstören, insbesondere das berühmte Serapeum, doch der pagane Unterrichtsbetrieb wurde – wenn überhaupt – nur vorübergehend beeinträchtigt. Die religiös-philosophische Weltanschauung der Gebildeten, die an der alten Religion festhielten, war ein synkretistischer Neuplatonismus, der auch Teile des Aristotelismus und stoische Gedanken in sein Weltbild integrierte. Diese paganen Neuplatoniker versuchten, die Verschiedenheiten der überlieferten philosophischen Systeme durch eine stimmige Synthese der philosophischen Traditionen zu überbrücken, und erstrebten damit eine einheitliche Lehre als philosophische und religiöse Wahrheit schlechthin. Von der Synthese ausgenommen war nur der Epikureismus, den die Neuplatoniker insgesamt verwarfen und nicht als legitime Variante der griechischen Philosophie betrachteten. Zwischen dem paganen Neuplatonismus und dem Christentum bestand ein schwer überbrückbarer inhaltlicher Gegensatz. Nur Synesios, der zugleich Christ und Neuplatoniker war, versuchte eine Harmonisierung. In Konfliktfragen gab er aber letztlich der platonischen Philosophie gegenüber den Glaubenslehren den Vorzug. Die religiös orientierten nichtchristlichen Platoniker, welche die geistige Basis für einen Fortbestand paganer Religiosität in gebildeten Kreisen schufen, erschienen den Christen als prominente und hartnäckige Gegner. Zu Opfern von Verfolgung und Vertreibung wurden Personen aus diesem paganen Milieu aber nicht wegen ihres Festhaltens an ihrem religiös-philosophischen Weltbild – etwa bei der Vermittlung herkömmlicher Bildungsinhalte an Schüler –, sondern wegen ihrer Kultpraxis. Seit Iamblichos von Chalkis schätzten und praktizierten viele Neuplatoniker die Theurgie, eine rituelle Kontaktaufnahme mit den Göttern zum Zweck des Zusammenwirkens mit ihnen. Aus christlicher Sicht war das Zauberei, Götzenkult und Beschwörung teuflischer Dämonen. Radikale Christen waren nicht bereit, solche Praktiken zu dulden, zumal sie davon ausgingen, dass es sich um einen böswilligen Einsatz von Zauberkräften handle. Neben den Konflikten zwischen paganen und christlichen Einwohnern von Alexandria gab es zugleich auch unter den Christen schwere Zerwürfnisse zwischen Anhängern unterschiedlicher theologischer Richtungen sowie Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen. Damit vermischten sich politische Gegensätze sowie Machtkämpfe, zu deren Hintergrund auch persönliche Feindschaften gehörten. Den Ausgangspunkt der Ereignisse, die schließlich zu Hypatias Tod führten, bildeten handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen, die eskalierten und zahlreiche Todesopfer forderten. Der Patriarch Kyrill von Alexandria, der seit Oktober 412 amtierte, war der Neffe und Nachfolger des Theophilos, dessen Kurs religiöser Militanz er fortsetzte. Kyrill profilierte sich zu Beginn seiner Amtszeit als radikaler Gegner der Juden. Ein in seinem Sinne tätiger Agitator namens Hierax schürte den religiösen Hass. Als er bei einer Veranstaltung des Präfekten Orestes im Theater auftauchte, beschuldigten ihn die anwesenden Juden, er sei nur gekommen, um einen Aufruhr anzuzetteln. Orestes, der zwar Christ war, aber als oberster Repräsentant der Staatsmacht für den inneren Frieden zu sorgen hatte, ließ Hierax festnehmen und sogleich öffentlich unter der Folter befragen. Daraufhin bedrohte Kyrill die Anführer der Juden. Nach einem nächtlichen Angriff der Juden, die dabei viele Christen getötet hatten, organisierte Kyrill einen umfassenden Gegenschlag. Seine Anhänger zerstörten die Synagogen und plünderten die Häuser der Juden. Jüdische Einwohner wurden enteignet und aus der Stadt vertrieben. Die Behauptung des Sokrates von Konstantinopel, es seien sämtliche in Alexandria lebenden Juden betroffen gewesen, scheint allerdings übertrieben zu sein. Es gab auch später eine jüdische Gemeinde in Alexandria. Ein Teil der Vertriebenen kehrte zurück. Johannes von Nikiu, der die Vorgänge aus der Sicht der Parteigänger des Patriarchen schildert, beschuldigt Orestes der Parteinahme für die Juden. Diese seien bereit gewesen, Christen anzugreifen und zu massakrieren, weil sie sich auf die Unterstützung des Präfekten hätten verlassen können. Das eigenmächtige Vorgehen des Patriarchen gegen die Juden forderte die Autorität des Präfekten heraus, zumal Angriffe auf Synagogen gesetzlich verboten waren. Es kam zu einem erbitterten Machtkampf zwischen den beiden Männern, den höchsten Repräsentanten des Staates und der Kirche in Alexandria. Dabei stützte sich Kyrill auf seine Miliz (die Parabolani). Zur Verstärkung seiner Anhänger trafen rund fünfhundert gewaltbereite Mönche aus der Wüste ein. Zu diesen militanten Mönchen hatte Kyrill ausgezeichnete Beziehungen, da er früher einige Jahre unter ihnen gelebt hatte. Im Milieu der teils analphabetischen Mönche herrschte eine bildungsfeindliche Einstellung und radikale Intoleranz gegenüber allem Nichtchristlichen; sie hatten schon den Patriarchen Theophilos bei der Verfolgung religiöser Minderheiten tatkräftig unterstützt. Die Parteigänger des Patriarchen behaupteten, der Präfekt schütze Gegner des Christentums, weil er mit ihnen sympathisiere und selbst insgeheim ein Heide sei. Die fanatisierten Mönche traten dem Präfekten, als er in der Stadt unterwegs war, offen entgegen und forderten ihn mit Beschimpfungen heraus. Ein Mönch namens Ammonios verletzte Orestes durch einen Steinwurf am Kopf. Darauf ergriffen fast alle Begleiter des Präfekten die Flucht, sodass er in eine lebensgefährliche Lage geriet. Seine Rettung verdankte er herbeieilenden Bürgern, welche die Mönche verjagten und Ammonios ergriffen. Der Gefangene wurde verhört und starb unter der Folter. Daraufhin lobte Kyrill öffentlich den Mut des Ammonios, verlieh ihm den Namen „der Bewundernswerte“ und wollte für ihn einen Märtyrerkult einführen. Damit fand er aber bei der christlichen Öffentlichkeit kaum Anklang, da der tatsächliche Hergang der Auseinandersetzung allzu bekannt war. Ermordung Nun entschied sich Kyrill oder jemand aus seinem Umkreis für ein Vorgehen gegen Hypatia, die sich als Angriffsziel eignete, da sie eine profilierte pagane Persönlichkeit im engeren Umkreis des Präfekten war. Nach dem Bericht des Sokrates von Konstantinopel, der glaubwürdigsten Quelle, wurde das Gerücht verbreitet, dass Hypatia als Beraterin des Orestes diesen zu einer unnachgiebigen Haltung ermutige und damit eine Versöhnung zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt in der Stadt hintertreibe. Hierdurch aufgestachelt, versammelte sich eine Schar christlicher Fanatiker unter der Führung eines gewissen Petros, der in der Kirche den Rang eines Lektors innehatte, und lauerte Hypatia auf. Die Christen bemächtigten sich der alten Philosophin, brachten sie in die Kirche Kaisarion (den ehemaligen Tempel Caesarium), zogen sie dort nackt aus und töteten sie mit „Scherben“ (eine andere Bedeutung des in diesem Zusammenhang gebrauchten Wortes ostraka ist „Dachziegel“). Dann rissen sie den Leichnam in Stücke, brachten seine Teile an einen Ort namens Kinaron und verbrannten sie dort. Johannes von Nikiu präsentiert eine Version, die hinsichtlich des Ablaufs mit der des Sokrates weitgehend übereinstimmt und nur im Detail etwas abweicht. Nach seiner Darstellung wurde Hypatia zwar in die Kirche Kaisarion gebracht, aber nicht dort getötet, sondern nackt in den Straßen der Stadt zu Tode geschleift. Die Folge sei eine Solidarisierung der christlichen Bevölkerung mit dem Patriarchen gewesen, da er nunmehr den letzten Rest des Heidentums in der Stadt vertilgt habe. Johannes von Nikiu, dessen Bericht wohl die offizielle Position der Kirche von Alexandria wiedergibt, rechtfertigt den Mord mit der Behauptung, Hypatia habe den Präfekten und die Stadtbevölkerung mittels satanischer Zauberei verführt. Unter ihrem Einfluss habe der Präfekt nicht mehr am Gottesdienst teilgenommen. Den Lektor Petros, den unmittelbaren Anstifter zum Mord, beschreibt Johannes als vorbildlichen Christen. Kaum glaubwürdig ist die Schilderung der Vorgeschichte bei Damaskios, der behauptet, Kyrill habe, als er zufällig am Hause Hypatias vorbeigefahren sei, eine Menschenmenge bemerkt, die sich davor versammelt hatte, und daraufhin aus Neid auf Hypatias Popularität beschlossen, sie zu beseitigen. Für Orestes bedeutete der Mord eine spektakuläre Niederlage und er büßte viel Ansehen in der Stadt ein, da er weder die mit ihm befreundete Philosophin schützen noch die Täter bestrafen konnte. Zwar wurde gegen die Mörder Klage erhoben, doch ohne Folgen. Damaskios behauptet, Richter und Zeugen seien bestochen worden. Eine Gesandtschaft des Patriarchen begab sich nach Konstantinopel an den Hof des oströmischen Kaisers Theodosius II., um dort die Ereignisse aus der Sicht Kyrills zu schildern. Etwas später jedoch, anderthalb Jahre nach Hypatias Tod, konnten die Gegner des Patriarchen ihm einen schweren Schlag versetzen, denn es gelang ihnen, sich in Konstantinopel durchzusetzen. Kaiserliche Verordnungen vom September und Oktober 416 legten fest, dass künftig Gesandtschaften an den Kaiser unter Umgehung des Präfekten nicht mehr erlaubt seien und dass die Miliz des Patriarchen verkleinert und fortan der Kontrolle des Präfekten unterstellt werde. Demnach verlor diese Truppe den Charakter einer Miliz, die der Patriarch nach Belieben verwenden und sogar gegen den Präfekten einsetzen konnte. Diese kaiserlichen Maßnahmen hatten allerdings nicht lange Bestand, schon 418 konnte Kyrill die Befehlsgewalt über seine Miliz zurückgewinnen. Seit langem umstritten ist die Frage, ob der Patriarch Kyrill den Mord angestiftet oder zumindest gebilligt hat. Eine eindeutige Klärung ist kaum möglich. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass die Täter annehmen konnten, im Sinne des Patriarchen zu handeln. Edward Watts bezweifelt, dass Petros den Tod Hypatias geplant hatte. Watts weist darauf hin, dass es in der Spätantike des Öfteren zu Konfrontationen zwischen prominenten Persönlichkeiten und einem aufgebrachten Mob kam, dieser aber selten eine Tötungsabsicht verfolgte. Selbst in Alexandria, wo es öfters zu Unruhen kam, waren gezielte Tötungen eher selten; im 4. und 5. Jahrhundert war es zweimal dazu gekommen, und beide Male (361 und 457) waren die Opfer unbeliebte Bischöfe. Es ist auch möglich, dass Petros die alte Philosophin einschüchtern wollte, damit sie sich von ihrer beratenden Rolle Orestes gegenüber zurückzog, die Situation dann jedoch außer Kontrolle geriet. Werke und Lehre Die Darstellung des Damaskios, dass Hypatia sowohl die Schriften Platons als auch die des Aristoteles auslegte und überhaupt über jeden beliebigen Philosophen dozierte, weist sie als Vertreterin des zu ihrer Zeit vorherrschenden Synkretismus aus. Man ging von einer in den Grundzügen einheitlichen Lehre aller damals als seriös geltenden philosophischen Richtungen aus. Die verschiedenen Richtungen, ausgenommen der verachtete Epikureismus, wurden unter dem Dach des Neuplatonismus zusammengeführt. Dass Hypatia Neuplatonikerin war, wird in der neueren Forschung nicht mehr bezweifelt. Sokrates von Konstantinopel stellt ausdrücklich fest, sie habe der Schule angehört, die Plotin begründet hatte, und dies war die neuplatonische. Die Hypothese von John M. Rist, wonach Hypatia eine vor-neuplatonische, an den Mittelplatonismus anknüpfende Philosophie vertrat, hat sich nicht durchgesetzt. Die Frage, welcher Richtung des Neuplatonismus Hypatia angehörte, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Da die Quellen nichts überliefern, sind nur hypothetische Überlegungen möglich. Einer Vermutung zufolge stellte sich die Philosophin in die Tradition des Iamblichos und betrieb dementsprechend Theurgie. Nach der gegenteiligen Meinung zählte sie eher zur Richtung von Plotin und Porphyrios, die eine Erlösung der Seele aus eigener Kraft durch geistiges Erkenntnisstreben postulierte. In der Suda werden ihr mehrere Werke – alle mathematischen oder astronomischen Inhalts – zugeschrieben: ein Kommentar zur Arithmetik des Diophantos von Alexandria, ein Kommentar zu den Kegelschnitten des Apollonios von Perge und eine Schrift mit dem Titel „Astronomischer Kanon“ oder „Zum astronomischen Kanon“. Unklar ist, ob das letztgenannte Werk ein Kommentar zu den „Handlichen Tafeln“ des Astronomen Ptolemaios war, wie meist angenommen wird, oder ein eigenes Tafelwerk Hypatias. Diese Schriften sind wohl früh untergegangen, da sie sonst nirgends erwähnt werden. Es ist keine einzige konkrete mathematische, naturwissenschaftliche oder philosophische Aussage überliefert, die Hypatia mit Sicherheit zugeschrieben werden kann. Allerdings hat ihr Vater Theon in der ältesten Handschrift des von ihm verfassten Kommentars zu Ptolemaios’ Almagest bei der Überschrift zum dritten Buch angemerkt, es handle sich um eine „von der Philosophin Hypatia, meiner Tochter“ durchgesehene Fassung. Unklar ist, ob damit gemeint ist, dass sie den Text der Almagest-Handschrift, die Theon für die Erstellung seines Kommentars verwendete, auf Fehler durchgesehen hat, oder ob sie korrigierend in den Text von Theons Kommentar eingegriffen hat. Im Kommentar sind Spuren einer Überarbeitung erkennbar, die möglicherweise anzeigen, dass sie wirklich an diesem Werk ihres Vaters beteiligt war. Allerdings kann es sich dabei auch um Eingriffe eines anderen, vielleicht wesentlich späteren Bearbeiters handeln. Vermutungen über sonstige Werke, die Hypatia verfasst haben könnte, sind spekulativ, ebenso wie Versuche, in den überlieferten Texten der Arithmetik des Diophantos und anderer Werke Spuren ihrer kommentierenden oder bearbeitenden Tätigkeit zu finden. Rezeption Antike und Mittelalter Schon zu ihren Lebzeiten genoss Hypatia einen legendären Ruf. Synesios rühmte sie überschwänglich und erwähnte in einem an sie gerichteten Brief ihren großen Einfluss, der sie zu einem gewichtigen Faktor im öffentlichen Leben mache. Sokrates Scholastikos schrieb in seiner Kirchengeschichte, sie habe die Philosophen ihrer Zeit übertroffen und sei wegen ihrer Tugendhaftigkeit allgemein bewundert worden. Dass sie in Alexandria außerordentlich verehrt wurde, bezeugt auch ein durch die Suda überlieferter Bericht. Daher erregte ihre Ermordung großes Aufsehen und wurde auch von einem Teil der christlichen Geschichtsschreiber verurteilt. Der arianische Kirchengeschichtsschreiber Philostorgios nutzte die Gelegenheit, seine theologischen Gegner, die Anhänger des Konzils von Nicäa, für den Mord verantwortlich zu machen. Auch im lateinischsprachigen Westen wurde der Vorgang bekannt: Ein Kapitel der unter Cassiodors Leitung kompilierten Kirchengeschichte Historia ecclesiastica tripartita ist dem Schicksal Hypatias gewidmet. Diese Version folgt der Darstellung des Sokrates von Konstantinopel, gibt aber abweichend von dessen Bericht an, die Philosophin sei mit Steinen getötet worden. Dem Dichter Palladas wird traditionell ein Lobgedicht auf Hypatia zugeschrieben, von dem fünf Verse in der Anthologia Palatina überliefert sind. Alan Cameron argumentiert gegen diese Zuschreibung und meint, der Dichter sei ein unbekannter Christ und die von ihm verherrlichte Hypatia nicht die Philosophin, sondern wahrscheinlich eine Nonne gewesen. Anderer Meinung ist Enrico Livrea; er hält das Gedicht für Hypatias Grabinschrift. Kevin Wilkinson meint, Palladas sei schon vor der Mitte des 4. Jahrhunderts gestorben; die Fragen der Verfasserschaft des Lobgedichts und der Identität der gepriesenen Frau hält er für völlig offen. Der wohl auf einer verlorenen spätantiken Darstellung fußende Bericht des Johannes von Nikiu aus dem 7. Jahrhundert, der den Mord rechtfertigt, gibt die Sichtweise von Hypatias kirchlichen Feinden wieder. Sie erscheint darin als kriminelle Magierin, die mittels Schadenzauber schweres Unheil über die Stadt gebracht hat. Daher habe sie getötet werden müssen, zur Strafe für ihre Verbrechen wie auch zum Schutz der Einwohner. Johannes gehörte der koptischen Kirche an, die Hypatias Gegner Kyrill zu ihren bedeutendsten Heiligen zählte und die Möglichkeit eines Fehlverhaltens dieses Kirchenvaters nicht in Betracht zog. Der neueren Forschung zufolge wurde die hagiographische Darstellung der Persönlichkeit und des Schicksals der als Heilige und Märtyrerin verehrten Katharina von Alexandrien großteils aus Elementen der Hypatia-Überlieferung konstruiert. Es wird angenommen, dass Katharina, die angeblich im Jahr 305 hingerichtet wurde, eine erfundene Gestalt ist. Ihr Kult ist ab dem 7. Jahrhundert bezeugt. Möglicherweise lieferte bei der Ausformung der Katharina-Legende ein Bericht über Hypatia einen Teil des Stoffs, wobei die Rollen von Christen und Heiden vertauscht wurden. Im 14. Jahrhundert berichtete der byzantinische Geschichtsschreiber Nikephoros Gregoras, die Kaiserin Eudokia Makrembolitissa, die im 11. Jahrhundert lebte, sei „eine zweite Theano und Hypatia“ genannt worden. Aus seinen Worten ist zu ersehen, dass Hypatia im mittelalterlichen Byzantinischen Reich als Muster einer vorzüglich gebildeten Frau fortlebte. Frühe Neuzeit Gilles Ménage veröffentlichte 1690 seine Historia mulierum philosopharum („Geschichte der Philosophinnen“), in der er Quellenzeugnisse zu Hypatias Leben und Tod zusammenstellte. Die Instrumentalisierung des Themas für religiöse und philosophische Polemik setzte im späten 17. Jahrhundert ein. Der protestantische Kirchenhistoriker Gottfried Arnold beurteilte in seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie (Erstdruck 1699) die Rolle des Patriarchen als verbrecherisch. Im 18. Jahrhundert wurde das Schicksal Hypatias unter dem Gesichtspunkt der damaligen Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten sowie zwischen Vertretern der Aufklärung und der katholischen Kirche thematisiert. 1720 veröffentlichte der irische Philosoph John Toland, ein Deist, der aus der katholischen Kirche ausgetreten war, seine kirchenfeindliche Schrift Tetradymus, die auch einen Essay mit dem Titel Hypatia enthielt, in dem er die Philosophin idealisierte und Kyrill für den Mord voll verantwortlich machte. Henry Fielding nahm ebenfalls in seiner kirchenfeindlichen Satire A journey from this world to the next (1743) auf Hypatias Schicksal Bezug. Ihr Tod galt als eindrückliches Beispiel für einen kirchlicherseits geförderten mörderischen Fanatismus, den insbesondere Aufklärer wie Voltaire anprangerten. Voltaire äußerte sich dazu unter anderem in seinem Examen important de Milord Bolingbroke ou le tombeau du fanaticisme. Für ihn war Hypatia eine vom Klerus beseitigte Vorläuferin der Aufklärung. Der Historiker Edward Gibbon zweifelte nicht an Kyrills Verantwortung für die Mordtat; er sah in Hypatias Beseitigung ein Musterbeispiel für seine Deutung der Spätantike als Epoche eines Zivilisationsverfalls, den er mit dem Aufstieg des Christentums in Verbindung brachte. Von stark kirchlich orientierten Christen wurde Kyrills Schuld bestritten oder heruntergespielt. Der Anglikaner Thomas Lewis publizierte 1721 ein Pamphlet, in dem er Kyrill gegen Tolands Polemik verteidigte und Hypatia als „most impudent school-mistress“ bezeichnete. Die Rechtfertigung Kyrills war auch das Ziel einer 1727 veröffentlichten Abhandlung des französischen Jansenisten Claude-Pierre Goujet. Selbst unter den protestantischen Gelehrten Deutschlands fand Kyrill einen eifrigen Verteidiger: Ernst Friedrich Wernsdorf bestritt in einer 1747–1748 erschienenen Untersuchung jede Mitverantwortung des Patriarchen für den Mord. Moderne Altertumswissenschaftliche Forschung und Feminismus Eine Einschätzung von Hypatias philosophischen, mathematischen und astronomischen Leistungen ist angesichts der sehr ungünstigen Quellenlage spekulativ und problematisch. Christian Lacombrade betont, dass Hypatia ihren Nachruhm den Umständen ihres Todes verdanke, nicht ihrem Lebenswerk. Eine Gegenposition zu dieser skeptischen Einschätzung ihrer Bedeutung ist in der feministischen Forschung anzutreffen, wo sich insbesondere Henriette Harich-Schwarzbauer mit ihrer 1997 in Graz vorgelegten Habilitationsschrift Hypatia von Alexandria. Die Testimonien zur alexandrinischen Philosophin profiliert hat. Im feministischen Diskurs werden die antiken Texte zu Hypatia unter dem Gesichtspunkt der Genderforschung interpretiert. Ihr Schicksal erscheint als Beispiel dafür, „wie man mit der weiblichen Intellektualität und wie man mit weiblicher Autorschaft umzugehen pflegte“. So wie Hypatias Leichnam zerstückelt wurde, so sei auch ihre Lebensleistung durch die Überlieferung zerstückelt worden. „Sie der Vergessenheit zu überantworten, war Kalkül.“ Die Aussage des Philostorgios, Hypatia habe ihren Vater in der Mathematik und Astronomie weit übertroffen, bietet einen Anhaltspunkt für die in moderner wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Literatur vertretene Meinung, sie sei zu ihrer Zeit auf diesen Gebieten führend gewesen. Mit der Betonung ihrer wissenschaftlichen Qualifikation verbindet sich bei manchen modernen Beurteilern die Ansicht, ihr Tod markiere einen historischen Einschnitt: das Ende der antiken Mathematik und Naturwissenschaft und insbesondere der Beteiligung von Frauen an wissenschaftlichen Bestrebungen. 1925 veröffentlichte Dora Russell, die Frau des Philosophen Bertrand Russell, als Mrs. Bertrand Russell eine feministische Schrift mit dem Titel Hypatia or Woman and Knowledge. Mehrere feministische Zeitschriften sind nach der spätantiken Philosophin benannt worden: Hypatia. Feminist Studies wurde 1984 in Athen gegründet; Hypatia: A Journal of Feminist Philosophy erscheint seit 1986 in Bloomington (Indiana). In Berlin gab es von 1991 bis 1998 die Zeitschrift Hypatia. Historische Frauenforschung in der Diskussion. Belletristik, Musik, bildende Kunst und Film Die moderne Belletristik griff den Stoff auf und popularisierte ihn, Dichter und Schriftsteller nahmen sich des historischen Themas an und verfremdeten den Stoff zum Teil beträchtlich. Charles Leconte de Lisle schrieb zwei Fassungen eines Hypatia-Gedichts, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Leser fand, und das kurze Drama Hypatie et Cyrille (1857). Er verherrlichte das Ideal einer Verbindung von Weisheit und Schönheit, das er in Hypatia verwirklicht sah. Die stärkste und nachhaltigste Wirkung erzielte der Schriftsteller Charles Kingsley mit seinem 1853 in London erschienenen Roman Hypatia or New Foes with an Old Face, der 1858 erstmals in deutscher Übersetzung herauskam. Dieser Roman machte Hypatia einem breiten Publikum bekannt. Kingsley behandelte den Stoff aus christlicher, aber antikatholischer Sicht. Er zeichnete zwar ein insgesamt positives Bild von Hypatia, stellte aber ihre philosophische Lebensweise als Irrweg dar. Sein erklärtes Ziel war es, das Christentum als „den einzigen wirklich demokratischen Glauben“ und die Philosophie als „den in höchstem Maße exklusiv aristokratischen Glauben“ darzustellen. Auch bei ihm macht die Verbindung von Weisheit und Schönheit die Faszination Hypatias aus. Kingsleys Gestaltung des Stoffs bildete die Basis für die 1878 veröffentlichte Tragödie Hypatia von Arnold Beer, ein Trauerspiel in Versen. 1906 stellte Hans von Schubert fest: „Kingsleys Hypatia ist längst zum Gemeingut des gebildeten Publikums, zu einem Lieblingsbuch speziell des historisch gebildeten Publikums auch in Deutschland geworden.“ Fritz Mauthner schrieb einen kirchenkritischen Roman Hypatia (1892). Von dem Komponisten Roffredo Caetani stammt die Oper Hypatia, eine azione lirica in drei Akten, die 1924 veröffentlicht und 1926 im Deutschen Nationaltheater in Weimar uraufgeführt wurde. Sie handelt vom letzten Lebenstag Hypatias. Der italienische Schriftsteller Mario Luzi schrieb das Drama Libro di Ipazia (1978), in dem er die Unausweichlichkeit des Untergangs der von Hypatia repräsentierten Welt thematisierte. 1987 erschien die Erzählung Renaissance en Paganie der aus Québec stammenden Politikerin und Schriftstellerin Andrée Ferretti, in der Hypatia eine wichtige Rolle spielt. 1989 veröffentlichte der kanadische Mediävist und Schriftsteller Jean-Marcel Paquette unter seinem Pseudonym Jean Marcel den Roman Hypatie ou la fin des dieux („Hypatia oder Das Ende der Götter“). 1988 publizierte der Jugendbuchautor Arnulf Zitelmann seinen historischen Roman Hypatia, in dem Hypatia als Vorkämpferin des freien Denkens und verantwortlichen Handelns dem Patriarchen Kyrill gegenübergestellt wird. Hypatia fand Eingang in die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts: Die feministische Künstlerin Judy Chicago widmete ihr in der Arbeit The Dinner Party eines der 39 Gedecke am Tisch. Im Jahr 2000 erschien der Roman Baudolino von Umberto Eco. Der Titelheld begegnet einem Mischwesen, das den Oberkörper einer Frau mit einem ziegengestaltigen Leib vom Bauch an abwärts verbindet und sich als „eine Hypatia“ vorstellt. Nach ihrem Bericht gehört sie zu den Nachkommen von Schülerinnen der Philosophin Hypatia, die nach dem Mord geflohen sind. Sie tragen alle den Namen Hypatia. Die Gestalt von Mischwesen haben sie erhalten, da sie sich mit Satyrn fortpflanzen. Sie bekennen sich zu einer von gnostischem Gedankengut geprägten Erlösungslehre, die sie der christlichen entgegenstellen. Der Regisseur Alejandro Amenábar drehte 2009 über Hypatia den Spielfilm Agora – Die Säulen des Himmels mit Rachel Weisz in der Hauptrolle. Dort ist Hypatia eine bedeutende Astronomin. Sie vertritt wie schon Aristarch ein heliozentrisches Weltbild und entdeckt sogar den elliptischen Charakter der Erdbahn, womit sie ein frühneuzeitliches Modell teilweise vorwegnimmt. Mit ihrer wissenschaftlichen Denkweise erregt sie in fundamentalistischen religiösen Kreisen Anstoß. Ob der Film eine wirklichkeitsnahe Darstellung der Protagonistin und der Verhältnisse im spätantiken Alexandria bietet, ist umstritten. Nach der Ansicht des Regisseurs ist das der Fall. Die Historikerin Maria Dzielska hingegen meint, der Film habe „wenig mit der authentischen, historischen Hypatia zu tun“. Benennungen Nach Hypatia ist der Asteroid (238) Hypatia benannt, der am 1. Juli 1884 von Viktor Knorre an der Berliner Sternwarte entdeckt wurde. Auch der Mondkrater Hypatia trägt ihren Namen. Nördlich des Kraters befinden sich Mondrillen, die Rimae Hypatia („Hypatia-Rillen“) heißen. 2015 wurde der Exoplanet Hypatia (Iota Draconis b) nach einem öffentlichen Wettbewerb der IAU nach Hypatia benannt. Quellensammlung Henriette Harich-Schwarzbauer: Hypatia. Die spätantiken Quellen (= Sapheneia. Band 16). Peter Lang, Bern u. a. 2011, ISBN 978-3-0343-0699-7 (Habilitationsschrift in überarbeiteter Fassung; Quellentexte mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar; Besprechung bei sehepunkte) Literatur Übersichtsdarstellungen, Handbücher Henriette Harich-Schwarzbauer: Hypatia. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/3). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3700-4, S. 1892–1898, 2131 f. Christian Lacombrade: Hypatia. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 16, Hiersemann, Stuttgart 1994, ISBN 3-7772-5006-6, Sp. 956–967. Silvia Ronchey: Hypatia the Intellectual. In: Augusto Fraschetti (Hrsg.): Roman Women. The University of Chicago Press, Chicago/London 2001, ISBN 0-226-26094-1, S. 160–189, 227–235. Henri Dominique Saffrey: Hypatie d’Alexandrie. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 3, CNRS Éditions, Paris 2000, ISBN 2-271-05748-5, S. 814–817. Monographien, Untersuchungen Michael A. B. Deakin: Hypatia of Alexandria. Mathematician and Martyr. Prometheus Books, Amherst (New York) 2007, ISBN 978-1-59102-520-7. Maria Dzielska: Hypatia of Alexandria. Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 1995, ISBN 0-674-43775-6. Silvia Ronchey: Ipazia. La vera storia. Rizzoli, Milano 2010, ISBN 978-88-17-0509-75 Edward J. Watts: Hypatia. The Life and Legend of an Ancient Philosopher. Oxford University Press, Oxford 2017, ISBN 978-0-19-021003-8. Rezeption Weblinks Texte zu Hypatia (englisch) Johannes von Nikiu, Chronik 84.87–103 (englisch) Wolfgang Meyer, Hypatia von Alexandria, Heidelberg 1886, google books Richard Hoche: Hypatia, die Tochter Theons, Göttingen: Kaestner 1860 (Sonderabdruck aus Philologus, Band XV, Heft 3), google books Nadja Podbregar: Krieg im „Dienste Gottes“. Die Eskalation der Konflikte. Scinexx, 11. März 2010, auf scinexx.de Anmerkungen Astronom der Antike Mathematiker der Antike Philosoph (Antike) Neuplatoniker Person (Alexandria) Person (Frauengeschichte) Literarische Stoffe und Motive Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Grieche (Antike) Mordopfer Opfer (Christlicher Terrorismus) Geboren im 4. Jahrhundert Gestorben im 5. Jahrhundert Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Explosion%20des%20Oppauer%20Stickstoffwerkes
Explosion des Oppauer Stickstoffwerkes
Die Explosion des Oppauer Stickstoffwerkes ereignete sich im Werk der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik in Oppau, das heute zu Ludwigshafen am Rhein gehört. Am Morgen des 21. Septembers 1921 kam es um 7:32 Uhr zu zwei kurz auf einander folgenden Explosionen von insgesamt etwa 400 t Ammoniumsulfatnitrat, einem Mischsalz aus Ammoniumsulfat und Ammoniumnitrat, das als Düngemittel verwendet wird. Die Ursache des Unglücks waren Sprengungen in einem Lagersilo, mit denen das verhärtete Salz aufgelockert wurde. Solche Sprengungen waren schon tausende Male durchgeführt worden und galten bis dahin als sicher. Durch verschiedene Verfahrensänderungen hatte sich im Silo in Oppau höchstwahrscheinlich das Ammoniumnitrat stellenweise über eine kritische Konzentration hinaus angereichert, wodurch eine der Sprengladungen die erste Detonation von 70 bis 80 t des Düngemittels auslöste. Eine weitere Sprengladung initiierte dann vier Sekunden später die zweite heftigere Explosion von 300 bis 400 t Ammoniumsulfatnitrat, das durch die erste Explosion erhitzt und fein verteilt worden war. Nach offiziellen Angaben wurden durch die Explosionen 559 Menschen getötet oder blieben vermisst und weitere 1977 wurden verletzt. Die Detonationen beschädigten noch in 75 km Entfernung zum Unglücksort Gebäude und waren bis München und Zürich zu hören. Gemessen an der Opferzahl war es das bis heute größte Unglück in der Geschichte der deutschen chemischen Industrie und die größte zivile Explosionskatastrophe in Deutschland. Carl Bosch, der Vorstandsvorsitzende der BASF, ordnete an, die Ammoniumnitrat-Produktion in Oppau unverzüglich einzustellen. Sie wurde erst zwei Jahrzehnte später wieder aufgenommen. Die Geschichte des Oppauer Stickstoffwerkes Die industrielle Ammoniak-Synthese Die ausreichende Verfügbarkeit von stickstoffhaltigen Düngern zur Verbesserung der Ernte war im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein drängendes Problem. Nachdem für die Düngung der landwirtschaftlichen Flächen zunächst nur Stalldung eingesetzt worden war, kam ab dem 19. Jahrhundert Chilesalpeter hinzu – eines der wenigen natürlichen Vorkommen von Natriumnitrat. Da die Mengen an Chilesalpeter begrenzt waren, wurde zur Jahrhundertwende die Herstellung von synthetischen Stickstoffverbindungen ein wichtiges Forschungsgebiet. Außer Metallsalzen wie Natriumnitrat können auch Ammonium-Salze – die als synthetische Stickstoffdünger aus Ammoniak hergestellt werden – verwendet werden. Seit etwa 1900 befasste sich Fritz Haber mit der Synthese von Ammoniak direkt aus den Elementen Stickstoff (der in unbegrenzter Menge aus Luft gewonnen werden kann) und Wasserstoff mithilfe verschiedener Katalysatoren bei erhöhten Temperaturen. 1908 wurde dieses Verfahren zur Direktsynthese von Ammoniak durch die Badische Anilin- & Soda-Fabrik zum Patent angemeldet. Ab 1909 arbeitete Alwin Mittasch, der sich mit der Optimierung der verwendeten Katalysatoren beschäftigte, im neu gegründeten Ammoniaklaboratorium der BASF, das Carl Bosch unterstellt war, an der industriellen Umsetzung des Verfahrens. Im Juli 1910 wurden im BASF-Werk Ludwigshafen die ersten 5 kg Ammoniak nach dem sogenannten Haber-Bosch-Verfahren produziert. Nach der Inbetriebnahme größerer Reaktoren stieg die Tagesproduktion im Jahr 1911 zunächst auf 30 kg und dann 1912 auf 1000 kg Ammoniak. Die Gründung des Stickstoffwerkes in Oppau Überzeugt von der großtechnischen Umsetzbarkeit dieser Herstellungsverfahren für Ammoniak und Ammoniumsulfat-Dünger, entschied sich die BASF im November 1911 zum Bau eines Stickstoff-Werkes[Anm. 1] in Oppau. Baubeginn für das 1,5 km nördlich von Ludwigshafen gelegene Werk mit einer Grundfläche von etwa 500 000 m² war am 7. Mai 1912. Nachdem Krupp zwischenzeitlich spezielle nicht entkohlungsanfällige rostfreie Stähle, die wegen der für die Synthese notwendigen hohen Temperaturen in Verbindung mit einem Druck von bis zu 200 bar erforderlich waren, entwickelt hatte, nahm die Fabrik im September 1913 den weltweit ersten Reaktor zur industriellen Herstellung von Ammoniak nach dem neuen Haber-Bosch-Verfahren in Betrieb. Der tägliche Produktionsausstoß betrug rund 30 t Ammoniak, womit etwa 36 000 t Ammoniumsulfat (Ammonsulfat, AS) pro Jahr produziert werden konnten. Der Erste Weltkrieg Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam es im Deutschen Reich durch die Seeblockade der Alliierten zu Lieferengpässen beim Natriumnitrat (Chilesalpeter) – das nun nicht nur in der Landwirtschaft, sondern umso dringender als Sauerstoff-liefernder Bestandteil für Sprengstoffe benötigt wurde. Im September 1914 schlossen daraufhin die BASF und die deutsche Reichsregierung das Salpeterversprechen, wodurch die Versorgung des deutschen Reiches mit Nitraten (Salpeter), zunächst in Form von Natriumnitrat, später als Ammoniumnitrat (Ammonsalpeter, AN), sichergestellt wurde. Carl Bosch sagte die Lieferung von 5 000 t Natriumnitrat innerhalb von nur sechs Monaten zu. Im Gegenzug war die Reichsregierung bereit, 6 Millionen Mark für die Produktionsanlage zur Verfügung zu stellen, die binnen elf Monaten eine Kapazität von 7 500 t erreichen sollte. Noch im selben Monat begannen in Oppau die Bauarbeiten für eine Pilot-Anlage zur Produktion von Salpetersäure durch Oxidation von Ammoniak und bereits im folgenden Monat (Oktober 1914) die Arbeiten an der Weißsalzfabrik (so genannt wegen der Farbe des produzierten Salpeters), in der die ersten Öfen im Februar 1915 in Betrieb gingen. Diese wurde später durch eine optimierte Anlage ersetzt. Durch die Nähe zu Frankreich kam es ab Mai 1915 zu französischen Luftangriffen auf die BASF-Werke in Oppau und Ludwigshafen – Oppau lieferte Nitrate für Sprengstoffe und Ludwigshafen produzierte Chlorgas, das von deutschen Truppen im April 1915 erstmals als chemische Waffe eingesetzt wurde. Auch wenn die Schäden in den beiden Werken insgesamt gering blieben, begann die BASF nach Verhandlungen mit der Regierung im April 1916 in Mitteldeutschland mit dem Bau eines zweiten Stickstoffwerkes. Die Leunawerke nahe Merseburg (später Ammoniakwerk Merseburg GmbH) nahmen im April 1917 ihren Betrieb auf. In Oppau entschied die Werksführung, die Produktionsanlagen trotz der Luftangriffe kontinuierlich durchlaufen zu lassen, da die Produktion bereits deutlich zurückgegangen war. Obwohl die Kapazität auf 100 000 t im Jahr 1916/1917 stieg, betrug die tatsächliche Produktionsmenge aufgrund verschiedener kriegsbedingter Probleme nicht viel mehr als 61 000 t Stickstoff. 1918 machten Ammoniak und Salpeter die Hälfte des Umsatzes der BASF aus. Diese verwendete die Gewinne für den Ausbau des Werks Oppau. In dieser Zeit produzierten die beiden Stickstoffwerke Oppau und Merseburg zusammen Produkte mit 90 000 t Stickstoffgehalt, die fast ausschließlich für militärische Sprengstoffe verwendet wurden. Die Zeit der Weimarer Republik Nach dem Waffenstillstand stornierte die Reichsregierung alle Bestellungen für Sprengstoffe und chemische Waffen, die zu diesem Zeitpunkt fast 78 % des Umsatzes der BASF ausmachten. Am 6. Dezember 1918 marschierte die französische Armee ein. Ihr folgten Inspektoren und technische Kommandos, die offiziell die Abrüstung überwachen sollten, aber auch darauf aus waren, die Produktionstechnologien der deutschen chemischen Industrie, insbesondere der Ammoniaksynthese zu beschaffen. Die beiden linksrheinischen Chemiewerke Oppau und Ludwigshafen unterlagen danach bis 1920 französischer Besatzung. Durch den im Januar 1920 in Kraft getretenen Friedensvertrag von Versailles endete die direkte Besatzung dieser beiden BASF-Werke. Gleichzeitig wurden die beiden Ammoniakwerke Oppau und Leuna dadurch verpflichtet, Reparationsleistungen von 50 000 t Ammoniumsulfat pro Jahr an die Alliierten, davon 30 000 t an Frankreich zu liefern, was, aufgrund verringerter Produktionsmengen, bedingt durch Streik, Brennstoffmangel und fehlende Maschinen, zu Verlusten in Oppau führte. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Mitarbeiter in Oppau durch Kriegsheimkehrer zunächst sprunghaft, die Fluktuation erhöhte sich bis 1920 auf 70 % und es kam immer wieder zu Streiks, Arbeitsniederlegungen und Werksbesetzungen. 1921 waren in Oppau schätzungsweise 11 000 Arbeiter und Betriebsbeamte beschäftigt. Nach dem Krieg war der Düngemittelmarkt für die BASF strategisch wichtiger als der Farbstoffmarkt. Allein die Ammoniakproduktion machte 1919 circa 59 % des Umsatzes der BASF aus. Da Ammoniumnitrat (Ammonsalpeter) ergiebiger war als das in der Landwirtschaft bisher verwendeten Natriumnitrat (Chilesalpeter), wurde in Oppau nach dem Krieg die Ammoniumnitrat-Produktion für die Düngemittelherstellung weitergeführt. Dem Problem, dass Ammoniumnitrat sehr hygroskopisch ist und stark zum Verklumpen neigt, begegnete man zunächst durch Beimischung von Kaliumchlorid (Chlorkalium), wodurch sich Ammoniumchlorid und Kaliumnitrat bildeten. Das entstandene Produkt wurde unter der Bezeichnung Kaliumammonsalpeter vertrieben. Später wurde das Kaliumchlorid zunehmend durch Ammoniumsulfat (AS) ersetzt. Verkauft wurde dieser Mischdünger unter der Bezeichnung Ammonsulfatsalpeter (Ammoniumsulfatnitrat, ASN) oder Mischsalz. Mit einem Stickstoffgehalt von 27 % enthält ASN in 50 kg (einem Zentner) genau so viel wirksamen Stickstoff wie 90 kg (180 Pfund) Chilesalpeter. In Sprengstoffen wurde zu dieser Zeit Ammoniumnitrat vor allen Dingen als sauerstoffliefernde Komponente verwendet; seine Eigenschaft, dass es auch allein durch Initialzündung zur Explosion gebracht werden kann, war noch nicht überall bekannt. Durch die Beimengung von sprengtechnisch inerten Substanzen wie Ammoniumsulfat zum explosionsfähigen Ammoniumnitrat war ASN – wie AS – nach den damaligen Erkenntnissen kein Explosivstoff mehr, sondern erfüllte als ziviles Produkt die Vorgaben des Versailler Vertrages. Produktionsprozess Chemische Grundlagen Das Ammoniumsulfatnitrat (ASN) wurde in Oppau in einem mehrstufigen Prozess hergestellt. Zunächst oxidierte man Ammoniak (NH3) aus dem Haber-Bosch-Prozess in einem separaten Produktionsgebäude zu Salpetersäure (HNO3). Diese wurde dann mit gasförmigem Ammoniak zu Ammoniumnitrat umgesetzt: Dabei entstand eine Lösung mit einer Konzentration von 55 bis 58 g Ammoniumnitrat in 100 ml Lösung. Ammoniumsulfat gewann man nach einem eigenen Verfahren der Badischen Anilin- und Sodafabrik. Dazu wurde feingemahlener Gips (Calciumsulfat, CaSO4), der in einer verdünnten Ammoniumsulfatlösung aufgeschlämmt war, mit gasförmigem Ammoniak und Kohlensäure (Kohlenstoffdioxid, CO2) zur Reaktion gebracht: Die dafür benötigte Kohlensäure stammte aus dem Synthesegas-Prozess, der bereits den für die Ammoniaksynthese benötigten Wasserstoff lieferte. Die Triebfeder für die Umwandlung war die Bildung des schlechter löslichen Calciumcarbonats. In der Anfangszeit der ASN-Produktion in Oppau wurden Ammoniumnitrat und Ammoniumsulfat zunächst separat getrocknet. Nach einer einfachen Vermischung der beiden festen Salze auf einem Förderband bildete sich dann während der Lagerung im Silo über mehrere Tage daraus das ASN-Doppelsalz: Um die Kosten zu reduzieren änderte man das Verfahren kurz darauf: Die Ammoniumnitratlösung wurde nun in gusseisernen Vakuumverdampfern zuerst auf 85 bis 90 % aufkonzentriert und danach in gusseisernen Rührgefäßen das feste Ammoniumsulfat (oder Kaliumchlorid für Kaliumammonsalpeter) zugegeben. Diese Prozessänderung hatte auch den Vorteil, dass das Ammoniumnitrat nicht mehr in trockener Form gehandhabt werden musste. Schneckenförderer transportierten die heiße Mischung zunächst in luftgekühlten Eisenrinnen zu einem Förderband, wo das gewünschte ASN-Doppelsalz kristallisierte. Ende 1920 wurde das Verfahren erneut modifiziert und die dünnflüssige AN/AS-Lösung bei 110 bis 120 °C über eine feststehende 10-cm-Düse mit Pressluft fein zerstäubt. Dadurch verdampfte das noch enthaltene restliche Wasser schneller, das Salz kühlte auf 60 °C ab und rieselte als feiner Schnee zu Boden. Durch die Verdüsung entstand ein feiner gekörntes Produkt mit geringerer Restfeuchte (1,5 bis 3 %, statt ursprünglich 7,5 %). Es neigte so weniger zum Verklumpen. Das ASN-Doppelsalz kristallisiert natürlicherweise in einem Mischungsverhältnis von 1 mol Ammoniumsulfat und 2 mol Ammoniumnitrat, was einem Gewichtsanteil von 54,8 % Ammoniumnitrat entspricht. Um ausreichend weit von der Explosionsgrenze entfernt zu sein (s. Abschnitt Handhabung), wurde in Oppau bewusst ein 5%iger Überschuss an Ammoniumsulfat gewählt, so dass das Verhältnis Ammoniumnitrat zu Ammoniumsulfat 50:50 war (Oppauer Salz oder einfach Mischsalz). Produktionsanlage Das Werk in Oppau stellte täglich 600 t Ammoniumsulfat her, wovon 100 t zur Erzeugung von ASN weiterverwendet wurden. Bei einem AS/AN-Mischungsverhältnis von 50:50 ergab sich damit eine tägliche Produktionsmenge von 200 t ASN. Die Produktion und Lagerung des Ammonsulfatsalpeter im Werk Oppau war auf die Gebäude Op 111, Op 110, Op 112 und Op 182 verteilt. Die eigentliche Produktion war im Gebäude Op 111 untergebracht. Die anschließende Trocknung, Abkühlung und die vollständige Umwandlung in das Doppelsalz erfolgten im Gebäude Op 110, einem 61 m × 31 m großen Holzgebäude mit Holzgewölbedach, das auf einer 5 m hohen Stützmauer aus Stahlbeton ruhte. Dazu pumpte man die gesättigte Lösung durch eine Rohrleitung ins Gebäude Op 110, wo sie dann versprüht wurde. Das Material gelangte später über ein unterirdisches Transportband in das Lagersilo Op 112 und von dort auf anderem Wege in ein zweites Silo mit der Bezeichnung Op 182. Beide Silos waren je 172 m lang, 31 m breit und 20 m hoch. Das Fassungsvermögen betrug jeweils 77 000 m³, womit Op 112 und Op 182 zusammen etwa 100 000 t ASN aufnehmen konnten. Die hohe Lagerkapazität war notwendig, da ASN in der Landwirtschaft ein Saisonprodukt war, das zunächst auf Vorrat produziert und dann in Frühjahr und Herbst in großen Mengen ausgeliefert wurde. Handhabung Aufgrund der Restfeuchte und seiner Hygroskopizität verklumpte das ASN in den Silos und musste vor der Ausschleusung (Entnahme) gelockert werden. Dies wurde üblicherweise mit Hilfe kleinerer Sprengungen bewerkstelligt, da ein mechanischer Abbau mit Hacke und Schaufel oder durch Bagger nur eingeschränkt möglich war. Es war bereits teilweise bekannt, dass AN zu Detonation gebracht werden konnte – im Juli 1921 war es in Kriewald zu einer Explosion bei einer Auflockerung von AN mittels Sprengung gekommen. Zur Abschätzung des Risikos, das mit den Sprengungen verbunden war, hatten sowohl die BASF als auch die Agfa in Wolfen umfangreiche Labor- und Sprengversuche durchgeführt. Bei diesen Sprengversuchen zeigte sich, dass durch die Zugabe von inerten Salzen wie Kaliumchlorid, Natriumchlorid oder Ammoniumsulfat die Explosionsfähigkeit von Ammoniumnitrat „vollständig zum Verschwinden gebracht werden kann“. So fand man, dass sich Ammoniumnitrat bereits ab 170 °C, ASN aber erst ab 230 °C zersetzt. Bei zahlreichen Explosionsversuchen nach Trauzl (Bleiblockausbauchung) ergab sich, dass die Grenze der Explodierbarkeit bei einem Anteil von mindestens 60 % Ammoniumnitrat liegt. Das Ammonsulfatnitrat-Doppelsalz mit 54,8 % AN und 45,2 % AS erwies sich – ebenso wie das Oppau-Salz, das aus gleichen Teilen AN und AS bestand – als nicht explosiv. Zudem wurde keine Selbsterwärmung, die auf eine chemische Instabilität hingedeutet hätte, festgestellt. Alle durchgeführten Versuche zur Brennbarkeit von ASN verliefen ebenfalls negativ. Die Auflockerung mittels Sprengladung galt auch deshalb als sehr sicher, weil sie bereits bei Superphosphat-Düngern und seit dem Ende des Kriegs etwa 20 000 Mal von der BASF in Oppau und etwa 10 000 Mal von der Agfa in Wolfen ohne Probleme angewendet worden war. Den zuständigen Aufsichtsbehörden war das Verfahren bekannt und es wurde von ihnen gebilligt. In Oppau kamen zur Auflockerung üblicherweise 2 bis 5 Sprengpatronen Perastralit pro Bohrloch zum Einsatz. Gezündet wurden sie durch eine Sprengkapsel mit 2 g Explosivstoff, die elektrisch oder mit Zündschnur gezündet werden konnte. Vereinzelt waren bis zu 18 Patronen pro Bohrloch oder in bestimmten Fällen 150 Patronen in 25 Bohrlöchern gleichzeitig eingesetzt worden, ohne dass es jemals zu Komplikationen gekommen war. Chronologie der Ereignisse Vor dem Unglückstag Während im Gebäude Op 111 der Salzbrei im sogenannten Spritzstall versprüht und aus diesem das ASN kontinuierlich über ein Förderband ins Silo Op 112 abgeführt wurde, wurden im Laufe des Jahres 1921 im Gebäude Op 110 verschiedene Spritzverfahren ausprobiert. Ab dem 27. April wurde das ASN zunächst auf verschiedene, stets wechselnde Haufen gesprüht. Das Material ließ man liegen, was dazu führte, dass sich die Haufen mit der Zeit gegenseitig überdeckten. Dadurch erhoffte man sich eine bessere Durchmischung bei möglichen leichten Materialschwankungen. Die Restfeuchte des Salzes betrug in dieser Zeit circa 4 %. Ende Mai wurde dieses Material, nachdem es durch 100 bis 120 Sprengschüsse gelockert worden war, aus dem nordöstlichen Bereich ausgelagert, im südwestlichen Teil und an der östlichen Seite verblieben noch insgesamt 3500 t. In der zweiten Kampagne, die von Ende Mai bis zum 19. September dauerte, wurde die Salzlösung dann längs der Mittellinie des Gebäudes über der Bodenöffnung für das Förderband gesprüht. Die Düse war dabei unverändert in 4,5 m Höhe im Winkel von 45 ° angebracht. Das meiste Salz fiel dabei direkt auf das Förderband und wurde so unmittelbar abgeführt, der Rest bildete einen Wall und Brücken über der Bodenöffnung und lagerte sich als feiner Staub auf dem Gebälk in einer 35 bis 45 cm hohen Schicht insbesondere in der Nähe der Bunkeraußenwände ab. In dieser Kampagne konnte die Restfeuchte von vorher 4 % auf durchschnittlich 2 % reduziert werden. Vom 2. bis 4. September wurden versuchsweise circa 150 t reines AN über dem Förderband gesprüht, auf das beim Durchlauf im Gebäude Op 111 dann AS geschaufelt wurde. Reste des AN im Gebäude Op 110 wurden sorgfältig abgekratzt und ausgelagert. Am 19. September wurde die ASN-Produktion dann eingestellt, damit das Gebäude Op 110 entleert werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt lagerten dort circa 4500 t ASN mit verschiedenen Dichten zwischen 0,9 und 1,3 g/cm³ (weitere 7000 t lagerten im Silo Op 112). Am 20. September begann die Ausspeicherung durch das im Werkvertrag tätige Tiefbauunternehmen Gebrüder Kratz. Da die Salzmasse wie oft erhärtet war, wurden durch den Sprengmeister am Nachmittag bereits erste Sprengungen durchgeführt, wobei er nach Zeugenaussagen mehr als dreizehnmal mit 17 Patronen desselben Sprengstoffes gesprengt hatte. Zuvor wurde bereits im Juni mit 100 bis 120 Schuss gesprengt. Der Morgen des 21. September 1921 Am Morgen des Unglücks war um 7 Uhr der Sprengmeister Hermann Humpe damit beschäftigt, die nächste Sprengung vorzubereiten. Humpe, der als gewissenhafter Mann galt, war ab Dezember 1920 von einem Sprengtechniker angelernt worden, war als Sprengmeister konzessioniert und bei der BASF angestellt. Sprenglöcher wurden in 80 bis 120 cm Abstand rings um die Kuppe des Düngemittelhaufens schräg nach außen mit dem Eisenrohr eingeschlagen, mit zwei bis drei Sprengpatronen und einer Sprengkapsel versetzt und mit Salz verdämmt. An diesem Tag wurde mit Zündschnur gesprengt und der Sprengmeister hatte am Morgen maximal 66 Sprengpatronen zur Verfügung. Eine halbe Stunde vor dem Beginn der Tagschicht arbeiteten im Werk circa 820 Mitarbeiter, insgesamt hatten bereits 2225 Personen das Werk betreten, als es um 7:32:14 Uhr eine gewaltige Explosion gab, der vier Sekunden später eine weitere, noch viel heftigere Explosion folgte[Anm. 2]. An der Stelle des Gebäudes Op 110 war ein Krater mit einer Länge von 165 m, einer Breite von 95 m und einer Tiefe von 18,5 m entstanden, was einem Erdauswurf von circa 12 000 m³ entspricht. In Presseveröffentlichungen wurden Augenzeugen zitiert, „dass eine gewaltige blitzartig in den Himmel schießende Feuererscheinung“ sich „zu einem Riesenring“ ausdehnte und eine „riesige grauschwarze“ Staubwolke habe sich unter „furchtbarem Rollen und Prasseln“ „nach allen Seiten“ nieder gesenkt. Andere Zeitungen berichteten, dass „hunderte von Metern hohe grelle Stichflammen“ bzw. eine „Feuersäule“ zu sehen waren. Im Umkreis von 480 m waren von 300 Gebäuden ein Drittel so gut wie vollständig zerstört. In der nahegelegenen Ortschaft Oppau mit 7 500 Einwohnern wurden in 600 m Abstand zum Explosionszentrum 1036 Gebäude völlig zerstört und in einem Abstand von bis zu 900 m weitere 928 Gebäude schwer beschädigt, die restlichen 89 Gebäude wiesen nur leichte Schäden auf. Insgesamt wurden 3750 Haupt- und Nebengebäude in Oppau beschädigt oder zerstört. Fast alle in Oppau lebenden Menschen wurden obdachlos. In dem 1500 m entfernten BASF-Werk in Ludwigshafen wurden Dächer abgedeckt und Fensterstöcke herausgerissen. In dem an Oppau im Nordwesten angrenzenden Ort Edigheim waren von 2138 Gebäuden 678 komplett zerstört, weitere 1450 beschädigt. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite gab es insbesondere auf der Friesenheimer Insel massive Schäden. Dort stürzten Gebäude und Lagerhallen ein oder wurden stark beschädigt, mehrere Personen wurden getötet, viele verletzt. In der näheren Umgebung Ludwigshafens, der Vorderpfalz sowie in Mannheim wurden ebenfalls große Schäden angerichtet und Menschen durch einstürzende Gebäude getötet. Es wird berichtet, dass Maschinenteile bis nach Mannheim geschleudert wurden. Im 13 km entfernten Wormser Dom gingen alle mittelalterlichen Buntglasfenster zu Bruch. Noch im 25 km entfernten Heidelberg wurden Dächer abgedeckt und eine Straßenbahn sprang aus den Schienen. Gebäudeschäden wurden noch bis zu einer Entfernung von 75 km beobachtet. Die Erschütterungen waren noch in Frankfurt und Mainz zu spüren, und im Nordosten Frankreichs und sogar in München, Zürich und Göttingen waren die Explosionen zu hören. Die Ludwigshafener Polizeidirektion berichtete, dass bis 4 Uhr nachmittags bereits 200 Leichen geborgen worden waren, während über die Zahl der Verletzten keine verlässliche Aussage gemacht werden könne: Die Leichtverletzten waren kurz nach dem Unglück nach Hause geeilt, während die Schwerverletzten durch Fuhrwerke auf alle Krankenhäuser der umliegenden Ortschaften und Städte verteilt worden waren. Da alle Personen im unmittelbaren Umkreis der Explosion getötet wurden, lässt sich der Hergang des Unglücks nicht durch Zeugenaussagen rekonstruieren. Sicher ist, dass im Lager Op 110 um die 400 t der gelagerten 4500 t ASN explodierten.[Anm. 3] In der ersten, schwächeren Explosion wurden durch die Sprengungen zunächst knapp 70 bis 80 t lockeren Materials zur Mitdetonation gebracht. Durch die freigesetzte Energie wurden das im Gebäude Op 110 verbleibende Material fein verteilt und so stark erhitzt, dass in der folgenden Explosion 300 bis 400 t explodierten.[Anm. 4] Das restliche Material wurde durch die Wucht der Explosionen herausgeschleudert und wurde in Form einer feinen Salzschicht, aber auch als Brocken von bis zu 1,2 t in der Umgebung gefunden. Am Nachmittag setzte langanhaltender Regen ein, der vermutlich rasch die Aerosolteilchen der Rauchwolken aus der Luft wusch und die Luft klärte. Nach dem Unglück Das Unternehmen, lokale Behörden und die französischen Besatzungstruppen beteiligten sich an den Rettungs- und Hilfsmaßnahmen und beorderten die verfügbaren Transportmittel zur Unfallstelle, um die geborgenen Verwundeten abzutransportieren. Oberst Mennetrier, der französische Befehlshaber in Ludwigshafen, erschien bereits um 8:30 Uhr, begleitet von General de Metz mit ersten Militäreinheiten. Aus den französischen Garnisonen des 30. und 32. Korps in Speyer und Landau rückten die Sanitätsdienste unter Oberst Daugan sowie das Französische Rote Kreuz an. Zur Versorgung der Verletzten wurden von der französischen Rheinarmee alle verfügbaren Militärärzte abgestellt und die Quartiere in Ludwigshafen geräumt. Paul Tirard, der Hochkommissar der Interalliierten Rheinlandkommission, veranlasste aus Paris persönlich die Entsendung von zehn Rot-Kreuz-Schwestern und spendete 75 000 Mark als erste Hilfe für die Familien der Opfer. Der Oberbürgermeister von Frankfurt organisierte zusammen mit dem Roten Kreuz eine Hilfsaktion mit mehreren vollbesetzten Krankenwagen und 14 Ärzten. Fritz Haber, der sich im 70 km entfernten Frankfurt aufhielt, nahm die Explosion als eine Art Erdbeben wahr. Carl Bosch, der seit 1919 Vorstandsvorsitzender der BASF war und sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Villa in Heidelberg befand, wurde durch das Rappeln der Fenster und die sich bildende Rauchwolke alarmiert und eilte sofort zum Oppauer Werk. Es wird berichtet, dass er mit dem entstandenen Chaos in vorbildlicher Weise umging, aber kurze Zeit nach der Trauerfeier körperlich zusammenbrach und danach mehrere Monate nicht mehr in Erscheinung trat. Nach dem Unglück kursierten zahlreiche Gerüchte über die Katastrophe. Die deutsche Presse berichtete von teilweise apokalyptischen Szenen, die jedoch vielfach als übertrieben angesehen werden müssen. Die Führung der BASF informierte bereits um 10:30 Uhr darüber, dass es keine Gefahr von weiteren Explosionen gebe. Sie musste in den folgenden Tagen noch mehrfach Presseberichte dementieren, dass das Werk Oppau völlig zerstört wurde, die Haber-Bosch-Anlage an der Explosion beteiligt war oder dass ausströmende grünliche Gaswolken über dem Werk lägen. In einer amtlichen Bekanntmachung der Direktion benannte diese als Explosionsort das Lager mit 4500 t ASN und bat die Presse „nur verbürgte Tatsachen“ zu veröffentlichen: Noch am Tage der Explosion ordnete Carl Bosch die sofortige Einstellung der Ammonsalpeter-Produktion in Oppau an, die erst zwei Jahrzehnte später wieder aufgenommen wurde. Auf Anordnung der Behörden wurde der Zugang zum eingestürzten Silo Op 112, in dem immer noch 7 000 t ASN lagerten, mit Stacheldraht abgesperrt und zusätzlich Tag und Nacht bewacht. Nach einer Ortsbesichtigung am 30. September beschloss eine Gutachtergruppe, dass die Ausspeicherung des Salzes durch rein mechanische Verfahren keine Gefahr darstellt. Das Sprengen von Düngermischungen wurde durch den preußischen Minister für Handel und Gewerbe Wilhelm Siering am 16. Dezember 1921 verboten. Trauerfeier Am Sonntag, dem 25. September 1921 gab es auf dem Ludwigshafener Friedhof eine Trauerfeier, an welcher der Reichspräsident Friedrich Ebert, der bayerische Ministerpräsident Graf Lerchenfeld, der badische Staatspräsident, der Präsident des Bayerischen Landtages und zahlreiche Vertreter von Behörden und Verbänden sowie circa 70 000 Menschen teilnahmen. Die französischen Generäle de Metz von der Interalliierten Rheinlandkommission und Daugan als Beauftragter des Militärbefehlshabers waren ebenfalls anwesend. Carl Bosch sagte in seiner Trauerrede: Der Reichspräsident, der Bayerische Ministerpräsident, der badische und der württembergische Ministerpräsident sowie der bayrische Handelsminister besichtigten anschließend unter Führung der Direktoren der BASF die Unglücksstelle, trafen sich dort mit Vertretern von Arbeitern und Angestellten und besuchten Opfer in den Krankenhäusern. Das Bürgermeisteramt von Ludwigshafen berichtete zum Abend, dass bis zu diesem Zeitpunkt 235 Tote identifiziert und weitere 75 Tote unbekannt beerdigt wurden. Weitere 90 Personen seien noch immer vermisst. Am gleichen Tag wurde der Reichshilfsausschuß für Oppau-Ludwigshafen im Reichsarbeitsministerium gegründet. Unfallopfer Die genaue Zahl der Toten und Verletzten ist nicht bekannt. Den offiziellen Angaben zufolge wurden 559 Personen entweder getötet oder blieben dauerhaft vermisst. Zu den Todesopfern zählten dabei 140 Mitarbeiter der BASF, 298 Angestellte anderer Firmen und 22 weitere Personen aus dem örtlichen Umfeld des Werkes. Vermisst blieben 38 Werksangehörige und 61 Mitarbeiter von Fremdfirmen. Verletzt wurden insgesamt 1977 Personen. Der Bericht der Bayerischen Untersuchungskommission spricht dagegen von 509 Toten und 1917 Verletzten, der Bericht der BASF-Werkszeitung vom Oktober 1921 gibt 586 Tote und Vermisste sowie 1952 Verletzte an. Lothar Wöhler von der TU Darmstadt konstatierte 1923 565 Todesfälle, der französische ARIA-Bericht aus dem Jahr 2008 gibt 561 Tote und 1952 Verletzte an, während der FFI-Bericht von 2016 nur grob von mehr als 500 Toten spricht. Die Opferzahlen hätten allerdings noch deutlich höher ausfallen können, wenn die Explosion etwas später, nach Beginn der regulären Tagschicht, stattgefunden hätte, denn viele Arbeiter waren zum Zeitpunkt des Unglücks noch nicht an ihren Arbeitsplätzen. „Die Oppauer Verlustliste“ in der WERKZEITUNG DER BADISCHEN ANILIN- & SODA-FABRIK LUDWIGSHAFEN A/RH. vom Oktober 1921 Erste Hilfe und Schadensregulierung Im gesamten Deutschen Reich und im Ausland wurden Geld- und Sachspenden gesammelt. Tanzsäle und Schulen in der Region dienten zur Notunterbringung von obdachlos Gewordenen. Die BASF stellte ihre Betriebsküchen für die Versorgung zur Verfügung. Die französischen Besatzungstruppen beorderten vier mobile Feldküchen nach Oppau. Das Rote Kreuz organisierte Speisungen in den Volksküchen von Mannheim und Ludwigshafen, die Heilsarmee unterstützte ebenfalls die Essensausgabe an Bedürftige. Aus seinem Dispositionsfond wies der Reichspräsident am 22. September dem Hilfswerk 250 000 Mark an. Bis zum 24. September waren Spenden im Wert von 24 Millionen Mark eingegangen. Sämtliche Tageszeitungen druckten in ihren Sonntags- und Montagsausgaben den Aufruf des Reichshilfsausschuss Oppau: „Gebt rasch und gebt reichlich für die Opfer des Oppauer Unglücks!“ Poststellen, Sparkassen und Banken hängten entsprechende Plakate auf und richteten Sammelstellen ein. Der Mannheimer Trappist Eugen Rugel organisierte mit Unterstützung von Regionalzeitungen und der Stadtverwaltung eine Straßensammlung. Der städtische Fuhrpark und 100 Schutzleute wurden für die zweitägige Sammlung abgestellt, danach waren vier Mannheimer Turnhallen mit Spenden gefüllt: 500 Zentner Lebensmittel wurden gesammelt, sowie Möbel, Hausrat und Kleidung, die insgesamt 45 Lastwagen füllten. Die Siemens-Schuckertwerke stellten 2 Millionen Mark zur Verfügung, eine öffentliche Sammlung in Frankfurt brachte bis zum 27. September bereits 1,2 Millionen Mark ein. Die Verteilung der Spenden übernahm das Hilfswerk Oppau. Die Deutsche Heimatfilm GmbH stellte dem Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns Aufnahmen zur Verfügung, um mit daraus erstellten Filmen in Lichtspieltheatern um Spenden zu werben. Die Deutsche Reichsbahn teilte mit, dass „Liebesgaben“ für die Hinterbliebenen der Oppauer Katastrophe kostenlos transportiert werden. Das Central Relief Committee in New York stellte 500 Kisten mit Milch und anderen Lebensmitteln im Wert von 1 Million Mark und 500 000 Mark in bar zur Verfügung, die das Deutsche Rote Kreuz mit dem Bürgermeister von Ludwigshafen unter den Hilfsbedürftigen verteilen sollte. Das schwedische Rote Kreuz spendete 100 000 Mark. Es wurde aber auch vor Betrügern gewarnt: So berichtete der Reichsanzeiger von „gewissenlosen Gaunern und Gaunerinnen“, die sich als „schwer heimgesuchte Oppauer Bürger ausgeben“, um sich Hilfeleistungen zu erschwindeln. Bereits am 23. September erarbeitete die BASF-Unternehmensführung einen Sechs-Punkte-Plan, um Opferangehörigen und Überlebenden zu helfen. Von den Familien, deren Häuser zerstört waren, konnten 93 in freie Werkswohnungen einziehen. Die BASF lehnte von Anfang an jegliche juristische Verantwortung und Rechtsansprüche ab, da die Explosion nicht auf Fahrlässigkeit zurückzuführen sei, sondern es sich vielmehr um eine Art Naturkatastrophe handelte. Dennoch zahlte sie freiwillig geringere Entschädigungen an Überlebende und die Angehörigen der Todesopfer und einen größeren Betrag an das Hilfswerk Oppau, das gegründet wurde, um die Hilfs- und Spendengelder zu verwalten. Den Angehörigen der Toten zahlte die BASF einmalig 2000 Mark und den Witwen 50 % des Tarifgehaltes fort. Die Angestellten der BASF spendeten 400 000 Mark, von der Reichsregierung wurden 10 Millionen Mark kurzfristig zur Verfügung gestellt. Nicht-Werksangehörige unter den Opfern erhielten von der BASF eine einmalige Summe von insgesamt 20 000 Mark, die durch die anhaltende Hyperinflation jedoch rasch an Wert verloren. Bis Dezember 1921 errichteten die Reichsvermögensverwaltung und das Deutsche Rote Kreuz Wohnbaracken für insgesamt 1100 Personen, die für die Obdachlosen und die rekrutierten Hilfsarbeiter genutzt werden konnten. Bis Ende Oktober 1921 konnten allen obdachlosen Familien in Oppau Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Wiederaufbau Der Schaden an der Fabrik betrug nach ersten Abschätzungen mindestens 570 Millionen Inflationsmark, von denen weniger als ein Drittel die Versicherung deckte. Die Ingenieure der BASF schätzten, dass der Wiederaufbau des Werkes Oppau bis zu einem Jahr dauern könnte und dass dazu 10 000 Arbeitskräfte benötigt würden. Carl Bosch beauftragte Carl Krauch mit der Arbeit, dem es gelang, mit Unternehmen aus ganz Deutschland Verträge zur Überlassung von Arbeitnehmern abzuschließen. Bestehende Arbeiten bei diesen Unternehmen wurden unterbrochen und ganze Arbeitsschichten mit ihren Vorarbeitern nach Oppau gesandt. Das Werk Oppau wurde in Rekordzeit wieder aufgebaut, innerhalb von elf Wochen war es provisorisch wieder hergerichtet. Man nahm bereits in der ersten Dezemberwoche 1921 den Betrieb wieder auf und war im Februar 1922 wieder bei voller Kapazität. Über die Schäden an den umliegenden Gemeinden gibt es unterschiedliche Angaben. Einige Quellen bezifferten sie auf 100 bis 200 Millionen Mark, andere berechneten allein für die 3750 in Oppau beschädigten Gebäude eine Schadenssumme von über 360 Millionen Mark. Die Regulierung von Sachschäden wurde sehr unterschiedlich gehandhabt. Auf der rechtsrheinischen Seite, wie in Mannheim und Heidelberg, galt das badische Recht. Dort waren Explosionsschäden in vollem Umfang gedeckt, da es eine gesetzliche Verpflichtung gab, Bauwerke zum ortsüblichen Bauwert zu versichern. In der bayrischen Pfalz galt das bayrische Recht, bei dem die Landesversicherungsanstalt nur dann zahlte, wenn eine Zerknallversicherung abgeschlossen worden war. Ansonsten war nur das Gebäude versichert, in dem die Explosion geschah. Insgesamt deckten hier die Versicherungsverträge nur 70 Millionen Mark der auf 321 Millionen Mark geschätzten Sachschäden in Oppau ab. Städtische Bauämter bildeten Ausschüsse, veranlassten die Schäden fotografisch zu dokumentieren und begrenzten Preise für Baumaterialien, um eine Bewucherung zu verhindern. Das Ziel war es, die Wohnhäuser in den Wintermonaten wieder bewohnbar zu machen. Bereits am 6. Oktober gab das Bürgermeisteramt Ludwigshafen ein Merkblatt für Hausbesitzer heraus und forderte die Betroffenen auf, Schäden über ein Formblatt zu melden. Karl Stützel vom Hilfswerk Oppau arbeitete dabei immer wieder daran, dass die BASF den Hauptteil der Kosten – die nicht von den Versicherungen gedeckt wurden – übernimmt. Im Januar 1922 stimmte diese, ohne Anerkennung eines Verschuldens oder einer Verpflichtung, zu, die Kosten für den Wiederaufbau der Gebäude zu übernehmen. Die Arbeiten erfolgten in der Verantwortung des Hilfswerkes aber unter Aufsicht der BASF und benötigten 16 Millionen Goldmark. Letztlich dauerte der Wiederaufbau des zerstörten Ortes Oppau gut drei Jahre. Die neuen Baurichtlinien sahen vor, dass Häuser in unmittelbarer Nähe zum Oppauer Werk nicht neu errichtet und die Straßen für die aktuelle Verkehrssituation ausgebaut werden. Der östliche Teil von Oppau, der dem Explosionszentrum besonders nahe lag, blieb als Gefahrengürtel und Interessengebiet der Fabrik unbebaut, stattdessen wurde ein neues Areal im Süden erschlossen. Eine Reihe von Straßen wurde verlegt, eine Parallelstraße zur Hauptstraße errichtet und ein neuer Marktplatz angelegt. Neue Häuser wurden nach neuen hygienischen und sanitären Ansprüchen errichtet. Bis Ende 1921 waren 230 Haupt- und 140 Nebengebäude abgerissen und 600 Wohnungen und 700 Nebengebäude wiederhergestellt. Der Beginn der Neubautätigkeiten war dann im Frühjahr 1922. Möbelreparaturen wurden durch die Schreinereiwerkstätten des Hilfswerkes an insgesamt 655 regionale Unternehmen vergeben. Die Beschaffung von Baumaterialien für den größten Baubetrieb des Deutschen Reiches und die immer schnellere Inflation waren ständige Herausforderungen. Stetige Arbeitskämpfe, die Sperrung der Rheinbrücken durch die französischen Truppen und der Ruhrkampf 1923 verschärften die Versorgungsprobleme. Bis zur Auflösung des Hilfswerkes im November 1924 wurden 2647 Gebäude neu errichtet. Beim Wiederaufbau des Ortes Oppau machte sich der Architekt Albert Boßlet einen Namen, der in dieser Zeit als Landesbaurat im bayerischen Innenministerium arbeitete und hauptsächlich als Kirchenbaumeister bekannt wurde. Ursachenforschung Die für die Verwaltung der bayerischen Pfalz zuständige damalige Bayerische Staatsregierung entschied bereits am Nachmittag des Unfalls über die Bildung einer fünfköpfigen Untersuchungskommission zur Ursachenklärung. Eine Woche später, am 28. September 1921, rief die Reichsregierung eine achtköpfige Untersuchungskommission ins Leben, die am 6. Oktober zum ersten Mal in Ludwigshafen zusammentrat. An den weiteren fünf Sitzungen in Ludwigshafen und sechs Sitzungen in Berlin nahmen zudem die Mitglieder der bayrischen Untersuchungskommission teil. Die BASF selbst beteiligte sich ebenfalls an der Ursachenforschung. Die Staatsanwaltschaft Frankenthal leitete gegen die Mitglieder der Unternehmensführung Carl Krauch (stellv. Direktor), Johann Fahrenhorst (Prokurist) und Franz Lappe (stellv. Direktor) ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung ein. Am 30. September 1921 fand in Gegenwart von Untersuchungsrichter und Staatsanwaltschaft, den Sachverständigen der Chemisch-Technischen Reichsanstalt und Ernst Richard Escales zunächst eine Besprechung in Frankenthal und danach eine Ortsbesichtigung unter Beteiligung der Gewerbeaufsichtsbehörde und der Berufsgenossenschaft statt. Die offiziellen Untersuchungsausschüsse einigten sich auf eine Arbeitsteilung und die Hinzuziehung von verschiedenen Experten: chemisch-technische Prüfungen wurden von der bayrischen Untersuchungskommission an Ort und Stelle übernommen. Physikalisch-technische Untersuchungen führte Alexander Gutbier, Vorstand des Laboratoriums für Anorganische Chemie an der Technischen Hochschule Stuttgart aus. Die analytisch-sprengtechnischen Untersuchungen wurden von Lothar Wöhler von der TU Darmstadt und insbesondere der Chemisch-Technischen Reichsanstalt unter Leitung von Hermann Kast durchgeführt. Der Chemiker und langjährige Herausgeber der Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengwesen, Ernst Richard Escales, nahm als Sachverständiger für das Landgericht Frankenthal eine Sonderstellung ein, da ein Großteil der Untersuchungsergebnisse in seiner Zeitschrift veröffentlicht wurde. Daneben waren Emil Bergmann, der Direktor und Fritz Lenze, ein weiterer Mitarbeiter der Chemisch-Technischen Reichsanstalt als Experten involviert. Aus den Trümmern des Werkes wurden die Betriebs- und Analysebücher geborgen. Damit konnten die Mengen an verarbeitetem Ammoniumnitrat und -sulfat sowie an hergestelltem Dünger berechnet werden. Es wurden verschiedene Proben aus den Resten des Gebäudes Op 111, dem zerstören Gebäude Op 110 und dem eingestürzten Silo Op 112 sowie Sprengstoffreste gesichert, um diese umfangreich zu untersuchen. Die Chemisch-Technische Reichsanstalt veröffentlichte am 30. November 1921 ein erstes Gutachten und detaillierte Informationen zu sprengtechnischen Untersuchungen. Ein zweites Gutachten wurde am 24. Juni 1922 veröffentlicht. Ab 1925 wurden die gesammelten Daten dann durch Hermann Kast in der Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengwesen in mehreren Sonderbeilagen veröffentlicht. Am 10. April 1923 stellte das Landgericht Frankenthal das Verfahren gegen die Unternehmensführung der BASF ein, da Zeugenaussagen und Gutachten keinen Nachweis auf eine Schuld oder fahrlässiges Verhalten ergeben hatten. Unglücksursachen und -verlauf Spekulationen, dass die Haber-Bosch-Anlage, ein großer Gaskompressor, einer oder mehrere der großen Wasserstoff-Gasbehälter, ein Kesselhaus oder eines der Laboratorien der Explosionsherd waren, konnten bereits während der Ortsbesichtigung unmittelbar nach dem Unglück verworfen werden. Relativ schnell wurde ein Anschlag oder die heimliche Lagerung von Munition im Gebäude Op 110 ausgeschlossen, da die notwendige Menge von über 100 t Sprengstoff nicht hätte vor den Arbeitern verborgen werden können. Die Mutmaßung des kommunistischen Abgeordneten Hermann Remmele, dass das in Oppau vorhandene Prämiensystem, das Sondervergütungen abhängig von der Produktionsmenge vorsah, zu nachlässigem Arbeiten und damit zu Unregelmäßigkeiten in der Produktion führte, konnte nach Durchsicht der Betriebsbücher nicht bestätigt werden. Nach Ausschluss verschiedener anderer Ursachen, wie eine Selbsterwärmung des ASN, die in der Explosion endete, bleibt als wahrscheinlichste Hauptursache für das Unglück die kurz vorher vorgenommene Änderung der Produktion auf das Spritzverfahren und die Erweiterung der Produktion in das Gebäude Op 110. Durch das neue Spritzverfahren wurde das ASN trockener, lockerer und feiner, wodurch es sich wie gewünscht leichter abbauen ließ. Alle drei Faktoren erhöhten gleichzeitig die Explosionsfähigkeit des ASN. Beim Versprühen im Gebäude Op 110 fiel ein Großteil der Masse rasch zu Boden, während ein kleiner Teil sehr feinen Materials (< 1 %) länger in der Luft schwebte und sich erst allmählich und in weiterer Entfernung vom Transportband als lockere 35 bis 50 cm starke Schicht ablagerte, die vermehrt aus AN bestand. Diese mögliche Entmischung wurde durch Untersuchungen von Gutbier bestätigt, der fand, dass sich das Doppelsalz bei 120 °C noch gar nicht und bei den vorherrschenden Spritzbedingungen (mehr als 60 °C) nur teilweise bildet. Bei sprengtechnischen Untersuchungen konnte Kast schließlich zeigen, dass bereits handelsübliches Oppauer ASN mit korrektem Mischungsverhältnis bei lockerer Schüttung (Dichte ≤ 0,9) und starker Verdämmung zur Explosion gebracht werden kann. Dabei steigt die Explosionsfähigkeit mit der Menge; eine kleinere Menge, wie bei den Versuchen der BASF, führte nicht zu einer Explosion. Kast fand zudem, dass bei gleicher chemischer Zusammensetzung die Explosionsfähigkeit allein dadurch zunimmt, dass das AS in Form groberer und das AN als feinere Kristalle vorliegen. Es sind also neben der chemischen Zusammensetzung in großem Umfang auch die physikalischen Eigenschaften und die Umstände der Zündung für die Explosionsfähigkeit von ASN verantwortlich. Bezüglich der zwei aufeinanderfolgenden Explosionen kam Kast somit zu der Schlussfolgerung, dass diese durch zwei aufeinanderfolgend angesetzte Sprengschüsse verursacht wurden, wobei die erste Explosion „das übriggebliebene Salz in einen Zustand versetzt habe, der für die Entstehung einer größeren Explosion günstig war, so dass ein zweiter, später losgehender Sprengschuss eine wesentlich größere Wirkung als der erste erzeugen konnte.“ Basierend auf den gesammelten Untersuchungsergebnissen der verschiedenen Kommissionen und Gutachter kamen verschiedene Faktoren zusammen, die so höchstwahrscheinlich zur Katastrophe führten: Die Einführung der Sprühtrocknung zu Beginn des Jahres 1921 führt zu einer Änderung der physikalischen Eigenschaften, die das ASN insgesamt empfindlicher gegenüber Initialzündungen machte. Das zu der AN-Lösung gegebene grobkristalline AS löste sich vermutlich nicht komplett auf, wodurch es beim Versprühen schneller zu Boden fiel, als das in feinen Partikeln kristallisierende AN. Dadurch kam es zur Anreicherung einer kleinen Menge (0,1 bis 0,2 % der Produktionsmenge) einer feinen Fraktion mit einem AN Gehalt von > 55 %, die ausreichend empfindlich gegenüber dem Explosionsdruck der Perastralit-Sprengladungen war. Diese Fraktion lagerte sich insbesondere in den Randbereichen des Gebäudes OP 110 ab, weswegen sie nicht regelmäßig ausgespeichert wurde und eine Mächtigkeit von circa einem halben Meter (circa 100 t) erreichte. Eine Sprengung, die zumindest teilweise innerhalb dieser AN-reichen Schicht erfolgte, löste die erste Explosion aus. Die feine Verteilung und thermische Anregung einer größeren Menge von ASN – mit korrektem Mischungsverhältnis aber geänderten physikalischen Werten – führte danach durch eine weitere Sprengkapsel zur zweiten Explosion. Verschwörungstheorien Zwar kamen die Geheimdienste der Alliierten zu dem Ergebnis, dass es keine heimliche Kriegsforschung oder Lagerung von Sprengstoffen bei der BASF gegeben habe, doch immer wieder kursierten gegenteilige Behauptungen, angeheizt durch Spekulation und Gerüchte, dass Deutschland weiterhin im Verborgenen an Waffen forschte. So schrieb die New York Times am 31. Oktober 1921: Der Daily Telegraph und das Wall Street Journal spekulierten unmittelbar nach der Explosion, dass in Oppau ein neues „Gas mit furchtbarer Explosionswirkung“ hergestellt worden war. Noch 1961 berichtete eine australische Zeitung, die Stadt Oppau sei damals durch die Explosion eines geheimen deutschen Waffenlagers völlig zerstört und an neuer Stelle wieder aufgebaut worden. Gedenken Auf dem Friedhof von Oppau wurde ein Gedenkstein errichtet. Zur Erinnerung an die Katastrophe trägt eine Straße innerhalb des BASF-Werksgeländes den Namen „Trichterstraße“; an ihr liegen noch heute viele Fertigungsstätten, in denen Düngemittel produziert werden. Auf dem Hauptfriedhof von Frankenthal existiert ein eigenes Sammelgrab mit Gedenkstein, in dem 42 Opfer des Unglücks, die aus dieser Nachbarstadt stammten, gemeinsam beigesetzt wurden. Auf dem Hauptfriedhof in Neustadt an der Weinstraße erinnert ein Denkmal an die 14 aus der Stadt kommenden Todesopfer. Aus Anlass des 100. Jahrestags des Unglücks eröffnete am 22. August 2021 eine Sonderausstellung über die Siloexplosion mit Texttafeln, historischen Fotografien, ausliegenden Sachbüchern und alten Zeitungsausschnitten im Karl-Otto-Braun-Museum in Ludwigshafen-Oppau, die bis 24. Oktober 2021 geht. Informationsmaterial über das Thema bewahrt zudem das Stadtarchiv von Ludwigshafen auf. Unter dem Titel Oppauammoniak verfasste der expressionistische Dichter Franz Richard Behrens (1895–1977) ein Gedicht über das Unglück. Audio Gefährlicher Dünger – Explosionskatastrophe in Oppau, 5:10 Minuten, von Heiner Wember, Deutschlandfunk Kultur, 9. September 2020 Literatur Band 20, Nr. 11, 1925, S. 1–4; Band 20, Nr. 12, 1925, S. 5–8; Band 21, Nr. 1, 1926, S. 9–12; Band 21, Nr. 2, 1926, S. 13–16; Band 21, Nr. 3, 1926, S. 17–20; Band 21, Nr. 4, 1926, S. 21–24; Band 21, Nr. 5, 1926, S. 25–28; Band 21, Nr. 6, 1926, S. 29–32; Band 21, Nr. 7, 1926, S. 33–36; Band 21, Nr. 8, 1926, S. 37–40; Band 21, Nr. 9, 1926, S. 41–43 (PDF-Dokument). Siehe auch Explosion in Toulouse am 21. September 2001 Liste der größten künstlichen, nichtnuklearen Explosionen Liste von Chemiekatastrophen Weblinks Zeitgenössische Fotografie des Explosionskraters auf PBase.com Explosionskatastrophe 1921, Bilder nach der Explosion auf oppau.info Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz: Sven Felix Kellerhoff: Das Grollen war noch in München zu hören. welt.de, 5. August 2000 Heiko Wirtz: BASF-Unglück von 1921: Knall bis nach München zu hören. SWR aktuell, 15. September 2021 Anmerkungen Der Begriff Stickstoff wird in diesem Zusammenhang nicht für das gasförmige Element Stickstoff, sondern die daraus hergestellten Produkte verwendet. Der zeitliche Abstand von vier Sekunden zwischen den beiden Explosionen wurde von den Erdbebenwarten in Göttingen, Durlach und Heidelberg registriert. Die Seismometer der anderen deutschen Erbebenstationen zeichneten dagegen nur die zweite Explosion als sehr schwaches Signal auf, was eine Registrierung der ersten schwächeren Schockwelle ausschließt. Auf dem Registrierpapier der Erdbebenwarte in Straßburg waren aufgrund des geringen Vorschubs (16 mm pro Minute) die kurz aufeinander folgenden Signale nicht aufzulösen. Aus dem zeitlichen Unterschied zwischen dem Eintreffen der Boden- und Schallwellen von 82 Sekunden errechnete die Erdbebenwarte Heidelberg eine Distanz von 27 km zum Explosionsherd. In einer ersten Pressemitteilung sprach die BASF-Führung von einer gelagerten Menge von 4000 Zentnern Ammonsulfatsalpeter. Dies wurde in den folgenden Mitteilungen auf eine Lagermenge von 4500 t geändert. Die unterschiedliche Stärke der Explosionen ergibt sich u. a. aus den Messungen der Erdbebenwarte Heidelberg. Das Verhältnis der Amplituden lag bei 1:4 bis 1:5, was in etwa den zugrundeliegenden Energiemengen entspricht. Einzelnachweise Oppauer Stickstoffwerk Chemieunfall Oppauer Stickstoffwerk, Explosion des Katastrophe 1921 Feuerwehreinsatz in Deutschland Rheinland-Pfälzische Geschichte (20. Jahrhundert) Geschichte (Ludwigshafen am Rhein) BASF Wirtschaft (Ludwigshafen am Rhein) Chemiewirtschaft (Deutschland) Industriegeschichte (Deutschland)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3%A4oklimatologie
Paläoklimatologie
Die Aufgabe der Paläoklimatologie besteht darin, anhand von Messungen, Analysen sowie Datenreihen aus sogenannten Klimaarchiven (Proxydaten) die klimatischen Verhältnisse der erdgeschichtlichen Vergangenheit (das Paläoklima) in Form einer Klimageschichte zu rekonstruieren und die Mechanismen von Klimawandel-Ereignissen in den verschiedenen Erdzeitaltern beziehungsweise historischen Epochen zu entschlüsseln. Methodisch seit jeher ein Teilbereich der Historischen Geologie, weist sie jedoch auch Parallelen zur modernen, physikalisch geprägten Klimatologie auf. Als interdisziplinäre Wissenschaft, deren Anwendungsbereich nahezu die gesamte Erdgeschichte umfasst, stützt sich die Paläoklimatologie auf Erkenntnisse aus Paläontologie, Paläogeographie, Paläozeanographie, Meteorologie und kooperiert mit Fachgebieten wie der Atmosphärenchemie und der Geophysik. Dabei wurden in den letzten Jahrzehnten verstärkt Forschungsresultate der Astronomie und der Astrophysik berücksichtigt. Mit dem Instrumentarium der Paläoklimatologie können in vermehrtem Umfang fundierte Aussagen über die vergangene und künftige Klimaentwicklung der Erde getroffen werden. Letzteres betrifft sowohl bereits begonnene Entwicklungen wie die globale Erwärmung als auch weiter in der Zukunft liegende Ereignisse wie zum Beispiel das erneute Auftreten einer Kaltzeit. Darüber hinaus werden paläoklimatologisch ermittelte Daten zur genaueren Bestimmung der Klimasensitivität ebenso herangezogen wie zur Erforschung der Ursachen und Folgen von abrupten Klimawechseln. Forschungsgeschichte Die Entwicklung vom 17. bis 19. Jahrhundert Bereits im 17. Jahrhundert fand Nicolaus Steno mit dem Stratigraphischen Grundgesetz eine fundierte Erklärung zur Entstehung von Sedimentgesteinen. Er erkannte zutreffend, dass verschiedene Gesteinsschichten verschiedene Stadien der Erdgeschichte repräsentieren. Fossilienfunde im Hochgebirge, zum Beispiel von Meeresmuscheln, lieferten deutliche Indizien, dass die Geschichte der Erde nicht statisch verlief, sondern von tiefgreifenden dynamischen Prozessen geprägt war. Ebenfalls im 17. Jahrhundert wurden erstmals geologische und paläontologische Klimazeugen mit langfristigen Klimaveränderungen in Verbindung gebracht. So vermutete der englische Universalgelehrte Robert Hooke 1686 aufgrund von Versteinerungen aus dem Jura, dass das südenglische Klima in weit zurückliegenden Epochen erheblich wärmer gewesen sein musste. Gegen den damals fest verwurzelten Glauben an den biblischen Schöpfungsmythos mit der Sintflut als globale „Urkatastrophe“, der alle damals bekannten Ablagerungen einschließlich der Fossilien zugeschrieben wurden, konnte sich die Idee einer urweltlichen Epoche erst ein Jahrhundert später durchsetzen. Im Zuge der Aufklärung und mit der Entwicklung der Geologie zur modernen Wissenschaft ab 1750 gewann der Vorzeitgedanke allmählich an Boden. Daraus resultierte am Ende des 18. Jahrhunderts die damals revolutionäre Erkenntnis, dass die Urzeit der Erde einen erheblich größeren Zeitraum umfassen musste als die historisch belegte Menschheitsgeschichte. Die auf der Grundlage erster stratigraphischer Profile analysierten Schichten, Sedimente und Fossilien führten zur Annahme eines lange währenden Ablagerungs- und Versteinerungsprozesses. Zudem fanden sich vor allem im Voralpengebiet, in der norddeutschen Tiefebene oder in Skandinavien ungewöhnliche Relikte in Form von Moränen, Drumlins und erratischen Blöcken (Findlinge), die auf eine großflächige Vergletscherung hindeuteten. In die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts fiel die anfangs noch grobe Einteilung der Erdgeschichte in verschiedene geologische Perioden. Parallel dazu erfolgte die Einordnung dieser Perioden in die geologische Zeitskala, wenngleich die wahren zeitlichen Dimensionen bis in das 20. Jahrhundert hinein auf Grund unzureichender geochronologischer Analyseverfahren stark unterschätzt wurden. Zudem entstanden die ersten wissenschaftlichen Beschreibungen vorzeitlicher Lebensräume einschließlich ihrer klimatischen Bedingungen. Als Wegbereiter der Paläoklimatologie im deutschen Sprachraum gilt der Botaniker und Geologe Karl Friedrich Schimper (1803–1867), der erstmals fossil belegte Spuren von Witterungseinflüssen, wie Regen, Wind und Hagelschlossen, beschrieb. Daneben vertrat er die Theorie eines „Weltwinters“, der weite Teile Nord- und Mitteleuropas mit Eis bedeckt hatte. Der Schweizer Paläontologe und Botaniker Oswald Heer (1809–1883) schuf mit seinem Hauptwerk, dem siebenbändigen „Flora fossilis arctica – Die fossile Flora der Polarländer“, ein vielbeachtetes Standardwerk zur Paläobotanik. Mit dem erfolgreichen, allgemeinverständlich verfassten Buch Die Urwelt der Schweiz (1865) gelang es ihm, ein breiteres Publikum für den Vorzeitgedanken einzunehmen. Als einer der ersten schlug Heer vor, fossil erhaltene Pflanzen als Proxys für die Klimabestimmung urweltlicher Habitate heranzuziehen. Internationale Bekanntheit erlangte auch der Schweizer Naturforscher Louis Agassiz (1807–1873), der 1846 in die USA auswanderte und dort seine wissenschaftliche Laufbahn fortsetzte. Auf der Grundlage intensiver Feldstudien in den Schweizer Alpen kam Agassiz zu der Überzeugung, dass bestimmte Geländeformationen nur unter dem Einfluss einer allgemeinen Vereisung entstanden sein konnten. Diese These löste eine lang anhaltende, kontrovers geführte Diskussion aus. Viele Forscher standen der neuen Eiszeittheorie ablehnend gegenüber und bevorzugten stattdessen alternative Erklärungsmodelle. So galten die in manchen Gegenden häufig anzutreffenden Findlingsblöcke als vulkanische Auswürfe. Das war umso verwunderlicher, da die sehr viel ältere Permokarbone Vereisung, gut dokumentiert durch geologische Untersuchungen in Indien, Südafrika und Australien, schon längst Eingang in die Fachliteratur gefunden hatte. Erst zwischen 1870 und 1880 wurde angesichts einer Fülle konsistenter Belege die Existenz des quartären Eiszeitalters allgemein akzeptiert. Von nun an war die letzte Kaltzeit – auch im Hinblick auf das Klima – jahrzehntelang das zentrale Thema vieler geowissenschaftlicher Forschungen. Einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Klimamechanismen in erdgeschichtlichen Zeiträumen leistete der schwedische Physiker und Chemiker Svante Arrhenius (1859–1927). In seinem Werk Über den Einfluss von Kohlensäure in der Luft auf die Bodentemperatur (1896) berechnete er als erster die genaue Treibhauswirkung von Kohlenstoffdioxid, wies auf Konzentrationsschwankungen dieses Gases während der Eiszeitzyklen hin und vermutete eine kommende globale Erwärmung durch industrielle CO2-Emissionen. Arrhenius’ Arbeiten zu diesem Themenkomplex galten lange als unsicher und spekulativ, sie wurden jedoch mit einiger Verzögerung in den 1950er Jahren in vollem Umfang bestätigt. Das 20. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert brachte den Geowissenschaften einen Zustrom neuer Erkenntnisse, von denen auch die Paläoklimatologie profitierte, die nunmehr über eine zunehmend breitere und zuverlässigere Basis verfügte. Zu einem Meilenstein der Eiszeit- und Quartärforschung wurde das in den Jahren 1901 bis 1909 von Albrecht Penck und Eduard Brückner herausgegebene dreibändige Standardwerk Die Alpen im Eiszeitalter, das die vier alpinen Eiszeiten Günz, Mindel, Riss und Würm umfassend beschrieb und eine wegweisende stratigraphische Basis zu diesem Themenbereich etablierte. 1911 benutzte der britische Geologe Arthur Holmes erstmals die Uran-Blei-Zerfallsreihe zur absoluten Altersbestimmung von Gesteinsschichten. Seine Messungen ergaben für den Beginn des Kambriums ein Alter von etwa 600 Millionen Jahren (aktuell 541 Millionen Jahre). Holmes’ Resultate wurden zunächst vielfach bezweifelt, korrespondieren jedoch relativ genau mit der modernen geologischen Zeitskala. Ein weiterer Pionier der Paläoklimatologie war der Meteorologe und Polarforscher Alfred Wegener (1880–1930), der als Begründer der erst in den 1960er Jahren rezipierten Kontinentalverschiebungstheorie auch als Geowissenschaftler postume Anerkennung fand. Um seine These zu stützen, wonach die gegenwärtige Anordnung der Kontinente nur eine geologische Momentaufnahme darstellt, sammelte Wegener eine Vielzahl von „Klimazeugen“, die belegen sollten, dass die großen Landmassen in früheren geologischen Perioden fernab ihrer heutigen Position lagen und wahrscheinlich Teile des einstigen Urkontinents Pangaea waren. Unter anderem verwies er auf die unter warmzeitlichen Bedingungen entstandenen Kohlevorkommen in der Antarktis, auf die Fossilfunde subtropischer Baumarten auf Spitzbergen oder auf die Entdeckung, dass die Sahara im späten Ordovizium zum Teil von Gletschern bedeckt war. Als Vater der modernen, systematisch betriebenen Paläoklimatologie gilt Martin Schwarzbach (1907–2003). Sein Lehrbuch Das Klima der Vorzeit (Erstauflage 1950) wurde über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten immer wieder aktualisiert und überarbeitet. Als Vertreter des klassischen Aktualismus berücksichtigte Schwarzbach die vielfältigen neuen Ansätze der Paläoklimatologie und ihre rasche Entwicklung zu einer breit gefächerten interdisziplinären Wissenschaft jedoch nur am Rande. Die Grundlagen der Paläoklimatologie Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Paläoklimatologie ebenso wie die meisten anderen Geowissenschaften eine überwiegend deskriptive (beschreibende) Wissenschaft. Hierzu bediente sie sich einer wachsenden Anzahl von ständig verfeinerten Datierungs- und Nachweismethoden wie der Dendrochronologie, die in der Historischen Klimatologie und der Archäologie ebenfalls häufig angewendet wird. Um jedoch fundierte Aussagen nicht nur über Klimaereignisse, sondern auch über deren physikalische Ursachen und Wechselwirkungen sowie ihre Bedeutung für die Gegenwart treffen zu können, mussten zuerst die wesentlichen Faktoren des Erdklimasystems verstanden werden. Dies konnte nur im Rahmen einer breit aufgestellten, fachübergreifend agierenden Wissenschaft geschehen, die alle klimarelevanten Regelmechanismen in vollem Umfang berücksichtigt und in intensivem Austausch mit anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen steht. So wiesen zum Beispiel der Astrophysiker und Buchautor Carl Sagan und sein Co-Autor George Mullen 1972 in einer Studie darauf hin, dass die Sonne am Beginn der Erdgeschichte vor 4,5 Milliarden Jahren etwa 30 Prozent weniger Wärmestrahlung emittierte als heute. Mit dem Faint Young Sun Paradox (Paradoxon der schwachen jungen Sonne) ergaben sich elementare Fragen zur Entstehung und zur Kontinuität des irdischen Lebens, die nicht nur die Paläoklimatologie betreffen, sondern aktuell auf breiter Basis interdisziplinär diskutiert werden, vor allem in den Atmosphärenwissenschaften. Ein ähnliches Interesse wie das Paradoxon entfachte im Jahre 1980 die Entdeckung einer global nachgewiesenen Iridium-Anomalie an der Kreide-Paläogen-Grenze. Die erhöhte Konzentration des auf der Erde sehr seltenen Edelmetalls Iridium in einer dünnen Sedimentschicht (dem sogenannten „Grenzton“) führte zur Annahme eines Asteroideneinschlags am Ende des Erdmittelalters vor 66 Millionen Jahren, der das gesamte Ökosystem schwer belastete und ein weltweites Massenaussterben besiegelte, nach den vulkanischen Ereignissen während der Bildung des Dekkan-Trapps (siehe aber auch unten bei Vulkanismus sowie Kreide-Paläogen-Grenze). Als wahrscheinlicher Ort des Einschlags gilt der Chicxulub-Krater im Golf von Mexiko nahe der Halbinsel Yucatán. Inzwischen wurden mithilfe von Satelliten Dutzende weiterer Impaktkrater geortet (einige davon fast vollständig erodiert oder verschüttet), die deutlich belegen, dass in geologischen Zeiträumen die Erde relativ häufig mit kosmischen Objekten unterschiedlicher Größe kollidierte. Zugleich verdichteten sich die Hinweise, dass im Laufe der Erdgeschichte gravierende Klimaschwankungen und damit einhergehende Massenaussterben öfter als ursprünglich angenommen auftraten. Ursachen und Folgen derartiger Krisen werden intensiv erforscht, um mögliche Parallelen zur anthropogenen globalen Erwärmung zu finden. Als wichtiges Instrument bei der Darstellung vergangener und zukünftiger Klimaszenarien haben sich Modellberechnungen mittels Computer etabliert. Klimamodelle stellen auf Grund ihrer komplexen Struktur und ihrer Anzahl an zusätzlichen Parametern hohe Anforderungen an die Rechenkapazität eines Computersystems. Die meisten Modelle werden dabei an realen Klimaverläufen sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit kalibriert, so dass sie nicht nur aktuelle Entwicklungen, sondern beispielsweise auch den Klimazyklus der letzten Eiszeit weitgehend korrekt nachbilden können. Bei der Modellierung klimatischer Entwicklungen sind die im Laufe von Jahrtausenden wechselnden Erdbahnparameter, die sogenannten Milanković-Zyklen, zu einer signifikanten Einflussgröße geworden. Unter Einbeziehung dieser Zyklen war es möglich, den charakteristischen Ablauf der Quartären Eiszeit mit ihren Warm- und Kaltzeiten, einschließlich des Treibhauseffekts und der Eis-Albedo-Rückkopplung, auf ein solides theoretisches Fundament zu stellen. Die in den letzten Jahrzehnten erzielten Fortschritte bei der radiometrischen Datierung führten zu einer erheblichen Zunahme der Messgenauigkeit und damit zu einer teilweisen Neubewertung geologischer, geophysikalischer und biologischer Ereignisse. Mithilfe moderner Datierungsmethoden wurde es möglich, Klimaschwankungen oder Massenaussterben zeitlich genauer einzugrenzen und zunehmend detaillierter zu rekonstruieren. Methoden und Analysewerkzeuge Zuverlässige und relativ lückenlose Daten zu Wetter und Klima stehen der Meteorologie und Klimatologie nur für den Zeitraum der letzten 150 Jahre zur Verfügung. Um fundierte Aussagen über die Klimata früherer Epochen treffen zu können, verfügt die moderne Paläoklimatologie über eine Reihe spezieller Mess- und Bestimmungsmethoden, von denen einige erst in jüngster Zeit entwickelt wurden. Zum Standardinstrumentarium gehören Klimaproxys als indirekte Klima-Anzeiger, die in natürlichen Archiven wie Baumringen, Stalagmiten, Eisbohrkernen, Korallen, See- oder Ozeansedimenten, Pollen oder schriftlichen Aufzeichnungen zu finden sind. Klimaproxys werden nicht nur zur Rekonstruktion vergangener Klimazonen verwendet, sondern liefern darüber hinaus Informationen zur Sonnenaktivität, Niederschlagsintensität, Luftzusammensetzung und chemischen Beschaffenheit urzeitlicher Meere. Um falsche Resultate möglichst auszuschließen, müssen Klimaproxys mit modernen, instrumentell ermittelten Datenreihen verglichen und an ihnen kalibriert werden. Klimaproxys und Klimazeugen Im Zuge der intensiven Erforschung der Quartären Eiszeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine Fülle geologischer Relikte entdeckt, die auf eine lang währende Kaltphase hindeuteten. Vor allem der weite Teile Mittel- und Nordeuropas bedeckende Fennoskandische Eisschild sowie die alpinen Vorlandgletscher hatten charakteristische Spuren in den verschiedensten Geländeformationen hinterlassen beziehungsweise waren an der Entstehung dieser Formationen in Form von Trogtälern oder Grundmoränen direkt beteiligt. Diese Vorgänge sind Forschungsgegenstand der Glazialmorphologie, die darüber hinaus zahlreiche weitere Zeugen eiszeitlicher Gletscherbewegungen und glazialer Prozesse untersucht, wie Geschiebemergel, Gletscherschliffe, Dropstones, Lösssedimente, Periglaziale Lagen sowie (mit Einschränkungen) sogenannte Eiskeile. Mithilfe geologischer, paläontologischer und radiometrischer Methoden konnten sechs Eiszeitalter mit einer Gesamtdauer von 525 Millionen Jahren während der letzten 2,4 Milliarden Jahre nachgewiesen werden, wobei relativ umfangreiche Gletscherbildungen gelegentlich selbst in wärmeren Phasen der Erdgeschichte auftraten. Geologische und paläontologische Nachweisverfahren werden auch für frühere Warmzeiten angewandt, wobei hier zusätzlich zwischen feuchten (humiden) und trockenen (ariden) Klimata unterschieden wird. Als Datierungs- und Untersuchungsobjekte eignen sich Lage und Ausdehnung urzeitlicher Korallenriffe, die Zusammensetzung von Tonmineralen einschließlich der Schichtsilikate, Lagerstätten von Lignit (Schieferkohle), das Sedimentgestein Evaporit sowie die verschiedenen Formen von physikalischer, chemischer und biotischer Verwitterung in erdgeschichtlichen Zeiträumen. Nachfolgend ist eine Reihe weiterer Klimaproxys aufgeführt, die in der Paläoklimatologie häufig verwendet werden. Mit der Dendrochronologie lässt sich durch eine Jahresring-Auswertung das jährliche Baumwachstum in Abhängigkeit von Witterung, Umwelt und Klima rekonstruieren. Für einzelne europäische Baumarten wurden auf diese Weise lückenlose Jahresringtabellen über einen Zeitraum von 10.000 Jahren erstellt. Momentaner „Rekordhalter“ ist der Hohenheimer Jahrringkalender, an dem die mitteleuropäische Klimaentwicklung von der Gegenwart bis in die Jüngere Dryaszeit vor 14.600 Jahren zurückverfolgt werden kann. Unter optimalen Voraussetzungen ist es möglich, jedem Baumring das genaue Jahr seiner Entstehung zuzuordnen. So wurde zum Beispiel die Wetteranomalie der Jahre 535 und 536 unter Einbeziehung der Dendrochronologie wissenschaftlich bestätigt. Die Palynologie (Pollenanalyse) ist unter der Bezeichnung Pollenstratigraphie ein Teilbereich der Paläontologie und hat zuletzt in der Paläoklimatologie ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Dank ihrer globalen Verbreitung und ihrer großen Widerstandsfähigkeit gegenüber Umwelteinflüssen und geologischen Prozessen eignen sich urzeitliche Pollen, Sporen und Mikrofossilien (zusammengefasst unter dem Begriff Palynomorphe) vom frühen Phanerozoikum bis in die geologische Gegenwart sehr gut als Leitfossilien. Darüber hinaus können aus der lokalen Häufigkeit und Artenvielfalt der Palynomorphe nicht nur die damaligen klimatischen Bedingungen, sondern auch komplexe Ökosysteme rekonstruiert werden. Die Warvenchronologie, auch Bändertondatierung genannt, basiert auf der genauen Zählung von Ablagerungsschichten (Warven) in Still- und Fließgewässern wie Seen oder Flüssen. Dafür eignen sich besonders Gewässer, die regelmäßig von starker Schneeschmelze betroffen sind. Falls die Zählung in einen absoluten Zeitrahmen eingebunden werden kann, ermöglicht das eine Altersangabe in Warvenjahren. Bei entsprechender Kalibrierung und Abgleich der Warvenjahre mit anderen Chronologieverfahren sind ähnlich wie in der Dendrochronologie paläoklimatologische Detailanalysen auf der Grundlage kleinskaliger Zeiträume möglich. Der Anwendungsbereich der Warvenchronologie erstreckt sich über einen Zeitrahmen von etlichen hundert bis etwa 30.000 Jahren und reicht in Einzelfällen darüber hinaus. Eisbohrkerne gehören zu den genauesten Klimaarchiven und werden deshalb sehr methodisch analysiert und ausgewertet. Neben Gebirgsgletschern, aus deren Bohrkernen bei günstigen Bedingungen die exakten regionalen Klimaverläufe der letzten Jahrtausende rekonstruiert werden können, eignen sich der grönländische und der antarktische Landeisschild zu detaillierten Klima-Analysen über längere Zeiträume. Während das bisher älteste untersuchte Grönland-Eis rund 123.000 Jahre abdeckt und damit die Eem-Warmzeit einschließt, konnte im Rahmen des Projekts EPICA ein Antarktis-Bohrkern mit einem Gesamtalter von über 800.000 Jahren geborgen werden. Die „fossilen“ Luftbläschen innerhalb eines Eisbohrkerns sind zuverlässige Klima-Archive für die Zusammensetzung der Atmosphäre während der Quartären Eiszeit und hier vor allem für die Kohlenstoffdioxid- und Methan-Konzentrationen, die innerhalb eines Eiszeitzyklus mit seinen Kalt- und Warmphasen starken Schwankungen unterlagen. Außerdem liefern Eisbohrkerne Daten zur Sonnenaktivität, zu Lufttemperaturen, zu Verdunstungs- und Kondensationsprozessen sowie zu Anomalien des Erdmagnetfeldes. Im Eis eingeschlossene Staubpartikel sind Indikatoren für Wind und atmosphärische Zirkulation und speichern zudem die Spuren möglicher Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge. Ozeanische Sedimente. Die über Jahrmillionen auf den Kontinentalschelfen oder in der Tiefsee entstandenen Ablagerungsschichten werden hinsichtlich ihres Ursprungs in biogene (abgestorbene Organismen), lithogene (Gesteine) und hydrogene (lösliche chemische Verbindungen) Sedimente unterteilt. Die Bohrkernproben biogener Sedimente erlauben Rückschlüsse auf die geographische Verbreitung bestimmter Lebewesen in verschiedenen geologischen Epochen, lithogene Sedimente sind ein Archiv für Zustandsänderungen von Meeresströmungen, während hydrogene Sedimente oftmals Hinweise auf vergangene Klimaschwankungen enthalten. Durch die Auswertung eisenhaltiger Sedimente und Magmaschichten der ozeanischen Erdkruste konnte zudem eine Reihe von Polumkehrungen nachgewiesen werden. Untersuchungen dieser Art sind Forschungsgegenstand des Paläomagnetismus. Das Alter aller marinen Sedimente ist durch den plattentektonischen Prozess der Subduktion begrenzt. Da Ozeanböden ständig in die Tiefen des Erdmantels „abtauchen“, andererseits an den Spreizungszonen permanent neu gebildet werden, beträgt das Durchschnittsalter der gesamten ozeanischen Kruste etwa 80 Millionen Jahre. Einzelne Regionen erreichen ein Alter von etwa 200 Millionen Jahren (lediglich im östlichen Mittelmeer gibt es als große Ausnahme 340 Millionen Jahre alte Sedimentschichten aus der Zeit des Karbons). Aufgrund dieser natürlichen Zeitbarriere sind die Impaktkrater großer Asteroiden- oder Kometeneinschläge in die präkambrischen oder paläozoischen Meere nicht mehr nachweisbar. Die genaue Datierung ozeanischer Bohrkernproben schwankt normalerweise sehr stark und ist abhängig von deren Alter und von der Geschwindigkeit der jeweiligen Sedimentationsprozesse. Ablagerungen aus dem Holozän erlauben unter günstigen Bedingungen eine zeitliche Auflösung von einigen Jahrzehnten, wobei sehr junge Schichtungen durch Einflüsse wie die Bioturbation für zuverlässige Analysen eher ungeeignet sind. Tropfsteine wie Stalagmiten und Stalaktiten (nicht immer ganz zutreffend auch Speläotheme genannt) kommen weltweit vor und sind fast zwangsläufig in den Höhlen von Karst- und Kalkgesteingebieten zu finden. Tropfsteine entstehen aus dem mit Kohlenstoffdioxid angereicherten Oberflächenwasser (zum Beispiel Regen oder Schmelzwasser), das auf seinem Weg durch Spalten und poröses Material organische Säuren aufnimmt, die im Verbund mit dem Kohlenstoffdioxid das im Gestein enthaltene Calciumcarbonat lösen. Solange die Umgebungsbedingungen der jeweiligen Höhle konstant bleiben, bilden sich durch einsickernde Wassertropfen dünne Kalkschichten, die im Laufe der Zeit zu Stalagmiten (vom Höhlenboden) oder zu Stalaktiten (von der Höhlendecke) „heranwachsen“. Das Verhältnis der Sauerstoffisotope im Tropfsteinkalk, die Dicke der Wachstumslagen und die Anteile diverser Spurenelemente summieren sich zu einem zuverlässigen, auf Jahrzehnte genauen Klimakalender, der auch abrupte und kurzzeitige Umschwünge wie die Dansgaard-Oeschger-Ereignisse der letzten Eiszeit verzeichnet. Tropfsteine können – je nach Dauer der Wasser- und damit der Calciumcarbonatzufuhr – sehr lange wachsen und erreichen mitunter ein Alter von mehreren Hunderttausend Jahren. Isotopenanalyse und biogeochemisches Nachweisverfahren Datierungsmethoden Zur Erzielung einer möglichst präzisen absoluten Altersbestimmung werden vielfach Zirkonkristalle verwendet. Diese eignen sich aufgrund ihrer Hitzeresistenz und ihrer dadurch stabil gebliebenen Gitterstruktur zur Analyse der darin eingeschlossenen radioaktiven Nuklide (wie 235U, 238U oder 232Th). Diese Datierungsmethode weist sehr geringe Fehlertoleranzen auf und deckt den Zeitraum der gesamten Erdgeschichte ab. Beispielsweise können Zirkone die Existenz früher plattentektonischer Prozesse (und damit die Entstehungszeit der ersten Ozeane) ebenso belegen wie das genaue Alter von Impaktkratern. Die 40Ar/39Ar-Datierung ist eine abgewandelte und genauere Methode der herkömmlichen Kalium-Argon-Datierung und wird seit einiger Zeit in den Geowissenschaften zur Altersbestimmung von Mineralien und Gesteinen häufig eingesetzt. Ihr Anwendungsbereich erstreckt sich von einigen Jahrtausenden bis weit in das Präkambrium. Die Kryptondatierung mit dem Isotop 81Kr in Verbindung mit dem stabilen Isotop 83Kr wird in der Praxis erst seit dem Jahr 2011 verwendet. Den Durchbruch brachte eine neue Detektortechnologie auf der Basis der Atom Trap Trace Analysis. Mit einer Halbwertszeit von 230.000 Jahren eignet sich 81Kr vor allem zur Untersuchung von Gletschern und alten Eisschichten, wie sie zum Beispiel in der Antarktis vorkommen, und liefert dabei erheblich präzisere Resultate als frühere Verfahren. Die Radiokarbonmethode, auch 14C-Datierung genannt, ist ein Verfahren zur Altersbestimmung organischer Substanzen. Aus den natürlichen Schwankungen des radioaktiven Kohlenstoff-Isotops 14C und des stabilen Isotops12C können die Zyklen der Sonnenaktivität, Veränderungen des geomagnetischen Dipolfeldes sowie der Austausch zwischen Kohlenstoffsenken und Atmosphäre berechnet werden. Anwendungsbereich: 300 bis etwa 57.000 Jahre. Aufgrund ihrer zeitlichen Begrenzung spielt die 14C-Datierung in der Paläoklimatologie nur eine untergeordnete Rolle, findet jedoch in der Historischen Klimatologie sowie in der Archäologie breite Anwendung. Laut einer aktuellen Studie führen die stark zunehmenden anthropogenen CO2-Emissionen zu einer deutlichen Verringerung der 14C-Anteile in der Atmosphäre. Dieser Effekt wird künftige Radiokarbondatierungen mit hoher Wahrscheinlichkeit beträchtlich erschweren beziehungsweise signifikant verfälschen. Methoden zur Rekonstruktion von Klima und Umwelt δ13C (Delta-C-13) ist das Maß für das Verhältnis der stabilen Kohlenstoff-Isotope 13C/12C zwischen einer Probe und einem definierten Standard. Die auf diese Weise entdeckte Verschiebung des δ13C-Verhältnisses in 3,5 Milliarden Jahre alten Gesteinsformationen gilt als starkes Indiz für die Existenz früher Lebensformen. Die δ13C-Signatur erlaubt zudem die Bestimmung der atmosphärischen Kohlenstoffdioxid-Konzentration in verschiedenen Erdzeitaltern. Die Freisetzung großer Mengen Methanhydrat wie während des Paläozän/Eozän-Temperaturmaximums hat ebenfalls signifikante Auswirkungen auf die globale δ13C-Signatur. δ18O (Delta-O-18) beschreibt das Verhältnis der stabilen Sauerstoff-Isotope 18O/16O. Dieses vielfältig einsetzbare Messverfahren eignet sich für die Rekonstruktion von Niederschlagstemperaturen und dient zudem als Indikator von Prozessen der Isotopenfraktionierung wie der Methanogenese. In der Paläoklimatologie werden 18O/16O-Daten als Temperaturproxy von fossilen Korallen und Foraminiferen sowie von Eisbohrkernen, Tropfsteinen und Süßwassersedimenten verwendet. Zeitlicher Anwendungsbereich: Känozoikum bis Paläozoikum, zum Teil darüber hinaus (mindestens 600 Millionen Jahre). δ15N (Delta-N-15) ist das Maß für das Verhältnis der stabilen Stickstoff-Isotope 15N zu 14N. Mit dieser Methodik werden verschiedene Formen des Stickstoffkreislaufs untersucht, so zum Beispiel die Rate, mit der Stickstoff von einem Ökosystem aufgenommen und umgesetzt wird. TEX86 (Tetraether-Index von 86 Kohlenstoffatomen) bezeichnet eine biogeochemische Methode zur Ermittlung der Meeresoberflächentemperatur früherer Klimata. Zu diesem Zweck wird die Zellmembran bestimmter mariner Einzeller analysiert. Zeitlicher Anwendungsbereich: Jura, Kreidezeit und gesamtes Känozoikum (ca. die letzten 200 Millionen Jahre). Außer den oben genannten Methoden gibt es eine Vielzahl weiterer Analyseverfahren, wie zum Beispiel die Strontiumisotopenanalyse. Das auf der Erde nur in Spuren vorhandene radioaktive Beryllium-Isotop 10Be korreliert mit der kosmischen Strahlung sowie mit hohen Aerosol-Konzentrationen. 10Be-Isotope in Eisbohrkernen werden zudem in Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Sonnenaktivität und Temperaturentwicklung analysiert. Darüber hinaus wird für geologische und paläoklimatologische Untersuchungen eine Reihe von Eisen-, Chrom- und Edelgas-Isotopen herangezogen. Eine neuere Methode, 2014 vorgestellt, ist die spezielle Verwendung des Argon-Isotops 39Ar zur Analyse von Gletschereis und ozeanischem Tiefenwasser mittels der Atom Trap Trace Analysis (ATTA). Dieses Verfahren basiert auf einer magneto-optischen „Atomfalle“ (MOT) unter Einsatz von Laserphysik zur Spurenanalyse seltener Edelgasisotope, wobei jedes Atom des Probenmaterials einzeln detektiert wird. Langfristig wirksame Klimafaktoren im Kontext der Erdgeschichte Die Sonne Von allen Faktoren, die das irdische Klima von Beginn an prägten und bis heute bestimmen, spielt der Einfluss der Sonne die wichtigste Rolle. Die in einem thermonuklearen Fusionsprozess erzeugte und abgestrahlte solare Energie ist die Grundvoraussetzung für die Entstehung und Entwicklung des Lebens auf der Erde. Die langjährig gemittelte Strahlungsintensität in Form der Solarkonstante beträgt 1361 W/m² (nach der 2015 getroffenen Festlegung durch die Internationale Astronomische Union). Aufgrund der leicht exzentrischen Erdbahn variiert die Stärke der einfallenden Sonnenstrahlung außerhalb der Atmosphäre im Laufe eines Jahres zwischen 1325 W/m² und 1420 W/m². Die Bezeichnung Solarkonstante ist etwas irreführend, da diese – wenngleich innerhalb enger Grenzen – zyklischen Schwankungen unterliegt (etwa 0,1 Prozent sowohl im sichtbaren Bereich als auch in der Gesamtstrahlung). Diese Schwankungen sind ursächlich an die Maxima- und Minimaperioden der Sonnenflecken und damit an die unterschiedlichen Aktivitätszyklen der Sonne gekoppelt. Auf der gesamten Zeitskala der Erdgeschichte hat die Entwicklung der Sonne als Hauptreihenstern im Hertzsprung-Russell-Diagramm primäre Bedeutung. Nach einer relativ kurzen Phase als Protostern begann sie vor 4,6 Milliarden Jahren mit der Energiefreisetzung durch den exothermen Prozess der Kernfusion, bei dem der im Sonnenkern eingelagerte Vorrat an Wasserstoff durch die Proton-Proton-Reaktion allmählich in Helium umgewandelt wird. Dieses Stadium dauert rund 11 Milliarden Jahre, wobei in diesem Zeitraum die Leuchtkraft und der Radius der Sonne konstant zunehmen werden beziehungsweise bereits deutlich zugenommen haben. Das bedeutet, dass die Sonne am Beginn ihrer Existenz (und gleichzeitig am Beginn der Erdgeschichte) nur 70 Prozent der gegenwärtigen Wärmestrahlung emittierte und dass sich diese Strahlung alle 150 Millionen Jahre durchschnittlich um 1 Prozent bis auf den heutigen Wert erhöhte. Die Atmosphäre Die Erde dürfte bereits bei ihrer Entstehung eine Uratmosphäre besessen haben, deren Hauptanteile Wasserstoff und Helium waren und die darüber hinaus Spuren von Methan, Ammoniak und einigen Edelgasen enthielt. Dieses Gasgemisch existierte nur relativ kurze Zeit, da sich durch die thermischen Auswirkungen mehrerer Impaktkatastrophen und den Einfluss des Sonnenwindes sowie des solaren Magnetfelds vor allem die leichten Elemente rasch in den interplanetaren Raum verflüchtigten. Die erste Atmosphäre der Erde entstand vor mehr als vier Milliarden Jahren und war im Wesentlichen das Resultat eines extrem starken Vulkanismus mit entsprechend intensiven Ausgasungen von Kohlenstoffdioxid, Stickstoff und Schwefeldioxid. Da auf der erhitzten Erdoberfläche Niederschläge sofort verdampften, dominierte Wasserdampf mit einem Anteil von etwa 80 Prozent die sehr dichte und heiße Lufthülle. Danach folgten Kohlenstoffdioxid und Schwefelwasserstoff mit Anteilen von etwa 10 beziehungsweise 6 Prozent. Vermutlich gab es auf der jungen Erde bereits in einem frühen Stadium große Mengen an flüssigem Wasser, so dass sich gegen Ende des Hadaikum, vor rund 4 Milliarden Jahren, die ersten ozeanischen Becken bildeten. Zur Herkunft des irdischen Wassers gibt es mehrere Theorien, wobei neben einem rein erdgebundenen Ursprung auch vermehrt extraterrestrische Quellen wie Protoplanetare Scheiben, Kometen oder Meteoriten diskutiert werden. Mit der Entstehung und Ausbreitung des Lebens im Laufe des Eoarchaikums vor 4 bis 3,6 Milliarden Jahren nahmen Einzeller wie die Archaeen erstmals direkten Einfluss auf die Atmosphäre, indem sie mit ihren Stoffwechselprodukten den Methangehalt allmählich erhöhten. Gleichzeitig wurde Kohlenstoffdioxid der Atmosphäre entzogen und in großen Mengen im Meerwasser gelöst. Da das Kohlenstoffdioxid wesentlich zum Aufbau von Biomasse beitrug, nahm in einem mehrstufigen Prozess der pH-Wert der Meere allmählich zu, wodurch es in der Folge zur Ausfällung und umfangreichen Ablagerung von Carbonaten kam. Der reaktionsträge (inerte) Stickstoff war an diesen biochemischen Prozessen nicht beteiligt, seine Konzentration stieg daher im Laufe der Zeit ständig an, bis er vor 3,4 Milliarden Jahren, als die Entwicklung der zweiten Atmosphäre ihren Abschluss fand, zu deren Hauptbestandteil wurde. Die Bildung der dritten Atmosphäre war eng mit dem Auftreten von freiem Sauerstoff verknüpft. Mit großer Wahrscheinlichkeit existierten bereits vor mehr als 3 Milliarden Jahren Cyanobakterien, die die oxygen-phototrophe Photosynthese nutzten. Der dabei freigesetzte Sauerstoff gelangte vorerst nicht in die Atmosphäre, sondern wurde bei der Oxidation verschiedener im Wasser gelöster Eisenverbindungen und Sulfide verbraucht. Erst nach Abschluss dieses lange andauernden Oxidationsvorgangs konnte der verfügbare Überschuss als freier Sauerstoff in die Atmosphäre vordringen. Dort löste er vor 2,4 Milliarden Jahren aufgrund seiner oxidativen Wirkung einen Zusammenbruch der Methankonzentration aus. Diese als Große Sauerstoffkatastrophe bezeichnete Zäsur führte zum Massenaussterben fast aller anaeroben Lebensformen und anschließend zu einem gravierenden Klimawandel. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass die 300 Millionen Jahre dauernde Paläoproterozoische Vereisung (auch Huronische Eiszeit genannt) die unmittelbare Folge aus Methanverknappung und Sauerstoffzunahme war. Gegen Ende des Präkambriums, möglicherweise auch etwas später, diffundierte Sauerstoff in signifikanten Mengen bis in die Stratosphäre, und es bildete sich auf der Basis des Ozon-Sauerstoff-Zyklus eine Ozonschicht. Diese schützte fortan die Erdoberfläche vor der UV-Strahlung der Sonne und ermöglichte so die spätere Besiedlung der Kontinente durch Flora und Fauna. Kurz nach Beginn des Erdaltertums nahm der atmosphärische Sauerstoffgehalt rasch zu. Er erreichte am Beginn des Karbon vor rund 350 Millionen Jahren erstmals den heutigen Wert von 21 Prozent und stieg gegen Ende der Periode bis auf 35 Prozent. Im weiteren Verlauf der Erd- und Klimageschichte war die Atmosphäre in Abhängigkeit von biologischen und geophysikalischen Einflüssen immer wieder starken Veränderungen unterworfen. Die Sauerstoff-, Kohlenstoffdioxid- und Methan-Konzentrationen schwankten zum Teil erheblich und spielten direkt oder indirekt eine entscheidende Rolle bei einer Reihe von Klimawandel-Ereignissen. Treibhausgase Obwohl es eine ganze Reihe von klimarelevanten Treibhausgasen wie Distickstoffmonoxid (Lachgas), Schwefelhexafluorid oder Carbonylsulfid gibt, sind in Bezug auf die klimatische Entwicklung in geologischen Zeiträumen nahezu ausschließlich Kohlenstoffdioxid (CO2) und Methan (CH4) von Bedeutung. Im Unterschied zu Stickstoff, Sauerstoff und allen Edelgasen sind Treibhausgase dank ihrer molekularen Struktur infrarot-strahlungsaktiv, das heißt, sie können Wärmeenergie bei Wellenlängen von 4,26 µm und 14,99 µm absorbieren und diese in Richtung Boden re-emittieren. Aufgrund dieses Treibhauseffekts erhöht sich die oberflächennahe Durchschnittstemperatur im mathematisch-physikalischen Modell um etwa 33 °C auf +15 °C. Ohne Treibhauswirkung würde die untere Atmosphäre im globalen Mittel lediglich −18 °C aufweisen und zu einer kompletten Vereisung des Planeten führen (wobei das Temperaturniveau aufgrund mehrerer Wechselwirkungen wahrscheinlich noch weiter absinken würde). Das wichtigste und in seiner Gesamtwirkung stärkste Treibhausgas ist der Wasserdampf, dessen Anteil am natürlichen Treibhauseffekt zwischen 36 und 70 Prozent schwankt. Da der atmosphärische Wasserdampfgehalt in starkem Maße von der Lufttemperatur abhängt, nimmt seine Konzentration bei niedrigeren Durchschnittstemperaturen ab und steigt während einer Erwärmungsphase an (Wasserdampf-Rückkopplung). Die atmosphärische Konzentration von Kohlenstoffdioxid wird üblicherweise in ppm (= Teile pro Million) angegeben, die von Methan in ppb (= Teile pro Milliarde). Bedingt durch menschliche Einflussnahme hat sich seit Beginn des Industriezeitalters der Gehalt an Kohlenstoffdioxid auf über 400 ppm erhöht (vorher 280 ppm) und der von Methan auf 1800 ppb (vorher 800 ppb). Dies sind die höchsten Konzentrationen seit mindestens 800.000 Jahren, dennoch gab es Epochen mit erheblichen größeren Anteilen, wie im Paläozoikum vor rund 500 Millionen Jahren, als die CO2-Konzentration zeitweise im Bereich von 5000 bis 6000 ppm lag. Vergleiche und Rückschlüsse zur Gegenwart sind allerdings problematisch, da die damaligen Bedingungen (unter anderem die verminderte Strahlungsleistung der Sonne und das komplette Fehlen von Landpflanzen) in keiner Weise auf das Holozän übertragbar sind. Nicht immer waren Kohlenstoffdioxid und/oder Methan die Hauptfaktoren eines Klimawandels. Manchmal fungierten sie in der Erdgeschichte als „Rückkopplungsglieder“, die begonnene Entwicklungen verstärkten, beschleunigten oder abschwächten. In diesem Zusammenhang sind neben den Erdbahnparametern auch Feedbackprozesse wie die Eis-Albedo-Rückkopplung, die Vegetationsbedeckung und die Variabilität des Wasserdampfgehaltes in der Atmosphäre zu berücksichtigen. Vor allem das Kohlenstoffdioxid trug in Form eines „CO2-Thermostats“ wesentlich dazu bei, dass der Temperaturkorridor der Erde über Jahrmilliarden relativ konstant blieb, so dass unter diesen Bedingungen flüssiges Wasser und damit verbunden das Leben existieren konnten. Dennoch kam es immer wieder zu Grenzsituationen, wie den Schneeball-Erde-Ereignissen im Neoproterozoikum oder dem Supertreibhaus an der Perm-Trias-Grenze, die gravierende Umweltveränderungen bewirkten. Vulkanismus Während Methan durch verschiedene biotische, chemische und geologische Prozesse entsteht, stammt das atmosphärische CO2 ursprünglich von den Ausgasungen vulkanischer und plattentektonischer Aktivitäten. Im Gegenzug wird Kohlenstoffdioxid durch Verwitterung und Sedimentation laufend in die Erdkruste eingelagert und auf diese Weise der Lufthülle beziehungsweise dem Ozean wieder entzogen. Somit entstehen mehrere, miteinander verknüpfte Kreisläufe unterschiedlicher Dauer, an denen Litho-, Hydro-, Bio- und Atmosphäre beteiligt sind. In der Lithosphäre, der äußeren Gesteinsschicht der Erde, sind über 99 Prozent des globalen Kohlenstoffvorrats von geschätzten 75 Millionen Gigatonnen gespeichert. Gegenwärtig emittieren die irdischen Vulkane ein „moderates“ CO2-Volumen von 180 bis 440 Megatonnen pro Jahr. Der anthropogene CO2-Ausstoß liegt einige Größenordnungen darüber und erreichte in den letzten Jahren rund 36 Gigatonnen. Eine kurze Phase intensiven Vulkanismus oder einzelne Ausbrüche mit der Stärke VEI-7 (wie der des Tambora im Jahr 1815) bewirken eine globale Abkühlung über mehrere Jahre, die vor allem auf der Dämpfung des Sonnenlichts durch Asche- und Aerosolpartikel beruht. Auf geologischen Zeitskalen sind Vulkane hingegen seit Beginn der Erdgeschichte ein wichtiger Faktor im langfristigen anorganischen Kohlenstoff-Kreislauf. Es gab Zeiten, wie während der Schneeball-Erde-Ereignisse im Neoproterozoikum oder im Kambrium, in denen die Kohlenstoffzyklen fast vollständig zum Stillstand kamen oder zumindest signifikant gestört waren und erst durch den permanenten vulkanischen CO2-Eintrag in die Atmosphäre wieder aktiviert wurden. Andererseits können lang andauernde Eruptionsprozesse die irdische Biosphäre erheblich destabilisieren. Nachfolgend sind einige folgenschwere klimatische und biologische Krisen der letzten 540 Millionen Jahre aufgeführt, an denen vulkanische Ereignisse maßgeblich beteiligt waren. Kalkarindji-Vulkanprovinz (Westaustralien), vor ca. 510 Millionen Jahren (Kambrium, Übergang 4. zur 5. Stufe). Das Kalkarindji-Ereignis, ausgelöst durch eine Serie von großflächigen Eruptionen, steht wahrscheinlich in direkter Verbindung mit dem ersten großen Massenaussterben von mehrzelligen Organismen aufgrund gravierender Klima- und Umweltveränderungen. Die damals freigesetzten Flutbasalte bedecken noch heute eine Fläche von 2 Millionen km². Durch die starke Zunahme anoxischer Zonen in den Ozeanen fiel schätzungsweise die Hälfte aller marinen Lebewesen der Katastrophe zum Opfer. Sibirischer Trapp (West- und Nordsibirisches Tiefland, Mittelsibirisches Bergland), vor ca. 250 Millionen Jahren (Perm-Trias-Grenze). Der Sibirische Trapp erstreckte sich ursprünglich über ein Gebiet von wahrscheinlich 7 Millionen km² und war mindestens 600.000 Jahre aktiv. Vieles deutet darauf hin, dass die vulkanischen Ausgasungen, die neben Kohlenstoffdioxid auch riesige Mengen an Schwefeldioxid und Stickoxiden freisetzten, maßgeblich zum größten bekannten Massenaussterben der Erdgeschichte am Übergang vom Perm zur Trias beitrugen. Dekkan-Trapp (Region Dekkan, westliches Indien), vor ca. 66 Millionen Jahren (Oberkreide/Maastrichtium). Die ursprüngliche Ausdehnung des Trapps dürfte 1,5 Millionen km² betragen haben. Über die Dauer seiner Entstehung gibt es unterschiedliche Angaben, die von 500.000 bis zu mehreren Millionen Jahren reichen. Als primäre Ursache des Massenaussterbens an der Kreide-Paläogen-Grenze kommt der Dekkan-Trapp nach überwiegender wissenschaftlicher Meinung wohl nicht in Frage, hingegen wird vielfach angenommen, dass durch ihn das irdische Ökosystem bereits vor dem Einschlag des Chicxulub-Meteoriten in einem noch unbekannten Ausmaß beeinträchtigt wurde. Supervulkane zählen hinsichtlich ihrer Explosivkraft und ihrer Auswurfmenge an Lava, Asche und Aerosolen zu den verheerendsten Ereignissen der jüngeren Erdgeschichte. Auf dem Vulkanexplosivitätsindex sind sie mit dem Wert VEI-8 in die höchste Kategorie eingestuft. Im Gegensatz zu den meisten anderen Vulkanen hinterlassen Supervulkane nach einem Ausbruch, bedingt durch die Größe ihrer Magmakammer, keine Vulkankegel, sondern riesige Calderen. Der letzte Ausbruch eines Supervulkans ereignete sich auf der nördlichen Hauptinsel Neuseelands vor rund 26.500 Jahren im Gebiet des heutigen . Ein weiterer Ausbruch fand mit der Toba-Explosion vor 74.000 Jahren auf Sumatra statt. Nach der kontrovers diskutierten Toba-Katastrophentheorie stand die damalige Menschheit kurz vor dem Aussterben und musste einen sogenannten „genetischen Flaschenhals“ passieren. Es gibt mehrere potenzielle Supervulkane, die bei einem erneuten Ausbruch die Kategorie VEI-8 erreichen könnten. Der bekannteste von ihnen befindet sich unter dem Yellowstone-Nationalpark im US-amerikanischen Bundesstaat Wyoming. Dieser Hot Spot ist seit mindestens 17 Millionen Jahren aktiv, wobei seine letzten Eruptionen im Durchschnitt etwa alle 650.000 Jahre erfolgten. Die Magmakammer des Yellowstone-Supervulkans besitzt ein Volumen von mindestens 15.000 km³. Da alle Supervulkan-Ausbrüche in prähistorischer Zeit stattfanden, lassen sich die Folgen nur in Umrissen dokumentieren. Wahrscheinlich sind das Auftreten heftiger Erdbeben sowie – je nach geographischer Lage des Vulkans – die Entstehung von Tsunamis. Durch den Ausstoß von pyroklastischem Material wurde in einem Umkreis von mindestens 100 km innerhalb kürzester Zeit jedes Leben vernichtet. Die mit vulkanischer Asche bedeckte Fläche war indes wesentlich größer und dürfte Millionen Quadratkilometer umfasst haben. Ereignisse dieser Größenordnung haben das globale Klima über Jahrzehnte oder darüber hinaus verändert und durch die in der Atmosphäre verteilten Aerosole und Staubpartikel einen vulkanischen Winter ausgelöst. Sehr wahrscheinlich kam es dabei zu lokalen Massenaussterben mit einer starken Abnahme der Biodiversität. Lage und Anordnung der Kontinente Nach geographischer Definition gibt es auf der Erde sieben Kontinente (wobei Nord- und Südamerika separat gezählt werden). Das über geologische Zeiträume erfolgte Auseinanderdriften der Kontinentalplatten und ihre weiträumig verteilte Anordnung sind das Ergebnis einer Entwicklung, die bereits vor mehr als 150 Millionen Jahren einsetzte. Während des Paläozoikums und über Teile des Mesozoikums prägten hingegen Groß- und Superkontinente das topografische Bild der Erde. Als Folge dieses Zusammenschlusses entstanden Luft- und Meeresströmungen, die erheblich von den gegenwärtigen Wettersystemen und Klimazonen abwichen. Als Superkontinent wird eine Landmasse bezeichnet, die nahezu alle Kontinentalplatten beziehungsweise Kratone in sich vereint. Seit dem Präkambrium ist eine Reihe von Superkontinenten bekannt, von denen einige aufgrund unzureichender stratigraphischer Belege nur hypothetischen Charakter haben. Dennoch gilt es als wahrscheinlich, dass die Entstehung und der Zerfall von Superkontinenten in plattentektonische Zyklen von jeweils mehreren Hundert Millionen Jahren eingebettet sind. Der erdgeschichtlich jüngste Superkontinent Pangaea existierte vom späten Paläozoikum bis in das Mesozoikum (vor 310 bis 150 Millionen Jahren), wenngleich erste Anzeichen eines Zerfalls bereits in der späten Trias auftraten. Auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung erstreckte sich Pangaea von der Nordpolarregion bis in die Antarktis und besaß einschließlich aller Schelfmeere eine Fläche von 138 Millionen km², wovon 73 Millionen km² auf die südliche Hemisphäre mit dem ehemaligen Großkontinent Gondwana entfielen. Kennzeichnend für Groß- und Superkontinente sind ein ausgeprägtes Kontinentalklima mit einer Jahres-Temperaturamplitude von bis zu 50 °C, großflächige Trocken- und Wüstengebiete im Landesinneren sowie eine gering ausgeprägte Artenvielfalt im Faunenbereich. Im Fall von Pangaea entstand zudem parallel zum Äquator zwischen 30° nördlicher und 30° südlicher Breite ein saisonal auftretender, sehr starker Monsun-Einfluss („Mega-Monsun“), von dessen Niederschlägen vor allem die küstennahen Regionen profitierten. Darüber hinaus lässt sich eine Grundbedingung für das Entstehen einer weiträumigen Vereisung – nämlich die Bedeckung von mindestens einer Polarregion durch große Landflächen – anhand der geographischen Position von Gondwana beziehungsweise Pangaea eindeutig belegenː Einige Regionen dieser Kontinente lagen über einen Zeitraum von mindestens 80 Millionen Jahren in der Antarktis oder in deren unmittelbarer Nähe, im Mississippium vor 359 bis 318 Millionen Jahren das heutige südliche Afrika sowie große Bereiche Südamerikas. In der zweiten Vereisungsphase (im Pennsylvanium vor 318 bis 299 Millionen Jahren) verlagerten sich die Kernzonen der Eisschilde im Zuge der allmählichen Drehbewegung von Pangaea auf die Kratone von Indien und Australien, ehe während des Dwyka-Glazials (bis vor 280 Millionen Jahren) das südliche Afrika (Namibia) erneut zum Zentrum einer Vereisung wurde. Die Permokarbone Eiszeit war das zweitlängste Eiszeitalter der Erdgeschichte. Es umfasste einen großen Teil des Karbon und endete im Verlauf des Perm vor etwa 265 bis 260 Millionen Jahren. Eine Kollision von Kontinentalschilden bewirkte stets eine Auffaltung der Krustengesteine und die Entstehung von Gebirgsketten (Kollisionsgebirge). Regelmäßig kam es dabei an den Plattengrenzen zu einem lang anhaltenden Vulkanismus mit entsprechendem Einfluss auf das globale Klima. Sobald sich die Verhältnisse stabilisierten und der Vulkanismus abflaute, wurden Verwitterungs- und Abtragungsprozesse zum dominierenden Klimafaktorː Sie entzogen der Atmosphäre große Mengen an Kohlenstoffdioxid und trugen auf diese Weise zu einer weltweiten Abkühlung bei. Verstärkt wurde dieser Vorgang durch den Umstand, dass erosionshemmende Graslandschaften eine relativ späte Entwicklung sind und erst im Känozoikum weltweit in Erscheinung traten. Nach einer mehr oder minder langen Phase tektonischer Ruhe brachen die Kontinentalschilde unter heftigen vulkanischen Eruptionen an ihren „Nahtstellen“ wieder auseinander, wodurch sich neue Klimazonen und ozeanische Strömungen etablieren konnten. Ein Beispiel hierfür bietet die heute etwa 480 Seemeilen breite Drakestraße, die den Atlantik mit dem Pazifischen Ozean verbindet. Bis vor 40 Millionen Jahren existierte zwischen Antarktika und Südamerika eine Landbrücke, ehe sich die Drakestraße unter ständiger Vertiefung allmählich zu öffnen begann. Dadurch entstand im Südpolarmeer die stärkste Meeresströmung der Erde, der Antarktische Zirkumpolarstrom, der Antarktika von nun an im Uhrzeigersinn umkreiste, den Kontinent von der Zufuhr wärmeren Meerwassers abschnitt und die Grundlage für die Bildung des Antarktischen Eisschildes schuf. Somit war Antarktika nicht nur geographisch, sondern auch thermisch isoliert. Die erste signifikante Vereisung im Oligozän vor mehr als 30 Millionen Jahren war gleichbedeutend mit dem Beginn des Känozoischen Eiszeitalters, und im Laufe des Pliozäns erreichte die Eisbedeckung erstmals die heutige Ausdehnung von etwa 14 Millionen km². Erdbahnparameter Die Annahme, dass langfristige Schwankungen des globalen Klimas auf zyklischen Veränderungen der Erdachse und der Erdumlaufbahn beruhen könnten, wurde verschiedentlich bereits in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts diskutiert. Eine vertiefende Darstellung auf der Grundlage komplexer Berechnungen gelang dem Geophysiker und Mathematiker Milutin Milanković (1879–1958). Seine Arbeit lieferte erstmals ein Erklärungsmodell für gravierende Klimawandel-Ereignisse, wie sie zuletzt während der Quartären Eiszeit auftraten und offenbar in engem Zusammenhang mit der Variabilität der Erdbahnparameter stehen. Das in jahrelanger Arbeit erstellte Erklärungsmodell von Milanković, dessen Zusammenfassung 1941 veröffentlicht wurde, berücksichtigt die periodisch erfolgenden Schwankungen der elliptischen Erdbahn (Exzentrizität), die Neigung der Erdachse sowie das Kreiseln des Erdkörpers um seine Rotationsachse (Präzession). Die Präzession wird im Wesentlichen durch gravitative Wechselwirkungen zwischen Sonne, Erde und Mond verursacht, an der unterschiedlich ausgeprägten Exzentrizität der Erdbahn sind darüber hinaus die Planeten Jupiter, Saturn und Venus beteiligt. Die nach Milanković benannten Zyklen haben eines gemeinsamː Jede ihrer Veränderungen beeinflusst automatisch die Verteilung und zum Teil die Intensität der Sonneneinstrahlung auf der Erde. Da nach gegenwärtiger Erkenntnislage (Stand 2021) die Milanković-Zyklen jedoch zu schwach sind, um als primärer Antrieb für die gesamte Klimageschichte in Frage zu kommen, scheinen sie im Klimasystem in erster Linie als „Impulsgeber“ zu fungieren. Bei der Modellierung von Klimaverläufen müssen daher zusätzliche Faktoren und Rückkopplungseffekte herangezogen werden. In der nachfolgenden Tabelle sind die wichtigsten Eckdaten der Milanković-Zyklen zusammengefasst. Die Milanković-Zyklen sind als signifikanter Klimafaktor über mehrere hundert Millionen Jahre nachweisbar, selbst in den vorwiegend tropisch geprägten Klimata der Kreidezeit. Vor allem der die Exzentrizität steuernde 405.000-Jahres-Zyklus bildete über weite Teile des Phanerozoikums einen stabilen kosmischen „Taktgeber“ und kann bis in die Obertrias vor etwa 215 Millionen Jahren zurückverfolgt und chronologisch eingeordnet werden. Nach 2019 veröffentlichten Erkenntnissen könnten die periodischen Veränderungen der Exzentrizität auch den Kohlenstoffkreislauf innerhalb der verschiedenen Erdsphären beeinflussen. Eine dauerhafte Wirkung entfalteten die Zyklen speziell während verschiedener Kaltzeiten, wobei ihr Einfluss auf den Verlauf der Quartären Eiszeit aufgrund deren zeitlicher Nähe gut modelliert werden kann. Dies führte in der Wissenschaft zu der Überlegung, ob ein hoher atmosphärischer Anteil an Kohlenstoffdioxid, wie ihn die Erdgeschichte fast durchgehend verzeichnete, das Veränderungspotenzial der Erdbahnparameter ab einem bestimmten Schwellenwert abpuffern und entsprechend dämpfen könnte. Jahrzehntelang nahm die Fachwelt von den als spekulativ beurteilten Milankovic-Zyklen kaum Notiz. Seit den 1980er Jahren ist die Theorie jedoch in modifizierter und erweiterter Form (unter Einbeziehung der von Milutin Milanković nicht berücksichtigten Erdbahnebene) zum festen Bestandteil von Paläoklimatologie und Quartärforschung geworden und wird zur Rekonstruktion der Eiszeitzyklen auf breiter Basis angewendet. Hypothetische extraterrestrische Einflüsse Supernovae und Gammablitze Schon 1954 vermutete der deutsche Paläontologe Otto Heinrich Schindewolf, dass möglicherweise kosmische Katastrophen für rasche Klima- und Faunenwechsel in der Erdgeschichte verantwortlich sein könnten, weshalb einschneidende Umweltveränderungen unter dem Aspekt einer Strahlenbelastung durch Supernovae-Ausbrüche geprüft werden sollten. Wahrscheinlich hätte die hochenergetische Strahlung einer erdnahen Supernova erhebliche Folgen für die irdische Atmosphäre, wie zum Beispiel durch die Umwandlung von Stickstoff in Stickoxide und einer daraus resultierenden Zerstörung der Ozonschicht. Vor allem das ordovizische Massenaussterben (spätes Ordovizium vor 440 Millionen Jahren) wird gelegentlich mit einer außerirdischen Ursache in Verbindung gebracht. Als Indiz für ein derartiges Ereignis gilt eine Supernova-Signatur in Form des Eisen-Isotops 60Fe. Dieses Isotop, das unter irdischen Bedingungen nicht entstehen kann und das eine Halbwertszeit von 2,62 Millionen Jahren besitzt (nach neuer Festlegung aus dem Jahr 2009), wurde in ozeanischen Sedimenten des frühen Quartärs (Gelasium-Stufe) vor 2,2 Millionen Jahren sowie im Unteren Pleistozän (Calabrium) vor 1,5 Millionen Jahren nachgewiesen. Astrophysikalischen Analysen zufolge stammen die 60Fe-Anomalien von Supernovae-Ausbrüchen in etwa 300 Lichtjahren Entfernung. Ob und wie weit die irdische Fauna damals durch harte Strahlung in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist noch nicht hinreichend geklärt. Seit dem ersten sicheren Beleg eines Gammablitzes (gamma-ray burst, abgekürzt GRB) im Jahr 1973 werden Gammablitz-Szenarien als Auslöser früherer Umweltkrisen diskutiert. Herkunft und Entstehung der meisten Gammablitze sind noch nicht restlos geklärt. Sie dauern häufig nur wenige Sekunden, setzen aber in diesem Zeitraum mehr Energie frei als die Sonne während ihrer gesamten bisherigen Existenz. Daher besteht zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass selbst weiter entfernte Gammablitz-Quellen das Potenzial besitzen, die irdische Biosphäre nachhaltig zu schädigen. Kosmische Strahlung Unter Kosmischer Strahlung (oder Kosmischer Höhenstrahlung) versteht man den im Normalfall relativ gleichmäßigen Partikelstrom aus verschiedenen Regionen des Universums, der mit den Gasmolekülen der äußeren Erdatmosphäre kollidiert, woraus ein Schauer sekundärer Teilchen entsteht. In neuerer Zeit wurde verschiedentlich versucht, einen Einfluss der kosmischen Strahlung auf das Klima in erdgeschichtlichen Zeiträumen nachzuweisen. Obwohl ein derartiger Zusammenhang nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, fand die Idee in der Fachwelt aufgrund des Fehlens einer belastbaren Datenbasis keine Akzeptanz. Somit bleibt die angenommene langfristige Wirkung der Kosmischen Strahlung auf das irdische Klima vorerst eine nur schwach abgesicherte Hypothese. Im CLOUD-Experiment am Kernforschungszentrum CERN wird seit 2009 der Einfluss von Ionen auf die Keimbildung von Aerosolen unter dem Aspekt klimatischer Relevanz untersucht. Weitere klimawirksame Faktoren Zusätzlich zu den oben beschriebenen Punkten gibt es eine Reihe weiterer Mechanismen, die in Abhängigkeit von den jeweils herrschenden Klimabedingungen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark ausgeprägt waren. Manche dieser Mechanismen sind in einen langfristigen Zyklus eingebunden, wie zum Beispiel die verschiedenen Formen der Verwitterungsprozesse, die während der gesamten Erdgeschichte ein wichtiger Einflussfaktor waren. Andere Faktoren kamen hingegen im Laufe von mehreren Hundert Millionen Jahren nur selten zur Geltung, konnten jedoch innerhalb geologisch kurzer Zeiträume die irdische Biosphäre nachhaltig umgestalten. Viele Klimakomponenten erfüllen die Funktion von „Stellschrauben“ in einem komplexen System, das auf jede Teilveränderung mit einer Veränderung der Gesamtstruktur reagiert. Deshalb sind klimatische Ereignisse auf monokausaler Basis praktisch ausgeschlossen, da selbst ein primär durch Treibhausgase verursachter weltweiter Temperaturanstieg (wie derzeit bei der globalen Erwärmung) mit einer Vielzahl von Wechselwirkungen verknüpft ist. Von den unten aufgeführten Faktoren kommt dem Effekt der schwächer werdenden Eis-Albedo-Rückkopplung gegenwärtig eine besondere Bedeutung zu, vor allem im Hinblick auf die Polare Verstärkung. Aerosole sind mit einem Trägergas verbundene flüssige oder feste Schwebeteilchen (Mineralstaub, Vulkan-Asche, natürliche und industrielle Verbrennungsprodukte). In Form von hygroskopischen Partikeln können Aerosole als Kondensationskerne die Wolkenbildung mit beeinflussen. Darüber hinaus tragen sie je nach Konzentration, chemischer Beschaffenheit und atmosphärischer Verteilung kurzfristig zu einer Abkühlung oder seltener zu einer Erwärmung des Klimas bei (Aerosol-Rückkopplung). Albedo ist das Maß des Rückstrahlvermögens nicht selbst leuchtender Oberflächen. Im Erdsystem ist die Albedo ein wichtiger Faktor in der Strahlungsbilanz. Zum Beispiel besitzen Eis- und Schneeflächen eine Albedo im Bereich von 0,85 (was einer Rückstrahlung von 85 Prozent entspricht), während freie Meeresoberflächen eine Albedo von ungefähr 0,2 aufweisen und demzufolge mehr Wärmeenergie aufnehmen als sie reflektieren. Die gesamte Albedo der Erde hängt wesentlich von der Ausdehnung der Ozeane, Eisschilde, Wüsten und Vegetationszonen ab und kann sich somit mittel- oder langfristig zusammen mit der Strahlungsbilanz verändern. Zu den biotischen Klimafaktoren gehört die massenhafte Verbreitung oder die weitgehende Reduzierung von Organismen, die durch Fixierung beziehungsweise Produktion von Treibhausgasen klimawirksame Effekte hervorrufen. In der Erdgeschichte waren dies zum Beispiel Korallen, verschiedene Methanbildner, das Phytoplankton, Foraminiferen oder Pflanzen wie der Schwimmfarn Azolla. Die Carbonat- und Silikatverwitterung ist ein bedeutender, über längere Zeiträume wirkender Klimafaktor, der in Abhängigkeit von den jeweiligen Umweltbedingungen wie Warm- oder Kaltzeiten unterschiedlich stark zur Geltung kommt. Durch chemische Verwitterungsprozesse wird der Atmosphäre permanent Kohlenstoffdioxid entzogen und in der Lithosphäre gebunden (lithogener Kohlenstoffkreislauf). Ein Teil des eingelagerten CO2 wird im Laufe von Hunderttausenden oder Millionen Jahren im Zuge des Carbonat-Silicat-Zyklus durch die Ausgasungen kontinentaler oder ozeanischer Vulkane der Atmosphäre wieder zugeführt. Die Eis-Albedo-Rückkopplung bezeichnet einen positiven Rückkopplungseffekt im Klimasystem, durch den während einer atmosphärischen Abkühlung die Schnee- und Eisbedeckung (vor allem der Polargebiete) weiter zunimmt. Die Eis-Albedo-Rückkopplung ist besonders beim Übergang von einer Warm- zu einer Kaltzeit von Bedeutung, da sie Vereisungs- und Abkühlungsprozesse beschleunigt und verstärkt. Impaktereignisse größeren Ausmaßes können nicht nur die Biosphäre in erheblichem Umfang destabilisieren und Massenaussterben wie jenes an der Kreide-Paläogen-Grenze verursachen, sondern auch das Klima über längere Zeiträume beeinflussen (abrupt einsetzender Impaktwinter mit anschließender starker Erwärmungsphase über mehrere zehntausend Jahre, unter Umständen auch länger). Auf der Erde wurden bisher etwa 180 Impaktstrukturen mit einer Größe von mehr als 5 bis 10 km nachgewiesen, davon nur etwa zwei Dutzend in ozeanischen Sedimenten. Somit besteht Grund zu der Annahme, dass relativ viele Impaktereignisse noch unbekannt sind und sich, wenn überhaupt, nur durch ein plötzliches Massenaussterben oder einen abrupten Klimawandel indirekt belegen lassen. Wahrscheinlich befinden sich darunter auch mehrere sehr große Einschläge, die erhebliche globale Auswirkungen hatten. Meeresspiegelschwankungen (Eustasie) beruhen auf zwei Hauptursachen, die sich im Laufe der Erdgeschichte häufig überlagert habenː 1. Änderungen des Meerwasservolumens durch die Bindung des Wassers in kontinentalen Eisschilden oder durch deren Abschmelzen (Glazialeustasie); 2. Änderungen des Ozeanbeckenvolumens infolge tektonischer Verschiebungen, beispielsweise durch Bildung neuer ozeanischer Kruste. Aufgrund dieser Prozesse sind mit entsprechenden Klimafolgen signifikante Hebungen oder Senkungen des Meeresspiegels im Bereich von 100 bis 200 Metern möglich. Die Plattentektonik bildet gewissermaßen den Motor für klimatische Veränderungen in geologischen Zeiträumen. Ihr Einfluss auf das Erdklima beschränkt sich dabei nicht nur auf die Entstehung vulkanischer Zonen, auch Faktoren wie Gebirgsbildungen, Lage und Größe der Kontinente und damit verbundene Wettersysteme beziehungsweise ozeanische Strömungen stehen mit der Plattentektonik in direktem Zusammenhang. Bedeutende paläoklimatische Ereignisse Die Erde bildete sich vor 4,57 Milliarden Jahren aus mehreren miteinander kollidierenden Protoplaneten unterschiedlicher Größe. Ihre heutige Masse soll sie der Kollisionstheorie zufolge durch einen Zusammenprall mit einem marsgroßen Himmelskörper namens Theia vor 4,52 Milliarden Jahren erhalten haben. Das Aufeinandertreffen Theias mit der Protoerde geschah laut Computerberechnungen mit der nach kosmischen Maßstäben geringen Geschwindigkeit von 4 km/s und war keine Frontalkollision (die beide Planeten zerstört hätte), sondern ein hartes Aneinanderschrammen. Dadurch wurden Teile des Erdmantels und zahlreiche Trümmerstücke von Theia in den Orbit geschleudert, aus denen sich innerhalb von 10.000 Jahren der zu Beginn glutflüssige Mond formte. Dessen Abstand zur Erde betrug anfangs lediglich 60.000 km (nach anderen Simulationen noch weniger und daher nur knapp über der Roche-Grenze). Die lunare Gravitationswirkung übertraf den heutigen Wert mindestens um das 125-fache und übte einen stark formenden Einfluss auf den noch ungefestigten Erdmantel aus. Dieser Effekt wurde dadurch verstärkt, dass die Dauer einer Erdrotation und somit die Tageslänge während des Hadaikums im Bereich von zehn bis zwölf Stunden lag. Als vor vier Milliarden Jahren die ersten Ozeane und vermutlich auch erste „Festlandsinseln“ entstanden, erzeugte der Gezeitenwechsel extreme Flutwellen, die unablässig über die Erde rollten. Ungefähr zur selben Zeit begann eine Serie von Impakt-Ereignissen, ausgelöst durch zahlreiche Planetesimale (Vorstufen von Protoplaneten). Dieses Große Bombardement (englisch Late Heavy Bombardment) geschah vor 4,1 bis 3,8 Milliarden Jahren und wurde nach der Analyse von Mondgestein postuliert, das während der Apollo-Missionen gesammelt wurde. Eine auf der Anzahl der bekannten Mondkrater basierende Berechnung ergab, dass über 20.000 Planetesimale mit einer Größe zwischen 1 km und 50 km innerhalb dieses Zeitraums auf die Erde gestürzt sein könnten. Allerdings wird in jüngeren Studien sowohl die Intensität als auch das relativ knapp bemessene Zeitfenster des Großen Bombardements zunehmend in Zweifel gezogen. Über die klimatischen Bedingungen der frühesten Erdgeschichte sind mangels verwertbarer Daten keine gesicherten Aussagen möglich. Erst ab der Zeit vor 3,8 Milliarden Jahren existieren fossile Spuren und geologische Proxys, aus denen sich überwiegend hypothetische Rückschlüsse auf das Klimasystem ableiten lassen. Auf Basis dieser fragmentarischen Hinweise wird angenommen, dass mit Ausnahme der vermutlich lokalen Pongola-Vereisung vor 2,9 Milliarden Jahren im gesamten Archaikum, bedingt durch hohe Treibhausgas-Konzentrationen, ein relativ warmes Klima herrschte. Diese Phase endete im frühen Proterozoikum mit dem Übergang in eine lange währende Eiszeit. Paläoproterozoische Vereisung Die Paläoproterozoische Vereisung oder Huronische Eiszeit (nach dem Huronsee an der Grenze zwischen den USA und Kanada) begann vor 2,4 Milliarden Jahren und war mit einer Dauer von etwa 300 Millionen Jahren das längste Eiszeitalter der Erdgeschichte. Geologische Klimazeugen aus dieser Epoche sind unter anderem in Nordamerika, Skandinavien, Indien sowie im südlichen Afrika zu finden und deuten auf einen globalen Kälteeinbruch hin. Etliche Studien nehmen zusätzlich mindestens ein Schneeball-Erde-Ereignis an, das zu einer vollständigen Eisbedeckung der Erde einschließlich der äquatorialen Zone und der Ozeane führte. Die Klimamechanismen der Paläoproterozoischen Vereisung sind nur lückenhaft dokumentiert, da über Art und Umfang der damaligen plattentektonischen Prozesse wie Gebirgsbildungen beziehungsweise über das Größenverhältnis zwischen ozeanischer und kontinentaler Erdkruste keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen. Ebenfalls auf Grund des großen Zeitabstands kaum nachweisbar ist der für spätere Eiszeitalter typische Wechsel verschiedener Kalt- und Warmzeiten. Allgemeine Akzeptanz findet hingegen die Hypothese, dass das Eiszeitklima des frühen Paläoproterozoikums eng mit der Großen Sauerstoffkatastrophe (englisch Great Oxigenation Event) vor 2,4 Milliarden Jahren verknüpft sein könnte. Am Beginn des Paläoproterozoikums wies die irdische Atmosphäre eine relativ hohe Methankonzentration, aber nur geringe Spuren an freiem Sauerstoff auf. Zwar produzierten Cyanobakterien schon vor mehr als 3 Milliarden Jahren mittels der oxygenen Photosynthese als „Abfallprodukt“ ihres Stoffwechsels große Mengen an O2, doch wurde der Sauerstoff bei der Oxidation von organischen Verbindungen, Schwefelwasserstoff und zweiwertigen Eisen-Ionen Fe2+ in dreiwertige Eisen-Ionen Fe3+ vollständig verbraucht. Dieser Prozess war unmittelbar mit der Entstehung von Bändereisenerz verknüpft (englisch Banded Iron Formation), ein eisenhaltiges Sedimentgestein, das hauptsächlich im Präkambrium abgelagert wurde und das sich unter den heutigen Bedingungen nicht mehr bilden könnte. Nach Abschluss dieser intensiven Oxidationsphase trat ein Überschuss an freiem Sauerstoff ein, der sich sowohl in der Atmosphäre als auch im Ozean anzureichern begann. Letzteres führte zum Massenaussterben obligat anaerober Organismen in den bisher sauerstofffreien Biotopen, die der toxischen Wirkung des Sauerstoffs fast vollzählig zum Opfer fielen. Dieses Ereignis zählt zu den größten Krisen in der Geschichte der Lebens, gleichwohl eröffnete es der Evolution neue Wege im Hinblick auf eine effizientere Nutzung des Energiestoffwechsels bei vielen Lebensformen. In der Atmosphäre oxidierte der Sauerstoff mithilfe der UV-Strahlung den größten Teil des Methanvorkommens zu Kohlenstoffdioxid und Wasser. Da Methan über ein erheblich größeres Treibhauspotenzial als CO2 verfügt, kam es in der Folge zu einem abrupten Klimawandel, und die Temperaturen sanken für 300 Millionen Jahre auf ein eiszeitliches Niveau. Der atmosphärische Sauerstoffanteil war bis in das Neoproterozoikum hinein nur unwesentlichen Schwankungen unterworfen und pendelte zumeist zwischen 2 und 3 Prozent. Erst mit Beginn des Kambriums vor rund 540 Millionen Jahren trat allmählich eine signifikante Erhöhung ein. Die Schneeball-Erde-Hypothese Die ausgeprägten Eiszeitzyklen im späten Proterozoikum hinterließen eine Vielzahl deutlicher Spuren auf fast allen Kontinenten. Eine präzise zeitliche Einordnung dieser Kaltphasen war bis vor Kurzem mit großen Unsicherheiten behaftet und konnte erst in jüngster Zeit genauer bestimmt werden. Allgemein anerkannt sind die vier folgenden neoproterozoischen Glazial-Ereignisse: Kaigas-Eiszeit, vor etwa 740 Millionen Jahren (wahrscheinlich nur regional) Sturtische Eiszeit, vor etwa 717 bis 660 Millionen Jahren (globale Vereisung, möglicherweise in mehreren Phasen) Marinoische Eiszeit, vor etwa 640 bis 635 Millionen Jahren (globale Vereisung) Gaskiers-Eiszeit, vor etwa 580 Millionen Jahren (wahrscheinlich nur regional, Dauer kürzer als 1 Million Jahre) Einige Indizien sprechen dafür, dass sich während der Sturtischen und der Marinoischen Eiszeit eine Serie von Schneeball-Erde-Events ereignete, mit einer völligen Vereisung aller Landmassen und Ozeane über eine Dauer von jeweils mehreren Millionen Jahren. Eine wesentliche Stütze dieser relativ jungen Hypothese, die seit den 1990er Jahren umfassend geprüft wird, sind mächtige glazigene Ablagerungen, die an vielen Orten der Erde zu finden sind und die sich paläomagnetischen Untersuchungen zufolge zum Teil in unmittelbarer Äquatornähe gebildet haben. Als mögliche Ursache der wiederkehrenden Vereisungsvorgänge wird eine zyklische Klimakonstellation unter Einbeziehung von Plattentektonik, Verwitterung, Abtragung und Kohlenstoffdioxid-Bindung angenommen, die sich solange wiederholte, bis eine oder mehrere ihrer Komponenten (beispielsweise durch Kontinentalverschiebungen) aus dem Kreislauf ausscherten. Zusätzlich könnte eine selbstverstärkende Eis-Albedo-Rückkopplung die weltweite Abkühlung auf bis zu −50 °C gefördert und erheblich beschleunigt haben. Der natürliche Kohlenstoffzyklus kam auf diese Weise fast zum Erliegen, und in den Meeren sank die Biomasseproduktion auf ein Minimum. Dies änderte sich erst, als das ungenutzte atmosphärische Reservoir vulkanischer CO2-Emissionen einen extrem hohen Schwellenwert erreichte (eventuell im Bereich von 100.000 ppm), der das Dauerfrost-Klima zum Kippen brachte und ein globales Tauwetter auslöste. Innerhalb von etwa 40.000 Jahren verwandelte sich die Erde von einem tiefgefrorenen Schneeball unter chaotischen Umweltbedingungen (Starkregen, Wirbelstürme, extrem rascher Meeresspiegelanstieg um mehrere hundert Meter) in ein „Supertreibhaus“ mit tropischen Temperaturen von mindestens 40 °C. Obwohl das plakative Bild von der Erde als riesigem Schneeball eine gewisse Popularität erlangte und auch außerhalb der Fachliteratur zirkulierte, mehrten sich die Stimmen, die der Hypothese entschieden widersprachen. Einige der ermittelten Datensätze sind nach Ansicht der Kritiker nicht ausreichend verifiziert oder lassen sich mehrdeutig interpretieren, was unter anderem zum Gegenentwurf einer „Matschball-Erde“ führte. Vor allem jedoch hätte eine viele Millionen Jahre dauernde Komplettvereisung die Photosynthese sauerstoffproduzierender Organismen verhindert und zum Aussterben fast aller marinen Lebewesen geführt. Wie die meisten Details des Schneeball-Szenarios ist auch dieser Kritikpunkt ein Gegenstand kontroverser wissenschaftlicher Diskussionen. Fest steht (Stand 2014) nur, dass die Schneeball-Erde-Hypothese weder bestätigt noch widerlegt ist und deshalb einer weiteren Überprüfung bedarf. Auf die Gaskiers-Eiszeit folgte eine Reihe von kleineren, räumlich begrenzten Vereisungsphasen, deren genauere Erforschung im Hinblick auf Dauer und zeitliche Einordnung erst am Anfang steht. Während des gesamten Ediacarium und bis in das frühe Paläozoikum hinein herrschten offenbar stark schwankende Klimabedingungen, die auf erhöhte plattentektonische Aktivitäten mit permanentem Vulkanismus hindeuten. Insgesamt zeichnete sich eine Tendenz zu einer globalen Erwärmung ab, und der Sauerstoffgehalt stieg zuerst in den Ozeanen und ab dem Kambrium auch in der Atmosphäre signifikant an. Diese Zunahme gilt als Grundvoraussetzung für das Erscheinen erster komplexer Eukaryoten und für die Entwicklung der Ediacara-Fauna. Massenaussterben im Paläozoikum Nach Aussage des australischen Meeresbiologen John Veron lassen sich Massenaussterben (englisch Mass Extinction Events) in zwei verschiedene Kategorien einordnen: nämlich ob sie durch eine unmittelbare Mitwirkung des Kohlenstoffzyklus verursacht wurden oder ob sie unabhängig davon stattfanden. Eine biologische Krise durch eine extrem rasche Zu- oder Abnahme der Treibhausgas-Konzentration würde beispielsweise unter die erste Kategorie fallen, während Impakt-Katastrophen oder eine plattentektonisch bedingte Absenkung des Meeresspiegels der zweiten Gruppe zugeordnet werden. Umfassende Analysen bekannter Massenaussterben führten in letzter Zeit zu einem vertieften Verständnis der Mechanismen und Zusammenhänge dieser Ereignisse. Die Fachliteratur zu diesem Themenbereich hat sich seit den 1980er Jahren annähernd verzehnfacht und berücksichtigt zunehmend interdisziplinäre Forschungen. Daraus resultierte die Erkenntnis, dass Massenaussterben nicht zwangsläufig an langfristige geologische Prozesse gekoppelt sein müssen, sondern häufig einen katastrophischen und zeitlich eng begrenzten Verlauf genommen haben. Zudem spricht eine wachsende Zahl von Belegen für die Annahme, dass fast alle bekannten Massenaussterben der Erdgeschichte oder eine rasche Reduzierung der Biodiversität direkt mit gravierenden Klimawandel-Ereignissen und deren Folgen verknüpft waren. Kambrium Vor 541 Millionen Jahren begann mit dem geologischen System des Kambrium das Paläozoikum (Erdaltertum). Während der unmittelbar darauf stattfindenden Kambrischen Explosion entstanden innerhalb von nur 5 bis 10 Millionen Jahren die damaligen Vertreter fast aller heute existierenden Tierstämme inklusive ihrer seitdem nicht mehr veränderten morphologischen Baupläne. Diese rasche evolutive Entwicklung steht sehr wahrscheinlich in enger Verbindung mit einem tiefgreifenden Wechsel der Klima- und Umweltbedingungen. So zerbrach am Beginn des Kambriums der nach erdgeschichtlichen Maßstäben „kurzlebige“ Superkontinent Pannotia nach nur 50 Millionen Jahren unter starker Zunahme plattentektonischer Aktivitäten wieder in mehrere Teile. Dadurch gelangten erhebliche Mengen an Kohlenstoffdioxid und anderen vulkanischen Gasen in die Atmosphäre, und zudem formierten sich neue Klimazonen und Meeresströmungen. Unter klimatischen Gesichtspunkten war das Kambrium eine Periode mit zum Teil extrem erhöhtem Vulkanismus, mit Durchschnittstemperaturen um 20 °C und einer atmosphärischen CO2-Konzentration von über 5000 ppm. Diese Faktoren beeinflussten nachhaltig die chemische Beschaffenheit des Meerwassers, so dass die ozeanischen Lebensgemeinschaften durch Schwefeldioxid-Eintrag, Sauerstoffverknappung sowie Versauerung und damit verbundenem Absacken des pH-Werts häufig an ihre biologischen Grenzen gelangten. Darüber hinaus trat neueren Studien zufolge im späten Kambrium eine signifikante Störung des Kohlenstoffzyklus auf. Die rasche Zunahme der Biodiversität im Zuge der Kambrischen Explosion führte gleichzeitig zu einem rapiden Anstieg des sogenannten Hintergrundaussterbens, das als permanente Begleiterscheinung der biologischen Evolution in der ersten Hälfte des Paläozoikums und hier besonders im Kambrium ein sehr hohes Niveau erreichte. Eine Abgrenzung zwischen dem natürlichen Artenaustausch und einem Massenaussterben ist daher schwierig, zumal einige kambrische Schichten im Hinblick auf die fossile Überlieferung nur spärliches Material enthalten. Für das Kambrium werden zwei große und mehrere kleine Aussterbewellen angenommen, über deren Dauer und Intensität wenig bekannt ist. Ein kambrisches Massenaussterben vor 510 Millionen Jahren konnte jedoch vor kurzem rekonstruiert werden, wobei offenbar großflächige vulkanische Ausbrüche sowie die Bildung anoxischer Zonen in den Ozeanen dazu beitrugen, dass mindestens 50 Prozent aller marinen Arten ausstarben. Ordovizium Die Anden-Sahara-Eiszeit begann vor rund 460 Millionen Jahren im Oberen Ordovizium, erreichte ihren Höhepunkt auf der letzten ordovizischen Stufe des Hirnantiums und endete im Silur vor 430 Millionen Jahren. Anhand eiszeitlicher Ablagerungen kann die Bewegung des Großkontinents Gondwana über den Südpol in chronologischer Abfolge rekonstruiert werden. Der Kernbereich der Vereisung lag vor 450 bis 440 Millionen Jahren in der heutigen Sahara, wanderte dann westwärts in Richtung Südamerika (Brasilien und unteres Amazonasgebiet) und weitete sich vor 430 Millionen Jahren auf die Region der damals noch nicht existierenden Andenkette aus. Eine Besonderheit der Anden-Sahara-Eiszeit besteht darin, dass ungeachtet eines CO2-Levels von anfangs 4000 bis 5000 ppm eine langfristige globale Abkühlung einsetzte. Als Erklärungen werden die Kontinentalbedeckung der Antarktis, eine rasche Kohlenstoffdioxid-Bindung und ein verstärkter Verwitterungseffekt durch die zunehmende Ausbreitung der Landvegetation sowie eine möglicherweise größere Schwankungsbreite der Erdachse angeführt. Neben der kürzeren Tageslänge von 21,5 Stunden, die nach Modellsimulationen unter den damaligen Bedingungen ebenfalls einen Abkühlungsfaktor darstellte, muss vor allem die im Vergleich zur Gegenwart um 4,5 Prozent verminderte Sonneneinstrahlung berücksichtigt werden (Solarkonstante im Ordovizium 1306 W/m², aktuell 1367 W/m²). Auf dem Höhepunkt der Vereisungsphase ereignete sich vor 443 Millionen Jahren eines der folgenschwersten Massenaussterben der Erdgeschichte. Die Schätzungen zur Aussterberate der davon betroffenen Arten schwanken erheblich und belaufen sich auf bis zu 85 Prozent. Als Grund wird zumeist eine Kombination verschiedener Einflüsse wie die allgemeine Abkühlung, eine Senkung des Meeresspiegels sowie ein starker Vulkanismus angegeben. Nach einigen neueren Studien stellen nicht alleine das Glazialklima und die damit verbundene Absenkung des Meeresspiegels (mit einem Schwund mariner Flachwasserbiotope) den primären Aussterbefaktor dar, sondern auch geochemische Veränderungen wie die umfangreiche Freisetzung giftiger Schwermetalle beziehungsweise die weitgehende Reduzierung von Spurenelementen spielten eine gravierende Rolle. So erreichte die Konzentration des lebenswichtigen Spurenelements Selen am Übergang vom Ordovizium zum Silur offenbar nur einen Bruchteil des gegenwärtigen Niveaus und lag bei einigen späteren Massenaussterben ebenfalls am Minimum. Alternativ wurde verschiedentlich eine extraterrestrische Ursache in Form eines Gammablitzes vorgeschlagen. Zwar stimmt die rasche Dezimierung der die oberen Meereszonen bewohnenden Organismen mit der Strahlungshypothese überein, es fehlen jedoch darüber hinaus weitere faktische Belege. Abschnitt 2.2 Devon Kennzeichen des Devon ist eine biologische Doppelkrise: das Kellwasser-Ereignis an der Frasnium-Famennium-Grenze vor 372 Millionen Jahren und an der Schwelle vom Oberdevon zum Karbon 13 Millionen Jahre später das ähnlich ausgeprägte Hangenberg-Aussterben. Von den Ereignissen betroffen waren 70 Prozent aller marinen Lebensformen, vor allem die Faunengruppen flacher tropischer Meere, in denen periodisch anoxische Bedingungen auftraten. Die Biodiversität des Phytoplanktons nahm so stark ab, dass die ursprüngliche Artenvielfalt erst im Jura wieder erreicht wurde (Phytoplankton-Blackout). Die beiden devonischen Massenaussterben beruhen, nach dem Forschungsstand von 2013, auf einer Kombination verschiedener Faktoren, darunter auch einem kurzzeitigen Wechsel mehrerer Warm- und Kaltphasen. Diese wurden eventuell durch die zyklischen Veränderungen der Erdumlaufbahn mit verursacht und durch die verringerte Pufferwirkung des atmosphärischen CO2 entscheidend verstärkt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielte der sinkende Kohlenstoffdioxid-Anteil neben abrupten Meeresspiegelschwankungen und vulkanischen Einflüssen eine wichtige Rolle in der Krisenzeit der Kellwasser- und Hangenberg-Ereignisse. Zu Beginn des Devon noch weit jenseits der 1000-ppm-Schwelle liegend, wurden erhebliche Mengen CO2 der Atmosphäre entzogen und in der sich allmählich ausbreitenden Waldvegetation gespeichert. Möglicherweise waren an den Aussterbewellen und den klimatischen Veränderungen im Oberdevon auch einige große Impaktereignisse wie der australische Woodleigh- beziehungsweise der Alamo-Einschlag im heutigen Nevada direkt beteiligt. Die lange als rätselhaft geltende, nach dem Paläontologen Alfred Romer (1894–1973) benannte fossilarme Faunensituation (Romer-Lücke, englisch Romer’s gap), die über 15 Millionen Jahre bis weit in das Unterkarbon reicht, könnte in direktem Zusammenhang mit den vorhergehenden Massenaussterben stehen. Der karbonische Tropenwald-Kollaps In populären Darstellungen ist die „Steinkohlenzeit“ des Karbons oft ein Synonym für feuchtheiße Klimata und tropische Urwälder, die ganze Kontinente bedeckten. Dieses Bild entspricht nur teilweise den damaligen Gegebenheiten. Zwar setzte sich die seit dem Devon bestehende Tendenz zur Bildung ausgedehnter Wald- und Sumpflandschaften bis in das Oberkarbon fort, wobei Bärlapppflanzen wie die Schuppenbäume eine Größe bis 40 Meter erreichten. Doch selbst auf dem Höhepunkt der karbonischen Vegetationsausbreitung gab es in den kontinentalen Zentralbereichen große Trockengebiete mit wüstenähnlichem Charakter. Die globale Temperatur betrug zu Beginn des Karbons 20 °C, nahm jedoch über die Dauer der Periode stetig ab und entsprach mit einem Durchschnittswert von 14 °C ungefähr dem heutigen Niveau. Dieser Abwärtstrend steht in engem Zusammenhang mit dem Permokarbonen Eiszeitalter (Karoo-Eiszeit), das sich im Unterkarbon mit der beginnenden Vergletscherung der innerhalb des südlichen Polarkreises liegenden Landmassen ankündigte. Parallel zur Kaledonischen Gebirgsbildung verschmolzen bereits im Silur die beiden Kontinente Laurentia (Nordamerika) und Baltica (Nordeuropa und Russische Tafel) zum neuen Großkontinent Laurussia, während auf der südlichen Hemisphäre der bis in antarktische Regionen reichende Großkontinent Gondwana dominierte. Im Laufe des Devons rückten Laurussia und Gondwana immer enger zusammen, um sich im Oberkarbon zum Superkontinent Pangaea zu vereinigen. Die Kollision der beiden Kontinentalplatten bewirkte einesteils die Entstehung des Variszischen Hochgebirges und unterbrach zum anderen als riesige Festlandsbarriere den Wasser- und Wärmeaustausch der äquatorialen Meeresströmungen. Als Folge der eingeschränkten ozeanischen Zirkulation verstärkte sich der im Karbon herrschende Abkühlungstrend. Das durch den plattentektonischen Prozess der Variszischen Gebirgsbildung freigesetzte Kohlenstoffdioxid wurde aufgrund beschleunigter Verwitterungsvorgänge und vor allem durch die Biomasseproduktion der karbonischen Flora mit anschließender Inkohlung der Atmosphäre rasch wieder entzogen. Demzufolge sank das atmosphärische Kohlenstoffdioxid gegen Ende der Epoche erstmals in der Erdgeschichte unter 400 ppm und nahm am Beginn des Perms weiter ab. Im Gegensatz dazu erreichte der Sauerstoffgehalt den Rekordwert von 35 Prozent. Die hohe O2-Konzentration ermöglichte das Größenwachstum verschiedener Gliederfüßer wie der Riesenlibelle Meganeura oder des Tausendfüßers Arthropleura, barg jedoch die Gefahr großflächiger Waldbrände. In den letzten Millionen Jahren des Karbons herrschte ein relativ rascher Wechsel verschiedener Klimazustände, die in hohem Maße von den zyklischen Veränderungen der Erdbahnparameter gesteuert wurden, mit stark schwankenden CO2-Konzentrationen von 150 bis 700 ppm und entsprechenden Schwankungen des Meeresspiegels. Unter Berücksichtigung der im Vergleich zu heute um etwa 3 Prozent verminderten Sonneneinstrahlung erreichten die globalen Durchschnittstemperaturen in dieser Zeit während einer Warmphase 12 bis 14 °C und stiegen in einer Glazialperiode nur wenig über den Gefrierpunkt. Vor 305 Millionen Jahren kam es im Kasimovium aufgrund scharfer Klimaeinschnitte und zunehmender Trockenheit zum Zusammenbruch der in Äquatornähe angesiedelten Regenwälder (englisch Carboniferous Rainforest Collapse) und damit zum ersten pflanzlichen Massenaussterben. Die tropischen Wälder wurden innerhalb einer geologisch sehr kurzen Zeitspanne bis auf einige Vegetationsinseln dezimiert, und ebenso verschwanden viele Feucht- und Sumpfgebiete. Vom Verlust dieser Lebensräume besonders betroffen waren viele der damaligen Amphibien, von denen die meisten Arten ausstarben. Im späten Karbon und während des Übergangs zum Perm entstanden neue Waldbiotope, die an ein arides Klima mit jahreszeitlich bedingten Temperaturschwankungen angepasst waren, wie zum Beispiel die kälteresistente und laubabwerfende Glossopteris-Flora in den südlichen Regionen von Gondwana, die sich dort zum vorherrschenden Pflanzentypus entwickelte. Im frühesten Perm sanken die atmosphärischen CO2-Werte laut einer Studie von 2017 kurzzeitig auf ein Level um 100 ppm oder sogar darunter. Falls sich diese Annahme bestätigt, rückte das Erdsystem damals in die unmittelbare Nähe jenes Kipppunkts, der den Planeten in den Klimazustand einer globalen Vereisung überführt hätte, vergleichbar den Schneeball-Erde-Ereignissen im Neoproterozoikum. Die Perm-Trias-Krise Die erste ökologische Krise des Perm ereignete sich vor 262 Millionen Jahren kurz nach dem Ende der Permokarbonen Eiszeit im Capitanium. Die aus dieser Epoche schon länger bekannte Faunenreduzierung in tropischen Regionen scheint nach neueren Untersuchungen eine globale Krise gewesen zu sein, die in einem Massenaussterben gipfelte. Als Ursache wird ein umfangreicher Kohlenstoff- und Schwefeldioxid-Eintrag in die Ozeane mit Bildung anoxischer Zonen und starker Versauerung des Meerwassers angenommen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit den gleichzeitigen vulkanischen Aktivitäten des Emeishan-Trapp im heutigen Südchina. Knapp 10 Millionen Jahre später geschah an der Perm-Trias-Grenze das wahrscheinlich umfassendste Massenaussterben der Erdgeschichte, begleitet von einem nach geologischen Begriffen rapiden Klimawandel mit gravierenden Auswirkungen auf die Artenvielfalt von Flora und Fauna. Als Hauptursache favorisiert werden heftige vulkanische Aktivitäten mit extrem hohen Ausgasungen im Gebiet des heutigen Sibirien, die mehrere Hunderttausend Jahre andauerten und dabei sieben Millionen km² mit Basalt bedeckten (was etwa 80 Prozent der Fläche Australiens entspricht). Bis zum Beginn der Trias starben 96 Prozent aller Meeresbewohner und 75 Prozent der Landlebewesen aus. Davon betroffen waren – ein bis heute singuläres Ereignis – auch zahlreiche Insektenarten. Die Rekonstruktion der Geschehnisse lässt auf mehrere Erwärmungsphasen schließen. Durch die magmatischen Aktivitäten des Sibirischen Trapp wurden über einen längeren Zeitraum schätzungsweise mehr als 100 Billionen Tonnen Kohlenstoffdioxid freigesetzt, wodurch sich die globale Temperatur in relativ kurzer Zeit um 5 °C erhöhte. Der Sibirische Trapp emittierte darüber hinaus erhebliche Mengen Chlorwasserstoff sowie Schwefeldioxid, das als Schwefelsäure im Regenwasser gleichermaßen ozeanische und kontinentale Biotope schädigte. Analysen der 18O/16O-Isotope aus dieser Zeit dokumentieren eine rasche Erwärmung der oberen Meeresschichten um mindestens 8 °C. Die Temperaturzunahme begünstigte nicht nur die Bildung und Ausbreitung anoxischer Zonen, sondern ließ auch die Meere in zunehmendem Maße versauern. Das rapide Absinken des pH-Werts gilt als eine der Hauptursachen für das fast vollständige Verschwinden der ozeanischen Lebensformen. Ein weiterer Effekt trat durch die Destabilisierung der Methanhydrat-Lagerstätten der ozeanischen Schelfgebiete ein, wodurch große Mengen an Methan in die Atmosphäre diffundierten. Das zusätzliche Treibhauspotential entsprach einem CO2-Äquivalentwert von über 3000 ppm und führte in der nächsten Phase zu einem Temperatursprung von nochmals 5 °C. Der Sauerstoffgehalt sank aufgrund der inzwischen stark dezimierten Vegetationsbedeckung auf ein Minimum im Bereich von 10 bis 15 Prozent. Als eine weitere mögliche Ursache für die Destabilisierung der Biosphäre wird die Massenvermehrung mariner Einzeller genannt, die ihre Stoffwechselprodukte in Form von Schwefelwasserstoff oder Methan an die Atmosphäre abgaben. Für die Dauer des Perm-Trias-Massenaussterbens galten bis vor kurzem rund 200.000 Jahre als realistischer Wert. Laut einer Studie von 2014 reduziert sich dieser Zeitraum auf etwa 60.000 Jahre (± 48.000 Jahre). Eine 2018 veröffentlichte Arbeit postuliert hingegen auf der Basis neuer Befunde für die biologische Krise ein schmales Zeitfenster von wenigen Jahrtausenden bis maximal 30.000 Jahren. Der weltweite Zusammenbruch fast aller Ökosysteme konnte mithilfe präziser Nachweisverfahren auf das oberste Perm vor 251,94 Millionen Jahren datiert werden. Die aktuelle Datenlage spricht für eine nach geologischen Maßstäben plötzlich ausbrechende Katastrophe und schließt allmähliche Umweltveränderungen nahezu aus. Über den oder die Auslöser der Perm-Trias-Krise gibt es derzeit mehrere Hypothesen, darunter auch die Annahme eines großen Meteoriteneinschlags. Im Jahr 2006 wurde anhand von Satellitendaten in der südpolaren Wilkesland-Region eine Schwereanomalie festgestellt. Radarbilder lieferten Hinweise auf die Existenz eines 480 km großen Einschlagkraters tief unter dem antarktischen Eisschild mit einem vermutlichen Alter von 250 Millionen Jahren. Damit wäre der Wilkesland-Krater der größte bekannte Impakt der Erdgeschichte, dessen Zerstörungspotenzial das des Chicxulub-Meteoriten an der Kreide-Paläogen-Grenze erheblich übertroffen hätte. Solange jedoch kein direkter Nachweis erfolgt, zum Beispiel durch geologische Tiefenbohrungen, gilt der Wilkesland-Einschlag vorerst als hypothetisches Ereignis. Ein weiteres großes Massenaussterben fand vor 201,5 Millionen Jahren an der Trias-Jura-Grenze statt (englisch Triassic-Jurassic Extinction Event). Für dieses Ereignis wird ebenfalls ein Megavulkanismus als primäre Ursache angenommen (Zentralatlantische Magmatische Provinz), mit vergleichbaren klimatischen Auswirkungen wie die Eruptionen des Sibirischen Trapps. Auch in diesem Fall erfolgte das Verschwinden vieler Faunengruppen innerhalb von wenigen 10.000 Jahren. Ozeanische anoxische Ereignisse Ozeanische anoxische Ereignisse (englisch Anoxic Oceanic Events, abgekürzt OAE) in der Erdgeschichte beruhten auf einem Sauerstoff-Defizit (unter 2 mg/l) vor allem in tropischen Flachwassermeeren. Davon ausgenommen war lediglich die jeweils oberste durchmischte Wasserschicht. Die letzten bekannten OAEs traten während des Paläozän-Eozän-Temperaturmaximums (PETM) vor mehr als 50 Millionen Jahren auf. Im Mesozoikum und sehr wahrscheinlich auch im Paläozoikum waren OAEs häufig mit einer Reihe von Aussterbe-Ereignissen verknüpft. Ein signifikantes anoxisches Ereignis basiert im Normalfall auf mehreren Voraussetzungen: eine atmosphärische Kohlenstoffdioxid-Konzentration von deutlich über 1000 ppm ein weltweit subtropisches bis tropisches Klima und gleichzeitige Erwärmung der Ozeane mit entsprechend reduzierter Sauerstoffbindung (aus dem Oberen Ordovizium ist allerdings ein OAE während einer globalen Abkühlung dokumentiert) eine zum Stillstand gekommene Tiefenwasserzirkulation zwischen den Polarregionen und dem Äquator die Überdüngung der Meere mit festländischen Verwitterungsprodukten aufgrund rasch verlaufender Erosionsprozesse Gegenwärtig gibt es mit stark zunehmender Tendenz einige hundert hypoxische oder anoxische Zonen (englisch oft Dead Zones genannt) mit einer Gesamtausdehnung von rund 250.000 km², wie zum Beispiel die Ostsee, die nördliche Adria oder das Mississippidelta im Golf von Mexiko. Für das kreidezeitliche OAE 2 wird angenommen, dass 5 Prozent des gesamten Meerwasservolumens sauerstofffrei waren, wobei im Zuge des großen Massenaussterbens während der Perm-Trias-Krise das anoxische Milieu erheblich umfangreicher gewesen sein dürfte. Ausgeprägte anoxische Ereignisse erstreckten sich mindestens über mehrere hunderttausend Jahre, konnten in Ausnahmefällen jedoch mehr als 2 Millionen Jahre andauern. Regelmäßige Begleiterscheinungen einer Sauerstoffverknappung waren eine das Meerwasser grün färbende Algenblüte sowie die bakterielle Erzeugung von großen Mengen an Schwefelwasserstoff (H2S), dessen Geruch nach faulen Eiern weite Küstenbereiche erfasst haben dürfte. Ein Indikator für die Bestimmung anoxischer Ereignisse sind die in einer sauerstofffreien Umgebung entstandenen marinen Schwarzschiefersedimente, die sich aus Faulschlamm am Grund des Ozeans bilden und gehäuft in kreidezeitlichen Ablagerungen vorkommen. Da das Alter der ozeanischen Kruste begrenzt ist, beschränkt sich die Suche nach OAEs vor mehr als 150 bis 200 Millionen Jahren zumeist auf Sedimentschichten, die inzwischen auf dem heutigen Festland liegen. Kreide-Paläogen-Grenze (früher Kreide-Tertiär-Grenze) Im Juni 1980 publizierte das Forschungsteam um den Physiker und Nobelpreisträger Luis Walter Alvarez und dessen Sohn, den Geologen Walter Alvarez, die Entdeckung einer Iridium-Anomalie an der Kreide-Paläogen-Grenze. Die sich daraus ergebende Annahme eines großen Asteroideneinschlags, der zum Aussterben unter anderem der Dinosaurier führte, war der Beginn einer langen Diskussion über das Für und Wider der von Vater und Sohn Alvarez vorgelegten Hypothese. Auf der Suche nach der möglichen Einschlagstelle des Impaktors fand man 1991 auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán einen von jüngeren Sedimenten bedeckten, 180 km großen Krater unterhalb der Ortschaft Chicxulub Puerto. Damit war die Wissenschaftskontroverse um den sogenannten Chicxulub-Einschlag jedoch nicht beendet. Auch wenn der Krater hinsichtlich Alter und Größe dem Anforderungsprofil eines „Global Killers“ entsprach, wurden mehrere Gegenhypothesen vorgebracht, darunter jene, dass nicht der Impakt, sondern der magmatische Ausbruch der indischen Dekkan-Trapps das Massenaussterben an der K-P-Grenze forciert hatte. Zudem schienen Sedimentuntersuchungen zu bestätigen, dass der Chicxulub-Krater 300.000 Jahre vor der eigentlichen K-P-Grenzschicht entstanden war. Diese „Vordatierung“ stieß von Anfang an auf Kritik und wird angesichts der jüngsten Forschungsergebnisse als sehr unwahrscheinlich eingestuft. Die Anwendung verfeinerter Datierungsmethoden und Analysetechniken mit sehr geringen Toleranzbereichen führte zu dem Resultat, dass das Impaktereignis und die K-P-Grenzschicht zeitlich präzise übereinstimmen. Auch der dem Einschlag folgende Impaktwinter gilt inzwischen als faktisch gesichert. In der Wissenschaft bestand bis vor kurzem größtenteils Einigkeit darüber, dass am Ende der Kreide die Biodiversität und die Stabilität der Ökosysteme im Schwinden begriffen waren. Nunmehr gibt es vermehrt Hinweise, dass die ökologische Situation im späten Maastrichtium gefestigter war als lange Zeit angenommen. Somit blieb es dem Impakt vorbehalten, den Schlusspunkt für die mesozoische Faunenwelt zu setzen. Neuere Untersuchungen kommen deshalb zu dem Ergebnis, dass alleine der Chicxulub-Einschlag das Massenaussterben an der Kreide-Paläogen-Grenze ausgelöst hat. Das wahrscheinlichste Szenario geht davon aus, dass vor 66,04 Millionen Jahren (± 32.000 Jahre) ein etwa 10 km großer Asteroid mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/s (72.000 km/h) im Gebiet des heutigen Golf von Mexiko in einem tropischen Flachmeer detonierte. Der Impaktor verdampfte dabei innerhalb einer Sekunde, schleuderte aber durch die Wucht der Explosion, die wahrscheinlich auf dem gesamten Erdball zu vernehmen war, einige tausend Kubikkilometer Carbonat- und Evaporitgestein über weite Strecken als glühende Ejekta bis in die Stratosphäre. Neben den unmittelbaren Auswirkungen des Einschlags wie Megatsunamis, einer überschallschnellen Druckwelle sowie Erdbeben im Bereich der Stärke 11 oder 12 traten weltweit Flächenbrände auf, deren Ausdehnung und Dauer derzeit noch diskutiert wird. Innerhalb weniger Tage verteilte sich in der gesamten Atmosphäre eine große Menge an Ruß- und Staubpartikeln, die das Sonnenlicht über Monate hinweg absorbierten und einen globalen Temperatursturz herbeiführten. Ein zusätzlicher Abkühlungsfaktor war möglicherweise eine atmosphärische Schicht von Schwefelsäure-Aerosolen, die laut einer aktuellen Untersuchung einen Temperatursturz von 26 °C bewirkt haben könnten und entscheidend dazu beitrugen, dass die globale Durchschnittstemperatur für einige Jahre unter dem Gefrierpunkt lag, mit dramatischen Folgen für die gesamte Biosphäre. Von dieser Krise waren die ozeanischen und festländischen Ökosysteme gleichermaßen betroffen. 75 Prozent der Arten fielen dem Massenaussterben innerhalb eines nicht genau zu bestimmenden Zeitraums zum Opfer, darunter nicht nur die Saurier, sondern auch die Ammoniten, fast alle kalkschalenbildenden Foraminiferen sowie in hohem Ausmaß die Vögel. Nach einer vermutlich mehrere Jahrzehnte dauernden Kältephase begann eine rasche, zu Hitzestress führende Erwärmung, bedingt durch Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid, die der Einschlag infolge der Verdampfung ozeanischer Böden freigesetzt hatte. Die Dauer des extremen Treibhauseffekts wird auf rund 50.000 Jahre geschätzt, ehe sich das Klima wahrscheinlich erst nach mehreren Hunderttausend Jahren endgültig stabilisierte. Eine im April 2015 von mehreren bekannten Geowissenschaftlern vorgelegte Hypothese geht davon aus, dass aufgrund der Impaktenergie von 3 × 1023 Joule und der dadurch ausgelösten tektonischen Schockwellen der lange „schwelende“ Dekkan-Trapp im heutigen West-Indien eine erhebliche Zunahme seiner Aktivität verzeichnete. Laut dieser Hypothese ist der kurzfristige Ausstoß von 70 Prozent aller Dekkan-Trapp-Flutbasalte auf den Chicxulub-Einschlag zurückzuführen. Darüber hinaus könnten umfangreiche Magmaausflüsse im Bereich der plattentektonischen Grenzen beziehungsweise Bruchzonen am Meeresboden aufgetreten sein. Die bisher wenig beachtete Möglichkeit eines direkten Zusammenhangs zwischen Asteroideneinschlag und verstärktem Flutbasalt-Vulkanismus wird in den Geowissenschaften derzeit intensiv diskutiert. Eine 2020 veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der wahrscheinliche Aufprallwinkel des Impaktors von 45 bis 60 Grad unter allen Einschlagsszenarien die maximale Zerstörungswirkung aufwies. Das Klima der Erdneuzeit (Känozoikum) Im Bemühen um eine möglichst genaue klimatologische Beschreibung des Känozoikums kommt zunehmend ein relativ neuer Forschungsansatz unter Einbeziehung astronomischer Faktoren zur Anwendung. Dies betrifft neben der Präzessionskonstante und der Neigung der Erdachse vor allem die langperiodischen Veränderungen der Exzentrizität, denen die Erdbahn über Zyklen von mehreren 100.000 Jahren unterworfen ist (→ #Erdbahnparameter). Der Einfluss dieses kosmischen „Taktgebers“ in Verbindung mit einer variierenden Sonneneinstrahlung hatte besonders während des Känozoischen Eiszeitalters sowohl Auswirkungen auf den Kohlenstoffkreislauf als auch auf die Klimaentwicklung und kann anhand der spezifischen Anteile der Kohlenstoff-Isotope 13C/12C in fossilen Organismen wie Foraminiferen sowie eines „Paläothermometers“ (das heißt der Sauerstoff-Isotopensignatur 18O/16O) nachgewiesen werden. Somit besteht die Möglichkeit, die Klimazustände der Erdneuzeit (von Hothouse über Warmhouse bis hin zu Coolhouse/Icehouse) in höherer zeitlicher Auflösung als bisher zu analysieren und deren Übergangsphasen präziser zu bestimmen. Neuere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass sich die känozoischen Warmklimaphasen im Hinblick auf die Dynamik von Kohlenstoffkreislauf und Klimaverlauf grundlegend vom „Eishauszustand“ unterscheiden, dessen komplexe und schwer berechenbare Eigenschaften wahrscheinlich auf dem Einfluss der Kryosphäre und somit auf den relativ raschen Schwankungen des polaren Eisvolumens beruhen. Paläogen Mit dem Känozoikum (weitgehend identisch mit dem früheren Tertiär) begann vor 66 Millionen Jahren die Erdneuzeit. Zu Beginn des Paläogens existierte mit den verbundenen Landflächen von Australien, Antarktika und Südamerika noch ein umfangreicher Rest des Großkontinents Gondwana. Dessen endgültiger Zerfall geschah vor 45 Millionen Jahren, als sich Australien von Antarktika löste und Südamerika wenig später diesem Trend folgte. Damit etablierte sich in der südlichen Hemisphäre ein System von Meeresströmungen, das bereits stark dem gegenwärtigen ähnelte. In der nördlichen Erdhälfte entstand in Zusammenhang mit der Bildung und Ausdehnung des Nordatlantiks die Nordatlantische Magmatische Großprovinz (englisch North Atlantic Igneous Province). Die magmatischen beziehungsweise vulkanischen Prozesse begannen bereits im unteren Paläozän (etwa 64 bis 63 mya), reichten in stark abgeschwächter Form bis in das frühe Miozän und verzeichneten mehrere erhöhte Aktivitätszyklen, wobei abwechselnd intrusive und effusive Phasen entlang der divergierenden Plattenränder auftraten. Die dabei aus dem Erdmantel aufsteigenden Flutbasalte besaßen eine Ausdehnung von ungefähr 1,3 bis 1,5 Millionen km² und bedeckten Teile von Grönland, Island, Norwegen, Irland und Schottland. Das Paläogen mit den drei Serien Paläozän, Eozän und Oligozän ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen wirken manche der in dieser Zeit begonnenen Entwicklungen bis in die geologische Gegenwart nach, und zum anderen steht eine Reihe der damaligen Ereignisse aufgrund markanter Merkmale im Fokus der Forschung. Klimatologisch ist hierbei das Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum von besonderem Interesse, da es ein prägnantes Beispiel für einen abrupten Klimawandel darstellt und deshalb Parallelen zur aktuellen globalen Erwärmung und deren Folgen aufweisen könnte. Die untenstehende Tabelle verzeichnet eine chronologische Gliederung jener Umweltveränderungen, die in relativ dichter Abfolge vor 55 bis 33 Millionen Jahren auftraten. Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum (PETM). Nach der Zäsur des Massenaussterbens an der Kreide-Paläogen-Grenze herrschte im Paläozän zunächst ein trockenes, relativ gemäßigtes Klima, das gegen Ende der Epoche zunehmend tropischer und feuchter wurde. Am Übergang zum Eozän erwärmte sich die Erde innerhalb von wahrscheinlich 4.000 Jahren um etwa 4 °C in äquatorialen Bereichen und bis zu 10 °C in höheren Breiten, wobei der jährliche Kohlenstoffeintrag in einer Größenordnung von 0,6 bis 1,1 Petagramm parallel zur damit gekoppelten Erwärmung verlief. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass die Ozeane während des PETM erhebliche Wärmemengen speicherten. Für subpolare Gewässer (westliche sibirische See) wurden 27 °C ermittelt, und Sedimentbohrkerne aus der Küstenregion vor Tansania belegen ein Temperaturmaximum um 40 °C. Dies führte zu einer raschen Versauerung der Meere und zur Entstehung anoxischer Milieus mit nachhaltigen Folgen für die ozeanischen Biotope. Die genaue Ursache des PETM ist nach wie vor unbekannt, wenngleich vielfach vermutet wird, dass freigesetztes Methanhydrat das Ereignis maßgeblich beschleunigt und verstärkt hat. Obwohl der klimatische Ausnahmezustand des PETM nach erdgeschichtlichem Maßstab nur von kurzer Dauer war, beeinflusste er nachhaltig die Biodiversität und Paläoökologie des gesamten Planeten. Neuere Untersuchungen scheinen zu belegen, dass sich während einer globalen Erwärmungsphase auch die Klimasensitivität entsprechend erhöht. Für das PETM wird ein Bereich von 3,7 bis 6,5 °C als wahrscheinlichster Wert veranschlagt. Die Wärmeanomalie des Eocene Thermal Maximum 2 glich in ihrer Dauer und Auswirkung dem besser erforschten PETM, könnte jedoch ein etwas geringeres Temperaturniveau als dieses erreicht haben. Aus der Zeit vor 53,6 bis 52,8 Millionen Jahren gibt es Hinweise auf drei weitere und schwächer ausgeprägte Wärmeanomalien, deren wissenschaftliche Untersuchung jedoch erst am Anfang steht. Angaben zur atmosphärischen CO2-Konzentration im Unteren Eozän sind aufgrund der gravierenden und kurzfristigen Klimaschwankungen mit großen Unsicherheiten behaftet. Eine 2016 veröffentlichte Studie, basierend auf einer Präzisionsmessung unter Einbeziehung des stabilen Bor-Isotops δ11B (Delta-B-11), postuliert für die Zeit des Eozänen Klimaoptimums einen Kohlenstoffdioxid-Gehalt von ungefähr 1.400 ppm. Das Azolla-Ereignis war ein Wendepunkt in der Klimageschichte des Känozoikum und hatte weitreichende Folgen bis in die Gegenwart. Der zur Familie der Schwimmfarngewächse zählende Algenfarn (Azolla) kann große Mengen an Stickstoff und Kohlenstoffdioxid speichern und sich unter günstigen Bedingungen massenhaft vermehren. Dieser Fall trat durch eine Verkettung besonderer Umstände ein, als Azolla vor 49 Millionen Jahren den damaligen Arktischen Ozean auf einer Fläche von 4 Millionen km² „besiedelte“. Da im Eozän das Arktische Meer von anderen ozeanischen Strömungen isoliert war und aufgrund fehlender Durchmischung gewissermaßen zum stehenden Gewässer wurde, könnte sich an seiner Oberfläche durch Regen und den Eintrag der Flüsse eine dünne, aber nährstoffreiche Süßwasserschicht gebildet haben, die ein explosives Wachstum von Azolla ermöglichte. Die schwimmende Vegetationsinsel der Algenfarne existierte mehrere Hunderttausend Jahre lang und bewirkte in dieser Zeit durch die Aufnahme von Kohlenstoffdioxid und dessen Einbindung in Sedimentationsprozesse im Zusammenspiel mit einigen weiteren Faktoren eine relativ rasch verlaufende CO2-Reduktion auf etwa 1.000 bis 650 ppm. Damit begann eine allmähliche globale Abkühlung, die schließlich in das Känozoische Eiszeitalter überging. Der Chesapeake-Bay-Krater an der Ostküste der USA steht stellvertretend für rund ein Dutzend Einschlagkrater mit einem Durchmesser von deutlich über 10 km, die während des Paläogens entstanden sind. Mit Schwerpunkt im Eozän trat in kurzen zeitlichen Abständen eine Serie von Impakt-Ereignissen auf, wobei Asteroidentreffer in den Ozeanen bisher kaum dokumentiert sind und deshalb eine hohe Dunkelziffer aufweisen dürften. Im Gegensatz dazu ist aus dem gesamten Neogen mit dem Ries-Ereignis vor 14,6 Millionen Jahren nur ein größerer Einschlag belegt. Ähnlich wie der Chesapeake-Bay-Einschlag, über dessen Dimensionen noch diskutiert wird, herrscht über ähnliche Impakt-Ereignisse aus dieser Epoche hinsichtlich ihres Einflusses auf Umwelt und Klima weitgehend Unklarheit. In der neueren Fachliteratur wird diese Problematik mithilfe von umfangreichem Datenmaterial zunehmend detaillierter erörtert. Der Popigai-Einschlag im nördlichen Sibirien hinterließ einen 90 bis 100 km großen Krater und zählt mit dem Chicxulub-Impakt und dem Manicouagan-Ereignis aus der Trias zu den größten wissenschaftlich gesicherten Impaktkatastrophen im Phanerozoikum. Je nach Struktur und Zusammensetzung des Asteroiden soll dessen Größe 5 bis 8 km betragen haben. Das Alter des Kraters wurde bisher mit 35,7 Millionen Jahre angegeben, eine neuere Datierung nennt 33,7 Millionen Jahre als wahrscheinlichsten Wert. Danach würde der Popigai-Einschlag mit dem Artensterben des Grande Coupure an der Grenze zwischen Eozän und Oligozän (englisch Eocene-Oligocene Extinction Event) zeitlich übereinstimmen. Neben der raschen Auslöschung von 60 Prozent der europäischen Säugetiergattungen könnte auch die abrupte Abkühlung der Ozeane vor etwa 34 Millionen Jahren mit einem oder mehreren Impakten in Verbindung stehen. Diese Möglichkeit wird von anderen Studien jedoch abgelehnt und als gering bewertet. Entsprechende Analysen werden durch den Umstand erschwert, dass von den etwa 180 größeren irdischen Impaktstrukturen lediglich bei einem Dutzend die genaue Entstehungszeit mit hinreichender Sicherheit bekannt ist. Neogen Der mit dem Azolla-Ereignis beginnende Umschwung von warm- in kaltzeitliche Klimata (international häufig als „transition from greenhouse to icehouse conditions“ charakterisiert) führte während des Eozän-Oligozän-Übergangs vor etwa 34 Millionen Jahren zu ersten Vereisungen in der Antarktis. In dieser Zeit begann die Ausbreitung der an aride Bedingungen angepassten C4-Pflanzen (vor allem Gräser), die für die Photosynthese zudem erheblich weniger Kohlenstoffdioxid benötigen als C3-Pflanzen. Der globale Abkühlungstrend, gekoppelt mit einer allmählichen Reduzierung des atmosphärischen Kohlenstoffdioxids, verlief jedoch nicht linear, sondern wurde zuerst von einer Erwärmungsphase im späten Oligozän und anschließend von einem Klimaoptimum im Miozän vor 17 bis 15 Millionen Jahren unterbrochen. Auf dem Höhepunkt des Miozänen Klimaoptimums stieg der CO2-Gehalt von 350 ppm am Beginn des Miozäns kurzzeitig auf 500 ppm, (nach anderen Quellen auf über 600 ppm), und die durchschnittliche Jahrestemperatur für Mitteleuropa erhöhte sich auf 22 °C. Im Zuge der weltweiten Erwärmung, an der wahrscheinlich die massiven CO2-Ausgasungen des Columbia-Plateaubasalts maßgeblich beteiligt waren, wurden die Wald-Habitate zurückgedrängt, und an ihre Stelle traten Steppen- und Graslandschaften. Gleichzeitig verloren die damaligen Antarktisgletscher einen Teil ihrer Masse, ohne jedoch ganz abzuschmelzen. Simulationen unter Einbeziehung des damaligen CO2-Levels deuten darauf hin, dass die Kernbereiche des Ostantarktischen Eisschilds von der Erwärmung im Mittleren Miozän kaum betroffen waren. Unter dem Einfluss starker Erosions- und Verwitterungsprozesse sank die CO2-Konzentration gegen Ende des Optimums vor 14,8 Millionen Jahren wieder unter 400 ppm, und mit einer abrupten Temperaturabsenkung von 7 °C in Mitteleuropa begann global eine kühlere Klimaphase mit einer erneuten Zunahme der antarktischen Inlandsvereisung. Dennoch lagen vor 14 bis 12,8 Millionen Jahren die Temperaturen in der Antarktis immer noch 25 °C bis 30 °C über dem gegenwärtigen Niveau, ehe die Region von einem Kälteeinbruch erfasst wurde. Im weiteren Verlauf des Miozäns herrschte in großen Teilen Europas ein relativ mildes und trockenes Klima. Jedoch entwickelten sich in der Zeit vor 10,2 bis 9,8 Millionen Jahren und anschließend vor 9,0 bis 8,5 Millionen Jahren zwei „Waschküchen-Phasen“, in denen das Klima deutlich subtropischer und feuchter wurde (mit jährlichen Niederschlagsmengen von teilweise über 1500 mm). Als Ursachen für diese Erwärmungsspitzen werden vor allem weiträumige Verlagerungen ozeanischer Zirkulationsmuster im Bereich des Atlantiks vermutet. Das Miozän gilt als „Modellfall“ für das Verständnis rascher Klimawandel-Ereignisse sowie für das langfristige Zusammenwirken von Silikatverwitterung, Erosion, Kohlenstoffbindung und atmosphärischem CO2. Das Neogen und seine wechselhafte Klimageschichte entwickelte sich außerdem zum Forschungsfeld für die Bestimmung der Klimasensitivität. Dabei geht es um die wissenschaftlich und klimapolitisch relevante Fragestellung, wie hoch die globale Erwärmung bei einer Verdoppelung des vorindustriellen CO2-Werts von 280 ppm auf 560 ppm ausfallen würde. Labortechnische Messungen unter Ausschluss aller äußeren Faktoren ergaben eine Temperaturzunahme von 1,2 °C, bei Einbeziehung von schnell wirkenden Rückkopplungen (zum Beispiel Wasserdampf-, Eis-Albedo- und Aerosol-Rückkopplung) ist derzeit eine Klimasensitivität von 3 °C am wahrscheinlichsten. Darüber hinaus wird anhand von verschiedenen Klimazuständen versucht, die Klimasensitivität unter Berücksichtigung sämtlicher kurz- und langfristigen Rückkopplungsmechanismen über die Dauer erdgeschichtlicher Zeiträume zu bestimmen. Danach liegt die sogenannte Erdsystem-Klimasensitivität im Bereich von 4 bis 6 °C. Im Frühen und Mittleren Pliozän lag die globale Temperatur ungefähr 2,5 bis 4 °C über dem vorindustriellen Niveau, mit einem um etwa 20 Meter höheren Meeresspiegel als gegenwärtig, und die CO2-Konzentration fluktuierte im selben Zeitraum zwischen 365 und 415 ppm. Ein geologisch bedeutendes Ereignis mit weitreichenden klimatischen Auswirkungen war das mehrmalige Austrocknen des Mittelmeers und dessen zeitweilige Umwandlung in eine Salzwüste (Messinische Salinitätskrise) an der Grenze zwischen Miozän und Pliozän vor 6 bis 5 Millionen Jahren. Globale Folgen im Hinblick auf den sich verstärkenden Abkühlungsprozess am Übergang vom Pliozän zum Quartär hatte die Entstehung der Landenge von Panama, als die Pazifische Platte mit der Karibischen Platte kollidierte, wodurch die Verbindung zwischen Pazifischem Ozean und Atlantik unterbrochen wurde. Allgemein wird angenommen, dass sich der Wasseraustausch zwischen den beiden Weltmeeren vor mehr als 3 Millionen Jahren erstmals signifikant verringerte und vor 2,76 Millionen Jahren mit der vollständigen Schließung der Landenge endgültig zum Erliegen kam. Eine Studie aus dem Jahr 2015 kam hingegen zu dem Schluss, dass sich der Isthmus bereits im Mittleren Miozän vor rund 15 Millionen Jahren gebildet haben könnte. Eine im August 2016 veröffentlichte Untersuchung, die sich auf geologische, paläontologische und molekularbiologische Befunde stützte, bestätigte jedoch die bisherigen Annahmen. Aus der endgültigen Schließung der Landbrücke resultierte unmittelbar die Entstehung des Golfstroms, der fortan Meerwasser aus tropischen Breiten nach Norden transportierte, wodurch sich in der Arktis die Luftfeuchtigkeit und damit das Niederschlagspotenzial erhöhte. Die anfängliche Erwärmung der nordatlantischen Regionen ging jedoch rasch in den Klimazustand der Quartären Eiszeit über, als sich der Neigungswinkel der Erdachse einem neuen Minimum näherte. Mit der Tendenz zu schneereichen Wintern und kühleren Sommermonaten auf der Nordhemisphäre begann eine von der Eis-Albedo-Rückkopplung verstärkte Kältephase, die, unterbrochen von mehreren Interglazialen, das globale Klima über 2,7 Millionen Jahre bis in das Holozän prägte. Quartär Aufgrund ihrer jungen und sehr umfangreichen Ablagerungen sind die Quartären Kaltzeitzyklen seit zweihundert Jahren die am intensivsten erforschte Epoche der Erdgeschichte, mit einer Fülle von geologischen, paläontologischen und klimatischen Belegen. Eine Zusammenfassung der letzten 30 Millionen Jahre ist unter Känozoisches Eiszeitalter zu finden, das Stichwort Quartärforschung liefert eine interdisziplinär geprägte Bestandsaufnahme, während die Artikel Pleistozän und Quartär schwerpunktmäßig die Paläontologie (eiszeitliche Fauna) beziehungsweise die geologisch-stratigraphische Gliederung behandeln. Informationen zu abrupten Klimaschwankungen und Klimawandel-Ereignissen in Zusammenhang mit der Quartären Kaltzeit bieten Jüngere Dryaszeit, Dansgaard-Oeschger-Ereignis und Heinrich-Ereignis. Detaillierte Beschreibungen einzelner Warmzeiten (Interglaziale) innerhalb des Quartären Eiszeitalters enthalten die Artikel Waal-Warmzeit, Cromer-Komplex, Holstein-Warmzeit und Eem-Warmzeit. Gleiches gilt für den Komplex der nordeuropäischen/norddeutschen Kaltzeiten Elbe, Elster, Saale und Weichsel sowie für ihre alpinen Entsprechungen Günz, Mindel, Riss und Würm. Der jüngste Abschnitt des Quartärs, das Holozän, ist identisch mit der geologischen Gegenwart und gilt als Forschungsfeld der Historischen Klimatologie, vor allem im Hinblick auf kurzfristig auftretende Wetteranomalien und den Klimaeinfluss auf die menschliche Kulturentwicklung. Darüber hinaus weist die Historische Klimatologie auch Schnittstellen zu mehreren Spezialgebieten der Archäologie auf, wie der Gletscher-, Küsten- und Geoarchäologie. Die Klimazukunft der Erde Mögliche Dauer der anthropogenen globalen Erwärmung Das Holozän als jüngster Abschnitt der Erdgeschichte begann nach dem Ende der bisher letzten Kältephase, der Quartären Eiszeit vor 11.700 Jahren. Dieser Zeitraum umfasst alle bekannten Hochkulturen sowie die gesamte historisch belegte Menschheitsgeschichte einschließlich der modernen Zivilisation. Während des Holozäns herrschte ein durchgehend stabiles Globalklima mit einem Temperaturkorridor von ungefähr ± 0,6 °C. Das Ausbleiben von geophysikalischen, biologischen und klimatischen Krisen wird als Garant dafür betrachtet, dass abgesehen von regional begrenzten Einschnitten eine relativ gleichmäßige kulturelle und technologische Entwicklung der menschlichen Gesellschaften stattfinden konnte. Sedimentbohrkerne aus der Tiefsee belegen ein holozänes Klimaoptimum vor etwa 8000 bis 6000 Jahren, dessen Temperaturwerte erst im 21. Jahrhundert übertroffen wurden. Durch die Abnahme der Sonneneinstrahlung in nördlichen Breiten während des Sommermaximums fand seitdem ein leichter Temperaturrückgang von ≈ 0,1 °C pro Jahrtausend statt. Dieser Abkühlungstrend, gekoppelt an die Periodizität der Milanković-Zyklen, würde normalerweise dazu führen, dass auf das Interglazial des Holozäns in rund 30.000 Jahren eine neue Kaltzeit folgt. Ob dieses Ereignis wie prognostiziert eintritt, hängt unter anderem von der künftigen klimatischen Entwicklung in Verbindung mit der Freisetzung anthropogener und natürlicher Treibhausgase ab, wobei neben der Zunahme von CO2 auch eine wachsende Ausgasung von Methan aus ozeanischen Methanhydratlagern beobachtet wird. Nach den Emissions-Szenarien des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) im aktuellen Fünften Sachstandsbericht könnte sich die globale Durchschnittstemperatur im ungünstigsten Fall bis Ende des 21. Jahrhunderts um mehr als 4 °C erhöhen. Während eine Erwärmung von gegenwärtig 1 °C auf 2 °C im Hinblick auf ökonomische, soziologische und ökologische Folgen als einigermaßen beherrschbar gilt, würde eine Entwicklung über den 2-°C-Grenzwert hinaus die Risiken durch Faktoren wie Kippelemente mit kurzfristig auftretenden Rückkopplungseffekten in unkontrollierbarer Weise anwachsen lassen. Allerdings sollte auch das sogenannte Zwei-Grad-Ziel nach Ansicht einiger Forscher im Hinblick auf unterschätzte Risikopotenziale einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Selbst ein vergleichsweise moderater Temperaturanstieg wäre nach den Worten des Klimatologen Stefan Rahmstorf im Kontext der letzten 11.000 Jahre ein außergewöhnliches Ereignis: „Wir sind dabei, uns weit aus dem Holozän herauszukatapultieren.“ Die Tatsache des gegenwärtigen Klimawandels in Verbund mit anderen Faktoren wie Artensterben, Versauerung der Ozeane oder Reduzierung natürlicher Biotope führte zum Entwurf des Anthropozäns (altgriechisch: Das menschengemachte Neue), das nach den Vorstellungen britischer Geologen und des niederländischen Nobelpreisträgers für Chemie, Paul J. Crutzen, als jüngste Epoche in das chronostratigraphische System der Erdgeschichte implementiert werden sollte. Die Entscheidung über den künftigen Status des Anthropozäns liegt bei der International Commission on Stratigraphy (ICS), in deren Working Group on the ’Anthropocene’ die verschiedenen Aspekte des Vorschlags eingehend geprüft werden. Auf dem 35. Internationalen Geologischen Kongress in Kapstadt 2016 votierte diese Arbeitsgruppe für die Anerkennung des Anthropozäns, wobei das Jahr 1950 als Beginn der neuen Epoche empfohlen wurde. Im Mai 2019 sprach sich die Working Group on the ’Anthropocene’mit deutlicher Mehrheit dafür aus, bis 2021 einen Entwurf für die Einführung des Anthropozäns bei der International Commission on Stratigraphy einzureichen, zusammen mit einem geologisch definierten Startpunkt für die neue Epoche. Der zusätzliche anthropogene Kohlenstoff in der Atmosphäre wird sich nach übereinstimmender wissenschaftlicher Auffassung selbst bei einem weitgehenden künftigen Emissionsstopp nur allmählich verringern und in signifikanten Mengen noch in 5000 Jahren nachweisbar sein. Im Unterschied dazu beträgt die Verweilzeit von Methan unter den gegenwärtigen atmosphärischen Bedingungen lediglich etwa 12 Jahre, allerdings entsteht bei der Oxidation dieses Treibhausgases wiederum CO2. Somit dürfte der menschliche Einfluss das Klimasystem über die nächsten Jahrtausende nachhaltig prägen und verändern. Einige Studien gehen noch einen Schritt weiter und postulieren unter Einbeziehung der Erdsystem-Klimasensitivität und verschiedener Kippelemente eine sich selbst verstärkende Erwärmungsphase mit einer Dauer ähnlich dem Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum. Eine lang anhaltende Warmzeit im Bereich von 100.000 Jahren, wie sie in verschiedenen Szenarien skizziert wird, würde das Bild der Erde gravierend umgestalten, vor allem durch die Verschiebung der Klima- und Vegetationszonen und das weitgehende Abschmelzen des antarktischen und grönländischen Eisschildes mit entsprechendem Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Dutzend Meter. Die fernere Zukunft Prognosen über die Klimaentwicklung der Erde für die nächsten Millionen Jahre sind spekulativ, da die daran beteiligten Wirkmechanismen nur eine grobe Abschätzung erlauben. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die in der Vergangenheit aufgetretenen Ereignisse und Prozesse wie Klimaschwankungen, Massenaussterben oder der Megavulkanismus einer Magmatischen Großprovinz auch in der Zukunft die Erdgeschichte prägen werden. Prinzipiell spricht nichts dagegen, dass das Känozoische Eiszeitalter von einer Warmzeit mit eisfreien Polregionen und tropischer Vegetation abgelöst wird, wie es zum Beispiel im Eozän vor 50 Millionen Jahren der Fall war. Dabei spielt die künftige Lage der Kontinentalplatten eine mitentscheidende Rolle. Auf der Basis des gegenwärtigen plattentektonischen Zyklus würde sich in 50 bis 200 Millionen Jahren die folgende Festlandsverteilung ergeben: Afrika: Die östlich des Großen Afrikanischen Grabenbruchs gelegene Somaliaplatte dürfte sich bereits in wenigen Millionen Jahren von Afrika abspalten und ostwärts in Richtung Indien wandern. Der übrige Kontinent wird sich weiter nach Norden bewegen und mit der Eurasischen Platte zu einem Großkontinent verschmelzen, der allmählich nach Nordosten driftet. Anstelle des verdrängten Mittelmeers entsteht dann an der Nahtstelle der beiden Kontinentalplatten ein neues Hochgebirge mit wesentlich größeren Ausmaßen als die Alpen. Antarktika: Nachdem der Kontinent seit dem späten Mesozoikum stets in unmittelbarer Nähe der Südpolregion positioniert war, wird er sich künftig nach Norden bewegen und in geschätzten 150 bis 200 Millionen Jahren den Äquator erreichen. Ähnliches gilt für Australien, das sich relativ zügig weiter nordwärts verlagert und bereits in etwa 80 Millionen Jahren mit Japan kollidieren könnte. Nordamerika und Südamerika: Die beiden Kontinente werden sich voraussichtlich an ihrer schmalsten Stelle wieder trennen, wobei Nordamerika (ohne das inzwischen abgelöste Niederkalifornien, aber zusammen mit Grönland und Neufundland) sich zuerst westwärts dreht und dann, in mehr als 100 Millionen Jahren, weiter nach Süden driftet. Ungefähr zur selben Zeit wird Grönland eine Lage zwischen 20° und 30° südlicher Breite einnehmen. Unterdessen dehnt sich der Atlantische Ozean entlang der Spreizungszone des Mittelatlantischen Rückens weiter aus, während der Pazifik im gleichen Maße schrumpft. Über den Zeitrahmen dieser Projektion hinaus nehmen die meisten Studien an, dass sich die Landmassen im Zuge des Wilson-Zyklus erneut zu einem Superkontinent zusammenschließen, der dann eventuell der letzte der Erdgeschichte sein könnte. Allgemein wird damit gerechnet, dass sich die plattentektonischen Prozesse in etwa 500 Millionen Jahren durch die allmähliche Erkaltung des Erdinneren verlangsamen und abschwächen. Somit dürfte ein signifikantes Ungleichgewicht zwischen erosionsbedingter Kohlenstoffbindung und CO2-Ausgasung entstehen. Der Atmosphäre wird mehr CO2 entzogen als neu hinzukommt, und im Verlauf dieser Entwicklung wird das Kohlenstoffdioxid auf eine für C3-Pflanzen existenzbedrohende Konzentration von unter 150 ppm sinken. Hingegen dauert es mehr als eine Milliarde Jahre, bis für C4-Pflanzen die Untergrenze von 10 ppm erreicht ist, doch zu diesem Zeitpunkt wird es mit ziemlicher Sicherheit keine Biosphäre in der heutigen Form mehr geben. Auf die Frage, über welchen Zeitraum atmosphärisches CO2 verfügbar sein wird, geben die verschiedenen Studien stark abweichende Antworten. Rascher und nachhaltiger als der versiegende Kohlenstoffzyklus wird die solare Einstrahlung ihre Wirkung entfalten. In 800 bis 900 Millionen Jahren wird sie die Atmosphäre so extrem erwärmen, dass die meisten Ökosysteme zwangsläufig kollabieren werden. Höher organisiertes Leben ist ab diesem Zeitpunkt auf der Erdoberfläche kaum mehr möglich. Eventuelle Anpassungsstrategien der betroffenen Organismen dürften vermutlich nutzlos sein, da der hohe Verdunstungsfaktor der Meere mit entsprechender Wasserdampf-Rückkopplung einen galoppierenden Treibhauseffekt hervorrufen wird. In einer Milliarde Jahre könnte die Erde zu einer Welt der Bakterien werden, die in geschützten Bereichen wie zum Beispiel in tieferen Meeresschichten noch eine Weile überdauern. Doch die Ozeane sind auf längere Sicht ebenfalls ein gefährdetes Habitat. Mit der vollständigen Verdunstung des Oberflächenwassers bleibt dem Leben, das wahrscheinlich nur noch aus Prokaryoten besteht, als letzte Rückzugsmöglichkeit das Innere der Lithosphäre. Während ihrer Entwicklung zum Roten Riesenstern wird die Sonne große Teile der Erdkruste zum Schmelzen bringen und in Magmaseen verwandeln. Damit endet die biologisch und klimatisch relevante Naturgeschichte des Planeten in ähnlicher Form, wie sie begonnen hat: mit der Erde als glühendem, sterilem Himmelskörper, umgeben von einem Mantel heißer Gase. Siehe auch Klimageschichte Forschungsgeschichte des Klimawandels Geschichte der Geologie Literatur Englischsprachige Bücher Raymond T. Pierrehumbert: Principles of Planetary Climate. Cambridge University Press, 2010, ISBN 978-0-521-86556-2. Thomas N. Cronin: Paleoclimates: understanding climate change past and present. Columbia University Press, New York 2010, ISBN 978-0-231-14494-0. William F. Ruddimann: Earth's Climate – Past and Future. W. H. Freeman, Third Edition 2013, ISBN 978-1-319-15400-4. Raymond S. Bradley: Paleoclimatology. Reconstructing Climates of the Quaternary. Academic Press (Elsevier Inc.) Oxford, Amsterdam, Waltham, San Diego, Third Edition 2015, ISBN 978-0-12-386913-5. Deutschsprachige Bücher Martin Schwarzbach: Das Klima der Vorzeit. Eine Einführung in die Paläoklimatologie. 5. Auflage. Enke, Stuttgart 1993, ISBN 3-432-87355-7. Monika Huch, Günter Warnecke, Klaus Germann (Hrsg.): Klimazeugnisse der Erdgeschichte. Perspektiven für die Zukunft. Mit Beiträgen von Wolfgang H. Berger, Arthur Block, Werner von Bloh, Werner Buggisch, Klaus Germann, Monika Huch, Gerhard Petschel-Held, Hans-Joachim Schellnhuber, Torsten Schwarz, Hansjörg Streif, Otto H. Wallner, Günter Warnecke, Gerold Wefer. Springer, Berlin/Heidelberg 2001, ISBN 3-540-67421-7. József Pálfy: Katastrophen der Erdgeschichte. Globales Artensterben? Schweizerbart, Stuttgart 2005, ISBN 3-510-65211-8. Christoph Buchal, Christian-Dietrich Schönwiese: Klima. Die Erde und ihre Atmosphäre im Wandel der Zeiten. Hrsg.: Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung, Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, 2. Auflage. Hanau 2012, ISBN 978-3-89336-589-0. Christian-Dietrich Schönwiese: Klimatologie. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage. UTB, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-8252-3900-8. Fachzeitschriften mit Bezug zur Paläoklimatologie PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences), Herausgeberː National Academy of Sciences (USA), Spracheː englisch, Erscheinungsweiseː wöchentlich, Linkː offizielle Website, Nature Geoscience, Herausgeberː Nature Publishing Group (GB), Spracheː englisch, Erscheinungsweiseː monatlich, Linkː offizielle Website, Geophysical Research Letters, Herausgeberː American Geophysical Union (USA), Spracheː englisch, Erscheinungsweiseː 14-täglich, Linkː offizielle Website, Geology, Herausgeberː Geological Society of America (USA), Spracheː englisch, Erscheinungsweiseː monatlich, Linkː offizielle Website, Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology („Palaeo3“), Verlagː Elsevier, Spracheː englisch, Erscheinungsweiseː 14-täglich, Linkː offizielle Website, Gondwana Research, Verlagː Elsevier, Spracheː englisch, Erscheinungsweiseː monatlich, Linkː offizielle Website, Weblinks International Chronostratigraphic Chart 2020/03 (Regelmäßig aktualisierte Chronostratigraphische Zeittafel der International Commission on Stratigraphy) Informationen zum „Greenland Ice Core Project“ des „National Climatic Data Centers“(NOAA) (englisch) Einzelnachweise Fußnoten innerhalb eines Satzes beziehungsweise nach einem Komma verweisen unmittelbar auf eine einzelne Aussage, Fußnoten am Ende eines Satzes oder Absatzes beziehen sich auf den kompletten vorhergehenden Text. Geowissenschaft Historische Geologie
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Moschusochse
Der Moschusochse (Ovibos moschatus), auch als Bisamochse oder Schafsochse bezeichnet, ist ein Paarhufer aus der Unterfamilie der Antilopinae; innerhalb derer gehört er in die Verwandtschaftsgruppe der Ziegenartigen (Caprini). Die bis zu 1,50 m hohen männlichen und bis zu 1,30 m hohen weiblichen Tiere sind Bewohner der arktischen Tundren und heute ursprünglich nur noch in Grönland, Kanada und Alaska zu finden. 1974 wurde jedoch in Nordsibirien auf der Taimyr-Halbinsel eine Herde Moschusochsen aus Kanada und Alaska wieder erfolgreich angesiedelt. Kleinere Herden ursprünglich grönländischer Tiere leben inzwischen auch in Norwegen und Schweden. Der Gesamtbestand wird heute auf etwa 145.000 Tiere geschätzt. Paläontologie Die Vorläufer der heutigen Moschusochsen entwickelten sich vor etwa einer Million Jahren in der Tundra des nördlichen Zentralasien. Die ältesten Fossilien der Moschusochsen-Gattung Ovibos wurden in Deutschland gefunden und stammen aus der Mindeleiszeit. Diese pleistozänen Moschusochsen unterscheiden sich von der heutigen Form durch größere Körpermaße und sonstige Merkmale und werden deshalb zoologisch meist als eigene Art (Ovibos pallantis im Gegensatz zu Ovibos moschatus) eingestuft. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich über die nördlichen Teile Eurasiens und Nordamerikas, das sie vor etwa 500.000 Jahren über die Beringstraße erreichten. In besonders kalten Zeitabschnitten zogen sie sich weit nach Süden zurück und gelangten bis nach Ungarn, Frankreich und vermutlich sogar Nordspanien. Am Ende der Würmeiszeit gingen vor allem die Bestände der eurasischen Vorkommen zurück, vermutlich durch das Verschwinden der Mammutsteppen und trockenen Tundren verursacht. Diese trockenen Flächen wurden durch feuchte Moostundren und dichte Wälder abgelöst, die den Moschusochsen als Lebensraum wenig zusagen. In Eurasien hielten sie sich am längsten auf der Taimyr-Halbinsel, von wo sie erst vor etwa 4000 Jahren verschwanden. Das Aussterben der eurasischen Moschusochsen fällt zeitlich mit dem der letzten Mammuts auf der nordsibirischen Wrangelinsel zusammen. Im Norden von Nordamerika und in Nordostgrönland überlebten die Moschusochsen dagegen bis in die Gegenwart. Paläontologische Funde zeigen, dass der Moschusochse die letzte nicht ausgestorbene Art eines mehrere Arten umfassenden Hornträger-Zweiges ist. Sein Überleben verdankt der Moschusochse offenbar der Anpassung an extrem kalte Standorte. Die ausgestorbenen Arten waren dagegen an wärmere Klimazonen angepasst (z. B. der Praeovibos priscus, der trotz dieser Bezeichnung keinen Vorläufer, sondern eine parallel zu Ovibos moschatus existierende Art darstellte). Während des Pleistozäns war der größer und schlanker als Ovibos moschatus gewachsene Helm-Moschusochse (Symbos cavifrons = Bootherium bombifrons oder Bootherium sargenti) in Nordamerika weit verbreitet. Mit der Bestimmung seiner Fossilfunde tat sich die zoologische Forschung schwer: Zunächst hielt man den Helm-Moschusochsen für eine ausgestorbene Bisonart (Bison appalachicolus), dann wurde Bootherium, heute allgemein als Weibchen von Symbos cavifrons eingestuft, als eigene Gattung beschrieben. Andere fossile Moschusochsen waren Euceratherium collinum, eine an Gebirgsgegenden angepasste Moschusart, und Soergelia mayfieldi. Herkunft des Namens Ihren Namen verdanken die Moschusochsen dem Umstand, dass die Männchen zur Paarungszeit eine Substanz in den Urin abgeben, die moschusartig süßlich riecht; eine Moschus-Drüse wie etwa die Moschustiere besitzen die Moschusochsen jedoch nicht. In Inuktitut, der Sprache der Inuit, heißt der Moschusochse Umimmaq (d. h. „Tier mit Fell wie ein Bart“, von umik „Bart“). Der lateinische Artname Ovibos bedeutet „Schafsochse“. Verbreitung Heute leben Moschusochsen in größerer Zahl in Grönland, Kanada, Sibirien und Alaska sowie als kleinere Herden in Norwegen und Schweden. Allerdings ist nur ihr Vorkommen im Norden Kanadas und im Nordosten von Grönland natürlichen Ursprungs. In Alaska wurden die Moschusochsenbestände um die Wende zum 20. Jahrhundert ausgerottet. Eine Wiederansiedlung gelang, nachdem grönländische Moschusochsen in den 1930er Jahren auf der vor der Westküste Alaskas gelegenen Insel Nunivak ausgesetzt worden waren und sich von dort aus wieder entlang des arktischen Festlands verbreiteten. Wiederansiedlungen in anderen Regionen Grönlands, in Sibirien und in Norwegen verliefen ebenfalls erfolgreich. Im norwegischen Dovrefjell-Nationalpark bedurfte es allerdings 20 Jahre dauernder Versuche, bis 1947 die Wiederansiedlung einer Moschusherde gelang. 2011 lebten im Dovrefjell-Nationalpark etwa 300 Tiere. Heute in Schweden lebende Tiere entstammen einer aus einem Bullen, zwei Kühen und zwei Kälbern bestehenden Herde, die 1971 von Norwegen hierher wechselte. Auch auf der im Nordpolarmeer gelegenen russischen Wrangelinsel, die 2004 von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt wurde, konnten Moschusochsen erfolgreich ausgesetzt werden; sie bilden inzwischen eine Herde von etwa 100 Tieren. Ebenso gelang die Ansiedlung auf der Taimyr-Halbinsel. Ansiedlungsversuche auf Island, wo der Moschusochse von Natur aus nie gelebt hat, sind dagegen bislang gescheitert (siehe auch die unter Gefährdung aufgeführte Bestandstabelle). Ein Bestand von 27 Moschusochsen, die 1962/63 von Nordostgrönland in die Gegend um Kangerlussuaq versetzt wurden, war bis 2018 auf rund 22.000 Tiere angewachsen. Lebensraum und Lebensweise Moschusochsen bevorzugen als Lebensraum niederschlagsarme Tundren. Sie tolerieren große Kälte, sind aber empfindlich gegen anhaltende Feuchtigkeit. Überwiegend halten sie sich in tiefer gelegenen Ebenen und Flusstälern auf, in denen sich während des Sommers Schmelzwasser und die geringen Niederschläge auf dem Permafrostboden sammeln und eine für arktische Verhältnisse saftige Vegetation wachsen lassen. Sie ernähren sich von Holzgewächsen wie Birken und Weiden, von denen sie die Blätter abstreifen, und von Kräutern wie Sauergräsern und Süßgräsern, weiterhin von Flechten und Moosen. Männliche Tiere weisen nur während einer Zeit von zwei Monaten im Jahr eine positive Nahrungsbilanz (Gewichtszunahme) auf, und während weiterer vier Monate ist ihre Nahrungsbilanz neutral (keine Gewichtsveränderung). Weibliche Tiere haben während fünf Monaten im Jahr eine positive Nahrungsbilanz und während der verbleibenden sieben Monate eine negative Nahrungsbilanz. Beide Geschlechter zehren während des langen arktischen Winters von ihren Fettreserven. Die Weibchen nutzen darüber hinaus ihre Fettreserven in den Zeiten, in denen sie ihre Kälber säugen. Gelingt es einem Tier wegen schlechter Weide- und Wetterbedingungen nicht, eine für den Winter ausreichende Fettreserve aufzubauen, droht der Hungertod, meist im Spätwinter und zu Frühjahrsbeginn. Von der Anwesenheit der Moschusochsen profitieren eine Reihe anderer Tierarten: Schneeammern und Spornammern etwa polstern ihre Nester mit der überall in der Tundra zu findenden weichen Moschusochsenwolle aus; im Winter fressen Eishasen und Schneehühner von den von Moschusochsen frei gescharrten Pflanzen. In der Nähe von Moschusochsen beobachtet man nicht selten auch Polarfüchse, doch gibt es dafür bisher keine Erklärung. Körperbau Gestalt und Größe Moschusochsen besitzen eine stämmige Gestalt mit dicken, vor Kälte schützenden Fettpolstern. Auffällig sind der Buckel über der Schulter und der im Verhältnis zum übrigen Körper große Kopf. Ausgewachsene Tiere tragen außerdem eine ausgeprägte Mähne, die vom Widerrist bis zum Hornansatz reicht. Die männlichen Tiere wiegen 300–400 kg, sind 2,50 m lang und erreichen eine Schulterhöhe von ca. 1,50 m. Die Kühe wiegen 200–300 kg, werden 2,30 m lang und bis zu 1,30 m hoch. Hörner Die bei beiden Geschlechtern kräftig ausgebildeten Hörner sind mit nach oben gerichteten Spitzen gebogen. Die Hornbasen an der Stirn der Männchen sind als elastische Wülste verdickt und verbreitert, sehr dicht beieinander stehend, während die Hörner der Weibchen ein Fellband trennt. Die Hörner fangen beim vier- bis sechswöchigen Kalb zu wachsen an, doch ist die Hornbildung erst um das sechste Lebensjahr abgeschlossen. Etwa gleich lang dauert es, bis die Weibchen ihr Endgewicht erreicht haben, während bei den Männchen das Wachstum ein Jahr später endet. Die Hörner werden zur Verteidigung und von männlichen Tieren auch bei Brunftkämpfen eingesetzt. Augen Das Auge des Moschusochsen ist an die besonderen Bedingungen des arktischen Lebensraums gut angepasst: Große Pupille und hochempfindliche Netzhaut gewähren einerseits ausreichende Sehfähigkeit, wenn die Sonne während der Wintermonate unter dem Horizont bleibt und als einzige Lichtquelle Mond und Sterne dienen. Andererseits kann sich die Pupille zu einem horizontalen Schlitz verengen oder ganz verschließen und so vor Schneeblindheit schützen. Außerdem schützen Pigmentkörperchen die Netzhaut vor blendendem, von Schnee reflektiertem Sonnenlicht. Hufe Die Hufe sind breit, rund und scharfkantig. Mit den größeren Vorderhufen sind die Moschusochsen in der Lage, Schnee wegzukratzen oder Eis aufzubrechen. Fell Das lange, dichte Fell der Moschusochsen ist aus mehreren unterschiedlichen Haararten zusammengesetzt und reicht fast bis zu den Hufen hinunter. Vor allem das sehr dichte Winterfell lässt die Tiere massig erscheinen. Gegen Ende des Winters ist dieses Haar ausgeblichen und die Fellfarbe überwiegend gelbbraun statt dunkel- bis schwarzbraun. Am Sattel und an den Füßen kommen auch hellbeige bis gelbbraune Haarfarben vor; Scrotum und Euter sind graubeige. Einzelne Tiere und auch manche Populationen haben helle Haare auch im Gesicht. Ältere Tiere sind generell etwas heller gefärbt. Unmittelbar auf der Haut liegt ein dichtes, 5 cm langes Unterfell aus feiner Wolle. Es bedeckt das ganze Tier außer an Hufen, Hörnern und einer kleinen Stelle zwischen Nüstern und Lippen; sein Wechsel erfolgt in den Monaten Mai bis Juli. Darüber liegt eine Schicht grober Schutz- oder Grannenhaare, die wesentlich länger (45 bis 62 cm) sind und vor allem Hinterteil, Bauch, Flanken und Kehle bedecken. Das längste Schutzhaar wird an der Kehle getragen – daher der Name Umimmaq. Die Haut besitzt keine Talgdrüsen, weshalb die Haare Wasser und Regen nicht abweisen können. Die an eine überwiegend trockene Umgebung gewöhnten Tiere sind besonders gefährdet: Nässe führt bei ihnen nicht selten zu tödlich endenden Erkältungskrankheiten. Kälber haben bei der Geburt zimtfarbenes Deckhaar und ein Unterfell aus dunkler Wolle, das sie gemeinsam mit den isolierenden Fettdepots vor der Kälte schützt. Das längere Deckhaar erscheint erstmals am Ende des ersten Lebensjahres. Wie erwähnt, verlieren die Moschusochsen zur Mitte des Sommers ihre Unterwolle. Da ihr Wechsel nicht gleichzeitig mit den Grannenhaaren erfolgt und die feinen Wollhaare an den Grannen haften bleiben, wirken die Tiere eine Zeitlang sehr zottig. Die Unterwolle der Moschusochsen zählt zu den feinsten natürlichen Fasern. Bezogen auf ihr Gewicht ist sie achtmal wärmer als Schafswolle und so weich wie die Unterwolle der Kaschmirziegen. In Alaska hat man deshalb Versuche unternommen, Moschusochsen als Wollelieferanten zu domestizieren. Aus dem Fell der halbzahmen Tiere wird die Unterwolle von Hand herausgekämmt und zu hochwertigen Schals und Pullovern verarbeitet. Ein domestizierter Moschusochse liefert durchschnittlich 2,5 kg Wolle im Jahr, woraus Wollgarn von rund 18 km Länge mit einem Handelswert von ca. 8200 US-Dollar hergestellt wird. Die Wolle ist unter der Inuktitut-Bezeichnung Qiviuk im Handel. Fortpflanzung Weibliche Moschusochsen werden im Alter von etwa vier Jahren fortpflanzungsfähig. Männliche Tiere erreichen ihre sexuelle Reife nach sechs Jahren. Nur in Lebensräumen mit außergewöhnlich guten Bedingungen, wie sie beispielsweise im norwegischen Dovrefjell gegeben sind, werden die Tiere früher geschlechtsreif. Die Paarungszeit liegt in den Sommermonaten Juli und August. Die Kuh ist 7 bis 9 Monate trächtig und gebiert meist nur ein Kalb, das bei der Geburt etwa 10 bis 14 kg wiegt. Jährliche Geburten sind möglich; das hängt jedoch von den Bedingungen des Lebensraums ab. Bei der Geburt verfügt das Kalb über einen Vorrat an braunem Fettgewebe, das der Wärmeproduktion dient. Der Biogeograf Chris Lavers, University of Nottingham (Großbritannien), berichtet, dass es einem Moschusochsenkalb möglich ist, diesen Brennstoffvorrat so zu nutzen, dass 13 Mal so viel Wärme freigesetzt wird wie bei einem Menschen im Ruhezustand. Die Säugezeit beträgt bis zu 15 Monate, obwohl die Kälber bereits eine Woche nach der Geburt zu grasen beginnen. Verhalten Verhalten in der Herde Während des Sommers umfasst eine Herde 5 bis 15, im Winter bis zu 100 Tiere. Der Natur-Essayist und Fotograf Barry Lopez erklärt, dass es problematisch ist, aus einzelnen Beobachtungen auf die Herdenzusammensetzung und typische Verhaltensmuster zu schließen. Er hebt bei den Moschusochsen als einzigartig unter den Wiederkäuern hervor, dass sie besonders engen Körperkontakt zueinander halten und selbst während der Flucht Schulter an Schulter und Flanke an Flanke galoppieren. Die Herden verhalten sich jedoch nicht nur während der Flucht synchron. Auch die Fress- und Ruhephasen, die jeweils 100 bis 150 Minuten dauern, werden von der gesamten Herde eingehalten. Anders als Rentiere und insbesondere Karibus unternehmen Moschusochsen keine großen Wanderungen, sondern durchziehen täglich langsam ihr Revier und legen dabei durchschnittlich etwa 2 km zurück. Bullen wie Kühe beeinflussen die Bewegung der Herde und ihr Verhalten. So ergaben z. B. Beobachtungen in Norwegen, dass dort stets eine ältere Kuh die sich möglichst gradlinig bewegenden Tiere anführt. Auch liegen die Sommer- und Winterreviere häufig nur wenige Kilometer auseinander. Im norwegischen Dovrefjell, wo für die Tiere besonders gute Lebensbedingungen herrschen, halten sie sich das ganze Jahr über in einem Gebiet auf, das nur etwa 8 mal 13 km misst. Verhalten gegenüber Fressfeinden Die natürlichen Feinde der Moschusochsen sind Polarwölfe, gelegentlich auch Eis- und Braunbären (bzw. Grizzlybären). Bei Angriffen fliehen die Tiere zunächst an einen etwas erhöhten oder flach mit Schnee bedeckten Ort und wenden sich dann in einer phalanxförmigen Aufstellung mit dem Gesicht dem Angreifer zu. Werden sie z. B. durch Wölfe eingekreist, ist diese Phalanx kreisförmig; die Jungtiere stehen geschützt innerhalb dieses Kreises. Einzelne Tiere – Bullen, Kühe, aber auch Halbwüchsige – brechen dann immer wieder aus dem Kreis aus und attackieren die Angreifer. Wölfe sind bei ihrem Angriff nur erfolgreich, wenn es ihnen gelingt, ein solches attackierendes Tier von der Herde abzudrängen, oder wenn sie durch eine Lücke in der Phalanx ein Kalb ergreifen können. Verhalten während der Brunft Während der Brunftzeit kommt es unter den Bullen zu beeindruckenden Rangkämpfen. Zu den Drohgebärden vor dem eigentlichen Kampf gehören neben herausforderndem Brüllen das Reiben der Voraugendrüsen am Boden oder am Vorderbein und während eines langsamen und steifbeinigen Parallelschritts das seitliche Zeigen von Hörnern und Kopf. Beim eigentlichen Kampf galoppieren die Bullen frontal aufeinander zu und prallen mit den Stirnen voll Wucht aufeinander. Dies kann sich bis zu zwanzigmal wiederholen. Der Aufprall ist dabei so heftig, dass einer der beiden Kämpfer nicht selten auf die Hinterkeulen zurücksinkt oder beide Tiere sich aneinander hoch richten. Zum Kampfverhalten gehört es auch, dass die Widersacher einander in die Seiten stechen und sich so gelegentlich sogar tödlich verletzen. Verlierer sondern sich in der Regel von der Herde ab und leben in der Folge einzelgängerisch oder schließen sich mit anderen männlichen Tieren zusammen. In der Herde werden sie nur noch geduldet, wenn sie sich gegenüber dem Leitbullen unterwürfig verhalten. Die Werbung um die Weibchen beginnt im Juni. Der Leitbulle folgt dann seinen Weibchen, beriecht sie ausgiebig und beginnt mit angehobenem Kopf zu flehmen. Die Werbung wird bis August immer intensiver. Zur Paarung bleibt die Kuh stehen, während der Bulle aufreitet und ihre Flanken mit den Vorderläufen umklammert. Natürliche Todesursachen Die Weibchen werden selten älter als 20 Jahre; die Bullen vergreisen dagegen schon mit etwa 15 Jahren. Hauptsächliche Todesursache ist das Verhungern, wenn im Vorjahr nicht ausreichende Fettreserven aufgebaut werden konnten, um den langen arktischen Winter zu überstehen. Auch Tod durch Erfrieren oder Ertrinken ist üblich, wenn Tiere im Frühjahr durch das Eis der zugefrorenen Flüsse brechen. Meist werden die geschwächten Moschusochsen Opfer von Raubtieren. Manche sterben auch an Verletzungen, die sie sich während der Brunftkämpfe zugezogen haben. Mensch und Moschusochse Gefährdung durch Menschen Für einen mit Gewehr ausgerüsteten, von Jagdhunden begleiteten Jäger sind Moschusochsen leichte Beute, da die Tiere beim Angriff von Hunden wie bei dem von Wölfen ruhig in einem Verteidigungsring verharren und so ein ideales Ziel abgeben. Für die Eskimos waren Moschusochsen seit jeher wertvolles Jagdwild, das ihnen neben Fleisch, Haut und Wolle auch Horn und Knochen lieferte. Die Jagd auf Moschusochsen erreichte gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Die großen Polarexpeditionen nutzten das Fleisch der Moschusochsen nicht nur zur menschlichen Ernährung, sondern auch als Futter für Schlittenhundgespanne. Auch Walfänger schätzten Moschusochsenfleisch. Die Hudson’s Bay Company (HBC) trieb schwunghaften Handel mit den Fellen; zwischen 1888 und 1891 verkaufte die HBC gemäß eigenen Berichten 5.408 Moschusochsenfelle. Zum Niedergang der Moschusochsenpopulation trug auch der Ankauf von Kälbern durch zoologische Gärten bei: Zum Einfangen der Kälber schoss man die erwachsenen Tiere einer Herde einfach nieder, und auf diese Weise dürften für die 250 Moschusochsenkälber, die zwischen 1900 und 1925 an Zoos verkauft wurden, ca. 2000 erwachsene Tiere getötet worden sein. Nach Bekanntwerden der Fangmethoden stellten die Zoos nach 1925 den Erwerb von Moschusochsen ein. In Kanada sind die Moschusochsen seit 1917 und in Teilen Grönlands seit 1974 unter Schutz gestellt. Die Bestände haben sich dadurch wieder deutlich erholt (siehe nachfolgende Bestandstabelle). Aus Gründen der Traditionspflege hat Kanada den dort lebenden Inuit eine beschränkte Bejagung erlaubt: Seit 1970 sind den Inuit jährlich 20 Moschusochsen zur Jagd freigegeben; Felle und Wolle dürfen verkauft werden. Auch in Grönland ist außerhalb der Nationalparks eine begrenzte Jagd erlaubt. In Alaska wird versucht, Moschusochsen so weit zu domestizieren, dass die Wolle gewonnen werden kann (siehe obigen Abschnitt Fell). IUCN-Einstufung und Bestand Die IUCN führt den Moschusochsen gegenwärtig nicht als bedroht. In Deutschland sind nach der aufgrund des Bundesnaturschutzgesetzes erlassenen Bundesartenschutzverordnung Handel und Einfuhr von Moschusochsen verboten, um die Jagd nicht zu begünstigen. Gefährdung von Menschen Moschusochsen sind für den Menschen relativ selten gefährlich. In Norwegen wurden z. B. bislang zwei Menschen von angreifenden Moschusochsen getötet. Da sich bedroht fühlende Moschusochsen nicht immer flüchten, sondern ihre Verteidigungsstellung einnehmen und von ihr aus unversehens angreifen können, wird den Besuchern des Dovrefjells nahegelegt, einen Abstand von mindestens 200 m zu den Tieren einzuhalten, mit Hunden sogar von mindestens 500 m. Unterarten Alaska-Moschusochse (Ovibos moschatus moschatus) in Alaska, Kanada und Russland Grönland-Moschusochse (Ovibos moschatus wardi) in Grönland, Svalbard, Norwegen und Schweden, mit weißem Fellfleck auf der Stirn Nächste verwandte Tierarten Als am nächsten verwandte Tiergruppe galten ursprünglich die im nördlichen Tibet verbreiteten Takine (Budorcas). Als weitere Verwandte wurden die Seraue (Capricornis), die Gämsen (Rupicapra), die Schneeziege (Oreamnos) und der Mähnenspringer (Ammotragus) angesehen. Die nahe Verwandtschaft zwischen den Takinen und dem Moschusochsen wurde von Wissenschaftlern seit 1850 vermutet, da sich beide Gattungen in Körperbau und Verhalten ähneln. Genetische Untersuchungen durch Pamela Groves und Gerald F. Shields aus dem Jahr 1997 bestätigen dies jedoch nicht. Ihre Untersuchungen legten stattdessen nahe, dass der nächste Verwandte die Gorale (Naemorhedus) sind, eine Gattung kleiner Ziegenvertreter aus Asien, die sich vom Moschusochsen äußerlich deutlich unterscheiden. Nachfolgende Analysen konnten dies weitgehend untermauern. In engerer Beziehung stehen zusätzlich die Seraue. Alle drei Gattungen werden innerhalb der Tribus der Ziegenartigen (Caprini) zur Untertribus der Ovibovina gestellt. Literatur Wolf Keienburg (Hrsg.): Grzimeks Enzyklopädie. Bd. 5. Säugetiere. München 1988. ISBN 3-463-42005-8 Jochen Niehammer, Franz Krapp (Hrsg.); Handbuch der Säugetiere Europas. Wiesbaden 1986. ISBN 3-89104-026-1 Chris Lavers: Warum Elefanten große Ohren haben – dem genialen Bauplan der Tiere auf der Spur. Gustav Lübbe, Bergisch Gladbach 2001. ISBN 3-7857-2047-5 Barry Lopez: Arktische Träume. Düsseldorf 1987, ISBN 3-442-72642-5 (mit dem National Book Award ausgezeichnet) Jork Meyer: (PDF; 302 kB) in: Beiträge zur Jagd- und Wildforschung. 29.2004, 187–192. Günter Biallawons: Mein Norwegen, Land der Stille, Land des Lichts. Die Moschusochsen vom Dovrefjell. Tecklenborg, Steinfurt 2000. ISBN 3-924044-85-6 Erhard Treude: Zur Moschusochsen-Haltung in Nouveau-Québec, in: Hans-Josef Niederehe, Alfred Pletsch (Hg.): Beiträge zur landeskundlich-linguistischen Kenntnis von Québec. Geographische Gesellschaft, Trier 1977, S. 126–139 Dokumentation Marlene Wynants: Der Moschusochse, Wildnis Europa, arte, 2022 Online (verfügbar bis 11. September 2022) Weblinks Seite Moschusochse des VdZ (Verband der Zoologischen Gärten e.V.) Takin als nächster Verwandte des Moschusochsen? – Englische Mitschrift einer Radiosendung des Arctic Science Journeys Einzelnachweise Ziegenartige
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgarter%20Schuldbekenntnis
Stuttgarter Schuldbekenntnis
Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis oder der Stuttgarter Schulderklärung (Originaltitel: Schulderklärung der evangelischen Christenheit Deutschlands) bekannte die nach dem Zweiten Weltkrieg gebildete Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erstmals eine Mitschuld deutscher evangelischer Christen an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Die EKD-Ratsmitglieder Hans Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller verfassten die Erklärung gemeinsam auf einer Ratstagung in Stuttgart und verlasen sie dort am 19. Oktober 1945. Die Autoren hatten schon in der Bekennenden Kirche Leitungsämter bekleidet. Die Erklärung ging aus ihren Einsichten über das Versagen der evangelischen Kirchenleitungen in der Zeit des Nationalsozialismus hervor, die sie im Kirchenkampf und nach Kriegsende gewonnen hatten. Anlass war der Besuch hochrangiger Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die bereit waren, sich mit den Deutschen zu versöhnen und die EKD aufzunehmen. Dazu erwarteten sie von deren Vertretern ein glaubwürdiges Schuldbekenntnis. Mit der Erklärung kamen die Autoren dieser Erwartung nach und öffneten der EKD den Weg zu ökumenischer Gemeinschaft und verstärkter Hilfe für die notleidenden Deutschen. Der Text war ein Kompromiss aus vorherigen persönlichen Schulderklärungen und Vorentwürfen der Autoren. Sie wollten zuerst ihre eigene Schuld, dann die der evangelischen Christen, dann auch die der Deutschen benennen, jedoch nicht im Sinne einer Kollektivschuld. Die Veröffentlichung des Textes löste heftige Kontroversen in der EKD und der deutschen Bevölkerung aus, bildete langfristig aber den Ausgangspunkt einer Neubesinnung des deutschen Protestantismus. Wortlaut Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen Stuttgart, den 18./19. Oktober 1945 Die Unterzeichner waren neben den drei Autoren: Theophil Wurm, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Württemberg Hans Meiser, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern Heinrich Held, Pfarrer in Essen, später Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Johannes Lilje, Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents, später Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers Hugo Hahn, Pfarrer, später Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens Wilhelm Niesel, Pfarrer, später Theologieprofessor und Präses des Reformierten Bundes Rudolf Smend, Professor, Staats- und Kirchenrechtler Gustav Heinemann, Rechtsanwalt, Synodaler, Laienvertreter, später Bundespolitiker und Bundespräsident Vorgeschichte Kirchenkampf Die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) hatte sich 1934 nicht am Verhältnis zum Nationalsozialismus gespalten. Fast alle späteren Unterzeichner der Stuttgarter Erklärung hatten Adolf Hitlers Kanzlerschaft begrüßt, zu fast allen Verfolgungs- und Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten vor 1939 geschwiegen, die Eroberungskriege des NS-Regimes, beginnend mit dem Überfall auf Polen, unterstützt und nur in einigen die Kirche betreffenden Teilbereichen gegen Maßnahmen des Regimes Stellung bezogen. Dabei hatte auch die Bekennende Kirche (BK) ihre grundsätzliche Staatstreue ständig bekundet und mit Ergebenheitsadressen – bis hin zu einem freiwilligen Führereid der Pastoren 1937 – versucht, sich gegenüber den Deutschen Christen (DC) und staatlichen Dienststellen zu behaupten. Im Kirchenkampfverlauf erkannten jedoch einige BK-Vertreter den Unrechtscharakter des Regimes, das sie um des organisatorischen Erhalts der Kirche willen bejaht hatten. Am 19. September 1938 rief der aus Deutschland ausgewiesene Schweizer Theologe Karl Barth alle Tschechen auf, dem Hitlerregime im Falle einer Besetzung der Tschechoslowakischen Republik aus christlicher Verantwortung bewaffneten Widerstand zu leisten. Er folgerte dies aus der Barmer Theologischen Erklärung, dem von ihm 1934 verfassten Glaubensbekenntnis, auf dessen Basis die BK im Juni 1934 gegründet worden war. Die „Vorläufige Kirchenleitung“ der BK (VKL) distanzierte sich sofort von diesen „für sie untragbaren Äußerungen“, in denen nicht mehr der Theologe, sondern der Politiker Barth rede. Am 27. September 1938, auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, schlug die zweite VKL unter dem Dahlemer Pfarrer Fritz Müller ihren Pastoren vor, „anlässlich drohender Kriegsgefahr“ im folgenden Sonntagsgottesdienst ein Schuldbekenntnis am Maßstab der Zehn Gebote zu verlesen: Zwei Tage darauf schien das Münchner Abkommen die Kriegsgefahr gebannt zu haben. Die meisten Pastoren verlasen den Gebetsvorschlag nicht mehr, sofern die lutherischen Kirchenleitungen diesen überhaupt an sie weitergeleitet hatten. Am 27. Oktober griff Das Schwarze Korps, die Zeitschrift der SS, die VKL wegen Landesverrats an: „Politisierende Kleriker und ihre Klüngel“ hätten den „Kampf um die Freiheit von Millionen Blutsbrüdern“ vor „bolschewistischer Vernichtung“ als „Strafe Gottes“ hingestellt und nicht für den Führer, sondern nur für fremde Regierungen gebetet. Das sei Sabotage an der „geschlossenen Einsatzbereitschaft des Volkes“, dessen Sicherheit die „Ausmerzung der Verbrecher“ zur Staatspflicht mache. Daraufhin suspendierte Kirchenminister Hanns Kerrl die VKL-Mitglieder, sperrte ihre Gehälter und bestellte die lutherischen Landesbischöfe ein, worauf diese sich alle aus „religiösen und vaterländischen Gründen“ eilig von der VKL distanzierten und deren Mitglieder aus der Kirchengemeinschaft ausschlossen. Nur die Landesbruderräte solidarisierten sich mit der völlig isolierten VKL und wurden daraufhin ebenfalls kirchenrechtlich diszipliniert. Dies beendete die zuvor laufenden Einigungsbemühungen der sogenannten „intakten“ Landeskirchen mit Staatsbehörden und BK-Vertretern. Kurz darauf schwiegen deren Bischöfe ausnahmslos zu den Novemberpogromen. Nur einzelne Christen wagten öffentlich Protest, noch weniger leisteten Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Dietrich Bonhoeffer etwa nahm seit 1937 auf eigene Verantwortung als Christ an konspirativen Attentats- und Putschplänen teil. Nach Hitlers siegreichem Frankreichfeldzug 1940 verfasste er in seiner Ethik ein stellvertretendes Schuldbekenntnis für die ganze evangelische Kirche. Er stellte das Schweigen der Kirche zu staatlicher Gewalt gegen die wehrlosen Juden und andere Minderheiten heraus, so dass sich im Angesicht Jesu Christi jeder Seitenblick auf die Schuld anderer verbiete. Doch nach seiner Inhaftierung 1943 ließen die Fürbitten der BK Bonhoeffer bis nach Kriegsende 1945 unerwähnt. Hans Asmussen, der die Barmer Erklärung im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre als strikte Trennung von Glaube und Politik interpretierte, sandte im Dezember 1942 einen Brief an den ÖRK, in dem er als Vertreter der BK das „Bewusstsein deutscher Schuld“ aussprach. Innenpolitische Situation Nach Kriegsende war die Lebenssituation in großen Teilen Europas äußerst schwierig. Wohnraum und Infrastruktur waren besonders in den deutschen Großstädten vielfach zerstört. Es mangelte überall an wichtigen Lebens-, Arznei- und Heizmitteln, Bekleidung und Krankenhäusern. Schwerstarbeit beim Schuttaufräumen, hohe Säuglingssterblichkeit, Krankheiten wie die Ruhr, Demontagen, Zustrom von Millionen Flüchtlingen und Kriegsgefangenschaft weiterer Millionen belasteten die Deutschen. Die Nahrungsrationen reichten nur zur Abwehr von Hungerkatastrophen aus. In dieser Notlage konzentrierten sich die meisten Deutschen auf ihr Überleben. Eine Rückbesinnung auf das eigene Verhalten in der NS-Zeit und politische Neubesinnung fanden zunächst kaum statt. Mit den Juden schien auch die „Judenfrage“ verschwunden, so dass der Antisemitismus sich nur noch wenig bemerkbar machte und bis zur Gründung der Bundesrepublik auch kaum öffentlich debattiert wurde. Viele Deutsche empfanden das Potsdamer Abkommen angesichts der Vertreibungen als schlimmere Neuauflage des Versailler Vertrags. Die ersten Direktiven zur Umerziehung (reeducation) und Entnazifizierung wirkten wegen ihrer Gleichbehandlung von einfachen Mitläufern und Führungskadern der NSDAP ungerecht und bewirkten vielfach Denunziationen. Auch die Angst vor sowjetischer Besetzung ganz Deutschlands spielte bereits eine Rolle, zumal Gewalttaten der Roten Armee schon bekannt bzw. die im Hitlerdeutschland systematisch geschürte Angst davor in der Bevölkerung noch präsent waren. Auf diesem Hintergrund zögerten die Kirchenführer, die schon im Dritten Reich Hitlers Antikommunismus unterstützt hatten, ein öffentliches Schuldbekenntnis auszusprechen. Sie fürchteten, den Besatzungsmächten damit nur Argumente für umso härtere Vergeltungsmaßnahmen zu liefern. Neubildung der EKD Am Himmelfahrtstag 1945 (10. Mai), zwei Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, fand in Stuttgart die erste Großkundgebung der evangelischen Kirche statt. Vor einer großen Menge verkündete der württembergische Landesbischof Wurm als „Sprecher der ganzen Bekennenden Kirche in Deutschland“ im Beisein des Generals der französischen Besatzungstruppen: Er wies die Schuld an Krieg und Völkermord der „Gottlosigkeit“ des NS-Regimes und seiner „Abkehr von Gott und seinen Lebensordnungen“ zu. Die Kirche habe diesen „Säkularismus“ bekämpft. Tatsächlich hatten gerade Wurm und die übrigen lutherischen Landesbischöfe im Hitlerstaat die „von Gott gesetzte Ordnung“ erblickt und die Christen im Mai 1939 angewiesen, „sich in das völkisch-politische Aufbauwerk des Führers mit voller Hingabe einzufügen.“ Statt Protest gegen den Krieg folgten seit Kriegsbeginn demgemäß gemeinsame Aufrufe von Bekennenden und Deutschen Christen zur Opferbereitschaft. Seit 1941 versuchte Wurm, BK, DC, „Neutrale“ und „intakte“ Landeskirchen unter dem Dach seines „Kirchlichen Einigungswerkes“ zu vereinen. Nur den radikalsten Flügel der „Neuheiden“ wollte er ausschließen. So traten die ungelösten Konflikte um Glauben, Gestalt und Aufgabe der Evangelischen Kirche nun wieder hervor. Die erste Initiative zur Bildung einer Deutschen Lutherischen Nationalkirche nach dem Modell der DEK ergriff August Marahrens, der Bischof der Hannoverschen Landeskirche, am 30. Mai 1945 mit einem Schreiben an den noch bestehenden Lutherrat. Dies löste heftige Proteste seitens des ÖRK aus, der darauf hinwies, dass Marahrens 1939 mit den Godesberger Thesen die Vereinbarkeit von nationalsozialistischer Ideologie und christlichem Glauben unterzeichnet hatte. Am 8. Juni 1945 lud Wurm die bestehenden Kirchenleitungen nach Treysa zur Gründungsversammlung einer neu zu bildenden Evangelischen Kirche ein, wobei er den Reichsbruderrat der BK überging. Daraufhin lud Martin Niemöller, KZ-Überlebender und im Ausland als glaubwürdig angesehener Vertreter der BK, seinerseits die Bruderräte der BK zu einem Vorbereitungstreffen für Treysa nach Frankfurt am Main ein. Er bat auch Karl Barth brieflich um Teilnahme und theologischen Rat. Barth sagte sofort zu und reiste erstmals seit seiner Zwangsentlassung 1935 wieder nach Deutschland. In Frankfurt betonte Niemöller in seinem Einleitungsreferat am 21. August die Schuld der ganzen Kirche an der „Entwicklung der letzten 15 Jahre“ und forderte, die Evangelische Kirche mit unbelasteten Kräften auf der Beschlussbasis der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem 1934 völlig neu aufzubauen. Als einziger der in Frankfurt anwesenden Bruderräte analysierte Barth das politische Versagen der BK im Dritten Reich und führte es auf die lange antidemokratische Fehlorientierung des deutschen Protestantismus zurück: Er erntete dafür unter seinen deutschen Freunden nur Empörung, eine Aussprache über sein Referat unterblieb. Niemöllers anschließender Briefwechsel mit Wurm konnte tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die künftige Gestalt der EKD nur teilweise ausräumen. Niemöller warf z. B. Dibelius vor, er habe sich den Bischofstitel unrechtmäßig zugelegt, um kirchenpolitisch Karriere zu machen. Die Landeskirchenverfassungen seien aufzuheben, die Landesbischöfe seien als geistliche Leiter der Christen ungeeignet. Das Treffen zur Bildung einer provisorischen Kirchenleitung in Treysa vom 27. bis 31. August leitete Niemöller mit einem Vortrag ein, in dem er zunächst ein persönliches Schuldbekenntnis aussprach, zu dem er in der KZ-Haft gelangt war. Dann stellte er die besondere Verantwortung der BK für die NS-Katastrophe heraus: Diese Einsichten wollte Niemöller als „Wort an die Pfarrer“ allen Predigern nahebringen, doch dies lehnten die in Treysa versammelten Kirchenführer ab. Stattdessen wurde ein „Wort an die Gemeinden“ verabschiedet, in dem es hieß: Hier wurde also keine besondere Schuld der BK benannt, sondern die gesamte Kirche als Lobby für die vom NS-Regime Entrechteten dargestellt, deren Protest durch staatliche Verfolgung nicht habe wirksam werden können. Im Widerspruch dazu redete die Abschlusserklärung vom Versagen der Kirche aufgrund traditioneller lutherischer Bejahung des Obrigkeitsstaates. Die Einheit der EKD wurde in Treysa nur gewahrt, indem die konfliktträchtige Frage nach der dem Barmer Bekenntnis gemäßen Kirchenverfassung offen gelassen wurde. Das kirchliche Außenamt unter dem Bischof Theodor Heckel, der DC-Positionen vertreten hatte, wurde aufgelöst und die Pflege der ökumenischen Beziehungen wurde Niemöller übertragen. Barth war in Treysa nur Gast; viele Kirchenvertreter sahen ihn nicht als Delegierten der BK, sondern wie 1938 als reformierten Ausländer und denunzierten ihn teilweise als „Oberinspektor der alliierten Armeen“. Er bekräftigte in einem Brief an Niemöller am 28. September, was er vor dem Treffen öffentlich mehrfach erbeten hatte: Ein einfaches, klares Wort aller deutschen Kirchenführer zu ihrer Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus sei notwendig, um einmal ohne Umschweife aus[zu]räumen, was zwischen ihnen und uns steht. Um den hilfsbereiten Kräften in der Ökumene entgegenzukommen, sollten sie öffentlich erklären: die Zustimmung des deutschen Volkes zur Politik Hitlers sei ein Irrweg gewesen, die gegenwärtigen Nöte Deutschlands und Europas seien eine Folge dieses Irrtums, die deutsche evangelische Kirche habe sich durch falsches Reden und falsches Schweigen an diesem Irrtum mitverantwortlich gemacht. Erste Schulderklärungen nach 1945 Nach der bedingungslosen Kapitulation aller deutschen Streitkräfte am 8. Mai 1945 äußerte sich Pastor Friedrich Bodelschwingh mit einer Predigt am 27. Mai 1945 als Erster zur Schuldfrage: Asmussen sandte Anfang Juni eine Predigt an den anglikanischen Bischof George Bell, in der es hieß: Das blieben jedoch zunächst Einzelstimmen. Für die Gesamtkirche entwarf Bischof Wurm im Juli ein „Wort an die Christenheit im Ausland“, das erst Monate später zusammen mit der Stuttgarter Erklärung veröffentlicht wurde. Darin gestand er die Schuld der Deutschen am Kriegsausbruch ein, wies aber den Siegermächten zugleich die Verantwortung dafür zu, dass Hitler überhaupt zur Macht gelangen konnte. Er sah die Kirche in der Opferrolle, die nur unter Lebensgefahr Protest wagen konnte: Hier wurden drei später immer wiederkehrende Argumentationsmuster deutlich: Die Kirche wurde so dargestellt, als habe sie als Ganze wenigstens manchmal gegen Unrecht protestiert, sei aber vom Staat daran gehindert worden. Verschwiegen wurde, dass meist nur einzelne Protestanten, selten Kirchenleitungen, Rechtsbruch benannt hatten und noch weniger dagegen aufgestanden waren. Die Staatsmaßnahmen gegen die Kirche und die Beschneidung ihres öffentlichen Einflusses wurden mit dem Judenmord in einer Reihe aufgezählt. So sah man sich eher als Opfer neben Opfern, nicht als Mitverursacher des Holocaust. Das Wort sollte erklären, weshalb die Kirche dazu nichts sagen konnte. Dass die Bischöfe selbst kritische Erklärungen der VKL häufig nicht weitergaben und sich von deren Autoren lossagten, wurde nicht als Schuld erkannt. Eine spezifische Schuld der Kirche kam nicht vor. Ihren Anteil am Aufstieg der Nationalsozialisten und den Zusammenhang zwischen kirchlichem Antijudaismus und Antisemitismus reflektierte Wurm nicht. Stattdessen redete er in traditioneller Solidarisierung mit dem Nationalismus über die Kränkung der „deutschen Ehre“. Dem standen Privatinitiativen einiger Pastoren gegenüber. So sandte Gottlieb Funcke an Bischof Wurm einen Entwurf für das Stuttgarter Treffen, der die deutsche Schuld nicht durch Hinweise auf alliierte Schuld relativierte und den Verbrechen an den Juden den ersten und ausführlichsten Platz einräumte: Danach zählte er die Vernichtungslager auf, in denen Juden ermordet wurden, wies auf „Grausamkeiten gegen deutsche, polnische, russische und vor allem jüdische Menschen“ hin und wies die Berufung auf Unkenntnis der Judenverfolgung zurück: Funcke sprach die Verantwortung der Deutschen für die Überlebenden des Holocaust an, denen man das Versprechen einer neuen Lebensgemeinschaft unter den „Leitsternen“ von Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit schulde. Ökumenische Erwartungen Die Vertreter der Ökumene hatten im Kirchenkampf auf vielfältige Weise versucht, den Bekennenden Christen und „Nichtariern“ zu helfen und sich dabei nicht selten den Unmut ihrer eigenen Regierungen zugezogen. Sie wollten nun unbedingt verhindern, dass die ökumenische Kirchengemeinschaft erneut wie 1918 die Kriegsschuldfrage ausklammerte und so zu ihrer gesamtpolitischen Verdrängung beitrug. Zugleich wollten sie dazu beitragen, dass die Bevölkerungen der Siegerstaaten einen Neubeginn mit den Deutschen mittragen würden. Bischof George Bell, dessen Protest im britischen Oberhaus gegen die alliierte Luftkriegsführung 1942/43 ihn das Führungsamt der Church of England gekostet hatte, hatte die Predigt von Friedrich Bodelschwingh am 27. Mai 1945 aufmerksam wahrgenommen und freudig begrüßt: Im Juli 1945 besuchten hochrangige Vertreter des ÖRK – Hans Schönfeld, Stewart Herman und der emigrierte deutsche Pfarrer Adolf Freudenberg – erstmals die westlichen Besatzungszonen, um die Bereitschaft der deutschen Protestanten zur Aufnahme in die Ökumene zu sondieren. Sie erwarteten, dass die Evangelische Kirche sich einer „Selbstreinigung “ unterziehen und kirchliche Würdenträger wie Marahrens und Heckel, die „ständige Verbeugungen vor den Nationalsozialisten“ gemacht hatten, zum Rücktritt zwingen solle. Denn die Besatzungsbehörden übten in dieser Richtung damals keinen Druck aus, sondern sahen evangelische Kirchenvertreter weithin unkritisch als Vertretung einer innerdeutschen Opposition zum Hitlerregime an. In ihren Berichten registrierten die Besucher die Stimmung unter den Protestanten: Der Theologe Paul Althaus etwa sah die „Nationale Revolution“ von 1933 nach wie vor als legitime Reaktion auf das „Unrecht von Versailles“. Er schrieb in einem Vortrag: „Unsere Führung hat furchtbare Fehler gemacht“, ohne diese zu benennen und ohne eine kirchliche Mitschuld anzudeuten. Sodann ging er nahtlos zum „Vertreibungsunrecht der Alliierten“ über, das er sehr konkret darstellte und daran die Frage anschloss, ob die Deutschen nun aus einem unbegreiflichen Willen Gottes heraus unter einen vergleichbaren „Fluch“ wie die Juden geraten seien. Deshalb sahen die Ökumenevertreter Christen, die wie Niemöller seit Monaten vor dem Stuttgarter Treffen unaufgefordert, öffentlich und rückhaltlos eigene Schuld bekannten, als ihre vorrangigen Gesprächspartner an. Am 24. Juli schrieb der Generalsekretär des ÖRK, Willem Adolf Visser ’t Hooft, an George Bell und bat ihn, auf die Briten einzuwirken, damit diese Marahrens zum Rücktritt aufforderten: Die Auslandskirchen würden sonst keine normalen Beziehungen zur EKD aufnehmen können. Bell, dem dies widerstrebte, versuchte stattdessen, Marahrens in einem persönlichen Besuch in Loccum von der Notwendigkeit seines Rücktritts zu überzeugen: vergeblich. Marahrens blieb bis 1947 im Amt, verlor aber seinen Einfluss auf die Gestaltung der EKD. Am 25. Juli schrieb Visser ’t Hooft zudem an Dibelius und bat ihn um ein „brüderliches Gespräch“ mit den Kirchenvertretern, die schwer unter der deutschen Besetzung gelitten und deren Folgen zu tragen hätten: Er erwartete diese Erklärung ebenso wie die Entlassung von besonders belasteten deutschen Kirchenführern bereits als Ergebnis des Treffens in Treysa, wo beides jedoch ausblieb. Während Dibelius ausweichend antwortete, lud Niemöller Visser ’t Hooft am 10. Oktober nach Stuttgart ein. Ein weiterer Brief von Ehrenberg an Niemöller bekräftigte unmissverständlich die entscheidende Bedeutung einer Schulderklärung auf dem Stuttgarter Treffen für die Hilfsbereitschaft der Ökumene und künftigen Beziehungen zu ihr. Das machte den deutschen Kirchenvertretern deutlich, dass ohne eindeutiges Schuldbekenntnis keine erneuerten Beziehungen zur Ökumene erreichbar waren. Verlauf des Stuttgarter Treffens Nach wochenlangen Bemühungen um eine Einreiseerlaubnis traf sich die Delegation des ÖRK am 15. Oktober 1945 in Baden-Baden, um ihr Treffen mit den EKD-Vertretern vorzubereiten. Zu ihr gehörten: Willem Adolf Visser ’t Hooft, Generalsekretär des Ökumenischen Rates, Samuel McCrea Cavert, Generalsekretär der christlichen Kirchen Nordamerikas, G.C. Michelfelder, Präsident des Rates der lutherischen Kirchen in den USA, Pierre Maury, Pastor und Vertreter der Reformierten Kirche Frankreichs, Marcel Sturm, reformierter Feldbischof der französischen Armee, Hendrik Kraemer, Vertreter der Reformierten Kirche der Niederlande, Alphons Koechlin, Präsident des Evangelischen Kirchenbundes der Schweiz. Letzterer notierte als Ziel des Treffens: Am 17. Oktober morgens trafen die Delegierten in Stuttgart mit Eugen Gerstenmaier zusammen und erörterten Unterstützungsprogramme für die notleidende deutsche Bevölkerung. Am Nachmittag suchten sie Bischof Wurm auf. Dieser zeigte sich überrascht, setzte aber das Gespräch mit den Gästen auf die Tagesordnung für den Folgetag. Am Abend predigte der nur eine Stunde zuvor eingetroffene Martin Niemöller in der Markuskirche über den Bibeltext . Er bekräftigte, was er in Treysa gesagt hatte: Nicht nur Deutschland, auch die europäischen Nachbarstaaten litten furchtbar unter den deutschen Vergehen. Nur echte Buße könne echte Vergebung Gottes und damit den nötigen politischen Neuanfang bewirken. Visser 't Hooft erinnerte sich an Niemöllers Predigt in seiner Autobiografie: Einen anderen Akzent setzte der Stuttgarter Prälat Karl Hartenstein in seiner Eröffnungsansprache: Er erwartete also ein zur deutschen Schulderklärung analoges oder gemeinsames Schuldbekenntnis der Ökumene, das keine konkreten Aussagen über Kriegs- und Völkermordursachen enthalten sollte. Am Donnerstagmorgen um 9:00 Uhr beriet der Rat das Thema Entnazifizierung im eigenen kirchlichen und im gesellschaftlichen Bereich und erließ Richtlinien zur Entlassung von DC-Pfarrern, über die eigens gebildete Spruchkammern aus zwei Pastoren und einem Juristen entscheiden sollten. Parallel dazu berieten die ÖRK-Gäste nochmals über Fragen des Wiederaufbaus. Nach dem Mittagessen empfing Oberst Dawson, der US-Befehlshaber für Stuttgart, die deutschen und ökumenischen Delegierten. Gegen 15:00 Uhr trafen sich Visser 't Hooft, Asmussen und Niemöller in einem Café, um die folgende Ratssitzung vorzubesprechen. Sie waren sich einig, dass nun eine Schulderklärung der deutschen Vertreter unumgänglich sei. Um 16:00 Uhr leitete Asmussen die entscheidende Sitzung mit einem persönlichen Schuldbekenntnis ein: Er betonte, diese Schuld an den Brüdern könne nur zwischen den Schuldigen und Gott „geregelt“ werden, so dass auch die ökumenischen Brüder ohne Rücksicht auf politische Wirkungen ihre Schuld mit Gott ausmachen könnten. Niemöller stellte sich hinter Asmussens Erklärung: Sie spreche das „Gewissen unserer Kirche“ aus und sei Zeichen für einen völlig neuen Anfang. Er betonte die besondere kirchliche Mitschuld: Als dritter Redner betonte Niesel: Als erster Gast beantwortete Hendrik Kraemer: Die Gemeinschaft in Christus stehe über allem, was die Nationen trenne. Deshalb könne und müsse dieses Trennende dann aber auch ausgesprochen werden. Die deutsche Besetzung habe sein Land schwer leiden lassen, und dies habe Hass auf die Deutschen ausgelöst, den er nicht verschweigen wolle. Alphons Koechlin fragte nach, ob alle Ratsmitglieder die Schulderklärungen mittrügen und ob die EKD sie gegenüber ihren Mitgliedskirchen veröffentlichen werde. Er fuhr fort: Diese Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, bestimmte das weitere Gespräch. Daraufhin schlug Asmussen vor, der Rat der EKD solle eine öffentliche Erklärung „im Geist des eben geführten Gesprächs“ ausarbeiten, die die ÖRK-Vertreter ihren Heimatkirchen vorlegen könnten. Bevor die Ratsmitglieder sich zurückzogen, um diese zu formulieren, erörterten sie im Beisein der Gäste die katastrophale Lage in Ostdeutschland. Der endgültige Wortlaut der Stuttgarter Erklärung entstand aus einem Textentwurf von Dibelius, in den Sätze aus Asmussens persönlichem Schuldbekenntnis sowie Passagen aus Niemöllers Predigt über Jeremia 14,17–21 eingebaut wurden. Unter dem Eindruck der Vertreibungen wurden konkrete Aussagen zur deutschen Kriegsschuld vermieden, weil man fürchtete, sonst in ein gegenseitiges Aufrechnen von Schuld einzutreten. Niemöller stellte die Endfassung her, indem er einige Formulierungen von Dibelius änderte. So ersetzte er die Feststellung „Nun ist in unserer Kirche ein neuer Anfang gemacht worden“ durch die Aufgabe: „Nun soll in unserer Kirche ein neuer Anfang gemacht werden.“ Er setzte auch gegen das Zögern von Dibelius durch, dass ein Kernsatz aus Asmussens Vorentwurf in den Text kam: Erst am späten Abend traf Bischof Bell als Vertreter der Anglikaner Großbritanniens bei dem Treffen ein, begleitet von Ernest Gordon Rupp, Pastor der Methodisten in England. Sie besuchten Wurm in seiner Privatwohnung und tauschten sich bis weit in die Nacht hinein aus. Am Morgen des 19. Oktober händigte Asmussen den Ökumenegästen je eine Kopie der getippten Erklärung aus, verlas sie und fügte hinzu: Nachdem die von allen Ratsvertretern unterzeichnete Urkunde dem ÖRK überreicht war, bedankte sich Maury für diese mit den Worten: Nach weiteren Dankesworten hielt Bell seine auf dem Flug vorbereitete Rede, in der er das Zeugnis der BK würdigte und die NS-Verbrechen, aber auch die Vertreibungen der Deutschen aus den Ostgebieten als „grausam, ungerecht und unmenschlich“ benannte. Um dem entgegenzuwirken, sprach er sich leidenschaftlich für die künftige Verwirklichung einer Bruderschaft der Kirchen in der ökumenischen Bewegung aus. Wirkung Reaktionen in Deutschland Die Stuttgarter Erklärung wurde am 27. Oktober 1945 zuerst im Kieler Kurier, einer Zeitung der britischen Militärregierung, veröffentlicht; vier Tage später auch in der Hamburger Neuen Presse. Beide Artikel standen unter der Überschrift: Schuld für endlose Leiden. Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld. Es folgten der volle Wortlaut der Erklärung mitsamt den Namen ihrer Unterzeichner und Adressaten. Die Veröffentlichung löste ungeheure Empörung, Unverständnis und heftigen Widerspruch aus und stieß nur selten auf Zustimmung. Ihre Entstehungsumstände waren in der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Der Wortlaut wurde vielfach als Fälschung angezweifelt, zumal die EKD-Führung den Gemeinden diesen erst viel später bekannt machte. Mit der „deutschen Kriegsschuld“ stellten die Zeitungen ein Stichwort in den Vordergrund, das in der Erklärung weder vorkam noch primär gemeint war. Nach den ersten Entnazifizierungsdirektiven der Besatzungsmächte fürchteten gerade auch evangelische Christen diese öffentliche Schulderklärung weithin als einseitiges Zugeständnis an eine vom Ausland aufgenötigte Siegerjustiz und als weiteres Argument für harte Vergeltungsmaßnahmen. Diesen hielt man angebliche oder wirkliche alliierte Verbrechen entgegen, so der schleswig-holsteinische Präses Wilhelm Halfmann: So distanzierte man sich von den Vertretern der eigenen Kirche wie von feindlichen Vaterlandsverrätern. Gerade der von Niemöller eingefügte Kernsatz blieb jahrelang umstritten und war Stein des Anstoßes für viele konservative Lutheraner, die hier die traditionelle Unterscheidung von Kirche und Staat vermissten und dem Staat allein die Verantwortung für Krieg und Völkermord zuweisen wollten. Vom Antijudaismus als Wurzel der NS-Ideologie sprach ohnehin noch niemand; Wurm und Dibelius waren Antisemiten und thematisierten diese besondere Verantwortung der Kirche für den Holocaust kaum. Einige Christen aus dem Umfeld der Dahlemiten, des radikaleren Flügels der BK, kritisierten, dass die Erklärung weder Holocaust noch Kriegsursachen explizit benannte. Sie widersprachen den von Asmussen übernommenen Komparativen („… nicht mutiger bekannt …“), die den Positiv „wir haben mutig bekannt“ voraussetzten. Denn fast dieselbe Formulierung hatte die Junge Kirche, ein der BK nahestehendes Kirchenblatt, 1939 zum „50. Geburtstag des Führers“ verwendet: Paul Schempp und Hermann Diem sahen die Voraussetzung, man habe mutig bekannt, nur nicht mutig genug, als den Tatsachen des Kirchenkampfes völlig unangemessenes Eigenlob. Reaktionen in der Ökumene Nach der Verlesung war es dem anglikanischen Bischof George Bell vorbehalten, den Hauptmangel der Erklärung anzudeuten, indem er an den Widerstand seines engen Freundes Dietrich Bonhoeffer erinnerte und hinzufügte: Bell hatte das Ausmaß der Vergasungen noch nicht vor Augen, hob aber die Juden hervor und sprach die aktuell nötige Solidarität mit ihnen an. Seine Äußerung über die „gegenwärtig erfolgenden Ausweisungen aus dem Osten“ bezog sich primär auf die nach dem Krieg einsetzende Vertreibung von Juden, die den Krieg überlebt hatten, aus Polen, aber auch auf die Vertreibung von Millionen Deutschen aus dem Sudetenland sowie den Gebieten östlich von Oder und Neiße, gegen die sich Bell um diese Zeit in Großbritannien wandte. Doch auch er ließ offen, was die Kirche dazu beigetragen hatte, dass es zu dieser Grausamkeit kommen konnte, und welche besonderen Aufgaben über allgemeine menschliche Betroffenheit hinaus daraus in Zukunft zu folgern seien. Reaktionen in den deutschen Landeskirchen Der Rat versäumte, den Text den Gemeinden sofort zugänglich zu machen. Umso mehr überraschte die Autoren der Sturm der Entrüstung, den die Veröffentlichung auslöste. Hanns Lilje betonte, das Wort sei ja nur für die Adressaten der Ökumene gedacht gewesen. Dass man diesen gegenüber eine Veröffentlichung zugesagt hatte, verschwieg er. Nur vier von 28 evangelischen Landeskirchen – Baden, Hannover, Rheinland, Westfalen – und einige Kreissynoden machten sich die Erklärung ausdrücklich zu eigen. Die übrigen Landeskirchen unterließen dies mit Blick auf zahlreiche Protestbriefe aus den Gemeinden. Diese sprachen der vorläufigen EKD-Leitung oft das Recht ab, für alle evangelischen Christen zu sprechen. Dennoch begann allmählich ein Umdenken: Den 31. Oktober, Reformationstag, und folgenden 7. November, Buß- und Bettag, nutzten viele Pastoren als Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Schuldfrage. Am 24. November schickte die EKD-Leitung die Erklärung mitsamt einem Kommentar Hans Asmussens als offizielle Erläuterung an die Landeskirchen. Darin betonte Asmussen, es habe sich um ein allein vor Gott ausgesprochenes Schuldbekenntnis gehandelt. Dieses sei gültig ohne Rücksicht auf das, was Politik daraus mache. Er rief die Christen auf, alles Aufrechnen von Schuld hinter sich zu lassen und sich Gott zuzuwenden. Dann müsse sich der einzelne Christ zwangsläufig dem Bruder zuwenden, sich also mit der Schuld seines Volkes solidarisch erklären und deren Folgen mittragen. Diese priesterliche Haltung sei Sinn und Ausdruck der wahren christlichen Existenz. Welche politischen Konsequenzen diese Haltung haben könne und müsse, ließ er offen. Der Kirchenhistoriker Martin Greschat erklärt das Zögern des Rates, den Text selbst zu veröffentlichen, damit, dass den Autoren dessen Tragweite nicht bewusst war. Sie hätten faktisch politische Verantwortung für das deutsche Volk übernommen und damit einen Bruch mit der obrigkeitshörigen Tradition des deutschen Nationalprotestantismus eingeleitet. Sie hätten sich klar darüber sein müssen, dass dieser erste Schritt Folgeschritte erforderte und als Herausforderung an alle Gemeinden offensiv vertreten werden musste. Weitere Folgen In den folgenden Jahren zeigte sich, dass die Stuttgarter Erklärung nicht geeignet war, den Prozess der Aufarbeitung des kirchlichen Versagens in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zu fördern. Sie trug zunächst eher zu einer raschen Selbstberuhigung und Hinwendung zu restaurativen Tendenzen bei. Deutliches Zeichen dafür war die öffentliche Entlastung für zahlreiche von der Entnazifizierung betroffene ehemalige NSDAP-Angehörige in der BK, die Hans Meiser am 15. März 1947 gab: Dies kritisierten Angehörige der BK wie Karl Steinbauer, der im Gegensatz zu Meiser, Dibelius, Lilje und anderen Autoren der Erklärung im Konzentrationslager gesessen hatte, umgehend als „Generalpersilschein“. Die Tübinger theologische Fakultät warnte im Blick auf das damals umstrittene Entnazifizierungsgesetz davor, „der Rat der EKiD könnte vergessen haben, dass es sich um ein Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus und nicht um ein Gesetz zur Reinigung des Nationalsozialismus und Militarismus oder gar um ein Gesetz zu gemäßigter Rechtfertigung [derselben] … handelt.“ Das Darmstädter Wort von 1947 war die erste Nachkriegserklärung deutscher Protestanten, die die längerfristigen historischen Ursachen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und die kirchliche Mitverantwortung dafür ansprach. Auch darin wurden der Holocaust und Antijudaismus noch nicht direkt genannt. Entscheidende Anstöße für deren Aufarbeitung gaben erst das „Wort zur Judenfrage“ der EKD-Synode von Berlin-Weißensee 1950, dann die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, die 1961 gegen den Widerstand der meisten Autoren der Stuttgarter Erklärung im Auftrag der EKD gegründet wurde und bis heute besteht. Weiterführende Informationen Siehe auch Kirchen und Judentum nach 1945 Quellen Die Stuttgarter Erklärung. Verordnungs- und Nachrichtenblatt der EKD Nr. 1, Januar 1946 (Faksimile) Das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland, 18./19. Oktober 1945. In: 1000dokumente.de EKD: Stuttgarter Schulderklärung Literatur Karl Richard Ziegert: Die Entstehung der Stuttgarter Schulderklärung. In: Karl Richard Ziegert: Zivilreligion – der protestantische Verrat an Luther. Wie sie in Deutschland entstanden ist und wie sie herrscht. Olzog, München 2013, ISBN 3-9576809-8-0, S. 187–205. Clemens Vollnhals: Entstehung und Grenzen des Stuttgarter Schuldbekenntnisses. In: Hans Woller, Klaus-Dietmar Henke, Martin Broszat (Hrsg.): Von Stalingrad zur Währungsreform: Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 3-486-59551-2, S. 130–140 Günter Brakelmann: Kirche und die Frage der Mitschuld 1945–1950. In: Günter Brakelmann: Evangelische Kirche und Judenverfolgung. Drei Einblicke. Hartmut Spenner, Waltrop 2001, ISBN 3-933688-53-1, S. 67–95. Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. Institut Kirche und Judentum, Berlin 1993, ISBN 3-923095-69-4. Siegfried Hermle: Evangelische Kirche und Judentum – Stationen nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990, ISBN 3-525-55716-7. Hans Prolingheuer: Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz. Pahl-Rugenstein, Köln 1987, ISBN 3-7609-1144-7. Walter Bodenstein: Ist nur der Besiegte schuldig? Die EKD und das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945. Ullstein, Frankfurt am Main / Berlin 1986, ISBN 3-548-33065-7. Gerhard Besier, Gerhard Sauter: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985, ISBN 3-525-52181-2. Martin Greschat (Hrsg.): Im Zeichen der Schuld: 40 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis, eine Dokumentation. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1985, ISBN 3-7887-0779-8. Brigitte Hiddemann (Hrsg.): Das Stuttgarter Schuldbekenntnis: 1945–1985. Evangelische Akademie, Mülheim/Ruhr 1985. Martin Greschat (Hrsg.): Die Schuld der Kirche: Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945. Christian Kaiser, München 1982, ISBN 3-459-01427-X Albrecht Schönherr: Welche unerledigten Aufgaben ergeben sich aus dem Stuttgarter Schuldbekenntnis? In: Andreas Baudis (Hrsg.): Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens: Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag. Christian Kaiser, München 1979, ISBN 3-459-01186-6, S. 299–308. Eberhard Bethge: Geschichtliche Schuld der Kirche. Anmerkungen zum Stuttgarter Schuldbekenntnis. In: Eberhard Bethge (Hrsg.): Am gegebenen Ort. Aufsätze und Reden 1970–1979. Christian Kaiser, München 1979, ISBN 3-459-01217-X, S. 117–129. Hartmut Ludwig: Karl Barths Dienst der Versöhnung. Zur Geschichte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses. In: Heinz Brunotte, Ernst Wolf (Hrsg.): Zur Geschichte des Kirchenkampfes. Gesammelte Aufsätze II. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1971, ISBN 3-525-55528-8, S. 265–310. Weblinks Armin Boyens: Das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 – Entstehung und Bedeutung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 374–397 (PDF, 5,9 MB). Gerhard Besier: Die politische Rolle des Protestantismus in der Nachkriegszeit. Bundeszentrale für politische Bildung EKD: Pressetexte zum 60. Jahrestag der Stuttgarter Erklärung Einzelnachweise Christentum in Deutschland (20. Jahrhundert) Aufarbeitung des Nationalsozialismus Evangelische Kirche in Deutschland Bekenntnis (Christentum) Religion 1945
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https://de.wikipedia.org/wiki/Storchschn%C3%A4bel
Storchschnäbel
Die Storchschnäbel oder Geranien (Einzahl Geranie aus griechisch-lateinisch , dialektal auch Granium) sind mit 380 bis 430 Arten die artenreichste Gattung der Pflanzenfamilie der Storchschnabelgewächse (). Sie sind auf allen Kontinenten verbreitet. Arten und Sorten der Gattung Geranium werden mindestens seit dem 16. Jahrhundert als Zierpflanzen kultiviert und Arten und vor allem Sorten sind in zahllosen Gärten und Parks anzutreffen. Pelargonien und Geranien Bis ins späte 18. Jahrhundert wurden auch die als Beet- und Balkonpflanzen beliebten Pelargonien zur Gattung Geranium gezählt. Darauf weist der für diese Pflanzen noch heute in der Umgangssprache und im allgemeinen Handel gebräuchliche Begriff Geranien hin, der botanisch allerdings nicht korrekt ist. Denn Geranien (Geranium) und Pelargonien (Pelargonium) sind innerhalb der Storchschnabelgewächse zwei verschiedene Gattungen, die allerdings eng verwandt sind. So gibt es einige wenige Geranienarten, die sich wie Pelargonien durch weiche, filzige Stängel und große Rundblätter auszeichnen und damit den Arten dieser Gattung sehr ähnlich sehen. Einer der Unterschiede zwischen den beiden Gattungen ist: Geranium hat radiärsymmetrische Blüten und Pelargonium hat zygomorphe Blüten. Verbreitung Storchschnäbel – weltweit zuhause Storchschnabelarten kommen auf allen Kontinenten und sogar in der Arktis und Antarktis vor. Sie sind außerdem in Südafrika, Taiwan, Indonesien, Neuguinea, Australien, Tasmanien, Neuseeland, den Hawaii-Inseln, den Azoren und Madeira vertreten, wobei die eher kühleres Wetter bevorzugenden Geranien in diesen Regionen in der Regel in Gebirgsregionen wachsen. Geranium-Arten benötigen ein kühl-gemäßigtes Klima. Da in solchen Gebieten der Erde selten Trockenheit herrscht, sind viele der Storchschnabelarten gut auf feuchte Böden eingestellt. Aufgrund dieses Feuchtigkeitsbedürfnisses herrschen in den wärmeren Regionen ihres Verbreitungsgebietes einjährige Geranium-Arten vor, die ihre Wachstumszeit in der Regel im Winter haben und im Sommer als Samen ruhen. Standortanpassungen in Mitteleuropa heimischer Storchschnäbel Die meisten Storchschnabelarten bevorzugen basen- und stickstoffsalzreiche Lehmböden. Sie besiedeln häufig Ödlandflächen, Hackfruchtäcker, lückige Gebüsche und Rodungsflächen. Innerhalb dieses Standortspektrums zeigen die einheimischen Storchschnäbel artspezifische Anpassungen. Der Blutrote Storchschnabel wächst in Europa bis nach Kleinasien in den sonnigen und lichten Waldrandbereichen und kommt dabei auch mit trockenen Böden zurecht. Der Wiesen-Storchschnabel, dessen Verbreitungsgebiet von Europa bis nach Mittelasien und Sibirien reicht, ist dagegen eher an kühl-feuchten Standorten zu finden und wächst bevorzugt in den feuchten Senken von Wiesen und an Gräben. Der Wald-Storchschnabel, der von Europa bis nach Westasien zu finden ist, wächst dort in bodenfeuchten Mischwäldern, auf frischen bis feuchten Bergwiesen und Hochstaudenfluren. Storchschnäbel als Neophyten, Archäophyten und Adventivpflanzen Aufgrund ihrer Beliebtheit als Gartenpflanzen wurden Storchschnabelarten mittlerweile in viele Länder eingeführt, in denen sie ursprünglich nicht beheimatet waren. Der Rundblättrige Storchschnabel, den man in Mitteleuropa gelegentlich in Weinbau-Gebieten findet, ist vermutlich ursprünglich im Mittelmeerraum beheimatet gewesen. Heute ist er nahezu weltweit verbreitet. In einigen Ländern haben die Storchschnabelarten so gute Ausgangsbedingungen gefunden, dass sie in sehr großem Maße verwildert sind und teilweise als Bioinvasoren angesehen werden. So wird das in Mitteleuropa beheimatete Ruprechtskraut an der Westküste der USA mittlerweile als unerwünschtes Unkraut eingeordnet. Auch der Pyrenäen-Storchschnabel, den man in Mitteleuropa gelegentlich an Straßenrändern findet, ist als sogenannter Neophyt zu betrachten. Anders als das in den USA ungern gesehene Ruprechtskraut fristet er in Mitteleuropa eher ein Nischendasein. Zu den mitteleuropäischen Archäophyten gehört dagegen der Schlitzblättrige Storchschnabel. Diese Storchschnabelart, die auf basen- und stickstoffsalzhaltigen Lehmboden wächst, ist ursprünglich im Mittelmeerraum beheimatet gewesen und zählt zu den hemerochoren Pflanzen, die mit den ersten Ackerbauern vermutlich über Saatgutverunreinigungen nach Mitteleuropa verschleppt wurden (sogenannte Speirochorie). Der Spreizende Storchschnabel wird nur gelegentlich aus seinem Ursprungsgebiet, den warmen Tälern der West- und Südalpen wie dem Wallis und dem Veltlin nach Mitteleuropa in Form von Samen verschleppt (sogenannte Agochorie). Er ist dann in der Lage, sich vorübergehend an dem neuen Standort zu etablieren. Er zählt daher zu den sogenannten Adventivpflanzen. Namensgebung, Beschreibung und Ökologie Die deutsche Bezeichnung „Storchschnabel“ erscheint beim ersten Blick auf die blühende Pflanze unverständlich. Der Fruchtstand erklärt jedoch den Namen: Die länglichen, eigentümlich gestalteten Fruchtstände erinnern an den Schnabel des Storches. Die botanische Bezeichnung Geranium basiert ebenfalls auf der Form der Fruchtstände; sie lässt sich auf das griechische Wort "géranos" (Kranich) zurückführen. Im Deutschen wurde die Pflanze Storchschnabel früher auch Kranichschnabel genannt. Die Pflanze Storchschnabel-Arten sind überwiegend ausdauernde, seltener ein- oder zweijährige krautige Pflanzen, wenige Arten sind Halbsträucher oder Sträucher. Sie enthalten ätherische Öle. Storchschnabel-Arten wachsen buschig oder horstartig. In freier Natur sorgen die großen Blätter der Geranien und ihre häufig starke Breitenausdehnung dafür, dass sie im Vergleich zu konkurrierenden Pflanzenarten an ihrem Standort verhältnismäßig viel Nährstoffe und Wasser erhalten. Wie alle Familienmitglieder der Storchschnabelgewächse haben Storchschnabel-Arten gelenkartig verbundene Stängel, die häufig Drüsenhaare haben. Einige Arten wie beispielsweise der Balkan-Storchschnabel sind nahezu immergrün, andere wie der Basken-Storchschnabel bilden während ihrer Blütezeit große, rundliche „Laubhügel“ aus, die während des Winterhalbjahrs verrotten. Die Blätter Die wechsel- oder gegenständigen, gestielten Laubblätter sind je nach Art unterschiedlich gestaltet. Bei einigen Arten gleicht das Blatt der bei den Pelargonien-Arten vorkommenden runden Form, bei den meisten Arten ist es jedoch fünfteilig und jeder Blattlappen stark eingekerbt. Stark geteilte Laubblätter hat beispielsweise Geranium purpureum; bei dieser Art ist jedes Blatt in fünf Lappen unterteilt, die Teilung reicht dabei bis zur Blattachse. Zusätzlich ist jedes Blatt an der Spitze gelappt. Diese Blattform, die für viele der Geranium-Arten typisch ist, bezeichnet man botanisch als tief fiederspaltig. Bei den meisten Arten sind die Laubblätter einfarbig dunkelgrün, bei nur wenigen Arten treten unterschiedliche Grüntöne in der Blattfarbe auf. Die dunkelsten Laubblätter hat die auf Neuseeland und Tasmanien beheimatete Art Geranium sessiliflorum. Bei einigen Sorten dieser Art wurde die ungewöhnliche Blattfärbung noch vertieft, sie ist fast dunkelviolett. Nebenblätter sind vorhanden. Die Blüten Die Blüten stehen selten einzeln, meist zu zweit. Es ist in der Regel ein langer Blütenstiel vorhanden. Dies ermöglicht den Geranien an ihren natürlichen Standorten eine Konkurrenz zu den meist anderen, gleich hoch wachsenden Pflanzenarten von denen sie umgeben sind und auf diese Weise ihre Bestäubung sicherstellen. Die zwittrigen Blüten sind radiärsymmetrisch und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Die fünf grünen, freien und häufig behaarten Kelchblätter weisen stets eine vorspringende Spitze auf. Die Kelchblätter schließen zuerst die Blütenknospe ein. Wenn sich nach der Bestäubung aus der Blüte die Frucht entwickelt, vergrößern sich die Kelchblätter und schützen den Ansatz der entstehenden großen Frucht. Die fünf freien Kronblätter sind bei manchen Arten genagelt. Die Farbe der Blütenkronblätter der Storchschnabelarten reicht von Weiß über Rosa und Purpurrot bis zu einem leuchtenden Blau. Bei vielen Arten und Sorten ist eine deutliche Maserung der Kronblätter erkennbar. Es sind zwei Kreise mit je fünf Staubblättern vorhanden, sie sind alle fertil; bei den anderen Gattungen der Familie ist ein Teil der Staubblätter zu Staminodien reduziert. Die Ränder der Staubfäden sind behaart. Die meist fünf Nektarien des Diskus alternieren mit den Kronblättern, selten sind sie zu einem Ring vereinigt. Fünf Fruchtblätter sind zu einem oberständigen Fruchtknoten verwachsen. Der Griffel endet in fünf Narben. Die Blütenformel lautet: Jedes einzelne Blütenkronblatt ist im Gegensatz zum Kelchblatt bei der überwiegenden Zahl der Arten am Ende abgerundet. Die Blütenform dagegen kann je nach Art unterschiedlich sein. Bei den Blüten des Wald-Storchschnabels handelt es sich um Scheibenblumen, die Blütenform des in Laub- und auf Schuttplätzen wachsenden Ruprechtskrautes bezeichnet man dagegen als Trichterblumen. Dementsprechend sind auch unterschiedliche Insekten an der Bestäubung beteiligt. Die Blüten des Wald-Storchschnabels mit dem leicht zugänglichen Nektar werden von Schwebfliegen, Bienen und Tagfaltern besucht. An den Nektar des Ruprechtskrauts dagegen gelangen nur langrüsselige Bienen- und Schmetterlingsarten. Die Frucht Sowohl der wissenschaftliche Name Geranium als auch der deutsche Name Storchschnabel bezieht sich auf die Form der langgestielten Frucht, in der man den Kopf und den langgestreckten Hals eines Storchs oder eines Kranichs erkennen kann. Die Frucht wird aus fünf sehr langen Fruchtblättern gebildet, die nur am Grunde zwei übereinanderliegende Samenanlagen tragen. Von diesen entwickelt sich aber nur eine. Der obere, sterile Teil (die Griffel) wachsen als langer „Schnabel“, vereinigt an einem Karpophor. Botanisch handelt es sich um eine Spaltfrucht, da sich diese bei Reife in ihre fünf Fruchtfächer mit langen Grannen aufspaltet. In diesen fünf Teilfrüchten ist jeweils ein Samen enthalten. Diese werden bei allen Arten durch das explosionsartige Aufplatzen des austrocknenden Schnabels verbreitet (Katapultfrucht). Beim Wald-Storchschnabel beispielsweise rollen sich die fünf Fruchtfächer plötzlich von der Mittelsäule sowie voneinander ab und nach oben ein. Der Samen wird dabei katapultartig bis zu 3 Meter weit fortgeschleudert. Geranien zählen mit diesem Ausbreitungsmechanismus zu den sogenannten Austrocknungsstreuern (botanisch auch als ballochore Autochorie bezeichnet). Beim Ruprechtskraut lässt sich außerdem auch die Herpochorie beobachten. Während die Herpochorie bei der Küchenschelle und der nah verwandten Gattung der Reiherschnäbel eine Strategie zur Nahausbreitung ist, dient sie hier dazu, den Diasporen optimale Startbedingungen zu verschaffen: Nachdem der Samen des Ruprechtskrautes über den oben beschriebenen Mechanismus explosionsartig bis zu sechs Meter weit fortgeschleudert wurde, bohren sich die Samen mittels hygroskopischer Bewegungen in die Erde. Das ist darauf zurückzuführen, dass sich die Samen bei feuchten Wetter ausdehnen und bei trockenem Wetter wieder zusammenziehen. Storchschnäbel als Heilpflanze Zwar wird Geranium bereits in den antiken Schriften erwähnt, es handelt sich dabei jedoch nicht um Storchschnabelarten. Hildegard von Bingen dagegen erwähnt, ebenso wie Paracelsus, das Ruprechtskraut eindeutig als Heilpflanze. Vermengt mit Weinraute und Poleiminze sollte es das Herz stärken und fröhlich machen. In zahlreichen mittelalterlichen Heilpflanzenbüchern wie beispielsweise denen von Hieronymus Bock und Tabernaemontanus wird das Ruprechtskraut (genannt auch Herba rubea) ebenfalls erwähnt – genauso wie gelegentlich der Blutrote Storchschnabel. Auch in der Volksmedizin wurden diese Pflanzen bei Gelbsucht, Blutungen, bösartigen Geschwüren sowie äußerlich bei Flechten und Hautausschlag eingesetzt. Ein Tee des Ruprechtskrautes sollte gegen Kinderlosigkeit helfen. Auch heute wird das Ruprechtskraut noch den Heilpflanzen zugerechnet. Die in der Pflanze enthaltenen Gerbstoffe mit ihren adstringierenden und entzündungshemmenden Wirkungen erklären einige Indikationen wie beispielsweise die Empfehlung, Tee des Ruprechtskrautes zum Spülen und Gurgeln bei Entzündungen im Rachenraum zu verwenden. Ebenso erweist sich Geranium als gutes Mittel gegen Ohrenschmerzen, indem man sich ein frisches Blatt der Pflanze in das Ohr steckt und es dort solange wirken lässt bis der Schmerz verschwindet. Das in der Homöopathie verwendete Mittel Geranium odoratissimum wird dagegen nicht aus Storchschnabelarten hergestellt, sondern aus dem Storchschnabelgewächs Pelargonium odoratissimum. Storchschnäbel als Gartenpflanze Die Entdeckung der Geranium-Arten für den Garten Die Etablierung von Storchschnabelarten als Gartenzierpflanze erfolgte nach einem Muster, das für viele Pflanzengattungen typisch ist. Zuerst wurden mit dem Ruprechtskraut und dem Blutroten Storchschnabel zwei Arten im Garten kultiviert, die als Heilpflanzen angesehen wurden. Weitere überwiegend einheimische Arten ohne zugeschriebene Heilwirkung, die aber großblütiger waren, lassen sich als Zierpflanzen bereits für das 16. Jahrhundert belegen. Der einheimische Braune Storchschnabel ist bereits für das Jahr 1561 in Deutschland als Gartenpflanze nachgewiesen. Der Hortus Eystettensis aus dem Jahre 1613 nennt für ihn sowie für den Blutroten Storchschnabel sogar erste Zuchtformen. Mit dem 18. und 19. Jahrhundert kamen die Arten hinzu, die in weiter entfernten Regionen beheimatet sind. Bei den Storchschnäbeln sind dies vor allem die Arten, die in den südeuropäischen Gebirgen verbreitet waren. Im 19. Jahrhundert wurden auch besondere Formen von Gartenbeeten wie Steingärten populär. Der Blutrote Storchschnabel wurde in dieser Zeit zu einer sehr häufig gepflegten Zierpflanze. Im 20. Jahrhundert wurde die Palette der im Garten gepflegten Storchschnabelarten um einige Arten aus anderen Kontinenten sowie um zahlreiche Zuchtsorten erweitert, die dem zunehmenden Bedarf nach einfach zu pflegenden und gleichzeitig schmückenden Pflanzen gerecht wurden. Die Beliebtheit der einzelnen Arten unterliegt auch heute noch unterschiedlichen Moden. Der einstmals sehr populäre Braune Storchschnabel mit seiner düsteren Blütenfarbe ist mittlerweile in Mitteleuropa weitgehend aus der Mode gekommen. In England findet man diese Art jedoch noch verwildert auf alten Dorffriedhöfen, wo man diese als „Mourning Widow“ (= Trauernde Witwe) früher gerne als Grabschmuck anpflanzte. Auch der Pyrenäen-Storchschnabel ist heute eine nur selten im Garten verwendete Art, obwohl bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Zuchtformen im Handel waren. Er wurde zunehmend aus den Gärten verdrängt, nachdem großblütigere und damit attraktivere Storchschnabelarten entdeckt wurden. Er ist jedoch aus den Gärten heraus verwildert und als eingebürgerte Pflanze noch an Hecken und in den Grünflächen entlang von Straßen zu finden. Der mittlerweile häufiger in Gärten zu findende Basken-Storchschnabel ist dagegen erst im 20. Jahrhundert in Deutschland populär geworden, nachdem vor allem in England – wo er schon seit 1832 in den Gärten angepflanzt wurde – eine Reihe von robusten Formen und Hybriden gezüchtet wurden. Eine länger anhaltende Wertschätzung als die drei oben genannten Arten hat dagegen der Balkan-Storchschnabel gefunden. Aus ihm wurde früher Geraniumöl zur Parfümherstellung gewonnen; für die Herstellung dieses ätherischen Öles werden heute jedoch Pelargonien-Arten verwendet. Der Balkan-Storchschnabel wird 1576 erstmals als Gartenpflanze erwähnt und hat danach sehr schnell Verbreitung gefunden. Heute wird er vor allem als sogenanntes „Stadtgrün“ gerne unter Straßenbäume gepflanzt, da er Schatten sehr gut verträgt und die intensiv duftende Pflanze von Kaninchen nicht verbissen wird und Hunde fernhält. Einer der heute am häufigsten im Garten zu findenden Geranium-Vertreter ist die Hybride Geranium × magnificum. Wann und wo diese großblütige und starkwüchsige Sorte mit den purpurvioletten Blüten entstanden ist, ist nicht mehr nachvollziehbar. Aufgrund von Herbarien-Belegen weiß man jedoch, dass sie bereits 1871 im Botanischen Garten von Genf gepflegt wurde. 1961 identifizierte der schwedische Botaniker Nils Hylander Geranium ibericum und Geranium platypetalum als Eltern dieser sterilen Hybride und gab der Sorte ihren wissenschaftlichen Namen. Man nimmt an, dass die Elternarten ursprünglich aus dem Kaukasus stammten. Verwendung im Garten Die Arten der Gattung Geranium sind vielseitig im Garten verwendbar. Fast alle gedeihen gut in leichtem Schatten und eignen sich daher für die Gehölzrandbepflanzung, viele der Arten vertragen jedoch auch die volle Sonne. Einige Arten blühen lange und ausdauernd, viele haben im Herbst eine hübsche Färbung. Allen gemeinsam ist, dass sie sehr robust und wenig krankheitsanfällig sind und selten von Schädlingen befallen werden. Sie gelten damit als ideale Pflanze für Gartenanfänger, die sowohl im Steingarten, in Geröllbeeten sowie Rabatten oder naturbelassenen Gärten verwendet werden können. Besonders die Sorten, die vom Balkan-Storchschnabel abstammen, sind außerdem als Bodendecker gut geeignet, die auch unter Bäumen gut wachsen. Sie werden dort häufig mit Farnen kombiniert. Bei den meisten für Rabatten geeigneten Arten ist es sinnvoll, nach Ende der Blüte die Blütenstände abzuschneiden, da dadurch eine zweite Blüte gefördert wird. Dies gilt besonders für den heute in den Gärten weitverbreiteten Basken-Storchschnabel, der nach der Blüte gerne auseinanderfällt. Der Rückschnitt verhindert auch, dass die Pflanzen von Mehltau befallen werden, einer der wenigen Pflanzenkrankheiten, für welche die Pflanzen dieser Gattung gelegentlich anfällig sind. Der Rückschnitt hat auch zur Folge, dass die Pflanzen noch einmal durchtreiben und somit neue Blattschöpfe ausbilden, die teilweise den Winter überdauern. Viele der Storchschnabelarten und -sorten bilden nach einer solchen Maßnahme ein zweites Mal Blüten. Mit welchen anderen Pflanzen die Storchschnabelarten kombiniert werden können, hängt von der jeweiligen Sorte ab. Die Blütenfarben sind als blaustichige oder kalte Farben einzuordnen, sie sollten mit solchen Pflanzen kombiniert werden, deren Blütenfarbe ebenfalls in diese Kategorie einzuordnen ist. Viele Edelrosen passen sehr gut mit Geranien-Arten zusammen. Sie harmonieren außerdem sehr gut mit Pfingstrosen, Frauenmantel und Phlox. Vermehrung im Garten Alle Arten und Sorten vertragen es, wenn sie während der Vegetationsperiode, die von Mai bis August reicht, geteilt werden. Auch bewurzelte Teilstücke wachsen gut an, wenn sie gleich nach dem Aufteilen gepflanzt und regelmäßig gegossen werden. Insbesondere die züchterisch wenig veredelten Pflanzen vermehren sich leicht durch Samen. Sie können damit sehr schnell im Garten dominant werden; Sämlinge müssen daher regelmäßig weggejätet werden. Das gilt insbesondere für in Mitteleuropa heimische Arten wie beispielsweise den Wiesen-Storchschnabel. Gärtnerische Einteilung der Storchschnabelarten Storchschnabelarten, die ein ähnliches Erscheinungsbild haben, werden gärtnerisch in fünf Gruppen zusammengefasst. Die Sanguineum-Gruppe Zu einer der schönsten Storchschnabelarten zählt der Blutrote Storchschnabel, der auch bei extremeren Standortbedingungen wie trockenem oder wenig nährstoffreichem Boden gut zurechtkommt. Aus der Wildform wurden etwa 40 Sorten gezüchtet, wobei eine der ersten die weiße Zuchtform Geranium sanguineum 'Album' war. Andere Zuchtformen haben die runde Blütenform beibehalten. Man hat ihnen beispielsweise wie bei der Sorte 'Nigricans' dunklere Blätter angezüchtet oder die dunkle Äderung der Blüten stärker herausgezüchtet. Zur Sanguineum-Gruppe wird auch das Ruprechtskraut sowie der ebenfalls sehr schöne Basken-Storchschnabel gezählt. Waldgeranien Zu dieser Gruppe zählt man sechs europäische und asiatische Arten, die sich durch große breite Blätter sowie aufrecht stehende Blüten auszeichnen, sowie all jene Sorten, die von ihnen abstammen. Zu den Stammarten zählen neben dem Wald-Storchschnabel Geranium sylvaticum auch Geranium rivulare, Geranium pseudosibiricum, Geranium albiflorum, Geranium procurrens und der durch sein helles Rot sowie die dunkle Blütenmitte auffallende Geranium psilostemon. Wiesengeranien Die Wiesengeranien werden besonders gerne in Naturgärten verwendet. Die wichtigsten Stammformen dieser Gruppe sind der Wiesen-Storchschnabel, der Himalaja-Storchschnabel und Geranium clarkei. Auch der in Mitteleuropa heimische Sumpf-Storchschnabel wird dieser Gruppe zugerechnet. Geranien der Palmatum-Gruppe Geranien, die dieser Gruppe zugerechnet werden, sind nur selten in mitteleuropäischen Gärten zu finden, da ihre Stammformen kälteempfindlich sind. Dazu zählen Geranium palmatum und Geranium maderense, die beide auf der Insel Madeira beheimatet sind. Geranien dieser Gruppe zeichnen sich durch eine Blattrosette aus, über die sich die Blüten deutlich erheben. Dunkle Geranien Zu den Stammformen dieser Gruppe zählen der Braune Storchschnabel sowie Geranium reflexum und Geranium aristatum. Besonderer Wertschätzung erfreuen sich diese dunklen Geranien in Nordamerika. Einige Zuchtsorten insbesondere des Braunen Storchschnabels sind nur dort erhältlich. Storchschnabel im Aberglauben Einige Arten der Storchschnäbel, etwa das Ruprechtskraut, wurden lateinisch Gratia Dei („Gnade Gottes“) genannt. Zur Verwendung von Storchschnabelarten in abergläubischen Praktiken hat vor allem die auffällige Form der Frucht beigetragen. Frauen, die sich vergeblich Kinder wünschten, wurde empfohlen, die Storchschnabel-Wurzel als Amulett um den Hals zu tragen. Systematik Die große Gattung Geranium wird in zwei Untergattungen mit 18 Sektionen gegliedert: Untergattung Erodioidea Sektion Aculeolata Sektion Brasiliensia Sektion Erodiea Sektion Subacaulia Untergattung Geranium Sektion Anemonifolia Sektion Azorelloida Sektion Batrachioidea Sektion Dissecta Sektion Divaricata Sektion Geranium Sektion Lucida Sektion Neurophyllodes Sektion Paramensia Sektion Robertium Sektion Ruberta Sektion Trilopha Sektion Tuberosa Sektion Unguiculata Arten In der Gattung Geranium gibt es etwa 380 bis 430 Arten. Mitteleuropäische Arten 16 Arten wachsen wild in Mitteleuropa, viele andere Arten und ihre Sorten werden als Steingartenpflanzen oder Rabattenstauden kultiviert. Wichtige in Mitteleuropa heimische Arten sind der auf kalkreichen, mageren Böden wachsende Blutrote Storchschnabel sowie die oben ausführlicher beschriebenen Arten Wiesen-Storchschnabel, das an schattigen Orten verbreitet vorkommende Ruprechtskraut (Geranium robertianum) sowie der Sumpf-Storchschnabel (Geranium palustre). Storchschnabelarten (Auswahl) Zu den Arten der Gattung Storchschnabel (Geranium) zählen unter anderem: Silber-Storchschnabel (Geranium argenteum ): Er kommt in Frankreich, Italien und im früheren Jugoslawien vor. Böhmischer Storchschnabel (Geranium bohemicum ): Er kommt in Europa, in der Türkei und im Kaukasusgebiet vor. Grauer Storchschnabel (Geranium cinereum ) Stein-Storchschnabel (Geranium columbinum ) Schlitzblättriger Storchschnabel (Geranium dissectum ) Spreizender Storchschnabel (Geranium divaricatum ): Er kommt in Europa, in den gemäßigten Zonen Asiens und in Indien vor. Basken-Storchschnabel (Geranium endressii ) Himalaja-Storchschnabel (Geranium himalayense ) Glänzender Storchschnabel (Geranium lucidum ) Balkan-Storchschnabel (Geranium macrorrhizum ) Madeira-Storchschnabel (Geranium maderense ): Er kommt auf Madeira vor. Weicher Storchschnabel (Geranium molle ) Knoten-Storchschnabel (Geranium nodosum ): Er kommt in Spanien, Frankreich, in der Schweiz, in Italien, Kroatien und in Serbien vor. Sumpf-Storchschnabel (Geranium palustre ) Brauner Storchschnabel (Geranium phaeum ) Wiesen-Storchschnabel (Geranium pratense ) Schwarzäugiger Storchschnabel (Geranium psilostemon ) Purpur-Storchschnabel (Geranium purpureum ) Kleiner Storchschnabel (Geranium pusillum ) Pyrenäen-Storchschnabel (Geranium pyrenaicum ) Kaukasus-Storchschnabel (Geranium renardii ): Er kommt im Kaukasusgebiet vor. Kanaren-Storchschnabel (Geranium reuteri , Syn.: Geranium canariense auct. non ) Alpen-Storchschnabel (Geranium rivulare ) Ruprechtskraut oder Stinkender Storchschnabel (Geranium robertianum ) Rundblättriger Storchschnabel (Geranium rotundifolium ) Blutroter Storchschnabel (Geranium sanguineum ) Sibirischer Storchschnabel (Geranium sibiricum ) Wald-Storchschnabel (Geranium sylvaticum ) Knolliger Storchschnabel (Geranium tuberosum ) Verschiedenfarbiger Storchschnabel (Geranium versicolor ) Siehe auch Literatur Peter Frederick Yeo: Geranium – Freiland-Geranien für Garten und Park. Eugen Ulmer, Stuttgart 1988, ISBN 3-8001-6362-4. Heinz-Dieter Krausch: Kaiserkron und Päonien rot... Entdeckung und Einführung unserer Gartenblumen. Dölling und Galitz, Hamburg 2003, ISBN 3-935549-23-7. John Feltwell: Geranien und Pelargonien. Augustus, München 2002, ISBN 3-8043-7217-1. Manfred Bocksch: Das praktische Buch der Heilpflanzen. blv, München 1996, ISBN 3-405-14937-1. Angelika Lüttig, Juliane Kasten: Hagebutte & Co – Blüten, Früchte und Ausbreitung europäischer Pflanzen. Fauna, Nottuln 2003, ISBN 3-935980-90-6. Maria Lis-Balchin: Geranium and Pelargonium. Taylor & Francis, London 2002, ISBN 0-415-28487-2. Einzelnachweise Weblinks Langran Xu, Carlos Aedo: Eintrag in der Flora of China, Volume 11. (Abschnitt Beschreibung) Beschreibung in der Western Australian Flora. (engl.)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Narzissen
Narzissen
Die Narzissen (Narcissus) bilden eine Pflanzengattung in der Unterfamilie der Amaryllidoideae innerhalb der Familie der Amaryllisgewächse (Amaryllidaceae). Die Art Narcissus pseudonarcissus wird oft auch Osterglocke genannt. Der natürliche Verbreitungsschwerpunkt liegt in Südwesteuropa und Nordwestafrika. Nur wenige Arten kommen auch im Küstengebiet des östlichen Mittelmeers vor. Innerhalb der Gattung bzw. der Systematik der Narzissen unterscheidet man je nach Autor zwischen 52 und 85 Arten und Hybriden. Eine Bedeutung in der mitteleuropäischen Gartenkunst haben Narzissen seit etwa 1560 bis 1620, als sie gemeinsam mit Tulpen und Hyazinthen in die Gartenkultur gelangten. Heute gibt es mehr als 24.000 Kulturformen. Im Spätwinter und Frühjahr gehören Narzissen zu den wichtigsten Pflanzen des Blumenhandels. Etymologie Die Bezeichnung Narzisse leitet sich von dem griechischen Wort νάρκειν narkein ab, welches „betäuben“ bedeutet (vgl. Narkose). Die Weiße oder Dichternarzisse, die auch in Griechenland wächst, strömt tatsächlich einen sehr intensiven und betäubenden Geruch aus. Die Römer übernahmen den griechischen Pflanzennamen νάρκισσος als narcissus. Ovid hatte in seinen Metamorphosen die Sage von dem Jüngling Narkissos geschildert und dabei die Pflanze so eindeutig beschrieben, dass es sich zweifelsfrei um die heute als Narzissen bezeichneten Pflanzen handelte. Als Carl von Linné sein binäres System der Pflanzennamen (Binomen) schuf, behielt er das Wort Narcissus bei. Die Bezeichnung Narcissus poeticus für die Dichternarzisse ist allerdings erstmals von Matthias Lobelius verwendet worden. Beschreibung und Ökologie Erscheinungsbild Narzissen-Arten sind ausdauernde krautige Pflanzen, die je nach Art Wuchshöhen von 5 bis 80 Zentimetern erreichen. Zu den „Zwergen“ unter den Narzissen-Arten zählt Narcissus asturiensis, die von 5 bis 8 Zentimeter hoch wird. Zu den größten Arten zählt die in Mitteleuropa nur sehr selten angebaute Italienische Narzisse, die bis zu 80 Zentimeter lange Blütenstandsschäfte ausbildet. Zwiebeln Als Überdauerungsorgane bilden Narzissen-Arten Zwiebeln. Die Zwiebelbasis bei Narzissen wird von einer korkartigen Bodenplatte gebildet. Aus dieser entspringen die Saugwurzeln, die sich ringförmig am äußeren Rand befinden und bis zu 40 Zentimeter lang werden. Wenn die Pflanze im Hochsommer ihre Blätter einzieht, werden diese Saugwurzeln gleichfalls abgebaut. Ab dem dritten Jahr bilden Sämlinge auch Zugwurzeln aus. Diese verkürzen sich im Laufe einer Wachstumsperiode um mehrere Millimeter und sind daher in der Lage, die Zwiebeln tiefer in den Boden zu ziehen. Das Wachstum der Zwiebel erfolgt von innen nach außen, so dass die im Vorjahr gebildeten Zwiebelschalen nach außen gedrängt werden. Diese verfärben sich braun und werden trocken, so dass sie die Zwiebel als eine gegen Austrocknung schützende, jedoch lose sitzende Schale umgeben. Insbesondere die Wildarten können sehr viele solcher Zwiebelhäute ausbilden. Bei einigen Naturarten hat man bis zu 60 gezählt. Auf dem Zwiebelboden entwickelt sich der Blütenstängel, auf dem in einem knospigen Zustand die Blütenanlage des folgenden Frühjahrs vorhanden ist. Darum herum befinden sich jeweils zwei bis drei Laub- und Scheidenblätter. Der Blütenstängel und die Blütenanlage des übernächsten Jahres befinden sich in der Achsel des zweiten Laubblattes. Laubblätter Die Formen der Laubblätter von Narzissen-Arten reichen von linealisch bis riemenförmig. Bei einigen Arten wirken die Laubblätter fast grasartig oder sie sind gar stielrund. Blühstarke Narzissen haben drei, in seltenen Fällen sogar vier Laubblätter. Noch nicht blühfähige Zwiebeln bilden dagegen meist nur zwei Laubblätter aus. Die Laubblätter besitzen eine dicke, stark Cutin-haltige Cuticula. Dies verleiht ihnen eine glatte, wachsartige Oberfläche. Bei den meisten Arten überragen die Laubblätter im ausgewachsenen Zustand den Blütenstandsschaft. Bei wenigen Arten biegen sich die Laubblätter während der Blütezeit in Richtung Boden. Am unteren Ende, knapp über dem Boden, werden die Laubblätter von zwei farblosen Scheidenblättern umfasst. Die Blattfarbe variiert zwischen mittelgrün und blaugrün. Bei im Frühjahr blühenden Narzissen vergilben die Laubblätter im Hochsommer und sterben ab, sobald die Samen reif werden: Die Pflanzen „ziehen ein“, wie die Gärtner sagen. Blütenstände und Blüten Narzissen-Arten haben blattlose und ungeteilte Blütenstandsschäfte. Die Form des Blütenstandsschaftes ist artabhängig. Einige Arten haben etwas zusammengedrückte Blütenstandsschäfte mit einem deutlich sichtbaren Kiel. Bei anderen Arten ist der Blütenstandsschaft rund. Grundsätzlich steht der Blütenstandsschaft aufrecht und befindet sich in der Mitte der Laubblätter, da das apikale Meristem erst die Laubblätter und zuletzt die Blüte anlegt. Der Blütenstandsschaft ist dabei im oberen Teil hohl und in Richtung Zwiebel zunehmend mit einem schwammigen Gewebe gefüllt. Bei einigen wenigen Arten wie etwa Narcissus hedraeanthus steht der Blütenstandsschaft schräg. Die stark gestauchten, traubigen Blütenstände erscheinen doldig und enthalten ein bis zwanzig Blüten. Die Tragblätter sind spathaartig und umhüllen die Blütenknospen. Die zwittrigen Blüten sind dreizählig. Die Blütenfarbe der Narzissen-Arten reicht von Weiß über Gelb bis Orange. Die Blütenhülle ist, wie bei monokotylen Pflanzen üblich, nicht in Kelch und Krone gegliedert, sondern besteht aus gleichaussehenden Blütenhüllblättern. Man spricht daher von einem Perigon mit sechs Tepalen (Perigonblätter). Zusätzlich besitzen Narzissen eine Nebenkrone. Die Blütenform ist sehr variabel. Die Perigonblätter – im Folgenden auch zusammenfassend als Hauptkrone bezeichnet – können je nach Art im rechten Winkel zur Blütenachse stehen, sich nach vorne neigen oder nach hinten umgeschlagen sein. Letzteres ist vor allem bei den Alpenveilchen-Narzissen und der von ihr abstammenden Sorten typisch. Bei einigen Arten wie beispielsweise der Reifrock-Narzisse ist die Hauptkrone sehr klein und unauffällig. Der Reiz dieser Narzissen liegt in der dominierenden Nebenkrone. Die Nebenkrone (manchmal auch Paracorollar genannt) wurde im Lauf der Entwicklung der Narzissen-Blüte aus den in der Blüte vorhandenen Staubfäden gebildet. Diese verwuchsen zu einem röhrenförmigen Gebilde. Anfangs noch vorhandene, innen anheftende Staubbeutel wurden reduziert. Im Laufe der weiteren Entwicklung bildete die Blüte neue Staubblätter aus. Die übrig gebliebene Nebenkrone bildet an ihrer Basis intensiv riechende Duftstoffe, weshalb sie auch als Duftmal bezeichnet wird. Aufgrund dieser Funktion fördert die Nebenkrone den Besuch der Blüte durch potentielle Bestäuber. Die Nebenkrone war und ist das Ziel intensiver züchterischer Bearbeitung und bildet je nach Länge eine Trompete, einen Becher oder eine Schale aus oder ist, wie bei der Dichternarzisse, sehr stark zurückgebildet. Die Blüte enthalten sechs Staubblätter und einen Stempel mit einem dreinarbigen Griffel. Bei den meisten Arten enthält jede der Fruchtknotenkammern 12 Samenanlagen. Früchte und Samen Aus befruchteten Blüten entwickeln sich dreikammerige Kapselfrüchte mit zahlreichen Samen. Bei den meisten Arten enthält die Kapselfrucht maximal 36 Samen; bei einigen wenigen Arten, wie beispielsweise der Reifrock-Narzisse ist die Zahl der Samen höher. Keine der Arten bildet jedoch mehr als 60 Samen aus. Bis zu ihrer Reife benötigen Samen etwa fünf bis sechs Wochen. Bei den Narzissen der Sektion Jonquillae und der Sektion Bulbocodium sind die reifen Samen keilförmig und mattschwarz, bei den anderen Sektionen länglichrund und glänzend schwarz. Bei den Kapselfrüchten handelt es sich um Spaltkapseln, die bei Reife an den Rückennähten jeden Fruchtblattes aufreißen. Man bezeichnet diese Kapseln entsprechend auch als rücken- oder fachspaltig beziehungsweise als lokulizid. Narzissen sind dabei Wind- und Tierstreuer. Ein Windstoß oder die Bewegung durch ein vorbeistreifendes Tier reicht aus, um den Samen aus der Kapselfrucht herausfallen zu lassen. Verbreitung Narzissen waren ursprünglich im südlichen Europa beheimatet mit Hauptverbreitungsschwerpunkt auf der Iberischen Halbinsel. Von dort aus haben einige Arten den Sprung über die Meerenge von Gibraltar geschafft und besiedeln heute auch die nordwestafrikanische Küste. Die herbstblühende Narcissus elegans ist beispielsweise heute an der Küste von Marokko bis Libyen zu finden. Sie kommt außerdem an den Küsten Korsikas, Sardiniens und Italiens vor. Ähnliches gilt für die Reifrock-Narzisse (Narzissus bulbocodium), die in Nordafrika in einem schmalen Verbreitungsband von Tanger bis nach Algier vorkommt. Zwischen Tanger und Marrakesch weist sie außerdem ein disjunktes Verbreitungsgebiet auf und ist außerdem auf der westlichen Iberischen Halbinsel zu finden. Die Küsten des gesamten Mittelmeerraumes dagegen hat Narcissus serotinus besiedelt. Die Strauß-Narzisse (Narcissus tazetta) findet man auch im Iran und im Kaschmir. Da diese Narzissenart zu den ältesten in Kultur befindlichen und am frühesten züchterisch bearbeiteten Narzissen gehört, muss man davon ausgehen, dass sie zumindest im Kaschmir eingeführt wurde. Besonders großräumige Verbreitungsgebiete weisen die Dichter-Narzisse (Narcissus poeticus) und die als Osterglocke bekannte Narcissus pseudonarcissus auf. Das Verbreitungsgebiet der Dichternarzisse reicht in östlicher Richtung von den Pyrenäen entlang der rumänischen Karpaten bis zum Schwarzen Meer und entlang der dinarischen Küste bis nach Griechenland. Die Osterglocke kommt von der Iberischen Halbinsel über die Vogesen bis nach Nordfrankreich und Belgien vor und hat auch den Sprung nach Großbritannien geschafft, wo es wilde Bestände noch in Südschottland gibt. Das einzige Vorkommen in Luxemburg befindet sich in der Nähe von Lellingen, einem Ortsteil der Gemeinde Kiischpelt. In Deutschland ist es vor allem das Naturschutzgebiet Perlenbach-Fuhrtsbachtal und der Nationalpark Eifel, wo man im Frühjahr unweit von Monschau auf Wiesen mit den gelbblühenden Wildnarzissen trifft. Eines der östlichsten Vorkommen findet man in Misselberg bei Nassau an der Lahn. Die überwiegende Zahl der Narzissenarten hat, verglichen mit den oben genannten Arten, nur ein sehr kleines Verbreitungsgebiet. Die Verbreitungsgebiete der Arten überlappen sich dabei und bilden an diesen Stellen auch Naturhybriden aus. So findet man in der Nähe der portugiesischen Stadt Porto eine Region, in der sowohl die Osterglocke als auch Narcissus triandrus vorkommen. Dort treten verschiedene Kreuzungen aus den beiden Arten auf. In einem kleinen Teilabschnitt entlang des portugiesischen Flusses Montego findet man dagegen Kreuzungen zwischen Narcissus scaberulus und Narcissus triandrus. Standortanforderungen Die Standortanforderungen der einzelnen Narzissenarten sind sehr variabel. Überwiegend bevorzugen sie jedoch saure Böden; einige wenige Arten wachsen allerdings auch auf Kalk, andere, wie etwa Narcissus scaberulus, wachsen auf Granitböden, die während der Wachstumsperiode sehr feucht sind, aber in den Sommermonaten vollständig austrocknen. Auch Narcissus dubius gedeiht nur in Regionen mit heißen und trockenen Sommern. Die auch in Deutschland wildwachsende Osterglocke schätzt dagegen kalkarme, lichte Standorte auf Bergwiesen oder in Mischwäldern aus Tannen, Buchen, Eichen, Erlen, Eschen und Birken und bevorzugt einen gut dränierten Stand in kleinen Gruppen. Krankheiten und Schädlinge Virus- und Pilzkrankheiten Vor allem durch Blattläuse werden gelegentlich Virenkrankheiten auf Narzissen übertragen, die Färbung und Form der Blätter verändern. Dazu zählen Narzissen-Mosaik, Narzissen-Grauvirus, Braunfleckigkeit und Silberblättrigkeit. Problematisch sind diese Krankheiten nur in auf Narzissen spezialisierte Gärtnereien, da Blattläuse nur selten Narzissen befallen. Die Wachstumshemmungen, die durch die Virenkrankheiten ausgelöst werden können, können einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Problematischer auch für Privatgärtner ist dagegen die Zwiebelbasalfäule, eine durch den Pilz Fusarium oxysporum f. sp. narcissi verursachte Krankheit, bei der die Zwiebeln verfaulen und die Narzissenblätter weit vor der normalen Zeit vergilben. Befallene Pflanzen müssen sofort entfernt werden, da der Pilz für mehrere Jahre im Erdboden verbleiben kann. An den Stellen, an denen erkrankte Narzissen gestanden haben, sollten für die nächsten fünf Jahre keine Narzissen mehr gepflanzt werden. Einige Narzissenarten und die von ihnen abstammenden Sorten sind jedoch resistent gegen diese Pilze. Dazu zählen die Engelstränen-Narzissen, die Tazetten und die Jonquillen. Befall mit dem Schimmelpilz Botrytis narcissicola führt gleichfalls zum Verlust der Zwiebeln. Er entsteht vor allem bei nicht sachgerechter Lagerung. Gärtnereien behelfen sich mit kupfersulfathaltigen Mitteln oder verbrennen stark infizierte Zwiebeln. Der Pilz Sclerotinia polyblastis greift dagegen nicht die Zwiebeln an, sondern bildet auf den Blütenknospen und schnittreifen Stängeln kleine wässrige oder braune Flecken. Diese Krankheit ist vor allem für den kommerziellen Anbau bedrohlich, da sie insbesondere bei feuchter Witterung zum völligen Ausfall der Schnittblumenernte führen kann. Zu einer Blattschädigung führt auch der Schimmelpilz Ramularia vallisumbrosae, der nur in wärmeren Regionen auftritt. Er führt zu gräulichen oder gelblichen Flecken auf den Laubblättern. Der Pilz Stagonospora curtisii dagegen führt zu bräunlichen Blattspitzen beziehungsweise zu bräunlichen Flecken auf den Blättern. Beide letztgenannten Pilze greifen jedoch nur die Blätter an. Die Zwiebeln werden nicht befallen. Bei dem Pilz Radopastie leksose werden die Blattspitzen bräunlich, zudem wird der Blattwuchs eingeschränkt. Tierische Schädlinge Es gibt drei Fliegenarten, deren Larven Narzissenzwiebeln schädigen. Dies sind die Große Narzissenfliege (Merodon equestris) und die zwei Fliegenarten Eumerus tuberculatus und Eumerus strigatus, die im Deutschen beide als Kleine Narzissenfliege bezeichnet werden. Die Fliegen legen bis Ende Juni ihre Eier am Grund der Narzisse ab, wobei ein einziges Fliegenweibchen bis zu fünfzig Eier legen kann. Die schlüpfenden Maden bohren sich durch den Boden zur Zwiebel und fressen deren Inneres. Sie überwintern in der leeren Zwiebelhülle, verlassen diese im April und verpuppen sich dann im Boden, um im Mai auszufliegen. Milben befallen vor allem gelagerte Zwiebeln und vermehren sich besonders bei hoher Umgebungstemperatur. Bei gepflanzten Zwiebeln können sie keinen großen Schaden mehr anrichten. Hier sind es vor allem Nematoden, die bei starkem Befall das Leitungssystem verstopfen können, so dass die Laubblätter langsam verkrüppeln oder vergilben, während gleichzeitig höckerige Ausbuchtungen sichtbar werden. Hauptverantwortlich für dieses Erscheinungsbild ist vor allem Ditylenchus dipsaci, der auch andere Pflanzen wie Allium, Stellaria, Plantago und Hieracium befällt. Befallene Zwiebeln müssen vernichtet werden. Auf Flächen, auf denen Narzissen einen starken Nematodenbefall aufwiesen, sollten für die nächsten fünf Jahre keine anfälligen Pflanzenarten gepflanzt werden. Im Hausgarten werden solche Flächen häufig mit Tagetes bepflanzt. Schnecken schädigen bei aus kräftigen Zwiebeln hervorwachsenden Narzissen weder Laub noch die Zwiebel. Sie können jedoch die Blüten abfressen. Gefährdet sind außerdem die Sämlinge aus Narzissensamen. Gift- und Heilpflanze Narzisse Narzissen enthalten wie alle Amaryllisgewächse „Amaryllidaceen-Alkaloide“. Je nach Art können dies unterschiedliche sein. Die Gelbe Narzisse beispielsweise enthält die Alkaloide Narcissin, Galantamin und Lycorin. Die Dichternarzisse enthält statt des Lycorins Narcipoetin. Für die Pflanze stellen die Alkaloide einen natürlichen Schutz gegen Parasitenbefall und weidende Pflanzenfresser dar: „Fraßschutzgifte“. Narzissen enthalten außerdem Fructane und niedermolekulare Glucomannane, die unter anderem in den Blättern und Pflanzenstängeln reichlich enthalten sind. Zu Vergiftungen kommt es gelegentlich, weil die Zwiebeln im Ruhezustand denen der Küchenzwiebel sehr ähnlich sehen. Der Verzehr von Narzissenzwiebeln kann zu Würgereiz, Erbrechen, Diarrhoe, Schläfrigkeit, Schweißausbruch, Benommenheit, Kollaps und Lähmungserscheinungen führen. Bei sehr großen Dosen kann es auch zum Tod kommen. Ärzte behandeln Vergiftungen durch Narzissenzwiebeln häufig mit Kohlegaben und symptomatischen Therapien. Bei Tieren hat man bei Narzissenvergiftungen eine Degeneration der Leber festgestellt. Durch den Pflanzensaft können lokal Hautreizungen auftreten. Es handelt sich dabei um eine Kontaktdermatitis, die auch als „Narzissenkrankheit“ bezeichnet wird und vor allem bei Gärtnern auftritt. Die Symptome klingen nach der Narzissenernte auch ohne Behandlung wieder ab. Es handelt sich dabei um eine toxische Reaktion auf Inhaltsstoffe der Narzissen wie Oxalsäure, Chelidonsäure und Lycorin. Das Alkaloid Galantamin, das beispielsweise in der Gelben Narzisse vorkommt, hat eine Zulassung zur symptomatischen Behandlung leichter bis mittelgradiger Demenz bei Alzheimer-Erkrankten erhalten. Es wurde 1953 erstmals aus den Zwiebeln des Kaukasischen Schneeglöckchens isoliert und anfangs unter anderem zur Aufhebung der durch Curare-Verbindungen ausgelösten Muskelentspannung bei Operationen und krankhafter Muskelschwäche eingesetzt. Narzissen besitzen heute allerdings keine arzneiliche Bedeutung mehr. Die Galantamin-Synthese ist in industriellem Maßstab möglich. In der Volksheilkunde haben Narzissen nur gelegentlich eine Rolle gespielt und wurden überwiegend für Hauterkrankungen, als Brechmittel sowie als Heilmittel bei Erkältungskrankheiten und Keuchhusten verwendet. Die antike Medizin setzte die Pflanze Narcissus (wohl Narcissus poetica L.) bei Husten und Koliken ein. Analytik der Inhaltsstoffe Zur Analytik der Inhaltsstoffe der Pflanze und ihrer Zwiebeln kommen nach angemessener Probenvorbereitung chromatographische Verfahren in Kopplung mit der Massenspektrometrie zum Einsatz. Kulturgeschichte Altertum Der älteste Beleg, dass Narzissen als Blumenschmuck verwendet wurden, ist ein in einem altägyptischen Grab gefundener Kranz aus weißblühenden Tazetten. Der im achten oder siebten Jahrhundert vor Christus lebende griechische Dichter Stasinos erwähnt sie im Epos Kypria (Κύπρια), "Zyprische Gesänge", in dem er die Blumenpracht der Insel Zypern besingt, ebenfalls Narzissen (Wie Ambrosia die Blüten der Narzissen). Theophrast (371-287) erwähnt gleichfalls eine Blume mit der Bezeichnung narkissos und dürfte damit die Narcissus serotinus gemeint haben, die in den Küstengebieten Griechenlands und im südlichen Kleinasien vorkommt. Die in Pompeji ausgegrabenen Wandgemälde weisen darauf hin, dass die Römer neben der Dichternarzisse auch die Osterglocke bereits kannten. Gartenkultur im westlichen Europa In Mitteleuropa wird die Narzisse bis nach dem Mittelalter kaum in Schriften erwähnt. Sie ist gelegentlich in der Buchmalerei zu sehen und erscheint im späten Mittelalter auch auf mittelalterlichen Tafelgemälden, und zwar insbesondere auf solchen, die die Kreuzigungsszene darstellt. Im Wallraf-Richartz-Museum in Köln gibt es ein als „Kalvarienberg“ bezeichnetes Gemälde eines unbekannten Meisters aus dem ausgehenden Mittelalter, auf dem Narzissen als Symbol der Hoffnung auf die Wiederauferstehung zu sehen sind. Zu den wenigen, die die Narzisse auch schriftlich erwähnen, zählt Albertus Magnus (um 1200-1280) (De vegetabilibus et plantis), der ein Kraut namens narcissus erwähnt, dessen Blätter er mit denen von Lauch vergleicht. Während der Renaissance wurde es in Mittel- und Zentraleuropa üblich, Gärten und Parkanlagen mit möglichst exotischen Zierpflanzen zu gestalten. In der Zeit von 1560 bis 1620 wurden insbesondere aus dem südlichen und südöstlichen Europa vor allem Tulpen, Hyazinthen sowie Narzissen eingeführt. Joachim Camerarius (1534-1598) pflegte 1588 in seinem Nürnberger Garten bereits neun unterschiedliche „Sippen“ von Narzissen; der Hortus Eystettensis verzeichnet für das Jahr 1613 bereits 43. Die Narzisse erlangte in dieser Zeit keine so große Popularität wie die Tulpe, die vor allem in der sogenannten Tulpenmanie zu einem begehrten Spekulationsobjekt wurde. Man baute aber bereits im größeren Stile Trompetennarzissen an und verkaufte Dichter- und Reifrocknarzissen. Auch erste gefüllte Narzissen wurden aus Istanbul importiert. Im frühbarocken Garten zählte die Narzisse gemeinsam mit den Tulpen zu den wichtigsten Blütenprachtpflanzen im Frühjahr. Und der Pfarrer und Kirchenlieddichter Paul Gerhardt (1607–1676) widmete ihnen eine Strophe seines bekannten Liedes Geh aus, mein Herz, und suche Freud: Narzissus und die Tulipan Die ziehen sich viel schöner an, Als Salomonis Seide Ein Katalog einer niederländischen Gärtnerei aus dem Jahre 1739 zählte bereits 50 Sorten auf, darunter mit 'Soleil d'Or' sogar eine Sorte, die bis heute im Handel erhältlich ist. Narzissen wurden zu dieser Zeit vor allem im Haus gepflegt; ein besonderes Interesse brachte man mehrblütigen Tazetten entgegen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden allein 50 Millionen Zwiebeln der Tazettensorte 'Paper White' von den Niederlanden aus in die USA exportiert. Insbesondere Großbritannien hat in der Narzissenkultur eine große Rolle gespielt. 1804 widmete William Wordsworth (1770-1850), eine der führenden Figuren der englischen Romantikbewegung den Narzissen sein Gedicht I Wandered Lonely as a Cloud, dessen erste Strophe lautet: I wandered lonely as a cloud That floats on high o'er vales and hills, When all at once I saw a crowd, A host, of golden daffodils; Beside the lake, beneath the trees, Fluttering and dancing in the breeze Die erste Narzissenkonferenz wurde 1884 von der Royal Horticultural Society in Großbritannien veranstaltet. 1898 folgte in Birmingham die Gründung der Vorläuferorganisation der jetzigen Daffodil Society, einer Organisation, die besonders attraktive Narzissen jährlich mit Preisen auszeichnet. Die weltweit bekannteste Fachzeitschrift zur Narzissenkultur wird allerdings heute von der American Daffodil Society herausgegeben. Narzissen in der chinesischen Kultur Narzissen, die zu der Gruppe der Tazetten zählen, gelangten vermutlich durch arabische Händler über die Seidenstraße nach China. Als Gartenpflanze hat sie in der chinesischen Gartenkunst keine besondere Bedeutung errungen. Sie gilt jedoch als Glückssymbol. Marianne Beuchert, die zu den besten Kennern der chinesischen Gartenkunst zählt, schildert, dass Narzissen bis heute als sogenannte einhundertköpfige Wasserfee beim chinesischen Neujahrsfest als besonderes Glückszeichen gelten. Die Narzissenzwiebeln werden dazu nach ihrer Rodung mehrfach eingeschnitten, so dass bis zu zehn Blütenstiele aus einer Narzissenzwiebel wachsen. Da es sich um mehrblütige Narzissen handelt und mehrere Zwiebeln eng in Schalen gepflanzt werden, können so in einer kleinen Schale bis zu 100 Blüten entstehen. Narzissen in der islamischen Kultur Narzissen zählen in der islamischen Kultur zu den beliebtesten Gartenblumen. Vom persischen Herrscher Chusrau Anuschirwan, der von 537 bis 579 regierte, wird überliefert, dass er Narzissen so sehr verehrte, dass er nicht an Gelagen teilnehmen könne, da ihre Blüte ihn an Augen erinnere. In der arabischen Dichtkunst ist seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert die Gleichsetzung von Narzisse und Auge festgelegt. Dieses Bild besteht bis heute. Im 19. Jahrhundert hat der indische Urdu-Dichter Mirza Ghalib deshalb festgehalten: Damit sie das Grün und die Rose erblicken kann, hat Gott dem Auge der Narzisse die Kraft zum Sehen verliehen (zit. n. Schimmel, 2001, S. 103) Nicht immer ist das Bild so positiv. Das weiße Auge der Narzisse kann auch ein blindes Auge sein oder auch ein von Schlaflosigkeit gezeichnetes. Gelegentlich wird die Narzissenblüte auch als Symbol für ein von Liebessehnsucht blind geweintes Auge verwendet. Eines der berühmtesten Narzissengedichte der arabischen Dichtkunst stammt von Abu Nuwas aus dem 9. Jahrhundert. Schau an der Erde Gärten und betrachte die Spur des Künstlerwerks von Gott dem Herrn, wo Silberaugen, in die Höhe blickend mit wie aus Gold geschmolznem Augenstern auf dem smaragdnen Stiele Zeugnis geben, dass Gott erkennet keinen Nebenherrn.(zit. n. Schimmel, 2001, S. 99) Die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel hat dazu auf die im arabischen Raum verbreitete Legende hingewiesen, dass der wegen seiner Trinklieder und obszönen Liebeslieder eigentlich zum Sünder verdammte Abu Nuwas eben wegen dieses Narzissengedichtes doch noch in das Paradies aufgenommen wurde. Die hohe Wertschätzung, die Narzissen im Vorderen Orient erfuhren und erfahren, drückt sich auch in einem Mohammed zugeschriebenen Ausspruch aus: Wer zwei Brote hat, verkaufe eines und kaufe sich Narzissenblüten dafür; denn Brot ist nur dem Körper Nahrung, die Narzisse aber nährt die Seele. (zit. n. Krausch, 2003, S. 305) Narzissen als Gartenpflanzen Während einige Wildnarzissenarten spezielle Anforderungen an den Boden stellen, kommen die Narzissensorten, die im Gartenhandel angeboten werden, mit den meisten Gartenböden gut zurecht. Bei wasserspeichernden und lehmigen Böden muss allerdings dafür gesorgt werden, dass durch Beimischung von Sand ein besserer Wasserabzug gewährleistet ist. Neutrale Böden mit einem pH-Wert von 7 sind am besten für die Narzissenkultur geeignet. Narzissenzwiebeln kommen entweder als Rundnasen oder Doppelnasen in den Handel. Als „Nase“ bezeichnet man dabei die Zwiebelenden, an denen die Laubblätter entsprangen. Doppelnasen bilden in der Regel zwei Gruppen von Laubblättern aus und dementsprechend auch zwei Blütenstängel. Zwiebeln mit mehr Nasen sind überaltert und werden im Handel normalerweise nicht angeboten. Während der Anlage einer Hauptknospe bildet die Tochterzwiebel einer gepflanzten Doppelnase eine Nebenknospe in der Blattachsel einer Zwiebelschale aus. Diese rückt mit dem Absterben der äußeren Speicherblätter langsam nach außen und wird zu einer weiteren Tochterzwiebel werden. Um zu verhindern, dass eine einmal eingepflanzte Zwiebel immer mehr kleine und damit blühfähige Zwiebeln ausbildet, ist es daher notwendig, die Zwiebeln nach fünf bis sieben Jahren auszugraben. Tochterzwiebeln werden dann von der Hauptzwiebel abgenommen und getrennt eingepflanzt. Wesentlich ist dabei, dass die Zwiebeln ein Stück der Bodenplatte der Zwiebel mitenthalten, da hier die Saugwurzeln gebildet werden. Narzissen eignen sich besonders gut zur Unterpflanzung von Gehölzgruppen, wo sie in Gruppen von sechs bis zwölf Zwiebeln je Sorte eingesetzt werden. Im Staudenbeet eignen sie sich besonders für die Kultivierung in Nachbarschaft mit Taglilien. Taglilien beginnen mit dem Austrieb ihrer Blätter zur Blütezeit der Narzissen. Sie erleben einen Wachstumsschub etwa um die Zeit, zu der die Narzissenblüten verblüht sind und die Narzissenlaubblätter anfangen zu vergilben. Sehr viele Wildarten und einige der Hybriden wie etwa 'Dutch Master', 'Golden Harvest', 'Carlton', 'Kings Court' und 'Yellow Sun' eignen sich auch für die Verwilderung in Rasenflächen. Narzissen sollten nicht abgemäht werden, bevor das Laub vergilbt, da ihre Zwiebeln sonst nicht ausreichend Nährstoffe für die nächste Blüte sammeln können. Blaublühende Zwiebelgewächse wie die der Gattungen Scilla und Muscari eignen sich ebenfalls zur Verwilderung in Rasenflächen und ergeben mit diesen gelbblühenden Narzissen einen reizvollen Farbkontrast. Narzissenzwiebeln werden im Gegensatz zu Tulpenzwiebeln nicht von Wühlmäusen gefressen. Diese Gattung eignet sich daher besonders für Gärtner, die gelegentlich Probleme mit diesen Nagetieren haben. In Obstgärten werden Narzissen daher sogar gelegentlich auf die sogenannten Baumscheiben, um die Obstbäume herum gepflanzt, um deren Wurzeln auf diese Weise vor einer Benagung durch Wühlmäuse zu schützen. Narzissen im kommerziellen Anbau Hauptanbauland Niederlande Die Niederlande sind das Land, das im Anbau von Blumenzwiebeln weltweit eine Sonderstellung einnimmt. Auch der kommerzielle Anbau von Narzissen findet vor allem hier statt. Auf etwa 16.700 Hektar werden Blumenzwiebeln angebaut, davon entfallen auf Narzissen etwa 1.800. In den 1990er Jahren wurden hier jährlich etwa 260 Millionen Narzissenzwiebeln herangezüchtet. Bedeutsamer als diese Gattung sind lediglich die Tulpen, Gladiolen, Schwertlilien (Iris), Krokusse und Lilien. Die Anzahl der produzierten Sorten ist verhältnismäßig gering. Auf 20 Hybriden entfallen etwa zwei Drittel der Anbaufläche. Wichtigste Sorten sind die gelbe 'Carlton' und die weiße 'Ice Follies', die beide in der weiter unten dargestellten Klassifikation von Narzissensorten zur Klasse zwei gehören. Ebenso wie die beiden weiteren Hauptanbausorten 'Dutch Master' und 'Golden Harvest' handelt es sich um Sorten, die schon lange angebaut werden. 'Carlton' und 'Golden Harvest' wurden bereits 1927 als Sorte eingeführt, 'Ice Follies' ist die jüngste Sorte und stammt aus dem Jahre 1953. Neben den Niederlanden bestehen vor allem in Großbritannien große kommerzielle Betriebe, die sich auf den Anbau von Narzissen spezialisiert haben. Der kommerzielle Anbau Kommerziell werden Narzissenzwiebeln über das sogenannte Twin-scaling vermehrt. Dazu werden Zwiebeln in kleinste Teile zerteilt, so dass zwei nebeneinanderliegende Zwiebelschalen noch durch ein winziges Stück Zwiebelboden miteinander verbunden sind. Nach einer Desinfektion werden sie auf speziellen Nährböden herangezogen. Aus einer einzigen Mutterzwiebel können so etwa 25 bis 35 neue Pflanzen gezogen werden, die nach vier Jahren blühfähig sind. Die „Ernte“ von Zwiebeln, die in den Handel kommen sollen, erfolgt im Sommer. Aufgenommene Zwiebeln werden zunächst sortiert. Um einen Schädlingsbefall zu verhindern, werden Narzissenzwiebeln üblicherweise nach einer Lagerphase von zwei bis drei Wochen einer Heißwasserbehandlung unterzogen. Dieses Bad in 43,5 °C heißem Wasser, dem meist noch ein Beizmittel beigegeben ist, beugt sowohl der Schädigung durch Narzissenfliegen als auch dem Befall durch Nematoden vor. Anschließend werden die Zwiebeln bei relativ hoher Temperatur getrocknet. Große kommerzielle Anbauer, die sich vor allem in den Niederlanden befinden, lagern ihre Zwiebeln bis zum Verkauf in speziellen Schuppen, in denen eine konstante Raumtemperatur von 15,5 °C herrscht. Der Handel Früher ersteigerten Großkunden auf Feldern mit blühenden Pflanzen ganze Flächen und erhielten dann die geernteten Zwiebeln dieser Fläche. Dies ist heute nicht mehr üblich. Vermarktungsbüros verkaufen die Zwiebeln, wobei die Zwiebeln allerdings immer noch weit vor der Ernte verkauft werden. Für Aufkäufer von Blumenzwiebeln gibt es in den Niederlanden spezielle Sichtungsgärten, wo sich Großkunden einen Eindruck von blühenden Pflanzen verschaffen und verschiedene Sorten miteinander vergleichen können. Ausgestellt werden dort neben Narzissen auch andere Zwiebelgewächse wie etwa Tulpen und Hyazinthen. Einzelne sehr große Sichtungsgärten zeigen dabei mehr als 1.000 Narzissenhybriden. Anders als der Keukenhof, eine sehr bekannte niederländische Gartenanlage, die vor allem im Frühjahr von tausenden von Touristen besucht wird und auf dessen Fläche nur etwa 100 Narzissenhybriden angebaut werden, sind in diesen Sichtungsgärten Bustouristen nicht erwünscht. Für Individualbesucher sind dagegen diese Gärten frei zugänglich. Ein Kauf von Zwiebeln ist hier für den Einzelkunden allerdings nicht möglich. Kommt es in Sichtungsgärten zu Geschäftsabschlüssen, werden meist mehrere Zentner Narzissenzwiebeln verkauft. Schnittblumen gelangen über die üblichen Handelswege in den Handel. Hochwertige Narzissen werden gelegentlich auch in Treibkisten an Floristen ausgeliefert. Im Einzelhandel werden die Blüten dann je nach Bedarf geerntet. Narzissentreiberei Narzissen kommen bereits ab Weihnachten als Schnitt- oder blühende Topfpflanzen in den Handel und werden bis in die Osterzeit angeboten. Um den Markt über diese lange Periode mit Narzissen versorgen zu können, müssen die Anbaubetriebe die Narzissenzwiebeln entsprechend vorbehandeln. Sollen sie bereits im Dezember blühen, werden die Zwiebeln im Juni gerodet, anschließend getrocknet und dann zunächst vier Tage lang bei einer Raumtemperatur von 34 Grad gelagert. Dem folgen zwei Wochen Lagerung bei 30 Grad und weitere zwei Wochen bei 17 Grad Raumtemperatur. Die Blühfähigkeit wird über eine dann anschließende Kältelagerung bei konstant 9 Grad erreicht. Pflanzen, die zu Weihnachten zur Blüte gebracht werden sollen, werden in der Regel dicht in magerer Komposterde in Obststeigen ausgepflanzt. Bei einer Kultur im Gewächshaus dauert es je nach Sorte zwischen 19 und 30 Tagen, bis die Pflanzen blühen. Bei Narzissen, die man als Schnitt- oder Topfpflanzen ab Mitte Januar ernten möchte, entfällt die Lagerung bei hohen Temperaturen. Nach der Ernte werden sie zunächst bei 17 Grad zwischengelagert und ab September auf 9 Grad heruntergekühlt. Sie können dann auch schon im Freiland ausgepflanzt werden, wenn sie durch sogenannte Rollhäuser vor zu starken Kälteeinbrüchen geschützt werden. Oft werden in Gärtnereien Narzissen- und andere Blumenzwiebeln auch in mit Erde gefüllten Holzsteigen ausgelegt, mit einer dicken Sandschicht bedeckt und in mit Strohmatten abgedeckten Frühbeetkästen im Freiland ausgestellt. Je nach Bedarf werden dann die Steigen freigelegt und im Gewächshaus bis zur Blüte vorgetrieben. Zuchtziele Die Royal Horticultural Society ist die internationale Registrierungsstelle für neue Narzissenhybriden. Anfang der 1990er Jahre waren mehr als 24.000 Sorten eingetragen. Bei Sorten, die sich auch für den kommerziellen Anbau eignen sollen, gehört es zu den Zuchtzielen, dass die Stiellänge 30 Zentimeter nicht unterschreitet. Dadurch eignen sie sich für den Anbau als Schnittblumen. Knospig geschnittene Blüten sollen außerdem erst nach einigen Tagen aufgehen. Dies ermöglicht, sie als Bundware in den Handel zu bringen und zu gewährleisten, dass sie erst beim Floristen, der sie verarbeitet, aufzublühen beginnen. Trotz der sehr hohen Zahl von Sorten werden auch für die Anpflanzung im Garten immer neue Sorten gezüchtet. Hier sind die Zuchtziele vor allem neue Farbkombinationen. So gibt es heute Sorten, deren Nebenkrone rosafarben ist. Gerne im Garten gepflanzt werden vor allem die kleinwüchsigen Sorten. Hier gehört es zu den Zuchtzielen, die Farbpalette der Blüte zu erweitern und vor allem winterharte Hybriden heranzuziehen. Einteilung der Arten und Sorten Systematik der Wildarten Die Artenzahl innerhalb der Gattung der Narzissen ist nach wie vor umstritten. Walter Erhardt (1993) geht in seiner sehr umfassenden Darstellung der Gattung von 66 verschiedenen Arten aus, The International Daffoldil Register and Classified List 2008 akzeptiert 85 Arten. Die Gattung der Narzissen ist im Laufe der botanischen Geschichte mehrfach nach unterschiedlichen Kriterien klassifiziert worden. 1966 wurde eine Einteilung durch Frederick Gustav Meyer vorgenommen, der bis heute viele deutsche Gärtnereien folgen. In England und in wissenschaftlichen Kreisen wurde dagegen lange Zeit der 1968 veröffentlichten Einteilung von Abilio Fernandes gefolgt. 1990 erfolgte eine neue Klassifikation durch John W. Blanchard, bei der auch Unterarten und Varietäten berücksichtigt wurden. Die Darstellung der Narzissenarten im Artikel Systematik der Narzissen gibt diese Systematik wieder. Die Einteilung der Narzissen in Klassen Aus gärtnerischer Sicht werden die Narzissenarten und ihre Hybriden in 12 Klassen, gelegentlich auch als Divisionen bezeichnet, eingeteilt. Ausschlaggebend für diese Einteilung ist meist die Form und Länge der Nebenkrone, die Anzahl der Blüten je Stängel, aber auch die Blütezeit. Diese Form der Klassifizierung ist ein Hilfsmittel, um Bepflanzungen zu planen. Die meisten im Handel erhältlichen Narzissen stammen aus der Klasse 1, den Trompetennarzissen; der Klasse 2, den großkronigen Narzissen und der Klasse 8, den Tazetten, die allerdings in der Gartenkultur bereits anspruchsvoller sind. Die Wildarten stellen innerhalb dieser Klassifizierung eine Ausnahme dar, da sie und die in der Natur vorkommenden Arthybriden grundsätzlich in die Klasse 10 gestellt werden. Eine ausführliche Beschreibung dieser Klassifizierung und den jeweiligen Kulturbedingungen ist im Artikel Klassifizierung der Narzissen wiedergegeben. Die Narzisse in der griechischen Mythologie In zwei Sagen der griechischen Mythologie spielt die Narzisse eine Rolle. Sie sind von Homer beziehungsweise von Pausanias überliefert und wurden später von den römischen Dichtern wie etwa Ovid in ihren Dichtungen verarbeitet. Der Raub der Persephone Der Raub der jungen Persephone, der Tochter der Demeter, durch Hades wird in der homerischen Hymne (5,21) an Demeter geschildert: „Fern von Demeter, der Herrin der Ernte, die mit goldener Sichel schneidet, spielte sie und pflückte Blumen mit den Töchtern des Okeanos, Rosen, Krokus und schöne Veilchen, Iris, Hyazinthen und Narzissen. Die Erde brachte die Narzisse hervor als wundervolle Falle für das schöne Mädchen nach Zeus' Plan, um Hades, der alle empfängt, zu gefallen. Sie war für alle, unsterbliche Götter und sterbliche Menschen, ein wundervoller Anblick, aus ihrer Wurzeln wuchsen einhundert Köpfchen, die einen so süßen Duft verströmten, dass der ganze weite Himmel droben und die ganze Erde lachten und die salzige Flut des Meeres. Das Mädchen war bezaubert und streckte beide Hände aus, die Pracht zu greifen. Doch als sie es tat, öffnete sich die Erde und der Herrscher Hades, dem wir alle begegnen werden, brach hervor mit seinen unsterblichen Pferden auf der Ebene von Nysa. Der Herr Hades, Sohn des Kronos, der mit vielen Namen genannte. Um Erbarmen flehend, wurde sie in den goldenen Wagen gezerrt.“ (Zitiert nach Beuchert, S. 233 f.) Die Sage von Narziss Die Sage von Ovid berichtet von einem Jüngling mit dem Namen Narziss oder Narkissos, der von ungewöhnlich reizvollem Erscheinungsbild war. In ihn verliebte sich die Quellnymphe Echo. Ihr Schicksal war es aber, dass der Jüngling ihr Werben um ihn nicht vernehmen konnte, da sie stets nur die zu ihr gesprochenen Worte zurückgeben konnte. Narziss dagegen spottete über sie, während sie sich so nach ihm verzehrte, dass sie dahinschwand und nur noch ihr Echo zu vernehmen war. Dafür wurde er von Nemesis dadurch bestraft, dass er in unstillbare Liebe zu seinem eigenen im Wasser widergespiegelten Abbild verfiel. Damit erfüllte sich die Vorhersage des Sehers Teiresias, wonach er ein langes Leben nur dann haben werde, wenn er sich nicht selbst kennenlerne. Eines Tages setzte Narziss sich an den See, um sich seines Spiegelbildes zu erfreuen. Nach seinem Tode wurde er in eine Narzisse verwandelt. (Pausanias 9.31,7) Literatur Marianne Beuchert: Symbolik der Pflanzen (= Insel-Taschenbuch. 2994). Mit 101 Aquarellen von Marie-Therese Tietmeyer. Insel-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1995, ISBN 3-458-34694-5. John W. Blanchard: Narcissus. A Guide to Wild Daffodils. Alpine Garden Society, St. John's Woking 1990, ISBN 0-900048-53-0. Blumenzwiebeln und Knollen. (= Dumont's Gartenhandbuch). Dumont, Köln 1998, ISBN 3-7701-4336-1. Walter Erhardt: Narzissen. Osterglocken, Jonquillen, Tazetten. Ulmer, Stuttgart 1993, ISBN 3-8001-6489-2. Heinz-Dieter Krausch: „Kaiserkron und Päonien rot ...“. Entdeckung und Einführung unserer Gartenblumen. Dölling und Galitz, München u. a. 2003, ISBN 3-935549-23-7. Annemarie Schimmel: Kleine Paradiese. Blumen und Gärten im Islam. (= Herder-Spektrum. Bd. 5291). Herder, Freiburg/ Basel/ Wien 2001, ISBN 3-451-05192-3. Gerhard Bahnert: Alles über Narzissen. Gold und Silber im Frühlingsgarten. Deutscher Landwirtschaftsverlag Berlin 1992, ISBN 3-331-00503-7. Weblinks Die Narzisse als Giftpflanze Kurzer Artikel über Narzissentäler in der Eifel Bilder von gängigen Narzissensorten nach Klassen DaffSeek - Narzissen-Datenbank der Amerikanischen Narzissengesellschaft mit ca. 32.600 Narzissensorten Einzelnachweise Zierpflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4riehunde
Präriehunde
Präriehunde (Cynomys) sind eine nordamerikanische Gattung der Erdhörnchen. Sie sind verwandt mit den Murmeltieren und den Zieseln. Merkmale Der plumpe Körper, die kurzen Beine und der kurze Schwanz geben den Präriehunden ein entfernt murmeltierähnliches Aussehen. Präriehunde haben eine Kopf-Rumpf-Länge von 30–35 cm und ein Gewicht von 800–1400 g. Männchen sind im Schnitt etwas größer und um 10 % schwerer als Weibchen. Das Fell ist graubraun gefärbt und oberseits etwas dunkler als an der Unterseite. Schwarzschwanz- und Mexikanischer Präriehund haben einen Schwanz mit schwarzer Spitze, Weißschwanz-, Gunnison- und Utah-Präriehund einen mit weißer Spitze. Darüber hinaus sind die Arten nur sehr schwer unterscheidbar. Form und Größe der Backenzähne sowie die Art der Lautgebungen gehören zu den wenigen Merkmalen, anhand derer sich die Arten auseinanderhalten lassen. Lebensweise Präriehunde leben in der Prärie Nordamerikas. Das Habitat muss kurzes oder mittellanges Gras sowie trockenen Boden bieten. Als tagaktive Tiere bleiben Präriehunde nachts in ihren selbst gegrabenen Erdhöhlen. Die Tunnel sind etwa 10 bis 15 cm breit und können maximale Längen von 34 m erreichen. Sie führen zu Nestkammern, die eine Ausdehnung von etwa 40 cm haben, mit Gras ausgelegt sind und 1 bis 5 m unter der Erdoberfläche liegen. Die beim Graben ausgehobene Erde wird um die Eingänge angehäuft, so dass bei Überschwemmungen kein Wasser hineinlaufen kann. Ein Präriehundbau hat meistens nur einen oder zwei Eingänge, in seltenen Fällen bis zu sechs. Der Weißschwanz-Präriehund hält einen halbjährigen Winterschlaf. Dagegen ist der Schwarzschwanz-Präriehund ganzjährig aktiv und kommt selbst bei Schneetreiben ins Freie. Präriehunde ernähren sich von Pflanzen, vor allem von Gräsern. Die Pflanzen in der Umgebung des Baus werden stetig kurz gehalten, wodurch den Präriehunden ein weiter Überblick ermöglicht wird. Leben in Kolonien Vier der fünf Präriehund-Arten leben in komplexen Kolonien mit einem hohen Grad an sozialer Organisation. Eine Ausnahme bildet allein der Weißschwanz-Präriehund, dessen Kolonien eher denen vieler Ziesel ähneln. Sie sind kleiner und weniger organisiert. In einem Bau lebt meistens nur ein Weibchen mit seinen Jungen; andere Mitglieder der Kolonie haben eigene Baue. Die sozialen Bande zwischen den Gruppenmitgliedern sind gering. Die folgenden Angaben beschreiben das soziale Leben des Schwarzschwanz-Präriehundes. Vieles dürfte aber auch auf den Mexikanischen, den Gunnison- und den Utah-Präriehund zutreffen. Diese Arten sind weniger gut erforscht, haben aber ähnlich komplexe, wenn auch kleinere Kolonien. Die Kolonien des Schwarzschwanz-Präriehundes gliedern sich in einzelne Familienverbände. Ein Verband besteht meistens aus einem ausgewachsenen Männchen, drei oder vier Weibchen und einer großen Zahl von jungen und jugendlichen Tieren beiderlei Geschlechts. Er kann insgesamt bis zu 26 Individuen umfassen. In einigen Fällen kann einem Verband mehr als ein Männchen angehören. Dabei handelt es sich dann meistens um Brüderpaare. Weibchen, die in einem Verband geboren wurden, bleiben dort, so dass alle Weibchen einer Gruppe miteinander verwandt sind. Männchen müssen dagegen vor Erreichen des zweiten Lebensjahrs den Verband verlassen. Sie versuchen dann, die Kontrolle über einen anderen Verband zu erlangen. Um Inzucht zu vermeiden, wechseln auch die ausgewachsenen Männchen jährlich ihren Verband; tun sie dies nicht, verweigern die Weibchen letztlich die Paarung mit ihnen. Die einzelnen Verbände bilden zusammen eine Kolonie, die aus Hunderten von Tieren besteht. Oft werden diese Kolonien als „Präriehundstädte“ bezeichnet. Im 19. Jahrhundert soll es in Texas eine Präriehundstadt gegeben haben, die eine Fläche von 65.000 km² bedeckte und aus 400 Millionen Einwohnern bestand. Die größte heutige Präriehundstadt liegt im Nordwesten des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua, umfasst 350 km² und hat mehr als 1 Million Einwohner. Zwischen den Verbänden einer Stadt gibt es keine soziale Interaktion; im Gegenteil, es verteidigt jeder Verband seine Grenzen gegen den benachbarten. Eine gemeinsame Aufzucht der Jungen findet nicht statt. Jedes Weibchen kümmert sich ausschließlich um die eigenen Jungen und wird während der Trag- und Stillzeit außerordentlich aggressiv. Innerhalb der Kolonie kommt es oft zu gegenseitigen Attacken, bei denen die Weibchen versuchen, die Jungen anderer Muttertiere zu töten und zu fressen. Auf diese Weise kommen nahezu 40 % aller Jungtiere einer Kolonie ums Leben. Von keinem anderen Säugetier ist ein vergleichbares Verhalten bekannt. Der Vorteil liegt offenbar darin, dass der Nachwuchs der stärksten Mütter letztlich überlebt. Männchen verhalten sich gegenüber allen Jungtieren ihrer Kolonie friedfertig und versuchen, sie zu verteidigen. Die Paarung findet je nach Art und geografischer Breite zwischen Januar und April statt. Sie wird im Bau vollzogen. Die Paarungsbereitschaft lässt sich an bestimmten Verhaltensweisen ablesen: Beide Partner lecken ihre Geschlechtsteile, sie benutzen denselben Bau, und die Männchen sammeln Nistmaterial, das sie in diesen Bau schaffen. Jungtiere kommen nach einer Tragzeit von 35 Tagen zur Welt. In einem Wurf können sich bis zu acht Junge befinden, die bei der Geburt eine Größe von 7 cm und ein Gewicht von 15 g haben und nackt und blind sind. Das Fell bildet sich im Alter von drei Wochen, die Augen öffnen sich nach sechs Wochen. Die Jungen werden 40 bis 50 Tage gesäugt, dann verlassen sie erstmals ihren Bau. Sobald sie eigenständig genug sind, ins Freie zu gehen und Nahrung zu suchen, endet für die Jungen die Gefahr, von anderen Müttern getötet zu werden. Die Lebensdauer kann in Gefangenschaft über acht Jahre betragen, ist in freier Wildbahn aber für gewöhnlich kürzer. Systematik Die Präriehunde sind eine Gattung der Hörnchen, wo sie den Erdhörnchen (Xerinae) und darin den Echten Erdhörnchen (Xerini) zugeordnet werden. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Gattung erfolgte durch Constantine S. Rafinesque-Schmaltz im Jahr 1817. Die Präriehunde wurden 2004 in einer molekularbiologischen Untersuchung als monophyletische Gruppe bestätigt und als Schwestergruppe der gesamten Marmotini mit Ausnahme der ursprünglich den Zieseln zugeordneten Gattung Xerospermophilus identifiziert. Der Franklin-Ziesel (Poliocitellus franklinii) ist die gemeinsame Schwesterart dieses aus den beiden Gruppen gebildeten Taxons. Aus der Gattung der Präriehunde sind fünf Arten bekannt: Gunnisons Präriehund (Cynomys gunnisoni), Utah, Colorado, Arizona, New Mexico Weißschwanz-Präriehund (Cynomys leucurus), Wyoming, Colorado Schwarzschwanz-Präriehund (Cynomys ludovicianus), Prärien von Saskatchewan über die zentralen USA bis Chihuahua Mexikanischer Präriehund (Cynomys mexicanus), Coahuila, San Luis Potosí Utah-Präriehund (Cynomys parvidens), Utah Die ersten beiden dieser Arten werden oft in einer Untergattung Cynomys, die letzten drei in Leucocrossuromys zusammengefasst. Etymologie Präriehunde sind benannt nach ihrem Habitat und nach ihrem Warnruf, der dem Bellen eines Hundes ähnelt. Der Name wurde laut Online Etymology Dictionary frühestens 1774 verwendet. Die Berichte der Lewis-und-Clark-Expedition geben an, dass diese im September 1804 „ein Dorf der Tiere erreichte, welche von den Franzosen Präriehunde genannt werden“. Der wissenschaftliche Name Cynomys (von griechisch κύων kýōn u. μῦς mŷs) bedeutet „Hundemaus“, was sich auf die mäuseartige Lebensweise bezieht. Menschen und Präriehunde Zwar waren Präriehunde nie selten, aber nach übereinstimmenden Berichten erlebten sie am Ende des 19. Jahrhunderts eine nahezu explosive Vermehrung. Weiße Siedler dezimierten die natürlichen Feinde der Präriehunde und führten Hausrinder ein, die dafür sorgten, dass die Vegetation kurz gehalten wurde, was den Lebensraum für Präriehunde besonders günstig machte. Um 1900 soll es etwa 5 Milliarden Schwarzschwanz-Präriehunde auf US-Territorium gegeben haben, die zunehmend als eine ernste Bedrohung der Landwirtschaft angesehen wurden, da sie über Getreide- und Gemüsefelder herfielen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts organisierte die US-Regierung eine Ausrottungskampagne: Mit Strychnin versetztes Futter wurde massenhaft ausgelegt, wodurch die Populationen überall einbrachen. Allein in Texas wurden binnen weniger Jahre 99,8 % der dort lebenden Präriehunde getötet; in anderen Bundesstaaten waren die Zahlen vergleichbar. Heute gilt der Schwarzschwanz-Präriehund als gering gefährdet. Durch ein Ende der Vergiftungen und darauf folgende Schutzmaßnahmen sind die US-amerikanischen Arten heute wieder recht häufig. Der Utah-Präriehund, der bis 1996 als gefährdet galt, wird nach einem effektiven Schutzprogramm seither in der Roten Liste der IUCN nur noch als „von Schutzmaßnahmen abhängig“ geführt. Dagegen gilt der Mexikanische Präriehund als stark gefährdet, da er noch immer Verfolgung und Vergiftung ausgesetzt ist und sein natürlicher Lebensraum durch Ausbreitung der Landwirtschaft zerstört wird. Manche Indianervölker haben früher Präriehunde gegessen. Heute werden sie manchmal als Labortiere eingesetzt und erfreuen sich einer zunehmenden Beliebtheit als Heimtiere, wenngleich sie kaum artgerecht gehalten werden können. Die Städte der Präriehunde sind beliebte Reiseziele für Touristen im US-amerikanischen Westen. Meriwether Lewis, der zusammen mit William Clark im Auftrag des Präsidenten Thomas Jefferson den nordamerikanischen Westen erforschte, nannte den Präriehund „Bellendes Hörnchen“. Er versuchte einen Präriehund lebend als Geschenk für den Präsidenten auszugraben. Da dies wegen der Tiefe des Baus nicht gelang, ließ er die Höhle unter Wasser setzen und konnte so einen Präriehund fangen. Der Präriehund lebte dann noch einige Zeit im Weißen Haus. Die Bedeutung von Präriehunden als Krankheitsüberträger wurde meistens übertrieben, um Begründungen für die Ausrottungskampagnen zu liefern. Dennoch sind Präriehunde in einigen Regionen im Südwesten der USA mögliche Träger der Pest. 2003 gab es eine aufsehenerregende Affenpocken-Epidemie in den USA, die tatsächlich durch Präriehunde verbreitet wurde. Die Verursacher waren hier aus Zoogeschäften entlaufene afrikanische Riesenhamsterratten, die die Infektion auf die Präriehunde übertragen hatten. Sonstiges Die großflächige Verfolgung der Präriehunde hat auch zur fast völligen Ausrottung der Schwarzfußiltisse geführt, die sich zu 90 % von diesen Tieren ernähren. Die Iltisse sind in den 1980er-Jahren in freier Wildbahn ausgestorben und haben nur dank eines Nachzuchtprogramms überlebt. Weitere Feinde der Präriehunde sind unter anderem Kojoten, Silberdachse, Klapperschlangen und Greifvögel. Während man lange die Ziesel für die Schwestergruppe der Präriehunde hielt, scheint in Wahrheit nur die Ziesel-Untergattung Spermophilus Schwestertaxon der Präriehunde zu sein. Für Gunnisons Präriehund (Cynomys gunnisoni) wurde nachgewiesen, dass diese Tiere über ein ungewöhnlich stark differenziertes Kommunikationsvermögen verfügen. Demnach äußern sie jeweils unterschiedliche Warnrufe, wenn sich ein Falke, ein Haushund, ein Kojote oder ein Mensch nähert. Weiterhin unterscheiden sich die Warnrufe bei Annäherung kleiner Menschen von denen bei Annäherung großer Menschen. Schließlich konnte in einem Experiment nachgewiesen werden, dass – bei ansonsten gleichem äußeren Erscheinungsbild – vor einer mit grünem T-Shirt sich nähernden Person durch andere Rufe gewarnt wird, als wenn eine Person in blauem T-Shirt gesichtet wird. Literatur John L. Hoogland: The Black-Tailed Prairie Dog. Social Life of a Burrowing Mammal. University of Chicago Press, Chicago IL 1995, ISBN 0-226-35118-1. Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. 2 Bände. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD u. a. 1999, ISBN 0-8018-5789-9. Christian Ehrlich: Präriehunde. Biologie, Haltung, Zucht. NTV, Münster 2004, ISBN 3-931587-97-5. John L. Hoogland (Hrsg.): Conservation of the Black-Tailed Prairie Dog. Saving North America's Western Grasslands. Island Press, Washington DC u. a. 2006, ISBN 1-55963-498-7. Einzelnachweise Weblinks (englisch) Präriehunde Community (deutsch) Erdhörnchen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hoechst
Hoechst
Die Hoechst AG – bis 1974: Farbwerke Hoechst AG, vorm. Meister, Lucius & Brüning – in Frankfurt am Main war eines der drei größten Chemie- und Pharmaunternehmen Deutschlands. Es wurde 1863 im damals nassauischen Höchst am Main gegründet und wuchs bis zum Ersten Weltkrieg zu einem Weltunternehmen. 1925 fusionierte es mit anderen Unternehmen zur I.G. Farbenindustrie AG und wurde 1951 nach der Entflechtung der I.G. Farben neu gegründet. Durch Unternehmensübernahmen und Investitionen in neue Produkte wuchs Hoechst zu einem Großkonzern. Mitte der 1950er Jahre überschritt der Jahresumsatz erstmals eine Milliarde DM, 1969 die Marke von 10 Milliarden DM. Anfang der 1980er Jahre war Hoechst das nach Umsatz größte Pharmaunternehmen der Welt. Anfang der 1990er Jahre erreichte der Konzern mit 180.000 Beschäftigten, einem Jahresumsatz von 47 Milliarden DM und einem Gewinn von über vier Milliarden DM seine größte Ausdehnung. 1994 begann die Neuausrichtung und Umstrukturierung der Hoechst AG. Das ehemalige Stammwerk wurde 1997 zum Industriepark Höchst. Nach der Überführung in eine Holding schloss sich die Hoechst AG 1999 mit Rhône-Poulenc zur Aventis S.A. mit Sitz in Straßburg zusammen und spaltete die verbliebenen Chemieaktivitäten in der Celanese AG ab. Aktie Die Hoechst AG gehörte dem DAX seit seiner erstmaligen Berechnung 1988 bis zum 20. September 1999 an und blieb noch bis Ende Dezember 2004 als deutsche Zwischenholding der Aventis an der Frankfurter Wertpapierbörse notiert. Nach der Fusion von Aventis mit Sanofi-Synthélabo zu Sanofi-Aventis 2004 verschwand der Name Hoechst endgültig aus der Öffentlichkeit. Name und Firmenlogo Die Bezeichnung Farbwerke Hoechst war seit der Firmengründung umgangssprachlich immer in Gebrauch und wurde erst ab 1951 offiziell im Firmennamen aufgenommen. Er ist vom Unternehmenssitz in der ehemals selbständigen Stadt Höchst am Main abgeleitet. Die Schreibweise ohne Umlaut war im Unternehmen immer gebräuchlich, denn die Internationalisierung des Unternehmensgeschäfts war bereits weit vor dem Ersten Weltkrieg gelungen. Kurz nach Gründung einer „Theerfarbenfabrik Meister, Lucius & Co“ (1863) änderte sich der Name in „Farbwerke Meister, Lucius & Brüning“ (1865). Nach der Umwandlung in eine AG mit dem Namen „Farbwerke vorm. Meister, Lucius & Brüning AG“ (1880) tauchte auf den ersten Pharmaverpackungen der stilisierte Löwe mit den Initialen ML&B auf (Antipyrin, 1883). Dieses älteste Firmenlogo zeigt einen liegenden Löwen, das nassauische Wappentier, der in der rechten Pranke ein Wappen mit den ineinander verschlungenen Initialen MLB (Meister, Lucius & Brüning) hält. Laut Archivunterlagen soll er bereits ab 1877 verwendet worden sein. Kurz vor dem Zusammenschluss aller Chemiekonzerne in einer „IG-Farbenindustrie AG“ 1925 verwendete Hoechst auf Pharmaverpackungen zwei vereinfachte Logos „Hoechst“ in blauem Kreis und „ML&B“ in einem zweiten Kreis (Insulin, 1923). Während der IG-Farbenzeit 1925–1951 trugen Pharmaverpackungen aus Höchst neben der Herstellerangabe „IG-Farbenindustrie AG, pharmazeutische Abteilung, Verkaufsstelle Höchst“ weiterhin die Initialen „ML&B“ in einem Kreis (Novocain). Nach Liquidation der IG-Farben 1952 lautete der neue Firmenname „Farbwerke Hoechst AG vorm. Meister, Lucius & Brüning“ und als kreisförmiges Logo wurde erstmals die symbolische Darstellung der Brücke verwendet (Nirosan). Bereits 1947 gestaltete der Frankfurter Dozent Richard Lisker für den Konzern ein Logo aus Turm und Brücke, einer stilisierten Darstellung des heute denkmalgeschützten Behrens-Baus, Dieser Entwurf mit mittenzentrierter Darstellung von Brücke und Turm wurde 1951 vom Frankfurter Graphiker Rober Smago überarbeitet. Der Turm rückte nunmehr an die linke Seite, während die Brücke nach rechts anstieg. Dieses endgültige Symbol wurde 1952 markenrechtlich geschützt. 1966 gelang Hoechst die „Quadratur des eigenen Kreises“, das kreisförmige Logo versank in einer quadratischen Umrandung. Die hinzu gewonnene Fläche sollte in intensivem Blau Aufmerksamkeit erwecken. Dieses endgültige Symbol wurde 1966 markenrechtlich geschützt. In dieser Form war das Markenzeichen bis in das 21. Jahrhundert an zahlreichen Apotheken als Reklameschild zu sehen. 1974 verzichtete der Konzern auf die Nennung historischer Gründernamen und vereinfachte den Unternehmensnamen zu Hoechst Aktiengesellschaft. Als Signet diente der Schriftzug „Hoechst“ mit rechts stehendem Logo von 1966. 1997 ließ sich die Hoechst Managementholding-Gesellschaft zur Abgrenzung von der früheren Hoechst AG vom Wuppertaler Designer Hans Günter Schmitz ein neues Firmensymbol kreieren. Als Signet diente nun – nach zweieinhalbjähriger „Entwicklungsarbeit“ – der Schriftzug „Hoechst“ mit simplem rechts hochgestellten Quadrat. Kritiker bezeichneten das neue Logo in Leserbriefen scherzhaft als passend zur neuen Unternehmenskultur – kleinkariert und etwas abgehoben. Nach Unternehmensdarstellung solle das neue Logo positive Assoziationen wie Ideenpotential, Qualität, Weiterentwicklung und Kreativität symbolisieren. Mit Turm und Brücke, die das Behrens-Bauwerk im Stammwerk symbolisieren, könnten nur Frankfurter etwas anfangen. Hoechst sei aber kein Frankfurter, sondern ein internationales Unternehmen. Pikanterweise beansprucht die Rechtsnachfolgerin Sanofi-Aventis noch heute die Aufrechterhaltung der alten Markenrechte von 1966 und verhindert juristisch eine Nutzung durch Dritte. Zur Bekräftigung dieser Ansprüche meldete 2011 eine „Hoechst GmbH Frankfurt“ das Logo von 1966 nochmals als eigene Wort-Bildmarke an. 2015 findet man bei den Nachfolgefirmen das Hoechst-Logo noch als Prägung auf Urbasontabletten. Unternehmensgeschichte 1863 bis 1914 Am 2. Januar 1863 morgens nahm die von Carl Friedrich Wilhelm Meister, Eugen Lucius und Ludwig August Müller gegründete Theerfarbenfabrik Meister, Lucius & Co. ihren Betrieb auf. Das Betriebsgelände lag direkt am Ufer des Mains in der kleinen Stadt Höchst, die seit 1928 ein Stadtteil von Frankfurt am Main ist. Obwohl die Gründer Bürger der Freien Stadt Frankfurt waren, gründeten sie ihr Unternehmen im benachbarten Herzogtum Nassau, das im Gegensatz zum industriefeindlichen Handels- und Finanzzentrum Frankfurt die Ansiedlung von Industriebetrieben förderte. Nach Müllers Ausscheiden 1865 übernahm der bisherige Technische Direktor Adolf von Brüning dessen Anteile. Er wird deshalb oft auch als Gründungsmitglied bezeichnet. Seit Brünings Eintritt firmierte das Unternehmen als Farbwerke Meister, Lucius & Brüning. Die Fabrik stellte zunächst die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so bezeichneten Teerfarben her. Sie waren im Gegensatz zu anderen damaligen Farbstoffen wie Indigo oder Krapp kostengünstig aus dem Steinkohlenteer, einem Abfallstoff der Kokserzeugung, zu gewinnen. Zunächst stellte die Fabrik Fuchsin und Anilin her, ab 1864 auch das von Lucius und Brüning entwickelte Aldehydgrün (ein Derivat des Fuchsins). Dies war der erste grüne Textilfarbstoff, der auch bei Gaslicht seinen Farbton behielt. Als es gelang, die französische Kaiserin Eugénie als Kundin zu gewinnen und an die Textilindustrie in Lyon große Mengen der Höchster Farbstoffe zu liefern, brachte dies den Durchbruch für das neugegründete Unternehmen. 1869 brachten die Farbwerke den roten Farbstoff Alizarin (Krapprot) auf einen hart umkämpften Markt. Dank eines neuen patentierten Verfahrens von Ferdinand Riese wurde es rasch zum erfolgreichsten Produkt. Umgehend begann man mit der Verlagerung der Produktion auf ein etwa einen Kilometer flussabwärts gelegenes Gelände, das wesentlich mehr Platz für neue Fabrikanlagen bot. Das neue im Volksmund bald Rotfabrik genannte 1874 fertiggestellte Werk wurde später in mehreren Etappen erweitert und bildet heute den Industriepark Höchst. Um die schnell wachsende Zahl von Arbeitern mit ihren Familien zu versorgen, entwickelten die Gründer eine Reihe von für die damalige Zeit vorbildlichen betrieblichen Sozialleistungen. Die 1874 gegründete Hilfskasse für erkrankte Arbeiter war eine Betriebskrankenkasse, die auch die soziale Sicherung der Arbeiter und ihrer Angehörigen bei Unfall, Invalidität, Berufskrankheiten, Alter und Tod übernahm. Der Werksärztliche Dienst war ein Pionier in der Erforschung von Berufskrankheiten. Von 1874 bis 1875 wurden die ersten Arbeiterwohnungen in der Siedlung Seeacker in Höchst gebaut, später auch in Unterliederbach und in der Zeilsheimer Siedlung Colonie. 1879 richtete Brüning die Kaiser-Wilhelm-Augusta-Stiftung ein, eine Pensionskasse für Höchster Arbeiter, die auch Hypothekendarlehen für den Hausbau gewährte; sie finanziert heute als Höchster Pensionskasse VVAG auf dem freien Markt zinsgünstig Immobilien. 1880 wurden aus dem kleinen Unternehmen die Farbwerke vorm. Meister, Lucius & Brüning AG, die bald darauf ihre Wertschöpfungskette verlängerte. Seit 1881 stellte die Rotfabrik auch Vorprodukte wie anorganische Säuren her, 1883 begann die Produktion von synthetischen Arzneimitteln. Die ersten erfolgreichen Arzneimittel der Farbwerke waren das schmerzstillende und fiebersenkende Antipyrin sowie ein von Emil von Behring entwickeltes Immunserum gegen Diphtherie. 1897 kam das Pyramidon (Aminophenazon) hinzu, welches etwa dreimal wirksamer als das Antipyrin war. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wuchs das Unternehmen zu einem Weltkonzern, der 88 Prozent seiner Produktion exportierte. Auch Produktionsanlagen entstanden im Ausland, zunächst 1878 in Moskau, 1883 in Creil bei Paris und 1908 in Ellesmere Port bei Manchester. 1900 gründeten die Farbwerke ein neues Werk in Gersthofen bei Augsburg. Die Wasserkraft des Lech wurde dabei für die energieintensive Synthese von Indigo genutzt. 1904 bildeten die Farbwerke Höchst mit den Cassella Farbwerken durch wechselseitige Kapitalverflechtungen und Lieferbeziehungen den Zweibund, der 1907 durch den Beitritt der Chemischen Fabrik Kalle in Biebrich zum Dreibund wurde. Friedrich Stolz synthetisierte 1904 in den Labors der Farbwerke das Adrenalin. Es war das erste Hormon, dessen Struktur genau bekannt war und das in reiner Form hergestellt werden konnte. 1905 entwickelte Alfred Einhorn mit Novocain das erste nicht-süchtigmachende Lokalanästhetikum. 1910 begannen die Farbwerke in Höchst mit der Produktion des ein Jahr zuvor von Paul Ehrlich entwickelten Salvarsan. Im Jubiläumsjahr 1913 hatte das Unternehmen, das noch immer mehrheitlich im Besitz der Gründerfamilien war, einen Weltumsatz von 100 Millionen. Es beschäftigte allein in Höchst rund 9000 Mitarbeiter. 1914 bis 1952 Der Erste Weltkrieg bedeutete für das exportorientierte Unternehmen eine Zäsur, welche die Unternehmensentwicklung für die folgenden dreißig Jahre beeinflusste. Die Auslandsorganisation, Patente und Warenzeichen wurden enteignet, große Teile des Weltmarktes gingen für immer verloren, da die Kriegsgegner eigene Industrien aufbauten. 3237 der 9200 Mitarbeiter des Werkes Höchst wurden 1914 einberufen, 547 von ihnen fielen im Krieg. Die Entwicklung im Stammwerk wurde durch die Umstellung auf Kriegsproduktion geprägt. An die Stelle von Farbstoffen und Arzneimitteln traten Ammoniak, Salpetersäure und Ammoniumnitrat. Weil so viele Arbeiter zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, mangelte es an Fachkräften. Die Rohstoffversorgung litt unter der britischen Seeblockade. Trotzdem schaffte es das erste deutsche Handels-U-Boot Deutschland bis 1916, die USA zweimal mit Produkten der Hoechst AG (u. a. Alizarin und Salvarsan) zu versorgen. 1916 war Hoechst Gründungsmitglied der Interessengemeinschaft der deutschen Teerfarbenfabriken, einem Kartell, das die Rohstoffversorgung, Produktionssteuerung und Absatzstrategien der beteiligten Unternehmen unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft aufeinander abstimmen sollte. Im auf 50 Jahre abgeschlossenen Vertrag hatte Generaldirektor Adolf Haeuser durchgesetzt, dass Hoechst zusammen mit Kalle denselben Anteil am Gewinn erhielt wie BASF und Bayer, obwohl Hoechst in den letzten Friedensjahren im Wachstum zurückgeblieben war und dem technischen Vorsprung der BASF in der Hochdrucksynthese und der modernen Infrastruktur des Bayerwerkes Leverkusen nichts entgegenzusetzen hatte. Die Unternehmen der Interessengemeinschaft blieben im Übrigen selbständig. Das Kriegsende und der Versailler Vertrag brachten den Farbwerken neue Belastungen: Das Werk wurde von französischen Truppen 1918 besetzt, Kohle- und Rohstoffmangel, Zwangsabführungen sowie Devisenknappheit behinderten die Neuausrichtung und den Wiedereinstieg in den Weltmarkt. Anstelle der Kriegsproduktion von Sprengstoffen, die zuletzt 70 % des Umsatzes ausgemacht hatten, stellte man nun Arzneimittel, Düngemittel und Pflanzenschutzmittel als Reparationsleistung her. Die traditionellen Hoechster Schmerzmittel Antipyrin und Pyramidon wurden 1922 durch Novalgin ergänzt, und 1923 produzierten die Farbwerke als erstes deutsches Unternehmen Insulin in Lizenz. Von 1920 bis 1924 baute Peter Behrens das Technische Verwaltungsgebäude, das heute als einer der bedeutendsten expressionistischen Industriebauten Deutschlands gilt. Während der Bauzeit führte die zunehmende Inflation in Deutschland zu Arbeitskämpfen über Lohn- und Arbeitszeitfragen. Im Sommer 1920 sowie im Herbst 1921 kam es deswegen zu Demonstrationen und Unruhen im Werk. Auf dem Höhepunkt der Inflation im November 1923 verdiente ein Arbeiter 10 Milliarden Mark in der Stunde; das Mittagessen in der Werksküche kostete 4,5 Milliarden Mark. Für das Geschäftsjahr 1923 konnte weder der Umsatz noch der Gewinn festgestellt und keine Dividende gezahlt werden. 1925 schlossen sich die Farbwerke der Fusion zur I.G. Farbenindustrie AG an. Aufgrund Haeusers geschickter Verhandlungsführung brachten die Farbwerke mit 27,4 Prozent den gleichen Anteil am Grundkapital der I.G. wie Bayer und BASF ein, der Rest stammte von den drei kleineren Gesellschaftern AGFA, Griesheim-Elektron und Weiler-ter Meer. Die I.G. Farben konzentrierte ihre Investitionen in neue Produkte, wie Buna, Fischer-Tropsch-Synthese und Kunstfasern, auf die neuen mitteldeutschen Werke, wo mit der Braunkohle eine günstige Rohstoffbasis verfügbar war. Das traditionelle Stammwerk der Farbwerke Höchst geriet dadurch etwas ins Abseits, der Umsatz stagnierte und die Beschäftigtenzahl ging zurück. Das Werk bildete zusammen mit den Werken Fechenheim, Griesheim, Offenbach und den Behringwerken in Marburg die Betriebsgemeinschaft Mittelrhein, später Maingau. Neuer Werksleiter wurde Paul Duden, der dafür in den Vorstand der I.G. Farben aufrückte. 1930 endete die französische Zwangsverwaltung und die Folgen der Weltwirtschaftskrise erfassten die Farbwerke. Große Teile der Farbstoffproduktion wurden in den folgenden Jahren an andere Standorte verlagert, dafür entstanden neue Anlagen für die Herstellung von Lösungsmitteln und Polymeren. Der Personalabbau im Stammwerk Höchst vollzog sich teilweise durch Frühpensionierung, aber auch über Entlassungen. Um die sozialen Folgen abzumildern, sammelte eine seit 1931 bestehende Notgemeinschaft der Werksangehörigen der I.G. Farbenindustrie AG Werk Hoechst Spenden, um damit Unterstützungszahlungen an Bedürftige zu leisten. Im Frühjahr 1931 führte die Werksleitung Kurzarbeit ein. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde auf 40 Stunden gesenkt. Erst Ende 1936 wurde wieder die Normalarbeitszeit von 48 Wochenstunden eingeführt. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 begann auch die Gleichschaltung der I.G. Farben, die auf wenig Widerstand im Unternehmen stieß. Der seit 1. Januar 1933 amtierende Werksleiter Ludwig Hermann entwickelte sich zum begeisterten Anhänger Hitlers. Zum 1. August 1935 durfte er, trotz der damals bestehenden Aufnahmesperre, mit Sondererlaubnis des Gauleiters in die NSDAP eintreten. Zwischen 1933 und 1938 mussten alle jüdischen Mitarbeiter das Unternehmen verlassen. Auch die jüdischen Aufsichtsratsmitglieder, darunter Carl von Weinberg und die Frankfurter Ehrenbürger Leo Gans und Arthur von Weinberg, wurden aus ihren Ämtern vertrieben. Mit dem Vierjahresplan von 1936 begann die Vorbereitung auf die erneute Kriegführung unter den Bedingungen der Autarkie von kriegswichtigen Rohstoffen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 wurden wiederum zahlreiche Mitarbeiter der Stammbelegschaft zum Kriegsdienst eingezogen und später durch Kriegsgefangene, Fremd- und Zwangsarbeiter ersetzt. Im Oktober 1944 zählt die Belegschaft des Werkes Höchst 11.784 Personen, davon 3021 Zwangsarbeiter (2302 Männer und 719 Frauen) und 142 Strafgefangene. Insgesamt wurden während des Krieges rund 8500 Menschen aus fast allen besetzten Ländern Europas zur Zwangsarbeit im Werk Höchst gepresst, wo sie in einem eigenen Lager unter harten Bedingungen bei meist unzureichender Ernährung lebten. Die Kriegsereignisse zogen das Werk kaum in Mitleidenschaft, obwohl die Stadt Frankfurt vor allem ab Herbst 1943 regelmäßig zum Ziel der alliierten Luftangriffe auf Frankfurt am Main wurde. Nur am 29. Juni 1940 schlugen bei einem Luftangriff einige Sprengbomben auf dem Gelände ein, von denen eine den Behrensbau traf. Ansonsten blieb Höchst wie auch die BASF von Luftangriffen verschont. 1937 war den Chemikern Otto Eisleb und Otto Schaumann die Synthese des Pethidin gelungen, eines Opioids, das 1939 unter dem Markennamen Dolantin eingeführt wurde. Während des Krieges wurde es in großen Mengen als Morphinersatz für die Wehrmacht hergestellt. Das 1939 von Max Bockmühl und Gustav Ehrhart in Höchst synthetisierte Methadon (2-Dimethylamino-4,4-diphenylheptanon-(5)) kam während des Krieges nicht mehr über das Stadium einer klinischen Erprobung hinaus. 1943 lieferte das Werk Höchst Präparate für Pharmaversuche der SS im Konzentrationslager Buchenwald, bei denen Häftlinge vorsätzlich mit Fleckfieber infiziert wurden. Zahlreiche Versuchspersonen starben bei diesen Versuchen. Werksleiter Carl Lautenschläger hatte die klinischen Versuche zunächst gefordert, um die in Höchst entwickelten Wirkstoffe Akridin-Granulat und Rutenol erproben zu können, ließ die Lieferungen aber einstellen, nachdem er aus den Berichten schließen konnte, dass die Versuche gegen Gesetze und medizinische Standesregeln verstießen. 1942 begannen Versuche zur Herstellung von Penicillin. Sie verliefen erfolgreich, eine daraufhin geplante Produktionsanlage konnte jedoch vor Kriegsende nicht mehr in Betrieb gehen. Im Januar 1945 kam die Produktion wegen Mangels an Kohle teilweise zum Erliegen. Am 27. März 1945 wurde die Produktion vollends eingestellt. Am 28. März 1945 besetzten amerikanische Truppen, von Westen und Oppenheim kommend, das menschenleere und unzerstörte Werksgelände und requirierten sofort das I.G.-Farben-Haus, das Kasino und die werksärztliche Abteilung. Bereits kurz nach der Besetzung des Werkes Höchst liefen die ersten Betriebe wieder an, vor allem die für Diabetiker lebensnotwendige Insulinproduktion. Aus Mangel an Kohle mussten manche Produktionsbetriebe in den ersten Nachkriegswintern jedoch immer wieder geschlossen werden, zum Teil wurden sie für die Herstellung von Alltagsprodukten wie Bohnerwachs oder Puddingpulver zweckentfremdet. Am 5. Juli 1945 verfügte die Militärregierung in ihrer Anordnung Nr. 2 zum Gesetz Nr. 32 die Beschlagnahme des gesamten I.G.-Farben-Vermögens. Die Werke wurden unter alliierte Militärverwaltung gestellt. Bis April 1946 wurden etwa 380 Führungskräfte, die Mitglieder der NSDAP und ihrer Organisationen gewesen waren, entlassen, darunter Werksleiter Lautenschläger, sein Stellvertreter Chefingenieur Jähne und der spätere Vorstandsvorsitzende von Hoechst, Karl Winnacker. Lautenschläger und Jähne kamen 1947 im I.G.-Farben-Prozess zusammen mit 21 weiteren leitenden Angestellten der I.G. Farben vor das Nürnberger Kriegsverbrechergericht. Das Gericht sprach am 30. Juli 1948 Lautenschläger wegen Mangels an Beweisen frei, Jähne wurde wegen Plünderung und Raub zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. Nach der Beschlagnahme planten die amerikanischen Behörden zunächst, das Werk Höchst in etwa fünf unabhängige Unternehmen zu zerlegen, eine Pharma-, eine Farbstoff-, eine organische und anorganische Chemikalien-, eine Pflanzenschutzmittel- sowie eine Düngemittelfabrikation. Es erwies sich jedoch als technisch unmöglich, die in siebzig Jahren gewachsene Infrastruktur und den Produktionsverbund des Werkes zu entflechten. Daher gab man diese Pläne im Frühjahr 1947 auf, ebenso wie die geplante Demontage der I.G.-Farben-Werke Offenbach und Griesheim. Ab August 1947 firmierte das Werk Höchst als Farbwerke Hoechst US Administration. Der Umsatz erreichte 77 Millionen Reichsmark, davon jeweils 24 Millionen mit Arzneimitteln und Chemikalien, 17 Millionen mit Farbstoffen, 6 Millionen mit Düngemitteln und 5 Millionen mit Pflanzenschutzmitteln. Der Auslandsumsatz betrug 200.000 Reichsmark, exportiert wurden Farbstoffe und Chemikalien in fünf Nachbarländer. Ebenfalls 1947 entstand die erste Fassung des später weltweit bekannten Firmenlogos Turm und Brücke, des von Peter Behrens entworfenen Technischen Verwaltungsgebäudes. Durch die Währungsreform am 21. Juni 1948 und die schrittweise Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung begann das später so genannte Wirtschaftswunder. Bereits kurz nach der Währungsreform begann der gemeinnützige Bau von Werkswohnungen, um die durch Kriegszerstörungen und die Aufnahme von Flüchtlingen entstandene Wohnungsnot zu lindern. 1949 genehmigte die amerikanische Kontrollbehörde die Einrichtung einer ersten Auslandsniederlassung in der Schweiz. 1950 ging die Penicillin-Produktion im Werk Höchst in Betrieb, deren Kapazität für die Versorgung des gesamten deutschen Marktes ausreichte. An der Einweihung nahmen neben dem amerikanischen Hochkommissar John Jay McCloy der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb sowie Vertreter der Hessischen Landesregierung und der Bundesregierung teil. Das Unternehmen firmierte nun als Farbwerke Hoechst vormals Meister Lucius & Brüning US Administration. Der Umsatz in Höchst wuchs von 163 Millionen DM (1949) auf 253 Millionen (1950). Das Gesetz Nr. 35 der Alliierten Hohen Kommission schuf die Voraussetzung für die Entflechtung der I.G. Farben, das heißt für die Gründung von Nachfolgegesellschaften. Dabei orientierte man sich im Wesentlichen an den Besatzungszonen. Die am 7. Dezember 1951 gegründete Farbwerke Hoechst Aktiengesellschaft vormals Meister Lucius & Brüning umfasste schließlich den größten Teil der in der amerikanischen Zone gelegenen Werke der I.G. Farben; neben dem Werk Höchst waren dies die Werke Griesheim, Offenbach, Gersthofen und Gendorf sowie als Tochtergesellschaften die Knapsack-Griesheim AG, das Werk Bobingen (wo 1950 die Produktion der Chemiefaser Perlon aufgenommen worden war), die Behringwerke in Marburg, die Kalle AG in Wiesbaden und Anteile an der Wacker Chemie und der Sigri (die heutige SGL Carbon). 1952 bis 1974 Am 1. Januar 1952 trat die I.G. Farben in Liquidation und nannte sich von da an I.G. Farbenindustrie AG i.L. Ihre einzige Aufgabe war es, alte Ansprüche zu verwalten und die rechtlichen Folgen der während der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen zu übernehmen, während sich ihre Nachfolgegesellschaften frei entwickeln sollten. Um die Entschädigung der Zwangsarbeiter in der Zeit des Nationalsozialismus wurde von 1950 bis 1953 vor dem Landgericht Frankfurt am Main ein Musterprozess geführt (Norbert Wollheim gegen IG Farbenindustrie AG i.L.). Der Prozess endete in zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main 1958 durch einen globalen Vergleich, der die Zahlung von insgesamt 30 Millionen DM durch die I.G. Farbenindustrie an mehrere tausend ehemalige Zwangsarbeiter vorsah. Im ersten Geschäftsjahr 1952 beschäftigten die Farbwerke 15.000 Menschen in der Muttergesellschaft und fast 27.000 im Konzern. Der Umsatz betrug etwa 750 Millionen DM, wovon etwa 20 Prozent im Export erzielt wurden. Bereits 1952 erwarb Hoechst den Dortmunder Chemieanlagenbauer Uhde. Das Grundkapital von anfangs nur 100.000 DM war am 27. März 1953 in einer außerordentlichen Hauptversammlung rückwirkend zum 1. Januar 1952 auf 285,7 Millionen festgelegt worden. Dies entsprach der Bewertung der aus der I.G. Farben eingebrachten Sachanlagen im Einbringungsvertrag vom 26. März 1953. Auf das Eigenkapital zahlte man im ersten Geschäftsjahr eine Dividende von vier Prozent. Damit waren die Farbwerke Hoechst neben BASF und Bayer der kleinste der drei großen I.G.-Farben-Nachfolger. Trotz zäher Verhandlungen war es den Farbwerken nicht gelungen, die seit 1904 mit Hoechst verbundenen Cassella-Werke wieder in den Konzern zu integrieren. Die Farbwerke mussten sich mit einer Minderheitsbeteiligung von knapp über 25 Prozent begnügen. Den gleichen Anteil erhielten auch BASF und Bayer. Erster Vorstandsvorsitzender der Farbwerke Hoechst (1952 bis 1969) wurde Karl Winnacker, Aufsichtsratsvorsitzender Hugo Zinßer. Jeder der 12 Vorstände erhielt anfangs ein Monatsgehalt von 6.000 DM. Alle Investitionen über 5000 Mark mussten zunächst von der Kontrollbehörde genehmigt werden. Erst am 27. März 1953 wurde das Unternehmen endgültig aus der alliierten Kontrolle entlassen. Im gleichen Jahr wurde in Somerville (New Jersey) als erste ausländische Tochtergesellschaft die American Hoechst Co. mit Hilfe deutscher Chemiker gegründet. 1955 bis 1963 hatte Friedrich Jähne den Vorsitz im Aufsichtsrat inne. Er war nach seiner Verurteilung im I.G.-Farben-Prozess bereits Ende 1948 wieder aus der Haft entlassen worden. 1956 kamen Rastinon und Euglucon, die ersten oralen Antidiabetika, auf den Markt. Sie gehörten zu einer neuen Klasse von Wirkstoffen, den Sulfonylharnstoffen, deren Herstellung der Forschungsabteilung von Hoechst gemeinsam mit Boehringer Mannheim gelang. Als Geschenk zur 600-Jahr-Feier der Stadt Höchst errichteten die Farbwerke ein öffentliches Schwimmbad, das Silobad. Ebenfalls 1956 stiftete Hoechst der Universität Frankfurt anlässlich der Gründung des Instituts für Kernphysik den Forschungsreaktor Frankfurt, der 1958 als zweiter Kernreaktor in der Bundesrepublik Deutschland in Betrieb ging. 1957 installierte Hoechst als erstes europäisches Unternehmen eine Computeranlage. Der mit Tausenden von Elektronenröhren ausgestattete Großrechner vom Typ IBM 705 gehörte zur damals leistungsfähigsten Kategorie von Datenverarbeitungsanlagen für kommerzielle und wissenschaftliche Aufgaben. Sein Kernspeicher konnte 20.000 Zeichen speichern und seine Zentraleinheit 400 Multiplikationen pro Sekunde ausführen. Er blieb bis Anfang der 1960er Jahre im Einsatz. Bis Ende der 1950er Jahre verdreifachte sich der Umsatz auf 2,7 Milliarden Mark, die Zahl der Mitarbeiter im Konzern stieg auf über 50.000. Das Wachstum wurde getrieben von einer Vielzahl neuer Produkte, vor allem Kunstfasern (Trevira) und Kunststoffen. Seit 1954 produzierte Hoechst Polyvinylchlorid, seit 1955 auch Polyethylen unter dem Markennamen Hostalen nach dem Ziegler-Natta-Verfahren. Voraussetzung für die neuen Produktionen war die Umstellung der Rohstoffversorgung von der Kohlechemie auf die Petrochemie. Hatte man früher das benötigte Acetylen aus Karbid gewonnen, für dessen Herstellung viel elektrische Energie benötigt wurde, so baute man 1955 in Höchst eine Spaltanlage für schweres Rohöl, den sogenannten Koker. Die Anlage konnte etwa 20.000 Tonnen Ethylen pro Jahr liefern, daneben Methan, Ethan und Propylen. Mit seiner 100 Meter hohen Kolonne und einer stets brennenden Fackel an der Spitze bildete er etwa 20 Jahre lang ein Wahrzeichen des Werkes Höchst. In einer weiteren Anlage, der Hochtemperaturpyrolyse, konnte man aus Leichtbenzin neben Ethylen auch Acetylen gewinnen. Damit besaßen die Farbwerke eine Rohstoffbasis, aus der sich neben den Kunststoffen auch Acetaldehyd, Essigsäure, Vinylacetat und Mowiol sowie daraus abgeleitete Produkte wie das Konservierungsmittel Sorbinsäure herstellen ließen. Da das Werk Höchst inzwischen seine Kapazitätsgrenzen erreicht hatte und es nur südlich des Mains noch freie Flächen für eine Erweiterung gab, wurde 1960 die Werksbrücke Mitte gebaut. Ein Wasserwerk und das im September 1960 eingeweihte Hauptlabor waren die ersten Gebäude im neuen Südwerk, das rasch wuchs und seitdem einen großen Teil der Investitionen aufnahm. 1961 nahmen eine neue Produktionsstätte im wenige Kilometer von Höchst entfernten Kelsterbach den Betrieb auf. Am neuen Standort, der von der benachbarten Caltex-Raffinerie in Raunheim mit Vorprodukten versorgt wurde, produzierten die Farbwerke Höchst sowie die Ticona, ein Gemeinschaftsunternehmen von Hoechst und Celanese, unter dem Markennamen Hostaform hauptsächlich Kunststoffe für technische Anwendungsgebiete. Zum hundertjährigen Jubiläum 1963 ließen die Farbwerke Hoechst die Jahrhunderthalle errichten. Im Jubiläumsjahr beschäftigten die Farbwerke Hoechst AG 63.000 Mitarbeiter, darunter 8.000 im Ausland, und erwirtschaften einen Jahresumsatz von 3,5 Milliarden DM, davon 41 Prozent in über 70 Ländern außerhalb Deutschlands. 230.000 Aktionäre, darunter etwa 20.000 Belegschaftsaktionäre, teilten sich das Grundkapital von 770 Millionen DM. Die Dividende war auf 18 Prozent gestiegen, doch lag die Eigenkapitalbasis und die Rentabilität deutlich unter der vergleichbarer amerikanischer Unternehmen. 1964 übernahm Hoechst die Kapitalmehrheit der Chemischen Werke Albert in Mainz-Amöneburg, wo neben Arzneimitteln hauptsächlich Kunstharze hergestellt wurden. Im Werk Gendorf begann die Produktion von Hostaflon. Das erstmals ausgebrachte Diuretikum Lasix wurde für viele Jahre einer der Hauptumsatzträger des Pharmabereiches von Hoechst. 1965 investierte Hoechst zum ersten Mal in größerem Umfang in Umweltschutzanlagen. Im Stammwerk ging die erste Stufe der biologischen Abwasserreinigung in Betrieb, damals die erste biologische Kläranlage für industrielle Abwässer in Europa. Die Auslandsorganisation von Hoechst, die sich mittlerweile auf etwa 120 Staaten erstreckte, wurde in zahlreiche Landesgesellschaften gegliedert, welche die Aktivitäten aller Sparten im jeweiligen Land bündelten. Im selben Jahr wurde der Konzern Anteilseigner der Höchster Porzellanmanufaktur, die Beteiligung endete mit der Umstrukturierung des Unternehmens im Jahr 2001. Mit der Inbetriebnahme der Faserwerke in Bad Hersfeld und Spartanburg (South Carolina), dem Werk Vlissingen für die Herstellung von Phosphor-Produkten sowie der Übernahme der Mehrheit an Spinnstoffabrik Zehlendorf AG in Berlin wuchs der Konzern 1966 weiter. 1967 übernahm Hoechst die Süddeutsche Zellwolle AG in Kelheim und die Reichhold Chemie AG in Hamburg. Im selben Jahr ging die neue Pharma-Fertigung H600 im Stammwerk in Betrieb, eines der größten Fabrikgebäude Europas. Erstmals wurde mehr als die Hälfte der Umsatzerlöse von damals 6,6 Milliarden DM im Ausland erzielt. Die wöchentliche Arbeitszeit war inzwischen auf 41,25 Stunden gesunken. Neue Elemente der betrieblichen Sozialpolitik, wie eine erfolgsabhängige Jahresprämie und die Finanzierung von Eigenheimen, ergänzten die traditionellen Instrumente, z. B. den Bau von Werkswohnungen oder die nach Dienstalter gezahlte Treueprämie. Die Gehaltszahlung erfolgte ab 1969 auch für die Arbeiter nicht mehr per Lohntüte, sondern bargeldlos und monatlich. 1968 folgten weitere Übernahmen, darunter die Mehrheitsbeteiligung an dem französischen, auf Hormone spezialisierten Pharmaunternehmen Roussel Uclaf, des Düsseldorfer Kosmetikunternehmens Marbert und der Farbwerke Schröder & Stadelmann in Lahnstein. Der Weltumsatz überschritt 1969 erstmals die Schwelle von 10 Milliarden DM. Rolf Sammet wurde Vorstandsvorsitzender als Nachfolger von Karl Winnacker. Am 1. Januar 1970 konnten die Farbwerke in einer von der Presse Flurbereinigung genannten Transaktion die Anteile der anderen Farben-Nachfolger an Cassella übernehmen. Im Gegenzug gab Hoechst seine Anteile an den Chemischen Werken Hüls an Bayer ab. Auch zwischen Bayer und BASF kam es zu einem Tausch von Beteiligungen. Damit endeten die letzten Kapitalverflechtungen der Farbennachfolger untereinander. Zum 1. Januar 1970 trat eine Neuorganisation des Unternehmens in Kraft. Das Unternehmen hatte nunmehr 14 Geschäftsbereiche. Die internen Querschnittsfunktionen wie Beschaffung, Personal und Finanz- und Rechnungswesen wurden als Ressorts bezeichnet, unter denen das Ingenieurwesen das größte war. Die Auslandsvertretungen wurden in Landes- oder Regionengesellschaften gebündelt. Jedes der etwa 14 Mitglieder des Vorstandes war für mehrere Geschäftsbereiche, Ressorts oder Regionen verantwortlich. Diese Organisationsstruktur blieb bis zum Beginn der 1990er Jahre bestehen. 1970 führten die Farbwerke Hoechst die 40-Stunden-Woche ein. Die Dividende erreichte mit 10,- DM je Aktie zu 50 DM Nennwert eine Höhe, die erst 1985 wieder erreicht wurde. Bereits 1971 kam es durch die Freigabe des Wechselkurses von DM in Dollar trotz steigender Umsätze zu einem Gewinnrückgang, so dass die Dividende auf 7,50 DM abgesenkt werden musste. 1972 waren 146.300 Mitarbeiter im Hoechst-Konzern beschäftigt und erzielten einen Jahresumsatz von 13,6 Milliarden DM. Erstmals gehörten dazu die im selben Jahr übernommene Herberts GmbH in Wuppertal, ein Hersteller von Autolacken mit weltweit rund 5000 Mitarbeitern, sowie die Faserwerke Ernst Michalke GmbH & Co. in Langweid am Lech. Das neu auf den Markt gebrachte Trental gegen Durchblutungsstörungen wurde bald zum langjährig umsatzstärksten Medikament des Pharmabereiches. 1974 bis 1990 1974 legte das Unternehmen seinen alten Namen Farbwerke Hoechst AG vormals Meister Lucius & Brüning ab und firmierte seitdem als Hoechst Aktiengesellschaft. Im selben Jahr übernahm Hoechst 56 Prozent des französischen Pharmaunternehmens Roussel-Uclaf. Die erste Ölkrise von 1973 brachte aufgrund der Verteuerung von Rohstoffen und der im Folgejahr einsetzenden Konjunkturkrise deutliche Einschnitte und zwang das Unternehmen zu Rationalisierungen. Im zweiten Halbjahr 1974 führte Hoechst erstmals Kurzarbeit für zeitweise rund 5000 Mitarbeiter der Geschäftsbereiche Faser, Farben und Lacke ein. Im selben Jahr brachte die aus der Wiesbadener Kalle hervorgegangene infotec GmbH mit dem Infotec 6000 den ersten digitalen Fernkopierer Europas auf den Markt. Die Technik der Infotec 6000 war die Basis für den heute immer noch gültigen Telefax-Standard G3. 1975 legte Hoechst seine eigenen petrochemischen Anlagen zur Äthylenversorgung still und beteiligte sich mit einem Viertel der Anteile an dem Raffinerieunternehmen UK Wesseling. Für die Rohstoffversorgung der Werke Höchst und Kelsterbach sorgte seitdem eine Pipeline, die von Rotterdam aus den Rhein entlang bis Ludwigshafen führt. Die verschärfte Rezession des Jahres 1975 sorgte trotz Rationalisierungen und Kurzarbeit für einen Gewinneinbruch, der auch in den Folgejahren kaum aufgeholt wurde. Obwohl der Weltumsatz mittlerweile auf 20,7 Milliarden DM gestiegen war, musste die Dividende von 9 DM im Vorjahr auf 7 DM abgesenkt werden. Die Eigenkapitalrendite des Konzerns betrug nur noch 5,8 Prozent, stieg aber im Folgejahr wieder auf 11,1 Prozent. 1975 beschäftigte der Konzern weltweit 182.470 Mitarbeiter. Nach einem Anstieg von Gewinn und Dividende 1976 konnten bereits für 1977 wieder nur 6 DM ausgeschüttet werden. Der Konzerngewinn hatte sich bei annähernd konstantem Umsatz auf 304 Millionen DM halbiert. Allein der Faserbereich verzeichnete Verluste von 241 Millionen DM, aber auch Farben und Kunststoffe litten unter der Abschwächung der Weltkonjunktur. Im Faserbereich kam es zu Produktionsstilllegungen, z. B. der Anlagen zur Produktion von Perlon-Fäden bei der Tochtergesellschaft Spinnstoffwerke Zehlendorf in Berlin. 1978 und 1979 erholten sich die Geschäfte, so dass die Dividende für 1979 wieder angehoben werden konnte. Ab 1979 wurden zur biologischen Abwasserreinigung neu entwickelte Biohoch-Reaktoren in verschiedenen deutschen Werken errichtet. Die 15 bis 30 Meter hohen Bauwerke erlaubten eine effektivere Reinigung der Abwässer, bei gleichzeitig geringerem Energie- und Platzbedarf gegenüber den früheren Betonbecken. Das 1980 eingeführte Claforan, ein parenterales Cephalosporin, wurde zum erfolgreichen Antibiotikum und löste in den 1990er Jahren das Trental als umsatzstärkstes Medikament von Hoechst ab. Anfang der 1980er Jahre stieg der Umsatz aufgrund der hohen Rohstoffpreise auf über 34 Milliarden DM an. Der Jahresüberschuss sank jedoch ab. Vor allem das Jahr 1982 wurde mit nur noch 317 Millionen Mark zu einem der schwächsten Geschäftsjahre. Die schwache Entwicklung war vor allem auf die Bereiche Kunststoffe und Landwirtschaft zurückzuführen. 1982 übernahm Kuwait eine Beteiligung von knapp 25 Prozent an der Hoechst AG. Bei der französischen Tochtergesellschaft Roussel-Uclaf, die nach dem Willen der linken Koalitionsregierung unter Premierminister Pierre Mauroy verstaatlicht werden sollte, kam es zu einer Einigung auf dem Verhandlungsweg. Hoechst musste seine Beteiligung von 57,9 Prozent nur auf 54,5 Prozent zurücknehmen. Auf der Hauptversammlung 1983 traten erstmals Vertreter alternativer Gruppen als Opponenten auf. Sie hielten der Verwaltung mangelnde Umweltschutzanstrengungen vor und verlangten, auf die Ausschüttung einer Dividende zu verzichten und den „gesamten Bilanzgewinn für Zwecke des Umweltschutzes“ zu verwenden. Es kam zu Tumulten unter den Aktionären. Die Polizei nahm einen der Opponenten zeitweise in Gewahrsam. Im selben Jahr teilte das Unternehmen mit, dass der Aufwand für Forschung, Investitionen und Betriebskosten mit 1,2 Milliarden DM einen neuen Höchststand erreicht hatte. Um einen „sozialverträglichen Personalabbau“ einzuleiten, bot Hoechst älteren Arbeitnehmern ab 58 Jahren erstmals die Frühpensionierung an. 1984 trennte sich Hoechst von der Beteiligung an UK Wesseling und übernahm alle Anteile der Ruhrchemie in Oberhausen. Im Stammwerk wurde nach sechzig Jahren die Düngemittelproduktion aus Ammoniak und Salpetersäure stillgelegt. Bis dahin hatte die gelbe Rauchfahne der Salpetersäurefabrik ein Wahrzeichen des Werkes Höchst gebildet. Ebenfalls 1984 wurde ein Antrag für den Bau einer Anlage zur Produktion von Humaninsulin nach einem biotechnischen Verfahren aus gentechnisch veränderten Coli-Bakterien im Werk Höchst gestellt. Die Fertigstellung und Genehmigung der Anlage verzögerte sich wegen der unklaren Gesetzeslage und des Widerstandes der ab 1985 amtierenden rot-grünen Landesregierung. Erst nachdem 1990 das Verwaltungsgericht Frankfurt anhängige Klagen zurückgewiesen hatte, konnte die Anlage 1998 in Betrieb genommen werden. Diese mit 300 Mio. DM sehr kostenträchtige Verzögerung hatte zur Folge, dass von der Konzernleitung für ähnliche Projekte fortan andere Standorte favorisiert wurden. Die bisher den Angestellten vorbehaltene Pensionskasse wurde 1984 auch für die Arbeiter geöffnet. 80 Prozent nutzen das neue Angebot. 1985 trat Wolfgang Hilger die Nachfolge des seit 1969 amtierenden Vorstandsvorsitzenden Rolf Sammet an. 1986 musste Hoechst das 1976 eingeführte Antidepressivum Alival wegen Verdacht auf schwere Nebenwirkungen aus dem Markt nehmen. Nach einem Brandunglück am 1. November 1986 im Chemiewerk Schweizerhalle bei Basel, bei dem austretendes Löschwasser in den Rhein geriet und ein schweres Fischsterben auslöste, geriet die chemische Industrie in die Kritik der Öffentlichkeit. Hoechst reagierte darauf mit der Veröffentlichung von Leitlinien für Umweltschutz und Sicherheit für die Unternehmensziele. Anfang 1987 übernahm Hoechst für über 5 Milliarden DM das US-amerikanische Chemieunternehmen Celanese Corporation und verschmolz es mit der Landesgesellschaft American Hoechst zur Hoechst Celanese Corporation. Es handelte sich zum damaligen Zeitpunkt um die größte Auslandsinvestition eines deutschen Unternehmens. Der damals für USA verantwortliche Jürgen Dormann charakterisierte dies mit den Worten „Der Vorstoß in eine neue Dimension, quantitativ und qualitativ“. Nach der Übernahme erreichte der US-Markt mit 25 Prozent des Konzernumsatzes von 37 Milliarden DM die gleiche Größenordnung wie der deutsche Markt. Mit der Übernahme erreichte Hoechst vor allem bei technischen Fasern und organischen Chemikalien eine stärkere Marktposition. Die Microfasern Trevira Finesse und Trevira Micronesse wurden in der Textilindustrie eingeführt, zunächst vor allem für Sportbekleidung. Der 1967 zufällig entdeckte Süßstoff Acesulfam (Sunett) erhielt nach Abschluss der toxikologischen Prüfungen in vielen Ländern seine Zulassung. Aufgrund des Montreal-Protokolls vom 16. September 1987, das die Verwendung von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen einschränkte, die für das 1977 erstmals beobachtete Ozonloch verantwortlich gemacht wurden, bot Hoechst als größter europäischer Hersteller von FCKW die Rücknahme gebrauchter Kältemittel in einem geschlossenen Kreislauf an. Forderungen nach einer Einstellung der Produktion lehnte Hoechst ab. Erst 1990 kündigte das Unternehmen nach einer öffentlichen Kampagne gegen den Vorstandsvorsitzenden Hilger die schrittweise Produktionseinstellung bis 1995 an, fünf Jahre vor dem im Montreal-Protokoll festgelegten Zeitpunkt. Der 1987 abgeschlossene Entgelttarifvertrag schaffte die unterschiedlichen Lohn- und Gehaltssysteme für Arbeiter und Angestellte ab und schuf ein einheitliches System aus 13 Tarifentgeltstufen. Der zwischen Hoechst und der Gewerkschaft Chemie-Papier-Keramik ausgehandelte Haustarifvertrag ergänzte den Tarifvertrag noch um eigene, über den normalen Tarifentgelten liegende und mit zunehmender Betriebszugehörigkeit ansteigende Entgeltstufen. Am 17. Januar 1987 wurde Rudolf Cordes, Leiter der Hoechst-Niederlassung in Libanon, Syrien und Jordanien, von einer Hisbollah-Gruppe namens Kämpfer für die Freiheit verschleppt. Die Entführer wollten die Freilassung von Mohammed Ali Hamadi erzwingen, der am 13. Januar 1987 auf dem Flughafen Frankfurt verhaftet worden war. Während der kurz nach Cordes ebenfalls verschleppte Siemens-Mitarbeiter Alfred Schmidt im September 1987 freikam, wurde Cordes erst nach 605 Tagen Geiselhaft am 12. September 1988 freigelassen. Die Geschäftsjahre 1988, in dem Hoechst sein 125-jähriges Jubiläum feierte, und 1989 werden zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Geschäftsjahren in der Geschichte der Hoechst AG. 1989 betrug der Konzernumsatz fast 46 Milliarden DM. Der Gewinn vor Ertragssteuern stieg auf 4146 Millionen DM, zum damaligen Zeitpunkt der höchste je von einem börsennotierten deutschen Unternehmen erzielte Gewinn. Auch die Eigenkapitalrendite erreichte mit 19,1 Prozent (1988) bzw. 17,9 Prozent einen Höchstwert. Dem am 1. Juli 1988 eingeführten DAX gehörte die Hoechst AG mit einer Gewichtung von 3,03 Prozent an. Die Umgestaltung zur strategischen Management-Holding 1990 bis 1994 1990 beschäftigte der Hoechst-Konzern 172.900 Mitarbeiter bei einem Jahresumsatz von 44,862 Mrd. DM. Der Konsolidierungskreis vergrößerte sich durch die Aufstockung zweier Minderheitsbeteiligungen: Die Anteile an dem Kosmetikhersteller Schwarzkopf wurden von 49 Prozent auf 77 Prozent erhöht, an dem Phosphathersteller BK Ladenburg von 50 Prozent auf 100 Prozent. Das Handelsgeschäft mit Büro- und Fernkopierern der Marke infotec wurde an die niederländische HCS Technology NV verkauft. Nach dem Rekordjahr 1989 brach das Ergebnis vor Steuern im Folgejahr bei stagnierendem Umsatz um 20 Prozent auf 3,215 Mrd. DM (1990) ein. Mit der Einstellung der Düngemittelproduktion in Oberhausen und der Carbidherstellung in Knapsack wurden zwei traditionelle Produktlinien aufgegeben. In der ehemaligen DDR übernahm die Hoechst-Tochter Messer Griesheim 14 Standorte zur Herstellung und zum Vertrieb von Technischen Gasen. Auch in den folgenden Geschäftsjahren ging das Konzernergebnis vor Steuern bei weitgehend konstantem Umsatz von etwa 46 Mrd. DM jährlich um rund 20 Prozent zurück, von 2,562 Mrd. (1991) über 2,108 Mrd. (1992) auf nur noch 1,227 Mrd. DM 1993. Die Dividende der Hoechst-Aktie (50 DM-Nennwert) musste daher von 13 DM (1989) über 12 DM (1991) und 9 DM (1992) auf schließlich 7 DM je Aktie gesenkt werden. Die Eigenkapitalrendite im Konzern sank auf 5,5 Prozent. Dies hatte zur Folge, dass der im internationalen Vergleich ohnehin niedrige Börsenkurs weiter sank. Der gesamte Konzern war an der Börse zeitweise mit weniger als 11 Mrd. DM bewertet, bei einem bilanziellen Eigenkapital von 13,7 Mrd. DM. Damit bestand die theoretische Gefahr einer feindlichen Übernahme, für die es im angelsächsischen Raum schon Beispiele gab. So hatte die britische ICI 1993 auf Druck eines Minderheitsaktionärs ihr Pharma- und Landwirtschaftsgeschäft abgespalten und als eigenständiges Unternehmen (Zeneca PLC) an die Börse gebracht. Hoechst war allerdings durch seine Aktionärsstruktur – Kuwait und eine von der Hoechster Hausbank kontrollierte Beteiligungsgesellschaft hielten zusammen mehr als ein Drittel der Anteile – und das damalige Verhalten der deutschen Banken, die ihr Depotstimmrecht regelmäßig im Sinne der Verwaltung ausübten, vor einem tatsächlichen Übernahmeversuch geschützt. Um die Kursentwicklung zu verbessern, war das Unternehmen auf das Engagement ausländischer Investoren angewiesen. Im Oktober 1991 wurde die Hoechst-Aktie an der Börse in Tokio eingeführt, und der Vorstand deutete an, dass er auch eine Notierung in New York anstrebte, sobald die damals noch bestehenden Hürden infolge unterschiedlicher Rechnungslegungsvorschriften dies gestatteten. Die schwache Geschäftsentwicklung war nicht allein auf konjunkturelle und währungskursbedingte Zyklen zurückzuführen, sondern wies auf Struktur- und Innovationsschwächen des Unternehmens hin. Der Pharmabereich, Anfang der 1980er Jahre noch Weltmarktführer, war zehn Jahre später deutlich hinter Konkurrenten wie Merck & Co. und Glaxo zurückgefallen. Vor allem in den wichtigen Pharma-Märkten USA und Japan lag der Marktanteil unter zwei Prozent. Erschwerend kam hinzu, dass eine 1984 beantragte Genehmigung für die von Hoechst entwickelte gentechnische Insulin-Produktion im Werk Höchst sich über mehrere Instanzen bis 1990 hinzog; die Genehmigung erfolgte erst, nachdem der Bundestag das neue Gentechnikgesetz verabschiedet hatte, so dass Hoechst Marktanteile an ausländische Wettbewerber verlor. Die Markteinführung des gentechnisch hergestellten Insulins verzögerte sich aber nicht nur durch die politische und juristische Auseinandersetzung, sondern auch durch Änderungen im Produktionsverfahren. Anfang 1991 untergliederte Hoechst die bislang 16 Geschäftsbereiche mit ihren rund 25.000 Produkten in ca. 100 ergebnisverantwortliche Business Units, die eigene Strategieoptionen entwickeln sollten. Alle wesentlichen Entscheidungen, z. B. für Investitionen und Portfoliobereinigungen, fielen jedoch weiterhin auf Unternehmensebene. Hierzu zählten Produktionsstilllegungen (z. B. für das Zwischenprodukt Resorcin und eine veraltete Chloralkali-Elektrolyse in Höchst, chloriertes Polyethylen in Gersthofen und Waschmittelphosphate in Knapsack), Ersatzinvestitionen (vornehmlich im Ausland, z. B. für die Produktion von Polyethylen und Polypropylen, wobei veraltete Anlagen in Deutschland aufgegeben wurden) und eine Konzentration der Pharmaforschung auf wenige erfolgversprechende Arbeitsgebiete. Das letzte Amtsjahr des Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Hilger war zudem von einem gravierenden Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit nach einer Serie von Störfällen überschattet. Innerhalb des Vorstands mit zwölf Mitgliedern entwickelte sich 1993 allmählich eine schwache Mehrheit für eine neue, von Dormann favorisierte Konzernstrategie. Gegner wie Utz-Hellmuth Felcht verließen resigniert den Vorstand. 1995 bis 2000 Im April 1994 übernahm Jürgen Dormann den Vorsitz im Vorstand. Alle Vorgänger wie Wolfgang Hilger, Rolf Sammet oder Karl Winnacker verfügten über eine klassische chemische Ausbildung, Dormann dagegen nicht. Unter dem Motto Hoechst Aufbruch 1994 setzte er eine Reihe von Veränderungsprozessen im Unternehmen in Gang, die er bereits bis Ende 1993 eingeleitet hatte. Erstmals veröffentlichte der Konzern ein Renditeziel: 15 Prozent Nettoeigenkapitalrendite im Mittel eines Konjunkturzyklusses, in einzelnen Geschäftsbereichen wurden für 1995 20 Prozent Nettoeigenkapitalrendite als Ziel vorgegeben. Gleichzeitig begann eine Reihe von Struktur- und Portfolioveränderungen, bei denen die Rolle der Hoechst AG als Stammhaus des Konzerns zurückgedrängt wurde. Innerhalb der Hoechst AG wurde die seit 1969 geltende Matrixorganisation aus Geschäftsbereichen, Landesgesellschaften und den Ressorts/Zentralen Abteilungen genannten Stabs- und Zentralfunktionen aufgegeben. Aus Zentralabteilungen wurden bislang künftige Vorstandsmitglieder rekrutiert, sie wurden daher auch treffend „Goldfischteich“ genannt. Das neue Organigramm enthielt statt 16 nur noch sieben Geschäftsbereiche mit 30 statt 120 Geschäftseinheiten, anstelle der Ressorts traten Serviceeinheiten, die ihre internen Dienstleistungen zu marktgerechten Bedingungen anbieten sollten. Bis auf die Werke Höchst, Gendorf, Knapsack und Kalle wurden alle Werke nur einem Geschäftsbereich zugeordnet. Dormann kündigte an, dass Hoechst sich von allen Geschäftsaktivitäten trennen werde, in denen man nicht zu den drei führenden Anbietern in Europa, Asien und Amerika zähle. Anfang 1995 teilte Hoechst mit, die Tochtergesellschaft Cassella AG auf die Hoechst AG zu verschmelzen und die restlichen außenstehenden Aktionäre abzufinden. Die Cassella-Tochter Riedel-de Haën AG wurde an Allied Signal (der Industriechemikalienbereich) und Sigma-Aldrich (der Laborchemikalienbereich) verkauft. Der bisherige Geschäftsbereich Kosmetika (GB M) wurde aufgelöst: Die Düsseldorfer Marbert GmbH wurde an Perform verkauft, die Cassella-Tochter Jade Cosmetic GmbH in Frankfurt-Fechenheim an L’Oréal und die Firma Schwarzkopf an Henkel. Insbesondere die Übernahme von Jade brachte Dormann viel öffentliche Kritik ein, weil der neue Eigentümer nur den Markennamen weiterführte und die Produktion in Fechenheim einstellte. Insgesamt ging durch die Restrukturierung der Cassella und des Kosmetikbereiches die Zahl der Arbeitsplätze in Fechenheim zwischen 1993 und 2001 von 2800 auf etwa 1100 zurück. Dormann rechtfertigte seine Strategie damit, dass der Strukturwandel unausweichlich sei und Hoechst nur durch eine Konzentration auf Kerngeschäfte im Wettbewerb Schritt halten könne; auch die abzugebenden Konzernbereiche könnten sich nur in einem anderen unternehmerischen Umfeld erfolgreich entwickeln. Ebenfalls 1995 verkaufte Hoechst das Anlagenbauunternehmen Uhde an Krupp, den Keramikhersteller CeramTec an Dynamit Nobel und den Phosphathersteller BK Ladenburg an Rotem-Amfert-Negev. Die Tochtergesellschaft SGL Carbon wurde in mehreren Tranchen 1995 und 1996 als Aktiengesellschaft an die Börse gebracht. Das defizitäre Geschäft mit Textilfarbstoffen brachte Hoechst in ein neu gegründetes Gemeinschaftsunternehmen mit dem Wettbewerber Bayer ein, die DyStar. Auch dieser offene Bruch mit der Tradition, dem ursprünglichen Kerngeschäft der Farbwerke Höchst, rief öffentliche Kritik hervor. Andererseits brachte der entschlossene Umbau des Konzerns Dormann Ende 1995 den Titel Manager des Jahres ein. Der Konzernumsatz stieg 1995 auf über 52 Milliarden DM (1995), der Konzerngewinn vor Steuern auf 3954 Millionen und im Folgejahr sogar auf 5146 Millionen. In beiden Jahren erreichte Hoechst mit einer Eigenkapitalrendite von 16 Prozent das selbstgesteckte Ziel. Im Juli 1995 übernahm Hoechst für 7,1 Milliarden DM den amerikanischen Pharmakonzern Marion Merrell Dow (MMD) und führte bis Ende 1996 alle Pharma-Einheiten des Konzerns, neben dem Pharma-Bereich der Hoechst AG noch die Tochtergesellschaften Roussel-Uclaf in Frankreich und die Behringwerke in Marburg, zum neuen Geschäftsbereich Hoechst Marion Roussel zusammen. Das Pharmageschäft erhielt damit innerhalb des Portfolios ein immer höheres Gewicht. Ein großer Teil des Umsatzes stammte jedoch aus älteren, nicht mehr patentgeschützten Medikamenten. Trotz eines Forschungsetats von jährlich 1,6 Milliarden DM fehlten neue Medikamente mit hohem Umsatzpotential, sogenannte Blockbuster, und 80 Prozent des Betriebsergebnisses der Hoechst AG wurden nach wie vor in Europa erwirtschaftet, wo es insbesondere für den Chemiebereich kaum noch Wachstumspotentiale gab. Die Mitarbeiterzahl war auf 120.000 gesunken. Deshalb entwickelte Hoechst 1996 die Strategie, das Unternehmen zu einer Strategischen Management Holding umzugestalten und nach dem Vorbild der Novartis den Schwerpunkt auf Life Sciences zu legen, das heißt auf Pharma und Landwirtschaft. Um eine aktive Rolle bei der erwarteten Konsolidierung des Pharmamarktes zu spielen, zum Beispiel durch Übernahmen oder Fusionen, sollte das Chemiegeschäft abgetrennt werden. Ende 1996 beschlossen Vorstand und Aufsichtsrat, das Geschäft mit Spezialchemikalien an die schweizerische Clariant gegen eine Beteiligung von 45 Prozent der Kapitalanteile der Clariant zu verkaufen. Zum 1. Juli 1997 wurde der Verkauf wirksam. Damit übernahm Clariant auch einen Großteil der globalen Infrastruktur von Hoechst mit zahlreichen Werken und Landesgesellschaften. Gleichzeitig gliederte Hoechst alle verbliebenen operativen Geschäfte der Hoechst AG in eigenständige Gesellschaften aus: Das Polyethylen-Geschäft in die Hostalen GmbH, die europäischen Polypropylen-Aktivitäten in die Targor GmbH, ein 50-50-Joint Venture mit der BASF. Diese beiden Unternehmen gehören mittlerweile zu Lyondellbasell Industries. Die organischen Basischemikalien gingen in die Celanese GmbH über. Die vier von mehreren Geschäftsbereichen genutzten Standorte Gendorf, Höchst, Knapsack und Wiesbaden wurden in Industrieparks mit den neugegründeten Betreibergesellschaften InfraServ Gendorf, Infraserv Höchst, InfraServ Knapsack (heute YNCORIS) und InfraServ Wiesbaden umgewandelt. Die Gesellschaften erhielten aus steuerlichen Gründen die Rechtsform einer GmbH & Co. KG, bei der die Kommanditanteile jeweils auf die großen Standortnutzer aufgeteilt wurden. Persönlich haftender Gesellschafter aller Standortgesellschaften wurde die InfraServ Verwaltungs-GmbH, eine Tochtergesellschaft der Hoechst AG. Als sichtbares Zeichen für den Bruch mit der Vergangenheit ersetzte Hoechst das bekannte Unternehmenssymbol Turm und Brücke durch ein einfaches schwarzes oder blaues Quadrat. Ab 1998 bestand die Konzernmuttergesellschaft Hoechst AG nur noch aus dem Corporate Center, einem Führungsstab mit etwa 200 Mitarbeitern. Trotz der Umgestaltung zur Managementholding gelang es Hoechst zunächst nicht, einen geeigneten Partner für das Life-Science-Geschäft zu finden. Sondierungsgespräche mit Bayer blieben erfolglos, weil Bayer einen gleichberechtigten Merger of equals ablehnte und auf der Führungsrolle beharrte. Anfang 1997 verlor Hoechst zudem das Vertrauen der Analysten, nachdem das Unternehmen überraschend für das letzte Quartal 1996 einen Verlust von 300 Millionen DM im Pharmabereich ausweisen musste. Das Pharmageschäft entwickelte sich auch 1997 und 1998 rückläufig, obwohl Hoechst Anfang 1997 die noch ausstehenden 43 Prozent der Anteile an Roussel-Uclaf für 5,4 Milliarden übernommen hatte und für das gentechnisch hergestellte Insulin unter dem Markennamen Insuman eine Marktzulassung für die Europäische Union erhalten hatte. Damit blieb auch das Gesamtergebnis des Konzerns weit hinter den Erwartungen und hinter der Entwicklung der immer noch als Maßstab angesehenen anderen I.G.-Farbennachfolger Bayer und BASF zurück. Der Gewinn vor Steuern sank von 5146 Millionen DM (1995) auf 3157 Millionen (1997) bzw. 3103 Millionen (1998), die Eigenkapitalrendite von 16,5 Prozent auf 9,5 Prozent bzw. 11,3 Prozent. Ein daraufhin gestartetes Restrukturierungsprojekt in der Pharmaforschung führte zwar zu den angestrebten Kosteneinsparungen, löste aber erhebliche Proteste in der Belegschaft aus. Im Industriepark Höchst äußerten Beschäftigte und Führungskräfte der Pharmaforschung ihren Unmut in öffentlichen Montagsdemonstrationen. Der geplante Börsengang der Pharmasparte wurde daraufhin abgesagt, stattdessen suchte Hoechst erneut nach einem Fusionspartner. Mitte 1998 begannen Dormann und der Vorstandsvorsitzende von Rhône-Poulenc, Jean-René Fourtou, mit entsprechenden Verhandlungen. Am 1. Dezember 1998 gaben die beiden Unternehmen ihren geplanten Zusammenschluss bekannt. Zur Vorbereitung der Fusion verkaufte Hoechst im Oktober 1998 Hostalen an Elenac, ein Joint Venture der BASF mit der Shell. Die Wuppertaler Herberts GmbH (Autolacke) wurde an DuPont verkauft, die restlichen Clariant-Anteil über ein Bookbuilding an die Börse gebracht. Das in der Trevira GmbH zusammengefasste Geschäft mit Polyesterfasern ging an KoSa, ein Gemeinschaftsunternehmen der amerikanischen Koch Industries, Inc. mit der mexikanischen Saba. Der geschützte Markenname Trevira und das Geschäft mit Hochleistungs-Polyester-Fasern und -Filamenten wurde separat veräußert, es gehört heute der indischen Reliance Group. Das bisherige Gemeinschaftsunternehmen Hoechst Diafoil (Polyesterfolien) wurde von der Mitsubishi Chemical Corporation übernommen. Schließlich brachte Hoechst das restliche, in der Celanese AG zusammengefasste Chemiegeschäft in einem sog. spin-off an die Börse. Für jeweils 10 Hoechst-Anteile erhielten die Aktionäre eine Aktie der Celanese. 1999 gehörte Hoechst zu den 16 Gründungsmitgliedern der Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft, welche die Hälfte des Kapitals der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ aufbrachte. Hauptaufgabe der Stiftung war die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die bereits im Oktober 1996 gegründete und mit 50 Millionen Euro dotierte Hoechst Foundation dient der Förderung von Musik, Theater, Kunst und Literatur (fine arts), von gesellschaftlichen Projekten mit dem Schwerpunkt Gesundheitswesen (Civil Society) sowie von Wissenschaft, Forschung und Lehre (Science). 2000 wurde sie in Aventis Foundation (Aventis Stiftung) umbenannt. 1999 fusionierte Hoechst, das nunmehr im Wesentlichen noch aus dem Pharmabereich und der Landwirtschaftstochter Hoechst Schering AgrEvo bestand, mit Rhône-Poulenc zu Aventis; die Fusion erfolgte in Form eines öffentlichen Übernahmeangebots im Oktober 1999 durch Rhône-Poulenc zahlbar in Aktien der Rhône-Poulenc (wobei Rhône-Poulenc gleichzeitig in Aventis umbenannt wurde). Das fusionierte Unternehmen, nach Umsatz das zum damaligen Zeitpunkt zweitgrößte Pharmaunternehmen der Welt, nahm seinen Sitz in Straßburg und war an der Pariser Börse notiert. Die Leitung der Pharmasparte wurde in Frankfurt angesiedelt, die Landwirtschaftssparte in Lyon. Dormann hatte diese Konstruktion befürwortet, da er in der Fusion die einzige europäische Perspektive für Hoechst sah. Die Hoechst AG blieb als Zwischen-Holding erhalten und bündelte alle deutschen Tochtergesellschaften von Aventis. Die Aktie blieb weiterhin in Frankfurt notiert, wurde jedoch nur noch wenig gehandelt, da weniger als vier Prozent außenstehende Aktionäre verblieben waren. Die Marke Hoechst, die traditionell an vielen Apotheken zu sehen war, wurde nach und nach zugunsten des neuen Aventis-Firmenzeichens aufgegeben. Am Jahresende 2003 waren in den Gesellschaften des Hoechstkonzerns (als 98,1%ige Tochtergesellschaft der Aventis AG) noch 15.900 Mitarbeiter beschäftigt. Die Entwicklung seit der Gründung von Aventis Außer den Geschäftsbereichen Pharma und Landwirtschaft hatte Hoechst noch einige Beteiligungen in die Fusion eingebracht, die in den Folgejahren verkauft wurden. Den 66,6-Prozent-Anteil an Messer Griesheim übernahmen 2001 die Finanzinvestoren Allianz Capital Partners und Goldman Sachs. 2005 kaufte die Wacker Chemie AG ein 50-prozentiges Anteilpaket von dem Hoechst-Nachfolger Sanofi-Aventis zurück, das sich seit 1921 im Besitz der Farbwerke befunden hatte. Mitte 2004 fusionierte Aventis mit dem französischen Pharmakonzern Sanofi-Synthélabo. Das neue Unternehmen Sanofi-Aventis wurde zum größten Pharmaunternehmen Europas. Der Zusammenschluss erfolgte, nachdem Sanofi-Synthelabo am 26. Januar 2004 mit Unterstützung seiner Großaktionäre und der französischen Regierung bei der Pariser Börsenaufsicht AMF ein an die Aventis-Aktionäre gerichtetes (feindliches) Übernahmeangebot gerichtet hatte. Sanofi-Aventis beschloss nach der Übernahme, die verbliebenen Hoechst-Aktionäre abzufinden und die Hoechst AG von der Börse zu nehmen. Auf der letzten Aktionärssitzung von Hoechst am 21. Dezember 2004 in Wiesbaden wurden die restlichen 2 Prozent Aktien von Kleinaktionären an Aventis zu je 56,60 € verkauft („squeeze-out“). Dieses Ergebnis der zweitägigen Sitzung macht immerhin 600 Millionen € aus. Die gegen den Hauptversammlungsbeschluss angestrengten Anfechtungsklagen wurden im Juli 2005 durch Vergleich beigelegt. Sanofi-Aventis übernahm das gesamte Grundkapital von Hoechst und sagte die für den 29. Juli geplante Hauptversammlung ab. Im Oktober 2005 wechselte Hoechst die Rechtsform von einer Aktiengesellschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Die Hoechst GmbH ist heute eine Zwischenholding innerhalb der Sanofi-Aventis-Gruppe ohne operative Geschäfte. Größter Standort von Sanofi-Aventis ist nach wie vor der Industriepark Höchst, für den die Entwicklung der Hoechst AG seit Ende der 1990er Jahre insgesamt vorteilhaft verlief. Im Industriepark Höchst wurden seit 2000 jährlich mehr als 300 Mio. Euro investiert, das ist mehr als in den besten Jahren der Hoechst AG. Die Zahl der Arbeitsplätze stieg von ca. 19.000 Ende der 1990er Jahre auf ca. 22.000 im Jahr 2005, davon etwa 8000 bei Sanofi-Aventis; im September 2011 waren es noch 7 360. Im November 2011 wurde bekannt, dass 333 Stellen in der Forschung und Entwicklung wegfallen sollen. Die Weiterentwicklung des Industrieparks Höchst ist kaum noch von Sanofi-Aventis abhängig. Die größten Investitionsprojekte zwischen 2008 und 2011 mit einem Volumen von zusammen mehr als einer Milliarde Euro waren der Neubau eines Ersatzbrennstoff-Kraftwerks und der Neubau des Ticona-Werkes, das dem Ausbau des Frankfurter Flughafens weichen musste. Die Farbenstraße und der S-Bahn-Haltepunkt Farbwerke erinnern noch heute an die Ursprünge der Hoechst AG. Das Unternehmensarchiv wurde von 2000 bis 2009 von der HistoCom GmbH verwaltet, die auch zahlreiche Publikationen zur Unternehmensgeschichte herausgegeben hat. Am 2. September 2009 wurde die HistoCom GmbH wieder in die Hoechst GmbH integriert. Das Firmenmuseum der Hoechst AG befand sich bis Ende 2006 im Alten Schloß in Höchst. Es soll einen neuen Platz im Bolongaropalast erhalten. Die Ausstellung Zeitstreifen am Besucherempfang des Industrieparks Hoechst dokumentiert die Geschichte der Hoechst AG und des Industriestandortes Höchst. Wichtige Produkte und Verfahren der Geschäftsbereiche Hoechst besaß seit den 1970er Jahren eine sehr komplexe Struktur aus 16 Geschäftsbereichen („GB“), die mit Buchstaben bezeichnet waren und jeweils für eine Produktionssparte standen. Als Business Units („BU“) wurden die Geschäftseinheiten (Untereinheiten) eines GB bezeichnet. A: Chemikalien B: Technische Kunststoffe C: Landwirtschaft D: Feinchemikalien und Farben (Anm.: gemeint sind Farbstoffe, Farbpigmente) E: Tenside und Hilfsmittel F: Fasern und Faservorprodukte (mit sechs BU's) G: Lacke und Kunstharze H: Kunststoffe und Wachse J: Folien K: Informationstechnik L: Pharma M: Kosmetikgesellschaften (Marbert, Jade, Schwarzkopf GmbHs) N: Anlagenbau (UHDE GmbH) O: Carbonerzeugnisse (SIGRI GmbH) P: Schweißtechnik, Industriegase (Messer Griesheim GmbH) S: Technische Keramik (Hoechst CeramTec AG) Daneben gab es noch eine zusammenfassende Grobeinteilung in „Geschäftsfelder“: Geschäftsfeld Chemikalien und Farben: GB's A + D + E Geschäftsfeld Fasern: GB F Geschäftsfeld Polymere: GB's B + G + H + J Geschäftsfeld Landwirtschaft: GB C Geschäftsfeld Gesundheit: GB's L + M Geschäftsfeld Technik: GB's K + N + O + P + S sowie sonstiges Die meisten Geschäftsbereiche besaßen ein sehr breites Spektrum von Produkten. Marketing, Produktmanagement, Verkaufsorganisation und Kundenservice waren bereichsspezifisch organisiert. Zum Teil gab es innerhalb der Bereiche noch besondere Vertriebsorganisationen für einzelne Produktlinien, da zum Beispiel Wursthüllen, die an mittelständische fleischverarbeitende Betriebe verkauft werden sollten, eine andere Form der Kundenbetreuung erforderten als Polyesterfolien für die Herstellung von Tonträgern und Videobändern. Die meisten Erzeugnisse wurden an industrielle Weiterverarbeiter oder Tochtergesellschaften ausgeliefert. Mit Ausnahme von Medikamenten stellte Hoechst keine Produkte für Endverbraucher her. Tochtergesellschaften übernahmen meist die Konfektionierung der Produkte für Endverbraucher mit bekannten Markennamen, z. B. Glutolin (Kleister), Trevira oder Hostalen. 1995 wurde die Organisationsstruktur der Hoechst AG grundlegend überarbeitet und nach Ausgliederungen verbliebene Aktivitäten auf sieben Geschäftsbereiche reduziert: Chemikalien (GB A) 1995 erzielte der Geschäftsbereich Chemikalien mit 9900 Mitarbeitern einen Umsatz von 5391 Mio. DM, davon 25 Prozent mit Anorganischen Chemikalien (Chlor-, Fluor-, Schwefel- und Phosphorverbindungen), 19 Prozent mit Methanol, Formaldehyd und Acrylaten, 19 Prozent mit Oxoprodukten und Aminen, 37 Prozent mit Acetylverbindungen. Der Chemikalienbereich war über viele Jahre einer der wichtigsten Umsatz- und Ergebnisträger von Hoechst gewesen. Zahlreiche Verfahren waren bei Hoechst entwickelt oder erstmals eingesetzt worden, darunter das Wacker-Hoechst-Verfahren zur Herstellung von Aldehyden und die 1959 bis 1975 betriebene Hochtemperaturpyrolyse von Leichtbenzin. Viele Produktionsprozesse liefen in mehreren Verarbeitungsstufen ab, so z. B. die Herstellung von Vinylacetat aus Essigsäure, die durch Oxidation von Acetaldehyd gewonnen wurde. Die Produkte des Chemikalienbereiches wurden teilweise von anderen Geschäftsbereichen der Hoechst AG für die Weiterverarbeitung benötigt, zum Beispiel Vinylacetat für die Herstellung von Polyvinylacetat und Polyvinylalkohol oder Essigsäure für die Herstellung von Keten, Diketen und Sorbinsäure. Ein wichtiges Produkt des Chemikalienbereiches waren die von Mitte der 1960er Jahre bis 1994 hergestellten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), die als Kältemittel und Treibgas unter dem Markennamen Frigen dienten, bis die Gefährlichkeit von Halogenkohlenwasserstoffen für die Ozonschicht erkannt wurde. Als Ersatz entwickelte Hoechst das chlorfreie Kältemittel 1,1,1,2-Tetrafluorethan (R134a) und für medizinische Aerosole das Heptafluorpropan (R227). Grundlage für diese Produktlinie waren die Chloralkali-Elektrolyse nach dem Amalgam-Verfahren und die Methanchlorierung, für die Hoechst ein eigenes Verfahren unter Einsatz eines Schlaufenreaktors entwickelt hatte. Seit 1970 wurde die Produktion von Fluoraromaten an die Tochtergesellschaft Riedel-de Haen verlagert, Fluoraliphaten verblieben im Werk Höchst. Technische Kunststoffe (GB B) Einen eigenen Geschäftsbereich bildete das Arbeitsgebiet Technische Kunststoffe, das 1995 einen Umsatz von 1441 Millionen DM erzielte. Zu den Produkten des Bereiches gehörten POM (Hostaform, 45 % Umsatzanteil), Thermoplastische Polyester wie PBT (Celanex, Vandar, 12 %), Fluorpolymere wie PTFE und PCTFE (Hostaflon, 17 %), Ultrahochmolekulares Polyethylen (Hostalen GUR, 7 %), PPS (Fortron, 4 %), das Flüssigkristallpolymer Vectra LCP (7 %) sowie Cyclo-Olefin-Copolymere (Topas). Spezialchemikalien (GB D) Dieser Bereich wies das breiteste Produktspektrum von allen auf. Auch nach dem Verkauf von Riedel-de Haën AG erzielte er mit 8160 Millionen DM den zweitgrößten Umsatz und beschäftigte 27.865 Mitarbeiter. Den größten Beitrag zum Umsatz lieferten Tenside und Hilfsmittel, darunter Waschmitteleinsatzstoffe (TAED, SKS-6), Superabsorber, Glykole für den Einsatz als Brems- und Hydraulikflüssigkeiten oder Frostschutz- und Enteisungsmittel, Korrosionsschutz und Bohrspülflüssigkeiten. Zum Bereichsumsatz Spezialchemikalien trugen die Polymerisate 14 Prozent bei, darunter Polyvinylacetat (Mowilith), Polyvinylalkohol (Mowiol) und Methylcellulose (Tylose). Weitere Umsatzträger waren Pigmente (16 %), Feinchemikalien (11 %), Drucktechnik (10 %), Textilfarbstoffe (7 %), Additive für die Kunststoffverarbeitung (5 %), Masterbatches (4 %) und Lebensmittelzusatzstoffe (2 %) bei. Fasern (GB F) Der Geschäftsbereich Fasern war der weltgrößte Hersteller von Polyester und Acetatfasern. Er umfasste die sechs Business Units „Faservorprodukte“, „Hochfest“, „Spunbond“, „Monofil“, „Fasern“ sowie „Filamente“. Die BU Faservorprodukte (800 Mitarbeiter, 300.000 jato 1994) belieferte außer den anderen BU's auch externe Industriekunden mit ca. 25 % der hergestellten Polyesterchipmengen. Ihre europäischen Vorproduktanlagen befanden sich in den Werken Offenbach und Gersthofen, in der Betriebsstätte Münchsmünster sowie bei Hoechst Guben, in den Niederlanden (Vlissingen) sowie Portugal (Portalegre). Der Jahresumsatz 1995 des GB Fasern betrug 7.195 Millionen DM, die mit 21.445 Mitarbeitern erzielt wurden, darunter etwa die Hälfte mit Textilfasern. Der Umsatz verteilte sich auf die Bereiche Polyester (Trevira, 54 %), Polyamid (16 %), Polyacryl (10 %), sonstige synthetische Fasern (9 %) und Cellulosefasern (10 %). Kunstharze (Polykondensate) (GB G) Durch Beteiligung von Hoechst an den Chemischen Werken Albert AG, Wiesbaden, erweiterte der Konzern 1964 sein Portfolio um polymere Beschichtungsmaterialien. 1967 folgte die Übernahme der Reichhold Chemie AG in Hamburg-Wandsbek. Initiiert durch die persönlichen Kontakte von Albert und Reichhold erwarb Hoechst ab 1969 Aktien der österreichischen Vianova Kunstharz AG in Graz und gliederte diesen Kunstharzproduzenten bis 1976 vollständig in den Geschäftsbereich G der Hoechst AG ein. Hauptabnehmer der Kunstharzprodukte waren alle europäischen Automobilhersteller sowie die industrielle Farbenindustrie. Dem Wettbewerber BASF folgend baute sich Hoechst konsequent ein Reich von Lack- und Farbenherstellern auf. 1968 übernahm Hoechst die Farbwerke Schröder und Stadelmann AG in Oberlahnstein. Das Unternehmen hatte hier schon seit 1871 als Hersteller von Erd- und Mineralfarben bestanden und 1954 mit der Herstellung von Halbzeugen für thermoplastische Kunststoffe begonnen. 1975 nahm Hoechst die Produktion von Masterbatches für die Färbung von Polyolefin-Kunststoffen und Kunststoff-Fasern auf. 1991 verlegte Hoechst die Zentrale seines Masterbatch-Geschäftes nach Lahnstein. Seit 1997 gehört das Werk zur Clariant GmbH. 1969 übernahm Hoechst die österreichische STOLLLACK AG in Guntramsdorf. Sie geht auf die Gründung der Lack- und Farbenfabrik Peter Stoll 1890 zurück. Seit 1999 verkauft an DuPont Performance Coatings, seit 2013 an den Private Equity Fond Carlyle Group. 1970 das zweitgrößte britische Farben- und Lackunternehmen Berger, Jenson & Nicholson Ltd, das mit 42 Lackfabriken bereits in 25 Ländern vertreten war. Es war 1790 gegründet worden. Seit 1988 verkauft an Williams Holdings. 1970 die kleine innovative und 1884 gegründete niederländische Firma Wagemakers Lakfabrieken N.V. in Breda. Zeitgleich auch die kleine Farbenfabrik Wilhelm Urban & Co. in Wehlheiden, die durch (Kasslerbraun)-Erdfarbe bekannt wurde. 1971 zunächst 25 %, 1974 dann die restlichen 75 % der Spies, Hecker & Co., Köln, die 1978 in die 'Dr. Kurt Herberts & Co. GmbH' eingegliedert wurde. 1972 beteiligte sich Hoechst auch mehrheitlich am Lackhersteller Dr. Herberts & Co GmbH in Wuppertal. Die Firma war 1866 als Firnis- und Lacksiederei von Otto Luis Herberts gegründet worden. 1999 verkauft an DuPont Performance Coatings, 2013 an den Private Equity Fond Carlyle Group. 1974 die Flamuco GmbH in München und Stuttgart als Lack- und Farben-Hersteller mit Farbenfachgeschäftskette. Die schweizerische Tochtergesellschaft Flamuco-Merz AG in Pratteln wurde 1984 als Spies Hecker AG in die Hoechst AG aufgenommen. Seit 1999 verkauft an DuPont International Operations Sàrl. Für die eigene Kunstharzproduktion entwickelte man ausgehend von klassischen Phenol-, Polyester-, Epoxid-, Acryl- und Alkydharzen ab 1970 wasserlösliche Harze, vorrangig für die anaphoretische, fünf Jahre später für die kataphoretische Tauchlackierung (Resydrol). An ausländischen Standorten wurden zusätzliche Produktionskapazitäten (weltweit ca. 250.000 jato, Marktanteil ca. 30 %) geschaffen. Vergleichbare Automobilbeschichtungssysteme boten in Europa neben Wettbewerber BASF auch die amerikanische PPG Industries Lacke GmbH, die zuvor den deutschen Hersteller Wülfing übernommen hatten, an. Bei Automobilen wird heute als erste Schicht eine kataphoretische Abscheidung auf der Karosse durchgeführt, die zweite Schicht basiert auf Alkydharzen und die Außenhaut versiegelt ein Acrylharz. UP-Harze finden bei Windkrafträdern in großen Mengen Anwendung. Zum 1. Oktober 1995 lagerte Hoechst sein Kunstharzgeschäft als Vianova Resins GmbH aus, die 1998 von einem Investmentbankkonsortium (Deutsche Bank und Morgan Grenfell Equity Partners), 2000 von Solutia, 2002 von UCB (Union Chimique Belge) und zuletzt 2005 von Cytec (USA) übernommen wurde. 2012 gliederte Cytec sein Kunstharzgeschäft über den Private Equity Fonds Advent International aus. Es firmiert seit 2013 als Allnex (Belgien). Kunststoffe (Polymerisate) (GB H) Der Geschäftsbereich Kunststoffe beschäftigte 1995 5335 Mitarbeiter und erzielte einen Umsatz von 3603 Millionen DM. Bereits ab 1955 stellte Hoechst als erstes Unternehmen in Europa Polyethylen (Hostalen) nach dem Ziegler-Natta-Verfahren her, ab 1958 auch Polypropylen (Hostalen PP). Ab 1985 forschte Hoechst auf dem Gebiet der Metallocen-Katalysatoren; die Entwicklungen kamen jedoch vor der Umgestaltung von Hoechst nicht mehr zur Marktreife. Etwa ein Drittel des Umsatzes im Geschäftsbereich Kunststoffe erzielte Hoechst mit Folien, darunter Polypropylenfolien, Polyesterfolien und Hartfolien aus PVC (zum Beispiel für Kreditkarten oder Möbelbeschichtungen). Informationstechnik (GB K) 1972 wurde bei Kalle AG der Geschäftsbereich Informationstechnik gegründet. Der europaweite Vertrieb von Fotokopiergeräten wurde gestartet. 1974 führte Infotec mit dem digitalen Fernkopierer Infotec 6000 als Erster in Europa den Fernkopierer in den Telefax-Markt ein. Die Technologie der Infotec 6000 war die Basis für den heute immer noch gültigen Gruppe-3 Standard. 1987 folgte die Einführung des ersten digitalen Kopiergerätes Infotec 5020. Im Jahr 1990 wurde Infotec von der Hoechst AG an die niederländische HCS-Gruppe verkauft. Pharma (GB L) Der Geschäftsbereich Pharma erzielte nach der Übernahme von Marion Merrell Dow (MMD) 1995 einen Jahresumsatz von 11,5 Milliarden DM, wobei MMD seit Mitte des Jahres einbezogen war. Ein Teil der Top-10-Medikamente wurde schon seit Jahrzehnten produziert. Die Liste der umsatzstärksten Produkte des Geschäftsbereiches Pharma für die Geschäftsjahre 1990 bis 1998 umfasst insgesamt 15 Medikamente, von denen fünf über den gesamten Zeitraum zu den Top-10 gehörten und zwei von MMD übernommen wurden. Der Anteil der Top-10 am gesamten Pharma-Umsatz lag in allen Jahren zwischen 34,9 und 43,6 Prozent, mit einem Mittelwert von 39,4 Prozent. Die Liste der 10 umsatzstärksten Medikamente von Hoechst führten drei besonders entwicklungsträchtige Präparate an: Diltiazem (Cardizem, von MMD übernommenes Produkt) Terfenadin (Teldane) (von Hoechst) und Weiterentwicklung Fexofenadin (Telfast, Allegra, von MMD) Ramipril (Delix, Tritace, von Hoechst) Ihre Patente liefen im Zeitraum 1999 bis 2005 aus. Werke und Tochtergesellschaften Neben dem Stammwerk Höchst gab es zeitweise bis zu 14 weitere Werke, die ebenfalls als Betriebsstätten der Hoechst AG geführt wurden. Die Werke in Gersthofen und Knapsack gehörten schon vor der Bildung der I.G. Farbenindustrie 1925 zu den Farbwerken Höchst. Die übrigen Werke kamen nach der Wiedergründung der Farbwerke Höchst 1952 durch Übernahmen hinzu. Die meisten Standorte gehörten zuvor Tochtergesellschaften, die – zumeist einige Jahre nach der Übernahme – in die Hoechst AG eingegliedert wurden. Einige dieser Standorte waren älter als das Werk Höchst. Die Werke in Bad Hersfeld und Kelsterbach wurden durch die Hoechst AG auf der grünen Wiese neu errichtet, ohne dass hier zuvor bereits Produktionsanlagen bestanden hätten. Die meisten Geschäftsbereiche von Hoechst waren auf mehrere Werke verteilt. Einige Werke, vor allem die sogenannten Faserwerke, waren spezialisiert auf bestimmte Produktlinien, andere stellten ein ähnlich breites Spektrum an Produkten her wie das Werk Höchst. Während die Forschung überwiegend in Höchst konzentriert war, besaßen die meisten Werke bis in die 1990er Jahre nicht nur eine eigene Infrastruktur, sondern auch interne Serviceeinheiten wie eine eigene Personalabteilung, Informatik- und Kommunikationsabteilung oder Ingenieurtechnik. In den 1990er Jahren galt die Vielfalt der Produktionsstandorte als strategischer Nachteil, da Wettbewerber wie BASF oder Bayer auf wenige Standorte konzentriert waren. So musste Hoechst beispielsweise an vier Standorten eine kapital- und energieintensive Chloralkali-Elektrolyse betreiben, um die Versorgung der Standorte mit Chlor zu gewährleisten, das sich nicht in größeren Mengen transportieren lässt. Bei der Aufteilung der Hoechst AG 1997 wurden die meisten Werke einer der Nachfolgegesellschaften zugewiesen. Die vier großen, von mehreren Geschäftsbereichen genutzten Werke Höchst, Kalle-Albert, Gendorf und Knapsack wurden in Industrieparks umgewandelt. Die Faserwerke Bobingen, Hersfeld, Kelheim und Hoechst Guben GmbH (GB F) Eine Reihe von Werken der Hoechst AG gehörten zum Geschäftsbereich Fasern, weil in ihnen hauptsächlich Kunst- und Naturfasern für verschiedene Anwendungen produziert wurden. Werk Bobingen Das Werk Bobingen ging auf eine 1899 gegründete Kunstseide-Fabrik zurück. Es kam bei der Entflechtung der I.G. Farbenindustrie 1952 unter die Kontrolle der Farbwerke Höchst und wurde ab 1955 als Werk Bobingen geführt. Von 1950 bis 1971 wurde hier die Polyamidfaser Perlon hergestellt, die 1937 von Paul Schlack, später langjähriger Leiter der Faserforschung von Hoechst, synthetisiert worden war. 1954 begann auch die Produktion von Polyester-Fasern unter dem Markennamen Trevira. Im Laufe der Zeit entwickelte Hoechst in Bobingen eine Vielzahl von Polyester-Fasern, Filamenten und Vliesen für unterschiedliche Anwendungen, darunter ab 1980 schwerentflammbare Textilfasern (Trevira CS) und ab 1987 die Microfasern Trevira Finesse und Trevira Micronesse. 1998 wurde das Werk Bobingen zum Industriepark Werk Bobingen. Werk Hersfeld 1966 errichtete Hoechst am traditionellen Tuchmacherstandort Bad Hersfeld ein neues Werk für die Herstellung von Polyester-Filamenten (BU Filamente). Es wurde 1998 an AlliedSignal und 2004 an Sun Capital Partners, Inc. verkauft, die das Werk heute als Performance Fibers GmbH betreiben. Teile des Werks Guben gehören ebenfalls zu dieser Firma. Werk Kelheim 1968 erwarb Hoechst eine Mehrheitsbeteiligung an der Süddeutsche Chemiefaser AG in Kelheim und gliederte sie 1974 als Werk Kelheim in den Konzern ein. Das Werk war ursprünglich am 17. Mai 1935 als Süddeutsche Zellwolle AG Kelheim gegründet worden und produzierte Viskose-Spinnfasern (Danufil) sowie Polyacrylnitrilfasern (Dolan). Die Dolan-Betriebe wurden seit 1972 mit Hoechst-eigenem Acrylnitril aus der nahegelegenen Betriebsstätte Münchsmünster versorgt. Januar 1994 erfolgte die Ausgliederung aus der AG als Faserwerk Kelheim GmbH und Gründung eines Joint Venture Courtaulds European Fibres mit der britischen Courtaulds plc. 1998 übernahm die niederländische AkzoNobel N. V. und benannte das Werk um in Acordis Kelheim GmbH. 2004 wurde das Werk vom Private Equity Fonds „EQUI-Fibres“ gekauft, der Viskosefaserbereich in Kelheim Fibres GmbH umbenannt und der Acrylfaserbereich als Tochtergesellschaft DOLAN GmbH ausgegliedert. Die österreichische Lenzing AG erwarb zum 1. Januar 2008 die Dolan GmbH, der geplante mehrheitliche Erwerb der Kelheim Fibres GmbH wurde aus kartellrechtlichen Gründen aber 2012 untersagt. Lenzing betreibt auf dem Werksgelände seit 2008 als Joint Venture auch die kleine Spezialitätensparte European Precursor GmbH. Werk Hoechst Guben GmbH 1992 erwarb Hoechst über die Treuhandgesellschaft durch Privatisierung das Chemiefaserkombinat „Herbert Warnke“ in der Wilhelm-Pieck-Stadt Guben (Brandenburg). 38,5 Mio. DM Bundesmittel als Investitionsbeihilfen wurden nur für ein wirtschaftlich eigenständiges Unternehmen „Hoechst Guben GmbH“ bestimmt, wären aber nicht für ein konzernvernetztes „Werk Guben“ gewährt worden. Guben gehörte bis 1994 zur BU Faservorprodukte und belieferte andere Werke des Geschäftsbereichs. Werk Gendorf Von 1939 bis 1941 errichtete die Anorgana GmbH, eine Tochtergesellschaft der I.G. Farbenindustrie, im Auftrag des Heereswaffenamtes bei dem Weiler Gendorf, heute ein Ortsteil von Burgkirchen an der Alz, ein damals hochmodernes Chemiewerk für die Herstellung organischer Grundchemikalien wie Acetaldehyd, Ethylenoxid und Glykole. Die Lage im Bayerischen Chemiedreieck sicherte die Rohstoffversorgung, da die Wacker Chemie im benachbarten Burghausen sowie die Süddeutschen Kalkstickstoffwerke in Trostberg ebenfalls Beteiligungsgesellschaften der I.G. Farben waren. Den zur Herstellung von Carbid und Chlor benötigten elektrischen Strom lieferten Kraftwerke an Inn, Alz und Salzach. Den Zweiten Weltkrieg überstand das Werk unbeschädigt. 1951 ging die Anorgana GmbH nach Aufhebung der alliierten Zwangsverwaltung an den Freistaat Bayern, der das Werk Gendorf 1955 an die Farbwerke Hoechst verkaufte. In den 1960er Jahren wurde die Rohstoffversorgung mit dem Bau der Transalpinen Ölleitung, einer Raffinerie bei Burghausen und einer Ethylen-Pipeline auf Erdöl umgestellt. 1997 wurde das Werk Gendorf zum Industriepark Werk Gendorf. In Gendorf wurden und werden neben organischen Chemikalien unter anderem Natronlauge, Zinntetrachlorid, Vinylchlorid, Enteisungsmittel, Korrosionsschutzmittel sowie die Kunststoffe PVC (Hostalit) und PTFE (Hostaflon) hergestellt. Werk Gersthofen (GB F) 1900 gründeten die Farbwerke Höchst in Gersthofen bei Augsburg ein neues Werk, weil hier aufgrund eines von der Elektrizitäts-AG vormals W. Lahmeyer & Co. errichteten Laufwasserkraftwerks am Lech eine sichere Stromversorgung gewährleistet war. In Gersthofen sollte synthetisches Indigo hergestellt werden. 1902 nahm das Werk die Produktion von Chromsäure, Chinon und Phthalsäure auf. 1905 kam noch Monochloressigsäure hinzu. Nach der Gründung der I.G. Farben begann 1927 die Produktion von Wachsen. Nach Kriegsende stand das Werk von 1945 bis 1951 als Lech-Chemie unter US-amerikanischer Verwaltung, kam jedoch bei der Entflechtung der I.G. Farbenindustrie als Werk Gersthofen wieder zu den Farbwerken Höchst. Schwerpunkt des Werks Gersthofen lag auf der Produktion von Wachsen, Polymeradditiven und von Zwischenprodukten auf Basis von Essigsäure. Daneben befanden sich hier Anlagen zur Produktion von Faservorprodukten (BU Faservorprodukte) sowie von Polyestergranulaten (PET). 1997 übernahm die Clariant GmbH das Werk Gersthofen und entwickelte es 2002 zum Industriepark Gersthofen weiter. Werk Griesheim Die 1856 in Griesheim am Main gegründete Chemische Fabrik Griesheim-Elektron gehörte zu den Pionieren der Elektrochemie. Bereits 1892 ging die erste Chloralkali-Elektrolyse in Griesheim in Betrieb, der 1893 eine weitere Anlage in Bitterfeld folgte. 1905 erwarb Griesheim-Elektron die Farbenfabrik Oehler in Offenbach am Main, da das Farbengeschäft zu jener Zeit die profitabelste Sparte der chemischen Industrie war. 1912 kam mit Naphtol AS das erste Zweikomponenten-Färbeverfahren auf den Markt. 1908 entwickelte Griesheim-Elektron den Werkstoff Elektron, eine Legierung von Magnesium und Aluminium, die vor allem in der Optik, Feinmechanik und im Flugzeugbau verwendet wird. 1912 gelang Fritz Klatte (gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Emil Zacharias und Adolf Rollett) in Griesheim erstmals die Herstellung von Polyvinylchlorid (PVC) und Polyvinylacetat. Das Unternehmen fand jedoch keine technische Anwendung für PVC, das zunächst nur zur Lagerung der bei der Elektrolyse entstehenden großen Mengen von Chlor genutzt wurde, und gab die Patente später zurück. Erst Ende der 1920er Jahre kam es zur großtechnischen Anwendung des Kunststoffes PVC. 1925 schloss sich das Unternehmen der I.G. Farbenindustrie an. Bei der Entflechtung der I.G. Farben 1951 wurde die Autogen- und Schweißtechnik-Sparte in die Knapsack Griesheim AG ausgegliedert, an der die Farbwerke Hoechst eine Mehrheitsbeteiligung erhielten. Ab 1965 firmierte dieses Unternehmen als Messer Griesheim GmbH. Der Rest der Chemischen Fabrik Griesheim wurde als Werk Griesheim in die Farbwerke Hoechst eingegliedert. Der Betrieb in Offenbach sollte ursprünglich nach 1945 demontiert werden, wurde dann aber als „Napthol-Chemie Offenbach“ aufrechterhalten und wurde später als Werk Offenbach bei Hoechst integriert. Ebenfalls durch Entflechtung der I.G. Farbenindustrie ergab sich zusammen mit Siemens die neue Sparte der Graphitelektrodenproduktion in Griesheim. Hieraus ging 1985 die Sigri GmbH sowie nach Zusammenschluss mit amerikanischen Herstellern 1992 die SIGRI Great Lakes Carbon GmbH hervor. 1995 kapitalisierte Hoechst seine Beteiligungen durch Börsennotierung des ausgegliederten Unternehmens SGL Carbon AG. Die Betriebe des Werkes Griesheim stellten überwiegend Vor- und Zwischenprodukte her, die in den anderen Werken des Rhein-Main-Gebietes weiterverarbeitet wurden. Ab 1977 produzierte Hoechst in Griesheim die Wirkstoffe für das Insektizid Thiodan, die Herbizide Arelon, Afalon und Aresin sowie ein Vorprodukt für das Herbizid Puma. 1997 kamen das Werk mit dem Verkauf des Geschäftsbereiches Spezialchemikalien an die schweizerische Clariant. Werk Offenbach (GB F) Im Werk Offenbach (BU Faservorprodukte) wurde unter anderem das Dimethylterephthalat hergestellt, das in anderen Werken als Polyethylenterephthalat (PET) zu Textilfasern unter dem Markennamen Trevira, zu Polyesterfolien (Hostaphan) und Getränkeflaschen weiterverarbeitet wurde. 1997 kam das Werk mit dem Verkauf des Geschäftsbereiches Spezialchemikalien an die schweizerische Clariant, die 2001 an eine Gruppe ehemaliger Hoechst-Manager weiterverkaufte. 2010 wurden alle Betriebe geschlossen und demontiert. Werk Hamburg (GB G) Das 1933 als Beckacite Kunstharz GmbH gegründete Werk wurde 1967 von den Chemischen Werken Albert AG übernommen und ab 1969 als „Werk 13“ in den Hoechst-Konzern integriert. Die Produktion konzentrierte sich ab 1980 auf wasserlösliche Kunstharze (Resydrol, Daotan) neben klassischen UP-Harzen (Beckopox) und Acrylharzen (Synthacryl, Macrynal). Die lose koordinierte Produkt- und Verfahrensentwicklung befand sich in den Werken Albert und Graz. Die Mitarbeiterzahl des Werks sank von 400 im Jahr 1990 auf 280 bei der Ausgliederung aus dem Hoechstkonzern und Stilllegung der Resydrol-Produktion 1995. Bis zum Übergang auf UCB (Union Chimique Belge) 2002 sank die Mitarbeiterzahl weiter auf ca. 170, wegen Stilllegung weiterer Betriebsteile zehn Jahre später auf knapp 100. Im März 2023 gab die Geschäftsführung bekannt, dass das Werk in Hamburg bis Mitte 2024 stillgelegt wird und bis 2026 demontiert und abgerissen wird. Werk Albert (GB G) 1964 übernahm Hoechst die Mehrheit an der Chemische Werke Albert AG, die seit 1861 ihren Sitz in Mainz-Amöneburg hatten. 1972 gliederte Hoechst die Albert AG als Werk Albert in die Muttergesellschaft ein. Das Werk war von der benachbarten Kalle AG nur durch eine Straße getrennt, die bis 1945 die Landesgrenze zwischen Preußen und Hessen bildete. 1988 wurden die Werke Kalle und Albert räumlich zum Werk Kalle-Albert zusammengelegt und 1997 zum Industriepark Kalle-Albert umgestaltet. Albert war ein bedeutender Hersteller von Kunstharzen, darunter die 1910 von Ludwig Berend und Kurt Albert entwickelten Albertole, phenolmodifizierte Kolophoniumharze, die als Grundstoffe für Autolacke und später als Bindemittel für Druckfarben dienten. Werk Kalle (GB J, K) Die 1863 gegründete Kalle AG in Wiesbaden-Biebrich wurde 1952 von Hoechst übernommen und 1972 als Werk Kalle in die Muttergesellschaft eingegliedert. Kalle stellte unter anderem Folien her – zunächst aus Viskose (Cellophan), später aus Kunststoffen wie PVC, PE, PP (Trespaphan) und Polyester (Hostaphan), die für Verpackungszwecke, aber auch für technische Anwendungen wie Kondensatoren oder Ton- und Videobänder genutzt wurden. Darüber hinaus gehörten nahtlose Wursthüllen (Nalo), das Trockenlichtpauspapier Ozalid, Kunststoffe für optische Speichermedien (Ozadisc) sowie Foto- und Fernkopierer (Infotec) zu den in Wiesbaden und im Werk Neunkirchen hergestellten Produkten. Das Werk Neunkirchen trug nach der Ausgliederung 1995 den Namen „Hoechst Trespaphan GmbH“ (HRB 1962 – 1. September 1995). Werk Knapsack Siehe auch: Chemiepark Knapsack 1906 gründete die Frankfurter Carbid Aktiengesellschaft ein Zweigwerk in Hürth-Knapsack, dessen Lage im Rheinischen Braunkohlerevier eine sichere Rohstoffversorgung für die Herstellung von Kalkstickstoff und Calciumcarbid gewährleistete. Von 1916 bis 1918 führten die Farbwerke Höchst das seit 1909 als Aktiengesellschaft für Stickstoffdünger firmierende Geschäft und bauten es erheblich aus. Das aus Carbid gewonnene Acetylen bildete die Grundlage für die Herstellung von Essigsäure und Essigsäureanhydrid. Zur Dampf- und Stromversorgung des Werkes baute RWE das Kraftwerk Goldenberg, zum damaligen Zeitpunkt das größte Kraftwerk Europas. 1944 wurde das Werk bei einem Luftangriff völlig zerstört. Die Knapsack-Griesheim AG, ab 1965 Knapsack AG wurde 1952 zu einer Tochtergesellschaft von Hoechst. 1953 begann der allmähliche Neuaufbau der Produktion mit der Herstellung von Phosphaten für Waschmittel, später folgten chlorierte und organische Chemikalien (Acetaldehyd, Aceton, Acrylnitril, Chloropren, Dichlorethan, Vinylchlorid, Monochloressigsäure) und Kunststoffe (Polyethylen, Polypropylen, Polyvinylchlorid). 1960 wurde das Werk Knapsack um einen Werksteil in Hürth erweitert. 1974 verschmolz Hoechst die Knapsack AG auf die Muttergesellschaft und gliederte sie als Werk Knapsack in die Hoechst AG ein. Ab 1977 produzierte Hoechst in Knapsack auch Pflanzenschutzmittel, zum Beispiel das Insektizid Hostathion (Triazophos), das Fungizid Derosal (Carbendazim) und das Herbizid Illoxan (Diclofop-methyl). 1990 legte Hoechst nach 82 Jahren den letzten Carbidofen still und stellte auch alle noch auf Carbid basierenden Produktionen ein. 1991 endete nach 35 Jahren Betriebsdauer die Produktion des Waschmittelrohstoffes Natriumtripolyphosphat. Gemäß der Phosphathöchstmengenverordnung durften Waschmittel seit 1984 nur noch halb so viel Phosphate wie in den 1970er Jahren enthalten. 1986 waren die ersten phosphatfreien Vollwaschmittel auf den Markt gekommen. 1992 beendete Hoechst auch die Herstellung von Phoban (Phosphabicyclononan) und von elementarem Phosphor, 1993 von Ferrosilicium. Für die aufgegebenen Produkte standen teilweise modernere Verfahren und umweltschonende Alternativen zur Verfügung, oder ihre Herstellung war aufgrund steigender Umweltschutzanforderungen nicht mehr wirtschaftlich. Damit traf der Strukturwandel das Werk Knapsack schneller und härter als andere Hoechster Standorte. Von ehemals etwa 3500 Arbeitsplätzen gingen etwa 1500 verloren. Auch Neuinvestitionen in die Erzeugung von Polypropylen, Polyethylen und des Natrium-Schichtsilikats SKS-6, eines Wasserenthärters, der die Phosphate in Waschmitteln ersetzte, konnten den Rückgang nicht kompensieren. 1997 wurde das Werk Knapsack zum Chemiepark Knapsack unter der Leitung der InfraServ GmbH & Co. Knapsack KG (seit Juni 2019 YNCORIS). Werk Ruhrchemie Das 1927 als Kohlechemie AG gegründete und 1928 in Ruhrchemie AG umbenannte Unternehmen begann 1929 mit der Produktion von Düngemitteln an seinem Stammsitz in Oberhausen-Holten. 1934 ging hier die erste nach dem Fischer-Tropsch-Verfahren arbeitende Anlage zur Herstellung von flüssigen Kohlenwasserstoffen in Betrieb. 1938 entwickelte Otto Roelen die Oxo-Synthese von Aldehyden, die unter anderem zur Herstellung von Polyolen, Carbonsäuren, Estern und Lösemitteln dienen. 1958 beteiligten sich die Farbwerke Höchst an der Ruhrchemie, zunächst mit 25 Prozent. Die Beteiligung wurde in den 1960er und 1970er Jahren schrittweise auf 66 2/3 Prozent erhöht. 1960 begann die Herstellung von Polyethylen hoher Dichte (HDPE), 1972 von Polyethylen niedriger Dichte (LDPE). 1984 übernahm Hoechst von UK Wesseling die restlichen Anteile der Ruhrchemie und gliederte sie als Werk Ruhrchemie in die Hoechst AG ein. Die Produktion von Düngemitteln wurde 1990 stillgelegt. Das Werk Ruhrchemie kam 1999 an die Celanese AG, die es 2007 unter dem neuen Namen Oxea an eine Privatinvestorfirma Advent International verkaufte. Die Celanese-Tochter Ticona errichtete 2000 in Oberhausen eine Anlage zur Herstellung von Cyclo-Olefin-Copolymeren (Topas), ein Anfang der 1990er Jahre von der Hoechster Zentralforschung entwickelter technischer Kunststoff. Die Produktlinie wurde 2004 an einen Finanzinvestor verkauft und gehört seit 2006 der TOPAS Advanced Polymers GmbH, einem Joint Venture der japanischen Unternehmen Daicel und Polyplastics. Weitere Werke und Beteiligungsgesellschaften Büromöbelhersteller GOLDBACH Tierversuchsanstalt Kastengrund In der Nähe von Hattersheim errichtete der GB Pharma Anfang der 1960er Jahre eine Tierversuchsanstalt für die präklinischen Wirkstoffentwicklung sowie erforderliche Wirkstoffprüfung an Klein- und Großtieren (Kleinorganismen, Mäuse, Ratten, Katzen, Beagle-Hunde und Affen). Der Standort wurde von Sanofi-Aventis übernommen und wegen „Überkapazitäten“ Ende 2011 geschlossen. Betriebsstätte Münchsmünster Anfang 1970 etablierten die Firmen Hoechst AG, Gelsenberg AG (Essen) und SKW AG (Trostberg) einen gemeinschaftlich genutzten petrochemischen Betrieb in Münchsmünster. Hoechst bezog von hier eigenes Polyethylen für die Hostalen-Produktion. 1997 wurden die Hoechst-Aktivitäten in eine Hostalen Polyethylen GmbH ausgelagert und 1998 von Elanec GmbH übernommen. Letztere wurde zum 1. Oktober 2000 an ein Joint Venture LyondellBasell von BASF und Shell verkauft. 1972 installierten Hoechst und SKW AG (Trostberg) eine gemeinsame Produktionsanlage für Acrylnitril (ACN), das als Rohstoff im Werk Kelheim für die Polyacrylfaser Dolan verwendet wurde. 1998 verkaufte Hoechst seine Beteiligung an SKW, die daraufhin die ACN-Anlage stilllegte. Ticona (Werk Kelsterbach) 1961 gründeten die Farbwerke Hoechst mit der Celanese Corporation of America, damals der viertgrößte amerikanische Chemiekonzern, ein Joint Venture zur Herstellung technischer Kunststoffe. Als europäische Produktionsstätte des Unternehmens Ticona zur Herstellung von Polyoxymethylen (POM) entstand ein neues Werk in Kelsterbach bei Frankfurt, etwa sechs Kilometer südwestlich des Stammwerkes Höchst gelegen. Der technische Kunststoff wurde unter dem Handelsnamen Hostaform verkauft. Auch die Hoechst AG produzierte im Werk Kelsterbach, unter anderem Ethylenoxid und Polypropylen, da das Werk über die nahegelegene Caltex-Raffinerie in Raunheim eine günstige Rohstoffversorgung hatte. Nachdem die Raffinerie schon 1975 stillgelegt worden war, übernahm eine Pipeline aus Rotterdam die Rohstoffversorgung. 1987 übernahm Hoechst die Celanese, so dass Ticona nun eine Tochtergesellschaft wurde. Die Hoechst AG legte ihre Kelsterbacher Anlagen in den 1990er Jahren nach und nach still und übertrug das Werk 1997 der Ticona, die 1999 zu einer Tochtergesellschaft der an die Börse gebrachten Celanese AG wurde. Da das Werk dem Ausbau des Flughafens Frankfurt im Weg stand, beschloss Ticona im Juli 2007, eine neue Produktionsanlage im nahegelegenen Industriepark Höchst zu errichten. Nach Inbetriebnahme der neuen Anlage und dem Umzug im September 2011 wurden die in der Einflugschneise der neuen Landebahn gelegenen Anlagen demontiert. Der neue Eigentümer Fraport wird das 45 Hektar große Gelände als Gewerbegebiet Airport City West vermarkten. Cassella (Werk Fechenheim) An den 1870 gegründeten Farbwerken Leopold Cassella & Co. in Fechenheim hielten die Farbwerke Höchst bereits seit 1904 ein Viertel der Anteile. Die Cassella-Anteilseigner Leo Gans und Arthur von Weinberg wurden 1928 Ehrenbürger von Frankfurt. Zusammen mit Arthurs Bruder Carl von Weinberg gehörten sie ab 1925 dem Aufsichtsrat der I.G. Farben an. Sie zählten zu den bedeutendsten Frankfurter Unternehmerpersönlichkeiten und Mäzenen. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurden sie wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt und aus allen Ämtern vertrieben. 1951 wurde die Cassella Farbwerke Mainkur AG wieder aus der I.G. Farben ausgegliedert. 1970 übernahm Hoechst insgesamt 75,6 Prozent der Anteile an dem Unternehmen, zu dem auch die Tochtergesellschaften Cassella Riedel Pharma, Riedel-de Haën in Seelze und der Kosmetikhersteller Jade gehörten. Am Stammsitz des Unternehmens in Fechenheim wurden hauptsächlich Pigmente, Farbstoffe, Melaminharze und eine Vielzahl von Zwischenprodukten hergestellt. Ab 1994 stockte Hoechst seine Beteiligung weiter auf und fand die restlichen außenstehenden Aktionäre schließlich ab und gliederte das Unternehmen als Werk Cassella (auch Werk Fechenheim) in die Hoechst AG ein. Die bisherige Pharmaforschung in Fechenheim wurde geschlossen, die Cassella-Tochtergesellschaften verkauft. 1995 Hoechst übertrug den Melaminharz-Betrieb F46 (GB G) an die ausgegliederte Vianova Resins GmbH und verkaufte die restlichen Betriebsteile von Cassella u. a. mit seinem Geschäftsbereich Spezialchemikalien an Clariant. Seit 2001 gehören die Werke Cassella und Offenbach der AllessaChemie GmbH, einem von ehemaligen Hoechst-Managern gegründeten Unternehmen. 2005 ging aus dem Melaminharz-Betrieb die neu gegründete Ineos Melamines GmbH des Ineos-Konzerns hervor. Inländische Tochtergesellschaften Ende 1993 gehörten folgende inländischen Tochtergesellschaften zum Hoechst-Konzern: Ausländische Tochtergesellschaften Ende 1992 gehörten folgende ausländischen Tochtergesellschaften zum Hoechst-Konzern: Hoechst in der Kritik Lizenzprodukt RU 486 1980 entdeckten Forscher der französischen Hoechst-Tochter Roussel-Uclaf den Wirkstoff Mifepriston, der intern unter dem Kürzel RU 486 geführt wurde. Die Substanz hemmt die Wirkung des Gestagens Progesteron und blockiert die Rezeptoren für Glukokortikoide; wird sie während der Schwangerschaft eingenommen, führt dies innerhalb von 48 Stunden zur Ablösung der Gebärmutterschleimhaut. In Verbindung mit einem Prostaglandin lässt sich dadurch eine künstliche Fehlgeburt auslösen. 1988 wurde das Medikament in Frankreich unter dem Handelsnamen Mifegyne für den Schwangerschaftsabbruch zugelassen, 1992 auch in Großbritannien und Schweden. Abtreibungsgegner prägten den Begriff Abtreibungspille für das Präparat und fürchteten, mit der Zulassung werde die willkürliche Tötung ungeborenen Lebens gefördert. Sie griffen Hoechst in der Öffentlichkeit und auf Hauptversammlungen für die Entwicklung und Vermarktung des Wirkstoffes an. Der Erzbischof von Köln, Kardinal Meisner, bezeichnete es als „eine unsägliche Tragödie, wenn sich am Ende dieses Jahrhunderts die chemische Industrie ein zweites Mal anschicken würde, in Deutschland ein chemisches Tötungsmittel für eine bestimmte gesetzlich abgegrenzte Menschengruppe zur Verfügung zu stellen“, andere Kritiker riefen zum Boykott von Hoechst auf. Auch innerhalb von Hoechst war das Medikament umstritten. Der Vorstandsvorsitzende Wolfgang Hilger galt selbst als Abtreibungsgegner und teilte im Juni 1991 auf der Hauptversammlung mit, dass Hoechst die Zulassung in keinem Land von sich aus beantragen werde, sondern nur auf ausdrückliche Aufforderung der jeweiligen Regierung. Zudem knüpfte Hoechst den Zulassungsantrag an die Bedingung, dass in dem jeweiligen Staat eine gesetzliche Regelung und eine medizinische Infrastruktur für Schwangerschaftsabbrüche bestehe. Das Medikament sollte ausschließlich unter dem Namen von Roussel-Uclaf verkauft werden, das zu diesem Zeitpunkt noch außenstehende Aktionäre hatte. In Deutschland kam es zu keinem Zulassungsantrag, weil die damalige Bundesgesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt dies ablehnte. Es bestehe keine ärztliche Notwendigkeit für das Medikament, da es auch andere Methoden des Schwangerschaftsabbruches gebe. Kritiker warfen Hoechst daraufhin vor, mit dieser restriktiven Haltung die Schuld am Tod von Frauen zu tragen, die ohne RU 486 bei fehlgeschlagenen Schwangerschaftsabbrüchen ums Leben kämen, vor allem in der Dritten Welt. Im April 1997 verzichtete Hoechst auf Produktion, Verkauf und Weiterentwicklung von RU 486 und trat alle Rechte an dem Medikament an den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von Roussel-Uclaf, Edouard Sakiz, ab. Der neue Rechteinhaber beantragte die Zulassung in Deutschland, die schließlich nach weiteren öffentlichen Auseinandersetzungen 1999 erfolgte. Antidepressivum Alival 1992 wurden drei frühere Hoechst-Manager der vorsätzlichen Körperverletzung in 20 Fällen und der Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen angeklagt, weil sie das 1976 in den Handel gekommene Antidepressivum Alival und sein Kombinationspräparat Psyton (Wirkstoff Nomifensin) trotz lebensbedrohlicher Nebenwirkungen zu spät vom Markt genommen haben sollen. Die weltweite Rücknahme erfolgte am 21. Januar 1986, obwohl Kenntnisse über die Risiken von Alival spätestens im Juni 1984 konkret geworden seien. Dies war das erste Mal nach dem Contergan-Skandal, dass Pharmamanager wegen des „Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel“ vor Gericht standen. Zu den 20 zur Anklage gebrachten Gesundheitsschädigungen zählten u. a. Blutzersetzung, Leberschaden, Arzneimittelfieber und beidseitiges Nierenversagen. Insgesamt hatten die deutschen Ermittler über 600 Fälle von unerwünschten Nebenwirkungen aufgelistet. In mehreren Fällen erhielten Geschädigte nach zum Teil jahrelangen Auseinandersetzungen vor Gericht finanzielle Leistungen von Hoechst. Der deutsche Arzt und Arzneimittelkritiker Ulrich Moebius ging von ca. 100 Todesfällen und mindestens 10.000 geschädigten Patienten aus. Das britische Komitee für Arzneimittelsicherheit listete 53 durch Alival verursachte Fälle von Leberschäden auf, 47-mal kam es zu Bluterkrankungen, vier Briten starben. In den USA, wo Alival unter dem Namen Merital im Handel war, wurde Hoechst im April 1991 zur Zahlung von 202.000 US-Dollar verurteilt, was der höchsten gesetzlich möglichen Strafe entsprach. Hätte Hoechst der Überwachungsbehörde FDA die sich verdichtenden Gesundheitsrisiken von Alival rechtzeitig gemeldet, wäre das Mittel dort nicht oder nur mit erheblichen Einschränkungen zugelassen worden. Chemieunfälle 1993 1993 löste eine Folge von Betriebsunfällen in verschiedenen Werken der Hoechst AG eine schwere Vertrauenskrise aus. Am 22. Februar 1993 um vier Uhr morgens kam es in einem Betrieb des Werkes Griesheim aufgrund eines Bedienungsfehlers zu einem plötzlichen Druckanstieg in einem Reaktor. Fast 10 Tonnen eines Chemikaliengemisches, ca. 25 % davon o-Nitroanisol, traten über ein Sicherheitsventil aus und schlugen sich in Form eines klebrigen gelben Niederschlags auf einem 1,2 Kilometer langen und 300 Meter breiten Streifen nieder. Betroffen waren Wohngebiete für rund 1000 Menschen und etwa 100 Kleingärten in den Ortsteilen Schwanheim und Goldstein. Etwa 40 Personen mussten wegen Atembeschwerden, Haut- und Augenreizungen oder Kopfschmerzen ärztlich behandelt werden. In einer wochenlangen Reinigungsaktion mussten 36 Hektar von dem Niederschlag gereinigt und etwa 5000 Kubikmeter Erde entsorgt werden. Das Unternehmen gab später die direkten Kosten für die Beseitigung der Schäden mit 40 Millionen Deutsche Mark an; hinzu kamen die Kosten für die durch den Unfall ausgelöste Überprüfung der Anlagensicherheit in allen Betrieben. Noch gravierender war der Imageschaden für die Hoechst AG. Das Krisenmanagement und besonders die Kommunikationspolitik des Unternehmens stießen in der Öffentlichkeit auf scharfe Kritik, da Hoechst in den ersten Informationen ein Sicherheitsdatenblatt verwendet hatte, in dem die Chemikalie o-Nitroanisol als mindergiftig eingestuft war. Eine neuere, dem Unternehmen bereits vorliegende Studie hatte dagegen zum Ergebnis, dass die Chemikalie in Tierversuchen bei hohen Konzentrationen möglicherweise krebserregend sei. Das städtische Gesundheitsamt gab noch am Tag des Störfalls bekannt, dass aufgrund der geringen Konzentration des Stoffs keine unmittelbare Gesundheitsgefahr von der Chemikalienmischung ausgehe. Die Öffentlichkeit war dadurch jedoch nicht beruhigt, zumal die mit den Aufräumarbeiten beauftragten Arbeiter Schutzanzüge und Atemmasken trugen. Zwei Tage nach dem Unfall kritisierten der hessische Umweltminister Joschka Fischer und in der Folge auch Bundesumweltminister Klaus Töpfer und das Umweltbundesamt die Informationspolitik der Hoechst AG. Erst zehn Tage nach dem Unfall trat der Vorstandsvorsitzende Wolfgang Hilger vor die Öffentlichkeit, bat bei den Bürgern von Schwanheim und Goldstein um Entschuldigung, schloss aber zugleich personelle Konsequenzen aus. In den nächsten Wochen ereigneten sich zwei weitere Unfälle im Werk Höchst: Am 15. März 1993 kam es im Mowiol-Betrieb bei Wartungsarbeiten an einem gekapselten Förderband zu einer Methanol-Verpuffung, bei der ein Mitarbeiter getötet und ein weiterer schwer verletzt wurde. Am 2. April traten aus einem gebrochenen Glasrohr mehrere hundert Kilogramm stark ätzendes Oleum aus, die in einer Wolke Richtung Kelsterbach und Flughafen Frankfurt zogen. Um die Langzeitfolgen des Griesheimer Unfalls zu erforschen, beauftragte das Stadtgesundheitsamt das Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), ein Expositionsregister für die 20.000 Bewohner der beiden betroffenen Stadtteile zu erstellen. Etwa 6600 Bewohner beteiligten sich an der Befragung, deren Daten für 30 Jahre gespeichert bleiben sollten. Das Stadtgesundheitsamt kam zu dem Ergebnis, dass keine Hinweise auf chronische, asthmatische oder neurodermitische Erkrankungen als Folge des Unfalls vorliegen. Gleichwohl beschäftigte die Frage nach weiteren Forschungen und dem Umgang mit den erhobenen Daten noch im März 2007 die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung. Dormann in der Kritik Es wird Dormann vorgeworfen, als damaliges Vorstandsmitglied des drittgrößten Pharmaproduzenten die Forschung soweit reduziert zu haben, dass innerhalb weniger Jahre keine innovativen Hoechst-Medikamente mehr auf den Markt gelangten. Aus einem Pharmaunternehmen mit innovativen Medikamenten aus eigener Grundlagenforschung wurde so bis zur Auflösung der Hoechst AG eine Verkaufsfirma für rein marketingorientierte scheininnovative Präparate. Zudem soll er bei der Ausgliederung den zukünftigen Marktwert vorhandener Hoechst-Präparate falsch eingeschätzt und weit unter Wert verkauft haben sowie im Fall des Blockbusters Ramipril bestehende patentrechtliche Verpflichtungen missachtet haben. Shareholder Value oder Zerschlagung eines Traditionsunternehmens? Bereits kurz nach dem Beginn der Umstrukturierung von Hoechst gab es in der Öffentlichkeit Kritik an der Unternehmensstrategie, weil der Verkauf von Tochtergesellschaften und Unternehmensteilen mit Arbeitsplatzverlusten verbunden war. Von Ausnahmen abgesehen, wie beim Verkauf der Jade-Cosmetic GmbH, erfolgte der Personalabbau im Rahmen einer Betriebsvereinbarung und ohne betriebsbedingte Kündigungen. Die Instrumente der Frühpensionierung und Altersteilzeit galten in den 1990er Jahren noch als sozialverträglich. Hiervon wurde auch die gesamte Zulieferindustrie im Frankfurter Großraum hart getroffen, wie das IWSG der Universität Frankfurt 2001 analysieren konnte. Von Mitarbeitern und Öffentlichkeit wurde die Umstrukturierung oft als Zerschlagung empfunden, zumal die Mitarbeiterzahl im Konzern bis Ende 1998 von ehemals 170.000 auf knapp 100.000 sank. Andererseits fand der aus eigenem Antrieb begonnene Totalumbau eines DAX-Unternehmens auch viele Befürworter. Hoechst war 1994 nach Umsatz das sechstgrößte Unternehmen in Deutschland und eines der ersten, das sich am Konzept des Shareholder Value orientierte. Tatsächlich stieg der Aktienkurs der Hoechst AG bis 1998 zunächst deutlich stärker als bei vergleichbaren Unternehmen, und nach der Fusion mit Rhone-Poulenc erreichte Aventis im Jahr 2000 eine Marktkapitalisierung von 66 Mrd. Euro – doppelt so viel wie Bayer und BASF damals zusammen. Bis heute wird die Entwicklung von Hoechst unterschiedlich beurteilt. Zum 20-jährigen Jubiläum des DAX, aus dem die Hoechst-Aktie Ende 1999 fiel, veröffentlichte die Wirtschaftswoche einen Artikel, in dem die Wertentwicklung aller jemals dem DAX angehörigen Aktien verglichen wurde. Hoechst steht dabei an 10. Stelle mit 879 Prozent. Die Wertentwicklung seit 1988 war damit besser als bei Bayer (604 Prozent), aber schlechter als bei BASF (1309 Prozent). Kritisch urteilte das ehemalige Vorstandsmitglied Karl-Gerhard Seifert, zuletzt für die Geschäftsbereiche Pharma (GB L) und Landwirtschaft (GB C) verantwortlich, in einem 2008 erschienenen Artikel: Eine neutrale wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Umstrukturierung der Hoechst AG ist mittlerweile erschienen. Im Rückblick 150 Jahre nach der Gründung halten sich kritische Stimmen zur Zerschlagung eines deutschen Weltkonzerns. Literatur Ariane Berthoin Antal, Meinolf Dierkes, Camilla Krebsbach-Gnath, Ikujiro Nonaka: The transformation of Hoechst to Aventis. zweiteilige Fallstudie des WZB, European Case Clearing House (PDF; 242 kB) und (PDF; 339 kB), Berlin 2003. Stephan H. Lindner: Hoechst. Ein I.G. Farben Werk im Dritten Reich. C.H.Beck, 2005, ISBN 3-406-52959-3 (Weblink: Rezension von Johannes Bähr in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3, PDF-Datei) Wolfgang Metternich: Chronik der Farbwerke Hoechst – Eine deutsche Unternehmensgeschichte. Karl-Gerhard Seifert: Goodbye Hoechst: Erinnerungen eines Insiders. Von Könnern, Spielern und Scharlatanen. Societäts Verlag, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-95542-321-6. Christoph Wehnelt: Hoechst – Untergang des deutschen Weltkonzerns. Kunstverlag Josef Fink 2009, ISBN 978-3-89870-597-4. Außer den angegebenen Werken wurden für diesen Artikel auch die Geschäftsberichte der Hoechst AG der Jahre 1984 bis 1998 genutzt. Film Günter Ederer: Schocktherapie – Wie die Hoechst-Manager ihren Konzern zerschlagen. Dokumentation, 45 min, Erstausstrahlung: 12. Januar 2000 auf ARD (HR) Weblinks Internetseite der Hoechst GmbH Standortportal und Historie des Industrieparks Höchst Einzelnachweise und Anmerkungen Chemieunternehmen (Deutschland) Pharmazieunternehmen Ehemaliges Chemieunternehmen Ehemaliges Unternehmen (Frankfurt am Main) Produzierendes Unternehmen (Frankfurt am Main) Unternehmen im DAX (ehemalig) Ehemals börsennotiertes Unternehmen (Deutschland) Gegründet 1863 I.G. Farben Sanofi Frankfurt-Höchst Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert Frankfurt am Main im 20. Jahrhundert Ehemalige Aktiengesellschaft in Deutschland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Katta
Katta
Der Katta (Lemur catta) ist eine Primatenart aus der Gruppe der Lemuren (Lemuriformes). Er bewohnt trockene Regionen im südwestlichen Madagaskar. Mit 2,2 bis 3,5 Kilogramm zählt er zu den mittelgroßen Lemuren und ist dank seines quergestreiften Schwanzes unverwechselbar. Obwohl er zu den bekanntesten Vertretern dieser Primatengruppe zählt, zeigt er einige für diese Gruppe untypische Verhaltensweisen. So ist er hauptsächlich tagaktiv und verbringt viel Zeit am Boden. Er lebt in Gruppen von durchschnittlich 13 bis 15 Tieren, die von einem dominanten Weibchen angeführt werden. Der Katta ist ein Allesfresser, der sich jedoch vorwiegend von Früchten ernährt. Auf seiner Heimatinsel stellen die Lebensraumzerstörung und die Bejagung die Hauptbedrohungen für diese Tierart dar. Merkmale eines Kattas Kattas erreichen eine Kopfrumpflänge von 39 bis 46 Zentimetern, der Schwanz ist mit 56 bis 62 Zentimetern deutlich länger als der Rumpf. Das Gewicht variiert zwischen 2,2 und 3,5 Kilogramm. Ein Geschlechtsdimorphismus ist wenig ausgeprägt, die Geschlechter sind gleich gefärbt und annähernd gleich groß. Der Rücken und die Flanken sind graubraun, der Bauch ist weißlich und die Gliedmaßen sind hellgrau. Der lange Schwanz ist mit jeweils 13 bis 15 weißen und schwarzen Streifen geringelt; er spielt eine wichtige Rolle bei der Kommunikation. Die Hand- und Fußballen sind länglich und lederartig und somit an das Klettern in felsigem Terrain angepasst. Die erste Zehe ist im Gegensatz zu nahe verwandten, stärker baumbewohnenden Arten deutlich verkleinert. Die Finger und Zehen enden in Nägeln, lediglich die zweite Zehe trägt, wie bei allen Feuchtnasenaffen, eine Putzkralle. Der Nacken und die Oberseite des Kopfes sind dunkelgrau gefärbt und kontrastieren somit stark zum Gesicht und zur Kehle, die weiß sind. Die Augen sind hellbraun oder orange und weisen, wie bei allen Feuchtnasenaffen, ein Tapetum lucidum (eine lichtreflektierende Schicht) auf. Sie sind von dunkelbraunen oder schwarzen, annähernd dreieckigen Feldern umgeben, deren Spitzen die dunkle Schädelkappe berührt. Die Schnauze ist langgestreckt und dunkel gefärbt, die Ohren sind weiß, aufgerichtet und zugespitzt. Die Zahnformel lautet I2-C1-P3-M3, insgesamt haben Kattas also 36 Zähne. Die oberen Schneidezähne sind klein und stiftförmig, die oberen Eckzähne sind leicht verlängert und durch einen Spalt von den dahinter liegenden Backenzähnen getrennt. Die unteren Schneide- und Eckzähne bilden, wie bei den meisten Feuchtnasenaffen, einen nach vorne ragenden Zahnkamm. Die Molaren weisen jeweils drei Höcker auf. Beide Geschlechter haben Duftdrüsen an den Handgelenken. Bei den Männchen ist diese Region unbehaart, misst bis zu zwei Zentimeter im Durchmesser und ist mit einem hornigen Stachel versehen, während sie bei den Weibchen deutlich kleiner und behaart ist. Die Männchen haben eine weitere Drüse an der Brust, direkt über dem Schlüsselbein nahe der Schulter; bei den Weibchen ist diese Drüse sehr klein oder fehlt. Bei beiden Geschlechtern sind hingegen Perianaldrüsen vorhanden. Die Weibchen haben ein Paar an der Brust gelegene Zitzen. Der Penis der Männchen weist einen Penisknochen auf, auch die Klitoris der Weibchen wird von einer knöchernen Struktur, dem Os clitoridis, gestützt. Diese erreicht 43 % der Länge und 24 % der Höhe des Penisknochens, weswegen weibliche Kattas als „gemäßigt vermännlicht“ (moderately masculinized) bezeichnet werden. Die Gebärmutter ist, wie bei allen Feuchtnasenaffen, zweihörnig. Verbreitung und Lebensraum Kattas sind auf Madagaskar endemisch, wo sie die südwestlichen und südlichen Teile bewohnen. Im Westen liegt die Grenze ihres Verbreitungsgebiets etwa auf Höhe des Flusses Mangoky, im Südosten etwa bei der Stadt Tolagnaro. Im Landesinneren reicht ihr Lebensraum im Nordosten etwa bis zur Stadt Ambalavao, im Bergland von Andringitra gibt es eine isolierte Population, die bis in 2600 Meter Höhe vorkommt. Das Verbreitungsgebiet der Kattas ragt damit weiter in das gebirgige und größtenteils unbewaldete Landesinnere Madagaskars hinein als bei jeder anderen Lemurenart, ihre Verteilung ist jedoch überall bruchstückhaft. In den letzten 50 Jahren hat sich das Verbreitungsgebiet dieser Primatenart nicht stark verändert, es könnte möglicherweise noch größer sein als bisher bekannt. Diese Primaten besiedeln von allen Lemuren die größte Vielfalt von Lebensräumen. Bevorzugt sind sie in Dorn-, trockenen Laub- und Galeriewäldern sowie in buschbestandenen Savannen zu finden, im Bergland leben sie auch in felsigem Terrain über der Baumgrenze. Sie kommen also in den klimatisch außergewöhnlichsten Regionen Madagaskars vor, sowohl in den Trockengebieten Südwest-Madagaskars, wo manchmal nur 30 bis 50 Millimeter Jahresniederschlag fällt, als auch im Gebirge, wo die Temperatur zwischen −7 und +24 °C schwankt. Lebensweise Aktivitätszeiten und Fortbewegung Kattas sind, im Gegensatz zu den meisten anderen Lemuren, vorwiegend tagaktiv. In der Nacht schlafen sie auf Bäumen, die Population im Gebirge auch in Höhlen. Häufig kuscheln sich die Tiere dabei aneinander. Zwischen 5:30 und 8:30 Uhr werden sie aktiv, steigen auf den Boden herab und nehmen zunächst häufig ein Sonnenbad, insbesondere bei kühlerem Wetter. Dabei nehmen sie eine typische, auffällige Sitzhaltung ein: mit aufrechtem Oberkörper, gespreizten Beinen und auf die Oberschenkel gestützten Armen setzen sie ihre Unterseite dem Sonnenlicht aus. Es folgt eine aktive Phase der Fortbewegung und der Nahrungsaufnahme. Um die Mittagszeit halten die Tiere eine Rast, die bei großer Hitze bis zu vier Stunden dauern kann. Nach einer weiteren Aktivitätsphase am Nachmittag suchen sie ungefähr zwischen 18:30 und 19:30 Uhr ihre Schlafplätze auf. Auch in der Nacht sind sie manchmal aktiv und fressen oder pflegen sich das Fell; dabei wechseln sie jedoch nicht den Schlafbaum. Kattas verbringen von allen rezenten Lemuren mit durchschnittlich 30 % die meiste Zeit am Boden – lediglich ausgestorbene Riesenlemuren wie Archaeoindris waren vermutlich dauerhaft bodenbewohnend. Am Boden bewegen sie sich auf allen vieren fort, wobei sie den Schwanz in die Höhe halten; der oberste Teil wird nach hinten gebogen, wodurch er annähernd die Form eines 'S' annimmt. Auch in den Bäumen klettern sie mit allen vier Gliedmaßen und können Distanzen springend zurücklegen. Der lange Schwanz dient ihnen dabei zur Balance. Sozialverhalten und Territorialverhalten Kattas leben in Gruppen von durchschnittlich 13 bis 15 Tieren, die Gruppengröße kann jedoch von sechs bis manchmal über 30 Tiere variieren. Die Gruppen setzen sich aus ungefähr gleich vielen Männchen und Weibchen sowie den Jungtieren zusammen. Die Gruppen zeigen eine deutliche Weibchendominanz und sind matrilinear organisiert – da die weiblichen Tiere fast immer in ihrer Geburtsgruppe verbleiben, bildet eine Familie nahe verwandter Weibchen den Kern einer Gruppe. Angeführt wird sie von einem zentralen Weibchen, das die Bewegungsrichtung bestimmt und auf das sich die sozialen Interaktionen fokussieren. Auch die übrigen Weibchen etablieren eine Rangordnung. Die Ränge sind nicht erblich, und die Mütter unterstützen ihre Töchter nicht bei Kämpfen um einen besseren Platz in der Hierarchie. In größeren Gruppen können sich mehrere weibliche Familienverbände befinden; in diesem Fall interagieren die Weibchen durch räumliche Nähe oder gegenseitige Fellpflege deutlich mehr mit ihren Verwandten, während sie nicht verwandten Weibchen aggressiver begegnen. Ausgewachsene Weibchen sind gegenüber den Männchen der Gruppe fast immer dominant; sie setzen diese Hierarchie auch mit Verfolgungsjagden, Hieben und Bissen durch. Die Männchen müssen im Gegensatz zu den Weibchen ihre Geburtsgruppe verlassen. Sie etablieren ebenfalls eine Rangordnung; wichtigste Methode dabei sind die „Stinkkämpfe“. Dabei tränken sie ihre geringelten Schwänze mit dem Sekret ihrer Armdrüsen und wedeln dann in Richtung ihrer Konkurrenten. Üblicherweise gibt es ein bis drei höher gestellte und mehrere untergeordnete Männchen. Der Rang der Männchen hängt auch vom Alter ab; die höher gestellten Männchen sind meist zwischen sechs und neun Jahre alt, also in der „Blüte ihres Lebens“. Bei den untergeordneten Männchen handelt es sich meist um jüngere oder alte Tiere oder um solche, die eben erst zur Gruppe gestoßen sind. Der Rang der Männchen wird auch bei der Marschordnung sichtbar: die hochrangigsten Weibchen, die Jungtiere und die höher gestellten Männchen befinden sich an der Spitze, während die untergeordneten Männchen hinterher gehen müssen. Beim Zugang zu Nahrungsressourcen kommt ebenfalls die Hierarchie zum Tragen: die niederrangigeren Männchen werden dabei im wahrsten Sinn des Wortes an den Rand gedrängt. Höher gestellte Männchen genießen daher die Vorteile, besseren Zugang zu Nahrungsquellen zu haben, seltener von Räubern angegriffen zu werden und mehr mit den Weibchen zu interagieren, was vor allem in der Paarungszeit von Bedeutung ist. Junge Männchen verlassen ihre Geburtsgruppe mit drei bis fünf Jahren. Dabei schließen sie sich häufig zu zweit oder zu dritt zusammen und versuchen gemeinsam, Anschluss an eine Gruppe zu finden. Es dauert Monate, bis ein Tier zu einer Gruppe zugehörig wird; in dieser Zeit wird es häufig von Männchen und Weibchen verjagt. Junge Männchen wechseln im Schnitt alle 1,4 Jahre die Gruppe, Männchen im besten Alter durchschnittlich nur alle 3,5 Jahre. Sämtliche solche Gruppenwechsel fallen in die Monate Dezember bis Mai, die meisten davon in die Fortpflanzungszeit im April. Wenn eine Gruppe zu groß wird, teilt sie sich auf; dies geschieht bei einer Größe von 15 bis 25 Tieren beziehungsweise 8 bis 10 Weibchen. Dabei vertreiben die Mitglieder der dominanten Weibchenfamilie die übrigen Weibchen, die danach eine eigene Gruppe aufbauen oder sich in seltenen Fällen einer anderen Gruppe anschließen. Solche neugeformten Gruppen haben zunächst wenige Mitglieder, was einen Nachteil darstellt, da sie von größeren Gruppen oft von Futterquellen vertrieben werden. Kattas sind nicht streng territorial, haben jedoch bevorzugte Streifgebiete. Deren Größe variiert nach Lebensraum und Jahreszeit und umfasst meist zwischen 6 und 30 Hektar. In feuchteren Regionen und in der Regenzeit sind die Streifgebiete aufgrund des besseren Nahrungsangebotes kleiner, in trockenen Habitaten und während der Trockenzeit größer. Eine Gruppe legt täglich rund 1000 Meter zurück, sie verwendet den gleichen Teil ihres Streifgebietes für drei oder vier Tage, bevor sie zu einem anderen Teil überwechselt. Die bevorzugten Streifgebiete werden mit Drüsensekreten markiert; die Weibchen verwenden dabei ihre Perianaldrüsen, die Männchen ritzen mit ihren stachligen Handgelenksdrüsen Bäumchen und Äste an und hinterlassen so ihre Duftspuren. Die Territorien mehrerer Gruppen können sich großflächig überlappen. Bei Begegnungen zweier Gruppen übernehmen die Weibchen die Verteidigung. Dabei starren sie sich zunächst intensiv an (s. u. Drohstarren), es kann aber auch zu gegenseitigem Anspringen, zu Schlägen oder Bissen kommen. Manchmal eskalieren diese Treffen und enden mit schweren Verletzungen oder dem Tod eines Tieres. Nach einer Begegnung ziehen sich beide Gruppen meist in die Mitte ihres Streifgebietes zurück. Kommunikation Wie bei allen Feuchtnasenaffen spielt die olfaktorische Kommunikation bei den Kattas eine wichtige Rolle, womit sie beispielsweise andere Gruppen auf das eigene Streifgebiet aufmerksam machen. Da sie im Gegensatz zu vielen anderen Lemuren tagaktiv sind, verständigen sie sich viel mit Körperhaltungen und Gesten. Häufig ist ein fixiertes Drohstarren auf ein anderes Tier zu sehen, was entweder dazu führt, dass das andere Tier den Blick abwendet und so seine Unterordnung eingesteht oder den Blick erwidert und so eine Auseinandersetzung hervorruft. Auch mit dem Zurückziehen der Lippen kann ein Katta seine Unterwerfung ausdrücken. Demonstratives Hüpfen auf den Hinterbeinen um ein Tier herum ist eine aggressive Geste. Wie zuvor erwähnt, dient auch der geringelte Schwanz der visuellen Kommunikation. Gut erforscht sind die lautlichen Kommunikationsformen der Kattas. In einer Studie wurden 28 verschiedene Lautäußerungen erkannt, von denen sechs nur von Jungtieren ausgestoßen werden. Mehrere Laute dienen der Kontaktaufnahme: ein bei geringer Erregung, ein bei mittlerer Erregung und ein bei starker Erregung oder Angst, etwa wenn ein Tier von seiner Gruppe getrennt wird. werden nur von ausgewachsenen Männchen ausgestoßen; sie weisen andere Gruppen auf die eigene Anwesenheit hin und können in bis zu 1000 Meter Entfernung gehört werden. drücken Wohlbefinden aus, etwa bei der gegenseitigen Fellpflege, und sollen die Gruppe zur Fortbewegung animieren und den Zusammenhalt stärken. Ein untergeordnetes Tier stößt gegenüber einem höher gestellten ein aus, ein höherrangiges Tier weist mit einem drohenden niederrangige Tiere auf den eigenen Status hin, intensive Drohungen werden mit einem ausgedrückt und Stinkkämpfe der Männchen von einem begleitet. Es gibt einen , ein , das speziell auf Greifvögel hinweist und ein , das bei räuberischen Säugetieren ausgestoßen wird. Vorsichtige Neugier wird mit ausgedrückt. Jungtiere kennen mehrere Kontaktlaute, neben auch , die großes Unwohlsein ausdrücken und , die auf das unmittelbare Bedürfnis nach mütterlicher Nähe hinweisen. Nahrung Kattas ernähren sich vorwiegend von Früchten, die Zusammensetzung der Nahrung variiert aber je nach Lebensraum und Jahreszeit stark. So nehmen sie auch andere Pflanzenteile wie Blätter, Blüten, Knospen und Borken zu sich, selten jagen sie Kleintiere wie Spinnen, Insekten wie Zikaden und Heuschrecken sowie kleine Wirbeltiere wie Chamäleons und Vögel. In der Regenzeit, die ungefähr von Oktober bis April dauert, sind Früchte und andere Pflanzenteile reichlich verfügbar, das Angebot an Früchten ist von Oktober bis November und von März bis April am höchsten. In der Trockenzeit ist die Nahrungssuche schwieriger, besonders die trockensten Monate Juni und Juli stellen Herausforderungen dar, in denen die Tiere auch auf reife, trockene Blätter zurückgreifen müssen. Eine der wichtigsten Nahrungsquellen stellt der Tamarindenbaum dar, der mancherorts bis zu 50 % der Nahrung der Kattas ausmacht. In trockenen Regionen können sie ihren Wasserbedarf mit sukkulenten Pflanzen wie Aloen oder den eingeführten Opuntien sowie mit Tau, der sich in Spalten sammelt, decken. Fortpflanzung und Entwicklung Die Fortpflanzungszeit der Kattas liegt zwischen Mitte April und Mitte Mai. Davor werden die Kämpfe zwischen den Männchen um einen höheren Platz in der Rangordnung und damit um einen besseren Zugang zu paarungsfähigen Weibchen intensiver. Stinkkämpfe reichen oft nicht aus, es kommt häufig zu aggressiven Auseinandersetzungen. Dabei versuchen die Männchen, auf andere Männchen draufzuspringen und mit den oberen Eckzähnen Verwundungen zuzufügen. Männliche Kattas haben einen Afterhebermuskel, was außergewöhnlich ist. In der Paarungszeit nähern sich die höherrangigen Männchen den Weibchen an; sie halten sich häufig neben ihnen auf und schlafen auch nahe beieinander. Der Sexualzyklus der Weibchen ist synchronisiert und mit 6 bis 24 Stunden Länge sehr kurz. Ist das Weibchen paarungsbereit, präsentiert es dem Männchen sein Hinterteil, hebt den Schwanz und blickt über seine Schulter nach hinten. Nach erfolgter Paarung pflanzt sich das Weibchen auch mit anderen Männchen in absteigender Hierarchie fort; manchmal sucht es sich zudem Paarungspartner von fremden Gruppen, was die Männchen der eigenen Gruppe zu verhindern versuchen. Die Tragzeit beträgt rund 135 Tage und fällt in die Trockenzeit. Die Weibchen müssen darum in der davorliegenden Regenzeit versuchen, sich Fettreserven anzufressen. Die Geburten fallen in den September oder auf Anfang Oktober. Es überwiegen Einlingsgeburten, Zwillinge sind aber relativ häufig, in der freien Natur allerdings seltener als in menschlicher Gefangenschaft. Jungtiere wiegen bei der Geburt rund 70 Gramm. Die ersten beiden Lebenswochen verbringen sie an den Bauch der Mutter geklammert, später reiten sie auf deren Rücken. Vorwiegend die Mutter kümmert sich um die Jungen, aber auch ältere Geschwister oder andere Weibchen können es tragen und sich mit ihm beschäftigen. Mit rund sechs Wochen beginnen die Jungtiere, mit den gleichaltrigen Kindern anderer Mütter zu spielen, mit acht Wochen nehmen sie erstmals feste Nahrung zu sich. Mit rund vier Monaten lässt die Mutter das Junge nicht mehr auf sich reiten, mit fünf Monaten wird es endgültig entwöhnt. Rund 75 bis 80 % aller ausgewachsenen Weibchen bringen einmal im Jahr Nachwuchs zur Welt, diese für Primaten relativ hohe Fruchtbarkeit stellt eine Anpassung an die klimatisch schwierigen Lebensräume der Kattas dar. Rund 50 % aller Jungtiere sterben im ersten Jahr, in sehr trockenen Jahren bis 80 %, und nur rund 30 % aller Tiere erreichen das Erwachsenenalter. Weibchen in menschlicher Obhut können sich mit zwei Jahren fortpflanzen, Männchen und Weibchen in freier Wildbahn werden mit zweieinhalb bis vier Jahren geschlechtsreif. Aufgrund der Hierarchie in den Gruppen dauert es meist einige weitere Jahre, bevor sich Männchen erstmals tatsächlich paaren. In freier Wildbahn werden Weibchen selten älter als 16 Jahre, das höchste bekannte Alter betrug 20 Jahre. Die Lebenserwartung der Männchen ist aufgrund der Gruppenwechsel schwieriger zu ermitteln, kann jedoch bei über 15 Jahren liegen. In menschlicher Obhut werden Kattas älter; hier sind über 30-jährige Tiere bekannt. Fressfeinde und Nahrungskonkurrenten Zu den Fressfeinden der Kattas zählen die Fossa und seltener eingeschleppte Raubtiere wie die Kleine Indische Zibetkatze und die Hauskatze. Jungtiere fallen manchmal Greifvögeln wie der Madagaskarhöhlenweihe und dem Madagaskar-Bussard zum Opfer. Auch Schlangen dürften zu ihren Fressfeinden zählen. Es gibt zudem eine Beobachtung, wonach ein Rotstirnmaki junge Kattas gefressen hat. Eine Reihe von Lemurenarten lebt sympatrisch mit dem Katta in dessen Verbreitungsgebiet, darunter der Larvensifaka und der besagte Rotstirnmaki. Während der Larvensifaka in der Trockenzeit stärker auf Blätter ausweicht und so kein direkter Nahrungskonkurrent ist, überschneidet sich die Ernährung des Kattas deutlich mit der des Rotstirnmakis, so dass es in Zeiten des Nahrungsmangels zu Auseinandersetzungen kommen kann. Daneben gibt es noch andere Lemuren, über deren Nahrungskonkurrenz jedoch nichts bekannt ist; vermutlich weil diese Arten größtenteils nachtaktiv sind. Kattas und Menschen Benennung und kulturelle Bezüge Die madagassischen Namen für dieses Tier lauten Hiva oder Maki. Der wissenschaftliche Gattungsname Lemur wurde ihnen 1758 von Carl von Linné gegeben und spielt auf die großen Augen, lauten Schreie und nachtaktive Lebensweise vieler Lemuren an, in denen er Ähnlichkeiten mit den Lemures, römischen Totengeistern, sah. Der deutsche Name leitet sich ebenso wie das Artepitheton catta von den katzenartigen Rufen dieser Tiere her. Die manchmal verwendete Bezeichnung Katzenmaki wird im Deutschen häufiger für eine andere Lemurengruppe verwendet (siehe Katzenmakis). Der Katta ist die bekannteste Lemurenart, er ist dank seines Ringelschwanzes unverwechselbar und zu einem Symbol seiner Heimatinsel geworden. Bekannt ist seine Rolle in dem Animationsfilm Madagascar sowie in der Komödie Wilde Kreaturen. In Deutschland wird die Art in über 50 Zoos gepflegt. Bedrohung Der Verlust des Lebensraums und die Bejagung stellen die Hauptbedrohungen für den Katta dar. Die in seinem Lebensraum betriebenen Brandrodungen zur Umwandlung in Viehweiden und Baumrodungen zur Holzkohleerzeugung schränken seinen Lebensraum immer weiter ein. Hinzu kommt, dass die Tiere mancherorts gejagt werden, entweder wegen ihres Fleisches oder weil sie zu Heimtieren gemacht werden. Die IUCN schätzt, dass die Gesamtpopulation in den letzten 24 Jahren (drei Generationen) um 20 bis 25 % zurückgegangen ist, sie listet die Art als „stark gefährdet“ (endangered). Weltweit werden über 2400 Individuen in Zoos gehalten (Stand März 2009). Systematik Der Katta wird in die Familie der Gewöhnlichen Makis (Lemuridae) eingeordnet, er ist heute der einzige Vertreter der Gattung Lemur. Zwar zeigen die Kattas im Bau des Skeletts große Ähnlichkeiten mit den Großen Makis (Gattung Eulemur), die erst 1988 als von Lemur eigenständige Gattung etabliert wurde, molekulare Untersuchungen weisen allerdings darauf hin, dass die Schwestergruppe des Kattas die Gattung der Bambuslemuren (Hapalemur) ist. Derzeit werden keine Unterarten anerkannt. Die Population des Andringitra-Berglandes unterscheidet sich von den übrigen, diese Tiere haben ein dunkleres, dichteres Fell und weniger Ringel am Schwanz, es könnte sich dabei um eine noch nicht beschriebene Unterart handeln. Literatur Nick Garbutt: Mammals of Madagascar. A Complete Guide. Yale University Press, New Haven CT u. a. 2007, ISBN 978-0-300-12550-4. Thomas Geissmann: Vergleichende Primatologie. Springer-Verlag, Berlin u. a. 2002, ISBN 3-540-43645-6. Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. 6th edition. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 1999, ISBN 0-8018-5789-9. Einzelnachweise Weblinks K. A. Cawthon Lang: Primate Factsheets: Ring-tailed lemur (Lemur catta) Lemuren Endemisches Säugetier Madagaskars
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https://de.wikipedia.org/wiki/Karneades%20von%20Kyrene
Karneades von Kyrene
Karneades von Kyrene (, latinisiert ; * 214/213 v. Chr. in Kyrene; † 129/128 v. Chr. in Athen) war ein berühmter griechischer Philosoph im Hellenismus. Die früher mitunter genutzte Bezeichnung Karneades der Ältere ist obsolet, da seit 2019 bekannt ist, dass sein mutmaßlicher gleichnamiger Schüler und Nachfolger „Karneades der Jüngere“ nicht existiert hat. Karneades lebte in Athen und war dort Leiter (Scholarch) der Platonischen Akademie. Seine Schüler waren zahlreich, und obwohl er keine Schriften verfasste, prägte seine außerordentliche Autorität den Diskurs in der Akademie bis zu deren Untergang im 1. Jahrhundert v. Chr. Er gehört zu der seit Arkesilaos in der Akademie herrschenden Richtung, die als „jüngere Akademie“ bezeichnet wird. Sie unterscheidet sich von der „älteren Akademie“ durch die Einführung des Skeptizismus, des prinzipiellen Zweifels an der Beweisbarkeit philosophischer Aussagen. Mitunter wird auch zwischen einer mit Arkesilaos beginnenden „mittleren“ und einer von Karneades initiierten „neuen“ oder „dritten“ Akademie unterschieden. Das ist aber kaum sinnvoll, denn Karneades hat keinen Kurswechsel eingeleitet, sondern die von Arkesilaos eingeschlagene Richtung beibehalten. In der Konfrontation mit „dogmatischen“ Lehren baute Karneades das Instrumentarium des Skeptizismus aus und setzte es geschickt zur Widerlegung gegnerischer Behauptungen ein, ohne sich dabei selbst auf eine bestimmte Lehrmeinung festzulegen. Im Vordergrund stand dabei die Auseinandersetzung mit der Stoa, einer rivalisierenden Philosophenschule. Gegenstand der Kontroverse war vor allem die Frage nach Kriterien zur Bestimmung des Wahrheitsgehalts von Aussagen. Karneades bestritt die stichhaltige Begründbarkeit von Wahrheitskriterien. Aufsehen erregte er in Rom, wo er während einer Reise, die er als Gesandter seiner Heimatstadt unternahm, erfolgreich in der Öffentlichkeit für seine Philosophie warb; seine Relativierung herkömmlicher Wertvorstellungen faszinierte die Jugend, stieß aber auch auf entschiedenen Widerstand. Leben Die biographische Hauptquelle ist die wenig ergiebige Lebensbeschreibung des Karneades beim Doxographen Diogenes Laertios, der vor allem Anekdoten wiedergibt. Vereinzelte Angaben bieten die nur fragmentarisch erhaltenen Academica (Academicorum index) des Philodemos. Herkunft und Ausbildung Karneades stammte – wie eine Reihe weiterer bedeutender Gelehrter – aus der Stadt Kyrene im heutigen Libyen. Er wurde 214 oder 213 v. Chr. geboren. Über seinen familiären Hintergrund und seine Jugend ist nichts bekannt. Vermutlich kam er schon früh nach Athen, wo er sich der Akademie anschloss und später das Bürgerrecht erwarb. In Athen studierte er bei Hegesinus von Pergamon, der damals als Scholarch die Akademie leitete. Intensiv setzte sich Karneades mit den Lehren der Stoa auseinander, vor allem mit dem Werk des bereits verstorbenen prominenten Stoikers Chrysippos. Er besuchte auch Lehrveranstaltungen über Dialektik bei Diogenes „dem Babylonier“ (Diogenes von Seleukia), der damals die stoische Schule leitete. Zu einem unbekannten Zeitpunkt vor 155 wurde er als Nachfolger des Hegesinus Scholarch. Gesandtschaftsreise nach Rom Im Jahr 155 schickten die athenischen Behörden die sogenannte „Philosophengesandtschaft“ nach Rom. Dieser Gesandtschaft gehörten die Oberhäupter von drei der vier großen Philosophenschulen der Stadt an: Karneades vertrat die Akademie, Diogenes von Seleukia die Stoa und Kritolaos von Phaselis den Peripatos. Die Entsendung der Philosophen zeigt, dass die Athener auf eine positive Einstellung der römischen Oberschicht zur griechischen Kultur rechnen konnten. Der Anlass war ein Konflikt zwischen Athen und der Stadt Oropos, der dazu geführt hatte, dass die Athener Oropos besetzten und plünderten. Darauf waren sie zu einer hohen Geldbuße von 500 Talenten verurteilt worden. Die Aufgabe der Gesandten war es, einen Erlass oder zumindest eine Reduzierung der Strafe zu erlangen. Zu diesem Zweck erschienen sie vor dem römischen Senat, wo sie ihr Ziel erreichten; die Buße wurde auf 100 Talente herabgesetzt. Die Philosophen hielten aber auch Vorträge in der Stadt, und das öffentliche Auftreten des Karneades erregte großes Aufsehen. Es war der erste Kontakt der römischen Öffentlichkeit mit prominenten Repräsentanten griechischer Philosophie und Redekunst, wobei allerdings zumindest im Senat die Dienste eines Dolmetschers, der ins Lateinische übersetzte, benötigt wurden. Karneades plädierte in Rom, wie es seiner skeptischen Methodik entsprach, nacheinander für zwei entgegengesetzte Überzeugungen, um so deren Subjektivität, Einseitigkeit und Fragwürdigkeit zu verdeutlichen. An einem Tag hielt er eine Rede für die Gerechtigkeit, am folgenden Tag eine Rede gegen sie. Beide Positionen soll er so wirkungsvoll vertreten haben, dass die römische Jugend von der dialektischen Kunst der Argumentation begeistert war. Möglicherweise sind die überlieferten Angaben darüber literarisch ausgeschmückt, doch ist davon auszugehen, dass das Auftreten des Karneades einen wesentlichen Anstoß zur Einbürgerung der Philosophie in Rom gab. Allerdings rief die Gesandtschaft auch heftigen Protest hervor; konservativ-altrömisch gesinnten Kreisen missfiel sowohl der ausländische kulturelle Einfluss als auch die Unterminierung herkömmlicher, traditionell als selbstverständlich akzeptierter Werte wie der Gerechtigkeit durch den Skeptizismus und die Macht der Redekunst. Der Sprecher dieser griechen-, rhetorik- und philosophiefeindlichen Strömung, Cato der Ältere, drängte auf rasche Verabschiedung der Gesandten, da er meinte, ihr Auftreten sei jugendgefährdend. Cicero präsentiert in seiner nur teilweise erhaltenen Schrift De re publica eine Argumentation, die er einem Sprecher in den Mund legt, der angeblich den Ausführungen des Karneades in dessen zweiter Rede über die Gerechtigkeit folgt. Sie enthält unter anderem Bemerkungen, die als heftige Kritik am römischen Imperialismus gedeutet werden können, obwohl der Redner selbst nicht als Kritiker auftritt, sondern den Imperialismus im Rahmen seiner Argumentation gegen die Gerechtigkeitsidee billigt. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Ergänzungen Ciceros; es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich Karneades als Gesandter Athens in Rom derart unvorsichtig äußerte. Leiter der Akademie Als Leiter der Akademie kämpfte der Skeptiker Karneades unablässig gegen die „dogmatischen“ Lehren rivalisierender Philosophenschulen, doch zu manchen ihrer Vertreter hatte er ein gutes, respektvolles Verhältnis. So war er mit dem Epikureer Philonides eng befreundet, und ein anderer Epikureer, Zenon von Sidon, gehörte zu seinen Hörern und Bewunderern. Seiner Auseinandersetzung mit der Lehre des Stoikers Chrysippos verdankte er so wichtige Anstöße, dass er oft zu bemerken pflegte: „Wenn es Chrysippos nicht gäbe, gäbe es auch mich nicht.“ Trotz der seit Platons Zeiten traditionell rhetorikfeindlichen Haltung der Akademie besuchten auch Rhetoriker seine Vorträge, denn seine rednerische Begabung beeindruckte die Zeitgenossen tief. Er war ein gefürchteter Debattierer; einer seiner philosophischen Hauptgegner, Antipatros von Tarsos, der Nachfolger des Diogenes von Seleukia als Scholarch der Stoa, ließ sich nicht auf eine mündliche Auseinandersetzung mit ihm ein, sondern antwortete nur schriftlich auf seine Argumente. Legendär war sein Arbeitseifer, der ihn veranlasste, alle Einladungen zu Gastmählern abzulehnen. Er blieb unverheiratet und soll sich mit solcher Ausschließlichkeit den philosophischen Studien gewidmet haben, dass er sein Äußeres vernachlässigte: Haare und Fingernägel ließ er angeblich unbekümmert wachsen. Sein Aussehen ist aus mehreren Porträtbüsten und einem Relief bekannt. Dabei handelt es sich um Kopien, die auf ein Original zurückgehen dürften, das wohl erst nach dem Tod des Philosophen im späten 2. Jahrhundert v. Chr. angefertigt wurde. Das Original war vermutlich ein Karneades-Denkmal, das Cicero bei seinem Aufenthalt in Athen noch dort vorfand. Das Denkmal ist vermutlich mit einer bronzenen Sitzstatue zu identifizieren, deren Basis 1880 ausgegraben wurde. Sie war auf der Agora aufgestellt, was eine hohe Ehrung bedeutete; anscheinend war Karneades der einzige Philosoph, der jemals dort mit einer Statue geehrt wurde. Die Basis trägt eine Inschrift, die ein athenisches Brüderpaar, Attalos und Ariarathes, als Stifter nennt. Diese ansonsten unbekannten Personen wurden in der älteren Forschung irrtümlich mit den Königen Attalos II. von Pergamon und Ariarathes V. von Kappadokien gleichgesetzt. Karneades amtierte als Scholarch, bis er die Leitung der Schule 137/136 aus Gesundheitsgründen – angeblich war er erblindet – abgeben musste. Wahrscheinlich behielt er dank seiner Autorität weiterhin bis zu seinem Tod (129/128) einen maßgeblichen Einfluss in der Akademie. Einer Anekdote zufolge erwog er, als er schwer erkrankt war, sich nach dem Vorbild seines philosophischen Gegners Antipatros von Tarsos das Leben zu nehmen, schreckte aber davor zurück. Philosophie Quellen Karneades verfasste keine philosophischen Werke, sondern äußerte sich nur mündlich. Eine Sammlung von Briefen an König Ariarathes V. von Kappadokien, von der nichts erhalten geblieben ist, war nach dem Bericht des Diogenes Laertios seine einzige schriftliche Hinterlassenschaft. Daher war die antike Nachwelt auf subjektiv gefärbte Aufzeichnungen seiner Schüler, die seine Aussagen unterschiedlich interpretierten, und auf gegnerisches Schrifttum aus der Epoche der Jüngeren Akademie angewiesen. Diese Werke sind ebenfalls bis auf Zitate und Zusammenfassungen in jüngerer Literatur verloren. Der modernen Forschung stehen daher für den Versuch, die Philosophie des Karneades zu rekonstruieren, nur spätere Schriften zur Verfügung, deren Verfasser ihn nicht persönlich gekannt haben. Die Hauptquelle ist Cicero, der sich selbst zum akademischen Skeptizismus bekannte. In mehreren seiner philosophischen Werke setzt sich Cicero eingehend mit den Auffassungen des Karneades auseinander; allerdings sind seine einschlägigen Ausführungen nur teilweise erhalten geblieben. Sextus Empiricus, ein Vertreter des außerakademischen Skeptizismus („pyrrhonische Skepsis“), liefert ebenfalls wertvolle Informationen, doch ist seine Darstellung (bzw. die der von ihm verwendeten älteren, heute verlorenen Literatur) nicht frei von Missdeutung. Die Hauptschwierigkeit bei der Auswertung der Quellen besteht darin, dass sie zwar gelegentlich Karneades namentlich nennen, aber meist allgemein den akademischen Skeptizismus behandeln, ohne dabei zwischen den Ansichten der einzelnen Skeptiker zu unterscheiden. Auch wo Namen genannt werden, ist die Abgrenzung der zugehörigen Textteile oft unklar. Die Zuordnung bestimmter Äußerungen zu den dafür in Betracht kommenden Philosophen ist daher teilweise hypothetisch. Grundlagen der skeptischen Erkenntniskritik Unter der Leitung des Arkesilaos, der von 268/264 bis 241/240 Scholarch war, hatte die Akademie eine radikale Wendung zum Skeptizismus vollzogen. Darin sahen die akademischen Skeptiker aber keine Abkehr von Sokrates und Platon, sondern nur die konsequente Fortsetzung einer Denktradition, deren Prinzipien bereits in Platons aporetischen Dialogen angelegt waren. Unter Aporie – wörtlich „Ausweglosigkeit“ – verstand man die Ratlosigkeit, die sich einstellt, wenn alle Bemühungen, eine philosophische Frage zu klären, statt zu gesichertem Wissen nur zu Mutmaßungen geführt haben. Wenn solche Erfahrungen verallgemeinert werden, führen sie zu einem prinzipiellen Skeptizismus. Der akademische Skeptizismus entwickelte sich aus der Konfrontation mit dem Wissensbegriff und dem Erkenntnismodell der Stoa. Nach der stoischen Lehre geht alles Wissen auf Vorstellungen (phantasíai) zurück, die von Eindrücken aus der Außenwelt herrühren. Eine Vorstellung ist richtig, wenn sie von etwas ausgegangen ist, was real existiert, und wenn sie diese Realität getreu wiedergibt. Wenn eine Vorstellung auftaucht, entscheidet die Person, ob sie der Vorstellung ihre Zustimmung (synkatáthesis) gibt oder verweigert. Ein „Erfassen“ (katálēpsis) liegt vor, wenn man einer richtigen Vorstellung zustimmt und daher einen Sachverhalt korrekt erfasst. Dazu sind sowohl Weise als auch gewöhnliche Menschen in der Lage. Das Merkmal des Weisen ist, dass er nur richtigen Vorstellungen zustimmt und die einzelnen Erfassungen überdies sinnvoll zu einem philosophischen System zusammenfügen kann, womit er wirkliches Wissen (epistḗmē) erlangt. Eine richtige Vorstellung, die eine untrügliche Erfassung der Wirklichkeit ermöglicht, wird „erfassungsvermittelnde Vorstellung“ (katalēptikḗ phantasía) genannt. Sie ist an ihrer Klarheit und Unzweideutigkeit zu erkennen, an der unbestreitbaren Evidenz (enárgeia), mit der sie sich unmittelbar einleuchtend aufdrängt. Da bei dieser absolut zuverlässigen Wahrheitserkenntnis jede Irrtumsmöglichkeit ausgeschlossen sein muss, wird eine richtige, wahrheitsgemäße Vorstellung definiert als eine, die so beschaffen ist, dass es keine falsche geben kann, die ihr so ähnlich ist, dass sie mit ihr verwechselt werden kann. Nichts anderes als der tatsächliche Sachverhalt kann eine solche Vorstellung erzeugen. Erfüllt eine Vorstellung diese Voraussetzung nicht, so kann sie nicht zu Wissen führen, sondern nur zu einer philosophisch wertlosen Meinung. Die Zustimmung zu solchen Meinungen ist grundsätzlich zu unterlassen. Der akademische Skeptizismus übernimmt diese Terminologie und das Wahrheitskriterium der Stoa, um zu zeigen, dass alle solchen Versuche, zur Wahrheit vorzudringen, zum Scheitern verurteilt seien. Die Kernthese des Skeptizismus besagt, dass es keine einzige nachweislich zuverlässige Vorstellung gebe. Daher sei jeder Wahrheitsanspruch, der für eine Aussage erhoben wird, als unbegründet zurückzuweisen. Es gebe nur unterschiedliche Meinungen, die unzulänglich begründet und daher alle gleichermaßen philosophisch unbrauchbar seien. Daraus ergebe sich für einen Philosophen die Verpflichtung, sich aller Urteile zu enthalten. Niemals dürfe er sich eine bestimmte Meinung zu eigen machen, denn wer einer unsicheren Annahme zustimme, behandle sie unzulässigerweise wie eine gesicherte Erkenntnis. Die Aufgabe des skeptischen Philosophen sei es vielmehr, das Scheinwissen der „Dogmatiker“ zu entlarven und ihre Behauptungen zu widerlegen. Dabei stelle er keine eigenen (objektsprachlichen) Behauptungen über wirkliche Sachverhalte auf, für die er einen Wahrheitsbeweis antreten müsste, sondern nur metasprachliche Behauptungen über Aussagen der Gegner. Karneades’ Ausarbeitung der Erkenntniskritik Wie schon bei Arkesilaos lautet auch bei Karneades der Haupteinwand gegen die stoische Erkenntnislehre, es sei in keinem einzigen Fall möglich, den Nachweis zu erbringen, dass eine Vorstellung das stoische Wahrheitskriterium erfülle, denn es sei kein Merkmal einer richtigen Vorstellung bekannt, das nicht auch bei einer trügerischen vorkommen könne. Karneades verfeinert die Argumentation des Arkesilaos, baut sie aus und illustriert sie mit zusätzlichen Beispielen. Dabei berücksichtigt er die Gegenargumente des Stoikers Chrysippos. Er beginnt mit den Vorstellungen im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und bestreitet, dass es ein brauchbares Kriterium für deren Zuverlässigkeit gibt. Dann geht er zum Denken über und weist darauf hin, dass das Denkvermögen nur dasjenige beurteilen könne, was ihm vom Wahrnehmungsvermögen dargeboten wird. Daher müsse es ebenso irrtumsanfällig sein wie seine Basis in der Sinneswahrnehmung. Er argumentiert, eine falsche Vorstellung erscheine dem Individuum in gleichem Maße einleuchtend und wirke ebenso zum Handeln anspornend wie eine richtige. Was die gleichen Reaktionen auslöse, sei nicht unterscheidbar, denn eine Sinneswahrnehmung sei nur durch die Art ihrer Einwirkung auf den Wahrnehmenden für ihn relevant. Außerdem seien Vorstellungen, die sinnlich wahrnehmbare Sachverhalte wiedergeben, vom jeweiligen Zeitpunkt der Wahrnehmung bestimmt. Daher seien sie von den unablässigen Veränderungen der Objekte mitbetroffen, beispielsweise hinsichtlich des Aussehens, das ständigem Wandel unterworfen sei. Hierzu verweist Karneades auf Veränderungen der Farbe, der Größe, der äußeren Form und der Bewegung, die ein Objekt zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aussehen lassen. Je nach der Beobachterperspektive erzeuge ein Objekt ganz unterschiedliche Eindrücke. Somit seien die Eigenschaften des Objekts nicht mit Sicherheit zu erfassen. Selbsteinschluss Die skeptische Erkenntniskritik war dem Einwand ausgesetzt, es liege ein Selbstwiderspruch vor, denn die Aussage, gesichertes Wissen sei unerreichbar, sei selbst eine aus skeptischer Sicht unzulässige Tatsachenbehauptung. Als konsequenter Skeptiker berücksichtigte Karneades diesen Einwand, indem er ausdrücklich den Selbsteinschluss bejahte, also auch seine eigenen Prämissen dem Vorbehalt unterwarf, dass nichts mit Sicherheit erkannt werde. Zu diesen Prämissen gehört beispielsweise die Annahme, dass es objektiv Wahres und Unwahres gibt, wodurch die Bezeichnung einer Aussage als „richtig“ oder „falsch“ einen Sinn erhält. Die Einbeziehung der eigenen Prämissen und Aussagen in den skeptischen Zweifel führt zur Frage, inwieweit Karneades seine Position ernst nehmen konnte, wenn er sie letztlich auch nur als eine der unbewiesenen Meinungen betrachtete. In letzter Konsequenz müsste der Skeptizismus dazu führen, die eigenen Aussagen des Skeptikers nicht als echte Behauptungen aufzufassen, sondern als nur zum Zweck der Argumentation diskutierte Hypothesen. Dann besteht der einzige Zweck dieser Aussagen darin, dem Gegner die Widersprüchlichkeit und Unzulänglichkeit seines Systems aufzuzeigen, indem man im Rahmen der Prämissen dieses Systems argumentiert, ohne sie wirklich zu akzeptieren. Ob Karneades in diesem Sinn seine Position nicht wirklich, sondern nur fiktiv eingenommen hat, war schon seinen Zeitgenossen unklar und ist auch in der modernen Forschung umstritten. Unterstellt man ihm diese Haltung, so erscheint seine Philosophie zwar konsequent, erschöpft sich aber im rein Oppositionellen und Destruktiven. Nimmt man an, dass er seine Prämissen für richtig hielt, so erhält seine Philosophie einen eigenen Gehalt, setzt sich aber dem Vorwurf der Inkonsequenz aus. Eine mögliche Lösung ist der Fallibilismus, eine Position, die Meinungen zulässt unter der Bedingung, dass man deren Irrtumsanfälligkeit stets im Auge behält. Der Fallibilismus ist mit dem Selbsteinschluss des Skeptizismus gut vereinbar, da ein Fallibilist auch die Annahme, nichts werde mit Sicherheit erkannt, als eine solche irrtumsanfällige Meinung vertreten kann. Es ist versucht worden, Karneades in diesem Sinne als Fallibilisten zu deuten. Dies läuft allerdings darauf hinaus, ihm eine Rehabilitierung des Akzeptierens unbewiesener Meinungen zu unterstellen, womit wiederum ein Selbstwiderspruch droht. Plausibilität und Handlungsmodell Einwände gegen den Skeptizismus Ein gewichtiger Einwand der antiken „Dogmatiker“ gegen den Skeptizismus lautete, wenn alle Meinungen gleichermaßen wertlos seien, könne es kein Kriterium für Entscheidungen mehr geben. Nach einem solchen Prinzip könne aber niemand leben, denn auch Skeptiker seien ständig gezwungen, zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu wählen, was faktisch auf eine Zustimmung zu Meinungen hinauslaufe. Daraus ergebe sich ein fundamentaler Gegensatz zwischen skeptischer Philosophie und Lebenspraxis. Konsequent umgesetzt führe die skeptische Erkenntniskritik zur apraxía („Untätigkeit“). Aus gegnerischer Sicht verfehlte damit der Skeptizismus das eigentliche Ziel der Philosophie, dem Menschen nachvollziehbar begründete Kriterien einer vernunftgemäßen Lebensführung zu vermitteln. Überdies wurde argumentiert, schon die Bildung von Allgemeinbegriffen setze Zustimmung zu erfassten Sachverhalten voraus. Modell der abgestuften Glaubwürdigkeit Als Antwort auf die Vorwürfe der Kritiker entwickelte Karneades eine Handlungstheorie, in welcher der Begriff des Plausiblen, Glaubwürdigen oder Wahrscheinlichen eine zentrale Rolle spielt. Zwar hält Karneades alles für „unerfassbar“ im Sinne des stoischen Erfassensbegriffs, aber im Unterschied zu den früheren akademischen Skeptikern unterscheidet er zwischen Unerfassbarem und Unklarem. Etwas Unerfassbares sei nicht notwendigerweise unklar, und es sei abwegig, alles im gleichen Grad für unsicher zu halten. Vorstellungen sind für Karneades in Bezug auf das vorgestellte Objekt wahr oder falsch, in Bezug auf den Vorstellenden aber erscheinen sie mehr oder minder deutlich als „glaubhaft“. Der Fachbegriff pithanón („glaubhaft“) wird auch mit „überzeugend“ oder „vertrauenerweckend“ übersetzt, sehr oft mit „wahrscheinlich“. Ob der Begriff des Wahrscheinlichen, der damals (im modernen Sinn) noch nicht existierte, das Gemeinte angemessen wiedergibt, ist in der Forschung umstritten. Glaubhaft ist etwas, was sich plausibel als wahr darbietet, aber auch falsch sein kann. Mit der Abstufung der Glaubhaftigkeit führt Karneades einen gegenüber dem älteren Skeptizismus neuen Gedanken ein; die beiden Möglichkeiten „wahr“ und „falsch“ haben nicht wegen des Mangels an Unterscheidungskriterien gleiches Gewicht, sondern eine Abwägung ist zulässig. Die Abwägung ergibt, dass manche Annahmen mehr Vertrauen verdienen als andere. Bei Vorstellungen, die in besonders hohem Maße „wahr scheinen“, darf man darauf vertrauen, dass sie sich nur in seltenen Ausnahmefällen als falsch erweisen. An ihnen kann man Entscheidungen und Handlungen ausrichten, indem man sich an das hält, was meistens eintritt. Karneades geht somit auch von einer Wahrscheinlichkeit im „statistischen“ Sinne aus. Ob man seine Position als Probabilismus (auf Wahrscheinlichkeitsannahmen fußende Philosophie) bezeichnen kann, ist allerdings umstritten, da die Meinungen darüber, inwieweit Karneades’ Glaubwürdigkeitsbegriff im Sinne von Wahrscheinlichkeit zu deuten ist, auseinandergehen. Außerdem versteht man unter Probabilismus eine bestimmte Lehrmeinung und somit etwas „Dogmatisches“; daher ist die Vereinbarkeit einer solchen Position mit einer konsequent skeptischen Haltung zweifelhaft. Kriterien für die Glaubwürdigkeit einer Vorstellung sind, dass sie nicht im Widerspruch zu anderen plausiblen Vorstellungen steht und dass sie gründlich überprüft worden ist. Sind beide Bedingungen erfüllt, so liegt der höchste Wahrscheinlichkeitsgrad vor. Zu überprüfen sind etwa bei einem sichtbaren Objekt das Wahrnehmungsvermögen des Untersuchenden, die Wahrnehmbarkeit des Objekts (das beispielsweise nicht zu klein sein darf) und die Umstände der Wahrnehmung (wie etwa die Klarheit der Luft, der Abstand, gegebenenfalls die Geschwindigkeit des Objekts). Die anderen plausiblen Vorstellungen, denen die zu überprüfende Vorstellung nicht widersprechen darf, sind in der Erinnerung gespeichert. Wenn beispielsweise eine Person auftaucht, von der bekannt ist, dass sie bereits verstorben ist oder dass sie sich anderswo aufhält, so hat man davon auszugehen, dass es sich um ein Trugbild handelt. Widerspricht eine Vorstellung keiner anderen plausiblen Vorstellung, so gilt sie als „unbehindert“ oder „nicht (durch Widerspruch) gestört“ (ἀπερίσπαστος aperíspastos). Die Abstufung der Plausibilität bedeutet nicht, dass man sich mit der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer philosophisch feststellbaren Wahrheit annähert. Die Abwägung der Glaubwürdigkeit dient vielmehr ausschließlich dem Zweck, einen Orientierungsrahmen für die Praxis der Lebensführung zu etablieren. Angewendet wurde das Wahrscheinlichkeitsmodell in erster Linie auf einfache, für praktische Entscheidungen relevante Fragen aus dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung. Für komplexe Probleme abstrakter Art und philosophische Lehrmeinungen konnte es im Rahmen einer skeptischen Weltanschauung nicht in Betracht kommen, da die Glaubwürdigkeitskriterien dort nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Reaktionen auf das Glaubwürdigkeitskonzept Das Glaubwürdigkeitskonzept des Karneades erscheint gegenüber der Auffassung der früheren akademischen Skeptiker um Arkesilaos und der radikalen „pyrrhonischen“ Skeptiker als eine abgemilderte Variante des Skeptizismus. Diese Position war sowohl dogmatischer als auch radikal skeptischer Kritik ausgesetzt. Vor allem wurde sie als inkonsequent angegriffen. Der Haupteinwand lautete, dass der Sinn von Aussagen über Glaubwürdigkeit oder Wahrscheinlichkeit darin bestehe, das Verhältnis dieser Aussagen zur Wahrheit zu bestimmen. Wer aber die Wahrheit für unerfassbar erkläre, dem fehle auch jedes Kriterium für Aussagen darüber, wie ähnlich etwas der Wahrheit sei oder wie weit es vermutlich von ihr entfernt sei. Weiterhin wurde eingewendet, das Akzeptieren unterschiedlicher, teils hoher Wahrscheinlichkeitsgrade laufe auf die verpönte Zustimmung zu bloßen Meinungen hinaus. Karneades’ Antworten auf diese Einwände sind nicht im Detail zuverlässig überliefert. Offenbar unterschied er zwischen unzulässigem Zustimmen in der Theorie und akzeptablem pragmatischem Befolgen in der Praxis (ohne Stellungnahme zum Wahrheitsgehalt). Die Angaben in den Quellen spiegeln die unterschiedlichen Interpretationen seiner Philosophie durch seine Schüler, die teils radikale, teils gemäßigte Skeptiker waren. Radikale wie Kleitomachos behaupteten, Karneades habe sich konsequent jeder Zustimmung und damit auch jeder Meinung enthalten. Kleitomachos formulierte dies drastisch: Karneades habe die Zustimmung zu Meinungen im menschlichen Geist „wie ein wildes, schreckliches Tier“ ausgerottet, und dies sei eine mit den Heldentaten des Herakles vergleichbare Leistung. Gemäßigte hielten dem entgegen, er habe in manchen Fällen gebilligt, dass man aus einer plausiblen Vorstellung eine Meinung ableitet und sich diese dann zu eigen macht. Auseinandersetzungen und ihre Methoden Beide Seiten vertreten In erster Linie befasste sich Karneades mit der kritischen Untersuchung von Lehrmeinungen „dogmatischer“ Philosophen. Gern führte er absurde Konsequenzen der gegnerischen Positionen an. Teils ging er in herkömmlicher Weise vor, indem er Schwächen und Widersprüche aufzuzeigen versuchte, teils wendete er eine von ihm perfektionierte Methode an, die unter der lateinischen Bezeichnung in utramque partem dicere („für beide Seiten plädieren“) bekannt ist. Sie besteht darin, dass man die Argumente für verschiedene einander ausschließende Meinungen zusammenstellt und damit nacheinander für die gegensätzlichen Standpunkte plädiert. Auf diesem Weg soll demonstriert werden, dass keine Position eindeutig überlegen ist und dass es gewichtige Einwände gegen alle Lehrmeinungen gibt. Damit gelangt man, wie es der skeptischen Auffassung entspricht, zum Ergebnis, dass die Frage trotz aller Bemühungen letztlich offenbleiben muss. Die Argumente, die Karneades im Rahmen solcher Untersuchungen vortrug, wirkten mitunter so überzeugend, dass der Eindruck entstand, er bevorzuge eine der Meinungen. Dieser Eindruck war jedoch trügerisch, denn er legte sich getreu seiner Überzeugung nie fest. Daher bemerkte Kleitomachos, sein prominentester Schüler, er habe nie herausfinden können, was Karneades’ eigene Ansicht war. Divisio Carneadea Eine weitere Methode ist die von Cicero so bezeichnete Divisio Carneadea („Klassifizierung nach Karneades“). Sie besteht in der Sammlung und Klassifizierung nicht nur aller bisher geäußerten, sondern auch aller überhaupt möglichen Lösungsvorschläge zu einem Problem. Cicero veranschaulicht dies am Beispiel der Güterlehre. Die einzelnen Künste bzw. Techniken wie beispielsweise die Medizin (Heilkunst) oder die Navigation (Steuermannskunst) haben Bezugspunkte, um derentwillen sie studiert und praktiziert werden (Gesundheit bzw. sichere Seefahrt). Die Vernunft ist die „Kunst“, deren Bezugspunkt „das Leben“ ist, das heißt nach hellenistischem Verständnis das richtige Leben, die Eudaimonie (Glückseligkeit, glückliches Leben, lateinisch vita beata). Das Wesen der Eudaimonie und damit der Weg zu ihr ist aber unter den Philosophen umstritten. Hier ergibt sich zunächst eine Einteilung der Güterlehren nach den unterschiedlichen Auffassungen über das Wesen der Eudaimonie. Manche suchen die Eudaimonie im Erleben der Lust, andere im Zustand der Schmerzlosigkeit, wiederum andere in der Verwirklichung des Naturgemäßen. Ein weiteres Einteilungsprinzip, das mit dem ersten kombiniert wird, ist die Unterscheidung nach der Art des angestrebten Ziels. Entweder ist das Ziel etwas Erstrebtes (beispielsweise Lust), dessen Erlangung die Eudaimonie herbeiführen soll, oder das Streben enthält selbst zugleich das Ziel in sich, so dass die Eudaimonie auch dann verwirklicht wird, wenn ein abschließender Erfolg ausbleibt. Beispielsweise betrachten die Stoiker das Streben nach dem Naturgemäßen als Ziel in sich. Die Kombination beider Einteilungen ergibt sechs mögliche Eudaimonielehren. Zusätzliche Möglichkeiten ergeben sich, wenn die Tugend als etwas Angestrebtes einbezogen wird. Die Mannigfaltigkeit der zusammengestellten Möglichkeiten soll zur Relativierung aller Lehren führen und damit zur Einsicht, dass keine von ihnen Allgemeingültigkeit beanspruchen darf. Kritik an willkürlichen Annahmen In seiner Argumentation gegen verbreitete, herkömmliche Lehren versucht Karneades insbesondere zu zeigen, dass zentrale Konzepte dieser Traditionen keinen klar und stimmig definierbaren Inhalt haben. So greift er in der Gerechtigkeitsdebatte die Naturrechtsidee an, indem er bestreitet, dass es brauchbare Definitionsmerkmale für ein überpositives Recht gibt. Die Rechtssatzungen der Völker sind unterschiedlich und zum Teil gegensätzlich und überdies Veränderungen unterworfen; es gibt kein Kriterium, nach dem man einzelnen Bestimmungen einen Absolutheitsrang zuweisen könnte. Auf ähnliche Weise geht er gegen die unterschiedlichen theologischen Konzepte vor, indem er deren Gottes- bzw. Göttervorstellungen angreift und auf Widersprüche und mangelnde Konsequenz in den Beschreibungen und Definitionen der Gottheit hinweist. So wendet er sich beispielsweise gegen die Verbindung von Theologie und Tugendlehre. Er argumentiert, wenn Gott glücklich sei und Glück ohne Tugend undenkbar sei, müsse Gott über alle Tugenden verfügen. Dies könne aber nicht der Fall sein, da manche Tugenden einen Mangel voraussetzen, in dessen Meisterung sie bestehen. So könne Gott nicht tapfer sein, denn sonst gäbe es etwas, was ihn in Furcht versetzen kann, und er könne auch nicht standhaft sein, da Standhaftigkeit voraussetzt, dass man sich um etwas bemühen muss. Ferner kritisiert Karneades willkürliche Aspekte der Götterverehrung, die sich bei der Auswahl der zu verehrenden Götter zeigen. Eine bei Karneades beliebte Argumentationsmethode ist der Haufenschluss (griechisch sōreítēs, latinisiert sorites). Er greift die Terminologie der Gegner an, indem er zu zeigen versucht, dass ihre Begriffe nicht sinnvoll und sauber abgrenzbar seien, da bei gleitenden Übergängen jede Abgrenzung willkürlich sei und einer überzeugenden Begründung entbehre. Auch sei die Abgrenzung des Geltungsbereichs ihrer Aussagen willkürlich. Beispielsweise werde eine natürliche Gerechtigkeit (Naturrecht) als verbindliche Norm angenommen, der zufolge jeder das bekommen soll, was ihm zusteht (suum cuique). Dabei sei jedoch unklar, ob mit „jeder“ auch Tiere gemeint sind, ob sich also die Gerechtigkeit auch auf den Umgang mit der Tierwelt zu erstrecken hat. Darüber seien die Philosophen uneinig. Damit nimmt Karneades auf die Überzeugung der Stoiker Bezug, dass es keinerlei Pflichten des Menschen gegenüber den Tieren gebe; er verweist darauf, dass Pythagoras und Empedokles die entgegengesetzte Auffassung vertraten. Determinismus und Willensfreiheit Zu den Lehren, die Karneades bekämpft, gehören auch der Determinismus, das Postulat einer göttlichen Vorsehung und die Annahme der Vorhersagbarkeit der Ereignisse im menschlichen Leben. Dabei argumentiert er insbesondere, ein deterministisches Modell könne nur dann einleuchtend begründbar sein, wenn seine Vertreter die Unmöglichkeit spontaner Willensregungen aufzeigen könnten, wozu sie jedoch nicht in der Lage seien. Argumente gegen die Willensfreiheit schreiben ihm die Quellen nicht zu, sondern nur gegen deren Begründung bei den Epikureern. Das Fehlen entsprechender Berichte gestattet aber nicht die Folgerung, er sei diesbezüglich von der Urteilsenthaltung abgewichen und habe die Lehrmeinung vertreten, es gebe tatsächlich einen freien Willen. Rezeption Schüler und Nachfolger Die auf Karneades folgenden Scholarchen, Polemarchos von Nikomedien († 131/130) und dessen Nachfolger Krates von Tarsos († 127/126), waren anscheinend relativ farblose Persönlichkeiten. Als Schüler des Karneades setzten sie nach seinem Rücktritt seine Tradition fort, wobei er wohl weiterhin Einfluss nahm. Sein prominentester Schüler Kleitomachos hielt sich in dieser Übergangszeit zunächst der Akademie fern. Erst nach dem Tod des älteren Karneades kehrte er 129/128 zurück; 127/126 übernahm er das Amt des Scholarchen. Die zahlreichen Schüler des Karneades beriefen sich nach seinem Tod auf seine Autorität. Die prominenteren unter ihnen traten als Hüter seines geistigen Erbes auf, welches sie jedoch unterschiedlich interpretierten. Manche, von denen Kleitomachos der bekannteste war, traten für eine radikale Variante des Skeptizismus ein, andere, wie Metrodoros von Stratonikeia, profilierten sich als Vertreter relativ gemäßigter Positionen. Von den über 40 Schülern sind meist nur die Namen und Herkunftsorte überliefert. Aus ihrer Aufzählung lässt sich ersehen, wie attraktiv die von Karneades geleitete Akademie in der gesamten griechischsprachigen Welt als Ausbildungsstätte war. Zu den etwas bekannteren Namen gehören: Charmadas, der nach Karneades’ Tod zeitweilig zu den führenden Akademikern zählte, Hagnon von Tarsos, der Tragödiendichter Melanthios von Rhodos, Aischines von Neapolis und Metrodoros von Skepsis. Auch von ihnen berichten die Quellen allerdings nur wenig. Ein römischer Hörer des Karneades war Quintus Caecilius Metellus Numidicus, der im Jahr 109 v. Chr. Konsul wurde. Nachwirkung nach dem Untergang der Akademie Mit dem Untergang der „jüngeren Akademie“ in den Wirren des Ersten Mithridatischen Krieges endete in den achtziger Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. die Lehrtradition des Karneades. Er blieb aber als scharfsinniger Denker und gewandter Redner in der Erinnerung der Nachwelt, vor allem dank Cicero, der ihn überschwänglich lobte und verschiedentlich auf seine Äußerungen Bezug nahm. Valerius Maximus überliefert eine Anekdote, in der Karneades als geistesabwesender Gelehrter erscheint, der das Essen vergessen hätte, wenn sich nicht seine Haushälterin Melissa um seine Ernährung gekümmert hätte. Da die Mittelplatoniker den Skeptizismus als Irrweg betrachteten, wurde in ihren Kreisen ein negatives Bild von Karneades geformt. Numenios, ein prominenter Mittelplatoniker des 2. Jahrhunderts n. Chr., beschimpfte ihn in seiner Abhandlung „Über die Abwendung der Akademiker von Platon“ als Piraten und Schwindler, der sein Publikum dank seiner rhetorischen Überlegenheit verführt habe. Außerdem behauptete Numenios, Karneades habe die Wahrheit, die ihm bekannt gewesen sei, vorsätzlich verhüllt. Diese Legende kannte auch der Kirchenvater Augustinus, der den Skeptizismus bekämpfte. Er glaubte, Karneades habe ebenso wie die anderen akademischen Skeptiker eine dogmatische Geheimlehre vertreten, die er vor der Öffentlichkeit verborgen habe. Mittelalter und Frühe Neuzeit Als im 13. Jahrhundert ein neues Interesse einer breiteren Öffentlichkeit an antiker Philosophie erwachte, rückte auch Karneades wieder ins Blickfeld. Besondere Aufmerksamkeit richtete sich damals auf erbauliche und unterhaltsame Begebenheiten aus dem Leben der Denker. Autoren wie der Dominikaner Vinzenz von Beauvais und der Franziskaner Johannes Guallensis nahmen in ihre populären Handbücher anekdotisches Material über Karneades auf. Im frühen 14. Jahrhundert entstand der Liber de vita et moribus philosophorum, eine früher zu Unrecht Walter Burley zugeschriebene Sammlung von Nachrichten über antike Philosophen. In diesem außerordentlich einflussreichen Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, ist Karneades ein Kapitel gewidmet, das sich allerdings weitgehend auf anekdotischen Stoff beschränkt. Auch in der Schedelschen Weltchronik von 1493 wird Karneades kurz auf solche Weise behandelt; er erscheint dort als „Carmeides“. In der Frühen Neuzeit stieß der antike Skeptizismus in humanistischen Kreisen auf Interesse, wobei meist die nichtakademische „pyrrhonische“ Skepsis im Vordergrund stand. Im 16. Jahrhundert wurde teils kaum zwischen akademischer und pyrrhonischer Skepsis inhaltlich differenziert, doch manche Autoren hielten die beiden Richtungen auseinander. Pierre Galland und Guy de Brués nahmen in den Titeln ihrer antiskeptischen Schriften ausdrücklich auf die akademische Skepsis Bezug. Der portugiesische Denker Francisco Sanches knüpfte in einer 1581 erschienenen philosophischen Abhandlung an Karneades an, wobei er aber den Ausweg aus dem Dilemma der prinzipiellen Ungewissheit nicht wie der antike Philosoph in der Urteilsenthaltung suchte, sondern im Gegenteil für einen pragmatischen Verzicht auf überzogene Wahrheitsansprüche plädierte. Michel de Montaigne sowie im frühen 17. Jahrhundert Jean-Pierre Camus und John Donne schrieben den skeptischen Akademikern eine „dogmatische“ Skepsis ohne Selbsteinschluss zu („Ich weiß, dass ich nicht weiß“), den Pyrrhonikern einen konsequenten Skeptizismus, der auch seine eigenen Aussagen in den Zweifel einbezieht. Mit dieser für Karneades nicht zutreffenden Deutung der akademischen Skepsis folgten sie der Darstellung des antiken Pyrrhonikers Sextus Empiricus. Der Rechtsphilosoph Hugo Grotius bezeichnete in der Vorrede zu seinem 1625 publizierten Werk De jure belli ac pacis libri tres („Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens“) Karneades als den besten Repräsentanten der Naturrechtsgegner. Er fasste die Position des griechischen Denkers, die er nur aus der Darstellung des Kirchenvaters Laktanz kannte, zusammen und bemühte sich, sie zu widerlegen und die Existenz eines von Natur aus bestehenden Völkerrechts zu erweisen. Moderne Sehr unterschiedlich sind die Urteile in der Moderne ausgefallen. Hegel ging ausführlich auf Karneades ein. Er sah in dessen Skeptizismus die Frucht eines Erkenntnisstrebens, das in Rom zunächst durch die skeptische Argumentation gegen traditionelle Werte äußerlich als „Verderben“ und „Sündenfall“ in Erscheinung getreten sei. Dies sei unvermeidlich gewesen. Dadurch sei dem Denken die Aufgabe zugefallen, die von Karneades verursachte Krise zu bewältigen, wozu das von konservativen Kreisen geforderte administrative Einschreiten ein untaugliches Mittel gewesen sei. Das „Übel des Denkens“ könne und müsse „sich nur durch sich selbst heilen“. Aus ganz anderer Perspektive urteilte der Historiker Theodor Mommsen. Er meinte, Karneades habe in Rom bewirken wollen, dass „der ganz schandbare Handel“ der Besetzung von Oropos als gerechtfertigt erscheine. Dazu sei er in der Lage gewesen, da er „die Kunst verstand Recht zu Unrecht und Unrecht zu Recht zu machen“. Sein Auftreten sei eine „förmliche Kriegserklärung gegen Glaube und Sitte“ der Römer gewesen, die jedoch auf die Dauer erfolglos geblieben sei, denn solche „Sophistik konnte nur gedeihen, wo wie in Athen die geistreiche Maulfertigkeit zu Hause war“. Von Bewunderung geprägt war die Einschätzung des bedeutenden Philosophiehistorikers Eduard Zeller. Er war der Ansicht, Karneades habe „diese ganze Denkweise“ (des Skeptizismus) „zu ihrer wissenschaftlichen Vollendung gebracht“. Ähnlich dachte Hermann Mutschmann. Er stellte fest, Karneades habe „den modernen Begriff der wissenschaftlichen Hypothese vorweggenommen“. Edwin L. Minar sah in Karneades einen Materialisten und Atheisten. Anthony A. Long meinte, eine Nähe des antiken Skeptikers zur modernen britischen Philosophie feststellen zu können, die sich in der Berufung auf die normale Sprache und auf empirische Beobachtung zeige. Siehe auch Brett des Karneades Quellensammlungen und -übersetzungen Anthony Arthur Long/David N. Sedley (Hrsg.): Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01574-2, S. 523–558 (Übersetzung von Quellentexten mit Kommentar) Hans Joachim Mette: Weitere Akademiker heute: Von Lakydes bis zu Kleitomachos. In: Lustrum 27, 1985, S. 39–148 (Zusammenstellung der Quellentexte zu Karneades mit Kommentar S. 53–141) Literatur Tiziano Dorandi, François Queyrel: Carnéade de Cyrène. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 2. CNRS Éditions, Paris 1994, ISBN 2-271-05195-9, S. 224–227. Woldemar Görler: Karneades. In: Hellmut Flashar (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 4/2: Die hellenistische Philosophie. Schwabe, Basel 1994, ISBN 3-7965-0930-4, S. 849–897. Friedo Ricken: Antike Skeptiker. Beck, München 1994, ISBN 3-406-34638-3, S. 53–67 (knappe Einführung). Malcolm Schofield: Academic epistemology. In: Keimpe Algra u. a. (Hrsg.): The Cambridge History of Hellenistic Philosophy. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-61670-0, S. 323–351. Weblinks Diogenes Laertios: Karneades bei Perseus Project (Originaltext mit englischer Übersetzung) Anmerkungen Philosoph (Antike) Griechische Philosophie Person (Kyrene) Grieche (Antike) Geboren im 3. Jahrhundert v. Chr. Gestorben im 2. Jahrhundert v. Chr. Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6llengebirge
Höllengebirge
Das Höllengebirge ist ein nach Norden vorgeschobenes Faltengebirge im oberösterreichischen Teil des Salzkammergutes und wird den Nördlichen Kalkalpen zugerechnet. Das durchschnittlich auf liegende Hochplateau hat seinen höchsten Punkt im Großen Höllkogel mit Das stark verkarstete Gebirge besteht vorwiegend aus Wettersteinkalk und entwässert größtenteils unterirdisch. Durch Alpenvereinshütten und ein großes Wegenetz ist das Höllengebirge für den Tourismus erschlossen. Am Feuerkogel und beim Taferlklaussee befinden sich Wintersportgebiete. Der Feuerkogel ist ganzjährig mit der Feuerkogelseilbahn von Ebensee am Traunsee aus erreichbar. Wälder sind nur an den Flanken des Gebirges vorhanden. Das Plateau selbst ist mit ausgedehnten Beständen der Bergkiefer (Pinus mugo) bedeckt. Das Höllengebirge ist im Besitz der Österreichischen Bundesforste. Der Name stammt vom Talkessel „In der Höll“ an der Südseite des Gebirges. Geographie Das Höllengebirge besitzt eine maximale Ausdehnung zwischen dem Attersee im Westen und dem Traunsee im Osten von 17 und von Nord nach Süd von 11 Kilometern; es umfasst eine Gesamtfläche von 126,8 km². Die Nordgrenze bilden der Kienbach, der vom Sattel Krahbergtaferl zum Attersee fließt, sowie der Oberlauf der Aurach vom Taferlklaussee bis zur Großalm. Die Grenze verläuft dort hinauf zum hohen Sattel Lueg, hinunter zum Hinteren Langbathsee und entlang des Langbathbaches bis zu dessen Mündung in den Traunsee in Ebensee. Im Südosten wird das Gebiet zwischen Ebensee und Mitterweißenbach durch die Traun begrenzt. Die südwestliche Grenze zwischen Mitterweißenbach und Weißenbach am Attersee bildet das Weißenbachtal. Entlang des Atterseeufers zwischen Weißenbach und Seefeld wird die Grenze geschlossen. Verwaltungsmäßig befindet sich das Höllengebirge in dem zum Hausruckviertel gehörenden Bezirk Vöcklabruck (Westen) und in dem zum Traunviertel gehörenden Bezirk Gmunden (Osten). Während historisch das Höllengebirge zur Gänze zu dem seinerzeit bis zur Traun reichenden Hausruckviertel zählte, wird die Grenze zwischen Hausruck- und Traunviertel heute entlang der Bezirksgrenze gezogen und verläuft vom Krahbergtaferl zum Hochleckenhaus, über den Grünalmkogel und zur Hohen Rehstatt bis zur Weißenbacher Straße im Süden. Folgende Gemeinden des Bezirkes Gmunden haben Anteil am Höllengebirge: die Stadtgemeinde Bad Ischl mit einem Teil der Katastralgemeinde Jainzen, die Marktgemeinde Ebensee mit der Katastralgemeinde Langwies und Teilen der Katastralgemeinde Oberlangbath sowie die Marktgemeinde Altmünster mit Teilen der Katastralgemeinde Neukirchen. Im Bezirk Vöcklabruck erstreckt sich das Höllengebirge auf einen Großteil der Orts- und Katastralgemeinde Steinbach am Attersee. Verkehr Im Norden verläuft die Großalm Straße L544 von Steinbach am Attersee bis nach Neukirchen bei Altmünster. Sie hat ihren höchsten Punkt an der Taferlhöhe , unweit des Taferlklaussees. Im Osten führt von Ebensee die Langbath Straße L1297 zum Vorderen Langbathsee. Entlang der Traun führt im Osten die Salzkammergutstraße. Im Süden führt die Weißenbacher Straße durch das Weißenbachtal. Sie beginnt bei der Salzkammergutstraße und endet in Weißenbach am Attersee im Westen. Entlang des Ostufers des Attersees befindet sich die Seeleiten Straße. Die Feuerkogelseilbahn ist eine Luftseilbahn und führt von Ebensee auf den Feuerkogel. Vom Ebenseer Ortsteil Langwies führt von Südosten eine als Schotterpiste ausgeführte Straße auf den Feuerkogel. Diese ist für den öffentlichen Verkehr gesperrt, ein Befahren mit Fahrrädern ist jedoch gestattet. Topographie Das Höllengebirge ist ein Plateaugebirge mit einer durchschnittlichen Höhe von Die Hochfläche ist von Gräben und Gruben zerfurcht und mit Dolinen übersät. Die Senke des Pfaffengrabens, der teilweise unter liegt, trennt die Hochfläche in das kleinere westliche und das größere östliche Höllengebirge. Das Höllengebirge hat den höchsten Punkt im Großen Höllkogel mit Die Nordabstürze sind sehr steil, felsig und haben teilweise bizarre Felstürme wie die Adlerspitze und die Steinernen Männer. Sie beginnen beim Attersee und erreichen bei der Madlschneid bereits eine Wandhöhe von 600 Metern. Die Wände sind von flacheren Abschnitten unterbrochen, wie der Brennerriese, dem Bleggagraben und dem Langen Graben. Am östlichen und westlichen Ende werden die Felswände immer steiler und unzugänglicher. Die 600 Meter hohe Gamswand des Hohen Spielbergs bildet den Abschluss des Langbathtales. Die Südhänge sind weniger exponiert. In steilen Hängen und Plattenschüssen steigt das Gebirge zur Hochfläche an. Charakteristisch für den Mittelteil der Südhänge sind die Lawinenstriche Brunnlahngang, Klauslahngang und Hasellahngang. An den Südabhängen befindet sich auch das namensgebende Kar In der Höll. Gipfel Durch markierte Wege erschlossene Gipfel des Höllengebirges (Auswahl): Gewässer Rings um das Höllengebirge gibt es eine Reihe von Bächen, die zum größten Teil am Gebirgsfuß entspringen. Die allgemeine Wasserscheide verläuft von der Taferlhöhe über den Hochleckenkogel zum Sulzberg und über die Hohe Rehstatt zum Jagdhaus Umkehrstube im Weißenbachtal. Im Kienbach und im Äußeren Weißenbach sammeln sich die Bäche, die zum Attersee fließen. Die wichtigsten Zubringer sind der Zwieselbach im Norden und der Gimbach im Süden. Die Aurach entspringt am Ende des Langen Grabens und bildet kurz darauf den Taferlklaussee. Der Hintere und der Vordere Langbathsee sammeln das Wasser aus dem nordöstlichen Teil des Gebirges. Direkt zur Traun fließen nur einige kleinere Bäche aus der Gegend der Spitzalm. Der Mitterweißenbach führt die Wässer aus dem Süden des Gebirges zur Traun und hat mit dem Höllbach und dem Wambach seine größten Zuflüsse. Geologie Tektonik Tektonisch ist das Höllengebirge eine mächtige, nach Norden gekippte (nordvergente) aufgewölbte Falte (Antiklinale) der Staufen-Höllengebirgs-Decke, die zur Tirolischen Deckeneinheit (Tirolikum) gehört, wobei im Süden der Hangendschenkel mit einem Winkel zwischen 25 und 35 Grad ansteigt und sich bis zum Höllengebirgs-Nordrand allmählich in eine saigere bis leicht überkippte Schichtstellung dreht. Unter der Höllengebirgsdecke liegt die Langbathzone (Bajuvarikum), die im Gebiet des Vorderen Langbathsees mit etwa vier Kilometer Nord-Süd-Erstreckung ihre größte Breite erreicht. In der mittleren Kreide vor etwa 80 Millionen Jahren fand die erste Auffaltung des Gebirges statt, das danach wieder vom Gosaumeer überflutet wurde. Im Tertiär wurde das Höllengebirge zusammen mit den Alpen ein weiteres Mal angehoben und nach Norden verschoben. Damit hatte die Deckenbildung ihren bisherigen Abschluss. Im Zuge der Aufschiebung der Höllengebirgsdecke wurde die darunter lagernde Langbathzone mitgeformt, sodass sie im Stirnbereich der Höllengebirgsdecke ebenfalls leicht nach Norden einfällt. Lithostratigraphie In ihrem zentralen Teil besteht die Höllengebirgsdecke fast ausschließlich aus Wettersteinkalk, der vom Anisium bis zum frühen Karnium der Trias vor etwa 247 bis 235 Millionen Jahren aufgebaut wurde. Im Süden, östlich bis zum Wambachtal, bildet Wettersteindolomit den Fuß des Gebirges. Dieser bildete sich während derselben Epoche, weist jedoch einen höheren Magnesiumanteil auf. Die Mächtigkeit des Wettersteinkalks beträgt im Westen 1000 bis 1200 und im Osten knapp 1000 Meter. Im Südosten bildet der stratigraphisch höhere, also jüngere Hauptdolomit den Rahmen des Gebirges. Dazwischen befinden sich wenige Zehnermeter mächtige Schichten der Lunz-Formation, die den Trennungshorizont zwischen dem Wettersteindolomit und dem Hauptdolomit bildet. Die Lunz-Formation wird von der Opponitz-Formation begleitet. Die Langbathzone wird von einem schmalen Band aus Lunzer-Schichten von der Höllengebirgsdecke getrennt. Sie besteht überwiegend aus Hauptdolomit und darüberliegendem Plattenkalk (Norium), über dem in Ost-West gerichteten Mulden Sedimente der Kössen-Formation (Rhaetium) und der Schrambach-Formation (Unterkreide) folgen. Diese bestehen vorwiegend aus Mergel, Radiolarit, Sandstein, Konglomerat und Brekzie. Ehemalige Vergletscherung Das Höllengebirge war während der Eiszeiten immer vergletschert, wobei am Plateau der Gletscher wenig floss und die Altlandschaft erhalten blieb. An den Flanken jedoch schürfte das Eis Kare und Lahngänge aus. Durch die markanten Endmoränen sind die Gletscherverläufe des Würm besonders gut erkennbar. Der mächtigste Gletscher entwickelte sich im Einzugsgebiet des Langbathbaches aus den Karen zwischen dem Brunn- und dem Alberfeldkogel. Er füllte das Tal bis auf eine Höhe von mehr als , konnte jedoch den Sattel des Lueg zum Aurachtal nicht überschreiten. Eine weitere Gletscherzunge entwickelte sich aus dem Kar um das Antoniusbründl. Die Endmoräne befindet sich beim Wirtshaus Kienklause. Im Aurachkar bildete sich ebenfalls ein Gletscher, der das Becken um den Taferlklaussee füllte. Endmoränen gibt es beim Wirtshaus Großalm; sie bilden auch den Sattel Krahbergtaferl. Die südlich abfließenden Gletscher vereinigten sich mit dem Traungletscher, und zwar mit dessen Seitenast, der durch das Weißenbachtal nach Westen floss. Hydrogeologie Der tiefgründig verkarstete Wettersteinkalk des Höllengebirges entwässert unterirdisch. So befinden sich am Plateau keine Seen oder Bäche und nur sehr wenige Quellen wie das Antoniusbründl. Die meisten und sehr ergiebigen Karstquellen gibt es am Südfuß, nur wenige am Nordfuß. Dies ist auf das Einfallen der Höllengebirgsdecke und der Langbathzone zurückzuführen, da die Deckengrenze von wasserstauenden Sedimenten begleitet wird und ein leichtes Gefälle in Richtung Süden existiert. Nachgewiesen wurde der Abfluss nach Süden erstmals 1983 bei einem Markierungsversuch der Hydrologischen Untersuchungsstelle Salzburg, als westlich des Hochleckenkogels an der Nordgrenze ein Tracer eingespeist wurde und ausschließlich im Gimbach-Ursprung an der Südseite ein Farbdurchgang zu verzeichnen war. Karst Große Teile des Höllengebirges sind verkarstet. Art und Intensität der Verkarstung hängen hierbei stark von der Höhenlage und der Gesteinsart ab. Im Gebirge dominiert ein von Vegetation bedeckter Karst (Grüner Karst), während nackter Karst (Grauer Karst) auf wenige, durch eiszeitliche Gletscher freigelegte, Schichtflächen beschränkt ist. Des Weiteren neigt der Wettersteinkalk stärker zur Verkarstung als der Wettersteindolomit. Von den typischen oberflächlichen Großformen sind Dolinen sehr häufig. Sie orientieren sich oft an geologischen Störungen und bilden sogenannte Dolinengassen, wie etwa in der Haselwaldgasse. Die Dolinen haben großteils einen Durchmesser zwischen 5 und 10 Meter. Bei uvala-artigen Hohlformen im alpinen Bereich ist oft eine durch glaziale Erosion entstandene Übertiefung nachweisbar. Es handelt sich dann nicht um reine Karstformen, sondern um eine polygenetische Form. Von den Kleinformen dominieren Karren, insbesondere Kluftkarren. Die häufigsten freiliegend gebildeten Formen auf steileren Flächen sind Rillen- und Rinnenkarren. Durch das Fehlen einer großflächigen Schichttreppenlandschaft sind ausgeprägte Karrenfelder selten. Auch unterhalb der Waldgrenze befinden sich Karrenstrukturen, wie etwa Rundkarren entlang der alpinen Steige. Höhlen Der zumeist steilstehende und gut verkarstungsfähige Wettersteinkalk bietet im Zusammenwirken mit dem übrigen Trennflächengefüge besonders günstige Voraussetzungen für die Höhlenbildung. Mit Stand 2019 sind in der Katastergruppe 1567 (Höllengebirge) des Österreichischen Höhlenverzeichnisses 260 Höhlen verzeichnet. Die meisten Höhleneingänge liegen im Plateaubereich des Höllengebirges um Mit vermessenen 5805 m ist die Hochlecken-Großhöhle (Kat.Nr. 1567/29) die längste Höhle des Höllengebirges. Böden Ausgehend vom dominierenden Wettersteinkalk und -dolomit konnten sich in den Hochlagen meist nur Rendzinaböden entwickeln. Die größten Flächen nehmen mullartige Rendzinen ein. Diese mineral- und humusreichen Böden kommen vor allem in Hanglagen der montanen Stufe unter krautarmen Misch- und Nadelwäldern auf fast allen Kalk- und Dolomitgesteinen vor. In Unterhangbereichen kommt es unter klimatisch günstigen Bedingungen zu stärkerer Mullbildung und es entwickeln sich Mullrendsinen bzw. Braune Rendzinen. Ältere Paläoböden wie Kalksteinbraunlehm finden sich im Höllengebirge nur in geschützten Geländemulden, so vor dem Alberfeldkogel und dem Hochleckenhaus sowie zwischen dem Jagerköpfel und dem Hochleckenkogel. Es handelt sich bei diesen Böden nicht nur um unlösliche Lösungsrückstände nach der Kalkstein-Verwitterung, sondern um mehrmals umgelagerte Bodenbildungen unterschiedlichen Alters. Ebenso dürfte der Eintrag von Flugstaub eine Rolle spielen. Klima Die Wetterwarte der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik am Feuerkogel stellt exakte Daten für das Höllengebirge zur Verfügung. Die Klimadaten zeigen eine für die Gebirge der nördliche Kalkalpen typische Temperatur- und Niederschlagsverteilung: kühle und niederschlagsreiche Sommer, mit einem Maximum von 238 mm im Juli, und niederschlagsarme Winter, mit einem Temperaturminimum von −3,5 °C im Februar. Bedingt durch den Nordstau zeigt sich von November bis Jänner jedoch ein Nebenmaximum. Der mittlere Jahresniederschlag beträgt 1829 mm bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von 3,6 °C. An 170 Tagen im Jahr besteht eine geschlossene Schneedecke von mehr als 20 cm. Die maximale Höhe der Schneedecke beträgt 270 cm. Aufgrund der kühlen Sommer, der kalten langen Winter und der hohen Niederschläge kann das Klima laut Ruttner als kaltgemäßigt bezeichnet werden und ist damit als Gebirgsklima mit der borealen Zone vergleichbar. Nach Heinrich Walter entspricht dies dem Zonobiom VIII. Wegen der exponierten Lage der Wetterwarte werden sehr oft hohe Windgeschwindigkeiten gemessen. Der Orkan Kyrill erreichte dort einen gemessenen Spitzenwert von 207 km/h. Nach einem Interview mit dem dort tätigen Wart fiel jedoch bei 220 km/h der Windmesser aus und der Sturm legte danach an Stärke noch zu. Die vorherrschende Windrichtung ist überwiegend West bis Nordwest. Mit rund 14 % besteht ein Nebenmaximum des Südwindes. An 42 Tagen im Jahr wird die Windstärke 8 überschritten. Flora und Vegetation Bei den Waldgesellschaften dominieren an den Flanken des Höllengebirges Fichten- und Rotbuchenwälder. Die Fichte (Picea abies) bildet mit über 50 % den Hauptteil des Baumbestandes. Ihre breite ökologische Potenz hinsichtlich der Boden- und Wasserhaushaltsansprüche ermöglicht ihr ein Vorkommen in allen Waldgesellschaften. Sie wächst südseitig auf steilen, trockenen Plattenschüssen ebenso wie an ihrem extremsten Standort im Hochmoor des Taferlklaussees. Ihre Klimax erreicht die Fichte nordseitig im subalpinen Hochstauden-Fichtenwald und bildet teilweise die Waldgrenze auf Die Buche (Fagus sylvatica) ist mit 30–40 % im Gebiet vertreten. Sie wächst auf der Südseite des Höllengebirges bis auf Höhen um Nordseitig ist die Grenze bei Je nach Standort gibt es auch Weiß-Tannen (Abies alba), Waldkiefern (Pinus sylvestris), Europäische Lärchen (Larix decidua), Gemeine Eschen (Fraxinus excelsior) und Berg-Ahorne (Acer pseudoplatanus). Die Gesellschaft der Bergkiefer (Pinus mugo) dominiert das ganze Höllengebirgsplateau. An den Nordhängen zieht sie in den Schutthalden oft bis auf tief herunter, wie zum Beispiel im Langen Graben. Andererseits steigt sie bis in die Gipfelregion des Großen Höllkogels und lässt nur extreme Fels- und Windzonen frei. Zwischen Feldern der Bergkiefer befinden sich einzelne Fragmente von Rasengesellschaften (dort vor allem der Rostseggenrasen). Schneetälchen treten inselförmig in schattigen Dolinen auf, wie in der Höllkogelgrube, die nur in extrem trockenen Jahren ausapern. Insgesamt wurden im Gebiet 576 Gefäßpflanzenarten (Tracheophyta) nachgewiesen, unter anderem viele Pflanzenarten, die in den nördlichen Kalkalpen häufig sind. Als Auswahl seien erwähnt: Clusius-Primel (Primula cusiana) Petergstamm (Primula balbisii) Clusius-Enzian (Gentiana clusii) Bewimperte Alpenrose (Rhododendron hirsutum) Türkenbund (Lilium martagon) Trollblume (Trollius europaeus) Für den Österreichischen Bergfenchel (Seseli austriacum) und den Ostalpen-Meier (Asperula neilreichii) ist das Höllengebirge der westlichste Fundort. Von den vorkommenden Pilzen sind viele mit der Berg-Kiefer oder mit der Fichte vergesellschaftet. Dies sind etwa Körnchen-Röhrling (Suillus granulatus) Goldzahn-Schneckling (Hygrophorus chrysodon) Orangefarbiger Lärchen-Schneckling (Hygrophorus lucorum var. speciosus) Almen-Weichritterling (Melanoleuca subalpina) Gelbbrauner Rötling (Entoloma formosum) Schmalblättriger Risspilz (Inocybe leptophylla, Syn. Inocybe casimiri) Anis-Klumpfuß (Cortinarius odorifer) Fauna Das Höllengebirge ist für Rehe (Capreolus capreolus), Rothirsche (Cervus elaphus) und Gämsen (Rupicapra rupicapra) ein Rückzugsgebiet; die Tiere treten in hohen Dichten auf. Auch Schneehasen (Lepus timidus) leben im Gebiet. Alpendohlen (Pyrrhocorax graculus) und Kolkraben (Corvus corax) sind häufig anzutreffen. Seltener sind Alpenschneehuhn (Lagopus muta), Birkhuhn (Lyrurus tetrix) und Auerhuhn (Tetrao urogallus). Alpenbraunellen (Prunella collaris) und Mauerläufer (Tichodroma muraria) wurden ebenfalls nachgewiesen. Das Höllengebirge ist auch Verbreitungsgebiet des Steinadlers (Aquila chrysaetos), jedoch ohne Brutnachweise. Der Uhu (Bubo bubo) konnte am Schoberstein nur indirekt (Gewölle) nachgewiesen werden. Auch die Kreuzotter (Vipera berus) und deren schwarze Farbvariante Höllenotter sind im Höllengebirge verbreitet. Für viele Tiere der alpinen Regionen bildet das Höllengebirge zusammen mit dem Traunstein die Nordgrenze ihrer Verbreitungsareale in Oberösterreich. Dies gilt für den Alpensalamander (Salamandra atra) ebenso wie für die bereits erwähnten Steinadler, Alpendohlen, Alpenbraunellen und Mauerläufer. Das Höllengebirge war im Jahr 2017 für kurze Zeit das Revier eines Luchses (Lynx lynx). Das am 17. März 2017 im Nationalpark Kalkalpen ausgewilderte Luchsmännchen Juri wanderte nach der Freilassung großräumig über das Krems- und Almtal in das Salzkammergut ab. Der mit einem Senderhalsband ausgestattete Luchs blieb dort neun Monate konstant in einem abgegrenzten Revier. Anfang 2018 begab er sich plötzlich auf Wanderschaft und kehrte durch das steirische Ennstal und über den Pyhrnpass in den Nationalpark Kalkalpen zurück. Naturschutz Die am Fuß des Höllengebirges liegenden Bergseen stehen unter Naturschutz. Im Norden ist dies das Naturschutzgebiet Taferlklaussee (n039) mit 8,51 ha Fläche, im Osten sind es Vorderer Langbathsee (n010) und Hinterer Langbathsee (n011) mit 36,55 ha bzw. 12,47 ha Fläche. Der Attersee und der Unterlauf des Äußeren Weißenbachs sind Teil des Europaschutzgebiets Mond- und Attersee. Namenskunde Der wilde Talkessel „In der Höll“ an der Südseite des Gebirges ist namensgebend für das Gebirge, den Großen Höllkogel, sowie den dort entspringenden Höllbach. Viele Gipfel und Flurnamen gehen auf den Bewuchs zurück. Der Eiblgupf bezieht sich auf die Europäische Eibe (Taxus baccata), der Segenbaumkogel leitet sich vom Segenbaum (Juniperus sabina) ab, der Elexenkogel von der Elexe (Prunus padus), Hochlecken von der Lecken, einer lokalen Bezeichnung für die Bergkiefer (Pinus mugo) und der Kranabethsattel verweist auf die Kranabethstaude, den Gemeinen Wacholder (Juniperus communis). Salzlecken für das Wild haben zu den Namen Salzkogel und Salzberg geführt. Der Spielhahn gab vermutlich dem Spielberg seinen Namen. Latschen-(Berg-Kiefer) und Waldbrände führten zu den Namen Brennerin, Brunn- oder Brenntakogel. Der Feuerkogel bezieht sich ebenfalls auf Brände oder Sonnwendfeuer. Über das Grenzeck verläuft seit alters eine Grenze von Gebieten und Besitzungen. Heute verläuft hier die Grenze zwischen den Bezirken Vöcklabruck und Gmunden. Der Pfaffengraben bezieht sich auf das Kloster Traunkirchen, den ursprünglichen Besitzer dieses Gebietes. Der Mahdlgupf und die Mahdlschneid beziehen sich auf ein ehemaliges Bauerngut unterhalb des Grates (Schneid). Das Gut hieß Mahdbauer und war das heute aufgelassene Forstamt. Ein kleines Mahd wird als Mahdl bezeichnet. Das Jagdhaus Aufzug erhielt seinen Namen von einem 1722 erbauten Holzaufzug. Der Flurname Schiffau im Langbathtal geht auf die Gewinnung von Schiffsbauholz zur Konstruktion von Zillen zurück. Bergsport Wandern Für das Betreten des kaiserlichen Jagdgebietes war bis 1914 im zentralen Teil des Höllengebirges eine Ausnahmegenehmigung der k. u. k. Forstverwaltung erforderlich, sodass die Erschließung, verglichen mit anderen Gebirgen, relativ spät einsetzte. Die Erlangung von Wegerechten für einen Anstieg auf das Plateau war schwierig und erst 1910, drei Jahre nach der Gründung der Alpenvereinssektion Vöcklabruck, durfte diese an der Westseite den Stieg und den Brennerriesensteig anlegen. Rund drei Viertel der Wegekosten von 1333 Kronen übernahm der Industrielle und Gründer der Eternit-Werke, Ludwig Hatschek. Noch vor 1914 konnte der markierte Weg vom Taferlklaussee durch den Langen Graben zur Griesalm eröffnet werden. 1925 eröffnete die Sektion Vöcklabruck das Hochleckenhaus und erwarb das bis dahin nur gepachtete Grundstück von den Österreichischen Bundesforsten. An der Ostseite vergingen acht Jahre, bis die 1902 gegründete Sektion Gmunden den Steig vom Almengebiet des Feuerkogels über den Großen Höllkogel zur Spitzalm anlegen und 1911 unter strengen Auflagen die Kranabethsattelhütte am Feuerkogel errichten durfte. Ebenfalls 1927 errichtete die Naturfreunde-Ortsgruppe Attnang eine kleine Hütte, die bald als Naturfreundehaus ausgebaut wurde. Als letzte der vier Schutzhütten entstand 1929 die Rieder Hütte. Im Zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren kamen Tourismus, Vereinsleben der Sektionen und Bergsteigen zum Erliegen. Mit zunehmender Begeisterung für die Bergwelt gesellten sich ab 1950 wieder mehr Urlauber zu den einheimischen Bergsteigern. Die Hütten wurden saniert und ausgebaut. Neben dem Hochleckenhaus wurde ein Jugendheim (1960) und die Materialseilbahn (1965) gebaut. Die Rieder Hütte brannte 1973 nieder und wurde nach dem Wiederaufbau 1975 neu eröffnet. Die Kranabethsattelhütte wurde 1990 verkauft und brannte 1991 bis auf die Grundmauern ab. Im März 2012 wurde das Naturfreundehaus verkauft und es heißt seither Kranabeth-Hütte. Das markierte und beschilderte Wegenetz im Höllengebirge wird vom Österreichischen Alpenverein gewartet. Die Wege sind mit den Nummern 820 bis 837 bezeichnet. Der Österreichische Weitwanderweg Nr. 04 durchquert das Gebirge von Osten nach Westen. Dieser Weg trägt als Voralpenweg die Nummer 804, ist im Höllengebirge mit 820 bezeichnet und hat mit dem Grünalmkogel seinen höchsten Punkt. Anstiege auf das Plateau gibt es an der West-, Nord- und Ostseite. Die bekanntesten sind: Weg 820: Von Weißenbach am Attersee über den Schoberstein zur Brennerin im Westen beziehungsweise von Ebensee auf den Feuerkogel im Osten Weg 821 Brennerriesensteig vom Forstamt auf die Brennerin Weg 822 Stieg von Steinbach am Attersee zur Gaisalm Weg 824 von der Kienklause zum Hochleckenhaus Weg 825 von der Taferklause zum Hochleckenhaus Weg 828 Schafluckensteig vom Hinteren Langbathsee zur Schafalm Weg 832 von der Kreh auf den Feuerkogel Alpinismus Die klettertechnische Erschließung setzte im Gegensatz zu anderen, spektakuläreren Gebirgsgruppen erst spät, etwa ab 1920, ein. Die schwierigen Türme und Wände an den steilen Nordabstürzen des Höllengebirges waren den Bergsteigern aus der Region vorbehalten. Vor allem den Gmundnern Sepp Stahrl, Josef Mulzet, Max Huemer, Hans Meiseleder und Franz Stadler gelangen in dieser Zeit schwierige Erstbegehungen, wie Eiblgupf-Nordostwand (V) und Alberfeldkogel-Nordostpfeiler (IV−). Im westlichen Höllengebirge setzte in den 1930er Jahren eine rege Erschließungstätigkeit der Vöcklabrucker Kletterer ein. Sepp Heizendorfer, Scheibenpflug, Hans Matterbauer, Wilhelm Stix und Gustav Neubacher waren vor allem an der Adlerspitze, den Steinernen Männern und am Vöcklabrucker Turm erfolgreich. 1938 gelang den Kletterern Franz Scheckenberger und Hias Aigner die Nordwestkante des Seeturms (V) und die Nordwand des Mittelgipfels der Adlerspitze (V). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die weitere Erschließung vor allem durch junge Kletterer der Alpenvereins-Ortsgruppe Kammer und der Naturfreunde-Ortsgruppen Lenzing und Vöcklabruck fortgesetzt. Heute gibt es, vor allem im westlichen Höllengebirge, viele Sportkletterrouten bis in den IX. Schwierigkeitsgrad. 2012 wurde am Mahdlgupf im Westen des Höllengebirges ein Klettersteig eingerichtet. 2010 begann eine erneute Erschließung durch eine Gruppe um den Linzer Bergsteiger Robert Wacha. Dies betrifft vor allem die südlichen Wände des Weißenbachtals sowie den Totengrabenkessel im Norden. So gelang im Winter 2015 die Durchsteigung der Südwand des Großen Höllkogels sowie 2017 die erste Begehung der Hirschlucken-Nordwand. Wintersport Auf Initiative von Rudolf Ippisch wurde am 26. Juni 1927 die Feuerkogelseilbahn in Betrieb genommen. Obwohl der Skilauf in Oberösterreich immer populärer wurde, diente im Höllengebirge die Bahn vorerst als Aufstiegshilfe für Skiwanderungen auf dem umliegenden Hochplateau. 1936 wurde mit dem sogenannten Stangenlift der erste Schlepplift Österreichs gebaut. 2010 erfolgte ein weiterer Ausbau des Skigebietes mit der Errichtung von Versorgungsstraße, Achter-Gondelbahn und Sechser-Sesselbahn sowie der Anlage einiger Pisten. Neben den Alpenvereinshütten bieten mehrere private Gasthöfe und Hütten sowie ein Hüttendorf Übernachtungsmöglichkeiten. Es stehen am Feuerkogel insgesamt acht Liftanlagen für 16 km Pisten, davon 6 km unpräpariert, zur Verfügung. Das Hochplateau ist auch für Schneeschuh- und Skitouren geeignet. Die mit Wintermarkierungen versehene Höllengebirgsdurchquerung vom Feuerkogel zum Hochleckenhaus ist die längste Skitour in dem Gebiet. Weitere Skifahrgelegenheiten bestehen bei den Hochleckenliften, die in den 1970er Jahren im westlichen Teil des Höllengebirges in der Nähe der Taferlklause errichtet wurden. Dort stehen vier präparierte Pisten und vier Schlepplifte zur Verfügung. Gleitschirm- und Drachenfliegen Das Höllengebirge ist ein bekanntes Gebiet für Gleitschirmflieger. Das Plateau am Feuerkogel bietet mit seinem Gefälle gute Startplätze. Ausgewiesene Bereiche befinden sich im Norden und im Südosten. Im Norden befindet sich eine Startrampe für Hängegleiter. Auch die Griesalm beim Hochleckenhaus wird als Startplatz für Gleitschirmflieger genutzt. Dem Luftsportler bietet sich aus der Höhe ein guter Blick auf einen Großteil des Salzkammerguts. Wirtschaft Tourismus Das Salzkammergut genießt einen hohen Bekanntheitsgrad als Tourismus- und Erholungsgebiet und hat diesbezüglich seit langem eine große Bedeutung. Den touristischen Schwerpunkt in der Sommersaison bildet die klassische Sommerfrische an den zahlreichen Seen und Bergen. Auf vielen Hütten werden Bewirtung und Übernachtungsmöglichkeiten angeboten. Zu den beliebtesten Bergtouren zählt ein Besuch des Hochleckenhauses. Die Zahl der Tagesgäste steigt, und an schönen Sommer- und Herbsttagen, besonders an den Wochenenden, sind die Parkplätze oft überlastet. Im Oktober 2022 kam es durch den Besucheransturm zum Vorderen Langbathsee zu einer Überlastung, und die Langbathsee Straße musste gesperrt werden. Um den Besucherstrom zu lenken, soll eine Parkraumbewirtschaftung eingeführt werden. Die Gemeinde Steinbach am Attersee ist seit 2008 Teil der Initiative Bergsteigerdörfer des ÖAV. Ziel ist es, einen nachhaltigen Alpentourismus im Sinne der Alpenkonvention zu entwickeln. Almwirtschaft Eine große Anzahl von Almen diente der Almwirtschaft, deren Bedeutung im 20. Jahrhundert stark zurückgegangen ist. Flurnamen wie Gaisalm und Schafalm deuten auf die seinerzeit größere Verbreitung hin und zahlreiche Grundmauern verfallener Hütten, wie bei der Hinteren Spitzalm, erinnern daran. 1864 wurden durch ein Regulierungserkenntnis der k. u. k. Landeskommission ein Weideverbot für Schafe und Ziegen verhängt sowie die Weiderechte und die zulässige Anzahl des Viehs festgelegt, um der Gefahr der Tierseuchenübertragung und der damit einhergehenden Einschränkung der kaiserlichen Jagd entgegenzuwirken. 2019 wurden nur noch die Grießalm nahe dem Hochleckenhaus und die Kranabethsattelalm am Feuerkogel bewirtschaftet. Die Weidefläche der beiden Servitutsalmen beträgt 47 Hektar, auf ihnen weiden 65 Hausrinder. Forstwirtschaft Mit der Errichtung der Saline in Ebensee am Traunsee 1604 wurde die gesamte Holzwirtschaft des Gebietes auf die Brennholz-Erzeugung für das Sudhaus ausgerichtet. Für die Salzgewinnung in den Sudpfannen wurden pro Woche rund 400 Raummeter Holz benötigt. Um bei diesem großen Bedarf die Wälder vor Raubbau zu schützen, wurden bereits damals Förster bestellt und Waldämter (heute Bezirksforstinspektion) eingerichtet. In Waldbeschaubüchern wurden strenge Vorschriften für die Entnahme (Menge, Art und Standort) von Holz festgelegt. Insbesondere der Gewinnung von Fichten- und Tannenholz kam hohe Priorität zu, da nur diese das notwendige großflammige und nicht zu heiße Feuer erzeugen konnten. Die Flammen des Buchenholzes waren dafür zu heiß und konnten den Pfannenboden beschädigen. Lärchen wurden für die Röhren der Soleleitungen benötigt. Alle Täler wurden für den Holztransport erschlossen, ein ausgeklügeltes System von Klausen wurde angelegt. Kompliziert gestaltete sich der Transport des Holzes aus dem an der Nordseite des Gebirges gelegenen Kienbachtal. Das Holz wurde zuerst über den Kienbach (Kienklause) zum Attersee getriftet und mit Plätten nach Weißenbach gebracht. Der Weitertransport erfolgte meist im Winter mit von Ochsen gezogenen Schlittenfuhrwerken. Ab der Wasserscheide (Umkehrstube) konnte bis zur Saline nach Ebensee wieder getriftet werden. Um die Arbeit zu erleichtern, wurde 1722 ein hydraulischer Aufzug, der einen Höhenunterschied von 50 Metern überwand, mit anschließendem Schwemmkanal gebaut. Insgesamt benötigte das Holz vier Jahre, bis es nach Ebensee gelangte. 1877 ermöglichte die Inbetriebnahme der Salzkammergutbahn den Transport billiger Braunkohle aus den Revieren am Hausruck, was zur Einstellung des Holztransportes nach Ebensee führte. Jagd Das Höllengebirge ist sehr wildreich. Der Fund der Lanzenspitze einer Saufeder am Südhang des Salzberges nahe der Brennerin belegt, dass bereits im 17. Jahrhundert auf dem Plateau gejagt wurde. Der letzte Braunbär wurde 1778 im Aurachkar erlegt. Das Höllengebirge befand sich in dem vom Kaiserhaus gepachteten Hofjagdgebiet und war eines der bevorzugten Reviere von Franz Joseph I., dessen Sommerresidenz im nahen Bad Ischl lag. 1860 wurden für die Jagd Steinböcke eingesetzt. Um für reichliche Äsung zu sorgen, wurden in den Südhängen des Elexenkogels großflächig die Latschenkiefern gerodet, was jedoch zu einer völligen Verkarstung führte. Die Steinböcke konnten sich im Höllengebirge nicht etablieren und das letzte Exemplar wurde 1880 gesichtet. Für das Mitterweißenbacher Revier wurde der Wildbestand mit 300 bis 350 Stück Hochwild und 200 Stück Rehen angegeben. Bei der alljährlichen Gimbachjagd wurden bis zu 40 Gämsen und einige Hirsche erlegt. Hierbei waren bis zu 200 Treiber im Einsatz. In der Helmesriese, an der Ostseite des Höllengebirges, schoss der Kaiser seine zweitausendste Gams. Das Jagdhaus Aufzug beim Holzaufzug im Weißenbachtal benutzte der Kaiser regelmäßig und auf der Spitzalm stand eine kaiserliche Jagdhütte. Das Jagdschloss von Kaiserin Sissi befand sich am Vorderen Langbathsee. Die Hofjagdleitung in Ebensee verhängte jeden Sommer während der Jagdsaison ein absolutes Betretungsverbot über das zentrale Höllengebirge und Wilderei wurde streng verfolgt. Die letzte Hofjagd fand im Aurachtal am 23. Juli 1914 statt. Heute obliegt die Jagdverwaltung den Österreichischen Bundesforsten als Eigentümer. Bergbau Vorwiegend karbonatdominierte Kies-Sand-Vorkommen werden in Schottergruben abgebaut und als Baurohstoffe genutzt. Wirtschaftlich am bedeutendsten sind dabei die Kiesabbaue in den würmzeitlichen Terrassen und Staukörpern. Diese sind vor allem im Weißenbachtal anzutreffen. Ein großer Abbau war früher im Schwemmkegel bei der Taferlklause unterhalb der Bischofsmütze mit Hauptdolomit und Steinalm- und Wettersteinkalk aktiv. Gelegentlich wird im Mitterweißenbach und im Äußeren Weißenbach Wildbach- und Flussschotter entnommen, der für Bauzwecke verwertet wird. Siedlungen Die Hochlagen des Höllengebirges liegen außerhalb des Dauersiedlungsraumes, die Besiedlung beschränkt sich daher auf wenige isolierte Berghöfe und Berghütten. Insbesondere am Feuerkogel existiert eine ausgeprägte touristische Infrastruktur. Gasthöfe, Hotels und ein Hüttendorf mit 13 Selbstversorgerhütten bilden eine Art moderne Streusiedlung im Gebirge. Seit 1968 steht dort die Christopheruskapelle der Diözese Linz. Das Höllengebirge in Kunst und Literatur In der Nähe der Geißalm befindet sich ein Felsenloch, das in der Sage als Teufelsjoch (Teufelsloch) erwähnt wird. Unweit des Hochleckenhauses befindet sich die Schatzgräberhöhle (Katasternummer 1567/24) beim Goldenen Gatterl, die ebenfalls Gegenstand einer Volkssage ist. In der Biedermeierzeit kamen Landschaftsmaler in das Salzkammergut und an das Höllengebirge. Ferdinand Georg Waldmüller, Wilhelm von Kobell und Friedrich Gauermann schufen Werke, die das Höllengebirge und dessen Umgebung zeigen. Gustav Mahler verbrachte 1893 bis 1896 die Sommermonate im Gasthaus „Zum Höllengebirge“ in Seefeld in der Gemeinde Steinbach am Attersee und ließ sich bei seinen Kompositionen von der Landschaft des Höllengebirges und des Attersees inspirieren. Auf einer weiten Wiese vor dem Gasthaus ließ er sich am Seeufer ein Komponierhäuschen errichten, in welchem er die II. Symphonie vollendete und 1895/96 die III. Symphonie komponierte. Während der Arbeit an der III. Symphonie lud er seinen Freund Bruno Walter ein. Beim Anblick des Höllengebirges sage Mahler zu Walter: Literatur Weblinks Einzelnachweise Gebirge in den Alpen Gebirge in Europa Gebirge in Oberösterreich Salzkammergut Steinbach am Attersee Geographie (Bad Ischl) Geographie (Ebensee am Traunsee) Altmünster Orographie des Einzugsgebiets Traun (Donau) Geographie (Bezirk Vöcklabruck)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schwertfisch
Schwertfisch
Der Schwertfisch (Xiphias gladius) ist ein großer, räuberisch lebender Knochenfisch, der weltweit in gemäßigt warmen bis tropischen Meeren anzutreffen ist. Er lebt im offenen Ozean, nähert sich nur wenig den Küsten und ernährt sich von anderen Fischen und von Kopffüßern. Sein namensgebendes schwertartiges Rostrum kann bei ausgewachsenen Fischen ein Drittel der Körperlänge erreichen. Der wissenschaftliche Name der Gattung (Xiphias) kommt vom griechischen ξίφος xiphos und bedeutet Schwert. Das lateinische Art-Epitheton gladius steht für das römische Kurzschwert (Gladius). Der Schwertfisch ist ein geschätzter Speisefisch. Verbreitung Der Schwertfisch kommt bei Wassertemperaturen zwischen 5 °C und 27 °C kosmopolitisch in allen tropischen, subtropischen und gemäßigten Ozeanen zwischen 61° nördlicher Breite und 50° südlicher Breite vor. Im westlichen Pazifik lebt er zwischen 50° nördlicher und 45° südlicher Breite und im kühleren östlichen Pazifik zwischen 50°N und 35°S. Im Indischen Ozean erstreckt sich das Verbreitungsgebiet nördlich 45° südlicher Breite. Im Norden wird das Verbreitungsgebiet durch die Küste Südasiens begrenzt. Im Atlantik kommt der Schwertfisch zwischen 50° nördlicher Breite im Nordwesten und 60° nördlicher Breite im Nordosten und 45°S im Südwesten und 45° bis 50°S im Südwesten vor. Er kommt auch im Mittelmeer, im Marmarameer und im Schwarzen Meer vor, gelegentlich auch in der Nord- und Ostsee. Der genetische Austausch zwischen der atlantischen und der mediterranen Population ist gering. Merkmale Der Schwertfisch hat einen spindelförmigen, im Querschnitt hochovalen Körper. Sein namengebendes schwertartiges Rostrum kann bei ausgewachsenen Fischen ein Drittel der Körperlänge erreichen. Im Unterschied zum im Querschnitt runden „Speer“ seiner nächsten Verwandten, der Fächer- und Speerfische (Istiophoridae), ist das „Schwert“ der Schwertfische abgeflacht. Es wird vom verlängerten Oberkiefer gebildet, bei jungen Schwertfischen ist auch der Unterkiefer zu einem kürzeren Schwert ausgezogen. Das Schwert ist schon bei 10 mm langen Jungfischen gut entwickelt. In Körpergröße und Gewicht unterscheiden sich Schwertfische regional deutlich. So liegt die durchschnittliche Körperlänge von Schwertfischen, die mit Langleinen im nordwestlichen Pazifik gefangen wurden, bei 1,2 bis 1,9 Metern. Das mittlere Gewicht der im Mittelmeer gefangenen Tiere liegt zwischen 115 und 160 kg. Fische der Mittelmeerpopulation erreichen nur selten ein Gewicht über 230 kg, im westlichen Atlantik werden sie bis zu 320 kg und im südöstlichen Pazifik bis 530 kg schwer. Weibchen werden größer als Männchen, die nur selten ein Gewicht von mehr als 140 kg erreichen. Der größte jemals gefangene Schwertfisch maß 4,55 Meter bei einem Gewicht von 650 Kilogramm. Während ihres Wachstums unterliegen Schwertfische großen morphologischen Änderungen. Die Kiefer ausgewachsener Schwertfische sind zahnlos, während junge Fische mit einer Körperlänge von bis zu einem Meter feine Zähnchen zeigen. Jungfische sind zudem mit kleinen, stachligen Schuppen bedeckt, während adulte Fische ab einer Körperlänge von einem Meter schuppenlos sind. Die Seitenlinie fehlt ausgewachsenen Schwertfischen, während sie bei bis zu einem Meter langen Jungfischen vorhanden ist. Ausgewachsene Schwertfische haben zwei Rückenflossen, die weit voneinander getrennt sind. Die erste, weitaus größere Rückenflosse befindet sich unmittelbar hinter dem Kopf und den Brustflossen. Sie wird von 34 bis 49 Flossenstrahlen gestützt; die viel kleinere zweite Rückenflosse, die sich kurz vor dem Schwanzflossenstiel befindet, besitzt vier bis sechs Flossenstrahlen. Jungfische haben eine längere, durchgehende Rückenflosse. Auch die Afterflosse ist zweigeteilt, die erste liegt etwas hinter der Körpermitte und hat 13 oder 14 Flossenstrahlen, die zweite, kurz vor dem Schwanzflossenstiel und ein klein wenig vor dem Beginn der zweiten Rückenflosse, besitzt drei oder vier Flossenstrahlen. Die Brustflossen sind sichelförmig, relativ starr und werden von 16 bis 18 Flossenstrahlen gestützt. Bauchflossen und der dazugehörende Beckengürtel fehlen. Die Schwanzflosse ist groß und halbmondförmig, der Schwanzflossenstiel ausgewachsener Tiere hat zu beiden Seiten je einen knorpeligen Kiel. Der Anus befindet sich nahe dem Anfang der ersten Afterflosse. Schwertfische sind auf dem Rücken schwarz-braun bis bläulich-grau, zum Bauch hin werden sie immer heller. Die Flossenmembran der ersten Rückenflosse ist schwarzbraun, die anderen Flossen sind schwarzbraun bis braun. Die Augen sind groß, das Maul nicht vorstülpbar. Die Kiemenöffnungen sind groß, Kiemenreusen sind nicht vorhanden. Die Anzahl der Wirbel liegt bei 26, darunter sind 15 bis 16 Rumpf- und zehn bis elf Schwanzwirbel. Von den auf den ersten Blick ähnlichen Marlinen, Fächer- und Speerfischen unterscheiden sich die Schwertfische neben ihrem stark abgeflachten Rostrum durch die kurze erste Rückenflosse und das Fehlen von Zähnen, Bauchflossen und Becken. Außerdem besitzen sie nur einen Kiel auf jeder Seite des Schwanzstiels; Fächer- und Speerfische haben dagegen zwei. Endothermie Der Schwertfisch hat einen partiell endothermen Stoffwechsel. Das bedeutet: Er ist in der Lage, seine Körpertemperatur teilweise von innen her zu regulieren. So sind Augen und Gehirn des Schwertfisches 10 °C bis 15 °C wärmer als das umgebende Wasser. Im äußeren Augenmuskel (Musculus rectus superior) machen die Mitochondrien (die „Kraftwerke“ der Zellen) 55 bis 77 % des Zellvolumens aus und haben damit den höchsten Anteil bei allen auf dieses Merkmal hin untersuchten tierischen Zellen. Des Weiteren ist im äußeren Augenmuskel der Gehalt an Myoglobin besonders hoch und das sarkoplasmatische Retikulum, das Calciumionen (Ca2+) speichert, vermehrt. Dagegen fehlen kontraktile Fibrillen. Die aus dem sarkoplasmatischen Retikulum entweichenden Ca2+-Ionen werden mit Ionenpumpen (Transportproteine) zurückgepumpt, was zur Produktion von Wärme führt. Der Sinn dieser Augen- und Gehirnerwärmung liegt wahrscheinlich darin, Temperaturunterschiede und die damit verbundene Beeinträchtigung der Hirn- und Sehleistung zu vermeiden, die entstehen würden, wenn die Beute jagenden Schwertfische verschieden temperierte Wasserschichten durchschwimmen. Die Muskelzellen des umgebauten Augenmuskels besitzen keine Calcium bindenden Proteine wie Troponin beziehungsweise Calmodulin, Aktin und Myosin. Hier wird allerdings, wie in anderen Zellen auch, in den Mitochondrien Adenosintriphosphat gebildet. Bei Erregung der Zelle wird Calcium aus dem Endoplasmatischen Retikulum ausgeschüttet. Der Anstieg der Calcium-Konzentration fördert die Adenosintriphosphatbildung im Mitochondrium. Es wird dazu verwendet, das Calcium mit Hilfe des Proteins Calsequestrin zurück ins endoplasmatische Retikulum zu pumpen. Die geleistete Arbeit wird hierbei in Wärme umgesetzt. Zusätzlich ist noch ein Rete mirabile vorhanden. Es führt durch einen Gegenstromkreislauf dazu, dass die Wärme im Gehirn gehalten wird. Lebensweise Schwertfische sind Bewohner des offenen Ozeans, sind aber gelegentlich auch in küstennahen Gewässern anzutreffen. Sie sind wärmeliebend und bevorzugen Wassertemperaturen über 13 °C. Deshalb halten sie sich vor allem im Epipelagial oberhalb der Thermokline zwischen wärmeren Oberflächen- und kaltem Tiefenwasser auf. Ihr Temperaturoptimum liegt bei 18 °C bis 22 °C. Unter allen Schwertfischartigen ist die Temperaturtoleranz beim Schwertfisch am größten und reicht von 5 °C bis 27 °C. Schwertfische können deshalb auch in das Mesopelagial in 5 °C bis 10 °C kaltes Wasser in Tiefen von 550 bis 650 Metern hinabtauchen, um z. B. bodenbewohnende Fische zu erbeuten. Sie wandern weite Strecken und suchen zur Fortpflanzung warme Gewässer auf und kalte, um genügend Nahrung zu finden. Generell ziehen sie im Sommer zur Nahrungssuche in gemäßigte oder kühlere Meeresregionen und wandern im Herbst zur Überwinterung in äquatornahe Zonen. Schwertfische, die im nordwestlichen Atlantik vor der Küste von Georgia und South Carolina mit Sendern markiert und mit Satellitentelemetrie verfolgt wurden, legten in 30 Tagen zwischen 11 und 1486,8 km zurück, in 60 Tagen bis zu 2547 km und nach 90 Tagen maß die zurückgelegte Strecke beim wanderfreudigsten Tier 3053,2 km. Schwertfische können hohe Geschwindigkeiten erreichen. Um den Strömungswiderstand zu reduzieren, besitzen sie im Kopf eine Drüse, die ein öliges Sekret produziert und dies über ein Netz von Kapillaren in der Kopfhaut über den Kopf verteilt. Da ihnen die Bauchflossen fehlen, sind die Tiere nicht in der Lage, abrupt zu bremsen. Dies war auch nicht nötig, da Hindernisse auf der Hochsee nicht vorhanden waren, bevor der Mensch damit anfing, die Meere mit Schiffen zu befahren. Es sind Unfälle bekannt geworden, bei denen mit hoher Geschwindigkeit jagende Schwertfische ihr Schwert durch hölzerne Bootsplanken bohrten. Dabei können auch Menschen zu Schaden kommen. Am 31. Mai 2015 wurde ein Fischer, der sich vor Hawaii ins Wasser begeben und einen Schwertfisch harpuniert hatte, von diesem regelrecht aufgespießt. Als Parasiten der inneren Organe der Schwertfische sind unter anderem Hakensaugwürmer (Monogenea), Saugwürmer aus der Unterklasse Digenea, Band- (Cestoda) und Fadenwürmer (Nematoda) bekannt. Ruderfußkrebse (Copepoda) parasitieren auf der Hautoberfläche. Bei Schwertfischen aus dem Golf von Guinea, die auf ihren Parasitenbefall untersucht worden sind, wurde in den Mägen aller Tiere der Bandwurm Tentacularia coryphaenae gefunden. Sein den Anus befallender Verwandter Pelichnibrothrium speciossum wurde bei 4,8 % der Tiere nachgewiesen. Die Prävalenz (der Befall) für die weiteren Parasitenarten liegt dazwischen. Ernährung Ausgewachsene Schwertfische sind Raubfische, die ihre Nahrung im freien Wasser und auf dem Meeresboden suchen. Dabei sind sie nicht wählerisch. Über tiefen Meeresregionen fressen sie vor allem pelagische Schwarmfische, darunter Thunfische, Goldmakrelen, Lanzenfische, Schlangenmakrelen, Fliegende Fische, Barrakudas und andere, sowie Kalmare. Über Flachwasserzonen des Meeres umfasst ihr Nahrungsspektrum Makrelen, Heringe, Sardinen, Sardellen, Eidechsenfische und Hornhechte. Große Schwertfische tauchen zum Beutefang auch sehr tief in Regionen, in denen die Wassertemperatur nur noch zwischen 5 °C und 10 °C beträgt. Hier erbeuten sie vor allem Seehechte, Seebrassen, Haarschwänze, Schlangenmakrelen, Stachelköpfe und typische Tiefseefische wie Laternenfische, Borstenmäuler und Tiefsee-Beilfische. Besonders an den aufgeschlitzten erbeuteten Kopffüßern lässt sich bei Untersuchungen des Mageninhalts erkennen, dass die Schwertfische ihre Beute auch durch Schläge mit der seitlichen Kante des Schwerts töten. Fortpflanzung Schwertfische sind sehr fruchtbar, die Eierstöcke der Weibchen können 2 bis 5 Millionen Eier enthalten. Die atlantische Population laicht ganzjährig, aber vor allem von April bis September in der Karibik, im Golf von Mexiko, an der Küste Floridas und in der südlichen Sargassosee. Die Ei- und Samenabgabe findet in einer Tiefe von 0 bis 75 Meter und bei einer Wassertemperatur von etwa 23 °C statt. Die Schwertfische des äquatorialen Pazifik vermehren sich ebenfalls das ganze Jahr über, im mittleren Pazifik von März bis Juli, im westlichen Südpazifik von September bis Dezember. Das am besten erforschte Laichgebiet liegt im Mittelmeer rund um den Süden Italiens und um Sizilien, vor allem in der Straße von Messina. Mit Ausnahme der Wintermonate Januar und Februar finden sich dort das ganze Jahr über ausgewachsene Schwertfische, das Laichen ist von Juni bis August sehr intensiv. Im freien Wasser schwebende Eier finden sich dort von Juni bis September und junge Schwertfische bis zu einem Gewicht von 5 kg von Oktober bis Dezember. Von November bis März treten junge Schwertfische zahlreich im gesamten Mittelmeer auf. Die Eier haben einen Durchmesser von 1,6 bis 1,8 mm, die frisch geschlüpften Larven sind etwa 4 mm lang. Die Larven bevorzugen Temperaturen über 24 °C. Jungfische leben zunächst in den oberen Wasserschichten und entwickeln sich schnell zu gefräßigen Raubfischen. Weibliche Schwertfische wachsen schneller als männliche. Mit einem Alter von 5 bis 6 Jahren sind Schwertfische geschlechtsreif und laichen zum ersten Mal. Die Altersbestimmung ist schwierig, weil „Jahresringe“ an Schuppen nicht abgelesen werden können, da solche nicht vorhanden und die Otolithen zu klein sind. Zur Altersbestimmung ist es deshalb notwendig, Jahresringe an Flossenstrahlen-Querschnitten zu zählen. Systematik Der Schwertfisch (Xiphias gladius) ist die einzige Art der Gattung Xiphias und der Familie Xiphiidae. Er stellt das Schwestertaxon der Fächer- und Speerfische (Istiophoridae) dar und bildet mit ihnen die Überfamilie der Schwertfischverwandten (Xiphioidea) in der Ordnung Carangiformes. Traditionell wurden der Schwertfisch und die Fächer- und Speerfische den „Makrelenartigen“ (Scombroidei) zugerechnet. Unter den Makrelenartigen scheint jedoch nur mit den Barrakudas (Sphyraenidae) eine nähere Verwandtschaft zu bestehen. Ansonsten sind der Schwertfisch und die anderen Istiophoriformes wahrscheinlich mit den Stachelmakrelen (Carangidae) und ihren nahen Verwandten, sowie den Centropomidae, den Schützenfischen (Toxotidae) und den Plattfischen (Pleuronectiformes) verwandt. Auch die scheibenförmigen Mondbarsche (Menidae) sind nah mit den Schwertfischartigen verwandt. Fossilbericht Die Familie Xiphiidae lässt sich mit Sicherheit seit dem unteren Eozän vor 48 Millionen Jahren fossil nachweisen. Ein sehr viel älteres, als Cylindracanthus beschriebenes fossiles Rostrum ist aus dem kreidezeitlichen Pierre Shale von South Dakota bekannt. Es wird für gewöhnlich in die Familie Xiphiidae gestellt, zeigt aber so wenig diagnostische Merkmale, dass auch eine Zuordnung zu den Störartigen (Acipenseriformes) in der Diskussion ist. Xiphiorhynchus aus dem Eozän und aus dem Oligozän ist die erste sicher den Xiphiidae zuzuordnende Gattung. Fossilien wurden in Belgien, England, Ungarn, Ägypten und den USA gefunden. Xiphias selber erschien vor 15 Millionen Jahren im mittleren Miozän, die rezente Art Xiphias gladius ist seit dem unteren Pliozän nachgewiesen. Aus der gleichen Zeit stammt die ausgestorbene Art Xiphias delfortrierii, deren fossile Überreste in der italienischen Provinz Pisa gefunden wurden. Fischerei und Bestand Dem Schwertfisch wird als einem begehrten Speisefisch weltweit nachgestellt. Zum Fang benutzt man Langleinen, Harpunen und Netze. Wegen seiner Größe und Wildheit ist er eine begehrte Trophäe für Hochseeangler. Beim Versuch, sich von der Schnur zu befreien, liefert der Schwertfisch einen lang andauernden Kampf und schießt in spektakulären Sprüngen aus dem Wasser. Schwertfischfleisch ist rosa, ausgesprochen schmackhaft und eine gefragte Delikatesse; ähnlich wie Thunfischfleisch ist es fest und sehr mager. Es wird frisch oder gefroren vermarktet und für Steaks, Konserven, Sashimi oder Teriyaki genutzt. Ausgewachsene, große Individuen können im Laufe ihres Lebens in ihrem Fleisch das giftige Schwermetall Quecksilber angereichert haben. Hauptfangnationen sind Japan, die USA, Italien, Spanien, Kanada, Südkorea, Taiwan, die Philippinen und Mexiko. Bedeutende Fanggebiete sind das Mittelmeer, der Golf von Mexiko und im Atlantik die Georges Bank vor dem Golf von Maine, die Grand Bank vor Neufundland, der Golf von Guinea, und im Südatlantik die Küsten Brasiliens und Uruguays. Im Pazifik werden Schwertfische vor allem von Kalifornien bis Ecuador, Peru und Nordchile gefangen, außerdem an der Ostküste Australiens und rund um Neuseeland. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage ist die Fangmenge seit den 1980er Jahren stark angestiegen. Lag sie zwischen 1950 und 1980 unter 40.000 Tonnen im Jahr, so überschritt sie 1995 erstmals 100.000 Tonnen und erreicht mit den letzten veröffentlichten Zahlen von 2014 mit 126.879 Tonnen ihren Höhepunkt. Die IUCN schätzte zuletzt 2021 den Gesamtbestand als potenziell gefährdet ein (Near Threatened), während er 2011 noch als nicht gefährdet (Least Concern) gelistet wurde. Weltweit ging der Bestand in den letzten 20 Jahre um mindestens 22 % zurück, mit unterschiedlichen Entwicklungen in verschiedenen Populationen. Insbesondere die Bestände im Mittelmeer und Südatlantik leiden unter Überfischung. Greenpeace hält den Konsum von Schwertfischfleisch, mit Stand 2016 von einer Ausnahme abgesehen, für nicht vertretbar. Auch der WWF hält den Konsum von Schwertfisch grundsätzlich für nicht vertretbar und nennt als einzige Ausnahme nur Fänge aus dem Nordwestatlantik (FAO 21), die mit Handleinen, Angelleinen oder Harpunen gefischt wurden. Kultur Nach dem Schwertfisch wurden ein Sternbild, ein Film, mehrere Kriegsschiffe der britischen Marine (HMS Swordfish) und U-Boote der US-amerikanischen Marine benannt, außerdem ein britischer Doppeldecker, die Fairey Swordfish, die während des Zweiten Weltkriegs als trägergestützter Torpedobomber, Aufklärer und U-Boot-Jäger eingesetzt wurde. Ein Schwertfisch ziert die Abzeichen der beiden Waffentaucher-Kompanien: der Minentaucher-Kompanie und der Kampfschwimmer-Kompanie. Der Film Der Sturm aus dem Jahr 2000, mit George Clooney in einer der Hauptrollen, handelt im Wesentlichen von der Arbeit und dem harten Alltag der Fischer beim Schwertfischfang. Literatur Matthias Bergbauer, Bernd Humberg; Monika Weymann (Hrsg.): Was lebt im Mittelmeer? Ein Bestimmungsbuch für Taucher und Schnorchler. 2. Auflage, Erstausgabe 1999. Kosmos, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-440-11736-1. Kurt Fiedler; Dietrich Starck (Hrsg.): Lehrbuch der Speziellen Zoologie. Band II: Wirbeltiere, Teil 2: Fische. Gustav Fischer, Jena 1991, ISBN 3-334-00339-6. Bent J. Muus, Jørgen G. Nielsen (Text), Preben Dahlström, Bente Olesen Nyström (Illustrationen): Die Meeresfische Europas. In Nordsee, Ostsee und Atlantik. (Originaltitel: Havfisk og fiskeri i Nordvesteuropa, übersetzt von Matthias Stehmann), Kosmos, Stuttgart 1999, ISBN 3-440-07804-3. Izumi Nakamura: FAO Species Catalogue An Annotated and Illustrated Catalogue of Marlins, Sailfishes, Spearfishes and Swordfishes Known to date. United Nations Development Programme Food and Agriculture Organization, Rom 1985, ISBN 92-5-102232-1 (englisch online). Joseph S. Nelson: Fishes of the World. 4 edition. John Wiley & Sons, New York 2006, ISBN 978-0-471-25031-9. Einzelnachweise Weblinks Food and Agriculture Organization of the United Nations: Species Fact Sheets Xiphias gladius (Linnaeus, 1758) Schwertfischverwandte Speisefisch
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https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4morrhoiden
Hämorrhoiden
Hämorrhoiden (von „Blut“ und „fließen“; veraltete Bezeichnungen blinde Adern, goldene Adern, Goldadern), in vereinfachter Sprache auch Hämorriden genannt, sind arterio­venöse Gefäßpolster, die ringförmig unter der Enddarmschleimhaut angelegt sind und dem Feinverschluss des Afters dienen. Es handelt sich um variköse Erweiterungen der Venen des Enddarms im Bereich der Schließmuskeln des Afters. Wenn von Hämorrhoiden gesprochen wird, sind damit aber meist vergrößerte oder tiefer getretene Hämorrhoiden im Sinne eines Hämorrhoidalleidens gemeint, die Beschwerden verursachen. Diese Beschwerden sind vor allem wiederholte anale Blutungen und anales Nässen, quälender Juckreiz und Stuhlschmieren. Symptomatische Hämorrhoiden sind in der westlichen Welt eine der häufigsten Erkrankungen, aber gesellschaftlich weitgehend tabuisiert. Es ist eine Erkrankung des Alters. Hämorrhoidalleiden vor dem 35. Lebensjahr sind selten. Die Ursachen der Erkrankung sind noch weitgehend ungeklärt. Symptomatische Hämorrhoiden sind eine progressiv voranschreitende Erkrankung, die in vier Erkrankungsgrade eingeteilt wird. Aufgrund ihrer hohen Verbreitung wird die Diagnose ‚Hämorrhoidalleiden‘ oft sehr leichtfertig und häufig von den Betroffenen selbst gestellt. Dabei zeichnen sich einige wesentlich schwerwiegendere Erkrankungen durch eine sehr ähnliche Symptomatik aus. Hämorrhoidalia, das sind vor allem Salben und Cremes zur Behandlung eines Hämorrhoidalleidens, können allenfalls die Beschwerden lindern. Es ist damit weder eine Heilung noch ein Stoppen des Voranschreitens der Erkrankung möglich. Mit einer Basistherapie kann zumindest das Voranschreiten der Erkrankung gebremst werden. Eine Heilung ist nur durch operative Eingriffe möglich. Im frühen Krankheitsstadium können diese Eingriffe ambulant und minimalinvasiv erfolgen. Weit fortgeschrittene Hämorrhoidalleiden können nur noch durch eine Operation mit stationärem Krankenhausaufenthalt geheilt werden. In vielen Fällen begeben sich die Betroffenen erst dann in ärztliche Behandlung, wenn die Schmerzen und Unannehmlichkeiten das Schamgefühl überwiegen. Anatomie und Funktion des Hämorrhoidalplexus Der Hämorrhoidalplexus, auch Corpus cavernosum recti oder Plexus haemorrhoidalis superior genannt, ist ein breitbasig aufsitzendes, schwammartiges, arteriovenöses Gefäßpolster, das ringförmig unter der Schleimhaut des Mastdarmendes (der Submukosa des distalen Rektums) liegt und im Normalfall unmittelbar oberhalb der Grenzlinie (Linea dentata) zwischen Analkanal und Mastdarm endet. Dieser Schwellkörper wird vom Musculus canalis ani und elastischen Fasern im oberen Analkanal gehalten. Das Corpus cavernosum recti wurde früher auch Zona haemorrhoidalis genannt. Diese Bezeichnung wurde aus der anatomischen Nomenklatur gestrichen, da haemorrhoidalis einen pathologischen Zustand bezeichnet. Arterielle Versorgung Der Hämorrhoidalplexus ist ein Bestandteil des Kontinenzorgans und wird arteriell über die Arteria rectalis superior versorgt. Das Gefäßpolster ist zwar ringförmig angelegt, die anatomische Lage der meist drei blutversorgenden Äste der A. rectalis superior bewirkt aber eine Betonung der Polster, der Hämorrhoidalhauptknoten, in drei Sektoren, und zwar in der anatomischen Lage 3 (vom Patienten aus betrachtet links), 7 und 11 Uhr (vom Patienten aus betrachtet rechts). Die 6-Uhr-Lage zeigt gemäß der Definition der Steinschnittlage immer auf die Steißbeinspitze, unabhängig von der Untersuchungsposition. Den Hauptknoten können Nebenknoten zugeordnet werden. So hat der 7-Uhr-Hauptknoten zwei Nebenknoten auf 9 und 6 Uhr und der 3-Uhr-Hauptknoten zwei Nebenknoten auf 1 und 4 Uhr. Der 11-Uhr-Hauptknoten entwickelt nur selten Nebenknoten; wenn dann auf 12 Uhr. Ein erwachsener Mensch hat somit normalerweise drei Hämorrhoidalhaupt- und vier, maximal fünf Hämorrhoidalnebenknoten. Die Hämorrhoidalknoten (Hämorrhoiden) entwickeln sich im Laufe der Pubertät und sind kein pathologischer Befund, sondern normal. Obwohl die pathologischen Veränderungen dieses Schwellkörpers schon seit Jahrtausenden als Hämorrhoidalleiden der Menschheit bekannt sind, wurde der Hämorrhoidalplexus – der anatomische Normalfall – und seine Funktion erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckt. Die Arteria rectalis superior kann individuelle Variationen aufweisen und beispielsweise bis zu fünf Endäste bilden, die dann den Hämorrhoidalplexus speisen. Venöser Abfluss Die venösen Abflüsse des Hämorrhoidalplexus führen durch den inneren und äußeren Schließmuskel (Musculus sphincter ani internus bzw. externus), die zusammen mit dem Hämorrhoidalplexus und weiteren muskulären, nervalen und epithelialen Strukturen das Kontinenzorgan bilden. Der Hämorrhoidalplexus verschließt den Analkanal von innen. Dazu greifen die Hämorrhoidalknoten sternförmig ineinander. Dies bewirkt die Feinabdichtung des Anus, die für die anale Kontinenz, das heißt die Fähigkeit, den Stuhlgang eine gewisse Zeit zurückhalten beziehungsweise den Ausscheidungsvorgang willentlich auszulösen, sehr wichtig ist. Der Anteil des Corpus cavernosum recti an der Kontinenzleistung im Ruhezustand liegt bei etwa 10 bis 15 %. Ist der innere Schließmuskel angespannt, so wird der venöse Abfluss gedrosselt, und der Hämorrhoidalplexus füllt sich mit Blut. Dadurch wird die Passage von Kot und Darmgasen verhindert. In dieser Funktion spielt das Corpus cavernosum recti auch entwicklungsgeschichtlich bei der Sozialisation des Menschen eine wichtige Rolle. Mechanismus des Analkanal-Verschlusses Die Schließmuskeln des Afters wären alleine nicht in der Lage, den Analkanal zu verschließen. Selbst bei einer maximalen Kontraktion dieser Ringmuskeln verbliebe eine Öffnung von etwa 10 mm Durchmesser, die erst durch den Musculus canalis ani und das darauf aufsitzende Corpus cavernosum recti verschlossen werden kann. Signalisieren die Nervenenden des Rektums dem Gehirn, dass in der Ampulla recti des Mastdarms genügend Kot vorhanden ist, so stellt sich das Bedürfnis des Stuhlgangs ein. Der innere Schließmuskel erschlafft daraufhin, und aus dem Hämorrhoidalplexus fließt das Blut ab, wodurch der Verschluss geöffnet wird und Kot ausgeschieden werden kann. Dieser Vorgang läuft unwillkürlich ab. Über den von der Beckenmuskulatur unterstützten äußeren Schließmuskel lässt sich der Stuhlgang dagegen willkürlich steuern. Das Corpus cavernosum recti enthält keine Arteriolen und keine Venolen. Es ist eine direkte Gefäßverbindung von den Ästen der zuführenden A. rectalis superior und den abführenden Venen, ohne Kapillaren (funktioneller Kreislauf). Die arteriellen Endäste münden direkt in große schwammartige (lakunäre) Gefäße. Diese Gefäße leiten das Blut wiederum in einer Art Strickleitersystem in die obere, mittlere und untere Rektalvene (Vena rectalis superior, media und inferior) ab. Dieser Gefäßaufbau (arterio-venöser „Kurzschluss“) ermöglicht den Aufbau eines erheblichen Drucks in den Blutgefäßen. An der Oberfläche des Hämorrhoidalplexus befindet sich ein arterielles Gefäßsystem, das in kleinere Blutgefäße verzweigt und in die Zwischenräume des Plexus einstrahlt. Dieses Gefäßsystem versorgt das Corpus cavernosum recti selbst mit Blut (nutritiver Kreislauf; nutritiv = ‚der Ernährung dienend‘). Hämorrhoiden sind wegen der arteriellen Blutversorgung kirschrot. Lediglich bei einem Hämorrhoidalleiden kann ein vor den After verlagerter Hämorrhoidalknoten durch Verklemmung seine Farbe ändern. Durch die Blutstauung wird er dann blaurot und scheinbar venös. Definitionen und Abgrenzungen Nach Maßgabe der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Koloproktologie sollte erst bei einer Vergrößerung (Hyperplasie) des Corpus cavernosum recti von ‚Hämorrhoiden‘, und nur wenn die Hämorrhoiden Beschwerden verursachen, von ‚Hämorrhoidalleiden‘, beziehungsweise von ‚symptomatischen Hämorrhoiden‘, gesprochen werden. Diese klaren Begriffsdefinitionen werden allerdings in vielen Publikationen und insbesondere in der Alltagssprache weitgehend missachtet. Der anatomische Begriff Hämorrhoiden wird meist als Synonym für ein Hämorrhoidalleiden verwendet. Speziell in der schweizerischen und englischsprachigen Fachliteratur werden die Begriffe ‚innere‘ (internal) und ‚äußere‘ (external) Hämorrhoiden (haemorrhoids) verwendet. Zur Unterscheidung wird dabei die Linea dentata als Grenzlinie herangezogen. „Äußere Hämorrhoiden“ entstehen dabei unterhalb (distal bzw. aboral) der Linea dentata, „innere“ oberhalb (proximal bzw. oral) davon. „Äußere Hämorrhoiden“ sind Erkrankungen des um den Anus unter der Haut liegenden Venengeflechts (Plexus haemorrhoidalis inferior). In Deutschland wird von den Bezeichnungen ‚innere‘ und ‚äußere‘ Hämorrhoiden abgeraten. Eine „äußere Hämorrhoide“ wird als Perianalthrombose, Analthrombose, perianale Thrombose, Analvenenthrombose, perianales Hämatom, perianaler Bluterguss oder unechte Hämorrhoide bezeichnet. Perianalthrombosen sind schmerzhafte blauschwarze Blutergüsse, die durch eine geplatzte perianale Vene entstehen. Hämorrhoiden sind keine „Krampfadern (Varizen) des Anus“. Krampfadern sind sichtbare, gewundene, in die Länge gezogene und erweiterte oberflächliche, große Venen. Rektale Varizen, die sich vor allem bei Patienten mit Pfortaderhochdruck bilden können, sind ein eigenständiges Krankheitsbild, das von Hämorrhoiden beziehungsweise einem Hämorrhoidalleiden zu unterscheiden ist. Trotz dieser anatomischen und pathologischen Sachverhalte wurden im ICD-10-System zur Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ‚Hämorrhoiden‘ unter dem Code I84 aufgeführt und dem Themenkomplex Krankheiten der Venen, der Lymphgefäße und der Lymphknoten, anderenorts nicht klassifiziert (I80–I89) zugeordnet. Unter I84 finden sich unter anderem die Krankheitsbilder rektale Krampfadern (I84 Varizen des Anus oder Rektums), perianale Thrombosen (I84.3 äußere thrombosierte Hämorrhoiden) und Marisken als Folgezustand von Hämorrhoiden (I84.6) (eigentlich ein Folgezustand einer Perianalthrombose). In der Literatur wird selbst im 21. Jahrhundert vielfach noch die falsche Bezeichnung ‚variköse Venen‘ verwendet. Der Fehler findet sich beispielsweise in Büchern zu Amtsarztprüfungen. Seit 2013 werden Hämorrhoiden unter K64 und damit im Kapitel Krankheiten des Verdauungssystems geführt. Hämorrhoiden werden von Arterien gespeist. Werden sie verletzt, so tritt hellrotes – das heißt arterielles – Blut aus, das aus den arteriovenösen Anastomosen der Gefäßkammern der Anorektalschleimhaut stammt. Im Gegensatz dazu ist das Blut bei den viel seltener blutenden Perianalthrombosen („äußeren Hämorrhoiden“), das aus dem Plexus haemorrhoidalis inferior stammt, dunkelrot, das heißt venösen Ursprungs. Verbreitung Hämorrhoidalleiden entwickeln sich meist im Altersbereich von etwa 45 bis 65 Jahren. Frauen und Männer sind etwa gleich oft betroffen. Außergewöhnlich sind Hämorrhoiden vor dem Erreichen des zwanzigsten Lebensjahrs. Hämorrhoidalleiden sind eine sehr häufige Erkrankung, weswegen sie gelegentlich auch als „Volkskrankheit“ bezeichnet werden. In Deutschland gibt es jedes Jahr etwa 3,5 Millionen Fälle, die behandelt werden. Dabei werden etwa 50.000 Operationen durchgeführt. Es wird geschätzt, dass es in den westlichen Industrienationen jedes Jahr zu etwa 1000 Hämorrhoiden-bedingten Arztbesuchen pro 100.000 Menschen, das sind pro Jahr 1 % der Bevölkerung, kommt. Darüber hinaus gibt es einen kaum zu erfassenden hohen Anteil an Selbstdiagnosen und -behandlungen. Über die Anzahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) und die Krankheitshäufigkeit (Prävalenz) gibt es sehr unterschiedliche Angaben: In zahlreichen Fachartikeln und Fachbüchern werden pauschal sehr hohe Zahlen für die Häufigkeit symptomatischer Hämorrhoiden genannt, die sich im Bereich von 50 % der Bevölkerung bewegen. Symptomatische Hämorrhoiden werden von einigen Autoren als „häufigste Erkrankung des Enddarms“ eingestuft. Auch finden sich Angaben, dass etwa 70 bis 80 % der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens hämorrhoidale Komplikationen erfahren würden. Diese Zahlen basieren allerdings nicht auf epidemiologischen Daten, sondern auf Schätzungen von Fachleuten. Die wenigen vorhandenen epidemiologischen Studien kommen zu erheblich geringeren Häufigkeiten. Ein Grund hierfür ist, dass offensichtlich eine Vielzahl analer Beschwerden, wie beispielsweise Analekzeme, symptomatischen Hämorrhoiden zugerechnet werden. Auch zur Prävalenz von Hämorrhoiden gibt es nur wenige Studien. Die Autoren der Leitlinie Hämorrhoidalleiden der Deutschen Gesellschaft für Koloproktologie vom Juli 2008 kommen gar zu dem Schluss: valide epidemiologische Studien zur Prävalenz der Hämorrhoiden liegen nicht vor. Die vorhandenen Studien streuen erheblich in ihren Ergebnissen, was vor allem durch das Studiendesign, aber auch durch die Problematik bei der Bestimmung der Prävalenz bedingt ist. Viele Patienten ‚sitzen‘ wegen ihres Schamgefühls zunächst das Leiden aus, versuchen es mit Selbstbehandlung oder folgen unqualifizierten Empfehlungen. Ein Schwachpunkt früherer Studien ist, dass die Patienten mündlich oder schriftlich nach Symptomen für Hämorrhoidalleiden – die allerdings auch bei anderen Erkrankungen auftreten können – befragt wurden. Für verlässliche Daten ist eine ärztliche Untersuchung unerlässlich. Bei einer Studie wurden beispielsweise die Krankenakten einer kolorektalen Station – also einer Station, die sich mit Erkrankungen des Dickdarms und des Mastdarms befasst – ausgewertet. Die Autoren der Studie ermittelten dabei eine Prävalenz von 86 % für asymptomatische und symptomatische Hämorrhoiden. Diese Studie wurde bei einer sehr speziellen selektierten Patientengruppe erhoben. Systematische Fehler können deswegen nicht ausgeschlossen werden. 1990 erschien eine Metaanalyse, bei der Daten aus der National Health Interview Survey, der National Hospital Discharge Survey und des National Disease and Therapeutic Index der Vereinigten Staaten und die Morbidity Statistics from General Practice aus England und Wales ausgewertet wurden. Die Autoren kamen dabei auf eine Prävalenz von 4,4 %, was 10 Millionen US-Bürgern entsprach, die unter Hämorrhoiden leiden. Das Häufigkeitsmaximum lag dabei im Altersbereich von 45 bis 65 Jahren. In den zuvor genannten Studien wurden die Hämorrhoiden weder in symptomatisch oder asymptomatisch eingeteilt, noch nach ihren Stadien klassifiziert. Im September 2011 wurden die Ergebnisse einer prospektiven Studie aus den Jahren 2008 und 2009 veröffentlicht, bei der 976 Patienten in Österreich im Rahmen der Darmspiegelung (Koloskopie) zur Krebsvorsorge an vier verschiedenen Kliniken auf Hämorrhoiden hin untersucht wurden. Die Hämorrhoiden wurden dabei nach einem standardisierten System klassifiziert. Bei insgesamt 380 Patienten (38,9 %) wurden Hämorrhoiden diagnostiziert. Betrachtet man nur die 380 Patienten, so waren bei der Mehrzahl (72,9 %) die Hämorrhoiden im Stadium 1, bei 18,4 % im Stadium 2, bei 8,2 % im Stadium 3 und bei nur 2 Patienten (= 0,5 %) im Stadium 4. Knapp die Hälfte (44,7 %) der Patienten mit diagnostizierten Hämorrhoiden klagte über Symptome, die im Zusammenhang mit ihren Hämorrhoiden stehen. Entsprechend waren 55,3 % ohne Beschwerden. Auf alle 976 Patienten der Studie gerechnet klagten 17 % über symptomatische Hämorrhoiden. In einer anderen Studie wurden 548 Patienten mit unklaren Symptomen im Bauch und/oder Anus befragt und anschließend proktologisch-koloskopisch untersucht. 63 % der Patienten glaubten ein Hämorrhoidalleiden zu haben, 34 % glaubten dies nicht und der Rest machte keine Angabe. Bei der Untersuchung wurden jedoch nur bei 18 bzw. 13 % dieser Patienten Hämorrhoiden nachgewiesen. Die Autoren der Studie schließen daraus, dass Hämorrhoiden zu häufig vermutet und behandelt werden. In einer italienischen Studie aus dem Jahr 2010 wurden 116 Patienten vor ihrer Nierentransplantation auf asymptomatische und symptomatische Hämorrhoiden hin untersucht. 70,6 % hatten keine Hämorrhoiden. Bei 24 % wurden Hämorrhoiden ersten Grades und bei 5,4 % zweiten Grades festgestellt. Kein Patient hatte Hämorrhoiden dritten oder vierten Grades. Nach der Transplantation entwickelten 22,4 % der 116 Patienten Hämorrhoiden dritten und vierten Grades. Dies war insbesondere bei den Patienten der Fall, die bereits zuvor Hämorrhoiden aufgewiesen hatten oder nach der Transplantation schnell an Körpergewicht zunahmen. Die Autoren der Studie vermuten, dass die immununterdrückende Therapie nach der Transplantation eine wichtige Rolle bei der Verschlechterung der Hämorrhoidalleiden spielt. Afroamerikaner sind signifikant weniger oft betroffen als Weiße. In unterentwickelten Ländern sind Hämorrhoidalleiden ausgesprochen selten. Krankheitsentstehung und -verlauf Über die Ursachen (Ätiologie) der Entstehung eines Hämorrhoidalleidens gibt es keine gesicherten Daten aus klinischen Studien. Die wenigen vorhandenen Studien liefern zum Teil widersprüchliche Ergebnisse. Eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren wird teilweise kontrovers diskutiert. Während die Ätiologie weitgehend unklar ist, so ist die Entstehung und Entwicklung (Pathogenese) größtenteils gesichert. Hämorrhoiden sind die Folge eines Zerfalls muskulärer und elastischer Komponenten, der eine krankhafte Verlagerung und Vergrößerung des Corpus cavernosum recti in Richtung des Anus (distal) bewirkt. Die Verlagerung stört den anatomischen Aufbau des Analkanals. Insbesondere beim Stuhlgang wirken Scherkräfte auf die Gefäße des Corpus cavernosum recti, die zu Schäden an den Gefäßwänden und Durchblutungsstörungen im Gefäßplexus führen können. Die häufig zu beobachtenden Blutungen kommen von arteriellen Gefäßen an der Oberfläche des Plexus und resultieren aus der mechanischen Beanspruchung. Ätiologie Die Ursachen für Vergrößerung und Vorfall des Hämorrhoidalplexus sind noch weitgehend unklar. Es wird eine Vielzahl von Auslösern kontrovers diskutiert. Ausreichend gesicherte Daten liegen nicht vor, und die vorhandenen Daten sind oft widersprüchlich. Ernsthaft diskutiert werden eine fehlerhafte Ernährung, gestörtes Defäkationsverhalten, Funktionsstörungen, die den Mastdarm und After betreffen, familiäre Veranlagungen und eine Drucksteigerung im Bauch. Von vielen Autoren wird dem Defäkationsverhalten eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines Hämorrhoidalleidens zugeschrieben. Das zu frühzeitige und zwanghafte Bauchpressen beim Stuhlgang bewirkt kleinvolumige Stuhlportionen und eine daraus resultierende erhöhte Belastung des Hämorrhoidalplexus bei der Darmentleerung. Dabei können sich beide Faktoren der unphysiologischen Defäkation gegenseitig beeinflussen. Zu kleine Stuhlvolumina führen automatisch zu häufigeren Stuhlgängen mit verstärktem Einsatz der Bauchpresse, so dass der Kot im Rektum gegen die noch mit Blut gefüllten Hämorrhoidalpolster gepresst wird. Die Blutentleerung der Gefäßpolster kann nicht willkürlich erfolgen, sondern benötigt den rektoanalen Reflex, der bei der ‚zwanghaften‘ Defäkation ausbleibt. Der wiederholte willkürliche Druck auf die Hämorrhoidalpolster bewirkt deren zunehmende Verschiebung nach außen. In mehreren Studien konnte ein eindeutiger Zusammenhang zwischen chronischer Verstopfung (Obstipation) und Hämorrhoiden festgestellt werden. Verstopfung kann wiederum zu einem falschen Defäkationsverhalten führen. Andere Autoren bezweifeln, dass Verstopfung Hämorrhoidalleiden fördert. Eine fehlerhafte Ernährung mit zu wenig Ballaststoffen wird für die Entstehung von Hämorrhoidalleiden mit verantwortlich gemacht. Die Basis dieser Theorie ist im Wesentlichen eine epidemiologische Studie aus dem Jahr 1977, in der festgestellt wurde, dass Afrikaner sich ballaststoffreich ernähren und erheblich seltener an manchen Zivilisationskrankheiten als Europäer und Amerikaner erkranken, die vor allem ballaststoffarme Nahrung zu sich nehmen. Tatsächlich sind Hämorrhoiden in ländlichen Gegenden Afrikas ausgesprochen selten. Einige Studien zeigen positive Effekte bei einer ballaststoffreichen Ernährung. Einige Autoren bezweifeln allerdings den Sinn einer ballaststoffreichen Ernährung, da diese große Stuhlmengen zur Folge hat, was wiederum einen häufigeren Stuhlgang und somit einen vermehrten Stress der Hämorrhoidalpolster verursacht. In einer Studie aus dem Jahr 2011 konnte eine Korrelation zwischen dem Body-Mass-Index (BMI) und der Häufigkeit von Hämorrhoiden ermittelt werden. So betrug der durchschnittliche BMI bei Patienten mit Hämorrhoiden 27,04 und bei Patienten ohne 26,33 kg/m². Der Unterschied ist zwar relativ gering, aber dennoch statistisch signifikant. In dieser Studie war dies der einzige unabhängige Risikofaktor für Hämorrhoiden, während Geschlecht, Bildungsgrad, Familienstand, Schwangerschaft und Art der Entbindung (vaginal oder Kaiserschnitt) ohne Signifikanz waren. Nach dieser Studie war das Alter der bedeutendste Risikofaktor. In einer französischen Studie mit über 2000 Patienten aus dem Jahr 2005 wurden als Risikofaktoren für ein Hämorrhoidalleiden eine scharfe Ernährung, kürzliche akute Verstopfungen, erhöhter Alkoholkonsum und körperliche Anstrengungen ermittelt. Dagegen stellte in dieser Studie Übergewicht keinen Risikofaktor dar. Stress hatte sogar eine Schutzfunktion. Sehr kontrovers wird der Einfluss einer Schwangerschaft auf die Entstehung von Hämorrhoiden diskutiert. Grundsätzlich kann es im Verlauf einer Schwangerschaft durch hormonelle Veränderungen und den Platzbedarf des Fetus zu Symptomen und Beschwerden im Analbereich kommen. Es finden sich in der Fachliteratur viele Beiträge mit Aussagen bezüglich einer Häufung von Hämorrhoidalleiden bei Schwangerschaften. Evidenzbasierte Studien liegen zu diesem Aspekt jedoch nicht vor. Einige Proktologen bezweifeln die korrekte Diagnosestellung und vermuten eine mögliche Verwechslung mit Marisken. Zudem sind die meisten Frauen einige Wochen nach der Geburt ohne Behandlung der „Hämorrhoiden“ symptomfrei. In vielen Fällen handelt es sich offenbar um Perianalthrombosen („äußere Hämorrhoiden“) oder Analfissuren. So konnte in einer französischen Studie bei einem Drittel der jungen Mütter eine Perianalthrombose oder eine Analfissur diagnostiziert werden. In einer Studie wurde eine Zunahme „symptomatischer Hämorrhoiden“ in den ersten Wochen nach der Geburt festgestellt. Nach 8 bis 24 Wochen waren die Symptome jedoch wieder verschwunden. Dieser Krankheitsverlauf entspricht ebenfalls mehr dem einer Perianalthrombose als einem Hämorrhoidalleiden. Die genetische Prädisposition in Form einer angeborenen Bindegewebsschwäche wird häufig als eine mögliche Ursache für die Entstehung von Hämorrhoiden ins Feld geführt. Evidenzbasierte Studien liegen dazu jedoch nicht vor. (Stand März 2012) Pathogenese Eine wesentliche Rolle bei der Entstehung symptomatischer Hämorrhoiden spielt der Schließmuskelapparat. So haben beispielsweise muskulär inkontinente Patienten nie Hämorrhoiden, während sie bei Patienten mit Querschnittlähmung durchaus üblich sind. Die elastischen Fasern und Kollagenfasern, die das Corpus cavernosum recti zusammen mit dem Musculus canalis ani im Rektum oberhalb der Linea dentata halten beziehungsweise ihm Zugfestigkeit verleihen, beginnen ab der dritten Lebensdekade durch das physiologische Altern zu fragmentieren. Diese Fasern ummanteln die Gefäße wie ein Strumpf. Deshalb sind Hämorrhoiden vor dem 30. Lebensjahr sehr selten. Zu Beginn des Hämorrhoidalleidens vergrößert sich zumindest ein, meist alle drei Hämorrhoidalknoten, die dann weiter in den Analkanal hineinragen. Ursache hierfür ist die Degeneration der Fasern in der extrazellulären Matrix des Hämorrhoidalplexus und der erhöhte Druck in den arteriovenösen Gefäßen. Verletzungen der empfindlichen Schleimhautoberflächen führen zu dem bekannten Symptom der arteriellen Blutung. Histologisch sieht man übermäßig angewachsene Muskelfasern des Musculus canalis ani und des Bindegewebes. Mittels transperinealer (durch den Damm) Dopplersonografie kann ein erhöhter lokaler Blutfluss zum Hämorrhoidalplexus gemessen werden. Das Voranschreiten der Verlagerung des Hämorrhoidalplexus wird durch die Passage harten Stuhls, der Scherkräfte auf die Polster nach außen ausübt, beschleunigt. Ein verstärktes Pressen beim Stuhlgang bewirkt einen verminderten venösen Ablauf (Blutstau), und der dadurch erhöhte Blutdruck im Hämorrhoidalpolster führt zu dessen weiterer Vergrößerung. Mit der Erosion des Epithels des Hämorrhoidalplexus kommt es zu Entzündungsprozessen und Blutungen. Darüber hinaus werden im Hämorrhoidalplexus übermäßig neue Blutgefäße gebildet: Bei diesem Neovaskularisation genannten Vorgang wird durch eine erhöhte Expression von Wachstumsfaktoren, wie beispielsweise VEGF und EGFR, im Epithel der Mukosa und Submukosa des Hämorrhoidalplexus vorangetrieben. Die weitere Vermehrung des Bindegewebes und die Hypertrophie des Musculus canalis ani führt zu tastbaren, derben Knoten (Hämorrhoiden zweiten Grades). Ödeme und Fibrosen schädigen diesen Muskel weiter, so dass er in seinem oberen (kranialen) Bereich leicht einreißen kann. Dadurch können die verhärteten Knoten unterhalb der Linea dentata in die sensible Analhaut vordringen (Hämorrhoiden dritten Grades). Durch die Degeneration des Kontinenzorgans kommt es in den betroffenen Segmenten zu einer Reduzierung der Abschlussfähigkeit. Schleim aus dem Rektum kann unwillentlich auf die Analhaut gelangen und auf dieser zu Ekzemen (Analekzem) und Pruritus ani (Juckreiz am After) führen. Im Endstadium besteht der Hämorrhoidalplexus weitgehend aus Bindegewebsfasern und wenigen ungeordneten hypertrophischen Muskelfasern, wodurch der Vorfall der Hämorrhoidalknoten, der Analprolaps, irreversibel wird. Das Kontinenzorgan ist in diesem Stadium durch die Schädigung des angiomuskulären Verschlusses so stark beeinträchtigt, dass die Kontrolle über Darmgase und Stuhl gestört ist. Die progressive Verlagerung des Hämorrhoidalplexus nach distal wird nach William Hamish Fearon Thomson als sliding anal lining-Theorie bezeichnet und hat die zuvor übliche Annahme, Hämorrhoiden seien Krampfadern und hätten dieselbe Pathogenese, abgelöst. Symptome in den vier Stadien Die Symptome und Beschwerden sind bei einem Hämorrhoidalleiden von Patient zu Patient sehr einheitlich, jedoch uncharakteristisch und treten bei vielen anderen Erkrankungen im Bereich des Enddarms in ähnlicher Form auf. Die Beschwerden sind vor allem wiederholte anale Blutungen und anales Nässen, quälender Juckreiz der perianalen Haut (Pruritus ani), Stuhlschmieren und analer Gewebeprolaps. Schmerzen sind dagegen eher selten. Treten im Bereich des Anus Schmerzen auf, so sind diese vor allem auf Analfissuren, Fisteln oder Abszesse zurückzuführen. Bei den geschilderten Beschwerden spricht man auch vom hämorrhoidalen Symptomenkomplex. Hämorrhoidalleiden können bestimmte Sexualpraktiken einschränken. Symptomatische Hämorrhoiden werden von den Betroffenen als ausgesprochen lästig beschrieben. Lästig, unnötig oder überflüssig wie Hämorrhoiden sind im täglichen Sprachgebrauch geflügelte Worte. Nach den Ergebnissen aus Erhebungen mit dem standardisierten Gesundheitsfragebogen SF-12 (Short Form-12 Health Survey) haben sie jedoch – unabhängig vom Krankheitsgrad – keinen signifikanten Einfluss auf die Lebensqualität. Die Symptome korrelieren mit den verschiedenen Stadien der Erkrankung: Die krankhafte Vergrößerung der Hämorrhoiden wird nach einem Klassifizierungssystem von John Cedric Goligher in vier Stadien eingeteilt. Zwischenstufen zwischen den einzelnen Stadien sind möglich. Hämorrhoiden ersten Grades: Die Hämorrhoiden sind nicht von außen sichtbar, sie können nur proktoskopisch dargestellt werden. Die Knoten wölben sich nur leicht innerhalb des Darmrohres vor. Die Knotenbildung ist voll reversibel und es treten normalerweise keine Schmerzen auf. Bei einem Hämorrhoidalleiden im Stadium I sind schmerzlose hellrote Blutungen das Leitsymptom. Die Blutungen sind in Form von Blutspuren auf der Stuhloberfläche (Hämatochezie) oder vor allem am Toilettenpapier leicht festzustellen. Das Blut ist überwiegend hellrot. Hellrotes Blut kann aber auch durch eine Analfissur bedingt sein. Ist das Blut dagegen dunkelrot, so liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erheblich ernsthaftere Erkrankung vor. In solchen Fällen wird ein umgehender Arztbesuch dringend empfohlen. Die Blutungen sind auch in späteren Krankheitsstadien das Leitsymptom. Die Blutungsneigung kann starken Schwankungen unterliegen. Nach Phasen mit teilweise kräftigen Blutungen nach jedem Stuhlgang können – auch ohne Intervention – für Wochen oder Monate die Blutungen ausbleiben. Nur selten führen hämorrhoidale Blutungen zu Anämie (Blutarmut). Es sind mit Stand 2012 keine Daten veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass asymptomatische Hämorrhoiden ersten Grades jemals symptomatisch werden. Es ist daher möglich, dass Hämorrhoiden in diesem Stadium ‚normale‘ endoskopische Befunde darstellen und nie zu einem Hämorrhoidalleiden führen. Hämorrhoiden zweiten Grades: Die Knoten fallen beim Pressen in den Analkanal vor, ziehen sich aber nach kurzer Zeit von selbst wieder zurück. Die Hämorrhoiden sind allein nicht mehr rückbildungsfähig. Im Stadium II führt der zeitweise Vorfall der Hämorrhoiden zu einer gestörten Feinkontinenz, was eine erhöhte Schleimsekretion bewirkt. Dieses Sekret führt zu einer Befeuchtung und Irritation der perianalen Haut, was den Juckreiz auslöst. Ursache hierfür sind Analekzeme, die somit eine indirekte Folge des Hämorrhoidalleidens sind. Eine weitere Folge des Hämorrhoidalleidens kann eine Analfissur sein, die speziell in diesem Stadium zu Schmerzen führen kann. Hämorrhoiden dritten Grades: Ein oder mehrere Knoten können bei Anstrengungen spontan vorfallen. Nach dem Stuhlgang ziehen sie sich nicht mehr von selbst zurück. Die Reposition (Hineinschieben) ist aber noch möglich. Es kann zu Einklemmungen (Inkarzeration) und Blutungen kommen. Hämorrhoiden vierten Grades: Dieses Stadium entspricht einem Analprolaps (Tiefertreten). Die Reposition ist nicht mehr möglich. Im Stadium III und IV kann der dauerhafte Vorfall und das Einklemmen des Hämorrhoidalgewebes zu Schmerzen oder einem dumpfen Druckgefühl im Analkanal führen. Zwischen der Größe der Hämorrhoiden und den damit verbundenen Beschwerden besteht keine Korrelation. Die krankhaft vergrößerten Hämorrhoidalknoten können in manchen Fällen Druck auf die Rektumwand ausüben und so den rektoanalen Reflex auslösen, was eine Abnahme des Tonus des M. sphincter ani internus bewirkt. Der Stuhlgang ist dann in solchen Fällen erfolglos. Durch ihren Raumbedarf im Analkanal können sie zu partiellen Obstruktionen führen und dabei die komplette Stuhlentleerung des Rektums behindern. Dies führt dann häufig zu einem Stuhlschmieren (Soiling). Starke, lokalisierbare Schmerzen sind bei Hämorrhoidalleiden sehr selten und treten normalerweise nur im Stadium IV bei einer Thrombosebildung im Hämorrhoidalpolster auf. Tabuisierung Die meisten Patienten gehen wegen ihres Hämorrhoidalleidens erst dann zu einem Arzt, wenn der Schmerz das Schamgefühl überwiegt. Der After ist eine der letzten Tabuzonen des Körpers. Hämorrhoiden werden weitgehend tabuisiert, was auch durch die älteren Umschreibungen wie „Leiden der heimlichen Örter“ oder „peinliche Krankheit“ deutlich wird. Diese Tabuisierung steht in einem Gegensatz zum sehr hohen Verbreitungsgrad des Leidens. Hämorrhoidalleiden sind auch im 21. Jahrhundert keine gesellschaftsfähige Erkrankung. Tabuisierung und Schamgefühl sorgen immer noch dafür, dass sich viele Patienten erst sehr spät, mit weit fortgeschrittenem Krankheitsverlauf, in ärztliche Behandlung begeben. Dazu besteht rational betrachtet kein Grund. Die Untersuchungstechniken bei Enddarmerkrankungen sind mittlerweile sehr patientenfreundlich, und einige der Symptome des – vergleichsweise – harmlosen Hämorrhoidalleidens sind auch bei erheblich ernsthafteren, lebensbedrohlichen Erkrankungen des Enddarms vorhanden. Schamgefühl und Tabuisierung führen immer wieder zu obskuren und teilweise tödlich verlaufenden Formen der Selbstbehandlung. Zur „Behandlung“ eingeführte Fremdkörper können unbeabsichtigterweise im Rektum verbleiben und als Fremdkörper in Anus und Rektum klinisch relevant werden. Diagnose Untersuchung Nach der Anamnese und der Schilderung der Symptome durch den Patienten erfolgt bei der ärztlichen Erstuntersuchung üblicherweise zuerst eine visuelle Inspektion des Perineums. Dabei können vorgefallene (prolabierte) Hämorrhoiden vierten Grades problemlos festgestellt werden. Bei der Untersuchung kann der Patient zum Pressen des Schließmuskelapparates angehalten werden, da so prolabierende Hämorrhoiden zweiten und dritten Grades am besten erkannt werden können. Hämorrhoiden ersten Grades können nur mit einem Proktoskop diagnostiziert werden. Eine Palpation (Betastung) ist hierfür nicht geeignet. Weitergehende Untersuchungen sind in den meisten Fällen für die Diagnose eines Hämorrhoidalleidens nicht notwendig. Zum Ausschluss anderer proktologischer Erkrankungen kann eine Rektoskopie und bei Tumorverdacht eine Koloskopie durchgeführt werden. Für die Planung operativer Eingriffe bei Hämorrhoiden dritten und vierten Grades können weitergehende anorektale Untersuchungen wie beispielsweise auch endoanaler Ultraschall (Sonografie) zum Einsatz kommen. Ebenso, wenn die Symptome nicht einem Hämorrhoidalleiden zugeordnet werden können (Differentialdiagnose). Die (Selbst)-Diagnose „Hämorrhoiden“ wird, bedingt durch die ausgesprochen hohe Häufigkeit des Leidens, sehr oft zu leichtfertig und ohne die notwendige Sorgfalt gestellt. Dabei besteht die Gefahr, dass für den Betroffenen deutlich schwerwiegendere Erkrankungen – mit ähnlicher Symptomatik – erst mit erheblicher Verspätung korrekt diagnostiziert werden. Dieser Zeitverlust kann unter Umständen letale Folgen haben. Bei der Diagnose eines Hämorrhoidalleidens ist der wichtigste Aspekt der Ausschluss anderer, wesentlich schwerwiegenderer und zum Teil lebensbedrohlicher Erkrankungen. Nur ein Arzt kann Hämorrhoiden sicher von Darmkrebs unterscheiden. Differentialdiagnose Perianalthrombose Perianalthrombosen, auch „unechte Hämorrhoiden“ genannt, werden am häufigsten mit Hämorrhoiden verwechselt. Sie haben ihren Ursprung im perianalen subkutanen Venenplexus (Plexus haemorrhoidalis externus). Pruritus ani Analer Juckreiz (Pruritus ani) ist ein Symptom und die Folge unterschiedlicher Ursachen. Es handelt sich dabei um kein eigenständiges Krankheitsbild. Mögliche Ursachen für analen Juckreiz: Analekzem Das Analekzem ist die häufigste Ursache für analen Juckreiz. Es handelt sich dabei um Entzündungsprozesse des verhornten Epithels der Perianalregion. Die Hautveränderungen beinhalten Erosionen und Rhagaden. Ein Analekzem ist meist die Folge einer anderen Erkrankung und in etwa 80 % der Fälle sind Hämorrhoiden der Auslöser dieser Hauterkrankung. Durch die mangelhafte Feinabdichtung kommt es zum Nässen, das ekzematöse Veränderungen der Perianalhaut zur Folge hat. Auch Analfisteln können ein Nässen im Bereich der Pospalte bewirken und so zu einem irritativ-toxischen Analekzem führen. Eine weitere mögliche Ursache kann mangelhafte Analhygiene sein. Allergische Analekzeme sind eine spezielle Form eines allergischen Kontaktekzems. Sie können beispielsweise durch parfümiertes Toilettenpapier, bestimmte Feuchttücher und Seifen, aber auch von einigen Inhaltsstoffen von Hämorrhoidensalben hervorgerufen werden. Bei starker Analbehaarung, oft in Verbindung mit starker Schweißabsonderung, kann ein Analekzem auch akut und primär entstehen. Mariske Marisken sind schmerzfreie, weiche bis derbe Hautläppchen, die einzeln oder zu mehreren im Bereich des Afters auftreten können. Sie sind häufig das Überbleibsel einer Perianalthrombose, können sich aber auch ohne erkennbare Ursachen bilden. Auch beim Pressen füllen sich Marisken nicht mit Blut und lassen sich bei der digitalen Palpation nicht in den Analkanal zurückdrängen. Sie werden nicht als Krankheit eingestuft. Analfibrom Analfibrome, auch Analpapillen oder wegen ihres Aussehens „Katzenzahn“ genannt, sind warzenartige, gestielte und gutartige Fibrome, die an der Linea dentata entstehen. Sie können Längen von bis zu 40 mm erreichen (Fibroma pendulans). Analfissur Analfissuren können wie Hämorrhoiden bei der Defäkation hellrot bluten. Beim Stuhlgang können sie zu heftigen Schmerzen führen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu Hämorrhoiden und das Leitsymptom einer Analfissur. Analabszess und Analfistel Analfisteln werden meist durch Analabszesse (Periproktitis) im Bereich der Krypten innerhalb des Rektums hervorgerufen. Es handelt sich um Entzündungen bestimmter schleimabsondernder Drüsen. Dabei ist der Analabszess die akute und die Analfistel die chronische Form der Entzündung. Die betroffenen Patienten leiden beim Stuhlgang und beim Sitzen unter heftigen dumpfen Schmerzen. Rektumprolaps Ein Rektumprolaps ist ein Vorfall des Mastdarms, bei dem alle Schichten des Rektums in die Mastdarmlichtung und durch den After nach außen dringen. Verursacht wird ein Rektumprolaps meist durch eine Muskelschwäche des Beckenbodens, Verstopfung oder Durchfall. Während beim Analprolaps (Hämorrhoiden 4. Grades) die Schleimhautfalten radiär und kleeblattförmig angeordnet sind, liegen sie beim Rektumprolaps zirkulär vor. Krebserkrankungen des Rektums und Anus Bei der Diagnose von Hämorrhoiden sind neben den zuvor aufgeführten gutartigen Erkrankungen des Kontinenzorgans grundsätzlich auch Krebserkrankungen mittels Differentialdiagnose auszuschließen. Das hämorrhoidale Leitsymptom Blut im Stuhl weisen auch bösartige Erkrankungen (Krebs), wie beispielsweise das kolorektale Karzinom, auf. Anale Blutungen sind daher per se ein ernst zu nehmendes Symptom, das zeitnah und genau durch einen geeigneten Arzt abgeklärt werden sollte. Die unterschiedliche Farbe des Blutes – hämorrhoidales Blut ist fast immer hellrot, tumoröses dagegen meist dunkelrot bis schwarz, wenn es aus den oberen Bereichen des Verdauungstraktes stammt – ist für die Differentialdiagnose keinesfalls ausreichend. Analkanalkarzinome und Analrandkarzinome stellen etwa 1 bis 2 % aller Krebserkrankungen des Dickdarms. Sie werden besonders häufig falsch diagnostiziert und vor allem durch ihre Raumforderungen und Erscheinungsformen leicht mit Hämorrhoiden verwechselt. Auch sie weisen das Leitsymptom Blut im Stuhl auf. Zusätzlich können auch Schmerzen beim Stuhlgang und Juckreiz im Analbereich auftreten. Noch seltener ist das anorektale Melanom, das nur etwa 0,1 % aller analen Tumoren und 1 % aller malignen Melanome ausmacht. Die Symptome, Blut im Stuhl, anale Missempfindungen oder Schmerzen, werden meist als Hämorrhoiden diagnostiziert und behandelt. Von den ersten Symptomen bis zur korrekten Diagnose vergehen im Durchschnitt fünf Monate, so dass bei sehr vielen Patienten bereits eine Metastasierung stattgefunden hat, die die Prognose wesentlich verschlechtert. In früheren Studien gab es Hinweise darauf, dass Patienten mit Hämorrhoidalleiden ein erhöhtes Risiko für anale Plattenepithelkarzinome, eine spezielle Form von Analkrebs, haben. Neuere Studien können diesen Zusammenhang nicht bestätigen. Behandlung Nur im Fall eines Hämorrhoidalleidens und nicht beim Vorliegen von Hämorrhoiden ist eine Behandlung notwendig. Zur Behandlung von Hämorrhoidalleiden gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten. Welche Behandlungsoption letztlich gewählt wird, ist vor allem vom Grad der Erkrankung und vom Therapieziel – Heilung oder Linderung – abhängig. Neben dem Allgemeinzustand des Patienten kann außerdem die Anzahl der vorgefallenen Hämorrhoidalknoten und die individuelle Anatomie die Art der Behandlung beeinflussen. Eine universelle Behandlungsmethode gibt es nicht. Normalerweise reichen bei Hämorrhoiden des ersten und zweiten Grades kleinere ambulante Eingriffe aus. Bei Hämorrhoiden ab dem 3. Grad kann meist nur noch ein operativer Eingriff Abhilfe schaffen. Die Behandlung selbst kann prinzipiell von Allgemeinmedizinern (Hausarzt), Chirurgen, Dermatologen (Hautarzt), Gynäkologen, Urologen oder Proktologen durchgeführt werden. Proktologen sind auf die Behandlung von Erkrankungen des Enddarms spezialisiert. Sie sind daher mit der Diagnose – speziell der Differentialdiagnose – und der Behandlung von Hämorrhoiden üblicherweise sehr vertraut. Die Behandlungskosten werden von der gesetzlichen Krankenversicherung voll erstattet. Basistherapie Vor konservativen, semioperativen oder operativen Maßnahmen steht üblicherweise die ärztliche Basistherapie. Sie dient vor allem dazu, das Voranschreiten des Hämorrhoidalleidens zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Sie besteht im Wesentlichen aus einer Ernährungsberatung, die eine möglichst ballaststoffreiche Nahrung zur Erhöhung des Stuhlvolumens und eine Flüssigkeitszufuhr von mindestens zwei Litern täglich vorsieht. Möglichst weicher Stuhlgang und schnelle Darmentleerung ohne langes Pressen sind das Ziel der Basistherapie. Obstipation fördert die Bildung von Hämorrhoiden und das Voranschreiten des Hämorrhoidalleidens. In mehreren prospektiven Studien konnte der therapeutische Nutzen dieser Maßnahmen bestätigt werden. Durch Hygienemaßnahmen können Hautirritationen gelindert werden; dazu gehört beispielsweise die Reinigung des Afters mit klarem Wasser. Sportliche Aktivitäten erhöhen die Motilität des Darmes. Bei Übergewicht kann eine Gewichtsreduktion zusätzlich die Symptome eines Hämorrhoidalleidens lindern. Die beschriebenen Maßnahmen der Basistherapie können prinzipiell auch rein prophylaktisch angewendet werden. Hämorrhoidalia (Hämorrhoidenmittel) Hämorrhoidalia sind Arzneimittel, die ausschließlich zur Behandlung von Hämorrhoidalleiden, deren Beschwerden und Folgeerscheinungen angewendet werden. Die medikamentöse Behandlung eines Hämorrhoidalleidens ist bestenfalls symptomatisch und keinesfalls kurativ (heilend). Sie kann zur Linderung oder Beseitigung des Juckreizes, der Schmerzen und anderer Folgen der Entzündungsreaktion adjuvant indiziert sein. Einen Nachweis, dass mit Hämorrhoidalia der Schweregrad und das Voranschreiten der Erkrankung beeinflusst werden kann, gibt es (Stand 2003) nicht. Auf der Basis von Naturstoffen beziehungsweise Naturstoffextrakten werden Pharmaka zur innerlichen Anwendung (Interna) in Apotheken angeboten. Dazu gehören unter anderem Flavonoide, wie beispielsweise Diosmin oder Rutin. Die genannten Arzneimittel wurden vor allem als Venenmittel konzipiert. Da es sich bei Hämorrhoiden um arteriell versorgte Gefäßpolster und nicht um venöse Gefäßknäuel handelt, gibt es für die genannten Pharmaka nach den Leitlinien der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Koloproktologie (DGK) keine vernunftmäßige Begründung für die Anwendung zur Behandlung von Hämorrhoidalleiden. In Deutschland haben diese Pharmaka so gut wie keine Bedeutung. In einer randomisierten Doppelblindstudie mit Flavonoiden, zu denen auch Rutin gerechnet wird, wurden zwar signifikant positive Effekte bezüglich Blutungsstillstand und reduzierter Rezidivrate festgestellt, doch ist mit dieser Behandlungsoption keine Heilung möglich. Das vorrangige Ziel der medikamentösen Therapie ist es, Blutungen zu unterdrücken, um eine kurative Therapie wie beispielsweise Sklerosierung, Gummibandligatur oder Operation zu einem günstigen Zeitpunkt zu planen. Für die Lokaltherapie gibt es eine Vielzahl von Salben, Cremes und Suppositorien („Zäpfchen“). Letztere sind auch mit Mulleinlage als Analtampons erhältlich. Die Mehrzahl der angebotenen Hämorrhoidalia sind rezeptfrei erhältlich. Für sämtliche auf dem Markt befindlichen Hämorrhoidalia liegen keine kontrollierten klinischen Studien vor, die einen Wirkungsnachweis dieser Arzneimittel bei Hämorrhoidalleiden belegen. Dies gilt auch für die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als unentbehrliche Arzneimittel zur kurzzeitigen symptomatischen Behandlung von Hämorrhoiden eingestuften Salben oder Zäpfchen mit Lokalanästhetika, Adstringentien oder Entzündungshemmern. Als „Beruhigungscremes“ zur Linderung der Symptome empfiehlt die WHO milde Adstringentien wie basisches Bismutgallat, Zinkoxid oder Hamamelisextrakt (Hamamelidis cortex), die zusammen mit Gleitmitteln, Vasokonstriktoren oder milden Antiseptika lokal als Salbe oder Zäpfchen appliziert werden. Dabei können Lokalanästhetika in diesen Formulierungen die Schmerzen lindern. Corticosteroide können nach Maßgabe der WHO kurzzeitig in Kombination mit den genannten Formulierungen angewendet werden, wenn keine lokale Infektion vorliegt. Eine längere Anwendung der Corticosteroide sollte vermieden werden, da dies zu einer Atrophie des Anoderms (Abbau der Analhaut) führen kann. Ambulante Maßnahmen Bei Hämorrhoiden ersten und zweiten Grades versucht man durch kleinere ambulante Eingriffe eine Operation zu vermeiden oder zumindest einige Jahre aufzuschieben. Dazu greift man im Wesentlichen zu folgenden Behandlungsmethoden: Sklerosierung von Hämorrhoiden: Kleinere Hämorrhoidalknoten werden mit einem rohrförmigen Gerät (Proktoskop) festgehalten, und es wird eine sklerosierende Flüssigkeit, beispielsweise Phenol gelöst in Mandelöl, 5-prozentige Chininlösung oder Polidocanol, eingespritzt. Die dadurch verursachte Entzündungsreaktion soll über eine darauf folgende Vernarbung lokal den Blutfluss vermindern, die Hämorrhoiden schrumpfen lassen und die Hämorrhoidalknoten auf der Unterlage fixieren. Das recht einfache und kostengünstige Verfahren wird in der Regel in mehreren Teilbehandlungen im Abstand von zirka vier bis sechs Wochen durchgeführt und verläuft normalerweise völlig schmerzlos. Es besteht eine geringe Gefahr der Bildung von Nekrosen. Nekrosen entstehen vor allem bei schlechter Injektionstechnik. Die Wahrscheinlichkeit für ein erneutes Auftreten ist groß (hohe Rezidivquote). Die Sklerosierung ist das Mittel der Wahl zur Behandlung symptomatischer Hämorrhoiden 1. Grades. Gummibandligatur (auch Gummiligatur nach Barron): Der Knoten wird durch ein darübergestülptes Gummiband abgeklemmt (Ligatur) und fällt in den folgenden Tagen ab. Dies ist die am häufigsten gewählte Behandlung von Hämorrhoiden zweiten Grades. Die Rezidivquote ist niedriger als bei der Sklerosierung. Risiken der meist harmlosen Behandlung bestehen bei der Einnahme gerinnungshemmender Medikamente (Nachblutung) und bei Latex-Allergie (selten auch schwerwiegende, allergische Reaktionen) sowie bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (Fistelbildung) und HIV-Infektion (Infektionen). Zur Behandlung symptomatischer Hämorrhoiden zweiten Grades ist die Gummibandligatur das Mittel der Wahl. Beide Verfahren werden durch ein Proktoskop durchgeführt, das dem behandelnden Arzt den Zugang zu den Hämorrhoiden ermöglicht. Dabei ist weder eine Anästhesie noch eine Sedierung notwendig. Die Infrarotkoagulation wird nur noch selten für Hämorrhoiden ersten und zweiten Grades angewendet. Die Kryohämorrhoidektomie (Vereisung) und die maximale anale Sphinkterdehnung nach Lord sind mittlerweile nicht mehr üblich, und von ihrer Anwendung wird eindeutig abgeraten. Operationsverfahren Operiert wird zur Behandlung von Hämorrhoidalleiden üblicherweise nur dann, wenn die konservativen Maßnahmen fehlgeschlagen sind beziehungsweise der Grad der Erkrankung keine erfolgreiche konservative Behandlung erwarten lässt. Das Ziel aller derzeit üblichen Eingriffe ist es, die normalen anatomischen Verhältnisse wiederherzustellen. Auf keinen Fall ist das Ziel die vollständige Entfernung der vergrößerten Hämorrhoidalpolster, da diese für die Feinkontinenz unabdingbar sind. Bei etwa 10 % der Patienten, die mit einem Hämorrhoidalleiden einen Arzt aufsuchen, ist ein operativer Eingriff notwendig. Klassische Verfahren Bei einem weit fortgeschrittenen Hämorrhoidalleiden, das vor allem durch einen nicht mehr reponierbaren Vorfall des Hämorrhoidalgewebes gekennzeichnet ist (Hämorrhoiden 4. Grades), ist ein operativer Eingriff notwendig, um eine Heilung zu erreichen. Dieser Eingriff wird Hämorrhoidektomie genannt. Es gibt mehrere Techniken der Hämorrhoidektomie, die nach ihren Erfindern unterschieden und benannt werden. Alle Verfahren werden unter Narkose oder Spinalanästhesie (beispielsweise Sattelblock) durchgeführt und erfordern in der Regel einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt (stationär). Die Heilung erstreckt sich über mehrere Wochen und ist meist schmerzhaft. Im akuten Stadium (das heißt, die Hämorrhoiden sind entweder thrombosiert oder eingeklemmt) wird vor einer Operation zunächst konservativ behandelt. Je nachdem, ob das Hämorrhoidalleiden segmentär oder zirkulär (alle Hämorrhoidalpolster prolabieren) ausgeprägt ist, werden entweder segmentäre oder zirkuläre Verfahren angewendet. Zu den segmentären Verfahren gehören beispielsweise die offene Hämorrhoidektomie nach Milligan-Morgan, die submuköse Hämorrhoidektomie nach Parks und die geschlossene Hämorrhoidektomie nach Ferguson. Dagegen werden die rekonstruktive Hämorrhoidektomie nach Fansler-Arnold und die supraanodermale Hämorrhoidektomie nach Whitehead zu den zirkulären Verfahren gerechnet. Andere Autoren teilen die verschiedenen Verfahren in offene und geschlossene Hämorrhoidektomien ein. Zu den offenen Verfahren gehört beispielsweise die Operation nach Milligan-Morgan (auch als Dreizipfelmethode bezeichnet), während zu den geschlossenen Verfahren die Techniken nach Parks, Ferguson und Fansler-Arnold gerechnet werden. Die Methode nach Fansler-Arnold wird vor allem zur Rekonstruktion des Analkanals, wie sie bei nach außen fixierten Hämorrhoiden 4. Grades gelegentlich erforderlich ist, angewendet. Lasergestützte Verfahren der Hämorrhoidektomie bieten gegenüber den konventionellen Operationsverfahren keine Vorteile. Bis in die 1980er Jahre hinein war die vollständige Entfernung (das „Ausrotten“ der Hämorrhoidalpolster) das Ziel operativer Eingriffe bei fortgeschrittenen Hämorrhoidalleiden. Eine unerwünschte Folge dieser Behandlungen war Stuhlinkontinenz. Die 1882 erstmals von dem Briten Walter Whitehead (1840–1913) beschriebene supraanodermale Hämorrhoidektomie (Whitehead-Operation) gilt heute aufgrund erheblicher postoperativer Komplikationen als „Kunstfehler“. Moderne Verfahren Die Stapler-Hämorrhoidopexie nach Longo ist ein weniger schmerzhaftes geschlossenes Verfahren, bei dem unter Anwendung eines speziellen Operationsgerätes, dem Stapler, die Analhaut geliftet wird. Im Gegensatz zur Hämorrhoidektomie wird bei der Hämorrhoidopexie keine Resektion der Hämorrhoidalpolster, sondern eine zirkulare Resektion der Mukosamanschette (Mukosektomie), etwa 30 mm oberhalb des Corpus cavernosum recti, durchgeführt. Durch die anschließende Vernarbung und sekundäre Umbauvorgänge werden die Hämorrhoidalpolster auf eine normale Größe reduziert und wieder an ihre ursprüngliche Position zurückversetzt. Da der Eingriff nicht im Bereich des äußerst sensiblen Anoderms erfolgt, ist die Methode weitgehend schmerzfrei und für den Patienten – verglichen mit einer Hämorrhoidektomie – sehr komfortabel. Zur Behandlung zirkulärer Hämorrhoiden dritten Grades ist diese Technik mittlerweile weit verbreitet und die Methode der Wahl. Für Hämorrhoiden vierten Grades ist die Stapler-Methode allerdings nicht geeignet, da nach der Operation meist wieder ein Prolaps auftritt. Die dopplergesteuerte Hämorrhoidal-Arterien-Ligatur nach Morinaga (HAL) ist ein 1995 entwickeltes minimal-invasives Verfahren für Hämorrhoiden zweiten und frühen dritten Grades, bei dem kein Gewebe entfernt, sondern lediglich die Versorgungsarterien der Hämorrhoiden abgebunden werden. Die Gefäße werden dabei mit einer speziellen Ultraschallsonde, einem Doppler-Proktoskop, gezielt aufgesucht. Nach dem Abbinden der Versorgungsarterien beginnen die Hämorrhoidalknoten allmählich zu schrumpfen. Die Rezidivquote ist vergleichsweise hoch; eine Wiederholung der Behandlung ist aber ohne weiteres möglich. Es gibt bisher nur eine randomisierte kontrollierte Studie, mit einer relativ kleinen Patientenzahl (insgesamt 60), weswegen das Verfahren von den Leitlinien noch nicht bewertet wird. Eine Weiterentwicklung der HAL-Methode ist die transanale Hämorrhoidal-Arterien-Ligatur (THD), bei der zusätzliche Nahtschlingen zur Reposition („liften“) der vorgefallenen Analschleimhaut eingesetzt werden. Dieses Verfahren ist ebenfalls zur Behandlung von Hämorrhoiden zweiten und dritten Grades gedacht. Die Ergebnisse sind mit der Stapler-Hämorrhoidopexie nach Longo vergleichbar. Es wird bisher nur vereinzelt angewendet. Die minimal-invasive, subanodermale submuköse Hämorrhoidoplastie (MISSH) wurde 1996 von dem Kaiserslauterer Chirurgen Gunther Matthias Burgard entwickelt und wird seitdem von ihm selbst, inzwischen aber auch von einigen weiteren Spezialisten im In- und Ausland, angewendet. Die Technik eignet sich auch bei fixierten Prolapsformen vierten Grades und bietet – im Gegensatz zu zirkulären Verfahren (wie z. B. Longo) – die Möglichkeit, einzelne Knoten zu operieren. Dabei wird die entsprechende Versorgungsarterie abgeschnürt, der Knoten mobilisiert, überflüssiges Hämorrhoidalgeflecht mit einem Shaver entfernt und die Haut mittels analem Lifting in einem schmerzarmen Bereich gerafft. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das LigaSure-Verfahren der Hämorrhoidektomie entwickelt. Es ist auch zur Behandlung weit fortgeschrittener Hämorrhoidalleiden vierten Grades geeignet. Dabei wird mit Methoden der HF-Chirurgie (Koagulation und blutungsarmes Verschließen der Gefäße) gearbeitet. Im Vergleich zu den etablierten Verfahren konnte in mehreren Studien eine Reduzierung der Schmerzen, eine geringere Blutungsneigung während und nach dem Eingriff, kürzere Operationszeiten, sowie eine frühere Arbeitsfähigkeit festgestellt werden. Über Langzeiterfahrungen und Rezidivquoten liegen noch keine Daten vor. Nachteilig sind für den behandelnden Arzt die hohen Investitionen in einen HF-Generator von ca. 19.000 € (Stand 2011) und die oft nur einmal verwendbaren HF-Zangen. Risiken und Komplikationen der operativen Behandlung Nach der Operation sind vor allem bei den klassischen Verfahren Blutungen und Schmerzen häufig. Abhängig vom Behandlungsverfahren und dem Befund werden berufstätige Patienten üblicherweise ein bis drei Wochen krankgeschrieben. In den ersten Tagen kann die Kontrolle des Stuhlgangs beeinträchtigt sein. Dieses Problem ist in der Regel zeitlich begrenzt und verbessert sich mit der Zeit. In seltenen Fällen verengt sich durch Narbengewebe der Anus, was den Stuhlabgang erschweren kann. Diese Schließmuskelenge (Analstenose) kann vorübergehend oder anhaltend sein. Die akute Harnverhaltung ist mit einer Häufigkeit von etwa 20 Prozent die häufigste Komplikation nach einer Hämorrhoidenoperation. Sie tritt vor allem bei älteren Patienten auf und wird auch bei dem Setzen von Gummibandligaturen beobachtet. Ein wichtiger Risikofaktor ist dabei offensichtlich die Art der Anästhesie, wobei eine Spinalanästhesie das Risiko signifikant erhöht. Bei den modernen Operationsverfahren Stapler-Hämorrhoidopexie und LigaSure ist das Risiko für eine akute Harnverhaltung deutlich niedriger. Durch eine restriktive Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr im Zeitraum der Operation und eine angemessene Schmerztherapie nach der Operation kann die Harnverhaltung weitgehend vermieden werden. Nach einer Sklerosierung oder einer Gummibandligatur lässt sich bei etwa 8 % der Patienten eine Bakteriämie, das ist das vorübergehende Vorhandensein von Bakterien im Blut, nachweisen. Eine vorbeugende Gabe von Antibiotika (perioperative Antibiotikaprophylaxe) erfolgt – auch bei den Operationsverfahren zur Behandlung von Hämorrhoiden – üblicherweise nur bei Hochrisikopatienten, um einer Endokarditis vorzubeugen (Endokarditisprophylaxe). Bei etwa 2,5 % der Hämorrhoidenoperationen nach Longo kann sich ein Rektum-Divertikel (engl. rectal pocket syndrome), eine meist einseitige Aussackung der Rektalschleimhaut nach einem Einriss in der Rektummuskulatur, als Komplikation bilden. Eine sehr seltene, aber die mit Abstand gefährlichste Komplikation ist eine Fournier-Gangrän. Diese nekrotisierende perineale Sepsis kann bei allen Eingriffen zur Behandlung eines Hämorrhoidalleidens, von der Sklerosierung über Gummibandligatur und Stapler-Hämorrhoidopexie bis zur Hämorrhoidektomie, auftreten und tödlich verlaufen. Grundsätzlich können sich später erneut vergrößerte Hämorrhoiden bilden (Rezidiv). Behandlungskosten und Kostenerstattung Hämorrhoiden-Operationen werden nach G26Z (Andere Eingriffe am Anus) des DRG-Systems vergütet. Dabei wird mit einer mittleren stationären Verweildauer von 3,8 Tagen pro Patient gerechnet. Es handelt sich dabei um eine Mischkalkulation mehrerer verschiedener Operationsverfahren. Im Jahr 2009 lag der Basisfallwert bei 2600 € und die Bewertungsrelation bei 0,53. Das Produkt aus beiden Faktoren ergibt einen Betrag von 1378 €, den die gesetzlichen Krankenkassen an das behandelnde Krankenhaus nach der Hämorrhoiden-Operation zahlen müssen. Wird der Eingriff ambulant vorgenommen, so ergab sich 2009 ein EBM-Entgelt von 472,01 €, das die Kassen zu erstatten haben. Die Mischkalkulation bedingt dabei, dass durch die deutlich höheren Sachmittelkosten (unter anderem Verbrauchsmaterialien, Abschreibungen von Geräteinvestitionen) der modernen Verfahren wie beispielsweise Stapler eine Kompensation der Kosten nur über eine Reduzierung der Verweildauer der Patienten in der Klinik möglich ist. Prinzipiell passt dies zu den modernen Verfahren, die eine schnellere Rekonvaleszenz bieten. Allerdings wird bei einer Entlassung am ersten Tag nach der Operation die untere Grenzverweildauer um einen Tag unterschritten, was einen Abschlag von 44 % am DRG-Betrag zur Folge hat. Die dann verbleibenden ca. 800 € reichen aber häufig nicht zur Deckung der Sachmittelkosten. Einige Autoren äußern deshalb die Befürchtung, dass Kliniken kein Interesse an der Entlassung von Patienten vor dem Erreichen der unteren Grenzverweildauer haben. Veterinärmedizin Hämorrhoidalleiden spielen in der tiermedizinischen Praxis eine geringe Rolle. Für die Entwicklung neuer Operationstechniken werden Modellorganismen gewählt, die in ihrer Größe und Anatomie dem Menschen möglichst nahekommen. So werden vor allem Hausschweine und Primaten, wie beispielsweise Haubenkapuziner (Cebus apella), als Tiermodell genommen. Die Hämorrhoiden lassen sich dabei durch eine Ligatur der abführenden Venen des Hämorrhoidalplexus erzeugen. Medizingeschichte Das Hämorrhoidalleiden ist keine neuzeitliche Erkrankung. Seit Jahrtausenden befassen sich Ärzte mit seiner Diagnose und Therapie. Ägyptische Pharaonen hatten in ihrem Ärztestab unter anderem einen ‚Wächter des Anus‘, zu dessen Aufgaben die Behandlung von Hämorrhoidalleiden gehörte. Hämorrhoidalleiden werden erstmals im Papyrus Ebers (ca. 1500 v. Chr.) beschrieben. Im Alten Testament werden sie im 1. Buch Samuel, Kapitel 5 erwähnt. Hippokrates von Kos empfahl die Behandlung mit einem Brenneisen, ein äußerst schmerzhaftes Therapieverfahren, bei dem die Hämorrhoiden mit Gewalt nach außen gezogen und mit einem glühenden Eisen weggebrannt wurden. Darüber hinaus beschrieb er ein Suppositorium (Zäpfchen) zur Behandlung von Hämorrhoiden. Hippokrates erwähnt auch Verfahren, die der Sklerosierung, der Ligatur nach Barron und der Hämorrhoidalexzision entsprechen. Das ‚weißglühende Brenneisen‘ wurde noch im 19. Jahrhundert zur Blutungsstillung nach der Operation „äußerer“ und „innerer Hämorrhoiden“ empfohlen. Es hatte dabei die Form einer Bohne. Der Tübinger Professor Reinhold Köhler (1826–1873) beschrieb 1855 das Ausbrennen der Hämorrhoiden wie folgt: Der im 7. Jahrhundert lebende griechische Arzt Paulos von Aigina schildert in seinen Medizinischen Sammlungen die operative Behandlung von Hämorrhoiden. Vor dem Eingriff empfiehlt er die mehrmalige Anwendung von Klistieren zur Entleerung des Darmes. Er beschrieb auch die Ligatur von Hämorrhoidalknoten mit Garn. Der Engländer Johannes von Arderne (1307–1392) gilt als der erste Proktologe. Er befasste sich ausführlich mit den Hämorrhoiden. Die Blutung war für ihn ein Symptom, gegen das er blutstillende Mittel einsetzte. Er schrieb von „Venen“. Operative Eingriffe nahm er offensichtlich nicht vor. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte Frederick Salmon (1796–1868) ein Operationsverfahren, bei dem er die Hämorrhoidensegmente bis auf den Stiel in der unsensiblen Mastdarmmukosa abschnitt und an dieser Stelle eine Ligatur setzte. Seine Methode wurde als ‚schmerzfrei‘ gerühmt. Die Bezeichnung Goldene Adern hielt sich bis in das 20. Jahrhundert. Grund dafür war, dass man nach Galenos die Blutungen, ähnlich dem Aderlass als nützlich ansah, damit die ‚üblen Säfte‘ abfließen konnten. William Ernest Miles (1869–1947) erkannte 1919 als Erster die drei arteriellen Blutgefäße, die den Hämorrhoidalplexus versorgen, sprach aber weiterhin von „Venen“. Der deutsche Chirurg Friedrich Stelzner erkannte zu Beginn der 1960er Jahre, dass das Corpus cavernosum recti die morphologische Grundlage der Hämorrhoiden ist und dass es sich bei der Annahme, Hämorrhoiden seien Venen, um einen über Jahrtausende bestehenden Irrtum handelt. Es ist aus heutiger Sicht noch unverständlich, dass sich dieser Irrtum so lange halten konnte. Ärzte und Patienten sahen bei Operationen und Blutungen der Hämorrhoiden immer hellrotes, das heißt arterielles Blut. Weitere Bezeichnungen für das Hämorrhoidalleiden bzw. die Hämorrhoidalknoten waren Goldaderknoten, auch Feigwarzen und Feigblattern sowie Feig (von lateinisch ficus). Die Methode der Verödung wurde vergleichsweise spät entwickelt. Der erste überlieferte Bericht einer Hämorrhoidenverödung stammt aus dem Jahr 1869. Sie wurde von Morgan am St. Mercer’s Hospital in Dublin mit Eisen(III)-sulfat durchgeführt. Ursprünglich wurde diese Verödungsmethode 1836 in den Vereinigten Staaten zur Behandlung von Nävi entwickelt. Um 1871 wurde von Mitchell in Clinto (Illinois) erstmals Phenol zur Hämorrhoidenverödung injiziert. Er benutzte dabei eine Mischung von einem Teil Phenol mit zwei Teilen Olivenöl. Mitchell versuchte das Verfahren geheim zu behalten, jedoch verbreitete sich das Verfahren rasch und fand Anwendung bei vielen Quacksalbern, die die ursprüngliche Rezeptur teilweise deutlich veränderten. Fünf Jahre später wurde ein Chikagoer Hochschullehrer auf das Verfahren aufmerksam und ermittelte 3300 Fälle von Hämorrhoidenverödung mit Phenol. Später wurde das Olivenöl häufig durch Rizinusöl ersetzt. Kuriosa In der geschichtswissenschaftlichen Literatur wurde insbesondere im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert eine mögliche Erkrankung an Hämorrhoiden bei Napoleon Bonaparte diskutiert: So soll Napoleon ab 1814 unter Hämorrhoiden gelitten haben. Es gilt als wahrscheinlich, dass er am 18. Juni 1815, dem Tag der Schlacht bei Waterloo, von sehr schmerzhaften, thrombosierten Hämorrhoiden geplagt worden ist. Die Schmerzen sollen an diesem Tag so groß gewesen sein, dass sich der französische Kaiser nur mit untergelegtem Heu auf einen Stuhl setzen konnte. Es gibt Historiker und ernsthafte Schriftsteller, die vermuten, dass Napoleon deshalb diese letzte große Schlacht verloren hat. Wegen der Schmerzen habe er unter Schlafentzug gelitten, und die Einnahme von Opiumtropfen zur Schmerzlinderung habe sein Geschick als Feldherr negativ beeinflusst. Napoleon habe sich kaum auf seinem Pferd halten können. Gelegentlich wird in Boulevardzeitungen oder Internetforen der „Geheimtipp“ verbreitet, „Hämorrhoidencreme“ sei hilfreich gegen Gesichtsfalten oder Schwellungen der Augenlider. Tatsächlich sind die meisten Hämorrhoidencremes aufgrund der darin enthaltenen örtlichen Betäubungsmittel wie Lidocain oder Entzündungshemmern wie Cortison für diesen Zweck völlig ungeeignet oder sogar schädlich. Der gewünschte Effekt kann nur von einer Salbe mit einem lediglich adstringierenden (zusammenziehenden) Wirkstoff erwartet werden. Weitgehend unbedenklich sind hier Salben mit Hamamelis-Extrakt, einem pflanzlichen Gerbstoff. Hamamelis-Salben werden jedoch nicht nur als Hämorrhoidencreme angeboten, sondern auch in kosmetisch geeigneteren, weniger fetthaltigen Zubereitungen. Für gläubige Katholiken ist der heilige Fiacrius der Schutzpatron gegen Hämorrhoiden. Der Legende nach soll ein Stein, auf dem der Einsiedler im 7. Jahrhundert saß, später viele Gläubige von „ihren Hämorrhoiden befreit“ haben. Im Jahr 2004 untersagten die Erben des US-amerikanischen Sängers und Songschreibers Johnny Cash die Nutzung des erfolgreichsten Cash-Liedes Ring of Fire für die Werbung einer Hämorrhoidensalbe. Dabei wurde die für die Werbung geplante Nutzung der Zeile „And it burns, burns, burns, the ring of fire, the ring of fire“ von den Cash-Erben als Verunglimpfung des Liedes betrachtet. Ring of Fire handle von der „transformativen Kraft der Liebe“. Das Lied wurde 1962 von Merle Kilgore und Cashs späterer Ehefrau June Carter komponiert. Kilgore äußerte in einem Interview, dass er selbst oft Witze über Hämorrhoiden gemacht habe, wenn das Lied auf der Bühne gespielt wurde. Literatur Leitlinien . Antonio Tarasconi, Gennaro Perrone, u.a.: Anorectal emergencies: WSES-AAST guidelines. In: World Journal of Emergency Surgery. 2021, Band 16, Nummer 1 doi:10.1186/s13017-021-00384-x (englisch). Fachbücher Volker Wienert, Horst Mlitz, Franz Raulf: Handbuch Hämorrhoidalleiden. 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Furtwängler: Hämorrhoidalleiden. beim Berufsverband der Deutschen Chirurgen DermIS.net: Hämorrhoiden. Dermatologie-Informationsdienst in Kooperation der Abteilung für Klinische Sozialmedizin (Universität Heidelberg) und der Hautklinik Erlangen (Universität Erlangen-Nürnberg) Einzelnachweise Fußnoten Krankheitsbild in der Chirurgie Krankheitsbild in der Gastroenterologie Krankheitsbild in der Angiologie Krankheitsbild in der Proktologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lobata
Lobata
Die Lobata sind eine biologisch bedeutsame Ordnung von Rippenquallen (Ctenophora) aus der Klasse Tentaculata. Sie zeichnen sich durch ihre muskulösen Mundlappen aus, die an Stelle der bei anderen Rippenquallen bevorzugt benutzten Tentakel zum Beutefang eingesetzt werden. Aufbau Die Körperform der bis zu 25 Zentimeter großen Lobata wird durch drei senkrecht aufeinander stehende Achsen beschrieben, die Körperlängsachse zwischen Mund und Gleichgewichtsorgan, die tentakuläre Achse als Verbindungsachse der beiden Tentakelscheiden und die pharyngeale Achse senkrecht dazu. Die tentakuläre Achse ist kürzer als die pharyngeale Achse, so dass sich ein ovaler Querschnitt ergibt. Zwei große muskeldurchzogene Mundlappen flankieren den stielförmig vorstehenden Mund und die beiden auf der Mundseite gelegenen Tentakel, die je nach Art unterschiedlich deutlich ausgeprägt und in der Gattung Ocyropsis sogar ganz abwesend sind. Auf diese Weise entsteht zwischen der Mundseite und den beiden Mundlappen eine schirmartige Höhlung wie sie auch bei den nicht verwandten Quallen der Nesseltiere zu finden ist. An den beiden Tentakelscheiden entspringen je zwei langgezogene Vertiefungen in der Körperwand, die aurikularen Furchen, die über die Schirmunterseite nach außen je zu einem Mundlappen hinlaufen und mit langen Fäden, den Tentillen, besetzt sind. Diese tragen zahlreiche Klebekörperchen (Colloblasten), die zum Beutefang dienen. Die wie bei allen Rippenquallen von der Statocyste, dem Gleichgewichtsorgan, am mundabgewandten Ende ausgehenden Kammrippen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Je zwei von ihnen laufen parallel in die beiden Mundlappen links und rechts des Mundes hinein; die vier anderen verlaufen senkrecht dazu annähernd in der Tentakelebene und setzen sich mundseitig in vier kegelförmigen Körperanhängen, den Aurikeln, fort, die aber statt Kammplättchen lange Geißeln tragen. Eine Besonderheit der Lobata ist es, dass sich auf allen Kammrippen zwischen den einzelnen Plättchen eine mit Geißeln besetzte Furche befindet, die vermutlich auf mechanische Weise das Schlagsignal der Statocyste weiterleitet. Auch Beschädigungen der Kammrippen können so relativ schnell behoben werden. Letzteres könnte für die auf aktive Fortbewegung angewiesenen Lobata der entscheidende Grund für die Ausbildung dieser Innovation gewesen sein. Das vom zentral gelegenen Magen ausgehende Kanalsystem besteht aus zwei paragastrischen Kanälen, die an den beiden Schlundseiten entlang zum Mundende laufen sowie vier zum mundabgewandten Ende nach außen laufenden Transversalkanälen. Diese teilen sich Y-förmig auf und setzen sich in den Meridionalkanälen fort, die unterhalb der Kammrippen zum Mundende laufen und dabei in zwei Schleifensystemen auch die Mundlappen durchqueren. Sie vereinigen sich in einem zirkumoralen, also um den Mund herum gelegenen Ringkanal mit den Enden der paragastrischen Kanäle. Verbreitung und Lebensraum Lobata-Arten bilden einen wichtigen Bestandteil des Meeresplanktons und kommen weltweit in allen Meeresgewässern vor. Sie leben allesamt pelagisch, also im freien Wasser. Fortbewegung und Ernährung Lobata schwimmen mit der Mundseite voran; obwohl sie dazu unterstützend ihre Kammrippen einsetzen, kommt der Vortrieb hauptsächlich durch Wellenbewegungen ihrer muskulösen Mundlappen und Aurikeln zustande. Die auf den vier Aurikeln sitzenden Geißeln erzeugen eine Wasserströmung, durch die Beute wie Fischlarven, kleine Krebse und anderes Zooplankton um diese herum über die ausgestreckten Tentillen der aurikularen Tentillenbänder geleitet wird, wo sie an den durch Berührung aktivierten Colloblasten hängenbleibt und dann zum Mund transportiert wird. Die Aurikeln erzeugen nicht nur den zum Mund hingeleiteten Nahrungsstrom, sondern sind anscheinend auch zur Wahrnehmung in der Nähe befindlicher Beute befähigt und können die Strömungsrichtung des Wassers entsprechend aktiv steuern – Lobata-Rippenquallen zeigen damit ein größeres Verhaltensrepertoire, als man bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts für möglich gehalten hätte. Das zum Beutefang eingesetzte System der Mundlappen und Aurikeln kann als Alternative zu den Tentakeln angesehen werden: Im Gegensatz zu diesen ermöglicht es die ununterbrochene Nahrungsaufnahme von passiv im Wasser schwebender oder nur langsam schwimmender Beute aus dem Mikro- und Mesozooplankton. Anders als die zweite größere Gruppe von Rippenquallen, die Cydippida, die in einem als „Spin Capture“ bezeichneten Vorgang immer erst ihre Tentakel einziehen und durch eine Drehung ihres Körpers zum Mundende bringen müssen, sind sie daher eher auf kleinere Beute spezialisiert. Als Folge treten sie mit den Cydippida kaum in Nahrungskonkurrenz, sondern können durch ihre alternative Strategie mit diesen koexistieren. Von manchen Wissenschaftlern wird dies als selektiver Vorteil angesehen, der die stammesgeschichtliche Entstehung der Lobata aus Cydippida-ähnlichen Vorfahren begünstigt hat. Fortpflanzung Lobata pflanzen sich ausschließlich auf sexuelle Weise fort. Die meisten sind Zwitter, besitzen also sowohl männliche als auch weibliche Keimdrüsen; Selbstbefruchtung spielt dennoch wahrscheinlich nur bei den Arten der Gattung Mnemiopsis eine große Rolle. Oft werden erst die männlichen und dann die weiblichen Keimzellen ins Wasser abgegeben, wo die Befruchtung stattfindet. Die weitere Entwicklung läuft über ein Cydippea-Stadium, das wie eine Miniaturversion einer Cydippida-Rippenqualle aussieht, aber noch keine Mundlappen hat. Da sich die Jungtiere weder im Lebensraum noch im Aussehen wesentlich von den Erwachsenen unterscheiden, spricht man meist nicht von einer Larve, die Entwicklung ist also direkt. Bei den Arten der Gattung Ocyropsis treten die Geschlechtsorgane im Gegensatz zu allen anderen Rippenquallen immer getrennt auf, es lassen sich also männliche und weibliche Individuen unterscheiden. Ein bemerkenswertes Phänomen, dass bei einigen Lobata-Arten auftritt, ist die so genannte Dissogenie: Einige Jungtiere werden vorzeitig geschlechtsreif und beginnen mit der Produktion von Keimzellen; im Laufe der weiteren Entwicklung bilden sich ihre Keimdrüsen jedoch zurück, um erst in der Erwachsenenphase wiederzukehren. Einfluss von Lobata in fremden Ökosystemen Im Jahr 1982 wurde die Lobata-Art Mnemiopsis leidyi erstmals im vorher nicht von Rippenquallen besiedelten Schwarzen Meer beobachtet, wohin sie vermutlich mit dem Ballastwasser von Schiffen gelangt war, die zuvor die Gewässer des nordwestlichen Atlantik durchquert hatten. Ohne natürliche Feinde explodierte die Population wenige Jahre später und vertilgte nicht nur zahlreiche Fischeier und -larven, sondern verdrängte auch erfolgreich innerhalb von nur zehn Jahren alle Nahrungskonkurrenten um die Planktonbestände, so dass insbesondere die Sardellen-Fischerei vollkommen zusammenbrach. Die Vorteile von Mnemiopsis leidyi bestanden anscheinend nicht nur darin, ihre Konkurrenten schon im Ei- oder Larvenstadium vertilgen zu können, sondern auch in der früher begonnenen Nahrungsaufnahme, so dass das vorhandene Zooplankton mengen- und artenmäßig bereits erheblich reduziert war, wenn die verbliebenen Fischlarven schließlich zu erwachsenen Tieren herangereift waren. Erst mit dem zusätzlichen Auftreten einer weiteren, auf Mnemiopsis leidyi als Beutetier spezialisierten Rippenqualle, Beroe ovata, im Jahre 1997 gelangte das Ökosystem wieder ins Gleichgewicht; dennoch ist seitdem das Schwarze Meer mit zwei ortsfremden Arten besiedelt. Ein ähnliches Phänomen ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Kaspischen Meer zu beobachten, wohin Mnemiopsis leidyi 1998 oder 1999 vermutlich im Ballastwasser von Schiffen gelangte, die den Wolga-Don-Kanal befahren. Inzwischen ist sie auch in die westl. Ostsee verschleppt worden, wie Funde im Oktober 2006 in der Kieler Förde belegen. Stammesgeschichte Fossilien, die den Lobata zugeordnet werden können, sind bis heute nicht bekannt, so dass die stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse allein aus dem Vergleich mit anderen modernen Rippenquallen erschlossen werden müssen. Eine vorläufige molekulargenetische Studie ergab, dass eine Gruppe aus den Lobata zusammen mit den Cestida und den Thalassocalycida ein monophyletisches Taxon bildet, also alle Nachkommen des letzten gemeinsamen Vorfahren dieser Tiere umfasst. Morphologische Eigenheiten der Ganeshida, einer Ordnung, die in die vorbenannte Studie nicht einbezogen wurde, deuten darauf hin, dass auch dieses Taxon möglicherweise in denselben Verwandtschaftskreis gehört. Systematik Ob die Lobata selbst ein monophyletisches Taxon darstellen, ist noch nicht geklärt; möglicherweise sind einige Lobata-Arten enger mit Rippenquallen aus der Ordnung Thalassocalycida verwandt als mit anderen Lobata-Arten. In diesem Falle wäre das Taxon Lobata paraphyletisch, umfasste also nicht alle Nachkommen der Stammart. Die folgende Aufstellung (Stand: 25. April 2017) nennt die derzeit validen Familien, Gattungen und Arten der Lobata nach der Aufstellung von Claudia E. Mills (University of Washington, USA). Ordnung Lobata , 1825 Familie Bathocyroidae & , 1982 Gattung Bathocyroe & , 1978 Bathocyroe fosteri & , 1978 Bathocyroe longigula & , 2011 Bathocyroe paragaster ( & , 1950) Familie Bolinopsidae, 1912 Gattung Bolinopsis , 1860 Bolinopsis ashleyi & , 2010 Bolinopsis chuni (, 1884) Bolinopsis elegans (, 1833) Bolinopsis indosinensis , 1946 Bolinopsis infundibulum (, 1776) Bolinopsis mikado (, 1907) Bolinopsis ovalis (, 1904) Bolinopsis rubripunctata 1964 Bolinopsis vitrea (, 1860) Gattung Lesueuria , 1841 Lesueuria hyboptera , 1865 Lesueuria pinnata & , 1950 Lesueuria tiedemanni (, 1829) Lesueuria vitrea , 1841 Gattung Mnemiopsis , 1860 Mnemiopsis gardeni , 1860 Mnemiopsis leidyi , 1865 Familie Leucotheidae , 1925 Gattung Leucothea , 1833 Leucothea filmersankeyi & , 2010 Leucothea japonica , 1918 Leucothea multicornis ( & , 1824) Leucothea ochracea , 1912 Leucothea pulchra , 1988 Familie Ocyropsidae & , 1982 Gattung Alcinoe , 1828 Alcinoe rosea , 1833 Alcinoe vermicularis , 1828 Gattung Ocyropsis , 1912 Ocyropsis crystallina (, 1827) Ocyropsis fusca (, 1827) Ocyropsis maculata (, 1827) Ocyropsis pteroessa 1904 Ocyropsis vance & , 2010 Familie Eurhamphaeidae , 1860 Gattung Eurhamphaea , 1856 Eurhamphaea chamissonis (, 1829) Eurhamphaea heteroptera ( & , 1821) Eurhamphaea kuhlii (, 1829) Eurhamphaea schweiggeri (, 1829) Gattung Deiopea , 1879 Deiopea kaloktenota , 1879 Gattung Kiyohimea & , 1940 Kiyohimea aurita & , 1940 Kiyohimea usagi & , 1992 Familie Lampoctenidae & , 2001 Gattung Lampocteis & , 2001 Lampocteis cruentiventer & , 2001 Familie Lobatolampeidae , 2000 Gattung Lobatolampea , 2000 Lobatolampea tetragona , 2000 Arten der Lobata incertae sedis Axiotima gaedii , 1829 Calya trevirani , 1829 Literatur G. R. Harbison, R. L. Miller: Not all ctenophores are hermaphrodites, Studies on the systematics, distribution, sexuality and development of two species of Ocyropsis. in: Journal of Marine Biology. 90.1986, S. 413. G. I. Matsumoto, G. R. Harbison: In situ observations of foraging, feeding, and escape behaviour in three orders of oceanic ctenophores, Lobata, Cestida, and Beroida. in: Journal of Marine Biology. 117.1993, S. 279. T. A. Shiganova: Invasion of the Black Sea by the ctenophore Mnemiopsis leidyi and recent changes in pelagic community structure. in: Fisheries Oceanography. Blackwell Science, Oxford 1997–1998, S. 305. Einzelnachweise Weblinks Rippenquallen Ctenophora
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https://de.wikipedia.org/wiki/Regenbogenpflanzen
Regenbogenpflanzen
Die Regenbogenpflanzen (Byblis) sind die einzige Gattung in der Familie der Regenbogenpflanzengewächse (Byblidaceae) und werden zur Pflanzenordnung Lippenblütlerartige (Lamiales) gezählt. Die etwa acht Arten kommen alle in Australien vor und bei einer Art reicht das Verbreitungsgebiet bis Neuguinea. Beschreibung und Ökologie Erscheinungsbild Alle Byblis-Arten sind aufrecht wachsend, schwach verholzend und nicht oder nur schwach verzweigt. Das Wurzelwerk ist feingliedrig und haarähnlich. Von den aktuell acht anerkannten Arten leben sechs als Sommerannuelle und zwei als Mehrjährige Pflanzen. Blätter Die Blätter aller Arten sind stielähnlich und rundum mit feinen Drüsenhaaren besetzt, die ein klebriges Sekret absondern. Interessanterweise sind die Tentakel der Blattoberfläche allesamt deutlich kürzer als jene der Blattunterseite, was unter anderem damit zusammenhängt, dass die Blätter extrem nach oben gerichtet sind, sodass die Blattunterseite der Sonne stärker zugewandt ist als die Oberseite. Kleine Insekten werden von den stark funkelnden Sekrettropfen angelockt; wenn sie diese berühren, verenden sie darin, da sie durch den klebrigen Schleim am Fortkommen gehindert werden. Sie finden entweder durch Erschöpfung den Tod oder ersticken am zähen Sekret, das in ihre Tracheen einsickert und diese verstopft. Anders als bei den Sonnentau-Arten können Regenbogenpflanzen aber weder ihre Blätter noch ihre Drüsenhaare bewegen, man spricht daher bei ihnen von „passiven Klebefallen“. Neben den Drüsenhaaren existiert noch ein zweiter, in die Blattoberfläche eingebetteter Drüsentyp, der für die eigentliche Sekretion der Verdauungsenzyme zuständig ist, diese sitzenden Drüsen sind fünf- bis zehnmal häufiger als die Drüsenhaare. Byblis ist außerdem die einzige fleischfressende Pflanze, deren Verdauungsdrüsen sowohl am Stamm als auch an den Fangblättern sitzen. Blüten Die Blüten stehen einzeln am Ende von langen Blütenstandsschäften, die den Blättern ähnlich und ebenfalls bedrüst sind. Die zwittrigen Blüten sind radiärsymmetrisch und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Die fünf haltbaren Kelchblätter sind nur an ihrer Basis verwachsen und die überlappen sich dachziegelartig. Die fünf Kronblätter sind nur an ihrer Basis verwachsen, wirken aber frei, und die überlappen sich dachziegelartig. Die Farben der Kronblätter sind purpurfarben bis blass-violett, bei Byblis gigantea und Byblis filifolia selten auch weiß. Byblis gigantea und Byblis lamellata geben ihre Pollen erst durch die Schallfrequenz eines anfliegenden Bestäubers frei (Vibrationsbestäubung), am Naturstandort sind dies meist Bienen und Schwebfliegen. Die Gestalt, Färbung und Größe der Blüten stellt vermutlich eine Nachahmung der Blüten bestimmter Fransenlilien (Thysanotus) dar. Die Gattung Thysanotus ist ebenfalls in Australien beheimatet und viele Arten gedeihen an denselben Naturstandorten wie die Regenbogenpflanzen. Und auch die Blüten von Fransenlilien werden durch Vibrationsbestäubung befruchtet. Bis auf die selbstfertile Byblis liniflora sind alle Arten zur Samenbildung auf Fremdbestäubung angewiesen. Frucht und Samen Die eiförmigen und zweifächrigen Kapselfrüchte reißen durch Austrocknung allmählich auf, so dass die enthaltenen Samen zu Boden fallen (Barochorie). Die schwarzen Samen sind von rundlicher Form und mit einem wabenartigen Relief, bei Byblis lamellata dagegen mit Lamellen versehen. Die Keimung vieler Arten wird durch Buschbrände nach der Trockenzeit in Gang gesetzt, dabei spielen Bestandteile im Rauch die auslösende Rolle (Pyrophilie). Karnivor oder präkarnivor Der Status der Gattung Byblis als karnivor war in der Vergangenheit wiederholt in Frage gestellt worden. An den Naturstandorten wurden auf fast allen Arten lebende Wanzen der Gattung Setocoris beobachtet, die sich von den Fängen der Pflanze ernähren. Daher wurde vermutet, dass, ähnlich wie bei den Wanzenpflanzen, die Nährstoffe ihrer Exkremente von den Pflanzen entweder über das Blattwerk oder den Boden aufgenommen werden. Auch eine „indirekte“ Verdauung mittels chitinaseproduzierender Pilze wurde diskutiert. Erst 2005 gelang durch Tests an Byblis filifolia der Nachweis der Verdauung der Beute durch Enzyme, die aus den sitzenden Drüsen der Pflanze ausgeschieden wurden, kurz darauf erfolgte auch ein Nachweis für Byblis liniflora. Vorkommen Alle Byblis-Arten sind in Australien beheimatet. Byblis gigantea und Byblis lamellata kommen nur in Südwestaustralien im Großraum Perth vor, die Arten des Byblis liniflora-Komplexes nur in Nordaustralien, wobei Byblis liniflora bis in den Südosten Indonesiens und den Süden Papua-Neuguineas ausstrahlt. Sie wachsen in Torfmooren und Marschen und gedeihen am besten auf sandigen Böden auf stark besonnten oder leicht beschatteten, saisonal nassen Standorten mit Temperaturen zwischen etwa 5 und 40 °C. Status/Gefährdung Alle Byblis-Arten stehen als einheimische Pflanzen in Australien unter allgemeinem Schutz. Sie standen bis 2000 im Anhang II des Washingtoner Artenschutzabkommens; auf Antrag Australiens wurde der Schutz aufgehoben. Derzeit ist der Handel zwar nicht reglementiert, aber wegen der Empfindlichkeit der Pflanzen nur auf Liebhaber beschränkt. Der größte Teil der heute gehandelten Pflanzen stammt aus Nachzuchten, allerdings werden meist nur die einjährigen Byblis filifolia und Byblis liniflora angeboten, gelegentlich auch Byblis lamellata, andere Arten müssen aus Samen, die oft der Natur entnommen werden, gezogen werden. Die westaustralischen Arten Byblis gigantea und Byblis lamellata sind durch den Siedlungsdruck des Großraums Perth, insbesondere die Trockenlegung von Feuchtgebieten zur Gewinnung landwirtschaftlichen Nutzlands gefährdet. Byblis gigantea steht auf der Roten Liste der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources und gilt als vom Aussterben bedroht. Systematik Taxonomie Die Gattung Byblis wurde 1808 durch Richard Anthony Salisbury aufgestellt. Synonyme für Byblis sind: Drosanthus und Drosophorus Typusart ist Byblis liniflora Äußere Systematik Molekulargenetische Untersuchungen haben die Gattung Byblis, bzw. die Familie Byblidaceae, als Teil der Ordnung Lippenblütlerartige (Lamiales) bestätigt; ihre Schwesterngruppe innerhalb der Ordnung ist unsicher, in Betracht kommen die Familien Martyniaceae, Lentibulariaceae sowie die Gesneriaceae. Zeitweise wurden den Byblidaceae auch die Wanzenpflanzen (Roridula) zugeordnet, Letztere wurden jedoch mittlerweile in eine eigene Familie, die Wanzenpflanzengewächse (Roridulaceae), gestellt. Ein weiteres, wichtiges Abgrenzungsmerkmal zwischen Byblis und Roridula ist der biochemische Aufbau des Drüsensekrets: jenes von Byblis basiert auf Zellflüssigkeit, das von Roridula ist ein spezielles Harz. Innere Systematik Traditionell wurde zur Gattung Byblis nur die beiden Arten Byblis gigantea und Byblis liniflora gerechnet. Vor allem durch die Arbeit der australischen Botaniker Allen Lowrie und John Godfrey Conran wurden seit den 1980er Jahren weitere Arten erstbeschrieben. Seit 2013 sind etwa acht Arten bekannt, sie lassen sich in zwei Komplexe einteilen, den Byblis liniflora-Komplex und den Byblis gigantea-Komplex. Byblis liniflora-Komplex Die sechs Arten dieses Komplexes, Byblis liniflora, Byblis rorida, Byblis filifolia, Byblis aquatica, Byblis guehoi und Byblis pilbarana sind einjährige krautige Pflanzen, die eine Wuchshöhe von 15 bis 60 (100) Zentimetern und eine maximale Blattlänge von 4 bis 15 Zentimetern erreichen. Die Arten gelangen innerhalb nur weniger Monate vom Sämling zur Samenreife und überdauern die Trockenzeit als Samen. Die ursprüngliche haploide Chromosomenzahl des Byblis liniflora-Komplexes ist x = 8, so liegt die diploide Zahl bei 2n = 16; für die tetraploiden Arten Byblis liniflora und Byblis guehoi ist sie entsprechend 2n = 32. Byblis gigantea-Komplex Der Byblis gigantea-Komplex enthält zwei Arten: Byblis lamellata und Byblis gigantea. Es sind mehrjährige Halbsträucher, die Wuchshöhen bis zu 45 bzw. 70 Zentimeter erreichen. Diese Pflanzen überdauern Trockenzeiten durch ein unterirdisches Rhizom, aus dem sie anschließend wieder austreiben. Ihre Blätter sind bis zu 20 Zentimeter lang. Chromosomengrundzahl des Byblis gigantea-Komplexes ist x = 9, die diploide Chromosomenzahl beider Arten liegt entsprechend bei 2n = 18. Arten und ihre Verbreitung Byblis aquatica : Sie kommt nur im nördlichen Northern Territory vor. Byblis filifolia : Sie kommt im nordwestlichen und zentral-nördlichen Australien in Northern Territory sowie Western Australia vor. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 16. Byblis gigantea (Syn.: Byblis lindleyana ): Sie im südwestlichen Australien in Western Australia vor. Byblis guehoi : Sie wurde 2008 aus dem nördlichen Western Australia erstbeschrieben. Byblis lamellata : Sie wurde 2002 aus dem westsüdwestlichen Western Australia erstbeschrieben. Byblis liniflora (Syn.: Byblis caerulea ): Sie kommt von Neuguinea bis ins nördliche Australien vor. Byblis pilbarana Sie wurde 2013 aus Western Australia erstbeschrieben. Byblis rorida : Sie kommt nur im nördlichen Western Australia vor. Paläobotanik Im Jahre 2004 wurde in Südaustralien ein einzelner fossiler Same aus dem mittleren Eozän gefunden; ein Abgleich mit heutigen Byblis-Arten belegte die enge Verwandtschaft der Pflanze mit dem Byblis liniflora-Komplex. Die „Pflanze“ wurde, da nur als Same bekannt, als Parataxon, also als provisorische Art, in die Regenbogenpflanzengewächse eingeordnet. Etymologie Der wissenschaftliche Gattungsname verweist auf die griechische Quellnymphe Byblis. Gemäß der griechischen Mythologie ist sie die Tochter der Götter Miletos und Kyaneia. Der römische Dichter Ovid beschreibt Byblis in seinen Metamorphosen (IX, v. 454–664) als Enkelin des Apollon. Der Sage nach ist sie unglücklich in ihren Zwillingsbruder Kaunos verliebt. Von diesem zurückgewiesen, zerfließt sie vor seinen Augen buchstäblich in zahllose, schimmernde Tränen und verwandelt sich schließlich in eine Quelle. Nach einer anderen Fassung sucht sie ihren Bruder vergeblich in den tiefsten Wäldern ihres Landes, bricht bald erschöpft und weinend zusammen und wird von Waldnymphen in eine Quelle verwandelt. Die feinen, von den Blättern der Pflanzen ausgeschiedenen Tröpfchen sollen an ihre Tränen erinnern. Der deutschsprachige Trivialname Regenbogenpflanze geht auf die glänzenden Sekrettröpfchen zurück, in denen das Licht je nach Einfall unterschiedlich stark gebrochen wird und so den namensgebenden Regenbogen-Effekt hervorruft. Literatur Wolf-Ekkehard Lönnig: Die Evolution der karnivoren Pflanzen: was die Selektion nicht leisten kann – das Beispiel Utricularia (Wasserschlauch); wissenschaftliches Sachbuch. Monsenstein und Vannerdat, Münster 2012, ISBN 3869914874. Allen Lowrie: Carnivorous Plants of Australia. Band 3. University of Western Australia Press, Nedlands 1998, ISBN 1-875560-59-9. Allen Lowrie, John G. Conran: A taxonomic revision of the genus Byblis (Byblidaceae) in northern Australia. In: Nuytsia. Band 12, Nr. 1, 1998, S. 59–74. John G. Conran: The embryology and relationships of the Byblidaceae. In: Australian Systematic Botany. Band 9, Nr. 2, 1996, , S. 243–254, . John G. Conran, Allen Lowrie, Jessica Moyle-Croft: A revision of Byblis (Byblidaceae) in south-western Australia. In: Nuytsia. Band 15, Nr. 1, 2002, S. 11–19. John G. Conran, Roger Carolin: Byblidaceae. In: Einzelnachweise Weblinks Fleischfressende Pflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fettmilch-Aufstand
Fettmilch-Aufstand
Der Fettmilch-Aufstand (auch Fedtmilch-Aufstand) des Jahres 1614 war eine von dem Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch angeführte judenfeindliche Revolte in der Reichsstadt Frankfurt am Main. Der Aufstand der Zünfte richtete sich ursprünglich gegen die Misswirtschaft des von Patriziern dominierten Rats der Stadt, artete aber in die Plünderung der Judengasse und die Vertreibung aller Frankfurter Juden aus. Er wurde schließlich mit Hilfe des Kaisers, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und des Kurfürstentums Mainz niedergeschlagen. Die Vorgeschichte Der Aufstand hatte seine Ursache in der Verfestigung des patrizischen Regiments in Frankfurt am Ende des 16. Jahrhunderts sowie im Unmut der Bürger über die Misswirtschaft des Rats und die geringen Einwirkungsmöglichkeiten der Zünfte auf die Politik der Freien Reichsstadt. Die politischen Forderungen der Zünfte waren von Beginn an mit judenfeindlichen Ressentiments verbunden. Ausbruch der Unruhen Die Unruhen nahmen ihren Anfang am 9. Juni 1612, als Bürger und Zunftmeister vor der Wahl des neuen Kaisers Matthias vom Rat die früher bei solchen Gelegenheiten übliche öffentliche Verlesung der Privilegien der Stadt verlangten. Zuletzt war dies 36 Jahre zuvor, anlässlich der Wahl Rudolfs II. geschehen. Der Rat lehnte das Verlangen der Bürger ab, so dass Gerüchte aufkamen, er wolle ihnen das Wissen um kaiserlich verbriefte Abgabenbefreiungen vorenthalten. Darüber hinaus forderten die Bürger ein verstärktes Mitspracherecht der Zünfte im Stadtregiment. Der 42-köpfige Rat wurde von den 24 Mitgliedern aus den Patrizierfamilien dominiert, die der Gesellschaft Alten Limpurg angehörten. Dies war derjenige Teil des Frankfurter Patriziats, der sich am Lebensstil des Adels orientierte und nicht mehr von Fernhandel und Geldgeschäften, sondern von Einkünften aus Grundbesitz lebte. Ihm stand die Gesellschaft Zum Frauenstein gegenüber, in der sich die Großkaufleute der Stadt zusammengeschlossen hatten. Sie teilten sich die übrigen 18 Ratssitze mit den Vertretern der Handwerkszünfte. Diese Sitzverteilung war festgelegt. Zudem wurde der Rat nicht von allen Bürgern bestimmt, sondern wählte bei Ausscheiden oder Tod eines Mitglieds selbst dessen Nachfolger. Außer einer stärkeren Repräsentation verlangten die Zunftmeister 1612 die Einrichtung eines öffentlichen Kornmarkts in Frankfurt, um niedrigere Getreidepreise durchsetzen zu können, sowie eine Senkung der von den Frankfurter Juden angeblich geforderten Wucherzinsen von 12 auf 6 Prozent. (Tatsächlich nahmen jüdische und christliche Bankiers in Frankfurt etwa die gleichen Zinssätze.) Die Zahl der Bewohner der Judengasse sollte begrenzt werden. Dazu kamen Forderungen der Reformierten, die die bürgerliche Gleichstellung im lutherischen Frankfurt verlangten und sich später in großer Zahl dem Aufstand anschließen sollten. Zu diesen konkreten, aber sehr unterschiedlichen Forderungen kam ein allgemeiner, seit Jahrzehnten aufgestauter Unmut über das als selbstherrlich empfundene Regiment des Rats, der die Bürger in einigen öffentlichen Verlautbarungen als „Untertanen“ bezeichnet hatte. Für die judenfeindliche Wendung, die der Aufstand schließlich nahm, waren unter anderem Kaufleute, Handwerksmeister und andere Schuldner von Geldverleihern aus der Judengasse verantwortlich. Sie hofften, zusammen mit ihren Gläubigern auch ihre Verpflichtungen ihnen gegenüber loszuwerden. Brüchiger Kompromiss: Der Bürgervertrag Im Streit um die Verlesung der Privilegien wurde der Krämer und Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch, der seit 1593 Bürger der Stadt war, zum Wortführer der Zunftmeister. Sie wandten sich zunächst an die Kurfürsten oder deren Stellvertreter, die sich zur Kaiserwahl in Frankfurt aufhielten, und schließlich an den neuen Kaiser selbst, als Matthias zu seiner Krönung nach Frankfurt kam. Sowohl die Kurfürsten als auch der Kaiser lehnten eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankfurts zunächst ab. Als die Zünfte daraufhin aber einen Ausschuss bildeten, der mit dem Rat verhandeln sollte, setzte Matthias eine Schlichtungskommission ein. In dieser Kommission wiederum, die von den benachbarten Landesfürsten, dem Kurfürsten von Mainz und dem Landgrafen von Hessen, gestellt wurde, sahen die Patrizier eine Gefährdung des Status der Freien Reichsstadt. Darüber hinaus befürchteten sie negative Auswirkungen der innerstädtischen Unruhen auf die Frankfurter Messe. Nürnberg und andere Handelsstädte hatten beim Frankfurter Magistrat bereits anfragen lassen, ob er die Sicherheit der fremden Kaufleute gewährleisten könne. Daher willigte der Rat am 21. Dezember 1612 in einen Bürgervertrag ein. Diese neue städtische Verfassung, die im Wesentlichen bis 1806 in Kraft blieb, sah eine Erweiterung des Rats um 18 Mitglieder vor, sowie einen Neuner-Ausschuss der Zünfte, der das Recht besaß, die Rechnungsbücher der Stadt zu prüfen. Der so erweiterte Rat wählte 1614 den Aufständischen Nicolaus Weitz zum Stadtschultheiß. Erneute Verschärfung der Lage Bei dieser Prüfung stellte sich 1613 heraus, dass Frankfurt hoch verschuldet war und der Rat unter anderem Mittel verschwendet hatte, die der Armen- und Krankenfürsorge hätten dienen sollen. Strafgelder hatten die Steuereinnehmer zum eigenen Nutzen veruntreut. Zudem wurde bekannt, dass der Patrizier Johann Friedrich Faust von Aschaffenburg die Bestätigung des Bürgervertrags durch den Kaiser zu hintertreiben versuchte. Ein weiterer Konflikt betraf die so genannte „Judenstättigkeit“, die Verordnung, die das Leben der Juden in Frankfurt regelte. Das Schutzgeld, das die Juden nach dieser Verordnung zu zahlen hatten, war nicht an die Stadtkasse gegangen, sondern unter den Ratsmitgliedern aufgeteilt worden. Um zu verhindern, dass die Unrechtmäßigkeit dieses Vorgehens publik würde, ließ der Rat Neudrucke der „Judenstättigkeit“ konfiszieren. Gleichzeitig kamen Gerüchte auf, die Juden machten mit den Patriziern gemeinsame Sache. Vinzenz Fettmilch veröffentlichte schließlich die Urkunde, mit der Kaiser Karl IV. 1349 seine Herrschaftsrechte über die jüdischen Einwohner Frankfurts an die Stadt abgetreten hatte. Darin fand sich der verhängnisvolle Satz, dass der Kaiser die Stadt nicht dafür zur Verantwortung ziehen werde, falls die Juden „von Todes wegen abgingen oder verdürben oder erschlagen würden“. Dies verstanden viele als Freibrief für ein Pogrom. Der Aufstand Als die enorme Verschuldung Frankfurts – 9½ Tonnen Goldgulden – öffentlich wurde, stürmte eine Menge am 6. Mai 1613 den Römer, das Frankfurter Rathaus, und erzwang die Herausgabe der Schlüssel zur Stadtkasse an den Neuner-Ausschuss der Zünfte. In den folgenden Monaten konnte der Rat nur so viel Geld ausgeben, wie der Ausschuss ihm bewilligte. Aufgrund der beiderseitigen Verletzungen des gerade erst beschlossenen Bürgervertrags setzte sich der Kaiser erneut für einen Kompromiss ein. Am 15. Januar 1614 unterzeichneten beide Parteien einen neuen Vertrag. Absetzung des Rates und Androhung der Reichsacht Da der Rat aber weiterhin keine Belege für den Verbleib der 9½ Tonnen Goldgulden beibringen konnte, setzte sich unter den Zünften der radikale Flügel unter Vinzenz Fettmilch durch. Am 5. Mai 1614 ließ er die Stadttore von seinen Anhängern besetzen, den alten Rat für abgesetzt erklären und seine Mitglieder im Römer verhaften. Der Ältere Bürgermeister Johann Hartmann Beyer, einer der 18 aufgrund des Bürgervertrages neu berufenen Ratsherren, verhandelte mit den Aufrührern und unterzeichnete am 19. Mai 1614 gemeinsam mit Fettmilch die Rücktrittsurkunde des Rates. Aber schon zwei Monate später, am 26. Juli, erschien ein kaiserlicher Herold in der Stadt, der die Wiedereinsetzung des Rats forderte. Als dem nicht Folge geleistet wurde, ließ der Kaiser am 22. August jedem Frankfurter die Reichsacht androhen, der nicht bereit war, sich durch Eid seinem Befehl zu unterwerfen. Die Plünderung der Judengasse Die Aufständischen, die sich lange der Unterstützung des Kaisers sicher gewähnt hatten, richteten ihre Wut nun gegen das schwächste Glied in der Kette ihrer vermeintlichen Gegner. Am 22. August zog eine Menge von Handwerksgesellen mit dem Ruf „Gebt uns Arbeit und Brot“ durch die Stadt. Gegen Mittag stürmten die mittlerweile betrunkenen Gesellen die Frankfurter Judengasse, die ein abgeschlossenes Ghetto am östlichen Stadtrand bildete. Sie war von Mauern umgeben und nur über drei Tore zugänglich. Bei den Kämpfen kamen ein Angreifer und zwei jüdische Verteidiger der Gasse ums Leben. Die Juden flohen schließlich auf den angrenzenden Friedhof oder in den christlichen Teil der Stadt, wo viele von Frankfurter Bürgern versteckt wurden. Mittlerweile plünderte der aufständische Mob die Judengasse, bis er gegen Mitternacht von der Frankfurter Bürgerwehr vertrieben wurde. Bei der Plünderung waren Schäden im Wert von 170.000 Gulden entstanden. Vinzenz Fettmilch selbst scheint an der Plünderung nicht beteiligt gewesen zu sein. In seinem späteren Prozess behauptete er, diese sei gegen seinen Willen erfolgt. Möglicherweise hatte er kurzfristig die Kontrolle über seine Anhänger verloren. Für Versuche Fettmilchs, die Ausschreitungen zu unterbinden, konnten aber keine überzeugenden Beweise beigebracht werden. Tatsache ist dagegen, dass er am nächsten Tag die Vertreibung aller Juden aus Frankfurt erzwang. Die meisten von ihnen suchten in den kurmainzischen und hessischen Nachbarstädten Höchst und Hanau Zuflucht. Das Ende Fettmilchs Die judenfeindlichen Exzesse und der damit heraufbeschworene Konflikt mit dem Kaiser ließen Fettmilchs Ansehen nun rasch sinken; immer mehr seiner Anhänger wandten sich von ihm ab. Am 28. Oktober 1614 verkündete ein kaiserlicher Herold am Römer, dass die Reichsacht über Fettmilch sowie über den Schreiner Konrad Gerngroß und den Schneider Konrad Schopp verhängt worden sei, die als Rädelsführer der Rebellion galten. Erst am 27. November wagte es der Schöffe Johann Martin Baur, den bis dahin mächtigsten Mann der Stadt zu verhaften. In der Folge wurden noch vier weitere Frankfurter in die Acht erklärt, darunter der Sachsenhäuser Seidenfärber Georg Ebel. In einem langwierigen Prozess, der sich fast das ganze Jahr 1615 hinzog, wurden Fettmilch und insgesamt 38 Mitangeklagte nicht direkt wegen der Ausschreitungen gegen die Juden verurteilt, sondern wegen Majestätsverbrechen, da sie die Befehle des Kaisers missachtet hatten. Über sieben von ihnen wurde das Todesurteil verhängt, das am 28. Februar 1616 auf dem Frankfurter Roßmarkt vollstreckt wurde. Vor der Enthauptung schlug man ihnen die Schwurfinger ab, Fettmilch wurde darüber hinaus nach seiner Hinrichtung gevierteilt. Die Köpfe von Fettmilch, Gerngroß, Schopp und Ebel wurden am Frankfurter Brückenturm aufgespießt, wo zur Zeit Goethes wenigstens noch einer von ihnen zu sehen war. Goethe berichtet darüber in Dichtung und Wahrheit: Fettmilchs Haus in der Töngesgasse wurde abgerissen und an seiner Stelle eine Schandsäule aufgerichtet, die in deutscher und lateinischer Sprache seine Verbrechen festhielt. Nach den Hinrichtungen, die sich mit dem Verlesen der Urteile über mehrere Stunden hinzogen, wurde ein kaiserliches Mandat verkündet, das die Wiedereinsetzung der im August 1614 verjagten Juden in ihre alten Rechte gebot. Noch am selben Tag wurden die Juden, die bis dahin überwiegend in Höchst und Hanau Zuflucht gefunden hatten, in einer feierlichen Prozession in die Judengasse zurückgeführt. An deren Tor wurde ein Reichsadler angebracht mit der Umschrift „Römisch kaiserlicher Majestät und des heiligen Reiches Schutz“. Folgen des Aufstands Mit kaiserlicher Unterstützung setzte der alte, von der Gesellschaft Alten Limpurg beherrschte Rat seine Ziele weitgehend durch. Die Zahl der Ratsmitglieder aus dieser Gesellschaft wurde zwar auf 14 begrenzt, alle Klagen der Bürgerschaft gegen den alten Rat jedoch abgewiesen. Das Gewicht im Rat verschob sich leicht zugunsten der Kaufleute der Gesellschaft Zum Frauenstein. Während das kaufmännische Element im Stadtregiment also leicht gestärkt wurde, ging der Einfluss der Handwerker noch weiter zurück. Die Zünfte mussten eine Geldstrafe von 100.000 Gulden an den Kaiser zahlen und wurden aufgelöst. Die Gewerbeaufsicht lag künftig direkt beim Rat. Neun an den Ausschreitungen beteiligte Frankfurter Bürger wurden für immer, 23 zeitlich befristet aus der Stadt verbannt. Mehr als 2.000 Bürger hatten Geldbußen zu zahlen. Erst mehr als 100 Jahre später gelang es der Frankfurter Bürgerschaft auf friedlichem Weg, die Rechte zu erhalten, die sie im fehlgeleiteten Fettmilch-Aufstand verspielt hatte. Mit Unterstützung des Kaisers wurde 1726 der Neuner-Ausschuss wieder eingeführt, der durch die Kontrolle der Finanzen die schlimmsten Missstände des patrizischen Stadtregiments abstellte. Die Juden sollten für sämtliche Sachschäden aus der Stadtkasse entschädigt werden, erhielten das Geld aber nie. Und obwohl Opfer des Aufstands, wurden auch sie weitgehend den alten Restriktionen unterworfen. Die neue „Judenstättigkeit“ für Frankfurt, die von den kaiserlichen Kommissaren aus Hessen und Kurmainz erlassen wurde, bestimmte, dass die Zahl der jüdischen Familien in Frankfurt auf 500 beschränkt bleiben sollte. Jährlich durften nur 12 jüdische Paare heiraten, während Christen für eine Heiratserlaubnis dem Schatzamt nur genügend Vermögen nachweisen mussten. Wirtschaftlich wurden die Juden weitgehend den christlichen Beisassen gleichgestellt; wie diese durften sie keine offenen Läden halten, keinen Kleinhandel in der Stadt betreiben, keine Geschäftsgemeinschaft mit Bürgern eingehen und keinen Grundbesitz erwerben, alles Einschränkungen, deren Wurzeln weit ins Mittelalter zurückreichten. Neu in der Stättigkeit war, dass den Juden nun der Großhandel ausdrücklich gestattet war, etwa der mit Pfandgütern wie Korn, Wein und Spezereien oder der Fernhandel mit Tuch, Seide und Textilien. Vermutlich stärkte der Kaiser die wirtschaftliche Stellung der Juden, um ein Gegengewicht zu den christlichen Kaufmannsfamilien zu schaffen, die nach der Entmachtung der Zünfte nun in Frankfurt herrschten. Das Ghetto der Judengasse bestand in Frankfurt jedoch weiter bis in die napoleonische Zeit. Den Jahrestag ihrer feierlichen Rückführung begeht die jüdische Gemeinde alljährlich am 20. Adar des jüdischen Kalenders mit dem Freudenfest Purim Vinz. Sein Name erinnert ebenso an den Vornamen Fettmilchs wie das von Elchanan Bar Abraham um 1648 veröffentlichte Lied Megillat Vintz (auch: Vinz-Hans-Lied), das zu diesem Anlass bis ins 20. Jahrhundert gesungen wurde. Es hatte einen hebräischen, jiddischen und deutschen Text; seine Melodie war die des deutschen Marschs Die Schlacht von Pavia. Das vielstrophige Lied ist eine wichtige Quelle für die Ereignisse des Fettmilch-Aufstands. Literatur Zeitgenössische Quellen: Joseph Hahn (genannt Juspa): Josif Ometz. Frankfurt am Main (Hahn war Chronist der Frankfurter Jüdischen Gemeinde zur Zeit des Fettmilch-Aufstandes). Nahmann Puch: ohne Titel Frankfurt am Main oder Hanau 1616. Ed. Bobzin, Hermann Süß: Sammlung Wagenseil, Harald Fischer Verlag, Erlangen 1996, ISBN 3-89131-227-X (ein jiddisches Lied zum Fettmilch-Aufstand und den Konsequenzen für die jüdische Gemeinde). Horst Karasek: Der Fedtmilch-Aufstand oder wie die Frankfurter 1612/14 ihrem Rat einheizten (= Wagenbachs Taschenbücherei, Band 58), Wagenbach, Berlin 1979, ISBN 3-8031-2058-6. Moderne wissenschaftliche Literatur: Wolfgang Benz: Handbuch der Antisemitismus, Band 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, de Gruyter, Berlin / Boston 2011, ISBN 978-3-598-24076-8, S. 132–134. Friedrich Bothe: Frankfurts wirtschaftlich-soziale Entwicklung vor dem Dreißigjährigen Kriege und der Fettmilchaufstand (1612–1616). Teil II.: Statistische Bearbeitungen und urkundliche Belege (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt, Band 7). Baer, Frankfurt am Main 1920. Robert Brandt, Olaf Cunitz, Jan Ermel, Michael Graf: Der Fettmilch-Aufstand. Bürgerunruhen und Judenfeindschaft in Frankfurt am Main 1612–1616. Frankfurt am Main 1996, (Katalog zum Ausstellungsprojekt des Historischen Museums Frankfurt). Christopher R. Friedrichs: Politics or Pogrom? The Fettmilch Uprising in German and Jewish History. In: Central European History. 19, Cambridge University Press, Cambridge 1986, , S. 186–228. Markus Huth: Der Frankfurter „Fettmilchaufstand“. Untersuchungen zu den Frankfurter Unruhen 1612–1616. Studienarbeit, Grin-Verlag 2005, ISBN 978-3-640-34512-0. Rainer Koch: 1612–1616. Der Fettmilchaufstand. Sozialer Sprengstoff in der Bürgerschaft. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst (AFGK). 63, Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt 1997, , S. 59–79. Isidor Kracauer: Die Juden Frankfurts im Fettmilch'schen Aufstand 1612–1618. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. Braunschweig 1890, Heft 2, S. 127–169; Heft 3, S. 319–365 und 1892, Heft 1, S. 1–26. Matthias Meyn: Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612 bis 1614. Struktur und Krise (= Studien zur Frankfurter Geschichte, Band 15). Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-7829-0235-1 (Dissertation Universität Bochum 1976, 256 Seiten). Jutta Rolfes: Die Juden in der Reichsstadt Frankfurt am Main zur Zeit des Fettmilch-Aufstandes 1612–1616. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst (AFGK). 63, Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1997, , S. 223–237. Heidi Stern: Die Vertreibung der Frankfurter und Wormser Juden im frühen 17. Jahrhundert aus der Sicht des Zeitzeugen Nahman Puch. Edition und Kommentar eines jiddischen Lieds. In: Ashraf Noor (Hrsg.): Naharaim 3, 2009, Bd. 1. De Gruyter: Berlin, New York, S. 1–53. Rivka Ulmer: Turmoil, Trauma, and Triumph. The Fettmilch Uprising in Frankfurt am Main (1612–1616) According to Megillas Vintz. A Critical Edition of the Yiddish and Hebrew Text Including an English Translation (= Judentum und Umwelt – Realms of Judaism. Band 72). Lang, Bern / Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-631-36957-3. Turniansky, Chava, The Events in Frankfurt am Main (1612–1616) in Megillas Vints and in an Unknown Yiddish 'Historical' Song, Michael Graetz (Ed.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2000, pp. 121–137. Adaptionen Film Revolution in Frankfurt, Fernsehspiel, BR Deutschland 1979, Buch: Heinrich Leippe, Regie: Fritz Umgelter, mit Günter Strack, Joost Siedhoff, Richard Münch u. a. Literatur Das verschwundene Gold, historischer Roman, acabus 2021, der deutschen Autorin Astrid Keim Weblinks J. Kracauer: Die Juden Frankfurts im Fettmilch’schen Aufstand 1612–1618. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland Deutscher und jiddischer Text des zeitgenössischen Vinz-Hans-Lieds (Megillat Vintz), das den Aufstand aus jüdischer Sicht schildert. Das Vinz-Hans-Lied, gesungen von Diana Matut, begleitet vom Ensemble Simkhat Hanefesh Christoph Vormweg: 22.08.1614 - Plünderung der Judengasse. WDR ZeitZeichen vom 22. August 2014 (Podcast). Einzelnachweise Aufstand im Heiligen Römischen Reich Frankfurt am Main im 17. Jahrhundert Judentum in Frankfurt am Main Antijudaismus Pogrom 1614 Aufstand (17. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96stliche%20Gabunviper
Östliche Gabunviper
Die Östliche Gabunviper (Bitis gabonica) ist eine Schlangenart aus der Gattung der Puffottern (Bitis Gray, 1842). Sie gehört mit einer maximalen Körperlänge von über zwei Metern zu den längsten Vipern. Mit einem maximalen Körpergewicht von etwa zehn Kilogramm ist sie zudem eine der schwersten Giftschlangen der Welt. Die Giftzähne sind mit einer Länge von rund fünf Zentimetern mit die längsten aller Schlangenarten. Trotz ihrer Größe und ihres sehr wirksamen Giftes ist die Art aufgrund ihrer geringen Aggressivität und der zumeist vergleichsweise langsamen Bewegungen medizinisch kaum relevant. Todesfälle durch den Biss der Schlange sind extrem selten. Merkmale Die Gabunviper hat eine durchschnittliche Körperlänge von 1,20 bis 1,50 Metern, kann jedoch auch größer werden. Aufgrund des sehr untersetzten und schweren Körperbaues erreicht die Art ein Gewicht von acht bis maximal zehn Kilogramm, das selbst von deutlich längeren Giftnattern wie etwa der Königskobra (Ophiophagus hannah) mit über fünf Metern Maximallänge nicht erreicht wird. Die Gabunviper gilt daher als schwerste Giftschlange der Welt. Die Weibchen werden im Regelfall etwas länger als die Männchen, außerdem lassen sich die Geschlechter anhand der Schwanzlänge unterscheiden. Diese beträgt bei Männchen etwa zwölf Prozent der Körperlänge, bei Weibchen nur sechs Prozent. Der wuchtige, dreieckige Kopf der Schlange ist vom Körper durch einen eher schmalen Hals direkt hinter dem Nacken deutlich abgesetzt. Der Hals hat dabei einen Durchmesser, der etwa ein Drittel der Kopfbreite ausmacht. Die Nasalschuppen (Nasalia) sind vor allem bei der Unterart B. g. rhinoceros zu deutlichen Hörnern umgebildet. Die Augen sind sehr groß und im Vergleich zu fast allen anderen Schlangenarten sehr beweglich. Sie sind von 15 bis 21 Circumocularia umrandet und unterhalb der Subocularia mit fünf Reihen kleinerer Schuppen von den Oberlippenschildern (Supralabialia) getrennt. Insgesamt hat die Gabunviper 13 bis 18 Supralabialia und 16 bis 22 Unterlippenschilder (Sublabialia). Die Giftzähne im Oberkiefer sind bis zu fünf Zentimeter lang und damit die längsten bekannten Giftzähne überhaupt. Es handelt sich bei ihnen um die für Vipern typischen, vorn stehenden und ausklappbaren Giftzähne mit innerem Giftkanal (solenoglyphe Giftzähne), die von einer fleischigen Scheide umhüllt sind, welche sich beim Ausklappen zurückzieht und dann die eigentlichen Zähne freigibt. Die Giftzähne sind durch einen Kanal mit den hinter den Augen liegenden sehr großen Giftdrüsen verbunden. Weitere, viel kleinere Zähne sitzen in zwei Reihen auf dem Gaumenbein (Palatinum) und dem Flügelbein (Pterygoid). Der Körper besitzt an seiner dicksten Stelle 28 bis 46 dorsale Schuppenreihen pro Querreihe. Die Schuppen sind mit Ausnahme der äußersten sehr stark gekielt, die seitlichen Schuppen sind leicht gebogen. Die Bauchseite ist von 124 bis 140 Bauchschuppen (Ventralia) besetzt, wobei Männchen selten über und Weibchen selten unter 132 Ventralia besitzen. Die Analschuppe ist ungeteilt, ihr schließen sich 17 bis 33 Schuppenpaare der Schwanzunterseite (Subcaudalia) an, dabei haben Männchen nie weniger als 25 und Weibchen nie mehr als 23 Paare. Eine Grundfarbe ist auf dem Körper der Schlangen nicht zu erkennen, die Färbung setzt sich vielmehr aus einem Mosaik von regelmäßig geformten Flächen zusammen. Der Kopf ist auf der Oberseite cremeweiß. Von den silbrig-schwarzen Augen ziehen sich die bereits erwähnten dunklen Dreiecke abwärts zum Maulwinkel. Der cremefarbene, fast pastellfarbige Bereich reicht über den Nacken und geht über in eine Reihe von ebenfalls in dieser Farbe gehaltenen Rechtecken, die sich auf dem Rücken bis zum Schwanz ziehen. Unterbrochen sind sie von olivgrünen und zentral eingeschnürten Flecken mit einer hellen Begrenzung. In der Einschnürung werden die Flecken durch braune Dreiecke zu Rechtecken ergänzt. Unterhalb dieser hellen Rückenzeichnung sind die Flanken vor allem durch eine Reihe großflächiger hellbrauner Rautenflecken (Diamanten) im Wechsel mit dunklen Dreiecken gekennzeichnet, die unten von einer weißen Zickzacklinie abgegrenzt werden. Unterhalb dieser liegen wiederum braune Dreiecke bis zum Bauch. Die Zeichnung ist individuell leicht variabel, wobei vor allem die Farben etwas unterschiedlich sein können. So kommen insbesondere bei frisch gehäuteten Tieren grünliche, gelbe, bläuliche oder violette Farben vor, und zwischen den Hauptzeichnungen können kleinere Farbflecken in weiß, gelb oder rot vorkommen. Unterschiede zwischen Bitis gabonica und Bitis rhinoceros Beide Gabunvipern sind sehr farbenfroh gemustert und auf dem Boden liegend durch das Laubmuster sehr gut getarnt. Abgesehen davon, dass sie nicht gemeinsam in einer Region vorkommen, lassen sich die Unterarten vornehmlich dadurch unterscheiden, dass der Kopf von B. gabonica im Gegensatz zu B. rhinoceros gar keine oder nur sehr kleine hornartige Vergrößerungen der Schuppen auf der Schnauze aufweist. B. gabonica weist vom Auge ausgehend zur Mundöffnung hin zwei dunkle dreieckige Flächen bzw. eine, von einer unterschiedlich stark ausgeprägten, hellen Linie unterteilte Fläche auf. B. rhinoceros hat nur ein großes bzw. nicht unterteiltes Dreieck. In der sonstigen Körperform und Färbung unterscheiden sich die beiden Arten kaum voneinander. Verbreitung und Lebensraum Die Erstbeschreibung der Art erfolgte an einem Exemplar aus Gabun, wodurch die Schlange sowohl ihren wissenschaftlichen Namen „B. gabonica“ als auch ihren Trivialnamen „Gabunviper“ erhielt (Terra typica). Das Verbreitungsgebiet der Art umfasst weite Teile des Regenwaldgebietes Zentralafrikas sowie mehrere kleinere, isolierte Areale in Ost- und Südafrika. Durch die Dahomey-Gap, einen nahezu waldfreien und trockenen Korridor zwischen den oberguineischen und kongolesischen Regenwäldern, sind die Verbreitungsgebiete von Bitis gabonica und Bitis rhinoceros vollständig getrennt. Im östlichen und südlichen Afrika sind die Vorkommen ebenfalls lokal sehr begrenzt und vom Hauptverbreitungsgebiet im Kongobecken isoliert. Die Gabunviper ist eine ausgesprochene Waldart, die vor allem im tropischen Regenwald und dessen Randwäldern lebt. Außerdem lebt sie in Sumpfland, sowohl im Bereich von Stillgewässern als auch im Umfeld von Flüssen oder anderen Fließgewässern. Vor allem in Westafrika wird die Schlange in Kakao- und in Ostafrika in Kaffee-Plantagen in ehemaligen Regenwaldgebieten angetroffen und für Tansania werden Vorkommen der Viper in Sekundärwäldern, Cashew-Plantagen und buschigem Kulturland sowie Dickichten beschrieben. Man findet sie vor allem im Flachland, seltener in Höhen bis zu 1.500 oder sogar 2.100 m über Meer. Lebensweise Die Gabunviper ist eine solitäre, auf dem Boden lebende und meistens nachtaktive Schlange, die vor allem mit der abendlichen Dämmerung aktiv wird. Sie wird gemeinhin als sehr behäbig oder auch lethargisch beschrieben und bewegt sich oft stundenlang kaum von der Stelle. Ihre Fortbewegung erfolgt kriechend, indem sie sich auf ihren Bauchschuppen vorwärts zieht, und sehr langsam. Wird sie gestört, kann sie sich auch kurze Zeit schlängelnd fortbewegen; meistens verharrt sie in dem Fall jedoch bewegungslos oder geht in eine Verteidigungsposition über. Wird die Schlange sehr stark gereizt und fühlt sich dadurch bedroht, kommt es zu dem für Puffottern typischen Drohverhalten, bei dem sie sich mehrfach aufbläht und die aufgenommene Luft zischend oder mit lauten Knallgeräuschen wieder entlässt. Diese Aufregung kann sehr lang andauern; Hans-Günter Petzold, ehemaliger stellvertretender Direktor und Kurator für niedere Wirbeltiere im Tierpark Berlin, berichtete beispielsweise von einer in Gefangenschaft gehaltenen Gabunviper, deren Terrarium tagelang mit Matten verhängt wurde, bis sich das Tier wieder beruhigt hatte. Wenn die Schlange zubeißt, schnellt der Vorderkörper mit einer solchen Wucht vor, dass das Tier bis zur Hälfte vom Boden abhebt. Ernährung Die Gabunviper ist ein unspezialisierter Lauerjäger. Sie wartet im Laub liegend und gut getarnt auf potentielle Beutetiere, die in ihre Reichweite gelangen, und schnappt dann schnell vorstoßend zu. Dabei reagiert sie auf Vibrationen des Bodens oder auf den Geruch des Beutetieres. Beim Zustoßen wurde eine Geschwindigkeit von 23,6 Meter pro Sekunde gemessen, was ca. 85 km/h entspricht. Den Hauptanteil ihrer Beute machen entsprechend bodenlebende Kleinsäuger aus, insbesondere Nagetiere wie Rohrratten, Riesenhamsterratten, Vielzitzenmäuse und auch Stachelschweine, aber auch kleine Affen, Fledertiere oder Kleinstböckchen (Neotragus pygmaeus). Außerdem gehören Vögel wie Frankoline oder Tauben sowie Frösche und Echsen zu ihrem Beutespektrum. Durch die langen Giftzähne wird das Gift sehr weit in den Körper eingebracht und wirkt entsprechend stark. Anders als viele andere große Vipern hält sie ihr Beutetier meistens fest, bis es durch die Giftwirkung gestorben ist. Nur selten und bei besonders wehrhafter Beute lässt die Schlange das Beutetier wieder los und sucht es aktiv nach etwa ein bis zwei Minuten, indem sie der Duftspur folgt. Die Beute wird anschließend vollständig verschluckt, wobei sie alternierend durch die Bewegungen des Unterkiefers und der Zähne des Gaumens in den Schlund geschoben wird. Meistens erfolgt dies mit dem Kopf voran, kleinere Beutetiere können jedoch aufgrund der sehr beweglichen Kiefer in fast jeder Lage geschluckt werden. Fressfeinde und Parasiten Fressfeinde der Gabunviper sind nicht bekannt. Da die Tiere im Laub sehr gut getarnt und zudem sehr wehrhaft sind, sollte das Spektrum potentieller Feinde eher gering sein. Wie die meisten anderen Schlangen werden Gabunvipern jedoch von einer Reihe Parasiten besiedelt. So finden sich in den meisten gefangenen Gabunvipern Zungenwürmer (Pentastomida) der Art Armillifer armillatus sowie Bandwürmer der Art Proteocephalus gabonica, die sich auf diese Viper spezialisiert haben. Außerdem finden sich Proglottiden, weitere Bandwürmer sowie Eier der zu den Fadenwürmern gehörenden Spulwürmer (Ascaridae) und Strongylidae in den Kotproben der Tiere. Fortpflanzung und Entwicklung Die Balz- und Paarungszeit der Gabunvipern liegt in der Regenzeit und kann entsprechend regional unterschiedlich sein. Die Hauptaktivität liegt im Frühjahr und Frühsommer im Zeitraum von März bis Juni. Wie sich die Geschlechtspartner finden, ist bislang ungeklärt. Man geht allerdings davon aus, dass die Weibchen Geruchsstoffe (Pheromone) abgeben, deren Spur die Männchen folgen können. Die Männchen führen in dieser Zeit Kommentkämpfe durch, wenn sich mehrere Tiere beim gleichen Weibchen treffen. Dabei umschlingen sie sich gegenseitig, um den jeweiligen Gegner zu Boden zu drücken. Diese „Tänze“ werden von einem kontinuierlichen lauten Zischen beider Tiere begleitet, und sehr häufig trennen sich die Tiere, ohne dass ein Gewinner feststeht – in diesem Fall verpaart sich keines der Männchen mit dem Weibchen. Die Paarung selbst beginnt das Männchen ebenso wie die Kämpfe damit, dass es mit seinem Kopf über den Rücken der potentiellen Partnerin streicht. Wenn das Weibchen eine Paarung zulässt und dies durch Anheben des Schwanzes signalisiert, schlingt sich das Männchen mit dem Vorderkörper um das Weibchen und führt einen der beiden Hemipenes in die Kloake des Weibchens ein, um seine Spermien abzugeben. Die Spermien können vom Weibchen vor der eigentlichen Befruchtung im Genitaltrakt gespeichert werden, dadurch kann die Tragzeit von sieben Monaten bis zu einem Jahr betragen. In dieser Zeit nehmen die Mutterschlangen deutlich an Gewicht und Umfang zu. Bei in Gefangenschaft gehaltenen Schlangen wurden dabei etwa 2,15 Kilogramm Gewichtszunahme beobachtet. Die Gabunviper ist ovovivipar, bringt also lebende Jungtiere zur Welt, die nur von einer dünnen Embryonalhülle umgeben sind. Die direkt daraus schlüpfenden Jungschlangen haben eine Körperlänge von etwa 24,5 bis 27 Zentimetern bei einem Gewicht von 32 bis 39 Gramm. Der Wurf einer Schlange besteht dabei aus 16 bis zu über 40 Individuen, die Geschlechter sind dabei gleichmäßig verteilt. Bereits nach einem Tag schnappen die Jungschlangen instinktiv nach Beutetieren in der passenden Größe, im Terrarium etwa nach Babymäusen. Die Giftdrüsen und Giftzähne sind bereits voll ausgebildet und funktionsfähig. Innerhalb von etwa einem Jahr erreichen die Jungschlangen eine Körperlänge von etwa 60 Zentimetern, wobei das proportionale Längenwachstum mit dem Alter abnimmt. Nach zwei Jahren sind die Schlangen etwa einen Meter lang, nach drei Jahren etwa 1,3 Meter. In dem Alter wiegen sie etwa 3 Kilogramm. Über Terrarienversuche konnte ermittelt werden, dass eine durchschnittliche tägliche Nahrungsmenge von 2,1 g/kg Körpergewicht benötigt wird, um ein Wachstum und eine Gewichtszunahme zu erreichen, unterhalb einer Menge von 1,7 g/kg Körpergewicht nehmen die Tiere an Gewicht ab. Nach etwa sechs Jahren ist die Gabunviper ausgewachsen bzw. wächst nur noch minimal, und das Körpergewicht bleibt weitgehend konstant. Das maximale Alter der Schlangen ist unbekannt, in der Literatur werden allerdings Lebensspannen für gehaltene Schlangen von 10 bis 30 Jahren angegeben. Sollten diese Zahlen zutreffen, handelt es sich bei der Gabunviper gemeinsam mit der Waldkobra (Pseudohaje goldii), der Südafrikanischen Speikobra (Hemachatus haemachatus) und der Waldklapperschlange (Crotalus horridus) um eine der langlebigsten Giftschlangen, für die entsprechende Lebensdaten vorhanden sind. Für die meisten Arten fehlen allerdings entsprechende Daten, es ist also durchaus möglich, dass dieses Maximalalter von vielen weiteren Arten erreicht werden kann. Taxonomie Forschungsgeschichte Die Gabunviper wurde 1854 von André Marie Constant Duméril, Gabriel Bibron und Auguste Duméril als Echidna Gabonica erstbeschrieben. Gabriel Bibron war Assistent von André Duméril, dem Leiter des in Paris, und starb während der Arbeiten an der Veröffentlichung der im Jahr 1848. André Dumérils Sohn Auguste übernahm seine Position und führte die Arbeiten gemeinsam mit seinem Vater zu Ende, bevor er 1857 selbst Professor am Museum wurde. Zum Zeitpunkt der Erstbeschreibung der Gabunviper in der 1854 war Bibron also bereits verstorben, wurde jedoch posthum als Autor des Werkes benannt, Auguste Duméril dagegen nicht. 1896 ordnete George Albert Boulenger die Art in die bereits 1842 von John Edward Gray geschaffene Gattung Bitis unter dem bis heute gültigen Namen Bitis gabonica ein. Durch Robert Mertens vom Forschungsinstitut- und Naturmuseum Senckenberg in Frankfurt am Main erfolgte erst 1937 eine neue Einordnung als Cobra gabonica und 1951 eine Rückeinordnung in die Gattung Bitis. Aktuelle Systematik Die Gabunviper ist eine von vierzehn Arten der Puffottern (Bitis). Innerhalb dieser wird sie gemeinsam mit der Nashornviper (B. nasicornis) und der Äthiopischen Puffotter (B. parviocula) in die Untergattung Macrocerastes eingeordnet. Bei diesen Arten handelt es sich um größere Puffottern, die sich vor allem durch die Ausbildung der Kopfschilder auszeichnen. Die Nasalia sind bei ihnen durch mindestens vier Schuppen vom ersten Supralabiale und durch drei oder fünf Schuppen vom Rostrale getrennt. Außerdem weisen alle diese Arten einen dreieckigen Kopf sowie mindestens ein Paar hornähnlich vergrößerte Schuppen an der Schnauzenspitze auf. Die Nashornviper gilt dabei als nächste Verwandte bzw. Schwesterart der Gabunviper. Nach Untersuchungen von Peter Lenk et al. aus dem Jahr 1999 wurde auf molekularbiologischer Basis der Analyse des Cytochrom b-Gens aus der mitochondrialen DNA festgestellt, dass sich der lange Zeit anerkannten Unterarten der Gabunviper sehr stark voneinander unterscheiden. Sie stellten gravierende Unterschiede zwischen B. g. gabonica und B. g. rhinoceros fest, die denen jeder einzelnen zur nächstverwandten Nashornviper entsprechen. Auf dieser Basis wurde vorgeschlagen, die westliche Unterart B. g. rhinoceros als eigene Art Bitis rhinoceros und als Schwesterart zur Nashornviper zu betrachten. Diese Auffassung hat sich innerhalb der Systematik mittlerweile etabliert und beide Gabunvipern sind als eigenständige Arten anzusehen. Schlangengift Bei einem Biss der Gabunviper wird ein stark wirkendes Gift durch die Kanäle ihrer Zähne injiziert, das sowohl neurotoxische als auch hämolytisch wirkende Bestandteile besitzt. Die Giftmenge, die bei einem Biss dieser Art abgesondert wird, ist zudem recht hoch, und durch die sehr langen Giftzähne wird das Gift tief in die Bissstelle eingebracht. Zusammensetzung Wie die meisten Schlangengifte stellt auch das Gift der Gabunviper ein Gemisch aus unterschiedlichen Proteinanteilen dar, die entsprechend unterschiedlich im Körper der Beutetiere oder eines Gebissenen wirken. Die ersten substanziellen Arbeiten zur Identifizierung der einzelnen Bestandteile des Giftes stammen aus dem Jahr 1969, jedoch ist bis heute nicht abschließend geklärt, welche Bestandteile welche Wirkungen haben. Eine Arbeit von 2007 identifizierte im Proteom der Giftdrüsen mit Hilfe verschiedener Analyseverfahren 38 unterschiedliche Proteine mit Molekülmassen von 7 bis 160 kDa, die sich 12 verschiedenen Giftgruppen zuordnen lassen. Die meisten Bestandteile des Giftes gehen evolutionär wie für die Vipern typisch auf Komponenten des Blutgerinnungssystems zurück und wirken entsprechend. Den Hauptanteil bilden Serinproteinasen, die im Aufbau und der Funktion dem Gerinnungsenzym Thrombin sehr ähnlich sind. Hinzu kommen unter anderen Zn2+-Metalloproteasen, lektinähnliche Proteine, Phospholipase A2, Bradykinin-verstärkende Proteine und gattungstypische Bitiscystatine. Einige Gifte sind dabei arttypisch, darunter Gabonin-1 und -2 sowie die Disintegrine Bitisgabonin-1 und -2. Die Zusammensetzung der Serinproteasen ist ebenfalls einzigartig für die Gabunviper und insbesondere die Gabonase ist arttypisch für die Gabunviper. In ihrem Aufbau ähnelt sie dabei anderen Serinproteasen aus Schlangengiften wie beispielsweise der Crotalase im Gift der Klapperschlangen (Crotalus). Im Vergleich zum Gift der Puffotter (Bitis arietans), das als einziges in der Gattung ebenfalls detailliert untersucht ist, ist die Zusammensetzung des Gabunvipergiftes deutlich komplexer. Auf der anderen Seite wird das Puffottergift als effektiver beschrieben. Der Unterschied lässt sich wahrscheinlich vor allem über eine evolutionäre Anpassung der Gifte an die spezifischen Beutetiere erklären; Daten über die Wirkung bei diesen liegen allerdings nicht vor. Wirkung Das Gabunvipergift wirkt sehr stark hämorrhagisch und cytotoxisch, zudem sind neurotoxische Komponenten enthalten. Die Letale Dosis LD50 bei Mäusen und Kaninchen, denen das Gift intravenös gespritzt wurde, liegt bei 0,55 bis 0,71 bzw. 0,86 bis 2,76 Milligramm (Trockengewicht) pro Kilogramm Körpergewicht. Bei Affen liegt die LD50 bei 0,2 bis 0,6 mg/kg, auf dieser Basis wurde für den Menschen hochgerechnet, dass ein unbehandelter Biss mit einer Giftinjektion von mehr als 35 Milligramm als tödlich angesehen werden kann. Bei einem durchschnittlichen Biss gibt die Gabunviper allerdings deutlich größere Mengen ab, die im Bereich zwischen 200 und 600 Milligramm liegen; die bislang maximal bei einer Giftentnahme festgestellte Menge lag sogar bei 2,4 Gramm Trockengift bzw. 9,7 Milliliter Nassgift. Dabei handelt es sich um die größten Giftmengen, die für Giftschlangen überhaupt dokumentiert sind. Die Folgen eines Schlangenbisses beim Menschen sind vielfältig und können je nach Menge und Geschwindigkeit der Giftaufnahme unterschiedlich ausfallen. Häufig kommt es zu einem starken Abfall des Blutdrucks bis hin zum Schock, zu Blutungen im Bereich der Bisswunde und in anderen Körperregionen und Organen und zu einer Störung der Blutgerinnung, die der disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) sehr ähnlich ist. Die Gerinnungsstörung wird ausgelöst durch die hohe Menge an thrombinähnlichen Bestandteilen des Giftes, die zu einer unvollständigen Bildung von Fibrin aus dem vorhandenen Fibrinogen und einem danach erfolgenden Abbau desselben führen. Verstärkt wird der Effekt durch die Bitisgabonine, die das bei der Gerinnung benötigte Fibronektin binden und damit dem Blut entziehen. Das Blut wird entsprechend durch das Schlangengift ungerinnbar. Zytotoxische Effekte zweier hämorrhagischer Proteine, die zu einer Separation von Endothelzellen der Blutgefäße und damit einem Austritt von Blut in das umliegende Gewebe führen, werden für die diffusen Blutungen verantwortlich gemacht. Stoffwechselveränderungen führen zu einer verminderten Sauerstoffaufnahme im Gewebe und einer metabolischen Azidose mit erhöhten Blutkonzentrationen von Glucose und Laktat. Am Herzen werden Störungen der Erregungsleitung und Veränderungen des Aktionspotentials durch eine verminderte Membrandurchlässigkeit für Calciumionen beobachtet, die auch zu einer zunehmenden Herzmuskelschwäche führt. Epidemiologie Bissunfälle durch die Gabunviper bei Menschen sind verhältnismäßig selten und resultieren meist daraus, dass der Betroffene auf eine versteckte Schlange getreten ist. Selbst bei relativ starker Reizung reagieren die meisten Gabunvipern kaum oder nur durch einen kurzen Zischlaut. Genaue Zahlen der Bissunfälle liegen nicht vor und Todesfälle, die auf die Gabunviper zurückgeführt werden können, sind nicht dokumentiert. Bislang wird nur ein Fall aus dem US-Bundesstaat Kalifornien auf den Biss einer Gabunviper zurückgeführt: Am 17. Dezember 1999 wurde Anita Finch, die Besitzerin einer Gabunviper, in ihrem Trailer im Stadtteil Van Nuys in Los Angeles tot aufgefunden, nachdem sie von der Gabunviper in die Hand gebissen wurde. Menschen und die Gabunviper Über die Bestandszahlen der einzelnen Populationen der Gabunviper liegen keine Zahlen vor, es wird jedoch davon ausgegangen, dass diese Tiere in den Regenwäldern Afrikas in relativ großer Individuenzahl vorhanden sind. Einträge in der Roten Liste gefährdeter Arten sowie in der Artenliste des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommen (CITES) bestehen entsprechend nicht. In einigen Teilen ihres Verbreitungsgebietes stellt die Gabunviper als Fleischlieferant eine willkommene Jagdbeute dar. Sie wird im Regelfall mit bloßen Händen gefangen und am Schwanz hängend lebend getragen, da sie sich nur selten wehrt. Vor allem in Uganda gilt die Gabunviper als Delikatesse, sie wird dort vor allem in einer Suppe gegessen. Eine medizinische Nutzung des Schlangengifts ist bislang nicht bekannt. Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Gabunviper ist von der anderer Schlangen in ihrem Verbreitungsgebiet nicht zu trennen. Obwohl Schlangen sehr häufig in afrikanischen Märchen und Geschichten auftauchen, ist es kaum möglich, diese einzelnen Arten zuzuordnen. Der englische Afrikaforscher Henry Hamilton Johnston beschrieb die in Uganda lebende Gabunviper 1902 in seinem zweibändigen Werk : Belege Zitierte Belege Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil den unter Literatur angegebenen Quellen, darüber hinaus werden folgende Quellen zitiert: Literatur David Mallow, David Ludwig, Göran Nilson: True Vipers. Natural History and Toxicology of Old World Vipers. Krieger Publishing Company, Malabar (Florida) 2003, ISBN 0-89464-877-2, S. 150–159. N. E. Marsh, B. C. Whaler: The Gaboon viper (Bitis gabonica): its biology, venom components and toxinology. In: Toxicon. 22, 5, 1984, S. 669–694. Weblinks Porträt im Animal Diversity Net (englisch) Puffottern
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https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsschwert
Reichsschwert
Als Reichsschwert wird im deutschsprachigen Raum das zu den Reichskleinodien der römisch-deutschen Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gehörende Schwert bezeichnet. Im Allgemeinen ist dies die Bezeichnung eines bestimmten Schwertes, das als Staatssymbol einer Monarchie die Macht, Stärke und Wehrhaftigkeit eines Reiches darstellt. So existieren oder existierten Reichsschwerter beispielsweise in England, Schottland, Preußen, Dänemark, Norwegen, Ungarn, den Niederlanden, dem Westfränkischen Reich und Japan. Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt jedoch auf einer Beschreibung des Reichsschwertes des Heiligen Römischen Reiches mit seiner Geschichte, seinem Aussehen und seiner Bedeutung für das Reich. Da der Ursprung dieses Schwertes dem heiligen Mauritius zugeschrieben wurde, bezeichnet man es auch als Mauritiusschwert. Das Schwert überreichte der Papst dem römisch-deutschen Kaiser bei seiner Krönung als Zeichen der weltlichen Macht, die er aus der Hand Gottes erhält. Beim anschließenden Auszug aus der Kirche wurde es dem neuen Kaiser vom Schwertführer mit der Spitze nach oben als Zeichen der weltlichen Macht und Gewalt vorangetragen. Es ist heute unter der Inventarnummer SchK XIII 17 in der Weltlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg ausgestellt. Aussehen Klinge, Parierstange, Griff und Knauf Das Schwert hat insgesamt eine Länge von 110 cm und die 95,3 cm lange Klinge besteht aus Stahl. Die spitz zulaufende Klinge ist mehrfach nachgeschliffen worden und zeigt auf jeder Seite eine eingeschlagene Schwertfegermarke in Gestalt eines Kreises, in dem ein Kruckenkreuz, also ein Kreuz mit Querbalken an den 4 Enden, einbeschrieben ist. Die Parierstange und der Knauf sind schwach vergoldet, und der Griff wurde mit einem gestückelten Silberdraht umwickelt. Dieser Draht ist wohl eine neuzeitliche Ergänzung aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, könnte aber auch bereits zur Zeit der Entstehung angebracht worden sein. Das Schwert war zum feierlichen Tragen mit der Spitze nach oben bestimmt, dies kann man aus der Anordnung der Arbeiten auf der Scheide deutlich erkennen. Außerdem ist nur in dieser Haltung eine der auf beiden Seiten der Parierstange eingravierten Inschriften lesbar, zwischen deren Wörtern einfache Punkte stehen: Wenn das Schwert abwärts gerichtet wird oder am Schwertgurt hängt, ist die auf der anderen Seite angebrachte kürzere Inschrift lesbar. Zwischen den Wörtern stehen hier Doppelpunkte: Die erste Inschrift müsste aber eigentlich lauten: „Christus vincit – Christus regnat – Christus imperat“ (fett geschrieben: die korrekte lateinische Schreibweise). Der Kunsthistoriker Julius von Schlosser vertrat auf Grund dieser sprachlichen Eigentümlichkeit im Jahre 1918 die Ansicht, dass dies auf eine Herkunft des Schwertes aus dem romanischen Sprachraum, speziell Sizilien, hindeutet. Nach Ansicht heutiger Forscher handelt es sich dabei um das Mittellatein eines Schreibers, dessen Sprache nord- oder auch südfranzösisch sein kann, wobei die Schreibung des Lateins der dortigen tatsächlichen Aussprache angepasst wurde. Die Inschrift ist der Name eines dreiteiligen christlichen Lobgesanges, mit dem im Mittelalter das Volk nach der Krönung dem Herrscher huldigte. Dieser Gesang soll in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts entstanden sein und wurde wohl erstmals bei der Krönungsliturgie zu Ostern des Jahres 774, nach der Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen, verwendet. Er blieb bis zum Jahre 1209 verbindlich, bis Papst Innozenz III. eine neue Krönungsordnung einführte. Der pilzförmige Knauf trägt auf der einen Seite das eingravierte Wappen Ottos IV., ein halber Adler und drei schreitende Löwen. Dieses steht auf dem Kopf und konnte ebenso wie eine der beiden Inschriften auf der Parierstange nur erkannt werden, wenn dem Kaiser das Schwert mit erhobener Spitze vorangetragen wurde. Die andere Seite trägt ein Wappen mit dem Reichsadler, das hingegen dann erkennbar war, wenn das Schwert gesenkt oder am Schwertgurt getragen wurde. Der untere Rand des Knaufes trägt die lateinische Inschrift: Der Schrifttyp ähnelt der Gravur auf der Parierstange. Daraus kann man schließen, dass beide zur gleichen Zeit angebracht wurden. Scheide Die Scheide des Schwertes ist 101 cm lang und aus Olivenholz gefertigt. Sie ist mit vierzehn goldgetriebenen Platten, auf denen Herrschergestalten dargestellt sind, geschmückt. Zwischen den Platten sitzen Emailplättchen. Dieses Bildprogramm ist mehr als 100 Jahre älter als das Schwert selbst und zählt zweifellos zu den schönsten Arbeiten seiner Art. Alle Herrscher tragen eine Krone auf ihrem Haupt. Nur bei einer Darstellung ist links und rechts des Kopfes der Schriftzug „L – REX“ (König L.) eingraviert. Diese Darstellung zeigt, wie der Vergleich mit anderen Quellen nahelegt, den letzten karolingischen Herrscher Ludwig IV. das Kind, der von 900 bis 911 herrschte und als einziger der dargestellten Herrscher nicht zum Kaiser gekrönt wurde. Damit konnte auf einfache Weise die Personenfolge genau bestimmt werden. Die Goldplatten zeigen die historische Reihe von Karl dem Großen bis zu Heinrich III., dem salischen Kaiser aus dem Wormser Raum. Dabei handelt es sich bei den dargestellten Personen ausschließlich um römisch-deutsche Könige und Kaiser. Westfränkische und italienische Könige, die zu Kaisern gekrönt wurden, sind auf der Scheide nicht dargestellt. Ebenso blieb die Reichsteilung von 876 unberücksichtigt. Von den drei Söhnen Ludwig des Deutschen ist nur Karl III. der Dicke vertreten, welcher als einziger der drei Kaiser wurde und das Reich unter seiner Herrschaft wiedervereinigt hatte. Die Herrscher auf der Scheide wurden folgendermaßen identifiziert (in Klammern die Zeit der Herrschaft, Vorderseite: 1–8, Rückseite: 9–14): Karl der Große (768–814) Ludwig der Fromme (814–840) Ludwig der Deutsche (843–876) Karl III. der Dicke (876–887) Arnolf von Kärnten (887–899) Ludwig IV. das Kind (900–911) Konrad I. (911–918) Heinrich I. (919–936) Otto I. der Große (936–973) Otto II. (973–983) Otto III. (980–1002) Heinrich II. (1002–1024) Konrad II. (1024–1039) Heinrich III. (1039–1056) Auf den Reliefs sind die vierzehn Herrscher in Frontansicht in vollem Ornat dargestellt. Sie stehen breitbeinig mit ihren Insignien, dem Zepter und dem Reichsapfel in den Händen mit zumeist vor der Brust angewinkelten Armen. Vier Herrscher tragen anstelle des Zepters einen langen Stab, den sie mit dem linken Arm seitlich neben sich halten. Die folgenden Bilder sind Beispiele für die Darstellungen der Herrscher auf der Scheide. Sie stammen aus einem der detaillierten Kupferstiche von Delsenbach, die dieser im Jahr 1751 vom Reichsschwert und von den anderen Reichskleinodien anfertigte: Diese Stiche wurden erst im Jahre 1790 veröffentlicht. Auf Grund des Detailreichtums dokumentierten sie gleichzeitig den damaligen Zustand des Schwertes und der Scheide. Ein Vergleich mit heutigen Fotos zeigt jedoch, dass Delsenbach zwar sehr sorgfältig gearbeitet hat, ihm aber trotzdem einige Fehler unterliefen. So stellt er einige Gürtelenden und Schuhe der Herrscher nicht korrekt dar. Außerdem fehlt die Schwertfegermarke auf dem Schwert. Heute bieten die Stiche wichtige Hinweise auf das ursprüngliche Aussehen der Scheide, da drei Goldbleche mittlerweile so stark zerdrückt sind, dass man nur noch mit Hilfe der Stiche eine Vorstellung von dem tatsächlichen Aussehen der darauf befindlichen Reliefs gewinnen kann. Geschichte Entstehung des Schwertes Wahrscheinlich haben bereits Otto I. und seine Nachfolger ein oder mehrere wertvolle Schwerter in ihrem Kronschatz besessen. Diese wurden wohl später durch das heute erhaltene ersetzt. So befindet sich zum Beispiel im Essener Domschatz ein reich geschmücktes Schwert mit goldbeschlagener Scheide, das vermutlich Otto III. gestiftet hat. Diese Waffe könnte eine Vorgängerin des Reichsschwertes sein, denn die Darstellungen auf den Scheiden der beiden Schwerter ähneln sich. Nach Untersuchungen von Mechthild Schulze-Dörrlamm (Lit.: Schulze-Dörrlamm), die Mitte der 1990er Jahre archäologische Untersuchungen am Reichsschwert und an anderen Teilen der Reichskleinodien durchführte, stammt das gesamte Schwert vom Ende des 12. Jahrhunderts. Es wurde wohl für Kaiser Otto IV. angefertigt. Diese Datierung legt das Wappen Ottos im Knauf nahe. Sehr wahrscheinlich wurde das Schwert für Ottos Krönung zum römisch-deutschen König am 12. Juli 1198 in Aachen hergestellt. Es diente wohl als Ersatz für das alte Schwert aus der Salierzeit, das sich, wie die anderen Reichskleinodien, noch im Besitz des Gegenkönigs Philipp von Schwaben befand. Wie auch bei den anderen Reichskleinodien, beispielsweise der Reichskrone, gibt und gab es jedoch auch andere Datierungen. So wurde 1926 durch L. Speneder die These vertreten, dass die Waffe eine typische Waffe des 11. Jahrhunderts sei und genauso wie die Scheide zu Zeiten Heinrichs III. entstanden ist. Lediglich der Knauf sei eine Hinzufügung unter Otto IV. Später setzte sich die Auffassung durch, dass das Schwert im 12. Jahrhundert entstanden ist. So datierte der Historiker Erben das Schwert zwischen 1130 und 1194 und vermutete, dass es in Sizilien geschaffen wurde. In den 1980er Jahren vertraten Fillitz und Trnek die Auffassung, wobei sie teilweise ältere Vermutungen revidierten, dass das gesamte Schwert zwischen 1198 und 1230 zu datieren sei. Auf Grund der Inschriften auf der Parierstange in romanischem Mittellatein könnte als Ursprungsland Frankreich in Frage kommen. Damit in Zusammenhang könnte der Umstand stehen, dass Otto IV. der zweite Sohn Heinrichs des Löwen war und seine Jugend am Hof seines Onkels, des Königs von England, verbrachte. Von diesem wurde er bereits vier Jahre vor seiner Königswahl zum Grafen von Poitou und Herzog von Aquitanien ernannt. Die zusätzliche Bezeichnung Mauritiusschwert trägt das Schwert seit Karl IV., der auch die anderen Teile der Reichskleinodien gern in Zusammenhang mit bedeutenden Heiligen brachte. Dem frühchristlichen Märtyrer Mauritius wurde bereits im 11. Jahrhundert die Heilige Lanze zugesprochen. Im Mittelalter war er das Vorbild aller christlichen Ritter. Außerdem stand er in so hohem Ansehen, dass er zeitweise der Patron des Reiches war. Entstehung der Scheide Die Scheide des Reichsschwertes wird auf Grund der dargestellten Herrscher Heinrich III., er ist der letzte auf der Scheide dargestellte König, oder seinem Nachfolger Heinrich IV. zugeschrieben. Genaue Untersuchungen der Scheide legen jedoch nahe, dass die Schwertscheide nur in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entstanden sein kann. Sie wurde demnach erst für Heinrich IV. (1056–1106) hergestellt. Dafür spricht auch, dass gerade Heinrich IV. in der Zeit des Investiturstreits versuchen musste, die Rechtmäßigkeit seines Herrschaftsanspruches zu dokumentieren. Somit ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, dass die Scheide für die Kaiserkrönung Heinrichs IV. im Jahr 1084 in Rom bestimmt war. Die Details der Herstellung, unter anderem die Verwendung echten byzantinischen Emails, Umrahmung der Bildfelder, Kleidung der Herrscher etc., die sonst nur bei byzantinischen und italienischen Arbeiten dieser Zeit zu finden sind, und die Verwendung von Olivenholz für den Scheidenkorpus legen nahe, dass die Scheide in Italien gefertigt wurde. Außerdem hielt sich Heinrich IV. die drei Jahre vor seiner Krönung ausschließlich in Italien auf. Damit ist klar, dass die Scheide ursprünglich nicht für das heutige Reichsschwert bestimmt war, sondern etwas mehr als 100 Jahre älter ist. Dafür sprechen auch die unterschiedliche Verwendung der Edelmetalle und stilistische Merkmale. Warum die Scheide später weiterverwendet wurde und zum Reichsschwert hinzugefügt wurde, lässt sich nur spekulieren. Neben der außergewöhnlichen Schönheit kann eventuell auch eine Neuinterpretierung der Herrscherreihe dem Auftraggeber des Reichsschwertes Otto IV. gelegen gekommen sein. Erste Erwähnungen In einem Brief einer Hofdame von Elisabeth von Aragón, der Gemahlin Friedrich III. des Schönen, aus dem Jahre 1315 findet sich die erste schriftliche Erwähnung des Reichsschwertes als Mauritiusschwert. In einer Inventarliste der Burg Trifels aus dem Jahr 1246 heißt es hingegen lediglich: Es handelt sich also um zwei Schwerter mit edelsteingeschmückter Scheide. Hiermit dürften wohl das Reichsschwert und das Zeremonienschwert gemeint sein. Ein älterer schriftlicher Beleg als diese Inventarliste ist nicht bekannt. Die ältesten bekannten bildlichen Darstellungen stammen erst aus dem 15. Jahrhundert, jedoch besitzen die zwei auf einem Holzschnitt der Reichskleinodien von Hans Spörer dargestellten Schwerter keinerlei Ähnlichkeit mit dem Reichsschwert beziehungsweise dem Zeremonienschwert. Die erste detailgetreue Darstellung des Schwertes entstand erst im 17. Jahrhundert. Auf dem hier gezeigten Kupferstich eines unbekannten Künstlers ist das Reichsschwert gekreuzt mit dem Zeremonienschwert zu sehen. Nürnberg und Wien Seit das Schwert Ende des 12. Jahrhunderts den Reichskleinodien hinzugefügt wurde, ist sein Schicksal untrennbar mit dem der anderen Reichskleinodien verbunden. Für eine detailliertere Darstellung der Geschichte der Reichskleinodien, siehe deshalb: Geschichte der Reichskleinodien Das Schwert und die anderen Reichskleinodien wurden während des Spätmittelalters an verschiedenen Orten aufbewahrt, so zum Beispiel in der Burg Karlštejn bei Prag, auf dem Trifels, in der Reichsabtei Hersfeld. Im Jahre 1423 erhielt Nürnberg von Sigismund den Auftrag, die Reichskleinodien auf ewige Zeiten, unwiderruflich und unanfechtbar aufzubewahren. Dies wurde notwendig, da auf Grund der Hussitenkriege der damalige Aufbewahrungsort in Prag nicht mehr sicher war. Da nach dem Sieg der französischen Revolution im Jahre 1789 und dem Sturz des Königtums die anschließenden Koalitionskriege, die die Monarchie wiederherstellen sollten, auch auf Deutschland übergriffen, waren die Reichskleinodien in Nürnberg nicht mehr sicher. Deshalb wurden sie im Jahr 1800 in einer geheimen Aktion nach Wien an den Sitz des damaligen Kaisers verbracht. Bis auf ein Intermezzo von 1938 bis 1946 ruhen das Schwert und die anderen Reichskleinodien seitdem in der Weltlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg und werden dort ausgestellt. Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Im Gegensatz zu den anderen Reichskleinodien wurde das Reichsschwert auch nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806 noch einige Male für repräsentative Zwecke verwendet. So wurde es beispielsweise im Jahr 1838 bei der Krönung Ferdinands I. in Mailand, bei der Tiroler Erbhuldigung im gleichen Jahr, bei der Eröffnung des österreichischen Reichsrates und anderen offiziellen Anlässen und letztmals bei der Krönung des Kaisers Karl I. als Karl IV. zum König von Ungarn im Jahr 1916 eingesetzt. Um Hitlers Interesse an einer Rückführung der Reichskleinodien nach Nürnberg zu wecken, überreichte ihm 1935 der damalige Nürnberger Oberbürgermeister Willy Liebel eine Nachbildung des Reichsschwertes mit den markigen Worten „Das deutsche Reichsschwert dem Führer aller Deutschen“. Bedeutung Das Überreichen des Schwertes bei der Krönung durch den Papst sollte den Herrscher daran erinnern, dass er der Verteidiger des Reiches und der Kirche war. Er empfing es im übertragenen Sinne also aus den Händen der Apostel Petrus und Paulus. Die Darstellung der Herrscher auf der Scheide war politisches Programm: Heinrich IV. musste zu Zeiten des Investiturstreites, angesichts des über ihn verhängten Kirchenbanns und nach Kämpfen gegen zwei Gegenkönige, auf die Rechtmäßigkeit seines Herrschaftsanspruches besonderen Wert legen. Mit der lückenlosen Herrscherreihe von Karl dem Großen bis zu seinem Vorgänger Heinrich III. demonstrierte Heinrich IV., dass er der einzig legitime Nachfolger der karolingischen Herrscher war. Damit stellt dieses Schwert mit seiner Scheide, neben der Abbildung eines starken Traditionsbewusstseins, auch eine frühe Form der Propaganda dar. Die Schwertscheide ist somit als Herrschaftszeichen und königliche Selbstdarstellung auch der Ausdruck des schweren Kampfes zwischen Kirche und Kaiser. Weiterhin hat die Darstellung der vierzehn Herrscher wahrscheinlich auch religiös-symbolischen Charakter. Die Vierzehn als Verdoppelung der „heiligen“ Zahl 7 und dreimal 14 ist die Zahl der Ahnen, die Matthäus in seinem Stammbaum von Abraham bis Jesus erwähnt. Da ist solch eine biblische Vorlage für die Herrscherreihe nicht ausgeschlossen, zumal die Zahl Vierzehn so gut zur Zahl der „Vorfahren“ passt, die den Thron des Heiligen Römischen Reiches bis Heinrich IV. innehatten. Siehe auch Reichsschwert der norwegischen Reichsinsignien Reichsschwert Schottlands Reichsschwert Japans Literatur Hermann Fillitz: Die Insignien und Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches. Schroll, Wien u. a. 1954. Mechthild Schulze-Dörrlamm: Das Reichsschwert. Ein Herrschaftszeichen des Saliers Heinrich IV. und des Welfen Otto IV. (= Römisch-Germanisches Zentralmuseum. Monographien. Bd. 32). Mit dem Exkurs Der verschollene Gürtel Kaiser Ottos IV. Thorbecke, Sigmaringen 1995, ISBN 3-7995-0391-9. Jan Keupp, Hans Reither, Peter Pohlit, Katharina Schober, Stefan Weinfurter (Hrsg.): „… die keyserlichen zeychen …“ Die Reichskleinodien – Herrschaftszeichen des Heiligen Römischen Reiches. Schnell + Steiner, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7954-2002-4. Sabine Haag (Hrsg.): Meisterwerke der Weltlichen Schatzkammer (= Kurzführer durch das Kunsthistorische Museum. 2). Kunsthistorisches Museum, Wien 2009, ISBN 978-3-85497-169-6. Weblinks Kaiserliche Schatzkammer Wien | Das Reichsschwert (Mauritiusschwert) Anmerkungen Reichskleinodien Herrschaftsinsigne Individuelles Schwert Zeremonialwaffe Waffensammlung der Schatzkammer (Wien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Anthony%20Ashley%20Cooper%2C%203.%20Earl%20of%20Shaftesbury
Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury
Anthony Ashley Cooper [], Third Earl of Shaftesbury [] (auch Ashley-Cooper, kurz Shaftesbury; * in London; † in Chiaia, Neapel), war ein englischer Philosoph, Schriftsteller, Politiker, Kunstkritiker und Literaturtheoretiker. Er gilt als einer der bedeutendsten Wortführer der frühen Aufklärung. Der gleichnamige Großvater des Philosophen, der erste Earl of Shaftesbury, gehörte als Peer dem englischen Hochadel an. Unter der Leitung des Aufklärers John Locke erhielt der künftige dritte Earl eine gründliche Bildung, die er in den Jahren 1687 bis 1689 auf einer Reise durch mehrere europäische Länder vertiefte. Von 1695 bis 1698 gehörte er dem Unterhaus an. Beim Tod seines Vaters im November 1699 erbte er dessen Adelstitel und die Mitgliedschaft im Oberhaus. Damit begann für ihn eine neue Phase politischer Aktivität, die bis 1702 dauerte. In der Folgezeit konzentrierte er sich auf seine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit. Als sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, suchte er 1711 Erholung in Italien. Seine letzten fünfzehn Lebensmonate verbrachte er in Neapel. Als Politiker setzte sich Shaftesbury für liberale Anliegen ein. Er kämpfte für die Ziele der Whigs, einer parlamentarischen Gruppierung, die für den Vorrang des Parlaments in der Staatsordnung eintrat. Als Schriftsteller warb er für das Lebensideal eines aufgeklärten, integren, kultivierten und kunstverständigen Gentleman. Auf philosophischem Gebiet galt Shaftesburys Interesse den Grundlagen und Prinzipien der Ethik und der Ästhetik. Mit seinem 1711 publizierten Hauptwerk, den Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times (Merkmale der Menschen, Sitten, Meinungen, Zeiten) schuf er eine Gesamtdarstellung seines humanistisch geprägten Welt- und Menschenbildes, die er bis zu seinem Tod überarbeitete. Ein Kernelement von Shaftesburys Gedankengut ist seine Kritik an der herkömmlichen religiösen Praxis. Er verwarf den Anspruch des Priestertums, eine von Gott mitgeteilte Wahrheit zu kennen und mit der verbindlichen Auslegung dieser Offenbarung betraut zu sein. Als Abwehrmittel gegen religiösen Fanatismus empfahl er den Humor. In seine Ablehnung der christlichen Dogmatik bezog er alle Lehren ein, die er für unethisch und vernunftwidrig hielt, vor allem die biblische Vorstellung von Lohn und Strafe im Jenseits. Dem Offenbarungsglauben setzte er sein Konzept einer „natürlichen“ Religion entgegen, das er aus der Reflexion über die Natur ableitete. Nach seinem Verständnis begründet die Religion nicht die Moral, sondern setzt sie als Naturgegebenheit voraus und orientiert sich an ihr. Die Grundlage dafür bildete Shaftesburys Fundierung der Ethik im moral sense, einem autonomen moralischen Sinn, dessen Existenz er postulierte. Dieser Sinn sei im Menschen ebenso wie die ästhetische Erfahrung von Natur aus angelegt und ermögliche eine harmonische Entfaltung des Individuums und der sozialen Gemeinschaft. Mit der Theorie der naturgemäßen Veranlagung wollte Shaftesbury Ethik und Ästhetik auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen und in einer vorgegebenen Weltordnung verankern. Moralisches Streben und Schönheitsdrang hielt er für untrennbare Merkmale des Menschen. Eingehend untersuchte er die Voraussetzungen und Grundlagen bedeutender schöpferischer Leistungen in der bildenden Kunst. Für die Malerei formulierte er detaillierte Qualitätskriterien, für die Dichtung und Schriftstellerei beschrieb er die Anforderungen, die ein Autor an sich zu stellen habe. Shaftesburys Lebensideal, sein optimistisches Menschenbild und sein Schönheitskult wurden in der Epoche der Aufklärung für eine breite Leserschaft wegweisend. Seine Ideen inspirierten zahlreiche Denker und Schriftsteller. Allerdings stieß seine Philosophie auch auf heftigen Widerspruch, vor allem in konservativen christlichen Kreisen. Ein entschiedener Gegner war der Sozialtheoretiker Bernard Mandeville, der das traditionelle moralische Leitbild verwarf und ein alternatives Gesellschaftsmodell vorlegte. Leben Herkunft und frühe Jugend (1671–1686) Der Großvater des Philosophen war der Staatsmann Anthony Ashley Cooper (1621–1683), der von König Karl II. 1672 den für ihn neu geschaffenen erblichen Adelstitel Earl of Shaftesbury erhielt und zum Lordkanzler erhoben wurde. Er hatte in der republikanischen Zeit unter Oliver Cromwell dem Staatsrat angehört, aber nach Cromwells Tod an der Wiederherstellung der Monarchie mitgewirkt. Im Jahr 1673 fiel er in Ungnade und wurde aus dem Amt des Lordkanzlers entlassen. In der Folgezeit profilierte sich der Earl als Wortführer der liberalen Opposition und Verteidiger der Parlamentsrechte gegen die absolutistischen Bestrebungen Karls II. Schließlich musste er 1682 nach Holland fliehen. Sein Sohn und Nachfolger, der gleichnamige zweite Earl (1651–1699), war kränklich und lebte zurückgezogen. Er heiratete 1669 Lady Dorothy Manners († 1698), deren Vater, der Politiker John Manners, seit 1641 der achte Earl of Rutland war. Der Philosoph war das erste Kind aus dieser Ehe. Er wurde im Exeter House, dem Londoner Wohnsitz der Familie, am 26. Februar 1671 geboren. Am 7. März wurde er getauft. Der Großvater, der von seinem Sohn enttäuscht war, übernahm im März 1674 formell das Sorgerecht für den Enkel. Er ordnete an, dass das Kind dem Philosophen John Locke anvertraut wurde, der zu den namhaftesten Denkern der frühen Aufklärungszeit zählte. Locke, ein Freund des Staatsmanns, überwachte die Schulbildung des künftigen dritten Earls. Schon mit elf Jahren beherrschte der Junge Latein und Altgriechisch. Seine Erziehung war von Lockes liberalen Grundsätzen geprägt. Der junge Anthony wurde im Geist der damals entstehenden Whig-Bewegung erzogen, deren Grundhaltung er immer treu blieb. Ein zentrales Element des whiggism war die Gegnerschaft zu unkontrollierter Machtausübung. Diese Überzeugung äußerte sich im Kampf gegen absolutistische Bestrebungen der Herrscher und gegen das monarchische Prinzip des Katholizismus. Nach dem Tod seines Großvaters im Januar 1683 kam der junge Anthony wieder unter die elterliche Sorge seines Vaters, der den Earlstitel des Verstorbenen übernahm. Die Eltern schickten ihn nach Winchester, wo er von November 1683 bis 1685/86 im Winchester College unterrichtet wurde. Die dortigen Verhältnisse entsprachen jedoch keineswegs seinen Neigungen. Ihm missfiel die Atmosphäre der Schule wegen der verbreiteten Trunksucht und weil dort die konservative, monarchistische und autoritäre Einstellung der Tories vorherrschte, die seiner Whig-Gesinnung entgegengesetzt war. Im Winchester College wurde ihm seine Abstammung verübelt, denn sein liberaler Großvater war dort verhasst. Da er deswegen einem Mobbing ausgesetzt war, bat er seinen Vater, das College verlassen zu dürfen. In dieser Zeit verfestigte sich seine lebenslange Abneigung gegen das herkömmliche Schulwesen. Bildungsreise (1687–1689) Im Sommer 1687 brach Shaftesbury zu seiner Grand Tour auf, der für junge Männer der britischen Oberschicht üblichen Bildungsreise durch mehrere kontinentaleuropäische Länder. Die Tour bildete damals den Abschluss des Erziehungsprogramms; sie diente der Erweiterung des Horizonts, der Verfeinerung der Sitten und der Anknüpfung internationaler Kontakte. In Holland traf Shaftesbury John Locke wieder, der seit 1683 in Rotterdam im Exil lebte, und wurde in dessen liberalen Freundeskreis eingeführt. Acht Monate hielt er sich in Paris auf, dann fast ein Jahr lang in Italien. Ein wichtiges Ziel war die Besichtigung kultureller Schauplätze und bedeutender Kunstwerke. Zugleich bot sich Gelegenheit, die politischen Verhältnisse kennenzulernen. Die Rückfahrt führte über Wien, Prag, Dresden, Berlin und Hamburg. Shaftesburys Aufzeichnungen zu den Reiseerlebnissen zeigen seine von den Prinzipien der Whigs geprägte Gesinnung: Misstrauen gegenüber den Königshöfen, scharfe Ablehnung des Katholizismus und des Klerus sowie Frontstellung gegen die expansive Politik König Ludwigs XIV. von Frankreich, der nach der Einschätzung des jungen Engländers mit „Anmaßungen und Verrat“ ganz Europa unterwerfen wollte. Mit tiefer Befriedigung kommentierte Shaftesbury in einem Brief an seinen Vater den Umsturz in seiner Heimat, die Glorious Revolution von 1688, die zur Vertreibung König Jakobs II., eines frankreichfreundlichen Katholiken, führte. Der neue König, Wilhelm III., war Protestant und dezidierter Gegner Ludwigs XIV. Familiäre und administrative Belastungen (1689–1695) Nach der Heimkehr im Frühjahr 1689 setzte Shaftesbury seine privaten Studien fort und pflegte ein weites Netz von Kontakten und Freundschaften mit ähnlich Gesinnten. Viel Aufmerksamkeit erforderten familiäre Probleme und Konflikte. Da sein Vater chronisch krank war und auch seine Mutter schwer erkrankte, musste er für seine sechs jüngeren Geschwister Verantwortung übernehmen. In dieser Zeit wurde Shaftesbury auch von einer Aufgabe in Anspruch genommen, die schon sein Großvater wahrgenommen hatte: Er war Lord Proprietor der englischen Kolonie Carolina in Nordamerika und der Bahamas, hatte also die Aufsicht über die dortige Verwaltung und war auch für die Verteidigung zuständig. Seine Briefe zeigen, dass er die nach Carolina ausgewanderten Hugenotten unterstützte und die Misshandlung der indigenen Bevölkerung einzudämmen versuchte. Aus der Ferne hatte er sich mit gravierenden Übelständen in der Kolonie auseinanderzusetzen. Seine Korrespondenz lässt seine Verbitterung angesichts der chaotischen Verhältnisse in Carolina erkennen. Aktivität im Unterhaus und Studienaufenthalt in den Niederlanden (1695–1699) Nach langem Zögern entschloss sich Shaftesbury zum Eintritt in die aktive Politik. Als Vierundzwanzigjähriger kandidierte er im Mai 1695 erfolgreich bei einer Unterhausnachwahl im Wahlkreis Poole. Er betrachtete sich zwar als Whig, betonte aber seine Unabhängigkeit und folgte keiner Parteidisziplin. Seine bedeutendste Leistung im Parlament war ein Beitrag zum Schutz von Bürgerrechten: Er setzte sich für ein Gesetz ein, das den Anspruch von Untersuchungshäftlingen, die des Landesverrats beschuldigt wurden, auf anwaltlichen Beistand sicherte. Die Annahme des Gesetzesvorschlags, der Treason Bill, im Januar 1696 wurde unter anderem auf Shaftesburys Engagement zurückgeführt. Ein weiteres Anliegen des jungen Abgeordneten war der Verzicht auf ein stehendes Heer in Friedenszeiten. Wegen einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands – er litt an Asthma – war er jedoch außerstande, bei der Neuwahl 1698 wiederum zu kandidieren. Nach der Auflösung des Unterhauses zog sich Shaftesbury im Juli 1698 für neun Monate nach Rotterdam zurück. Dort verkehrte er in einem Gelehrtenkreis, dem Pierre Bayle, Jean Le Clerc, Pierre des Maizeaux und Benjamin Furly angehörten. Einflussnahme im Oberhaus (1699–1702) Als sein Vater im November 1699 starb, erbte der junge Anthony Ashley Cooper den Titel Earl of Shaftesbury und damit den Rang eines Peer, der mit einem Sitz im Oberhaus, dem House of Lords, verbunden war. Das Oberhaus war damals der bedeutendere der beiden Teile des Parlaments. Es repräsentierte den Hochadel und verfügte über mehr Macht als das aus gewählten Abgeordneten bestehende Unterhaus, das House of Commons. Ab Januar 1700 beteiligte sich der neue Earl eifrig an den Beratungen der Lords. Das Hauptthema der englischen Politik war damals die Frage, wie auf das als gefährlich eingeschätzte Expansionsstreben Frankreichs unter Ludwig XIV. zu reagieren sei. Nach dem Tod des kinderlosen spanischen Königs Karl II. im November 1700 bot sich dem französischen Monarchen Gelegenheit, seinem Neffen Philipp V. die Krone Spaniens zu verschaffen und so in Europa eine große Machtverschiebung zugunsten seiner Familie, der Bourbonen, herbeizuführen. Dem widersetzte sich eine Allianz der dadurch bedrohten Staaten im Spanischen Erbfolgekrieg, der 1701 ausbrach. England war zwar an der Allianz beteiligt, doch die Tories waren im Gegensatz zu den Whigs tendenziell frankreichfreundlich und nicht von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt. Shaftesbury gehörte zu den entschiedenen Verfechtern des militärischen Vorgehens der Alliierten zur Wiederherstellung des gefährdeten Mächtegleichgewichts. Auch innenpolitisch trat er für die Positionen der Whigs ein, die als Landpartei (country party) den Tories als Hofpartei (court party) gegenüberstanden. Im Wahlkampf zu den Unterhauswahlen im Dezember 1701 setzte er sich nachdrücklich für Kandidaten der Whigs ein. Sein Engagement beeindruckte König Wilhelm III., der ihm wohlgesinnt war und ihm ein Regierungsamt anbot, was Shaftesbury jedoch aus Gesundheitsgründen ablehnte. In dieser Zeit gehörte der Earl zu den Beratern des Königs; nach dem Wahlsieg der Whigs im Dezember 1701 stand er auf dem Höhepunkt seines politischen Einflusses. Ein Umschwung trat ein, als nach Wilhelms Tod im Jahr 1702 Königin Anne die Regierung antrat. Die neue Herrscherin neigte den Tories zu und schätzte Shaftesbury nicht. Sie entzog ihm 1702 das Amt des Vice Admiral of Dorset, das er als Nachfolger seines Vaters innehatte, und verlieh es einem Tory. Dies war eine Kränkung, denn das Amt war zwar von geringer praktischer Bedeutung, wurde aber als Ehre geschätzt und normalerweise lebenslang ausgeübt. Unter diesen Umständen zog sich der Earl weitgehend aus der aktiven Politik zurück. Dazu bewog ihn außer dem ungünstigen politischen Klima auch sein Lungenleiden. Konzentration auf das schriftstellerische Lebenswerk (1703–1711) Im August 1703 ging Shaftesbury wieder für ein Jahr nach Rotterdam. Die folgenden sieben Jahre verbrachte er wieder in England. Nun widmete er sich seinem schriftstellerischen Lebenswerk, um für seine philosophischen, politischen und kulturellen Ideen zu werben. Nach mehreren Einzelveröffentlichungen publizierte er 1711 seine gesammelten Werke unter dem Titel Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Wegen seiner Lungenschwäche litt er unter der schlechten Londoner Luft. Daher verbrachte er viel Zeit in seinem Haus in der Ortschaft Little Chelsea in der Nähe von Chelsea, das damals noch kein Teil der Hauptstadt war, und zog sich schließlich 1709 nach Reigate in der Grafschaft Surrey zurück. Die Familiengründung zögerte der Earl lange hinaus. Wiederholt äußerte er seine Neigung, unverheiratet zu bleiben, um sich ungestört auf seine geistigen Interessen konzentrieren zu können. Ein Brief, den er 1705 an seinen Bruder Maurice richtete, deutet eine homoerotische Orientierung an. Dennoch entschloss er sich schließlich zur Ehe, da er es als Lord für seine Pflicht hielt, einen Sohn zu zeugen, der sein Erbe antreten würde. Am 29. August 1709 heiratete er Jane Ewer. Die Braut war als Tochter des Esquire Thomas Ewer von relativ bescheidenem sozialem Rang. Sie gebar ihm am 9. Februar 1711 seinen einzigen Sohn, den künftigen vierten Earl of Shaftesbury, der den väterlichen Namen erhielt. Ausklang in Italien, Tod und Begräbnis (1711–1713) Als sich Shaftesburys Gesundheitszustand verschlechterte, suchte er Erholung im warmen Klima Italiens. Im Juli 1711 segelte er mit seiner Gattin in Dover ab. Er reiste über Paris, Turin, Florenz und Rom nach Neapel, wo er am 15. November eintraf. Dort wählte er den Palazzo Mirelli in dem am Meer gelegenen Stadtteil Chiaia mit Blick auf den Golf von Neapel als Wohnsitz. Nachdem sich der Philosoph von den Strapazen der Reise erholt hatte, arbeitete er an einer Neuauflage der Characteristicks, die jedoch erst nach seinem Tod erschien. Außerdem bereitete er ein neues Werk vor, eine Sammlung von Essays zur Kunst und Ästhetik, für die der Titel Second Characters, or The Language of Forms (Zweite Charaktere oder Die Sprache der Formen) vorgesehen war. Diese Darstellung seiner Kunstphilosophie und Kunstkritik sollte die Schriften zur Ethik ergänzen. Das Vorhaben blieb jedoch unvollendet, er konnte vor seinem Tod nur zwei der vier geplanten Essays abschließen. Das neue Projekt war Ausdruck eines verstärkten Interesses des Philosophen an der bildenden Kunst. In dieser Zeit betätigte er sich auch als Kunstsammler. Leidenschaftlich verfolgte Shaftesbury weiterhin den Verlauf des Spanischen Erbfolgekriegs, wobei ihn die Gefahr eines Auseinanderbrechens der antifranzösischen Allianz beunruhigte. Es kostete ihn Anstrengung, sich abzulenken und von der Fixierung auf die politischen und militärischen Vorgänge zu lösen. Den Frieden von Utrecht, der den Krieg im Frühjahr 1713 beendete, erlebte er nicht mehr. Gegen Ende 1712 verschlechterte sich das Befinden des Lords, am 15. Februar 1713 starb er. Der Leichnam wurde nach England überführt und in der Kirche von Wimborne St Giles in Dorset, wo sich ein Familiensitz befand, beigesetzt. Werke Das Œuvre des Schriftstellers besteht teils aus Werken, die er selbst veröffentlichte oder zur Drucklegung vorbereitete, teils aus Briefen, Entwürfen, Notizen und Anmerkungen, die nicht druckreif oder nicht zur Publikation bestimmt waren. Einem damals verbreiteten Brauch folgend ließ er seine Werke anonym drucken. Ausgabe von Predigten Benjamin Whichcotes Shaftesburys erste Veröffentlichung, Select Sermons of Dr Whichcot, ist eine Zusammenstellung von zwölf ausgewählten Predigten des Cambridger Platonikers Benjamin Whichcote (1609–1683), die er 1698 anonym in einer von ihm selbst bearbeiteten Fassung herausgab und mit einem Vorwort versah. Bei dem ihm geistesverwandten Whichcote fand er Ideen, die seinen eigenen Überzeugungen entsprachen. Shaftesbury sah in dem Cambridger Denker einen Vorkämpfer der moralischen Selbstbestimmung des Menschen, die ihm ein zentrales Anliegen war. Wie er im Vorwort darlegte, wollte er für ein optimistisches Menschenbild werben, das er als Alternative sowohl zum moralischen Relativismus von Thomas Hobbes als auch zu der Sündhaftigkeitsvorstellung konservativer Theologen empfahl. An Inquiry concerning Virtue, or Merit Das erste eigene Werk Shaftesburys ist An Inquiry concerning Virtue, or Merit (Eine Untersuchung über Tugend oder Verdienst). Diese Abhandlung ließ der Religionskritiker John Toland im November 1698 anonym drucken, angeblich ohne Genehmigung des Autors. Im Jahr 1711 erschien eine autorisierte Fassung. Mit der Inquiry legte der Philosoph die erste Grundlegung seiner Ethik vor. Er untersuchte die Affekte, die moralische Veranlagung und die Entstehung verwerflichen Handelns. Dabei kam es ihm darauf an, die Unabhängigkeit der Tugend von religiösen Geboten und die Eigenständigkeit einer überkonfessionellen, auf das objektiv Gute abzielenden Ethik aufzuzeigen. Die Inquiry ist Shaftesburys einzige systematisch aufgebaute Schrift. Später distanzierte er sich von dieser Art der Darstellung philosophischer Inhalte, da sich sein Denken methodisch dem System verweigerte. A Letter concerning Enthusiasm Der literarisch gestaltete Brief über den Enthusiasmus ist an John Somers, einen Freund und politischen Mitstreiter, gerichtet. Shaftesbury ließ das Werk 1708 drucken. Den Anlass zur Abfassung bot das Auftreten der „französischen Propheten“, einer Gruppe von hugenottischen Flüchtlingen aus Frankreich, die seit 1706 in London in Erscheinung traten. Die französischen Kamisarden, die der Verfolgung in ihrer Heimat entkommen waren, entfalteten im Exil eine von Begeisterung getragene und von ekstatischen Phänomenen begleitete Predigttätigkeit. Dieses Phänomen regte Shaftesbury dazu an, den Enthusiasmus zu untersuchen. Er gelangte zu einer differenzierenden Einschätzung. Einerseits nahm er die Überspanntheit und den Wissensanspruch religiöser Fanatiker aufs Korn, andererseits würdigte er die Begeisterungsfähigkeit als überaus wertvolle Veranlagung des Menschen. Aus aufklärerischer Sicht legte er dar, wie man einen konstruktiven, berechtigten Enthusiasmus von fanatischem Eifer unterscheiden könne: Das Abwegige lasse sich als lächerlich entlarven. Hilfreich sei eine humorvolle Betrachtungsweise. Heiterkeit sei der Gegenpol zur Melancholie der Verblendeten, die den Nährboden des Fanatismus bilde und sich durch das Erleben von Unterdrückung und Verfolgung noch verstärke. The Moralists Im Jahr 1709 erschien das in Briefform gestaltete Werk The Moralists. Im Untertitel wird es als „philosophische Rhapsodie“ beschrieben. Die literarischen Hauptfiguren sind der ursprünglich skeptische Philokles, der Misanthrop Palemon und der enthusiastische Naturfreund Theokles. Philokles schreibt an Palemon; er erinnert ihn an eine Diskussion der beiden und berichtet dann von Gesprächen, die er mit Theokles führte und die ihm zu einem Wendepunkt wurden. Den Hauptgegenstand der Reflexionen bildet eine zentrale Thematik des Autors: die Natur des Menschen und seine Rolle als soziales und ästhetisches Wesen in der von Ordnung, Schönheit und Zweckmäßigkeit bestimmten Welt, deren Einheit und Kohärenz erkannt werden muss, damit Ethik gelebt werden kann. Die Dialogform bringt mit sich, dass die Gedanken nicht lehrhaft und systematisch dargelegt werden, sondern im Gespräch hervortreten, wobei sich die unterschiedlichen Charaktere und Haltungen der Teilnehmer geltend machen. Damit soll die Dynamik einer gemeinsamen freimütigen Wahrheitsfindung veranschaulicht werden. Der Leser soll einen Eindruck davon erhalten, wie ein für ethische und ästhetische Werte aufgeschlossener Mensch Anregungen aufgreift, die ihm helfen, seinen Horizont zu erweitern. Es wird geschildert, wie es Theokles gelang, mit einer enthusiastischen Verherrlichung des Schönen und Guten in Philokles die Liebe zur Natur und zur Menschheit zu wecken. Dieser Enthusiasmus beweist seine Berechtigung dadurch, dass er sich im kritischen Diskurs gegenüber skeptischen Einwänden zu behaupten vermag. Allerdings wird die skeptische Position nicht widerlegt; sie bleibt, wie Philokles als Berichterstatter in seinem Brief feststellt, am Ende als Option intakt. Sensus Communis Nachdem der Brief über den Enthusiasmus von konservativer christlicher Seite Widerspruch erfahren hatte, verteidigte und erläuterte der Autor seine Auffassung in dem programmatischen, als Brief an einen Freund gestalteten Essay Sensus Communis, den er 1709 publizierte. Dabei griff er im Titel einen antiken lateinischen Ausdruck auf und gab ihm eine spezielle Bedeutung. Der sensus communis – wörtlich gemeinsamer Sinn – ist bei Shaftesbury nicht der common sense, der „gesunde Menschenverstand“, auf den sich diejenigen berufen, die unreflektierte Mehrheitsmeinungen für per se richtig erklären. Gemeint ist vielmehr der Gemeinsinn: ein Sinn für das Gemeinwohl, für Gerechtigkeit, Solidarität und Humanität. Damit verbunden sind Taktgefühl (sense of manners) und Rücksichtnahme auf das jeweils Besondere von Umständen, Situationen und Personen. Diese Haltung zeigt sich in einer nicht verletzenden Ausdrucksweise. Der so aufgefasste Gemeinsinn wird in dem Essay als unausrottbarer Grundimpuls des Menschen dargestellt. Soliloquy In der 1710 publizierten Abhandlung Soliloquy, or Advice to an Author (Selbstgespräch, oder Ratschlag an einen Autor) werden die Voraussetzungen ins Auge gefasst, die erfüllt sein müssen, damit eine beratende Schrift hilfreich sein kann. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, was unter förderlicher Beratung zu verstehen ist und wer berechtigt ist, als Experte und Ratgeber aufzutreten. Jeder Autor tritt seinen Lesern in der Rolle des Klügeren und Belehrenden gegenüber, und oft wird damit implizit ein Machtanspruch erhoben und das Publikum manipuliert. Moralisch legitimiert ist aber nur ein uneigennütziger und unbefangener Autor, der sich dank kritischer Selbstprüfung selbst kennt, seine Affekte unter Kontrolle hat und damit ein klassisches Anliegen der Philosophie erfüllt. Diese Kompetenz erlangt man durch Selbsterkenntnis im Selbstgespräch. Eine solche Wendung nach innen dient nicht unnützer Spekulation, sondern verbessert den Verstand, befreit von Vorurteilen und fördert die Tugend. Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times Um 1710 arbeitete Shaftesbury an dem Vorhaben, seine fünf seit 1699 veröffentlichten philosophischen Schriften mit ergänzenden Reflexionen und Kommentaren zu einer Gesamtdarstellung seiner Erkenntnisse und Überzeugungen zusammenzufügen. Dieses große Werk in drei umfangreichen Bänden erschien im Frühjahr 1711 unter dem Titel Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Die ergänzenden Texte, Miscellaneous Reflections on the preceding Treatises, and other Critical Subjects (Vermischte Betrachtungen über die vorangehenden Abhandlungen und andere Gegenstände der Kritik), machen den dritten Band aus. Dort wird in lockerem Stil auf Kritik eingegangen, die seit der Erstveröffentlichung der einzelnen Schriften laut geworden ist, und die bekannten Positionen des Autors werden bekräftigt, aber seine bisherigen Bemühungen werden auch mit selbstkritischen Bemerkungen neu beleuchtet. Schon vor dem Erscheinen der Characteristicks begann der Autor mit der Arbeit an einer stilistisch besser ausgefeilten, mit Stichen bebilderten Neufassung, die er in seinen beiden letzten Lebensjahren gestaltete. Das Erscheinen dieser zweiten, üppig ausgestatteten Ausgabe im Jahr 1714 erlebte er nicht mehr. Weniger bekannte Werke Aus aktuellem Anlass veröffentlichte Shaftesbury zusammen mit John Toland im Januar 1702 das Pamphlet Paradoxes of State, eine Stellungnahme zur Bedrohung Englands durch die offensive Politik Ludwigs XIV. Die beiden Aktivisten redeten ihren zerstrittenen Landsleuten ins Gewissen: Die Spaltungen der Vergangenheit seien nicht mehr aktuell, der Gegensatz zwischen Republikanern und Monarchisten sei überwunden; jetzt komme es nur noch darauf an, der französischen Gefahr gemeinsam entgegenzutreten. Zwei Schriften über ästhetische Themen sind Spätwerke des Philosophen. Sie waren für die geplante kunstphilosophische Essaysammlung Second Characters or The Language of Forms gedacht, die nicht mehr zustande kam. Als „Charaktere“ bezeichnet Shaftesbury Zeichen, elementare Ausdrucksmittel des Menschen. Mit den „zweiten Charakteren“ sind im Gegensatz zu einfachen, willkürlich gewählten Zeichen wie Wörtern und Silben die „nachahmenden“ Gestaltungen der bildenden Künste gemeint, hochentwickelte Formen, die durch ihre Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten dessen Natur enthüllen sollen. Das eine der beiden dieser Thematik gewidmeten Werke, A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules (Konzeption des Historienbilds oder Tableaus vom Urteil des Herkules), behandelt die Darstellung eines mythologischen Themas in der Malerei. Den konkreten Ausgangspunkt der Überlegungen bot die Anfertigung des großen Ölgemäldes Herkules am Scheideweg, das der Maler Paolo de Matteis in Neapel im Auftrag Shaftesburys und nach seinen Instruktionen schuf. Das Sujet des Bildes ist der Held Herkules, der nach einer antiken, von Xenophon überlieferten Sage zwischen den Personifikationen der Tugend und der Lust zu wählen hat. Die Abhandlung legt dar, wie ein Bild einen zeitlichen Ablauf darstellen kann. Sie gibt detaillierte Anweisungen für die Gestaltung der drei Figuren, den Ort, den Hintergrund und die Farben. Anhand dieses Beispiels werden Regeln der Ästhetik veranschaulicht. Das andere Werk, A Letter concerning the Art, or Science of Design, ist als Begleitschreiben zur Notion of the Historical Draught an John Somers gerichtet. Es sollte die Einleitung der geplanten Essaysammlung bilden. Hier schildert der Kunsttheoretiker die Umsetzung seines Entwurfs durch den Maler Paolo de Matteis und geht auf die Lage der bildenden Künste, der Musik und der Architektur in England seit der Glorious Revolution ein. Im Vordergrund stehen kunstpolitische Ausführungen aus der Perspektive der Whigs. Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren Notizbücher mit oft datierten handschriftlichen Eintragungen, die größtenteils aus der Zeit der Aufenthalte in Rotterdam 1698/1699 und 1703 stammen, aber bis 1712 fortgesetzt wurden. Sie sind erhalten geblieben und wurden im Jahr 1900 erstmals ediert. In den zwei Bänden mit dem griechischen Titel Askemata (Übungen) reihte der Philosoph Fragen und Anweisungen an sich selbst, Überlegungen, Zitate und Auszüge aneinander. Philosophie Allgemeine Grundlagen Den Ausgangspunkt von Shaftesburys Denken bildet die Auseinandersetzung mit den Ansichten seines Lehrers John Locke. An Lockes Herangehensweise kritisiert er, dass Ethik, Ästhetik und Erkenntnistheorie beziehungslos nebeneinanderstünden, statt einander zu stützen und sich zu einer stimmigen Einheit zu verbinden. So werde die Erkenntnislehre ethisch bedeutungslos, die Moral beliebig und die Schönheit Modesache; eine Vermittlung zwischen den Ansätzen von Philosophie und Religion unterbleibe. Das sittlich Gute werde auf bloße Konvention reduziert, die der jeweilige Gesetzgeber willkürlich festlege. Damit werde das Handeln von Natur aus ethisch indifferent und der Begriff der Tugend leer. Eine solche Denkweise verfehle aber die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Diese besteht nach Shaftesburys Überzeugung darin, eine möglichst umfassende Einsicht in das Ganze – die Gesamtheit der Weltordnung – zu erlangen. Ohne solche Erkenntnis könne man die einzelnen Teile nicht verstehen und einordnen. Daher sind seine Schriften nicht jeweils einer einzelnen philosophischen Disziplin gewidmet; vielmehr sind die Sachbereiche verbunden, ihre Inhalte werden zusammen vorgetragen und aus dem Zusammenhang heraus dargestellt. Dadurch ergibt sich ein einheitliches, kohärentes Weltbild mit dem Anspruch auf Stimmigkeit in jeder Hinsicht. Da ein solches Gesamtverständnis der Wirklichkeit keine unvereinbaren oder beziehungslosen Elemente nebeneinander dulden kann, ist restlose Klärung des Verhältnisses zwischen philosophischen Einsichten und dogmatischen Wahrheitsansprüchen der Religion unumgänglich. Das religiöse Weltbild muss in dem philosophischen aufgehen. Philosophischen Systemen misstraut Shaftesbury zutiefst. Einen prägnanten Ausdruck findet diese Skepsis gegenüber lebensferner Theorie in seinem oft zitierten Ausspruch, ein System sei „das gescheiteste Mittel, sich selbst zum Narren zu machen“. Das Ziel des Erkenntnisstrebens bestimmt er – in Anknüpfung an das antike Philosophieverständnis und das Persönlichkeitsideal des Renaissance-Humanismus – strikt als ein lebenspraktisches. Die spekulative, abstrakte, von der scholastischen Methode geprägte Universitätsphilosophie hält Shaftesbury für weltfremd, unfruchtbar und nutzlos. Es geht ihm nicht um eine beliebige Anhäufung von Wissen, sondern um die Gewinnung und Befolgung von Grundsätzen für ein gelungenes Leben. Der Wert von Erkenntnissen besteht darin, dass sie dem Zweck der guten Lebensführung dienen. Somit stellt die Ethik die Kerndisziplin der Philosophie dar. Dieses Modell beruht auf einem betont optimistischen Welt- und Menschenbild. Seine Hauptvoraussetzung ist die Annahme, dass das Universum nicht nur nach dem Eindruck eines menschlichen Betrachters, sondern auch objektiv eine sinnvoll geordnete, vom Guten und Schönen geprägte Einheit bildet. Der Kosmos wird als ein ästhetisch gestaltetes Ganzes betrachtet, dessen sämtliche Bestandteile innerlich zusammenhängen und auf universelle Werte und gemeinsames Gedeihen angelegt sind. Demnach spiegelt sich die Werthaltigkeit der Weltordnung im Geist des wahrnehmenden und urteilenden Subjekts. Das bedeutet, dass ethische und ästhetische Prinzipien und Werte keine disponiblen Setzungen menschlicher Willkür sind; vielmehr bilden sie zusammen im menschlichen Geist ein Sachwissen über die tatsächliche Beschaffenheit der Welt. Für diese Grundthese legt Shaftesbury keinen Beweis vor, aber er hält sie für so einleuchtend, dass ein unbefangen beobachtender und urteilender Mensch in der Lage sei, ihre Richtigkeit intuitiv zu erkennen. Hieraus ergibt sich der aufklärerische Aspekt seines Denkens: Für jedes Individuum wird die eigene Urteilskraft zur allein maßgeblichen Instanz, die alle Unterscheidungen zwischen Wahrem und Falschem, Gutem und Schlechtem in eigener Verantwortung zu treffen hat. Damit verbindet sich die Forderung, jeden Autoritätsanspruch zurückzuweisen, der dieser Autonomie des Subjekts entgegensteht. Kulturgeschichtlich impliziert das optimistische Menschenbild des Philosophen die Annahme, dass der Mensch schon immer ein soziales Wesen war, das von Anfang an eine funktionsfähige Gemeinschaft auf der Basis anerkannter Tugenden bilden konnte. Diese Auffassung widerspricht dem Geschichtsmodell von Thomas Hobbes, nach dessen Theorie der ursprüngliche Naturzustand der Menschheit von rein egoistischen Impulsen bestimmt war und somit allgemeiner Krieg herrschte. Daran kritisiert Shaftesbury, dass Hobbes nur Furcht und Machtstreben als ursprüngliche Leidenschaften kenne. Die daraus resultierende Geschichtsdeutung sei selbstwidersprüchlich. Sie könne das Heraustreten der Menschheit aus dem angeblich unsozialen Urzustand und die Entstehung der Zivilisation nicht erklären, denn dieser Vorgang setze bereits die Akzeptanz von Werten und Tugenden voraus. Gegen Hobbes’ These, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, wandte Shaftesbury ein, der Wolf verhalte sich gegenüber seinen Artgenossen im Rudel durchaus sozial. Er wies darauf hin, dass Wölfe ihre Jagdbeute teilen und gemeinsam den Nachwuchs betreuen. Außerdem machte er geltend, Hobbes habe sich nicht gemäß seinem eigenen Menschenbild verhalten, denn wenn er konsequent selbstsüchtig gewesen wäre, hätte er seine Erkenntnisse über den Egoismus nicht veröffentlicht, sondern für sich behalten, um die Umwelt nicht vor seiner eigenen Wolfsnatur zu warnen. Immerhin sei seine Herausarbeitung der gewichtigen Rolle der Machtgier hilfreich, denn sie zeige die Notwendigkeit der Beschränkung und Teilung politischer Macht. Ein zentraler Begriff in Shaftesburys Gedankengebäude ist die politeness, eine besondere Ausformung des zeitgenössischen Gentleman-Ideals. Innerhalb der gesellschaftlichen Elite der Gentlemen hebt sich die Gruppe derjenigen heraus, die als polite (kultiviert) bezeichnet werden können. Das sind diejenigen Gebildeten, die sich durch gefälliges Auftreten, guten Geschmack, freiheitliche Gesinnung und einen wachen, kritischen Geist auszeichnen. Als Diskursteilnehmer übernehmen sie nichts ungeprüft und verstehen es, ein zugleich unterhaltsames und lehrreiches Gespräch zu führen. Als Gegenbild eines solchen Gentleman erscheint der autoritäre Pedant. Ethik als Naturgegebenheit und Aufgabe Die Einbettung des individuellen Wohls in das allgemeine Den Ausgangspunkt von Shaftesburys Weltdeutung bildet eine Überlegung, deren Richtigkeit er für evident hält: Zwar ist die Ordnung der Natur nur bruchstückhaft bekannt, doch lassen die körperlichen Gestaltungen und Funktionen der Lebewesen einen allen gemeinsamen Zweck erkennen. Jedes von ihnen verfügt über eine natürliche Ausstattung, die seinem individuellen Wohlergehen, dem „privaten Guten“, dienen soll. Dieses ist definiert als das, was mit der natürlichen Bestimmung des Lebewesens im Einklang steht. Die Triebe, Leidenschaften und Gemütsbewegungen zielen darauf, einen für das Individuum optimalen Zustand zu erreichen und zu bewahren. Zugleich gehört das Lebewesen aber auch einer Gattung an, deren Wohl und Fortbestand mit dem seinigen verknüpft ist. Das einzelne Wesen ist als „privates System“ in umfassendere Systeme eingefügt: in das System seiner Art, in die Gesamtheit der Pflanzen- bzw. Tierwelt, in das System der Erde, das Sonnensystem und schließlich das System des Universums. Alle Systeme bilden zusammen den Aufbau des einen Kosmos, und jedes von ihnen ist durch seinen Bezug zum Ganzen bestimmt. Sie stützen einander und stehen somit zueinander und zur Gesamtheit in einem zweckmäßigen Verhältnis des Zusammenwirkens. Das kommt den einzelnen Systemen und zugleich dem Ganzen zugute. Dieser Umstand deutet darauf, dass der Einklang des individuellen mit dem allgemeinen Guten ein universelles Prinzip im Kosmos ist. Innerhalb dieser Weltordnung kommt dem Menschen eine Sonderstellung zu, weil er allein den Aufbau des Systems der Systeme, dem er angehört, begreifen kann. Damit tritt er zu der Welt, in der er lebt, geistig in Distanz: Er wird zum untersuchenden Denker, der die Natur erkennt und imstande ist, das Wohl und Interesse eines übergeordneten Ganzen zu erfassen und für sich zum Kriterium zu machen. So kann er den Begriff des öffentlichen Interesses einführen und ein Wissen vom moralisch Guten und Schlechten, Richtigen und Falschen gewinnen. Damit wird er zum möglichen Verwirklicher des Guten im eigentlichen Sinne, des spezifisch menschlichen Guten. Dieses ist dadurch charakterisiert, dass sein Träger eine umfassendere Vorstellung von Gutheit hat als der nur um das eigene Wohl Besorgte, denn er ist befähigt, das Wohlergehen eines ganzen Systems als Ziel ins Auge zu fassen und sein eigenes Gedeihen als Teil davon zu erkennen. Nur wer solche Einsicht gewinnen kann, darf verdienstvoll und tugendhaft genannt werden. Die Tugend beruht auf dem Verständnis des jeweils übergeordneten, das größere System betreffenden Guten und zeigt sich als Neigung zur Förderung dieses Systems. Die Erkenntnis, dass die Tendenz zu einem umfassenden Guten ein fundamentales Strukturprinzip der Welt ist, ermöglicht einen Einblick in die Einheit und Ordnung des Universums. Zwar bleibt ein volles Verständnis des Weltsinns der menschlichen Vernunft verwehrt, doch kann die Bedeutung des Ganzen aus der Eigenbedeutung und Sinnhaftigkeit des Einzelnen erschlossen werden. Dabei kommt dann der ethische Charakter der Weltordnung und damit die objektive Realität der Ethik ins Blickfeld. Daraus ergibt sich eine Grundlage für die gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen der Menschen, die ohne Inanspruchnahme von Religion und Staatsmacht auskommt. Der moralische Sinn als Grundvoraussetzung der Ethik Wenn Ethik nicht als willkürliche Erfindung, sondern als Naturprinzip aufzufassen ist, muss sie im Bewusstsein eines Vernunftwesens (rational creature) als natürliche Gegebenheit präsent sein. Dies ist nach Shaftesburys Überzeugung der Fall. Die Bestimmung des Vernunftträgers als von Natur aus ethisches Wesen (moral being) ist der Kerngedanke, auf dem seine Philosophie basiert. Dem Menschen wird ein naturgegebener moralischer Sinn (moral sense) zugeschrieben, ein Sinn für das moralisch Richtige und Falsche, dessen Betätigung in gewisser Hinsicht mit dem Sehen und Hören vergleichbar ist. Das Gute ist für diesen Sinn ein Wahrnehmungsobjekt, so wie das Schöne für den Sehsinn. Es wird wie ein Objekt der Sinnesorgane erlebt, in seiner besonderen Qualität erfasst und spontan affektiv beurteilt. Daraus ergibt sich jeweils die Entscheidung für moralisch richtiges Handeln. So sind Wahrnehmen, Erkennen, Urteilen und Handeln eng miteinander verknüpft. Dabei entspringt aber das Erkennen und Urteilen nicht unmittelbar der Wahrnehmung, sondern ist ein separater Vorgang, der die eigentliche Leistung des moralischen Sinnes darstellt. Dieser nimmt zwar gleichsam sehend wahr, aber die damit verbundene geistige Tätigkeit besteht in erster Linie nicht im Wahrnehmen, sondern im Urteilen. Er ist die Instanz, welche die primären, spontanen Regungen des Gemüts beurteilt und dabei sekundäre Gefühle des Mögens oder der Abneigung erzeugt, die sich auf diese Regungen beziehen. Durch solche Reflexion, durch den reflected sense, bringt er die moralische Ordnung zum Vorschein. Er lernt durch Übung, durch Erfolg und Versagen. Damit entwickelt er sich zum „moralischen Geschmack“ (moral taste), der in Analogie zum Geschmackssinn beschrieben werden kann. Der oft missverstandene moralische „Sinn“ ist bei Shaftesbury nicht – wie im späteren Sentimentalismus – ein autogenes oder autonomes sinnliches Vermögen, sondern Vernunft in ihrer sinnlichen Erscheinung. Ein Argument für die Universalität des moralischen Sinns ist sein erkennbares Vorhandensein auch noch dort, wo bereits Perversion eingetreten ist. Da der Mensch seiner Natur nach moralisch ist, befürwortet sogar eine korrupte Person im konkreten Einzelfall das Natürliche und Ehrenhafte und missbilligt dessen Gegenteil, sofern sie kein persönliches Interesse an der betreffenden Angelegenheit hat. Moral und Glücksstreben In die Überlegungen zur moralischen Natur ist Shaftesburys Glückskonzept eingebettet. Nach seinen Ausführungen lässt sich aus der Beobachtung der Lebewesen erschließen, dass jedes am glücklichsten ist, wenn es seinen besonderen natürlichen Zweck erfüllt. Dieser besteht für den Menschen in der Förderung des Gemeinwohls. Das bedeutet aber nicht, dass die Individuen, indem sie die Allgemeinheit um ihres persönlichen Glücks willen unterstützen, dem Gemeinwohl subjektiv einen Wert zuweisen, den sie willkürlich erzeugen und der kein Korrelat in der äußeren Wirklichkeit hat. Vielmehr ist das Wohl der Allgemeinheit für Shaftesbury ein objektiv existierender Wert, der in der Struktur der Welt begründet ist. Dieser Wert entstammt also nicht der Gefühlssphäre, zu der die Glücksbilanz gehört, sondern basiert auf einer Naturgegebenheit, die unabhängig von den Affekten besteht. Somit ist die Moral zwar von Natur aus mit dem Glück verbunden, aber die Wertordnung ist nicht vom Streben nach individuellem Glück abhängig und nicht aus ihm abzuleiten. Der Umgang mit den Gemütsbewegungen als Kernaufgabe Weil der Mensch von Natur aus das Gute erstrebt, ist sein natürliches Empfinden und Begehren zugleich ein sittliches und somit die richtige Voraussetzung für moralisches Verhalten. Seine Gemütsbewegungen, die Affekte (affections), stehen von sich aus mit den Forderungen der Ethik in einem natürlichen Einklang. In der Lebenswirklichkeit kann man sich aber nicht darauf verlassen, dass die Affekte unmittelbar das Naturgemäße und Richtige anzeigen, denn eine Vielzahl störender Einflüsse verunmöglicht oder verfälscht fortwährend die Erfassung des tatsächlich Guten und die Orientierung an ihm. Daher reicht die naturhafte schlichte Gutheit (mere goodness) des Menschen als Richtschnur für die Lebensführung nicht aus. Um Irrwege zu vermeiden, muss er erst verstehen, was das Gute ist, und die darauf abzielende Tugend einüben. Damit das nötige Verständnis erlangt wird, müssen die Gemütsbewegungen, die das Handeln bestimmen, zum Gegenstand der Reflexion und Beurteilung gemacht werden. Darauf baut dann das Üben auf, die konstruktive Kultivierung der Neigungen und Leidenschaften. Es soll bewirkt werden, dass die moralisch wünschenswerten Neigungen und Ziele stets auch als die erfreulichen erlebt werden. Für Shaftesburys Ansatz ist charakteristisch, dass die ethische Qualität nicht erst der bewussten Entscheidung für eine bestimmte Handlung zukommt. Nicht erst der Beschluss oder die ausgeführte Tat ist gut oder schlecht, vielmehr muss bei der ethischen Einschätzung schon früher angesetzt werden: Es geht um die Gemütsbewegung und Haltung, die den Entschluss herbeigeführt hat. Der Mensch ist für seine Neigungen und Haltungen verantwortlich, und sie – nicht die Taten – müssen der primäre Gegenstand ethischer Untersuchung und Bewertung sein. Dabei kommt es darauf an, ob die Person das Gute der jeweiligen Systeme, die von ihrem Handeln betroffen sind, zum unmittelbaren Gegenstand ihrer Gemütsbewegung macht. Nur insoweit dies geschieht, handelt es sich um eine gute Haltung und dann auch um eine gute Handlung. Eine Handlung, die von einer unlauteren Gemütsbewegung ausgelöst wurde, ist ethisch gesehen auch dann schlecht, wenn ihre Auswirkungen förderlich und rechtmäßig erscheinen. Was ohne Gemütsbewegung getan wird, ist weder gut noch schlecht; es ist ethisch belanglos. Da es nur auf die innere Motivation und nicht auf die sichtbaren Folgen ankommt, sind anmaßende Urteile Außenstehender, die fremde Handlungen als gut oder böse einstufen, prinzipiell fragwürdig. Die Analyse der Gemütsbewegungen ergibt, dass sie in drei Klassen zerfallen. Die erste Klasse besteht aus den sozialen Affekten, die über das Streben nach persönlichen Vorteilen hinausreichen und auf uneigennützige Förderung der übergeordneten Systeme abzielen. Die zweite Klasse bilden diejenigen Gemütsbewegungen, die der Selbsterhaltung und dem persönlichen Wohlergehen dienen; mit ihnen wird das angestrebt, was für das individuelle System gut ist. Von Natur aus ist der Mensch mit beiden Klassen ausgestattet. Wenn sich jeder Affekt richtig entfalten kann, das heißt auf die ihm und dem ganzen System angemessene Weise, dann besteht zwischen allen Gemütsbewegungen ein ausbalanciertes Gleichgewicht. Dann ist das Gemüt sinnvoll strukturiert, und dank dem konstruktiven Zusammenspiel der verschiedenen Affekte kann die Person so leben, wie es ihrer wahren Natur entspricht. Nur ein solches Leben ist glücklich. Wenn hingegen Affekte zu stark oder zu schwach ausgeprägt sind, ergibt sich ein unnatürlicher Zustand, und damit entsteht die dritte Klasse: die Laster, die zum Unglück führen. Das Gemütsleben ist naturgemäß geordnet, wenn seine Struktur die hierarchische Ordnung der Systeme in der äußeren Welt spiegelt. Das bedeutet, dass den sozialen Affekten, die auf das Wohl der übergeordneten Systeme ausgerichtet sind, der Vorrang zukommt. Ihre Funktionsfähigkeit darf durch die Auswirkungen der auf das Eigenwohl abzielenden Impulse nicht beeinträchtigt werden. Es ist aber auch zu beachten, dass die eigennützigen Gemütsbewegungen nicht an sich fragwürdig sind; vielmehr sind sie für ein gelingendes Leben sogar unbedingt erforderlich. Das Individuum ist auch im Hinblick auf sich selbst gut oder böse, indem es sein eigenes Wohl fördert oder vernachlässigt. Fehlentwicklungen beruhen darauf, dass einzelne Affekte das Gleichgewicht stören, weil sie entweder übermäßig oder zu schwach entwickelt sind. Das Verfehlen des richtigen Maßes im Einzelnen führt zur Unausgewogenheit des Ganzen. Dann stimmen die Proportionen nicht mehr, die Ordnung ist verletzt, und darin besteht die Perversion des Gemütslebens. Shaftesbury erläutert diese Theorie ausführlich anhand von Beispielen. Untugenden wie Feigheit, Geiz, Gier, Ausschweifung, Arroganz und Faulheit führt er auf ein Übermaß an Selbsterhaltungsaffekten zurück. Vernachlässigung des eigenen Wohls und Untätigkeit angesichts von Gefahren deutet er als Auswirkungen einer Schwäche der Affekte, die dem Wohlergehen des individuellen Systems dienen. Aber auch bei den sozialen Gemütsbewegungen sieht er ein destruktives Potenzial, wenn sie das Maß sprengen: Nicht nur maßloser Egoismus, sondern auch übersteigerter und damit widernatürlicher Altruismus ist schädlich. Unmäßige Selbstliebe gefährdet die Gesellschaft, aber auch das gegenteilige Extrem ist eine Fehlhaltung mit fatalen Folgen für die Betroffenen. Als Beispiel für die Schädlichkeit einer unfreien, einseitigen Fixierung auf den Anderen nennt der Philosoph die Folgen übertriebener Mutterliebe. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Analyse der einzelnen Fehlentwicklungen des Charakters, wobei er die Abweichungen vom Naturgemäßen und Angemessenen stets vor dem Hintergrund der natürlichen Impulse darstellt, deren Verzerrungen sie nach seinem Verständnis sind. Das Kriterium für die Unterscheidung von Richtigem und Falschem, Natürlichem und Unnatürlichem ist immer die Einhaltung oder Missachtung von Maß und Proportion. Kein Element des Ganzen darf fehlen, unnötig hinzukommen, in einen unpassenden Zusammenhang geraten, unterentwickelt sein oder überwuchern. Analyse der Religion Kritik des Offenbarungsglaubens Der unbedingte Vorrang, den Shaftesbury den Prinzipien der Autonomie und des moralisch Guten gibt, muss auch auf religiösem Gebiet uneingeschränkt gelten. Der Glaube kann kein Sonderbereich sein, der sich der philosophischen Analyse und Beurteilung entzieht. Religiöse oder irreligiöse Konzepte wie Theismus, Atheismus und Schicksalsglaube lösen Gemütsbewegungen aus, die auf das sittliche Urteilsvermögen des Menschen einwirken. Unter diesem Gesichtspunkt sind sie aus der Sicht des Aufklärers zu bewerten. Das Gute, Gerechte und Wahre sind für Shaftesbury absolute Gegebenheiten, die jeder Beliebigkeit entzogen sind. Wer sie auf einen Willen, eine Entscheidung oder ein Gesetz zurückführen will, entleert ihren Sinn; sie haben dann keinen Inhalt mehr. Somit kann auch Gott oder eine Religion diese Prinzipien weder begründen noch einschränken oder beeinflussen. Schon die gängige Bezeichnung Gottes als gut, gerecht und wahr setzt die entsprechenden Konzepte als vorgegebene Wirklichkeit voraus. Spricht man Gott Verfügungsgewalt über diese Werte zu, so wird der Mensch zerrissen, denn er kann nicht zugleich seiner eigenen Natur und einem übermächtigen fremden Willen folgen. Hier setzt Shaftesburys Kritik an den historischen Erscheinungsformen des Christentums an. Nach seinem Befund war und ist es ein fataler Grundfehler, ethische Entscheidungen der Kompetenz des verantwortlichen Individuums zu entziehen und sie einer äußeren Instanz zu überlassen, dem „geglaubten Gott“, dessen angebliche Anweisungen unabhängig von ihrer moralischen Fragwürdigkeit ausgeführt werden müssen. Dadurch wird der natürliche moralische Sinn des Menschen korrumpiert und allmählich lahmgelegt. An die Stelle des inneren Beweggrundes tritt eine „zweite Natur“, die an keine objektive Norm gebunden ist und willkürlich den Maßstab für richtiges und falsches Handeln setzt. Die Gewöhnung an diesen Zustand und das Schwinden der eigenen Urteilskraft bewirken schließlich, dass auch grausamste und unmenschlichste Taten, wenn sie religiös legitimiert sind, als gerecht und vom göttlichen Vorbild geboten gelten. So setzt sich Bosheit durch und beherrscht dann auch das Gemeinwesen und die Gesetzgebung, und eine Unrechtsordnung etabliert sich. Erst wird das Böse gerechtfertigt und legalisiert, dann wird es in einem weiteren Schritt zur Pflicht erhoben. Damit hat die „zweite Natur“ die Macht übernommen. Dies erklärt das Verhalten der ihr Unterworfenen, enthebt aber den Einzelnen nicht seiner Verantwortung. Anschauungsmaterial bietet die jahrtausendelange Geschichte der religiösen Bevormundung, Unterdrückung, Heuchelei und Streitsucht, auf die Shaftesbury ausführlich eingeht. Dabei prangert er besonders die Macht- und Besitzgier des Priestertums an, das schon im alten Ägypten, dem „Mutterland des Aberglaubens“, eine parasitäre Rolle gespielt habe. Mit einer weit ausholenden historischen Argumentation versucht er das Priestertum als durchweg schädliche Kraft zu erweisen. Dennoch akzeptiert er den Fortbestand der anglikanischen Staatskirche; die Forderung, sie abzuschaffen, ist für ihn ebenfalls Ausdruck einer intoleranten, fanatischen Gesinnung. Den Ausweg aus der religiösen Fremdbestimmung bietet aus der Sicht des Aufklärers die Forderung, die verhängnisvolle Selbstentmächtigung des Menschen rückgängig zu machen. Dazu gehört neben der Eindämmung priesterlicher Macht und der Etablierung religiöser Toleranz der Grundsatz, dass alles, was als Wille Gottes ausgegeben wird, dem Urteil des moralischen Sinnes zu unterwerfen ist. Die Möglichkeit einer historischen Offenbarung Gottes lässt Shaftesbury zwar zu, aber mit dem Vorbehalt, dass sie nur dann authentisch sein kann, wenn sie an die Urteilskraft appelliert und ihre Aussagen vor dem Gericht der Vernunft Bestand haben. Hinsichtlich des christlichen Offenbarungsglaubens weist er auf die textkritischen Probleme und Auslegungsschwierigkeiten der biblischen Überlieferung hin und führt den unklaren, umstrittenen Status der Apokryphen an. Er empfiehlt die historisch-kritische Methode. Deren Anwendung gibt ihm Anlass zu großer Skepsis hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der überlieferten biblischen Aussagen; manche von ihnen lehnt er sogar dezidiert ab. Die biblischen Wunder verwirft er als Störungen der Weltordnung, die Gott nicht zuzutrauen seien. Mit besonderer Schärfe verdammt Shaftesbury die Konditionierung des Menschen durch religiöse Lehren, die Belohnung für erwünschte Taten und Bestrafung für unerwünschte verheißen. Das ist für ihn unannehmbar, weil damit ein äußerer Antrieb als Handlungsmotiv an die Stelle der moralischen Selbstbestimmung tritt. Pragmatisch betrachtet haben Lohn und Strafe zwar erwünschte Wirkungen – beispielsweise kann nur Furcht vor dem Galgen einen Schurken von Übeltaten abhalten –, aber unter ethischem Gesichtspunkt sind sie wertlos. Zur Charakterbildung tragen sie nichts bei, vielmehr schädigen sie sogar den Charakter und verengen den Horizont. Statt den tugendhaften Impuls in der menschlichen Natur zu kultivieren, verdrängen sie ihn und ersetzen ihn durch einen rein selbstsüchtigen und minderwertigen Antrieb. Verdienstlich ist ein so motiviertes Verhalten keinesfalls. Demgemäß verwirft Shaftesbury den Glauben an Lohn und Strafe im Jüngsten Gericht. Das Konzept der natürlichen Religion Für Shaftesbury bietet weder der biblische Offenbarungsglaube noch der naturalistische Atheismus eine befriedigende Weltdeutung. Seine Alternative ist ein Modell, das eine „natürliche“ Religion ausschließlich aus philosophischen Einsichten abzuleiten versucht. Dabei knüpft er an das Gedankengut antiker Philosophenschulen an. Er bekennt sich zu der Tradition der antiken Sokratiker, der an Sokrates anknüpfenden Denker, in denen er Gleichgesinnte sieht. Aus seiner Sicht befanden sie sich in einer ähnlichen Situation wie er selbst: Sie wollten nur das als religiöse Wahrheit annehmen, was der Vernunft einleuchtet und den moralischen Sinn befriedigt, mussten aber auch darauf achten, die etablierte Religion zu schonen und die abergläubische Öffentlichkeit nicht unnötig zu provozieren. Für vorbildlich hält Shaftesbury die Vorgehensweise des Sokrates, der bei der Vermittlung brisanter und anspruchsvoller Inhalte umsichtig und didaktisch musterhaft verfahren sei. Bedeutende Anregungen verdankt der englische Denker den Stoikern der römischen Kaiserzeit. Mit ihnen teilt er die emphatische Bejahung der als göttlich und vernünftig geltenden kosmischen Ordnung, das Konzept der intimen Zusammengehörigkeit aller Naturdinge und die konsequent lebenspraktische Ausrichtung der Philosophie. Die stoischen Autoren Mark Aurel und Epiktet werden ihm zu Leitfiguren. Einen wichtigen Impuls empfängt er auch von der Fortbildung des antiken Platonismus durch die neuzeitlichen Cambridger Platoniker. Einen Gottesbeweis versucht Shaftesbury nicht zu führen, aber er hält es für plausibel, die Existenz und Beschaffenheit der Welt auf das Wirken einer Gottheit zurückzuführen. Darin folgt er dem Gedankengang, der traditionell zur Begründung der neuplatonischen Ontologie, der Lehre vom Sein, dient. Diese Überlegung lautet: Die Welt ist eine seiende Einheit und Ganzheit. Als solche kann sie nur existieren und erfahren und gedacht werden, wenn ihr eine reale metaphysische Einheit, das „einzig Eine“, als Ursache ihrer Existenz und Ordnung zugrunde liegt. Dieses Eine ist die Gottheit, aus der alles hervorgegangen ist. Der Zufall kann als Urprinzip nicht in Frage kommen, da er keine eigenständige Instanz ist, sondern nur innerhalb eines bereits existierenden kohärenten Systems als Beeinträchtigung von dessen Ordnung in Erscheinung tritt. Mit dieser Begründung verwirft Shaftesbury den materialistischen Atheismus, der nur die religiösen Weltbilder verneine, ohne eine einleuchtende Alternative anbieten zu können, und die Moral der Beliebigkeit anheimgebe. Die philosophisch begründete Religion, für die der englische Denker eintritt, setzt Gott mit dem Guten gleich. Dabei gilt der Grundsatz, dass das Gute nicht gut ist, weil es von Gott stammt, sondern umgekehrt Gott nur deswegen göttlich ist, weil er ausschließlich gut ist. Auch in diesem Zusammenhang ist unter dem Guten das für das Gesamtsystem der Welt und jedes einzelne Teilsystem möglichst Förderliche zu verstehen. Das bedeutet, dass der Mensch, der über seinen moralischen Sinn Zugang zum Guten hat, selbst anhand seiner moralischen Kriterien beurteilen kann und muss, ob etwas, was ihm als göttlich präsentiert wird, tatsächlich göttlich ist. Gewinnung und Vermittlung von Erkenntnis Die Praxis des ethischen Diskurses Ein zentrales Anliegen Shaftesburys ist die Förderung des öffentlichen Diskurses über Grundfragen der Ethik. Dabei geht es ihm besonders um die Auswirkungen moralischer Reflexion auf das politische Handeln. Die philosophisch begründete Kultivierung sittlicher Haltungen soll einen fundamentalen Beitrag zur Gesundheit des politischen Lebens leisten. Wie wirksam ein solcher Beitrag sein kann, hängt nach Shaftesburys Einschätzung maßgeblich von praktischen Gesichtspunkten ab, von der Art der Darbietung. Der herrschende Zeitgeist ist trockenen Erörterungen, abstraktem Spekulieren und dogmatischer Belehrung abgeneigt. Nur eine gefällige Präsentation des Stoffs kann Aufmerksamkeit erwecken. Für moralische Themen kommen traditionell drei Darstellungsweisen in Betracht: erstens die Predigt oder predigtartige Ermahnung, zweitens die systematische philosophische Abhandlung, drittens der im Gesprächsstil gestaltete Essay. Die zwei erstgenannten Darbietungsformen verwirft Shaftesbury, denn sie eignen sich nach seiner Einschätzung kaum dafür, eine breitere Öffentlichkeit zu beeindrucken. Vor allem können sie einen wichtigen Teil seines Zielpublikums nicht erreichen: die gebildeten, liberalen, weltanschaulich skeptischen Intellektuellen der beginnenden Aufklärungszeit. Das sind kritische, lächelnde Beobachter, die ironische Distanz pflegen, der Ernsthaftigkeit misstrauen und auf Witz und Unterhaltsamkeit Wert legen. Ihnen widerstrebt die Aufdringlichkeit von Moralpredigern ebenso wie die Trockenheit systematisch aufgebauter Traktate, die ihnen pedantisch vorkommen. Shaftesbury, der selbst diesen Kreisen angehört, bringt für deren Einstellung Verständnis auf, obwohl er seine Anliegen sehr ernst nimmt. Er bevorzugt den gepflegten und kunstvollen Essay, der oft lockere Gespräche nachahmt oder wiedergibt, Erzählungen einschließt und manchmal die Form eines Briefes annimmt. Mit diesen Überlegungen knüpft der englische Schriftsteller als Sokratiker an die Tradition des sokratischen Gesprächs an. Er erläutert die Vorzüge der sokratischen Methode der gemeinsamen Wahrheitssuche und veranschaulicht sie anhand von Beispielen. In einem solchen Rahmen können Repräsentanten gegensätzlicher Weltanschauungen zu Wort kommen; ihre Überlegungen werden zur Diskussion gestellt, Vertreter verschiedener Temperamente bringen ihre Eigenarten zur Geltung. Während sich der Autor zurücknimmt, wird der Leser eher zu eigenem Nachdenken und Urteilen angeregt als belehrt. Er wird zu dem Wagnis ermutigt, seine Vernunft zu gebrauchen; er soll kritische Distanz wahren und, wie es Shaftesbury ausdrückt, sich mit dem Autor messen. Aus diesen Gründen ist der philosophische Dialog im sokratischen Stil, wie ihn klassische antike Werke überliefern, musterhaft und bleibt immer lehrreich. Diese ideale Form lässt sich allerdings, wie Shaftesbury bedauernd feststellt, nicht gut in die zeitgenössische Literatur übertragen, denn moderne Menschen können nicht so agieren wie griechische Philosophen des Altertums. Der Versuch einer aktualisierenden Nachahmung des antiken literarischen Dialogs wäre unzeitgemäß und müsste am Mangel an Authentizität scheitern. Trotz dieser grundsätzlichen Skepsis will Shaftesbury aber als Autor nicht auf die Vorteile der Darbietung philosophischer Inhalte in Gesprächsform verzichten. In The Moralists gibt er nacherzählend einen fiktiven Dialog wieder, in dem sich zeitgenössische Konversationskultur mit antikisierenden Elementen mischt. Selbsterkenntnis im Selbstgespräch Shaftesbury will seine Leser zu vertiefter Reflexion im Selbstgespräch anregen, damit sie eine eigenständige Haltung gewinnen und entsprechend leben. Ein Hauptgegenstand eines solchen inneren Dialogs sind die eigenen Stimmungen, Neigungen, Vorstellungen und Meinungen, die den Menschen gewöhnlich leiten, ohne dazu seine Zustimmung einzuholen oder Rechenschaft von sich abzulegen. In der Selbstreflexion soll diese Unmittelbarkeit unterbrochen werden. Die Vorstellungen werden identifiziert und zur Rede gestellt. Wenn sie artikuliert werden, kann man ihre Macht brechen. Dann können sie unter Kontrolle gebracht werden. Der Betrachter bringt seine Affekte zum Sprechen und lässt sie dann in einen Dialog mit der Vernunft treten, die sie befragt, ihnen antwortet und sie beurteilt. Aus dem Dialog, in dem Stimme und Gegenstimme einander provozieren und dabei umwandeln und bereichern, soll im Lauf der Zeit ein neues, kultiviertes Selbst hervorgehen. So wird der Charakter gebaut. Wer auf solche Weise ausdauernd Selbstkritik übt, arbeitet an sich und hat Aussicht, eine authentische Haltung zu gewinnen, „in Übereinstimmung mit sich selbst und innen eins“. Diese Arbeit hat intimen Charakter; zur Veröffentlichung sind Selbstgespräche grundsätzlich nicht geeignet, das würde nur der Eitelkeit dienen. Die Funktion des Humors Einen hilfreichen Beitrag zur Meinungsbildung kann für Shaftesbury der Humor leisten. Auch bei dieser Überlegung bildet den Ausgangspunkt eine optimistische Einschätzung der naturgegebenen und bewusst kultivierten Urteilskraft des Menschen. Wenn eigene oder fremde Wahrheitsansprüche geklärt werden sollen, kommt es zunächst darauf an, die nötige Unbefangenheit zu gewinnen. Fragwürdige Überzeugungen, die sich verfestigt haben, werden oft leidenschaftlich und mit tiefem Ernst verfochten, bis hin zum Fanatismus und Willen zum Zwang. Damit ist stets ein melancholischer Gemütszustand verbunden. Diese starre Gemütsverfassung muss zunächst aufgebrochen werden, damit die Offenheit erlangt werden kann, die eine Vorbedingung der Wahrheitsfindung ist. Zu diesem Zweck empfiehlt Shaftesbury, Gewohnheiten und Meinungen zu prüfen, indem man sie der Ironie und dem Scherz aussetzt, um sie auf neue Art zu beleuchten. So wird zwar die Wahrheitsfrage nicht beantwortet, doch man gewinnt die Selbstdistanz, die man benötigt, um einem fremden Standpunkt unbefangen begegnen zu können und Argumente sachlich abzuwägen. Dann kann die natürliche Urteilskraft in Aktion treten, es entsteht Raum für Toleranz, und ein freies Gespräch wird möglich. Dabei geht es keineswegs darum, im Sinne eines prinzipiellen Skeptizismus alles lächerlich zu machen und so die Wahrheitssuche zu diskreditieren. Vielmehr kann nach Shaftesburys Ansicht überhaupt nur Unwahres, Schlechtes und Hässliches lächerlich sein. Durch das Aufzeigen der Lächerlichkeit wird zwar kein Beweis der Unrichtigkeit erbracht, aber es ist ein Mittel, das im Zweifelsfall hilft, wenn man herausfinden will, ob etwas wahr, natürlich und wertvoll sein kann oder nicht. Was mit der Vernunft und Wahrheit in Einklang steht, kann nach Shaftesburys These jedes Licht vertragen, auch das der Ironie. Als Beispiel für solche Unangreifbarkeit des Vernunftgemäßen nennt er Sokrates, der verspottet wurde, ohne dass ihm dies etwas anhaben konnte. Die humorvolle Betrachtungsweise soll einen heiteren Gemütszustand erzeugen, der den Geist von Befangenheit befreit und weitet und damit die Betätigung der Urteilskraft fördert. Neben persönlichen Meinungen und Gewohnheiten lassen sich auf diese Weise auch kollektive Annahmen und etablierte Sitten auf den Prüfstand stellen. Dazu zählen kirchliche Dogmen, Lehren anerkannter Autoritäten, Traditionen, die öffentliche Meinung, gesellschaftliche Verhältnisse und politische Institutionen. Großen Wert legt Shaftesbury auf den Grundsatz, dass der Humor stets konstruktiven Zielen zu dienen habe, niemals der Beleidigung, Verletzung, Herabwürdigung oder vulgären Belustigung. Unter diesem Gesichtspunkt lobt er die Komödiendichter Menander und Terenz, nicht jedoch Aristophanes und Plautus. Beißende Satire im Stil seines Zeitgenossen Jonathan Swift verurteilt er scharf. Das Schöne in der Natur und in den schönen Künsten Die Objektivität der Ästhetik Schönheit ist nach Shaftesburys Verständnis eine reale Eigenschaft, die den schönen Dingen objektiv zukommt. Der Begriff des Schönen bezeichnet nicht Eindrücke und Einschätzungen menschlicher Beurteiler, die sich an gesellschaftlichen Konventionen oder ihrem persönlichen Geschmack orientieren. Da die Schönheit in der Natur der Dinge liegt, sind ästhetische Urteile objektiv richtig oder falsch. Ein wichtiges Anliegen ist für Shaftesbury die Etablierung einer Kunst- und Literaturkritik, die den Anspruch erhebt, objektiv gültige Qualitätsurteile fällen und begründen zu können. Scharf kritisiert er die verbreitete Ansicht, ästhetischer Wert sei eine subjektive Vorstellung, die jeder willkürlich für sich erzeuge, ohne dies erklären zu können. Bewunderung für ein Werk auszudrücken, ohne sich über den Grund dafür Rechenschaft abzulegen, ist nach seinen Worten eine Gewohnheit von Idioten und Ignoranten. Diese glauben an eine verzaubernde Wirkung von Kunstwerken, die der Künstler angeblich selbst nicht versteht. Sie wollen, wo es auf ein begründetes Urteil ankäme, alles auf ein mysteriöses „Ich weiß nicht was“ zurückführen. Dieser Haltung setzt Shaftesbury die Forderung einer bewussten, reflektierten Ausbildung der Kompetenz entgegen. Dabei weist er dem geschulten, unbestechlichen Kunst- und Literaturkritiker die Aufgabe zu, dem Publikum zu zeigen, wie man Qualität erkennt. Der Kritiker soll Volkserzieher sein. Den Vorlieben des ungeschulten Publikumsgeschmacks misstraut Shaftesbury, denn nach seiner Meinung ist guter Geschmack nicht angeboren, sondern die Frucht eines Lernprozesses. Eine fundamentale Voraussetzung für die Erlangung ästhetischer Kompetenz ist das „interesselose“ Wohlgefallen des Betrachters am schönen Objekt. Unter „Interesselosigkeit“ (disinterestedness) versteht Shaftesbury die völlige Freiheit des Gemüts von allen Impulsen, die darauf abzielen, das Schöne zu besitzen oder zu instrumentalisieren, um sich dadurch einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. Die ästhetische Wahrnehmung darf von keinen Absichten, die sie überschreiten, beeinträchtigt werden. Jede Begierde muss ausgeschaltet werden. Nur dann kann die Schönheit als objektive Wirklichkeit erfasst werden. Harmonie in Natur und Kunst Nach einer im antiken Platonismus ausgearbeiteten Theorie beruhen die „schönen Künste“ – sowohl die bildende als auch die poetische und die rhetorische Kunst – auf Nachahmung der Natur und sind daher prinzipiell mangelhaft, denn sie imitieren nur sinnlich Erfassbares. In dieser Tradition wird die Kunst als bloße Abbildung abgewertet. Shaftesbury greift den Gedanken der Nachahmung auf, wendet ihn aber ins Positive. Seinem Verständnis zufolge sind nicht die einzelnen Naturdinge nachzuahmen, sondern die Prinzipien, die das Wirken der Natur bestimmen. Dabei geht es um die Erzeugung eines Ganzen, dessen Elemente nach Zahlen und Proportionen so geordnet sind, dass aus dem Mannigfaltigen eine Einheit (union) wird, die der Betrachter als harmonisch und somit schön wahrnimmt. So wie die geordnete Natur aus dem Chaos entstanden ist, schält der Künstler die harmonische Form schrittweise aus seinem chaotischen Stoff heraus. In diesem Sinne soll die Harmonie in einem Kunstwerk Spiegelbild der Weltharmonie sein, deren Gesetzen sie folgt. Dabei steht die formende Kraft hierarchisch über der realisierten Form: Die eigentliche Schönheit liegt nicht in dem Werk, sondern in der ordnenden Kraft, die ihm diese Qualität verliehen hat und deren Wirken in ihm spürbar wird. Der ganze Wert der Formen beruht auf ihrer Funktion als Träger geistiger Gehalte. Shaftesbury fasst das in die oft zitierte Formel: „Das Schönheit Verleihende (beautifying), nicht das mit ihr Ausgestattete (beautified) ist das wirklich Schöne.“ Im Gegensatz zu diesem Ideal der Ordnung und Proportion steht die von Shaftesbury abgelehnte „gotische“ Phantasie, das heißt alles Phantastische, Zufällige, Vereinzelte und Formlose, jede Zusammenfügung von Elementen, die keiner Gesetzmäßigkeit folgt. All dies hat nach seinem Urteil keinen Platz in der Welt der Kunst. Je besser etwas die Weltharmonie ausdrückt, desto würdiger ist es als Gegenstand künstlerischer Wiedergabe. So steht beispielsweise in der Rangordnung der Natur und damit auch der Kunst ein organisches Gebilde höher als etwa Wolken. Demgemäß ist alles Monströse und Groteske ebenso wie das Hässliche, Grausame, Blutige und Perverse naturwidrig und daher kein legitimes Motiv für Künstler. Hierzu zählen beispielsweise die Kreuzigung Christi und die Leiden der Märtyrer. Ebenso ist Theatralik in jeder Form unnatürlich und somit verwerflich. Aber nicht nur Phantasieprodukte und Missgestalten, die sich von der Naturordnung abgelöst haben, sind für künstlerische Darstellung ungeeignet; auch das Übertreiben in die andere Richtung, zu große Abhängigkeit von Naturobjekten, bedeutet Verfehlung der Aufgabe des Künstlers. Ein guter Maler konzentriert sich nicht auf belanglose Einzelheiten, er vermeidet die winzigen Details, die das Besondere und Einzigartige des Einzeldings statt der generellen Form in den Vordergrund rücken. Das Harmonieideal erfordert dezente Farbgebung. Die Farbe muss dem Thema untergeordnet sein und ihm dienen, sie darf nicht davon ablenken. Zu verwerfen sind daher starke, überraschende Farbeffekte. Alles Grelle und übertrieben Bunte ist zu meiden. Der Zeitaspekt in der bildenden Kunst Unter dem Gesichtspunkt der darzustellenden Einheit steht die bildende Kunst vor einer besonderen Herausforderung: Sie kann nur einen Moment eines Geschehens herausgreifen, soll aber möglichst die ganze Qualität des Vorgangs, der sich in der Zeit vollzieht, zum Ausdruck bringen. Daher ist der Übergangsmoment zu wählen, der spannungsgeladene Zeitpunkt der Entscheidung: ein Augenblick, der im Gegenwärtigen die Spuren des Vergangenen enthält und Zukünftiges vorwegnimmt. Wie dies im Einzelnen zu bewerkstelligen ist, erklärt Shaftesbury ausführlich anhand des von ihm in Auftrag gegebenen Gemäldes, das die Entscheidung des Herkules zwischen den Personifikationen der Tugend und der Lust zeigt. Eingehend beschreibt er die Kunstmittel, die eingesetzt werden können, damit dem Betrachter sowohl die Einheitlichkeit und Einmaligkeit des Moments als auch die zeitliche Qualität alles Dramatischen vor Augen tritt. Das gelungene und das misslungene Werk Ob es im Einzelfall gelungen ist, die Elemente eines Kunstwerks zu einer echten Einheit zu verbinden, erkennt man anhand des Kriteriums der „Übersichtlichkeit“. Darunter ist eine Gestaltung zu verstehen, die es dem Betrachter ermöglicht, die Teile des Werks mit Leichtigkeit zu überblicken und dabei stets die Hauptsache im Auge zu behalten. Bei einem Gemälde muss es möglich sein, den Blick gleichsam unbeweglich im Zentrum ruhen zu lassen und dabei alles, worauf es ankommt, auf einmal zu erfassen. Die Teile des Bildes sollen wie die Glieder eines Leibes zusammengefügt und aufeinander bezogen sein. Klarheit ist die Devise. Die Komposition soll nur wenige Figuren enthalten, der landschaftliche Hintergrund auf ein Minimum reduziert werden. Das Bild ist gleichsam ein stummes Drama; der Maler soll sich nicht als Epiker, sondern als Dramatiker betrachten. Nur dann ist sein Werk ein Tableau (tablature), „ein einzelnes, in einem einzigen Blickpunkt zusammengefasstes und nach einer einzigen Vorstellung, Sinngebung oder Grundidee gestaltetes Stück, das durch wechselseitige und notwendige Beziehung seiner Teile ein wirkliches Ganzes ausmacht“. Dieses Ordnungsprinzip soll für alle Kunstgattungen gelten. Die anzustrebende Einheit des Kunstwerks setzt eine hohe Konzentration, Intensität und Fülle in der Darbietung des Sujets voraus. Zu fordern ist die Beachtung aller Gesetze und Maximen der künstlerischen Darstellung, die Shaftesbury anhand von Beispielen aus der Malerei veranschaulicht. Als Klassizist betont er die Vorbildlichkeit der antiken Meister, deren Werke jeder Künstler gründlich zu studieren habe, und preist die Künstler der Renaissance in Italien. Die Orientierung der Barockmalerei an den Leidenschaften missbilligt er; nichts darf übertrieben sein. Als Beispiele für herausragendes Gelingen nennt er die Fresken Justitia von Raffael und Triumph der Judith von Luca Giordano, als extremes Gegenbeispiel Jusepe de Riberas Altargemälde San Gennaro geht unversehrt aus dem Brand. Shaftesburys Angriffe auf Maler wie Ribera und Pietro da Cortona richten sich gegen typisch barocke Phänomene, die er mit dem abwertenden Ausdruck gotisch bezeichnet. Analog fallen Shaftesburys Urteile auf literarischem Gebiet aus: Dort macht er sich das Qualitätskriterium der Handlungseinheit aus der Poetik des Aristoteles zu eigen, tritt für schlichte Natürlichkeit ein und verdammt den Hang zum Exotischen und Phantastischen als Dekadenzphänomen. Demgemäß lobt er antike Klassiker wie Horaz und betrachtet Autoren wie Ludovico Ariosto und Torquato Tasso als Verderber echter Bildung. Ariost höher zu schätzen als Vergil oder einen Roman höher als Homers Ilias ist aus seiner Sicht ein Zeichen vulgären Geschmacks. Ein Musterbeispiel der von Shaftesbury verachteten „Gotik“ ist die Gattung der Ritterromane, die das mittelalterliche Ritterideal darstellen. Daher äußert er sich anerkennend über Cervantes, der mit seinem Don Quijote das Rittertum erfolgreich lächerlich gemacht und damit dieser Geschmacksverirrung ein Ende gesetzt habe. In der Dichtkunst und Schriftstellerei nennt Shaftesbury als Grundbedingung des Gelingens das Zurücktreten des Autors. Der Urheber des Werks soll fast überhaupt nicht in Erscheinung treten, und an seiner Abwesenheit erkennt man, dass er ein Meister ist. Ein guter Autor „beschreibt weder Eigenschaften noch Tugenden, beurteilt nicht die Sitten, hält keine Lobreden und gibt auch nicht selbst die Besonderheiten an, und dennoch macht er seine handelnden Personen sichtbar. Sie zeigen sich selbst. Sie selbst sind es, die so reden, dass sie sich in allem von allen unterscheiden und immer sich selbst gleichen.“ Der unübertroffene Meister solcher Darstellung ist nach Shaftesburys Urteil Homer. Er konnte seine Helden so lebendig machen, dass der Tragödie nach ihm nichts mehr zu tun übrig blieb, als seine Dialoge und Charaktere in Szenen umzusetzen. Ein weiterer wichtiger Faktor des Gelingens in literarischen Werken und in den bildenden Künsten ist die Auslassung, die „Ellipse“. Damit ist das gemeint, was der Urheber des Werks nicht ausdrückt, sondern nur andeutet und der Vorstellungskraft seines Publikums überlässt. Das nicht explizit Vorgegebene muss ergänzt werden, und dieser Vorgang des Füllens von Leerstellen erzeugt im Leser oder Betrachter Freude. Voraussetzung dafür ist ein angemessenes Verhältnis zwischen vorgegebenen und ausgelassenen Anteilen. Schönheit und Enthusiasmus Shaftesbury unterscheidet scharf zwischen dem Enthusiasmus der Fanatiker, den er verurteilt, und der enthusiastischen Hingabe an das Schöne, die er verherrlicht. Nach seinem Verständnis ist der ästhetische Enthusiasmus ein erhabener Zustand, der eintritt, wenn der Mensch geistig über die eigene Endlichkeit hinausgeht. Diese Erfahrung unterscheidet sich fundamental vom normalen Erleben. Den Anstoß dazu gibt die Betrachtung der Schönheit in den Werken der Natur und die daraus folgende Reflexion, die es ermöglicht, die Unendlichkeit der göttlichen Kraft zu erkennen und die von ihr abgeleitete Kraft des menschlichen Geistes zu würdigen, obwohl der Zweck der Weltordnung verborgen bleibt. Solche Einsicht ist nicht abstrakt und theoretisch. Sie ist stets vom leidenschaftlichen Affekt des Enthusiasmus begleitet und führt zwangsläufig zu entsprechendem Handeln. Naturschönheit und Gartenkunst Die Ordnung, die für Shaftesbury in der Natur wie in der Kunst das Merkmal des Schönen und Wertvollen ist, liegt im Zusammenspiel der Elemente, sie beruht nicht auf einer sichtbaren regulären Struktur. Schönheit ist nicht in einem äußerlichen Sinn zu verstehen, etwa als Auftreten geometrischer Muster in einzelnen Naturformen. Im Gegenteil: Ein rauer Felsen, eine Höhle oder ein Wasserfall sind als Erscheinungen von Naturschönheit den geometrisch-figürlichen Beschneidungen von Bäumen und Gebüsch in den großen Gartenanlagen an den Höfen der Herrscher weit überlegen. Das menschliche Unternehmen, der Natur reguläre Formen aufzuzwingen, verbessert das Gewachsene nicht. Shaftesbury findet die Vorstellung abwegig, dass ein Rasen oder ein gestutzter Busch schöner sein könne als eine alte Eiche oder Zeder. Im Sinne dieses Natürlichkeitsideals missbilligt er auch die steife Kleidung der Barockzeit, welche die natürliche Bewegung des menschlichen Körpers hemmt. Anschauungsmaterial für die Überlegenheit des unverfälscht Natürlichen findet er auch im Gegensatz zwischen freilebenden und zahmen Tieren. Anders als Aristoteles sieht er in der Zähmung keine Verbesserung, sondern Degeneration. Der Unterschied zwischen dem geläufigen Schönheitsbegriff und dem von Shaftesbury vertretenen zeigt sich in seiner Einschätzung der wilden Natur besonders deutlich. Die übliche Bewertung mancher Pflanzen oder Insekten als abscheulich beruht nach seiner Auffassung auf einer oberflächlichen Wahrnehmung, die nicht über Äußerliches hinausreicht. Diese Unzulänglichkeit der Betrachtung soll überwunden werden, indem man von den hässlich erscheinenden Körpern zum inneren Gestaltungsprinzip durchdringt. Aber auch beim schön Wirkenden soll man sich nicht mit dem oberflächlichen Eindruck begnügen. Obwohl die Proportionen der „lebenden Architektur“, die sich dem Auge darbieten, herrlich sind, können sie einen anspruchsvolleren Betrachter nicht auf Dauer befriedigen. Das vermögen nur die Kräfte, die das Geformte gestaltet haben, und diese erweisen sich dem Erkennenden immer als einheitlich, harmonisch und schön. Trotz der Bevorzugung der wilden Natur bejaht Shaftesbury die Gartenkunst, die der Pflanzenwelt vom Menschen festgelegte Strukturen auferlegt, und gibt dafür Regeln an. Die Gartenkunst soll die wilde Natur nicht imitieren; vielmehr soll sie sich in dem ihr angemessenen Rahmen an den Prinzipien orientieren, die der Naturschönheit zugrunde liegen. Zusammenschau Die Einheit von Ethik und Ästhetik Durch das Konzept des moralischen Sinnes wird das Gute bei Shaftesbury gleichsam zum Gegenstand einer Sinneswahrnehmung. Darin zeigt sich die enge Verwandtschaft von Ethik und Ästhetik, denn das Gute zeichnet sich ebenso wie das Schöne dadurch aus, dass es intuitiv erfasst wird und affektiv bewegt, indem es den Betrachter berührt und hinreißt. Gemäß dieser Analogie kann man von „moralischer Schönheit und Hässlichkeit“ sprechen. Das Merkmal, das Ethik, Kunst und Natur verbindet, ist das, was in allen drei Bereichen bewundert wird und die Vollendung ausmacht: die Ordnung der Teile, ihr Einklang und ihre stimmige Verbindung zu einem Ganzen. Was auf ethischem Gebiet das Zusammenwirken der einzelnen Systeme – vom Privatsystem eines Individuums bis zum Kosmos – unter dem Gesichtspunkt des für alle Zuträglichen ist, das ist in der Kunst und in der Natur das angemessene und damit schöne Verhältnis der Elemente eines Objekts zueinander und die Art ihrer Zusammenfügung, die bewirkt, dass aus ihnen eine Einheit entsteht. Die Gemeinsamkeit von Natur, Kunst und Sittlichkeit ergibt sich daraus, dass sie denselben Ursprung haben: die göttliche Quelle aller Vorzüglichkeit. Aus ihrer Verwandtschaft folgt jedoch nicht, dass sie aufeinander zurückgeführt werden können. Sie sind einander ähnlich, aber von je eigener Beschaffenheit. Das moralische Urteil ist für Shaftesbury nicht – wie eine verbreitete, seinen Gedanken verkennende Deutung behauptet – ein Spezialfall des ästhetischen, und die Ethik ist kein Naturprodukt. Vielmehr sind die drei Bereiche eigenständige, zusammenpassende Bestandteile des einheitlich geordneten Universums. Sie weisen ihre je besondere Einheit auf und sind zugleich harmonisch zusammengefügte Elemente der alles übergreifenden Einheit der Welt. Kunst und Moral bringen aus Freiheit das hervor, was in der Natur bereits gegeben ist. Die Einheit von moralischer Bildung und künstlerischem Schöpfertum reicht aber noch tiefer. Sie beschränkt sich nicht auf die Gleichartigkeit des bewusst gestaltenden Umgangs mit dem, was jeweils erzeugt werden soll. Vielmehr sind Kunst und Ethik auch hinsichtlich des Ziels aufeinander bezogen. Dieses ist für den Menschen letztlich nur eines: das Gelingen seines Lebens als freies Individuum und als mitwirkender Teil der übergeordneten Gemeinschaften, in die er eingebettet ist. Daher bezweckt auch die Kunst einschließlich der Belletristik im Grunde nichts anderes als die naturgemäße Ordnung und Kultivierung der Gemütsbewegungen und damit die Verwirklichung der richtigen Haltung. So gesehen ist sie mit der Ethik untrennbar verbunden. Sie soll „die der menschlichen Seele eigentümlichen Schönheiten mittels angemessener Szenerien und Gegensätze darstellen“. Es kann jedoch nicht die Aufgabe eines literarischen Werks oder Kunstwerks sein, den Leser unmittelbar über ethische Forderungen zu belehren. Die schönen Künste dürfen keine Regeln und Vorschriften geben; vielmehr haben sie sich auf reine, getreue Darstellung des Wirklichen zu beschränken. Doch gerade wenn sie diese Aufgabe gut erfüllen, tragen sie wesentlich dazu bei, dass der Betrachter die Welt und seine Rolle in ihr richtig aufzufassen lernt. Damit ergänzen sie die belehrende Wirkung der Naturbetrachtung. Das stellt sich für Shaftesbury so dar: Indem bildende Kunst und Dichtung eine Erfahrung von Schönem ermöglichen, stimulieren sie den Sinn für Ästhetik. Wird dieser Sinn durch die Betrachtung von Kunst und Natur angeregt, so hat das für den denkenden Menschen Folgen: Wer sich der Schönheit einzelner Dinge und Strukturen zuwendet, ist zur Reflexion darüber berufen. Das ästhetische Erleben von Einzelnem regt zur Beschäftigung mit der universellen Schönheit der Welt an. Man gelangt zur gedanklichen Betrachtung des Schönen in der Gesamtheit der Natur, in der nichts wertlos, leer oder überflüssig ist. Einzeldinge können nicht durch sich selbst gut und schön sein, sondern nur als Bestandteile einer guten und schönen Welt; das Ganze kann nicht weniger vollkommen sein als seine Teile. Mit solcher Einsicht gewinnt man einen Zugang zum Verständnis des universalen Systems und kann es würdigen. Dann tritt dem Betrachter auch die Präsenz des allgemeinen Prinzips des Guten und Schönen in der Menschenwelt und in seiner eigenen Seele vor Augen. So wird er befähigt, sich als moralisches Wesen in einer moralischen Welt zu erkennen und eine entsprechende Haltung einzunehmen. Außerdem besteht eine Gemeinsamkeit von Ethik und Ästhetik darin, dass der Kunstgeschmack ebenso wie der moral taste nur durch Einüben der autonomen, unbeirrbaren Urteilskraft des Individuums ausgebildet wird. Man muss sich dabei von kollektiven Vorurteilen emanzipieren, was mit beträchtlicher Anstrengung verbunden ist. Es kommt darauf an, dass der Übende seine authentischen Neigungen gegen den beständigen Widerstand verführerischer Kräfte wie Gewohnheit und Mode entwickelt. Man darf sich nicht von fragwürdigen Mehrheitsmeinungen beirren lassen. Die Ausformung des moralischen ebenso wie des ästhetischen Geschmacks erfordert eine konsequente Absage an die Anpassungsbereitschaft des Menschen. Schädliche Konstrukte wie public taste (Publikumsgeschmack) und universal judgment (Urteil der Allgemeinheit) sind zu verwerfen. Der ästhetische Geschmack ist somit wie der moralische eine Errungenschaft des freien Individuums, das sich vom Kollektiv abgrenzt. Er ist aber nicht Ausdruck von persönlichen Vorlieben, sondern Erfassung des objektiven Werts, der einem Objekt aufgrund seiner Schönheit zukommt. Einsichtig wird die Einheit von Ethik und Ästhetik – von äußerer und innerer Schönheit – nur für den, der beide Bereiche erkundet. Dem reinen Fachphilosophen, der sich spekulativ um das Verständnis der Weltzusammenhänge bemüht, steht der reine Ästhet gegenüber, der zwar hochgebildet ist, aber nur den Genuss der schönen Sinnesobjekte kennt. Ein kultivierter Liebhaber des Schönen – ein virtuoso, wie ihn Shaftesbury nennt – verfehlt durch seine Einseitigkeit das Lebensziel, wenn er nicht zum Philosophen wird. Ihm bleibt die höhere Schönheit, die in der Tugend liegt, verborgen. Ebenso verirrt sich der Philosoph, der seine ästhetische Geschmacksbildung vernachlässigt, in unfruchtbarer Spekulation. Ihm wird die innere Stimmigkeit seiner Theorie wichtiger als die Sache selbst. Nur durch die Verbindung von ästhetischem Geschmack und philosophischer Reflexion werden beide Einseitigkeiten vermieden. Freiheit als übergreifendes Prinzip des Erschaffens und Gedeihens Ein übergeordnetes Element, das die verschiedenen Stränge von Shaftesburys Denken miteinander verknüpft, ist das Prinzip der Freiheit, der Dreh- und Angelpunkt seines Gesamtwerks. Es geht um eine Grundidee, die sowohl äußere, politische Freiheit im Sinne von Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Gedankenfreiheit als auch innere Freiheit im Sinne des aufklärerischen Vernunft- und Autonomieideals beinhaltet. Diese beiden Aspekte bedingen einander. Shaftesbury beschreibt den Menschen als das Wesen, das im Gegensatz zu den Tieren von der Natur gleichsam „freigelassen“ und zur Selbstgestaltung seiner eigenen Verfügung überlassen wurde. Die Freiheit, über die der Mensch als Vernunftwesen verfügt, ermöglicht seine Schöpfungen. Sie befähigt ihn, in der Kunst und in der Sittlichkeit eine Einheit zusammenstimmender Elemente zu erschaffen, die der Vereinigung des Vielen zu einem harmonischen Ganzen in den schönen Erzeugnissen der Natur entspricht. Das gilt sowohl für hochwertige literarische und künstlerische Werke als auch für die Früchte der ethischen Bemühungen: die edle Bildung des eigenen Charakters, das gelungene Leben, das dank guter Ordnung gedeihende Gemeinwesen. Der Mensch kann also bewusst aus eigener Kraft Produkte hervorbringen, die hinsichtlich ihrer Gelungenheit den bewundernswerten Leistungen der Natur vergleichbar sind. Dadurch erlangt er, wenn er in Freiheit schöpferisch tätig ist, im Gefüge der Welt eine gottähnliche Stellung. Shaftesbury veranschaulicht diesen hohen Rang des autonom erschaffenden Menschen anhand des antiken Mythos von Prometheus. Nach einer mythischen Überlieferung war der Titan Prometheus als Feuerbringer und Lehrmeister der Urheber der menschlichen Zivilisation. Indem er die Welt der Menschen gestaltete, entfaltete er eine Tätigkeit, mit der er dem Walten der höchsten Gottheit, des Göttervaters Jupiter, nacheiferte. Von solcher Art ist nach Shaftesburys Worten der Dichter, der wie ein Gott seine Schöpfungen hervorbringt. Er ist „in der Tat ein zweiter Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter. Wie jener unumschränkte, höchste Künstler oder jene universale bildende Natur schafft er ein in sich stimmiges, wohlausgewogenes Ganzes, wobei er die konstituierenden Teile dem Ganzen in rechter Weise unterwirft und unterordnet.“ Auch auf der kollektiven Ebene zeigt sich für den Aufklärer die grundlegende Bedeutung der Freiheit. Sie ergibt sich aus den Grundaussagen seiner Anthropologie: Als Gemeinschaftswesen kann der Mensch die Autonomie, zu der er veranlagt ist, nur dann ungestört verwirklichen, wenn die übergeordneten Systeme, denen er angehört, frei sind und damit ein freier öffentlicher Diskurs möglich ist. Politische Unfreiheit korrumpiert nach Shaftesburys kulturhistorischer Bilanz nicht nur die individuelle Moral, sondern behindert auch die Entfaltung von großer Kunst. Dieser doppelte Effekt demonstriert die Verwobenheit von moralischer Haltung und ästhetischem Schaffen, die hier unter dem Gesichtspunkt des Freiheitsprinzips sichtbar wird. Die moralische Qualität einer geschichtlichen Epoche spiegelt sich in ihrer Kunst. Die Freiheit der griechischen Stadtstaaten hat die Blüte der antiken griechischen Kunst ermöglicht, und ebenso hängen die Leistungen der Renaissancekunst ursächlich mit der Freiheit der italienischen Republiken, die Kulturzentren waren, zusammen. Unfreiheit verhindert nicht nur gute Kunst, sondern erzeugt auch schlechte. Die pauschal abwertend als „gotisch“ bezeichnete Kunst des Mittelalters und ihre Nachwirkungen in der Frühen Neuzeit hält Shaftesbury wie schon Giorgio Vasari für barbarisch. Über Vasaris Kritik hinausgehend sieht er in der „Gotik“ das Produkt einer abergläubischen und unterdrückerischen Mentalität, ein vom Papsttum gesteuertes, katholischer Propaganda dienendes Instrument. Eine solche Grundhaltung meint er auch bei neuzeitlichen Künstlern ausmachen zu können, insbesondere bei Gian Lorenzo Bernini, dessen Werke er als Musterbeispiele einer ästhetisch und moralisch minderwertigen und schädlichen Kunst anprangert. In diesen Zusammenhang gehört auch die Stoßrichtung von Shaftesburys politischem Engagement. Seine Grundhaltung äußert sich in scharfer Gegnerschaft zur katholischen Forderung nach Glaubensgehorsam, die er als Tyrannei anprangert, und zum monarchischen Absolutismus, den unter den Zeitgenossen in erster Linie König Ludwig XIV. verkörpert. Der politische Kampf des englischen Aufklärers gegen diesen Herrscher ist in erster Linie durch sein Freiheitsbedürfnis motiviert, nicht durch eine nationalistische Frontstellung gegen Frankreich. Auch im eigenen Land widersetzt er sich einer Übermacht der Monarchie. Ebenso wie das französische Expansionsstreben kritisiert er den Glauben an eine historische Mission Englands als dominierende Weltmacht. Schon die Idee der Parteidisziplin bei Parlamentsabstimmungen ist mit seinem Freiheitsverständnis unvereinbar. Ebenso widerstrebt ihm die normsetzende Rolle des Königshofs in der Gesellschaft. So erweist sich die Idee der Autonomie auf allen Ebenen seiner Theorie und Praxis als Leitmotiv. Im Sinne seines Einheitsdenkens betrachtet sich Shaftesbury als Weltbürger und plädiert für eine kosmopolitische Grundhaltung. Politisch wünscht er jedoch keine Schaffung übergreifender, zentral gelenkter Einheiten, sondern eine multipolare Welt aus souveränen Nationalstaaten. Hier kommt sein Freiheitsbewusstsein ins Spiel, das ihn zur Kritik am Imperialismus bewegt. Große imperiale Staatsgebilde hält Shaftesbury für in vieler Hinsicht unnatürlich. Die Hauptgefahr besteht nach seiner Analyse darin, dass in zu ausgedehnten und heterogenen Staaten der innere Zusammenhalt abhandenkommt und der Gemeinsinn schwindet. In Imperien ist Zentralisierung unvermeidlich, die Distanz zwischen der Hauptstadt und den einzelnen Reichsteilen wirkt sich fatal aus. Durch die Konzentration der Macht über ein sehr ausgedehntes Territorium in wenigen Händen wird die natürliche Grundlage der Verbindung zwischen Regierung und Volk zerstört. Dies wiederum fördert die Tendenz zum Absolutismus und zur Tyrannei. Dem unförmig gewordenen Machtgebilde bringen die Einwohner nicht mehr die Loyalität entgegen, die ein gesunder Staat von seinen Bürgern erwarten kann. Solche übergroße Staaten sind innerlich schwach und nach außen aggressiv. Das hat Bürgerkriege und Eroberungskriege zur Folge. Im Inneren tritt Zwang an die Stelle freiwilliger Mitwirkung der Bürger am Gemeinwesen. Auch für den nationalen Diskurs ist das Freiheits- und Autonomiekonzept des Aufklärers maßgeblich. Er kritisiert einen „Patriotismus des Bodens“, ein auf das eigene Land bezogenes Nationalbewusstsein, und vergleicht drastisch den Patrioten auf seinem Boden mit einem Pilz, der auf einem Misthaufen gedeiht. Das gemeinsame Bewohnen eines Territoriums schafft keine Gemeinschaft. Ebenso wenig fasst Shaftesbury die Nation als Abstammungsgemeinschaft auf. Vielmehr bestimmt er eine freiwillige Übereinstimmung, die auf gemeinsamen Werten beruht, als Grundlage der Einheit eines Volkes. Damit nimmt er die Grundidee des später so genannten Verfassungspatriotismus vorweg. Kulturpolitische Folgerungen Seinen allgemeinen Grundsätzen gemäß beurteilt Shaftesbury die soziale, politische und kulturelle Situation Großbritanniens nach der Glorious Revolution und die Zukunft des Landes optimistisch. Die erlangte politische Freiheit werde eine kulturelle Blütezeit zur Folge haben, insbesondere in der Musik und Malerei. Auch für die Wissenschaften sei ein Aufschwung zu erwarten. Für besonders wichtig hält der Aufklärungsdenker die Symbolkraft der urbanistischen Weichenstellungen. Nach seinem Urbanistikverständnis ist die Architektur ein bedeutsamer Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, und die Kunstpolitik im Bereich des öffentlichen Bauens hat die Erfordernisse der Zeit zu berücksichtigen. Daher ist der von den Tories geplante Bau von fünfzig neuen Kirchen im Londoner Stadtraum abzulehnen. Das Hervortreten von Kirchtürmen im Stadtpanorama ist eine Demonstration der Macht der anglikanischen Staatskirche und zeigt die Unterwürfigkeit der Londoner gegenüber dieser Institution. Dies ist in einer Epoche der Befreiung vom Glaubenszwang nicht zeitgemäß. Shaftesbury kritisiert auch die Kunstpolitik des Hofes und speziell den Hofarchitekten Christopher Wren und dessen Plan der Stadtentwicklung. Seiner Ansicht zufolge darf man die Gestaltung bedeutender öffentlicher Bauten nicht der Willkür einzelner Entscheidungsträger überlassen. Der Stadtraum ist ein Raum der Öffentlichkeit, die daher in ihrer Gesamtheit in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden muss. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Freiheit im kulturellen Bereich. Shaftesbury beklagt, dass die höfische Kultur durch Prunk, Schwulst und Ausschweifung den Kunstgeschmack verderbe und insbesondere in einem absolutistischen Staat zum Niedergang der Kunst und des ästhetischen Urteilsvermögens führe. Diese These untermauert er mit ausführlicher Kritik an den kulturellen Verhältnissen im Frankreich Ludwigs XIV. Der Einfluss des dekadenten Königshofes wirke sich auf dem Gebiet der Malerei in der Neigung zu schwülstigem Kolorit mit affektierter Gestik der Figuren und theatralischer Handlung aus. So sei die Malerei von Charles Le Brun ruiniert worden. Lob verdiene hingegen Nicolas Poussin, der sich dem Druck des Hofes widersetzt habe. Generell wendet sich Shaftesbury gegen den Einfluss mächtiger staatlicher und kirchlicher Auftraggeber, der die Kunst in den Dienst bestehender Machtverhältnisse stelle und damit herabwürdige. Dies sehe man am Beispiel Raffaels, der zwar ein großartiger Meister sei, aber sich in manchen Fällen den Vorstellungen seiner kirchlichen Auftraggeber gebeugt habe; darunter habe die Qualität der so entstandenen Gemälde sehr gelitten. Auch in diesem Bereich verknüpft Shaftesbury Moral und Ästhetik: Er bezeichnet Poussin und Salvator Rosa als „moralische Künstler“, die ihre Unabhängigkeit zu wahren wussten. Shaftesburys Misstrauen gegenüber staatlicher Kunstpolitik ist so tief, dass er sogar die Idee der Gründung einer staatlichen Akademie der Künste in England problematisch findet. Da er eine Bevormundung und Instrumentalisierung der Kunst befürchtet, hält er es nicht für wünschenswert, dass die Förderung der Künste vom Hof ausgeht; diese Aufgabe soll vielmehr von der Whig-Aristokratie übernommen werden. Rezeption Zeitalter der Aufklärung Im 18. Jahrhundert wurden Shaftesburys Gedanken sowohl in Großbritannien als auch auf dem Kontinent breit rezipiert. Starken Widerhall fanden sowohl die Ästhetik und Kunsttheorie als auch das Autonomiekonzept, das in der Religions- und Kirchenkritik und in der Polemik gegen unbeschränkte monarchische Macht konkreten Ausdruck fand. Mit der philosophischen Fundierung des ästhetischen Enthusiasmus und der Geschmackslehre setzte Shaftesbury Impulse, die für die Ästhetik der Aufklärungsepoche wegweisend wurden. Der Publikumsgeschmack in Malerei, Architektur und Gartenkunst zeigte den anhaltenden Einfluss seiner Grundsätze. Als vorbildlich galt seine lebensnahe, gesprächsorientierte Darstellung philosophischer Ideen. Stark umstritten war Shaftesburys These, der aufgeklärte Mensch könne sich sein religiöses Gottes- und Weltbild mittels seiner eigenen Weltwahrnehmung und Vernunft erschaffen und sei somit nicht auf eine göttliche Offenbarung angewiesen. Die Behauptung, der Offenbarungsglaube sei für die Religion unnötig, galt als Merkmal einer Strömung, die man in den kontroversen religiösen und philosophischen Debatten der Aufklärungszeit als Deismus zu bezeichnen pflegte. Daher wurde Shaftesbury von seinen Gegnern zu den Deisten gezählt. Diese Einordnung war allerdings schon im 18. Jahrhundert umstritten. Sie ist problematisch, weil es für den Begriff Deismus unterschiedliche Definitionen gibt und die sogenannten Deisten stark divergierende Meinungen vertraten. Großbritannien In Großbritannien stießen die Ideen des Frühaufklärers bei „Freidenkern“ wie Anthony Collins und bei liberalen Theologen auf ein starkes Echo und breite Zustimmung, während hofnahe Kreise sie ablehnten oder nicht beachteten. Seine Werke erschienen in zahlreichen Auflagen, und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörten die Grundzüge seines Denkens bereits zum allgemeinen Bildungsgut. Trotz der kirchenfeindlichen Äußerungen war die Aufnahme im christlichen Milieu teils wohlwollend; manche Christen, denen die Offenbarungs- und Kirchenkritik missfiel, schätzten einen Teil des moralphilosophischen Gedankenguts. Die Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times waren außerordentlich populär; nach der Einschätzung des Dichters Alexander Pope (1688–1744) fügten sie dem Offenbarungsglauben in England größeren Schaden zu als alle anderen religionskritischen Werke zusammen. Das Ideal der politeness wirkte sich besonders auf die sozialen Vorstellungen der schottischen Aufklärung aus. Oliver Goldsmith stellte 1759 fest, Shaftesbury habe in Großbritannien mehr Nachahmer als jeder andere Schriftsteller. Alexander Pope, die schottischen Aufklärer Francis Hutcheson (1694–1746), George Turnbull (1698–1748) und David Fordyce (1711–1751) sowie der Politiker und Gelehrte James Harris (1709–1780) griffen Shaftesburys Ideen auf und trugen zu ihrer Verbreitung bei. Pope entwarf in seinem 1732–1734 anonym veröffentlichten Lehrgedicht An Essay on Man ein von The Moralists beeinflusstes Bild von der menschlichen Natur und der Stellung des Menschen im Kosmos. Hutcheson übernahm das Konzept des moral sense, den er ebenso wie den Schönheitssinn der unveränderlichen Natur des Menschen zuwies, verwarf aber als Christ die Religionskritik, die er auf persönliche Vorurteile des Lords gegen das Christentum zurückführte. Die Dichter James Thomson (1700–1748), Mark Akenside (1721–1770) und William Shenstone (1714–1763) verwerteten ebenfalls Gedanken Shaftesburys, und der Staatsmann und Truppenbefehlshaber James Stanhope (1673–1721) nahm seine Tugend- und Geschmacksgrundsätze mit Begeisterung auf. Auch der anglikanische Theologe und Philosoph Joseph Butler (1692–1752) war stark von der Anthropologie des Frühaufklärers beeinflusst, von dessen Überlegungen zu den natürlichen Systemen und zur Struktur des Gemüts er sich inspirieren ließ. Allerdings erwähnte er ihn selten und nur, um seine Position zu kritisieren. Bei manchen Freidenkern erregte Shaftesburys Weltbild Anstoß. Ein profilierter Gegner seiner Moralphilosophie in diesem Lager war sein gleichaltriger Zeitgenosse Bernard Mandeville, der mit seiner provozierenden Satire Die Bienenfabel Aufsehen erregte. Mandeville befand, die Gedanken des Lords stellten zwar ein großes Kompliment an die Menschheit dar, seien aber leider falsch. Moralische Urteile seien nichts als zeitbedingte Gewohnheiten. Die Tugendhaftigkeit basiere keineswegs auf einer angeborenen Anlage zum Guten, sondern sei anerzogen. Sie widerspreche der tierischen Veranlagung des Menschen, sei eine abgewandelte Form des Eigennutzes und liege überdies gar nicht im Interesse des Gemeinwesens, dessen Prosperität sie vielmehr hemme. Mandevilles Angriff richtete sich sowohl gegen das Christentum als auch gegen die natürliche Religion und die Vorstellung einer objektiven Moral. Mit seinem konsequenten Naturalismus und seiner Fundamentalkritik am optimistischen Menschenbild und an den philosophischen Tugendlehren erregte er heftigen Widerspruch. Eine anhaltende Debatte über die gegensätzlichen Modelle Mandevilles und Shaftesburys wurde sowohl in Großbritannien als auch auf dem Kontinent und in den amerikanischen Kolonien geführt. Dabei trat Francis Hutcheson als Verteidiger von Shaftesburys Moralphilosophie hervor. Kritisch äußerte sich auch der freidenkerische Philosoph David Hume. Er entnahm zwar Shaftesburys Ethik und Ästhetik Anregungen, lehnte aber seine religiösen Ideen ab. Für unbegründet hielt er die Hypothese eines durch göttliches Wirken zweckmäßig strukturierten kosmischen Systems und die Einordnung des Menschen in einen solchen Zusammenhang. Dieses Weltbild betrachtete er als Frucht eines unangebrachten Enthusiasmus. Kontrovers diskutiert wurde die Bedeutung von Vernunft und Gefühl in der Ethik. Hutcheson griff die Idee des moralischen Sinnes zwar auf, wandelte sie aber beträchtlich ab. Er meinte, für die Tugend komme die entscheidende Rolle dem moral sense und den Gemütsbewegungen und nicht der Vernunft zu. Mit seiner Abwertung der Vernunft veränderte er das ursprüngliche Konzept und gab den folgenden Debatten eine neue Ausrichtung. Das hatte zur Folge, dass Shaftesburys Tugendlehre später oft im Licht von Hutchesons gefühlsethischer Interpretation aufgefasst und damit verzerrt wurde. Viel Beachtung fand im 18. Jahrhundert die Idee einer kritischen Beleuchtung zweifelhafter Ansprüche mittels Humor. Dabei wurde der Vorschlag des Lords, Anmaßung durch das Aufzeigen ihrer Lächerlichkeit zu entlarven, vergröbert und sein Anliegen verfälscht: Man machte aus der scherzhaften Prüfung, ob etwas lächerlich und somit fragwürdig ist, einen „Wahrheitstest“ und unterstellte Shaftesbury die Behauptung, auf diesem Weg lasse sich der Wahrheitsgehalt einer Aussage ermitteln. Darüber wurde gestritten, doch in Wirklichkeit stammt die These in dieser Form nicht von Shaftesbury. In den anhaltenden heftigen religiösen Kontroversen des 18. Jahrhunderts wurde neben anderen freidenkerischen Aufklärern auch Shaftesbury zum Ziel von Angriffen. Der anglikanische Philosoph George Berkeley veröffentlichte 1732 die Alciphron-Dialoge, in denen er den christlichen Glauben sowohl gegen Mandeville als auch gegen Shaftesbury verteidigte. Er griff Shaftesbury mit der Waffe der Ironie an, wobei er die gegnerische Position teils unrichtig wiedergab. Ironisch äußerte sich auch der Calvinist John Witherspoon. Die christlichen Publizisten, die das Konzept der natürlichen Religion bekämpften, urteilten größtenteils aus der Perspektive der anglikanischen Kirche. Mit der kirchlichen Position verband sich politische Gegnerschaft zu den Whigs. In diesen Kreisen verübelte man Shaftesbury besonders seine Empfehlung im Brief über den Enthusiasmus, Glaubensfragen mit Humor zu behandeln. Schon im Erscheinungsjahr des Briefs wurden drei Gegenschriften veröffentlicht. Die anglikanische Schriftstellerin Mary Astell, die mit einem Pamphlet auf den Brief über den Enthusiasmus reagierte, wandte sich vehement gegen den humorvollen Umgang mit religiösen Aussagen. Sie sah darin einen Angriff auf die Religion, den sie mit Ironie abzuwehren versuchte. Fundamentalistische christliche Autoren widersetzten sich den Bestrebungen von Shaftesburys Anhängern, die natürliche Religion als mit dem christlichen Glauben vereinbar darzustellen. Ihnen missfiel vor allem das Eindringen seiner Ideen in das Bildungswesen. Kritische Stellungnahmen zu den Characteristicks publizierten u. a. John Balguy, William Warburton, John Brown und John Leland. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war das Interesse des britischen Lesepublikums an dem lange bewunderten und nachgeahmten Autor deutlich geringer als zuvor, es wurden weniger Neuauflagen seiner Werke herausgebracht. Sein Stil entsprach nicht mehr dem Publikumsgeschmack und wurde von der Literaturkritik ungünstig beurteilt. Frankreich Der Brief über den Enthusiasmus und Sensus Communis wurden schon zu Lebzeiten des Verfassers ins Französische übersetzt. Auf hugenottischer Seite fand sein Eintreten für religiöse Toleranz Beifall. Andererseits stieß seine unsystematische Vorgehensweise, die französischen Gepflogenheiten widersprach, in Frankreich auf Unverständnis. Hohe Wertschätzung fand Shaftesburys Stil bei dem Aufklärer Montesquieu, der ihn zu den vier überragenden Autoren der Weltliteratur zählte. Montesquieu verwertete Ideen Shaftesburys für seine Lettres persanes, die 1721 erschienen. Denis Diderot veröffentlichte 1745 anonym den Essai sur le mérite et la vertu, eine freie Übersetzung der Inquiry concerning Virtue mit Kommentar. Er meinte, Shaftesbury habe Werke voll erhabener Wahrheiten geschaffen, und sein Stil sei brillant. Allerdings fehle eine befriedigende Begründung für seine Thesen. Voltaire würdigte Shaftesbury als kühnen Denker. Er schätzte die Kritik des Engländers am Christentum, widersprach aber seinem optimistischen Weltbild, das er für gänzlich verfehlt hielt. Aus anderer Perspektive urteilte der rigorose Atheist Claude Adrien Helvétius. Er übte scharfe Kritik an Shaftesburys Argumentation für eine natürliche Religion. Für Helvétius stellte der Versuch, aus Vernunfterwägungen eine religiöse Weltdeutung abzuleiten, den Höhepunkt der Absurdität dar. Deutscher Sprachraum Im deutschen Sprachraum fand das Gedankengut des Engländers ab den 1740er Jahren ein besonders starkes und nachhaltiges Echo. Bis um 1800 kannten fast alle bedeutenden deutschsprachigen Schriftsteller, Philosophen und Theologen sein Werk, und meist zählten sie ihn zu den großen Denkern und Anregern. Gottfried Wilhelm Leibniz war der erste prominente deutsche Leser Shaftesburys. Er entdeckte in dem englischen Aufklärer mit großer Freude einen Gleichgesinnten. Leibniz las die Characteristicks schon bald nach ihrem Erscheinen und vermerkte dazu im Jahr 1712, er habe darin fast den ganzen Gehalt seiner Theodizee vorgefunden. Mit Begeisterung äußerte sich Leibniz über Stil und Inhalt des Dialogs The Moralists, dessen optimistischer Idealismus seiner eigenen Grundüberzeugung entsprach. Allerdings erhob er Einwände gegen den Vorschlag, abwegige Ideen lächerlich zu machen. Auf literarischem Gebiet fand Shaftesbury den Beifall von Johann Christoph Gottsched. Dieser sehr einflussreiche Theoretiker teilte die Überzeugung des Engländers von der Objektivität des Schönen und stimmte seiner Forderung zu, dass das Phantastische in der Poesie zu meiden sei und der Dichter sich am reinen Vorbild der Natur orientieren solle. Um die Positionierung des Kritikers als literarische, moralische und philosophische Schiedsinstanz zu untermauern, machte sich Gottsched einschlägige Ausführungen im Soliloquy zunutze. Bei der Begründung seiner Überzeugung, dass die Dichtkunst Regeln unterliegen müsse und nicht willkürlichen Geschmacksurteilen nach persönlichen Vorlieben zu überlassen sei, berief sich Gottsched auf den „tiefsinnigen Grafen von Schaftesbury“. Um die Jahrhundertmitte betätigte sich in Berlin ein Kreis von Literaten, die Shaftesbury bewunderten. Ihre Aktivitäten bildeten einen Höhepunkt der deutschen Shaftesbury-Rezeption. Eine Pionierleistung vollbrachte der Theologe Johann Joachim Spalding, der zwei Schriften des englischen Denkers ins Deutsche übersetzte und in dem Berliner Verlag des Aufklärers Ambrosius Haude herausbrachte: 1745 erschien dort Die Sitten-Lehrer, die deutsche Fassung von The Moralists, und zwei Jahre später folgte die Untersuchung über die Tugend, die Übertragung der Inquiry concerning Virtue, or Merit. Schon 1738 hatte Georg Venzky seine Übersetzung des Soliloquy publiziert. Damit wurde im deutschsprachigen Raum die Sprachbarriere überwunden und eine breite Rezeption ermöglicht. In den Einleitungen zu seinen Übersetzungen verteidigte Spalding das Konzept der natürlichen Religion. Überdies veröffentlichte er 1748 seine Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, ein in Anlehnung an das Soliloquy konzipiertes Selbstgespräch. Ebenfalls von Shaftesburys Gedankengut durchdrungen waren die Unterredungen über die Schönheit der Natur, eine Schrift, die der in Berlin tätige Schweizer Aufklärer Johann Georg Sulzer, ein Freund Spaldings, 1750 im Verlag des inzwischen verstorbenen Haude drucken ließ. Dort erschien auch die Zeitschrift Critische Nachrichten, in der Sulzer, der ein Mitgründer des Blattes war, für den englischen Philosophen warb. Die Berliner Begeisterung strahlte auch in die Schweiz aus: Der Zürcher Gelehrte Johann Jakob Bodmer, der mit Sulzer befreundet war, und der ebenfalls in Zürich wirkende Theologe Johann Georg Schulthess begannen sich mit Shaftesburys Ideen auseinanderzusetzen. Der Moralphilosoph und Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert verwertete die Moral-Sense-Theorie für sein Konzept einer Bildungselite, der die Aufgabe zufalle, als Avantgarde des moralischen Fortschritts die Ausbildung eines allgemeinen ästhetischen und moralischen Geschmacks voranzutreiben. Außergewöhnliche Geistes- und Seelengröße sei die Frucht der Kultivierung des moralischen Empfindens, das Gellert mit dem ästhetischen gleichsetzte. Das von den Critischen Nachrichten popularisierte Bild von Shaftesburys Gedankenwelt prägte auch die Rezeption in der zweiten Generation seiner Berliner Leser, die nach der Jahrhundertmitte hervortrat. Zu ihr gehörten der junge Gotthold Ephraim Lessing, der an den Critischen Nachrichten mitarbeitete, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai. Diese Autoren rückten die kunsttheoretischen und ästhetischen Aspekte gegenüber den zuvor dominierenden moralischen stärker ins Blickfeld. Gemeinsam redigierten die drei Aufklärer die Zeitschrift Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Dort publizierten sie 1757 eine wohl von Nicolai stammende Übersetzung der kunstphilosophischen Abhandlung Shaftesburys über das Urteil des Herkules. In seiner Einleitung zu dieser Veröffentlichung polemisierte Nicolai gegen eine ältere, in Gottscheds Umfeld entstandene und von ihm veröffentlichte Übersetzung des Werks, die von Fehlern entstellt sei. Zugleich wandte er sich gegen den Kunstbegriff des Leipziger Kreises um Gottsched, der die Malerei herabwürdige und Shaftesburys Anliegen verfälsche. Mendelssohns Verehrung für Shaftesbury zeigt sich in seinen frühen Arbeiten durchgehend. Sein Verhältnis zu dem Vorbild war von Bewunderung und spielerischer Konkurrenz bestimmt, einer Haltung, die er mit der Bemerkung ausdrückte, The Moralists gefalle ihm recht gut, „aber so etwas kann ich auch machen“. Mit seinen formal an die Moralists anknüpfenden, 1755 publizierten Briefen über die Empfindungen wollte Mendelssohn erproben, inwieweit die Einkleidung philosophischer Gedanken in eine ansprechende literarische Form für seine Zwecke tauglich war. Christoph Martin Wieland kam über Bodmer mit der Gedankenwelt Shaftesburys in Kontakt und beschäftigte sich dann lebenslang mit dem Frühaufklärer. Er zählte ihn neben Xenophon, Plutarch und Horaz zu den auserlesenen Schriftstellern. Wieland griff die Idee des moralischen Sinnes auf und teilte Shaftesburys Überzeugung, dass moralische und ästhetische Bewusstseinsinhalte nicht voneinander zu trennen seien. Gemäß dieser Sichtweise befand er, ein unterentwickelter Schönheitssinn sei ein Anzeichen für ein mangelhaft ausgebildetes moralisches Urteilsvermögen. Shaftesburys Theorie des moral sense war für Wieland die Grundlage seiner Forderung, dass die Schriftsteller als gebildete und tugendhafte Elite eine besondere Verantwortung zu übernehmen hätten. Ihnen falle die Aufgabe zu, als Volkserzieher den allgemeinen Geschmack zu prägen und damit den moralischen Zustand der gesamten Gesellschaft zu verbessern. Später distanzierte sich Wieland allerdings von dieser Position seiner Jugendzeit und beurteilte die Moral-Sense-Theorie wesentlich skeptischer. Goethe hob in seinem Nachruf auf Wieland dessen besondere Nähe zu Shaftesbury hervor: „An einem solchen Manne fand nun unser Wieland […] einen wahrhaften älteren Zwillingsbruder im Geiste, dem er vollkommen glich, ohne nach ihm gebildet zu sein.“ Zurückhaltender fiel jedoch Goethes eigenes Urteil über die Leistung des Briten aus. Er lobte ihn als trefflichen Denker, der aber das als richtig Erkannte nicht habe in die schöpferische Tat umsetzen können. Goethe meinte, Wieland habe als Schriftsteller und Dichter das verwirklicht, was sein „Zwillingsbruder“ gefordert hatte. Auf Johann Gottfried Herder machte Shaftesburys Bildungsidee einen tiefen Eindruck. Er bewunderte ihn als Verkörperung eines edlen Lebensideals und zitierte ihn oft. Im Jahr 1800 veröffentlichte er unter dem Titel Naturhymnus seine poetische Übersetzung einer Passage aus The Moralists, in der die Schöpfung verherrlicht wird. In zwei Nummern seiner Zeitschrift Adrastea empfahl er dem Publikum einige Grundgedanken des Lords. Bei der Behandlung der Tugendlehre betonte er die Einheit des moralischen Gefühls mit der Vernunft. Außerdem ging er auf wit and humour – in seiner Übersetzung Geist und Frohsinn – ein. Er befand, diese Qualitäten seien in dem von Shaftesbury gemeinten Sinn zu begreifen; dann seien sie „Würze und Blüthe des Lebens“ und für die Bildung unentbehrlich. Das Interesse Immanuel Kants galt hauptsächlich dem moralphilosophischen Werk. Seinem Verständnis zufolge kommt der moral sense der Tugend dadurch nahe, dass er sie um ihrer selbst willen schätzt und nicht um eines Vorteils willen. Nach diesem Gesichtspunkt urteilte Kant, unter den bisherigen Philosophen seien Shaftesbury, Hutcheson und Hume „in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit“ am weitesten gelangt, wenngleich ihre Versuche „unvollendet und mangelhaft“ seien. Shaftesbury sei jedoch zu tadeln, weil er der Lust und Unlust Relevanz für die Moralität zugesprochen habe. Darin sei er, wenngleich in weitem Abstand und nur bis zu einem bestimmten Punkt, der höchst verwerflichen Lehre Epikurs gefolgt. In Sinne der Stoßrichtung dieser Kritik äußerte sich auch Friedrich Schleiermacher. Er war zwar in religiöser Hinsicht von Shaftesburys Gedankengut beeinflusst, verwarf aber seine Ethik, die „englische Moral“. Diese reihte er unter die unannehmbaren „Systeme der Lust“ ein, in denen das Handeln nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Lustgewinn sei und die Tugend nur als Mittel zur Glückseligkeit gelte. Nicht die Handlung selbst, sondern die Beziehung auf das Handeln im Gefühl werde zum Maßstab des Sittlichen gemacht. Das moralische Urteil werde von der Handlung abgekoppelt, statt ihr als Bestimmungsgrund innezuwohnen. Scharf ablehnend nahmen die christlichen Kritiker Stellung, die den ganzen Ansatz Shaftesburys als glaubenswidrig verurteilten. Dass sein Weltbild den konventionellen Glauben gefährdete, wurde auch im aufklärerischen Milieu vermerkt; so nannte ihn Lessing ironisch den gefährlichsten Feind der Religion, weil er der feinste sei. Vehemente Kritik übten fundamentalistische Theologen wie Johann Lorenz Mosheim und Christoph Matthäus Pfaff. Sie verwarfen das Konzept der natürlichen Religion als einen deistischen Angriff auf die Glaubenswahrheit. In biblisch orientierten Kreisen wurde der Aufklärer als Feind der Offenbarung wahrgenommen und bekämpft. Der christliche Aufklärungskritiker Johann Georg Hamann befand, Shaftesbury habe für seinen Unglauben und Missglauben einen Schleier gewoben, den er, Hamann, sich nun borge. Mit dem Schleier meinte er die Ironie, die Shaftesbury als geeignetes Mittel zur Bloßstellung religiöser Schwärmerei empfohlen hatte. Diese Vorgehensweise bei der skeptischen Prüfung angeblicher Gewissheiten eignete sich Hamann an, um sich ihrer im Kampf gegen ihren Urheber zu bedienen. Moderne In der Moderne haben Shaftesburys Ideen in philosophischen Fachkreisen wenig Widerhall gefunden. Wegen seiner unsystematischen Vorgehensweise und seiner bewussten Distanz zum akademischen Betrieb wird er nicht als Fachphilosoph im strengen Sinne betrachtet, eher als philosophierender Schriftsteller. Starkes Interesse bringt ihm hingegen die kulturhistorische Forschung entgegen. Er wird als einer der bedeutendsten und wirkungsvollsten Moralisten des 18. Jahrhunderts gewürdigt. Philosophische Stellungnahmen Der britische Philosoph William Whewell (1794–1866) plädierte in seiner Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus für eine aus Prinzipien begründete Moral, wobei er das Konzept des moral sense mit Berufung auf dessen Urheber aufgriff. Wilhelm Dilthey (1833–1911) beschrieb und würdigte Shaftesburys Denkweise. Er charakterisierte den Standpunkt des Frühaufklärers als „panentheistischen Monismus“. Mit seiner Bejahung des Lebens, der Natur und der Welt habe der Lord das metaphysische Denken der Renaissance fortgesetzt und zu einer Weltformel gestaltet. Wie Giordano Bruno und Baruch de Spinoza habe Shaftesbury dieses Denken zu einem Höhepunkt geführt. Er habe die Vertiefung in sich selbst mit der Betrachtung des Universums verbunden und so einen Fortschritt über den bereits vorhandenen objektiven Idealismus hinaus erzielt, indem er „die Verwandtschaft des Vorganges von Gestaltung, in welchem der vollkommene Charakter entsteht, mit der gestaltenden Kraft der Natur selbst“ erfasst habe. Die Philosophie seiner Zeit sei ihm zwecklos erschienen, weil sie „für sein Lebenswerk, die Ausbildung seiner Seele, nichts beitragen konnte“. Ernst Cassirer (1874–1945) schätzte Shaftesbury sehr und untersuchte seine geistesgeschichtliche Bedeutung eingehend. Nach Cassirers Worten durchdringt sich im Werk des englischen Philosophen die reine Ideenphilosophie des neuzeitlichen Platonismus mit dem Gehalt des modernen Naturgefühls. Die daraus hervorgehende allgemeine Ansicht des Universums und des Lebens tritt in der rhapsodischen Form seiner Schriften in freiester künstlerischer Gestaltung und im Glanz eines neuen philosophischen Stils hervor. Shaftesbury war – so Cassirer – „der erste große Ästhetiker, den England hervorgebracht hat“, und ein Verfechter des Humors als „befreiende, lebenspendende und lebensgestaltende Potenz der Seele“. In der Ästhetik als Lehre vom Schönen sah er den Abschluss und die konkrete Erfüllung der Philosophie. Seiner Sichtweise zufolge wird die Wahrheit des Kosmos im Phänomen der Schönheit gewissermaßen zum Sprechen gebracht, und der Mensch erzeugt durch das Medium des Schönen den reinsten Einklang zwischen sich selbst und der Welt. Dabei fällt die Schranke zwischen der Welt des „Inneren“ und der des „Äußeren“. In der Anschauung des Schönen vollzieht sich eine Wendung von der Welt des Geschaffenen zur Welt des Schöpferischen. Shaftesburys Ästhetik spricht noch einmal die allgemeine Voraussetzung aus, auf der auch sein Naturkonzept und seine Theorie der Sittlichkeit ruhen: die Überzeugung, dass der Einzelne das Ganze in reiner Hingebung erfassen und umfassen kann, weil er als dessen Bestandteil mitten darin steht und damit eins ist. Cassirer betonte die Bedeutung eines solchen Aktes der Betrachtung und Hingabe für Shaftesburys Kunstverständnis, dem zufolge diese Herangehensweise den Grund sowohl für alles künstlerische Schaffen als auch für jeden Kunstgenuss legt. Kulturgeschichtliche Forschung Die im 19. Jahrhundert lange vernachlässigte Erforschung von Shaftesburys Werk und Nachwirkung intensivierte sich im Lauf des 20. Jahrhunderts. Seit der vorletzten Jahrhundertwende hat eine Fülle von Einzeluntersuchungen – neben zahlreichen Aufsätzen auch eine Vielzahl von Monographien – die mannigfaltigen Facetten des Œuvres ins Blickfeld gerückt. Ein gewichtiger Anteil wurde von der deutschsprachigen Forschung beigesteuert, wobei Oskar Walzel ab 1909 eine Pionierrolle spielte. Walzel prägte das stark nachwirkende Bild von Shaftesbury als Vorläufer und Anreger der deutschen Genieästhetik und der damit zusammenhängenden Prometheus-Rezeption. Dieser Befund gilt aber heute als überholt. Unter den Spezialisten im englischsprachigen Raum haben sich vor 1980 Benjamin Rand, William E. Alderman, Alfred Owen Aldridge und Ernest Tuveson besonders hervorgetan, später Robert B. Voitle mit seiner wegweisenden Shaftesbury-Biographie (1984) und Lawrence E. Klein mit seiner Analyse des sozialen und politischen Hintergrunds (1994). Einen bedeutenden Beitrag zur Erschließung des Materials leistet die seit 1981 in Stuttgart erscheinende kritische Gesamtausgabe, die „Standard Edition“ (SE), die auch deutsche Übersetzungen umfasst. Die Bedeutung des Frühaufklärers für die Moralphilosophie, Religionsgeschichte, Ästhetik und Kunsttheorie, seine Rolle als politischer Impulsgeber, seine Theorie und Praxis des Dialogs und die vielfältigen Nachwirkungen seiner Anregungen werden in der neueren Fachliteratur gründlich beleuchtet. Besonderes Interesse gilt der philosophiegeschichtlichen Einordnung. Dabei haben sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts vier Interpretationsrichtungen herausgebildet. Von diesen sieht eine in Shaftesbury einen neuzeitlichen Stoiker, der maßgebliche Impulse von der antiken Stoa empfangen habe. Diese These ist von Benjamin Rand, Esther A. Tiffany und Alfred O. Aldridge vorgetragen worden, aber auch auf Widerspruch gestoßen. Eine andere Richtung – Oskar Walzel, Ernst Cassirer u. a. – betrachtet ihn in erster Linie als Platoniker und betont seine Rolle als Vermittler neuplatonischen Denkens. Auch diese Einordnung ist umstritten. Der dritten Deutung zufolge war er ein Neuerer, der die Ethik ästhetisierte und mit der Betonung der emotionalen Reaktionen den rationalen Ethikdiskurs zurückdrängte. An diese Interpretation knüpft die von Erwin Wolff dargelegte vierte an. Sie legt besonderes Gewicht auf Shaftesburys Abneigung gegen Spekulation und Systematik und erinnert daran, dass er sich ganz auf das praktische Ziel optimaler Lebensgestaltung ausrichtete und seine Anliegen literarisch vermittelte. Daher passe sein Denken in kein Schema ideengeschichtlicher Einflüsse. Der moral sense als Urteilsvermögen in dem von Shaftesbury geprägten Sinn findet in der neueren Forschung verstärkte Beachtung, insbesondere wegen der breiten Wirkung dieses Konzepts auf Literaten, Künstler und Theologen der Aufklärungszeit. Gewürdigt wird die Schlüsselrolle des Frühaufklärers für die Entwicklung der Anthropologie, vor allem unter dem Gesichtspunkt einer von ihm herausgearbeiteten optimistischen „Rehabilitierung der Sinnlichkeit“ gegenüber den zuvor dominierenden asketischen und pessimistischen Strömungen. Textausgaben und Übersetzungen Gerd Hemmerich, Wolfram Benda, Christine Jackson-Holzberg u. a. (Hrsg.): Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Standard Edition. Sämtliche Werke, Briefe und nachgelassene Schriften. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 ff., ISBN 3-7728-0743-7 (kritische Edition mit deutschen Übersetzungen; bisher 14 Bände erschienen - von ca. 20 Bänden insgesamt) Rex A. Barrell (Hrsg.): Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury (1671–1713) and ‘Le Refuge Français’-Correspondence (= Studies in British History. Band 15). The Edwin Mellen Press, Lewiston u. a. 1989, ISBN 0-88946-466-9 (Edition von Shaftesburys Briefwechsel mit Pierre Bayle, Jacques Basnage, Jean Le Clerc, Pierre Coste und Pierre des Maizeaux) Wolfgang H. Schrader (Hrsg.), Max Frischeisen-Köhler (Übersetzer): Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus. Die Moralisten. 2. Auflage. Meiner, Hamburg 1980, ISBN 3-7873-0511-4 (nur Übersetzung) Karl-Heinz Schwabe (Hrsg.), Ludwig Heinrich Hölty, Johann Lorenz Benzler (Übersetzer): Anthony Earl of Shaftesbury: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays. Beck, München 1990, ISBN 3-406-34348-1 (nur Übersetzungen; enthält: Ein Brief über den Enthusiasmus, Die Moralisten, Untersuchung über die Tugend, Sensus Communis) Literatur Übersichtsdarstellungen Lawrence E. Klein: Cooper, Anthony Ashley. In: Henry C. G. Matthew, Brian Harrison (Hrsg.): Oxford Dictionary of National Biography. Band 13, Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-861363-6, S. 217–223. David A. 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Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3373-5 Biographie Robert Voitle: The Third Earl of Shaftesbury, 1671–1713. Louisiana State University Press, Baton Rouge/London 1984, ISBN 0-8071-1139-2. Aufsatzsammlungen Fabienne Brugère, Michel Malherbe (Hrsg.): Shaftesbury. Philosophie et politesse. Actes du Colloque (Université de Nantes, 1996). Champion, Paris 2000, ISBN 2-7453-0256-6. Giancarlo Carabelli, Paola Zanardi (Hrsg.): Il gentleman filosofo. Nuovi saggi su Shaftesbury. Il Poligrafo, Padua 2003, ISBN 88-7115-337-5. Rainer Godel, Insa Kringler (Hrsg.): Shaftesbury (= Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Band 22). Meiner, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1969-5. Patrick Müller (Hrsg.): New Ages, New Opinions. Shaftesbury in his World and Today. Lang, Frankfurt 2014, ISBN 978-3-631-64343-3. Patrick Müller (Hrsg.): Shaping Enlightenment Politics. 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Martin Kirves: Das Urteil des Herkules - Shaftesburys gemalte Kunsttheorie. In: Aufklärung : interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, 22 (2010), S. 173–200. (Digitalisat). Dagmar Mirbach: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury. In: Stefan Majetschak (Hrsg.): Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard. Beck, München 2005, ISBN 3-406-52834-1, S. 76–94. Isabella Woldt: Architektonik der Formen in Shaftesburys »Second Characters«. Über soziale Neigung des Menschen, Kunstproduktion und Kunstwahrnehmung. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2004, ISBN 3-422-06442-7. Rezeption Mark-Georg Dehrmann: Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Wallstein, Göttingen 2008, ISBN 978-3-8353-0233-4. Rebekka Horlacher: Bildungstheorie vor der Bildungstheorie. Die Shaftesbury-Rezeption in Deutschland und der Schweiz im 18. Jahrhundert. Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, ISBN 3-8260-2798-1. Weblinks Bibliographie zu Shaftesbury (Shaftesbury Project, Universität Erlangen-Nürnberg) Bibliographie zu Shaftesbury (Laurent Jaffro) Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, Ausgabe von Douglas Den Uyl, 2001 Christopher John Cunliffe: The Third Earl of Shaftesbury (1671–1713): His Politics and Ideas, Oxford 1981 (ungedruckte Dissertation) Anmerkungen Philosoph der Frühen Neuzeit Aufklärer Autor Literatur (18. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Essay Kunstkritiker Mitglied des House of Lords Abgeordneter des House of Commons (England) Politiker (England) Politiker (17. Jahrhundert) Politiker (18. Jahrhundert) Politiker (Großbritannien) Earl of Shaftesbury Baronet Anthony, 03 Earl Of Shaftesbury Engländer Geboren 1671 Gestorben 1713 Mann
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Joshua Lawrence Chamberlain
Joshua Lawrence Chamberlain (* 8. September 1828 in Brewer, Penobscot County, Maine; † 24. Februar 1914 in Portland, Maine) war General des US-Heeres während des Bürgerkrieges und Politiker. Er wurde besonders als Kommandeur des 20. Maine-Infanterieregiments in der Schlacht von Gettysburg berühmt. Nach dem Krieg wurde er viermal hintereinander für jeweils ein Jahr zum Gouverneur seines Heimatstaates Maine gewählt und führte als Kommandeur dessen Miliz. Leben Kindheit und Jugend Joshua Lawrence Chamberlain wurde als erstes von fünf Kindern Joshua Chamberlains Jr. und Sarah Dupee Brastow Chamberlains geboren. Sein ursprünglicher Name war Lawrence Joshua Chamberlain, benannt nach Commodore James Lawrence, der durch den Krieg von 1812 bekannt geworden war. Chamberlain änderte seinen Namen später jedoch in Joshua Lawrence. Die Familie hatte eine große militärische Tradition: Chamberlains Urgroßväter hatten im Franzosen- und Indianerkrieg sowie im Unabhängigkeitskrieg gekämpft, sein Großvater Joshua Chamberlain Sr. hatte es im Krieg von 1812 zum Oberst der Miliz gebracht. Diesen Dienstgrad bekleidete auch Joshuas Vater. Joshua Lawrence Chamberlain lebte in unmittelbarer Nachbarschaft der berühmten Schriftstellerin Harriet Beecher Stowe. Schon in seiner Jugend war er bei ihr zu Gast und hörte sie später bei Besuchen aus ihrem Werk Onkel Toms Hütte lesen. Dies brachte ihn bereits früh mit abolitionistischem Gedankengut in Berührung. Nachdem Chamberlain die Major Whitings Military and Classical School in Ellsworth besucht hatte, beabsichtigte sein Vater, ihn auf die US-Militärakademie nach West Point, New York zu schicken. Seine tiefreligiöse Mutter wollte ihn gerne als Pastor oder Missionar sehen. Nach seinem 18. Geburtstag studierte er erfolgreich klassische Literatur, Griechisch und Latein, um eine Aufnahme auf dem Bowdoin College in Brunswick zu erreichen. Chamberlain trat 1848 dort ein und zeigte sein Sprachentalent, unter anderem für Griechisch, Latein, Französisch, Deutsch, Spanisch, Hebräisch und Arabisch. Als Student besuchte er die First Parish Church in Brunswick. Dort wurde er Chorleiter und lernte seine spätere Frau, Frances Caroline Adams, kennen, die Adoptivtochter des Pastors George E. Adams. Sie heirateten 1855. Chamberlain bezeichnete sie später einmal als „den ständigen Mittelpunkt jedes seiner Träume und die Seele jedes seiner Gedanken“. Professor in Bowdoin Chamberlain besuchte das Theologische Seminar in Bangor ab 1852. Während dieser Zeit verdiente er sich nebenbei Geld, indem er Deutsch unterrichtete und die Orgel in seiner Heimatkirche spielte. Chamberlain graduierte im Sommer 1855 und lehnte im Folgenden mehrere Angebote ab, als Pastor einer Gemeinde zu arbeiten. Er nahm stattdessen die Einladung des Bowdoin College an, als Lehrer für Logik und Theologie zu wirken. Die Hochschule ernannte Chamberlain 1856 zum Professor für Rhetorik und Rede und später zum Professor für moderne Sprachen Europas. Im Oktober desselben Jahres kam sein erstes Kind Grace Dupee, genannt Daisy, zur Welt. 1858 brachte „Fanny“ Chamberlain den Sohn Harold Wyllys zur Welt. Im Bürgerkrieg Chamberlain wurde als Professor für moderne Sprachen Europas 1861 ein zweijähriger Aufenthalt zu Studien in Europa angeboten. Er ließ sich von seinen Pflichten am College freistellen, ging aber nicht nach Europa. Chamberlain verzichtete auf diese Reise, weil kurz zuvor mit dem Angriff auf Fort Sumter der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Für Chamberlain stellte dies, wie er später schrieb, eine Beleidigung für die Flagge der Vereinigten Staaten und eine Verachtung der „Ehre und Autorität der Union“ dar. Weiter schrieb er: „Die Vollständigkeit und Existenz des Volkes der Vereinigten Staaten sind in offenem und bitteren Krieg angegriffen worden.“ Stattdessen bot er seine Dienste dem Gouverneur von Maine, Israel Washburn, an. Er schrieb ihm, die Männer des Nordens müssten „die teuersten persönlichen Interessen opfern, um unser Land vor der Verwüstung zu bewahren und die nationale Existenz gegen Verrat zu Hause und Missgunst im Ausland zu verteidigen. Dieser Krieg muss mit einer raschen, starken Hand beendet werden, und jeder Mann sollte vortreten und darum bitten, an den ihm angemessenen Platz gestellt zu werden.“ Chamberlain wurde am 8. August 1862 zum stellvertretenden Kommandeur des neu aufgestellten 20. Maine Infanterieregiment ernannt, das von Oberst Adelbert Ames geführt wurde. Das neue Regiment wurde im Camp Mason in Portland ausgebildet. Auch Chamberlains Bruder, Thomas Davee, war als Sergeant Angehöriger des Regiments. Das Regiment wurde nach der Ausbildung der 3. Brigade der 1. Division des V. Korps der Potomac-Armee in Virginia unterstellt. An der Schlacht am Antietam nahm es nicht aktiv teil, in der Verfolgung der ausweichenden Nord-Virginia-Armee nahm es an einigen Gefechten teil. Das 20. Maine wurde mit Chamberlain während der Schlacht von Fredericksburg in den heftigsten Kampfhandlungen beim Angriff auf die Marye’s Heights eingesetzt und erlitt schwere Verluste. Am 27. August 1862 wurde Chamberlain ein Mitglied im Bund der Freimaurer (Loge United Lodge #8 in Brunswick). An der Schlacht bei Chancellorsville nahm das Regiment wieder nicht aktiv teil. Der Regimentskommandeur Oberst Ames wurde zum Brigadegeneral befördert und übernahm eine Brigade und Chamberlain, nun Oberst, erhielt das Kommando über das 20. Maine. Er führte es in die Schlacht von Gettysburg und hatte dort seine größte Stunde als Verteidiger des Little Round Top. Mit einem von ihm persönlich zum Abschluss der Kämpfe geführten Bajonettangriff gelang es, das sein Regiment angreifende 15. Alabama Infanterieregiment abzuwehren. Während des Kampfes wurde Chamberlain zwei Mal verwundet. Chamberlain erhielt im August 1863 das Kommando über die 3. Brigade der 1. Division des V. Korps. Krankheitsbedingt musste er im Winter seine Truppen verlassen und konnte erst im Mai 1864 zur Schlacht bei Spotsylvania wieder zu ihnen stoßen. Er führte seine Brigade im Kampf bei Bethesda Church und übernahm anschließend, nach Reorganisation des V. Korps, das Kommando über die 1. Brigade der 1. Division. Die Brigade bestand aus sechs Regimentern aus Pennsylvania. Chamberlains Brigade hielt während der Belagerung von Petersburg am 18. Juni 1864 eine Position vor der Hauptlinie der Unionsarmee bei Rives Salient. Die Brigade sollte von dort aus eine befestigte konföderierte Stellung angreifen. Während des Angriffs wurde Chamberlain von einer Kugel getroffen und brach zusammen. Die Ärzte glaubten, er würde die Verwundung nicht überleben. Als Generalleutnant Ulysses S. Grant, der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte, davon erfuhr, beförderte er Chamberlain zum Brigadegeneral. Chamberlain erholte sich jedoch wider Erwarten und konnte das Kommando über die Brigade wieder übernehmen. Er führte sie zu Pferde am 29. März 1865 gegen konföderierte Stellungen an der Quaker Road, wo er wiederum auf seinem Pferd verwundet wurde. Weil Chamberlain die Brigade trotz der Verwundung weiter führte, wurde er für diese Leistung zum Brevet-Generalmajor ernannt. Chamberlain wurde dazu ausgewählt, die formelle Kapitulation der konföderierten Nord-Virginia-Armee entgegenzunehmen. Als er die Übergabeformation vor den zur Kapitulation herannahenden konföderierten Truppen unter dem Kommando von General John Brown Gordon zur Respektbezeugung das Gewehr präsentieren ließ, wurde ihm große Anerkennung zuteil. Dies brachte ihm im Norden viel Kritik ein, Gordon jedoch nannte ihn später einen der „ritterlichsten Soldaten in der Unionsarmee“. Während der Siegesparade der Unionsarmeen in Washington kommandierte er die 1. Division des V. Korps. Chamberlain nahm während des Bürgerkrieges an 24 Schlachten und Gefechten teil und wurde dabei sechsmal verwundet, fünfmal wurde sein Pferd unter ihm weggeschossen. Die Soldaten unter seinem Kommando erbeuteten in diesen Gefechten acht Fahnen und nahmen 2700 Gegner gefangen. Chamberlain verlor während all der Zeit im Felde nie die emotionale Bindung zu seiner Familie. Dies kam in zahlreichen Briefen zum Ausdruck, in denen er sich darüber beklagt, nicht bei seiner Frau und seinen Kindern sein zu können. Nach dem Bürgerkrieg Chamberlain erhielt nach dem Krieg das Angebot, weiterhin als Offizier in der US-Armee zu dienen, das er allerdings nicht annahm. Stattdessen nahm er seine Lehrtätigkeit als Professor am Bowdoin College wieder auf und hielt Reden und Vorträge über seine Kriegserlebnisse. 1866 wurde er mit sehr großer Mehrheit als Kandidat der Republikaner zum Gouverneur von Maine (1867–1871) gewählt; er setzte sich mit 62,2 Prozent der Stimmen gegen den Demokraten Eben F. Pillsbury (37,5 Prozent) durch. Der Staat Maine bezahlte während Chamberlains Regierungszeit einen großen Teil seiner Schulden zurück. Chamberlain setzte sich außerdem für die Vergrößerung und Verbesserung der „Irrenanstalten“ (für die es nach dem Bürgerkrieg mehr Bedarf gab) ein und legte mit dem College of Agriculture and Mechanic Arts den Grundstein für die University of Maine. Das Amt frustrierte Chamberlain jedoch zusehends. Er machte sich, beispielsweise durch seine Opposition gegen das Amtsenthebungsverfahren gegen US-Präsident Andrew Johnson, in der eigenen Partei Feinde. Die politische Karriere beeinträchtigte außerdem auch seine Ehe, da seine Frau Fanny das ruhigere Leben als Ehefrau eines Professors in Bowdoin bevorzugte. Das Amt enttäuschte Chamberlain sogar so sehr, dass er seine Dienste dem preußischen König Wilhelm in einem Brief anbot. Chamberlain kehrte schließlich wieder zu seinem Leben als Akademiker zurück: Nach dem Ende seiner letzten Amtszeit als Gouverneur – die Bestätigung war ihm dreimal mit jeweils sicherer Mehrheit gelungen – wurde er 1871 einstimmig zum Präsidenten des Bowdoin College gewählt. Präsident Rutherford B. Hayes ernannte Chamberlain sieben Jahre später zusätzlich zum Commissioner of Education for the Universal Exposition für die Weltausstellung in Paris. Deshalb verbrachte Chamberlain fünf Monate in Europa. Während dieser Zeit verfasste er einen 165-seitigen Bericht für die US-Regierung, in dem er sich positiv über die europäischen Bildungssysteme äußerte. Vor allem für das französische war er voller Lob, wofür er eine Auszeichnung von der französischen Regierung erhielt. 1876 wurde Chamberlain zum Generalmajor der Miliz ernannt. Bei der Gouverneurswahl drei Jahre später kam es zu heftigen Auseinandersetzungen in Maine. Keiner der drei Kandidaten konnte eine Mehrheit erringen, wodurch die Entscheidung dem Parlament zufiel. Dieses war erst zuvor neu gewählt worden und hatte eine republikanische Mehrheit. Die Kandidaten der Greenback Party und der Demokraten warfen den Republikanern jedoch Betrug vor und verlangten eine Neuauszählung der Stimmen der Parlamentswahl, welche die Mehrheitsverhältnisse zuungunsten der Republikaner änderte. Nach weiteren Streitereien wurde die Entscheidungsfindung dem Obersten Gerichtshof von Maine übertragen. Zu diesem Zeitpunkt stand der Bundesstaat kurz vor einem Bürgerkrieg, denn bewaffnete Gruppen machten sich auf den Weg in die Staatshauptstadt Augusta, um ihre Kandidaten mit Gewalt durchzusetzen. Am 5. Januar 1880 mobilisierte der amtierende Gouverneur Alonzo Garcelon die Miliz. Dadurch fiel es Chamberlain zu, für Ordnung zu sorgen, bis der Gerichtshof eine Entscheidung treffen würde. Chamberlain ließ die Miliz zwar mobilisieren, beorderte sie aber nicht nach Augusta. Stattdessen versuchte er mithilfe der lokalen Polizei, den Konflikt friedlich zu lösen. Es gelang ihm schließlich, die aufgebrachte Stimmung zu beruhigen, und der Oberste Gerichtshof entschied die Wahl. Der republikanische Kandidat Daniel Davis wurde zum Gouverneur gewählt und konnte sein Amt antreten. 1893 erhielt er die Medal of Honor für die Verteidigung des Little Round Top. In der Laudatio hieß es „für tapfersten Heldenmut und großartige Entschlossenheit in der Verteidigung der Stellung auf dem Little Round Top gegen wiederholte Angriffe und der Unterstützung der Stellung auf dem Great Round Top“. In den folgenden Jahren wirkte Chamberlain als Präsident mehrerer Gesellschaften, unter anderem einer Eisenbahngesellschaft in New Jersey. Er plante, eine Geschichte des V. Korps zu schreiben, fand jedoch keine Zeit dazu, und 1896 erschien ein anderes Buch zu demselben Thema. Später wurde er als Inspektor des Hafens von Portland eingesetzt und ließ sich dort nieder. Außerdem engagierte er sich in der Grand Army of the Republic, einer Veteranenorganisation der Union. Er besuchte noch viele Male das alte Schlachtfeld von Gettysburg und trat bei Veteranentreffen als Redner in Erscheinung. Seine Frau Fanny verstarb am 18. Oktober 1905, was er nie verschmerzen konnte. Chamberlain widmete sich in seinen letzten Lebensjahren verstärkt seinen Erinnerungen an die Zeit des Bürgerkrieges. Er schrieb 1912 für das Cosmopolitan Magazine einen Artikel My story of Fredericksburg, im Hearst’s Magazine erschien 1913 Through Blood and Fire at Gettysburg. Ferner plante er auch eine Erzählung über die Schlacht von Gettysburg. 1913 wurde er zum Organisator des 50. Jahrestages der Schlacht von Gettysburg ernannt, konnte an dem Treffen aber krankheitsbedingt nicht teilnehmen. Joshua Lawrence Chamberlain starb am 24. Februar 1914 in Portland. Erst nach seinem Tod erschien 1915 The Passing of Armies, Chamberlains Schilderung des Appomattox-Feldzuges. Er ist auf dem Pine Grove Cemetery in Brunswick beerdigt. Chamberlain in Literatur und Film Joshua Lawrence Chamberlain wird in mehreren literarischen Werken und Filmen dargestellt. Neben seinen Selbstzeugnissen Through Blood and Fire at Gettysburg und The Passing of the Armies ist er Gegenstand einiger Biographien; persönliche Briefe und Aufzeichnungen aus der Kriegszeit wurden gesammelt und herausgegeben, ebenso einige seiner bekanntesten Zitate. Auch in bekannten fiktionalen Texten und Romanverfilmungen über den Bürgerkrieg spielt Chamberlain eine wichtige Rolle. So ist er eine der Hauptpersonen in dem auf Michael Shaaras (mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten) Roman The Killer Angels basierenden Film Gettysburg. Hierbei wird er als charismatischer Führer seines Regiments dargestellt. Es gelingt ihm durch eine mitreißende und ergreifende Rede, selbst 117 Meuterer davon zu überzeugen, in der Schlacht zu kämpfen. Er, der Rhetorikprofessor, sorgt sich um seine Männer und wird von ihnen geachtet. Sein gutes Verhältnis zu Master Sergeant Buster Kilrain, dem Führer der Unteroffiziere seines Regiments, verdeutlicht diese fast väterlich gezeichnete Beziehung Chamberlains zu seinen Untergebenen. Gleichzeitig wird auch Chamberlains akademischer Hintergrund dargestellt: In einem Dialog mit Sergeant Kilrain über die Sklaverei zitiert er einen Monolog aus William Shakespeares Hamlet, What a piece of worke is a man! Chamberlains Charakterisierung im Film Gods and Generals, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Jeff Shaara, ist ähnlich derjenigen in The Killer Angels bzw. „Gettysburg“: Er wird als gebildeter Professor beschrieben, der seine Pflicht in der Verteidigung der Interessen seines Landes sieht. In beiden Romanverfilmungen wird er von dem Schauspieler Jeff Daniels verkörpert. Beim Abschied von seiner Frau wird ein Gedicht über den englischen Bürgerkrieg zitiert, auf den Höhen vor Fredericksburg werden ihm Worte aus dem Epos über den römischen Bürgerkrieg, Pharsalia, von Marcus Annaeus Lucanus in den Mund gelegt. Analog zur Überschreitung des Rappahannock durch die Unionsarmee schildert das Zitat, wie Caesar den Rubikon überschreitet. Diese Worte zeichnen Chamberlain als hochgebildeten Professor. Er scheint abgehoben und weltfremd, was aber durch verschiedene Szenen während der Schlacht relativiert wird: Chamberlain nimmt dabei zum Beispiel einen nach seiner Mutter rufenden und weinenden Soldaten in die Arme und tröstet ihn und wird dadurch wieder eher väterlich und fürsorglich dargestellt. Auch in dem Buch Last Full Measure von Jeff Shaara ist Chamberlain eine der Hauptrollen. Das Buch handelt von den letzten beiden Kriegsjahren und porträtiert unter anderem Chamberlains Aufstieg vom Regiments- zum Divisionskommandeur und seine Beteiligung an den Schlachten um Petersburg und bei Five Forks. Zitate von Joshua Lawrence Chamberlain Als Rhetorikprofessor hatte Chamberlain eine besondere sprachliche Ausdrucksfähigkeit, die sich in zahlreichen seiner Werke und Reden zeigte. Einige Beispiele hierfür: Über die Sklaverei: „Wir sind nicht in diesen Kampf gegangen, um die Sklaverei direkt zu bekämpfen; wir dachten nicht daran, dieses Problem zu lösen, aber Gott, in seiner Vorsehung […] setzte es uns vor Augen und es flog beiseite wie durch einen Wirbelsturm.“ Über die Ermordung von Abraham Lincoln kurz nach der Kapitulation der Nord-Virginia-Armee: „Aber, inmitten allen Triumphes, in dieser Stunde des Jubels, diesem Tag der Stärke und Freude und Hoffnung, als unser Sternenbanner sich mit den Sternen des Himmels vereinigte, fiel es plötzlich auf halbmast, Dunkelheit erfüllte den Himmel und der Präsident der Vereinigten Staaten, mit seinem Herzen voll Versöhnung und Liebe und Vergebung wurde durch die Hand eines Attentäters niedergestreckt. Worte können nicht ausdrücken, mit welcher Reaktion diese Armee die Nachricht aufnahm.“ Anlässlich einer Rede in Gettysburg, 1889: „In großen Taten besteht etwas fort. Auf großen Feldern bleibt etwas zurück.“ (auch als Inschrift für eine US-Gedenkmünze aus dem Jahr 1995 gewählt). Literatur Joshua Lawrence Chamberlain: The Passing of Armies: An Account of the Final Campaign of the Army of the Potomac. Bantam Books, 1993, ISBN 0-553-29992-1. Joshua Lawrence Chamberlain: Through Blood and Fire at Gettysburg: General Joshua L. Chamberlain and the 20th Maine. Stan Clark Military Books, 1996 (nicht eingesehen). Joshua Lawrence Chamberlain, Jeremiah E. Goulka: The Grand Old Man of Maine: Selected Letters of Joshua Lawrence Chamberlain, 1865–1914. B&T, 2004, ISBN 0-8078-2864-5 (nicht eingesehen). Alice Rains Trulock: In the Hands of Providence: Joshua L. Chamberlain and the American Civil War. University of North Carolina Press, 2001, ISBN 0-8078-4980-4. Mark Nesbitt: Through Blood & Fire: Selected Civil War Papers of Major General Joshua L. Chamberlain. Stackpole Books, 1996. John J. Pullen: Joshua Chamberlain : A Hero’s Life and Legacy. Stackpole Books, Mechanicsburg, PA 1999, ISBN 0-8117-0886-1 (nicht eingesehen). Edward G. Longacre: Joshua Chamberlain: The Soldier and the Man. Da Capo Press, 2004, ISBN 0-306-81312-2 (nicht eingesehen). Randall J. Bedwell (Hrsg.): May I Quote You, General Chamberlain?: Observations & Utterances of the North’s Great Generals. Cumberland House Publishing, 1998, ISBN 1-888952-96-2 (nicht eingesehen). Fiktionale Literatur Die hier aufgeführten Werke sind Romane, in denen Chamberlain eine herausragende Rolle spielt Michael Shaara: The Killer Angels. u. a. Birlinn Ltd, 2001, ISBN 1-84158-082-1, Erstveröffentlichung 1974 Jeffrey Shaara: Gods and Generals. u. a. Ballantine Books, 1998, ISBN 0-345-42247-3, Erstveröffentlichung 1988 Jeffrey Shaara: Last Full Measure. Ballantine Books, 1998, ISBN 0-345-40491-2. Weblinks Pat Finnegan: Umfangreiche Seite über Chamberlain (englisch) Joshua Chamberlain in der National Governors Association (englisch) Einzelnachweise Brigadegeneral (United States Army) Militärperson (Nordstaaten) Gouverneur (Maine) Hochschullehrer (Bowdoin College) Mitglied der Republikanischen Partei Träger der Medal of Honor Freimaurer (19. Jahrhundert) Freimaurer (20. Jahrhundert) Freimaurer (Vereinigte Staaten) US-Amerikaner Geboren 1828 Gestorben 1914 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sankt%20Petersburg
Sankt Petersburg
Sankt Petersburg (; kurz auch St. Petersburg) ist mit 5,38 Millionen Einwohnern (Stand 2021) nach Moskau die zweitgrößte Stadt Russlands, die viertgrößte Europas und die nördlichste Millionenstadt der Welt. Sie war von 1712 bis 1918 Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches und bis 2021 Verwaltungszentrum der sie umgebenden Oblast Leningrad. Als Stadt mit Subjektstatus ist Sankt Petersburg ein Föderationssubjekt der Russischen Föderation. Sankt Petersburg liegt im Nordwesten des Landes an der Mündung der Newa in die Newabucht am Ostende des Finnischen Meerbusens der Ostsee. Die Stadt wurde 1703 von Zar Peter dem Großen auf Sumpfgelände nahe dem Meer gegründet, um den Anspruch Russlands auf Zugang zur Ostsee durchzusetzen. 1712 wurde sie die Hauptstadt Russlands. 1918 verlegten die Bolschewiki ihre Regierung nach Moskau. Über 200 Jahre lang trug sie den heutigen Namen, von 1914 bis 1924 hieß sie Petrograd () sowie von 1924 bis 1991 Leningrad (), womit Lenin, der Gründer der Sowjetunion, geehrt wurde. Der örtliche Spitzname ist Piter nach der ursprünglich dem Niederländischen nachempfundenen Namensform Санкт-Питербурх Sankt-Piterburch (die vier Namen ). Die Stadt ist ein europaweit wichtiges Kulturzentrum und beherbergt den wichtigsten russischen Ostseehafen. Die historische Innenstadt mit 2300 Palästen, Prunkbauten und Schlössern ist seit 1991 als Weltkulturerbe der UNESCO unter dem Sammelbegriff Historic Centre of Saint Petersburg and Related Groups of Monuments eingetragen. Mit dem 462 Meter hohen Lakhta Center befindet sich das höchste Gebäude Europas in der Stadt. Name Peter der Große benannte die Stadt nach seinem Schutzheiligen, dem Apostel Simon Petrus. Die Festung hieß kurzzeitig Sankt-Pieterburch, dann, wie die etwas später entstehende Stadt, Sankt Petersburg, in der Literatur auch Paterburg oder Petropol von Petropolis genannt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde am 18. August 1914 der deutsche Name zu Petrograd – wörtlich „Peterstadt“ – russifiziert. Nach Lenins Tod 1924 wurde die Stadt am 26. Januar 1924 in Leningrad umbenannt. Dies geschah auf Antrag der damaligen Petrograder Parteiführung und nach deren Angaben auf Wunsch der Arbeiter, die Lenins Tod betrauerten. Der erneute Namenswechsel der Stadt wurde vom Zentralkomitee der KPdSU damit begründet, dass in ihr die von Lenin geführte Oktoberrevolution begonnen hatte. Auf der Ebene der Symbolpolitik gab es aber tiefere Gründe: Sankt Petersburg hatte für das zarische Russland gestanden und war die Vorzeigestadt des Zarenreichs gewesen. Schon damals war Sankt Petersburg die zweitgrößte Stadt des Landes; das bedeutete großes Prestige für den neuen Namensgeber. Die Umbenennung in Leningrad symbolisierte den Wechsel des sozialen wie politischen Systems an einer hervorgehobenen Stelle und wurde als solcher wahrgenommen. Im Volksmund wurde auch noch nach der Umbenennung (und wird noch) oft die Abkürzung Piter (russisch Питер) weiter als Spitzname für die Stadt verwendet. Die Dichterin Anna Achmatowa schrieb 1963 in ihrem Poem ohne Held, offenbar an ihren guten Freund und von ihr als „Zwilling“ bezeichneten Ossip Mandelstam gerichtet, der Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde: . Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky schrieb 1987 in Erinnerungen an Leningrad Nach dem Zerfall der Sowjetunion führte eine Volksabstimmung 1991 zu einer knappen Mehrheit zugunsten der Rückbenennung in Sankt Petersburg. Der Erlass vom 6. September 1991 vollzog diesen Wählerwillen. Gleichzeitig wurden viele Straßen, Brücken, Metro-Stationen und Parks wieder rückbenannt. Im Zusammenhang mit historischen Ereignissen wird nach wie vor der zum Ereignis „passende“ Name genutzt, zum Beispiel „Heldenstadt Leningrad“ beim Gedenken an den Deutsch-Sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945, der in Russland „Großer Vaterländischer Krieg“ (Великая Отечественная война/Welikaja Otetschestwennaja woina) genannt wird. Das umliegende Verwaltungsgebiet (föderative Einheit) Oblast Leningrad (russ. Leningradskaja Oblast) behielt nach einem Beschluss des dortigen Gebietssowjets den alten Namen. Geographie Lagebeschreibung und Wirkung der Ostseenähe Die ursprünglich in einem Sumpfgebiet gebaute Stadt liegt an der Mündung der Newa in den Finnischen Meerbusen. Das Stadtgebiet umfasst etwa 1.431 km² einschließlich der administrativ seit 1999 zu Sankt Petersburg gehörenden Vororte wie Peterhof und Puschkin, davon etwa 10 Prozent Wasser. Die Stadt besteht aus 42 Inseln. Ursprünglich waren es mehr gewesen, zahlreiche Kanäle zwischen ihnen wurden jedoch mittlerweile zugeschüttet. Die Stadt selbst musste zwei bis vier Meter über dem Meeresspiegel gebaut werden, da die Newa-Mündung sich ungefähr auf Meereshöhe befindet. Daher stießen die ersten Bauarbeiter bereits in wenigen Zentimetern Tiefe auf Grundwasser. Die Ufer wurden schon früh mit Granitblöcken befestigt, was Sankt Petersburg nicht nur vor dem Wasser schützt, sondern viel zum spezifischen Stadtbild beiträgt. Alexander Puschkin beschrieb es als: „Die Stadt kleidet sich in Granit“. Durch ihre Lage wenige Meter über dem Meeresspiegel ist die Stadt stets durch Hochwasser bedroht. Das auf einer nahen Insel gelegene Kronstadt ist ein Referenzpunkt für das Höhennull. Die Bezugsfläche dieses Kronstädter Pegels liegt etwa 15 Zentimeter höher als der in Deutschland gültige Amsterdamer Pegel und ist in großen Teilen Osteuropas und war in den Neuen Bundesländern bis 1993 Referenzpunkt für Höhenangaben. Die Stadt wurde oft ein Opfer von Überschwemmungen. Die offizielle Statistik zählt seit der Stadtgründung 295 Überschwemmungen (Stand: 2003), davon allein 44 seit 1980. Die schlimmsten Fluten waren 1824 (je nach Statistik 200 bis 500 Tote) und 1924. Klima Sankt Petersburg liegt auf demselben Breitengrad wie die Städte Oslo und Stockholm, der Südteil Alaskas und die Südspitze Grönlands. Es hat ein typisches Meeresklima, das Wetter ist wechselhaft und kann innerhalb kurzer Zeit umschlagen. Die Sommer sind vergleichsweise mild mit Durchschnittstemperaturen von 19 bis 22 °C, im Winter sinken die Durchschnittstemperaturen allerdings auf −4 bis −8 °C. Die Maxima betragen +37 °C im Sommer (2010) und −42 °C im Winter (1941 und andere, allerdings unsichere Angaben). Aufgrund der Lage wird es zur Zeit der Sommersonnenwende nachts nicht vollständig dunkel (sog. „Weiße Nächte“). Wirkung der Newa Die Newa ist mit 74 Kilometer Länge zwar ein sehr kurzer, aber einer der wasserreichsten Flüsse Europas. Sie wird bis zu 600 Meter breit und hat eine starke Strömung. Rund 28 Kilometer seiner Strecke legt der Fluss innerhalb des Stadtgebiets von Sankt Petersburg zurück. Bis in das 19. Jahrhundert hinein genügte die Biologie der relativ flachen Bucht der Newa allein, um das Abwasser aus Sankt Petersburg zu reinigen. Noch immer machen die Abwässer der 5 Millionen Einwohner zählenden Industriestadt erst 2 Prozent der Gesamtwassermenge der Newa aus. Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch brachen erste wassergebundene Epidemien wie Cholera und Typhus aus. Allein während der Typhus-Epidemie von 1908 starben etwa 9000 Menschen. Durch eine Änderung der Einleitungsbedingungen konnte dem Problem ab 1910 vorerst abgeholfen werden. In den 1950er und 1960er Jahren sorgte der starke Anstieg der Bevölkerungszahlen erneut für eine Eskalation des Abwasserproblems. Hinzu kam die stärkere Verschmutzung der Newa an ihrem Flusslauf – sie entwässert den Ladogasee, an dessen Ufer zahlreiche Fabriken liegen und der selbst über seine Zubringer das Schmutzwasser zahlreicher russischer Städte aufnimmt. Eine Kläranlage wurde gebaut, allerdings erreichen 25 bis 30 Prozent der städtischen Abwässer ungeklärt den Fluss und die Bucht. In der Bucht leben vor allem Süßwasser- aber auch einige Brackwasserbewohner. Das biologische System ist hoch veränderlich und leidet unter menschlichen Eingriffen. Neben Moskau gilt Petersburg als eine der am stärksten verschmutzten Städte Russlands. Seit 1978 ließ die sowjetische Regierung den Petersburger Damm quer durch die Newabucht bauen, um die Stadt vor Überschwemmungen zu schützen. Im Gegensatz zu den meisten Überflutungen durch Flüsse rühren die Überschwemmungen an der Newa nämlich nicht daher, dass der Fluss von seinem Oberlauf mehr Wasser mitbringt, sondern daher, dass Westwind in den Finnischen Meerbusen drückt und den Abfluss des Wassers verhindert oder in extremen Fällen die Fließrichtung umkehrt. Die Konstruktion wurde Ende der 1980er Jahre aus Gründen des Umweltschutzes vorläufig abgebrochen: Der Damm störte die Zirkulation des Küstenwassers, große Teile des Wassers standen still, die Wasserqualität sank erheblich. Befürchtungen gehen dahin, dass die gesamte Bucht sich in einen Sumpf verwandeln könnte. Der Damm wurde jedoch seit 1990 mit niederländischer Hilfe und Unterstützung der Europäischen Investitionsbank weiter gebaut und 2010 vollendet. Da die Umweltschutzargumente gegen den Damm aber weiterhin vorhanden sind, bleibt das Thema in der Stadt sehr umstritten. Verwaltungsgliederung Sankt Petersburg gliedert sich in 18 „Rajon“ genannte Stadtbezirke, die ihrerseits in insgesamt 111 Verwaltungseinheiten der nächsten Ebene unterteilt sind (81 munizipale Bezirke, 9 Städte, 21 Siedlungen). Anmerkungen: Geschichte Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Stadt Die Stadtgründung von Sankt Petersburg ist Gegenstand eines um Peter den Großen gewobenen politischen Mythos. Danach soll der Zar bereits bei deren erstem Anblick eine unbewohnte und öde Sumpflandschaft an der Newa-Mündung zum Standort seiner zukünftigen Hauptstadt, eines „Fensters nach Europa“ für Russland, ausgewählt haben. Die wortmächtigste und am häufigsten zitierte Ausformulierung dieses Mythos von der eine „Hauptstadt aus dem Nichts“ erschaffenden Willenskraft Peters des Großen findet sich in dem Gedicht Der eherne Reiter (1834) von Alexander Puschkin. Tatsächlich war der Bereich der unteren Newa schon lange zuvor Teil einer Kulturlandschaft, des Ingermanlandes. Dort lebten seit dem 10. Jahrhundert Vertreter verschiedener finno-ugrischer Völker größtenteils von der Landwirtschaft. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts stritten Schweden und Nowgorod um das Gebiet. Eine als Landskrona überlieferte schwedische Siedlung an diesem Ort wurde angeblich im Jahr 1301 zerstört. Danach einigte man sich darauf, die Region als Pufferzone zwischen den Einflusssphären zu betrachten, in der keine Festungen errichtet werden durften. In den folgenden Jahrhunderten wurde das Gebiet zumindest als Landungsstelle für die Newa befahrende Schiffe genutzt, möglicherweise aber als Handelsplatz. Letzteres gilt sicher für die Zeit einer erneuten schwedischen Dominanz in der Region nach der Errichtung der Festung Nyenschanz im Jahr 1611 und der sie bald umgebenden Siedlung Nyen. Beide lagen auf dem Stadtgebiet des heutigen Sankt Petersburg am nördlichen (oder rechten) Ufer der Newa. Es gibt Hinweise auf größere städtebauliche Ambitionen der Schweden für Nyen im 17. Jahrhundert. Allerdings erlebten diese Vorhaben einen herben Rückschlag, als Siedlung und Festung 1656 während des Zweiten Nordischen Krieges von russischen Truppen zerstört wurden. Dem Wiederaufbau folgte am 1. Mai 1703, während des Großen Nordischen Krieges, die endgültige Eroberung von Nyenschanz durch die newaabwärts vorrückenden Russen unter Scheremetew. Nyen war zu diesem Zeitpunkt bereits von den Schweden selbst präventiv geräumt und teilweise zerstört worden. Das Ende von Nyen und Nyenschanz markierte gleichzeitig den Beginn der Stadtgeschichte von Sankt Petersburg. Offiziell verbindet man ihn mit dem Datum . An diesem Tag wurde auf einer Nyenschanz gegenüber gelegenen Insel im Newa-Delta der Grundstein für die nach dem Namenspatron des Zaren benannte Peter-und-Paul-Festung gelegt. In Urkunden und Karten aus der Gründungszeit finden sich neben der deutschen Bezeichnung Sankt Petersburg die niederländisch klingenden Sankt Piter Bourgh oder St. Petersburch. Es gibt keine Quellen, die glaubhaft belegen würden, dass Peter der Große das Bollwerk von Beginn an als Keimzelle einer größeren Siedlung oder gar seiner zukünftigen Hauptstadt angesehen hätte. In erster Linie sollte die Peter-und-Paul-Festung zunächst wohl die Funktion von Nyenschanz übernehmen, also die Newa-Mündung strategisch absichern, nur jetzt für die Russen. Die äußeren Bedingungen für eine Stadtgründung waren denkbar ungeeignet, soweit stimmt die Überlieferung. Das Delta wurde häufig von Überschwemmungen heimgesucht, ein Großteil der Gegend war nicht einmal für die Landwirtschaft geeignet. Nur einige Fischer hielten sich hier in den Sommermonaten auf. Später sollte es aufgrund der ungünstigen Lage immer wieder zu Überschwemmungen kommen, bei denen zahlreiche Bewohner ihr Leben ließen. Dass Peter der Große trotz der widrigen Gegebenheiten diesen Ort schließlich für seine neue Hauptstadt auswählte, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass hier vorzüglich ein Seehafen angelegt werden konnte und zudem der Anschluss an das binnenrussische Flusssystem gegeben war. Im Stadtwappen wird dies ausgedrückt, indem neben dem Zepter sowohl ein See- als auch ein Binnenanker dargestellt werden. Des Weiteren war die Nähe zu Westeuropa ausschlaggebend, ging es Peter dem Großen doch darum, Russland zu modernisieren. Erst ab dem Jahr 1706 ist, durch die Zwangsrekrutierung zahlreicher Leibeigener für die Bauarbeiten an der Newa-Mündung, ein wirklicher Plan für die Errichtung einer neuen Stadt erkennbar. Sobald dieses Ziel vor Augen stand, wurde es mit großem Nachdruck und mit Rücksichtslosigkeit von Zar Peter in wenigen Jahren umgesetzt. Während die Stadt in ihren Grundmauern erstand, verbot er die Errichtung von Steingebäuden in ganz Russland außerhalb Sankt Petersburgs – jeder verfügbare Steinmetz sollte an der Erbauung der neuen russischen Hauptstadt arbeiten. Die Flucht von Arbeitern aus der Stadt und vom oft tödlichen Bauprojekt wurde mit harten Strafen geahndet. 1706 wurden 30.000 Leibeigene im Zarentum Russlands zwangsrekrutiert, 1707 waren es 40.000. Ungefähr die Hälfte von ihnen schaffte es, auf dem Weg nach Nordwesten zu fliehen. Schon während der Errichtung der Stadt kamen vermutlich Zehntausende von Zwangsarbeitern und Leibeigenen ums Leben. Sie starben an Sumpffieber, Skorbut, an der Ruhr oder einfach an Hunger und Entkräftung. Große Teile der Stadt sind auf Pfählen im Boden errichtet, aufgrund der großen Zahl von Toten beim Bau sprechen viele Leute davon, dass sie eigentlich auf Skeletten ruht. Zudem befand Russland sich noch bis 1721 im Krieg gegen Schweden, mehrere Gefechte fanden in der Nähe der gerade gegründeten Zarenresidenz statt (vgl. Angriffe auf Sankt Petersburg). Erst nachdem die Schweden 1709 in der Schlacht bei Poltawa geschlagen worden waren, konnte die Stadt weitgehend als gesichert angesehen werden. Da der russische Adel nicht bereit war, in die Stadt zu ziehen, beorderte Peter ihn nach Sankt Petersburg. Die Familien mussten auf eigene Kosten mit ihrem gesamten Haushalt in die Stadt ziehen, in Häuser, deren Stil und Größe genau festgeschrieben waren. 1714 standen in Sankt Petersburg etwa 50.000 bewohnte Häuser, die Stadt war die erste in Russland, die eine offizielle Polizei sowie eine effektiv funktionierende Feuerwehr hatte. Die Innenstadt wurde abends und nachts künstlich beleuchtet, die Bewohner dazu angehalten, Bäume zu pflanzen. Sankt Petersburg wird Hauptstadt Das Bauprogramm des Zaren konnte nur mit drastischen Maßnahmen durchgeführt werden. Baumaterialien waren an der Newamündung ein seltenes Gut. So wurde 1710 ein Erlass herausgegeben, nach dem jeder Einwohner der Stadt jährlich 100 Steine abliefern oder aber eine hohe Geldstrafe zahlen musste. Jedes Frachtschiff, das die Stadt anlief, musste einen bestimmten Prozentsatz der Ladung Steine anliefern. Ein Erlass von 1714 besagte, dass Steinbauten nur noch in Sankt Petersburg gebaut werden durften (dieser Erlass wurde erst 1741 wieder aufgehoben). Die drakonischen Erlasse des Zaren zeigten Erfolg: Schon 1712 erklärte Peter der Große Sankt Petersburg anstelle von Moskau zur Hauptstadt des Russischen Zarentums (ab 1721: des Russischen Kaiserreichs). Bis auf ein kleines Zwischenspiel in den Jahren 1728–1732, als der Hof wieder in Moskau residierte, blieb Petersburg bis 1918 Hauptstadt Russlands. Blütezeit Peter ließ Handwerker und Ingenieure aus ganz Europa, insbesondere aus Deutschland und den Niederlanden, kommen, welche die neue Hauptstadt von Anfang an zu einem Zentrum europäischer Technik und Wissenschaft machen sollten. Zu dieser Zeit wurde die deutschsprachige St. Petersburgische Zeitung gegründet, die erste Zeitung der Stadt. Das Wachstum der Stadt hielt weiter an. So zählte St. Petersburg 1725 bereits 70.000 Einwohner. Nach dem Tod Peters des Großen 1725 legte sich der Enthusiasmus der russischen Herrscher für das Fenster nach Europa. Im Jahr 1727 wurde Moskau für kurze Zeit wieder Hauptstadt. Erst Kaiserin Anna kehrte nach Sankt Petersburg zurück und machte St. Petersburg erneut zur Hauptstadt. Annas stadtplanerische Entscheidungen prägen Petersburg bis in das 21. Jahrhundert. Sie verlegte zum einen das Stadtzentrum von der sogenannten Petrograder Seite auf die Admiralitätsseite der Newa, zum anderen legte sie die wichtigsten Hauptstraßen, den Newski-Prospekt, die Gorochowaja Uliza und den Wosnessenski-Prospekt an. Trotzdem residierte sie weiterhin lieber und öfter in Moskau. Kaiserin Elisabeth (1741–1762) und vor allem Katharina II. „die Große“ (1762–1796) öffneten das Reich wieder verstärkt nach Westen, indem sie Künstler und Architekten nach Sankt Petersburg holten. Durch das Einladungsmanifest Katharinas wurden unter anderem Religionsfreiheit und die Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Sprache zugesichert, ferner eine finanzielle Starthilfe. In der Zeit Elisabeths entstanden die meisten der Prunkbauten, die noch immer das Stadtbild bestimmen. Sie ließ unter anderem den Winterpalast und das Smolny-Kloster bauen. Den Katharinenpalast ließ sie zu Ehren ihrer Mutter umgestalten, der Stil Francesco Rastrellis begann die Stadt zu prägen. Die nach Peter wahrscheinlich wichtigste Gestalt in der Geschichte der Stadt ist Katharina die Große, die 1762 den Thron bestieg. Sie sah sich – zumindest bis die Französische Revolution ausbrach – dem Geist der Aufklärung verpflichtet und setzte auf Bildung und Kunst. Katharina II. gründete in ihrer Zeit 25 akademische Einrichtungen sowie mit dem Smolny-Institut die erste staatliche russische Schule für Mädchen. Das Reiterstandbild Peters des Großen, ein Wahrzeichen der Stadt, stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte die Stadt eine Blütezeit, vorerst vor allem auf kulturellem, später auf wissenschaftlich-technischem Gebiet. Die erste russische Ballettschule entstand 1738 in der Stadt. 1757 eröffnete die Akademie der Künste, in der seitdem Maler, Bildhauer und Architekten ausgebildet werden. Theater und Museen, höhere Schulen und Bibliotheken entstanden: 1783 wurde das Mariinski-Theater eröffnet, in dem später die großen Nationalopern Michail Glinkas aufgeführt werden sollten. 1810 wurde eine militärische Ingenieursschule gegründet, das erste höhere Bildungsinstitut für Ingenieure in Russland (nach mehreren Umbenennungen, so 1855 in Nikolajewski-Militärakademie für Ingenieurswesen und zuletzt 1997, besteht sie nunmehr als Militärische ingenieurtechnische Universität). 1819 wurde aus dem Pädagogischen Institut die Petersburger Universität. Bis auf wenige Ausnahmen waren vor allem deutsche Handwerker daran beteiligt, dass Sankt Petersburg Zentrum des russischen Klavierbaus wurde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gab es in Sankt Petersburg 60 Manufakturen und Fabriken für Klavierbau, darunter Tischner, Diederichs, Mühlbach, Becker, Lichtenthal, Tresselt, Ihse oder Wirth. Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland durch Kaiser Alexander II. sorgte ab 1861 dafür, dass zahlreiche Menschen in die Stadt einwanderten. Die Bevölkerungszahl schnellte innerhalb weniger Jahre empor. Schriftsteller und Intellektuelle schlossen sich in literarischen Kreisen zusammen und gaben Wörterbücher und Zeitschriften heraus. Der Brockhaus-Efron entstand 1890 als erste russische Enzyclopädie in Sankt Petersburg. Zu den wichtigsten Zeitschriften zählen etwa der Polarstern von Rylejew und Bestuschew oder Puschkins Sowremennik (Der Zeitgenosse). Aufstände, Attentate, Revolutionen In der Soldaten- und Regierungsstadt Sankt Petersburg fanden bis 1918 alle wichtigen Revolten und Revolutionen der russischen Geschichte statt, der Dekabristenaufstand 1825 ebenso wie die Ereignisse, die langfristig zur Gründung der Sowjetunion führten. In Sankt Petersburg nahmen Ende des 19. Jahrhunderts Unruhen und kleinere Aufstände zu. Die Stadt war Schauplatz zahlreicher Attentate gegen Mitglieder des Zarenhofs und der russischen Verwaltung; unter anderem wurde hier 1881 Alexander II. ermordet. Revolutionäre Parteien und Vereinigungen gründeten sich, die von der Polizei blutig verfolgt wurden. In Sankt Petersburg begann mit dem Petersburger Blutsonntag die Revolution von 1905 bis 1907. Als Folge wurde die zweite Duma der russischen Geschichte in der Stadt eröffnet, sie blieb politisch allerdings einflusslos. Die Februarrevolution 1917 fand vor allem in Sankt Petersburg statt. Das Startsignal für die Oktoberrevolution 1917 gab ein Schuss des Kreuzers Aurora im Petrograder Hafen. Der nahe gelegene Hafen von Kronstadt bildete das Zentrum eines anarchistisch und rätekommunistisch inspirierten Matrosenaufstands gegen die Diktatur der Bolschewiki, der von Leo Trotzki blutig niedergeschlagen wurde. Lenin erklärte Moskau (wieder) zur sowjetischen und russischen Hauptstadt. Die Bevölkerungszahl der Stadt sank innerhalb weniger Jahre erheblich primär durch Bürgerkrieg und die dadurch verursachte Hungersnot und sekundär durch den Statusverlust und den Umzug der gesamten Regierung und Verwaltung nach Moskau. Leningrad Nach dem Tode Lenins wurde die ehemalige Stadt der Zaren in Leningrad umbenannt. Dies beschloss der zweite Rätekongress der UdSSR am 26. Januar 1924 auf einen entsprechenden Wunsch des Petrograder Rates der Deputierten hin. Das Machtzentrum der Sowjetunion verschob sich dennoch immer mehr nach Moskau. Hatten die Funktionäre der KPdSU in Leningrad anfangs noch gesamtstaatlichen Einfluss, änderte sich das mit dem Ausbau der persönlichen Macht Stalins. 1934 wurde im Rahmen der stalinistischen Säuberungen der populäre Leningrader Parteichef Sergei Kirow in seinem Büro ermordet, der ehemalige Vorsitzende des Petrograder Sowjets Grigori Sinowjew fiel einem Schauprozess zum Opfer, ein anderer ehemaliger Vorsitzender des Petrograder Sowjets, Leo Trotzki, wurde 1940 im mexikanischen Exil umgebracht. In der Stadtplanung zeigte sich die Auseinandersetzung zwischen Moskau und Leningrad. Der Generalplan von 1935 sah vor, das Stadtzentrum nach Süden zu verlegen, an den neu geschaffenen Moskauer Platz am Moskauer Prospekt. Zentrum Leningrads sollte das an dessen Ostseite gelegene Haus der Sowjets werden, ähnlich dem für Moskau geplanten Palast der Sowjets. Der Moskauer Platz und seine Umgebung sind in der Form des typischen Zentrums der Sozialistischen Stadt angelegt, wie man es dutzendfach in der Sowjetunion finden konnte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und materielle Schwierigkeiten bedeuteten schließlich das Aus für die Verlegung des Zentrums. Der Platz ist der größte der Stadt. Beobachter werten den Leningrader Generalplan allgemein als Angriff auf das alte Petersburg. Durch die Verlegung des Zentrums sollte das alte Sankt Petersburg abgewertet werden. Form und Benennung („Moskauer Platz“, „Moskauer Prospekt“) der neuen Mitte sollten der Stadt ihre Besonderheit nehmen und sie zu einer unter vielen Sowjetstädten machen. Leningrader Blockade Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt 871 Tage lang von deutschen Truppen unter Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb (Oberbefehl bis 16. Januar 1942) belagert. In der Zeit der Belagerung vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, in der die Wehrmacht auf Befehl Hitlers keine Eroberung Leningrads versuchte, sondern stattdessen die Stadt systematisch von jeglicher Versorgung abschnitt, starben über eine Million Zivilisten. Eine geheime Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 23. September 1941 lautete: „Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung.“ Ab Frühjahr 1942 wurde das historische Ingermanland, zu dem ein Großteil des Gebietes von Leningrad gehörte, dann als „deutsches Siedlungsgebiet“ in die Annexionspläne des Generalplans Ost mit einbezogen. Das implizierte den Genozid an den etwa drei Millionen Einwohnern Leningrads, die in dieser „Neuordnung des Ostraums“ keinen Platz mehr gehabt hätten. In der Zeit der deutschen Belagerung Leningrads konnten Nahrungsmittel zur Versorgung der Millionenstadt nur unter großen Gefahren per Flugzeug oder im Winter über den vereisten Ladogasee per Eisenbahn und Lkw („Straße des Lebens“) nach Leningrad gebracht werden. Die Route über den See lag im Schussfeld der Wehrmacht, im Schnitt kam von drei gestarteten Lastkraftwagen einer in Leningrad an. Besonders dramatisch war die Situation im Jahr 1941. Durch Luftangriffe wurde ein Großteil der Nahrungsmittelvorräte vernichtet, zudem brach der Winter ungewöhnlich früh ein. Der Abwurf gefälschter Lebensmittelbezugsscheine aus Flugzeugen der Wehrmacht tat ein Übriges. Die Rationen sanken im Oktober auf 400 Gramm Brot für Arbeiter, 200 Gramm für Kinder und Frauen. Am 20. November 1941 wurden sie auf 250 Gramm respektive 125 Gramm reduziert. Zudem herrschten Temperaturen von bis zu −40 Grad Celsius in einer Stadt, in der Heizmaterial äußerst knapp war. Allein im Dezember 1941 starben rund 53.000 Menschen. Viele von ihnen fielen einfach vor Entkräftung auf der Straße um. Während der Belagerung wurden etwa 150.000 Artilleriegeschosse auf die Stadt abgeschossen, etwa 100.000 Fliegerbomben fielen. Bei Versuchen der Roten Armee, die Belagerung zu sprengen, kamen dazu etwa 500.000 sowjetische Soldaten ums Leben. Versuche 1941 und 1942 scheiterten, erst mit der Einnahme von Schlüsselburg am 18. Januar 1943 gelang es, wieder eine Versorgungslinie in die Stadt zu etablieren. Die Offensive, welche die Stadt befreien sollte, begann am 14. Januar 1944 und konnte am 27. Januar 1944 zum Abschluss gebracht werden. Bis in die 1980er Jahre wurde die Leningrader Blockade von einigen Historikern nicht in Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gesehen, sondern davon abgekoppelt, beispielsweise von Joachim Hoffmann, als völkerrechtlich „zu den gebräuchlichen und unbestrittenen Methoden der Kriegführung“ gehörend gewertet. In der gegenwärtigen historischen Forschung wird der Charakter der Blockade als „Genozid“ herausgearbeitet, der kein schicksalhaftes Ereignis im Rahmen einer angeblich völkerrechtskonformen Kriegführung darstellte, sondern auf Basis einer „rassistisch motivierten Hungerpolitik“, verbunden mit selbstgeschaffenen Sachzwängen integraler Bestandteil des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion war. Die Historiker Jörg Ganzenmüller, Johannes Hürter und Adam Tooze zeigen in jüngeren Studien, dass der Hungertod der Bewohner sowjetischer Städte, mit Leningrad an herausragender Stelle, von der deutschen Kriegführung gezielt einkalkuliert war, schon weil die für ihre Versorgung notwendigen Nahrungsmittel für die Wehrmacht und die Zivilbevölkerung in Deutschland und den besetzten westeuropäischen Ländern eingeplant waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg Die Behandlung Leningrads nach dem Großen Vaterländischen Krieg, wie der Kampf gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg in Russland genannt wird, war widersprüchlich. Einerseits war die Stadt zu dem sowjetischen Symbol von Widerstandswillen und Leiden im Krieg geworden – andererseits tobten Machtkämpfe zwischen Leningrader und Moskauer Funktionären noch bis in die 1950er Jahre hinein. Der Wiederaufbau Leningrads wurde zu einer Prestigeangelegenheit der Sowjetunion. Innerhalb kürzester Zeit wurde eine Million Arbeiter in die Stadt gezogen, die sie wiederaufbauten – die Restaurierung der Kulturdenkmäler besaß dabei eine besondere Wertigkeit. 1945 erhielt die Stadt die Auszeichnung als Heldenstadt. In der Stadt bestanden die beiden Kriegsgefangenenlager 254 und 339 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Schwer Erkrankte wurden im Kriegsgefangenenhospital 1261 versorgt. Ebenfalls in den Nachkriegsjahren wurden zahlreiche neue Stadtteile gebaut – 1953 war das Jahr, in dem mehr neuer Wohnraum in der Stadt geschaffen wurde als je vorher oder nachher. Das 250-jährige Stadtjubiläum wurde verschoben: 1953 war der Machtkampf noch im Gange und jede positive Erwähnung unerwünscht – zudem war im März Stalin gestorben; eine Feierlichkeit, egal aus welchem Anlass, erschien nicht angebracht. Die Feier wurde 1957 unter Stalins Nachfolger Chruschtschow nachgeholt – ohne die Erwähnung, dass es eigentlich der 254. Geburtstag war. In den Folgejahren hielt die Stadt ihren Ruf als große Industriestadt und eines der wissenschaftlichen Zentren der Sowjetunion. Das politisch-kulturelle Zentrum Russlands und der Sowjetunion lag zu dieser Zeit aber klar in Moskau. Die Bevölkerung war durch die Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegszeit ebenfalls zu einem Großteil ausgetauscht worden – die Verbundenheit mit Petersburg in der Stadt wurde zunehmend schwächer. 1988 wurde bei einem Brand in der Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften ungefähr eine Million Bibliotheksbände ein Opfer der Flammen. 1989 wurde die Innenstadt unter Denkmalschutz gestellt. 1990 wurde die Innenstadt von Sankt Petersburg und die dazugehörigen Monumente zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. 1991 zerfiel die Sowjetunion. Russische Föderation, Sankt Petersburg Nach einer Volksabstimmung, in der sich am 12. Juni 1991 54 Prozent der Bevölkerung für die Rückkehr zum historischen Namen ausgesprochen hatten, stimmte der Stadtrat am 25. Juni 1991 der Umbenennung mit großer Mehrheit zu und die Stadt erhielt am 6. September 1991 durch ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR wieder den Namen Sankt Petersburg. Die umgebende Verwaltungseinheit blieb aber weiterhin als Leningrader Gebiet (Oblast Leningrad) bestehen. Während der Verfassungskrise unter Präsident Boris Jelzin im Oktober 1993 sammelte der damalige Petersburger Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak die Anhänger Jelzins um sich, es kam zu einer großen Demonstration vor dem Winterpalast gegen den Kongress der Volksdeputierten. 1999 wurde die Fläche der Stadt Sankt Petersburg durch die Satellitenstädte Kolpino, Puschkin, Lomonossow, Kronstadt, Peterhof sowie angrenzende Vororte erweitert. Diese ehemaligen Städte sind jetzt Stadtbezirke von St. Petersburg und gehören daher nicht mehr administrativ und territorial zur Oblast Leningrad. Am 27. Mai 2003 beging die Stadt ihr 300-jähriges Jubiläum. Zur Vorbereitung wurden Teile der Altstadt und verschiedene Paläste saniert. Der russische Staat gab dafür ein bis zwei Milliarden Euro aus. An den Kosten der Nachbildung des im Zweiten Weltkrieg verschollenen Bernsteinzimmers beteiligte sich die deutsche Firma Ruhrgas, eng verbunden mit dem staatlichen russischen Energiekonzern Gazprom, durch eine Spende von 3,5 Millionen Dollar. Am 31. Mai des Jahres weihten Russlands Präsident Wladimir Putin und Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder das rekonstruierte Bernsteinzimmer ein. Im Juli 2006 trafen sich hier internationale Politiker auf einem G8-Gipfel und im September 2013 auf einem G20-Gipfel. Durch einen Terroranschlag am 3. April 2017 wurden 14 Menschen in einem Zug in der Metro Sankt Petersburg getötet. Seit 1. Oktober 2019 ist ein visumfreier Besuch von bis zu 8 Tagen per E-Visum, das kostenfrei erteilt wird, für EU-Bürger möglich. Ab 2020 wurden die Gemeindeabgeordneten des Bezirks Smolninskoje an der Abhaltung ihrer Sitzungen im Bezirksgebäude gehindert; sie beschlossen daraufhin, jeweils auf dem Balkon zu tagen. Die beschlussfähigen Anwesenden der Sitzung vom 7. September 2022 besprachen neben dem Verkehrsproblem und dem Unterhalt von Fußgängerübergängen auch einen Antrag an die Russische Duma zur Anklage Wladimir Putins wegen Hochverrats aufgrund des gegen die Interessen Russlands begonnenen Überfalls auf die Ukraine. Der Antrag wurde mit sieben Stimmen bei drei Enthaltungen angenommen. Rein rechtlich muss der Beschluss protokolliert werden und müssen die Briefe an die Dumamitglieder versendet werden, welche den Hinweis auf laut Artikel 176, Kapitel 22, Abschnitt IV der Geschäftsordnung der Staatsduma enthalten, wonach die Duma-Abgeordneten das Recht haben, einen Antrag auf gerichtliche Klärung zu stellen. Der Appell wurde speziell formuliert, um die Armee nicht zu „diskreditieren“. Sofort wurden Ermittlungen exakt deswegen aufgenommen. Politik Sankt Petersburg ist Verwaltungssitz der Oblast Leningrad und des Föderationskreises Nordwestrussland. Innerhalb Russlands ist die Stadt jedoch – genauso wie Moskau – ein eigenständiges Verwaltungssubjekt. Die Spitze der Exekutive bildet der für vier Jahre direkt gewählte Gouverneur der Stadt. Die Legislative, die gesetzgebende Versammlung, besteht aus 50 hauptamtlichen Mitgliedern, die ebenfalls für vier Jahre gewählt werden. Der Vorsitzende der Kammer ist protokollarisch mit dem Gouverneur gleichgestellt. 1996 war es Wladimir Jakowlew, der Anatoli Sobtschak ablöste. Er präsentierte sich mehrfach als ideologisch ungebundener Pragmatiker. Sobtschak war hingegen ein strikter Reformer der nach-kommunistischen Ära, der aufgrund seines radikal marktwirtschaftlichen Kurses viele Animositäten in der Stadt erzeugte. Er verweigerte mehrmals die Entlassung Wladimir Putins aufgrund von Korruptionsvorwürfen, als dieser noch in der Stadtregierung arbeitete. Putin organisierte den erfolglosen 1996er-Wahlkampf von Sobtschak. Jakowlew trat im Oktober 2003 nicht mehr zur Neuwahl an. Seine Nachfolgerin wurde nach diesen Wahlen Walentina Matwijenko. Sie war die Favoritin Putins und der russischen Regierung. Matwijenko trat im August 2011 zurück und wurde im September als Vertreterin der Exekutive St. Petersburgs Vorsitzende des russischen Föderationsrats und somit zur Trägerin des dritthöchsten Staatsamtes in Russland. Gouverneur von 2011 bis 2018 war Georgi Poltawtschenko. Der Sohn eines aus Aserbaidschan nach Leningrad versetzen Marineoffiziers erhielt 1979–1980 eine Ausbildung an der KGB-Hochschule in Minsk. Danach übernahm er verschiedene Aufgaben beim KGB und beim KGB-Nachfolgedienst FSB. Von 1992 bis 1993 war er Leiter der Steuerfahndung und 1993 bis 1999 Chef der Steuerpolizei in Sankt Petersburg. Präsident Wladimir Putin ernannte ihn 1999 zum Vertreter des russischen Präsidenten in der Oblast Leningrad, später zum Generalgouverneur für Zentralrussland. In dieser Funktion war er Mitglied im russischen Sicherheitsrat. Am 30. August 2011 wurde er zum amtierenden Gouverneur von Sankt Petersburg ernannt und dem Stadtparlament zur Wahl vorgeschlagen. Von 52 Abgeordneten der gesetzgebenden Versammlung stimmten 37 für ihn. Am 31. August 2011 wurde er in sein Amt eingeführt. Seit dem 3. Oktober 2018 bis zur Gouverneurswahl im September 2019 war Alexander Beglow als kommissarischer Gouverneur eingesetzt. Am 8. September 2019 wurde er mit fast zwei Dritteln der Stimmen ins Amt gewählt. International und in Deutschland bekannt wurde die Stadt politisch unter anderem durch den Petersburger Dialog – die regelmäßigen deutsch-russischen Gespräche in der Stadt – und das Petersburger Komitee der Soldatenmütter, das regelmäßig gegen den Krieg in Tschetschenien und gegen die Gewalt in der Armee protestiert. Im Juli 2006 fand in Sankt Petersburg außerdem der jährliche G8-Gipfel statt, da Russland 2006 turnusgemäß den Vorsitz in der Gruppe der Acht übernommen hatte. 2013 fand am 5. und 6. September das Treffen der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in Sankt Petersburg statt. Wappen Bevölkerung Überblick Laut dem Ergebnis der letzten Volkszählung vom 14. Oktober 2010 hatte Sankt Petersburg 4.879.566 Einwohner. Das sind etwa drei Prozent der gesamten Einwohnerzahl Russlands. Im September 2012 wurde der fünfmillionste Einwohner registriert. Der durchschnittliche Bruttomonatslohn betrug 2009 nach offiziellen Angaben 23.000 Rubel. Sankt Petersburg war seit seiner Gründung eine Stadt großer sozialer Gegensätze. Seit der Perestroika und dem Untergang der Sowjetunion brechen diese wieder verschärft auf. In Sankt Petersburg galt eine Zuzugsperre – Wohnrecht in der Stadt erhielt nur, wer Wohnung und Arbeit nachweisen konnte oder mit einem Einwohner verheiratet war. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzte, dass in der Stadt im Jahr 2000 etwa 16.000 Straßenkinder lebten. Zu Beginn der COVID im Frühjahr 2020 gab es laut offizieller Statistik 8.000 Obdachlose. Die ehemals multikulturell geprägte Stadt ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts überwiegend, laut offizieller Statistik zu 89,1 %, von ethnischen Russen bewohnt. Dazu kommen 2,1 % Juden, 1,9 % Ukrainer, 1,9 % Belarussen sowie kleinere Gruppen von Tataren, Kaukasiern, Usbeken, Wepsen und Finnen. Trotz der zu Sowjetzeiten staatlich verordneten Religionsfeindschaft sind 2004 nach Schätzungen nur noch 10 Prozent der Bevölkerung Atheisten. Der Großteil ist russisch-orthodox, wobei es in der Stadt aber heftige Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Reformern gibt. Die Kirchengebäude gehören überwiegend dem russischen Staat. Peter der Große untersagte den Bau von Zwiebeltürmen. Dies ist der Grund, dass sich in der ganzen Stadt nur ein einziger solcher Turm aus der Vorkriegszeit findet – er befindet sich an der Stelle, wo Zar Alexander II. ermordet und die Auferstehungskirche für ihn errichtet wurde. Die zahlreichen Kirchenneubauten in den Randgebieten werden hingegen meist im traditionellen russischen Stil errichtet. 1914 wurde von der tatarischen Gemeinde am Nordufer der Newa die weithin sichtbare Petersburger Moschee errichtet. In der Nähe des Mariinski-Theaters befindet sich die im orientalischen Stil erbaute und 2003 komplett renovierte Synagoge. Sie ist das drittgrößte jüdische Gotteshaus in Europa. → Liste von Kirchen in Sankt Petersburg: Übersicht aller Kirchengebäude Bevölkerungsentwicklung Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1944 handelt es sich meist um Schätzungen, von 1959 bis 2010 um Volkszählungsergebnisse. In der Tabelle wird die Anzahl der Einwohner in der Stadt selbst ohne die Einwohner im Vorortgürtel aufgeführt, außerdem für die Volkszählungen 1959 bis 1989 für die Stadt mit Vororten (mit den im Umland liegenden Städten und Siedlungen städtischen Typs, die dem Leningrader Stadtsowjet unterstellt waren). Alle diese Städte und Siedlungen im Umland wurden 1998 eingemeindet, so dass die Angabe der Einwohner mit Vororten ab 2002 entfällt. Die Einwohnerzahl von 2002 ist daher mit der Zahl von 1989 mit Vororten zu vergleichen. Abzüglich der Einwohnerzahl der 1998 eingemeindeten Ortschaften hatte Sankt Petersburg im Jahr 2002 in den Grenzen von 1989 4.137.563 Einwohner. Die Einwohnerzahl der eigentlichen Stadt war also zwischen 1989 und 2002 um 322.861 zurückgegangen, die der ehemaligen Vororte um 39.426. In den Folgejahren stieg die Einwohnerzahl wieder stark an. Nach Berechnungen wurde die 5-Millionen-Grenze am 22. September 2012 überschritten. Das Wachstum ist allerdings ausschließlich auf Zuwanderung zurückzuführen, da die Sterberate in den vorhergehenden Jahren weiterhin die Geburtenrate übertraf. Architektur Architekturgeschichtliche Übersicht Die ab 1703 erbaute Stadt ist vergleichsweise jung. Ihre Baukunst wurde stärker von westeuropäischen Vorbildern beeinflusst als etwa Moskau. Markanter als bei jeder anderen Metropole ist das Stadtbild Petersburgs geprägt vom Klassizismus in all seinen Spielarten, auch wenn Historismus und Jugendstil die Gebrauchsarchitektur an den Straßenzügen der Innenstadt mitbestimmen. Die barocken Bauten der Zeit Peters des Großen († 1725) sind von zunächst holländischen, dann auch französischen Vorbildern bestimmt. Eine fast klassizistische Strenge und Zurückhaltung im Dekorativen sind Merkmale des ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die Gliederung der Palastfassaden verwendet eher flache Pilaster als plastische Säulen. Trezzini ist der maßgebende Architekt dieser Ära. In seine Zeit fällt die Anlage der drei breiten, vom Turm der Admiralität ausgehenden Hauptachsen („Prospekte“). Unter Elisabeth (1741–1761) verlagerte sich die Bautätigkeit auf das Südufer der Newa. Ein 1730 vorgelegter Generalbebauungsplan legte detaillierte Bestimmungen für Traufhöhen und Fluchtlinien fest. In Elisabeths Regierungszeit werden die Gestaltungsmittel abwechslungsreicher. Die Fassaden bekommen kräftige Farben und schmuckhafte Dekorationselemente. Dichte Säulenreihen erzeugen Licht- und Schattenwirkungen und die Grundrisse werden komplexer. Die „altrussischen“ Stilelemente beschränken sich auf die Verwendung des Fünf-Kuppel-Motivs. Baumeister dieser Zeit waren vor allem Bartolomeo Francesco Rastrelli, daneben auch Sawwa Tschewakinski. Den Stil der Regierungszeit Katharinas der Großen (1762–1796) könnte man als „spätbarocken Klassizismus“ charakterisieren. Auf Bauplastik wird eher verzichtet und die Farbigkeit reduziert sich auf gelb-graue Töne. Ein Lieblingsmotiv repräsentativer Bauten ist fortan der Portikus. Iwan Starow und Giacomo Quarenghi waren die führenden Architekten. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzt in St. Petersburg der „Alexandrinische Klassizismus“ ein. Dem westeuropäischen Empire entsprechend verbindet er mit dem treu nachgeahmten Vorbild der „dorischen“ Antike strenge Geradlinigkeit und monumentale Wirkung. Im ersten Drittel des Jahrhunderts entstanden bedeutende Platzanlagen, wie die vor der Kasaner Kathedrale, auf der Wassiljewski-Insel (Strelka), dem Marsfeld (1817–1829), und der Schlossplatz sowie das gesamte Viertel um das Alexandrinski-Theater bekamen ihre heutige Gestalt. Bedeutendster Architekt dieser Zeit war der Italiener Carlo Rossi. Eine mit russischen Elementen angereicherte Variante dieses Stils wurde vor allem von Wassili Stassow gepflegt. Der Historismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit seinen Bahnhofs-, Theater-, Warenhaus-, Bank-, Zirkus- und Wohnhausfassaden folgt weitgehend westeuropäischen, aus Renaissance und Barock abgeleiteten Stilmustern. Eine so weitgehende Rezeption „altrussischer“ Architekturmotive wie bei der Auferstehungskirche bleibt seltene Ausnahme im Stadtbild. Die Bauten des „Jugendstils“ zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, in Russland auch als Petersburger Moderne bezeichnet, sind noch eher von einer Anhäufung klassizistischer oder eklektizistischer Versatzstücke geprägt, als von der floralen Eleganz des Art Nouveau in Wien oder den romanischen Ländern. Den Übergang zu der formal strengen, ornamentlosen Architektur der Moderne markiert die Deutsche Botschaft von Peter Behrens. Nach der Oktoberrevolution wurden einige konstruktivistische Projekte verwirklicht. In der totalitären Ära ab 1932 war eine gemäßigte Form des Stalinschen Monumentalstils („Sozialistischer Klassizismus“) zu beobachten. Zentrum der Bautätigkeit war das neugeplante Stadtviertel um das Haus der Sowjets am Moskauer Platz. Die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, deren erklärtes Ziel es war, die Stadt „vom Erdboden verschwinden zu lassen“, brachte schwerste Zerstörungen über die Stadt. Bei der enormen Kraftanstrengung des Wiederaufbaus nach 1945 wurde großer Wert auf die Wiederherstellung des alten Stadtbildes und die Restaurierung der denkmalwerten Architektursubstanz gelegt. Markante Beispiele für Neubauten sind die Stationen der Metro sowie der Moskowski-Prospekt. In den 1960er und 1970er Jahren erweiterte sich die Stadt durch riesige, planvoll angelegte Neubausiedlungen. Bauzustand und Denkmalschutz Sankt Petersburg war lange Zeit der Sitz der russischen Zaren. In der Stadt entfalteten sie die ganze Pracht ihres immensen Reichtums, von der zahlreiche Zeugnisse zu sehen sind. Im Hinblick auf die 300-Jahr-Feier im Jahr 2003 wurden zahlreiche der Sehenswürdigkeiten aufwendig restauriert. Die Stadt besitzt neben den 250 Museen ungefähr 4000 geschützte Kultur-, Geschichts- oder Baudenkmäler. 15 % der Gebäude in Sankt Petersburg – insgesamt rund 2400 Gebäude – wurden von der UNESCO als Denkmäler der Architekturgeschichte eingestuft. Damit wird Petersburg in dieser Hinsicht nur noch von Venedig übertroffen. Die Stadt hat allerdings Probleme, die Kosten zur Erhaltung dieser Baudenkmäler aufzubringen. Neben deren großen Anzahl gibt es auch andere Probleme: Teilweise sind die Häuser nach der Sowjetzeit in einem desaströsen Bauzustand und müssten dementsprechend aufwendig restauriert werden. Zum anderen sorgen die Industrie und der starke innerstädtische Verkehr für eine starke Luftverschmutzung, die insbesondere den Fassaden zusetzt. Obwohl seit 2004 Anstrengungen unternommen werden, zumindest einige Baudenkmäler zu privatisieren, gehören immer noch etwa 80 % aller Petersburger Immobilien dem russischen Staat. Stadtrundgang Markantestes Gebäude der Skyline und höchstes Gebäude der Stadt ist der Fernsehturm Sankt Petersburg. Er befindet sich außerhalb der Innenstadt, die vor allem auf der Admiralitätsseite der Newa liegt. Mit dem 462 Meter hohen Lakhta Center entstand der derzeit höchste Wolkenkratzer Europas; er wurde Mitte 2018 fertiggestellt. Historisches Stadtzentrum, UNESCO-Weltkulturerbe Der mit hunderten historischer Paläste und Gebäude ausgestattete Newski-Prospekt, die Haupteinkaufsstraße der Stadt, erstreckt sich über vier Kilometer von der Admiralität beziehungsweise der Eremitage nebst Dworzowaja Ploschtschad – dem Parade- und Schlossplatz – bis zum Alexander-Newski-Kloster, der sogenannten Lawra. Letzteres ist nach dem russischen Volkshelden Alexander Newski, der Prospekt allerdings nach der Newa benannt. Zu den am Newski-Prospekt gelegenen Sehenswürdigkeiten zählen die Kasaner Kathedrale und das Kaufhaus Gostiny Dwor. Der Prospekt stößt auf den Ploschtschad Wosstanija, den „Platz des Aufstandes“. Der Newski-Prospekt führt über folgende Kanäle: Der Fluss Moika in Höhe der Kasaner Kathedrale. Auf der linken Seite, also gegenüber der Kathedrale, sieht man am Ufer der Moika in geringer Entfernung die Christi-Auferstehungskirche, die der Basilius-Kathedrale am Roten Platz in Moskau äußerlich sehr ähnelt. Am Ufer der Moika befindet sich ebenfalls das Haus, in dem der russische Nationaldichter Puschkin lebte und nach einer schweren Verwundung in einem Duell mit dem Franzosen Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès verstarb. Die Moika wird unter anderem von der Grünen Brücke (in Höhe des Newski-Prospekts) und der Pozelujew-Brücke überspannt. Der Gribojedow-Kanal. Links (östlich) davon erstreckt sich das Marsfeld, der Sommergarten mit dem Sommerpalast und der Wladimir-Palast. Der Fluss Fontanka, den die Anitschkow-Brücke überspannt. Hier befindet sich der gleichnamige Palast, in dem der bekannte Schachtrainer Zak unter anderem mit dem späteren Weltmeister Spasski arbeitete. Unweit des Newski-Prospekts stehen weitere Sehenswürdigkeiten: das Russische Museum, das sich neben der Auferstehungskirche befindet, die Isaakskathedrale, die sich unmittelbar an die Admiralität und die Eremitage anschließt, die Peter-und-Paul-Festung – eine befestigte Insel, Haseninsel genannt, auf der dem Prospekt gegenüberliegenden Seite der Newa, mit zugehöriger Kathedrale, in der Zaren und Großfürsten beerdigt wurden. In einer Kapelle der Kathedrale wurde der letzte Zar Nikolaus II. mit seiner Familie und seiner Dienerschaft beigesetzt. In der Festung wurden schließlich zahlreiche Prominente der russischen Geschichte (im frühen 19. Jahrhundert zum Beispiel die Dekabristen, später die Anarchisten Michail Bakunin und Peter Kropotkin) festgehalten. Der Kreuzer Aurora kann auf derselben Newa-Seite nordwestlich der Festung besichtigt werden. Der eherne Reiter, das Smolny-Kloster, die Rossistraße, der Sommergarten und die Christi-Auferstehungskirche befinden sich alle auf der südlichen Newa-Seite. Als besonders reizvoll gilt ein Spaziergang durch die Stadt während der Weißen Nächte im Frühsommer, dem nächtlichen Höchststand der Sonne. Eine Besonderheit der Stadt sind die vielen Klappbrücken, die noch in den Nachtstunden für den Schiffsverkehr geöffnet werden. Dadurch kann evtl. ein kurz zuvor begangener Weg nicht mehr zurück gelaufen werden. Die Stadt heißt auch wegen ihrer vielen Wasserläufe, Inseln und Brücken Venedig des Nordens. In der südlichen beziehungsweise südwestlichen Umgebung Sankt Petersburgs sind das Schloss Peterhof, dieses UNESCO-Weltkulturerbe, Pawlowsk und die Stadt Puschkin beliebte Ausflugsziele. Im Letzteren ist im Katharinenpalast das nachgebaute Bernsteinzimmer zu besichtigen. Der Peterhof ist eine direkt am Meer gelegene weite Schlossanlage mit Palast, Schlosskirche, Orangerie, kleinen Lustschlössern wie „Monplaisir“, „Marly“ und einer besonders schönen Fontänen-Kaskade in Hanglage mit markanten vergoldeten wasserspeienden Bronzeskulpturen. Der Peterhof, der nach 35 Minuten Fahrt mit der Elektritschka vom Baltischen Bahnhof ausgehend mit Zielbahnhof Oranienbaum Haltepunkt ist, das Schloss Pawlowsk sowie der Katharinenpalast wurden im Verlauf des Zweiten Weltkrieges von den deutschen Besatzern zu großen Teilen verwüstet und nach dem Krieg in mühevoller Kleinarbeit wieder aufgebaut und restauriert. Vom Witebsker Bahnhof aus lassen sich Pawlowsk und Puschkin leicht mit dem 'Elektritschka'-Vorortzug erreichen. An dieser Bahnstrecke befindet sich der Halt „21 km“, der an der südlichen Belagerungslinie der Stadt im Zweiten Weltkrieg gebaut wurde. Neben den Gleisen erinnern gegen Süden gerichtete damalige Kanonen an die deutsche Belagerung. Kunst und Kultur Sankt Petersburg ist eine Stadt, in der Kunstsammlungen, Theater, Literatur, Ballett und Musik Weltgeltung besitzen. Museen, Galerien und Ausstellungskomplexe (Auswahl) Die Stadt weist nach eigenen Angaben 221 Museen auf. Darüber hinaus gibt es 45 Galerien und Ausstellungshallen sowie 80 Kulturhäuser (Stand November 2013). Sie lassen sich in vier Komplexe – Historische Museen, Kunstmuseen, Museen für Spezialgebiete sowie Museen berühmter Persönlichkeiten unterteilen. Kunstkammer Die 1734 gegründete Kunstkammer war die erste offizielle Sammlung von damals zeitgenössischen Kunstwerken. Eremitage Die Eremitage ist mit drei bis vier Millionen Besuchern im Jahr der bestbesuchte und wohl international wichtigste Ausstellungskomplex. Sie gehört zu den bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Sie beherbergt eine immens große Sammlung der europäischen bildenden Kunst bis 1917 sowie die weltweit größte Juwelensammlung. Das Museum nimmt fünf Bauten in Anspruch mit einer Gesamtausstellungsfläche von 57.475 m² und einer Lagerfläche von 45.000 m². Der Winterpalast, in dem sich ein Großteil der Sammlung befindet, ist dabei eine eigene Sehenswürdigkeit. In ihrem Archiv beherbergt die Eremitage mehr als 2,7 Millionen Ausstellungsstücke. In den 350 Ausstellungsräumen sind davon 65.000 organisiert in sechs Sammlungen ausgestellt. Es sind Sammlungen über Prähistorische Kunst, Kunst und Kultur der Antike, Kunst und Kultur der Völker des Ostens, Westeuropäische Kunst und Russische Kunst zu sehen, sowie Juwelenschätze und numismatische Exponate. Da der größte Teil der russischen Kunst mittlerweile in das Russische Museum ausgelagert wurde, ist die westeuropäische Kunst und Kultur der bedeutsamste Teil der Sammlung. Die Exponate umfassen unter anderem Werke von Leonardo da Vinci (eines bzw. – unter Kunsthistorikern umstritten – auch zwei der weltweit bekannten zwölf Originale), Raffael, Tizian, Paolo Veronese, El Greco, Goya, Lucas Cranach dem Älteren, mehr als 40 Bilder von Rubens, 25 Werke von Rembrandt und diverse seiner Schüler, Vincent van Gogh, 37 Bilder von Henri Matisse, Pierre-Auguste Renoir, Paul Gauguin, 31 Bilder von Pablo Picasso sowie Bilder von Édouard Manet und Wassily Kandinsky. Das Museum entstand als Privatsammlung der Zaren, seit 1852 war es öffentlich zugänglich. Nach der Oktoberrevolution wurden zahlreiche Privatsammlungen enteigneter russischer Adliger in die Eremitage überführt. Die Belagerung der Stadt überstanden die Bestände weitgehend unbeschadet im Keller des Museums, die wertvollsten Stücke waren ausgelagert worden. 1948 wurden die Kunstbestände aufgestockt durch einen großen Teil der Sammlung des Museums für neue westliche Kultur in Moskau. Von den vielen Touristenzielen der Stadt ist die Eremitage wahrscheinlich das bedeutendste. Es besteht eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Solomon R. Guggenheim Museum. Zentrales Marinemuseum Das 1709 gegründete Museum ist eines der ältesten Museen Russlands und zählt mit seinen 700.000 gesammelten Objekten zu den größten Schifffahrtsmuseen der Welt. In den 2014 neu bezogenen Ausstellungshallen wird in neunzehn Ausstellungshallen die Geschichte der russischen Seekriegsflotte nachgezeichnet. In fünf weiteren Sälen finden Wechselausstellungen statt. Zum Museum zählen sechs Außenstellen, beispielsweise der Kreuzer Aurora, der Ausstellungsort Straße des Lebens, die Festung Kronstadt mit der Nikolaus-Marine-Kathedrale, dem Artillerie-Gelände und der Gedenkausstellung für Alexander Stepanowitsch Popow oder das Museumsschiff Kreuzer Michail Kutusow. Erarta-Museum Das Erarta-Museum für zeitgenössische Kunst ist das größte private Museum für zeitgenössische Kunst in Russland. Im Bestand des Museums befinden sich über 2800 Werke zeitgenössischer Kunst, die von mehr als 300 Künstlern aus über 20 Regionen Russlands geschaffen wurden. Siehe auch Arktis- und Antarktismuseum Suworow-Museum Russisches Eisenbahnmuseum Im Vasileostrovsky Tram Depot (1906–1908, beachtl. Backstein-Gebäude; gleichnamige Metrostation), dem ältesten Depot der elektr. Tram, befindet sich das Museum zum Straßenbahn- (Tramwaj-) und dem Trolley-Bus-System Theater und Musik Als ältestes Ensemble gilt die 1497 gegründete Staatliche Akademische Kapelle. In der Stadt befinden sich 80 Theaterstätten und 100 Konzerthäuser. Das Mariinski-Theater ist eines der bekanntesten Opernhäuser der Welt. Es nahm seine Arbeit im Jahr 1783 auf und ist die Heimat des Mariinski-Balletts. Daneben ist das 1833 erbaute Michailowski-Theater, im 19. Jahrhundert auch Théâtre Michel, im 20. Jahrhundert lange Kleines Opernhaus, das bedeutendste Opernhaus der Stadt. Das Alexandrinski-Theater wurde auf Erlass der Zarin Elisabeth I. 1756 gegründet. Eine aus Schülern des Kadettenkorps zusammengestellte Truppe bildete das erste ständige Theater Russlands. Erst 1832 erhielt das Ensemble sein heutiges prächtiges Gebäude, das unter Leitung des Architekten Carlo Rossi entstand. Von 1901 bis 1906 bestand das bekannte Neue Theater in der Uferstraße (набережной р. Мойки) 61. Im Rahmen der klassischen Musik sind neben der Oper (siehe oben) vor allem die Sankt Petersburger Philharmoniker zu nennen. Im gleichnamigen Gebäude in der Stadt befindet sich das Stammhaus dieses Orchesters. In der Stadt lebten und arbeiteten die Komponisten Michail Glinka, Modest Mussorgski, Nikolai Rimski-Korsakow, Pjotr Tschaikowski, Igor Strawinski und Dmitri Schostakowitsch. Michail Glinka (1804–1857), in Nowo-Spaskoje geboren, studierte am Adelsinstitut von Sankt Petersburg, sein Grabmal befindet sich auf dem Tichwiner Friedhof. Die Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgski (1839–1981) wurde im Mariinski-Theater uraufgeführt. Alexander Borodin (1833–1887) wurde in Sankt Petersburg geboren und ist in der Stadt gestorben. Schostakowitsch (1906–1975), geboren in Sankt Petersburg, studierte von 1919 bis 1925 am Petrograder Konservatorium. Während der Belagerung komponierte er 1941 seine Leningrader Symphonie. Die ersten drei Sätze entstanden während der Leningrader Blockade durch die Deutschen. Die Sinfonie ist Ausdruck des Durchhaltewillens der Leningrader Bevölkerung und aller sowjetischen Menschen. Sie wurde vollendet und in Kuibyschew uraufgeführt. Die Orchesterpartituren hatten Helfer danach durch die deutsche Blockade hindurch in die Stadt (Leningrad) geschafft, und unter Lebensgefahr für Aufführende und Zuhörer fand das Konzert im Großen Saal der Philharmonie am 8. August 1942 unter Karl Eliasberg statt, welches im gesamten sowjetischen Rundfunk übertragen wurde. Im Jahr 1975 erhielt dieser Saal den Namen Schostakowitsch-Saal. Mit der nachlassenden Staatskontrolle in der Perestroikazeit entwickelte sich im Leningrad der 1980er Jahre eine sehr lebendige Rockmusikszene. Ein Teil der Bands entstand unter dem Dach des Leningrader Rockclubs, andere waren aus verschiedenen Landesteilen hierhergezogen. Im Gegensatz zur Hauptstadt Moskau, wo die Bürgerfreiheiten strenger überwacht wurden, konnte sich die Kunst in Leningrad vergleichsweise frei entfalten. Die damals entstandenen Bands und Interpreten haben ihren Einfluss nicht verloren. Zu diesem Teil der russischen Musikszene, der in Russland als „Piterski Rock“ („Petersburger Rock“) bekannt ist, zählen Bands wie „Aquarium“ mit Boris Grebenschtschikow, „Kino“ mit Wiktor Zoi, „Alissa“ mit Konstantin Kintschew, „AuktYon“ mit Leonid Fjodorow, „Pop-Mechanika“ mit Sergei Kurjochin, „Zoopark“ mit Michail „Mike“ Naumenko oder „DDT“ mit Juri Schewtschuk (aus Ufa). Diese Musik lehnt sich an westliche Stilrichtungen an, behält aber die für „das russische Ohr“ typische Tonalität bei. In den Liedertexten finden sich oft Parallelen zu den Autoren des Silbernen Zeitalters, einer kulturellen Blütezeit in Petersburg und Moskau am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ballett Die Stadt ist einer der wichtigsten Orte für die Entwicklung des Balletts. Sergei Djagilew, Marius Petipa, Vaslav Nijinsky, Mathilda-Maria Kschessinskaja und Anna Pawlowa waren maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Hier befindet sich die wahrscheinlich berühmteste Ballettschule der Welt – die Waganowa-Ballettakademie, gegründet im Jahr 1738. Petersburg im Film Das Ende der kulturellen Blütezeit Sankt Petersburgs fiel zeitlich mit dem Aufkommen der Filmindustrie zusammen. Bei bemerkenswerten Filmen bis 1990 handelt es sich zu einem Großteil um Verfilmungen klassischer russischer Literatur. Es gibt dutzende Verfilmungen von Anna Karenina (die ersten sind eine russische und eine französische, beide von 1911, die erste westliche, die vor Ort gedreht wurde, ist von 1997) oder einige Versionen von Dostojewskis Der Idiot (die erste ist eine russische, von 1910). Einige Filme beziehen sich auf die Stadtgeschichte. Neben einer großen Anzahl sowjetischer Propagandafilme gibt es bisher aber erst wenige Werke: In seiner Art eigenständig ist der Film Noi Vivi (Italien, 1942), eine Verfilmung des in der Stadt spielenden Buches von Ayn Rand Wir leben, der vor dem Hintergrund der sowjetischen Oktoberrevolution eine Kritik des faschistischen Italien versucht. Die Geschichte um die Tochter des letzten Zaren Anastasia wurde mehrfach verfilmt. Besonders bekannt sind die Versionen von 1956 mit Ingrid Bergman und das Zeichentrick-Musical (USA, 1997) von Don Bluth, ehemaliger Chefzeichner von Walt Disney. Besonders das Zeichentrick-Musical bezieht sich zwar sowohl auf die Stadtgeschichte als deren optische Opulenz, verfremdet beides aber so stark, dass es kaum wiederzuerkennen ist. Der italienische Spezialist für Filme über die russische Geschichte Giuseppe Tornatore drehte einen Film über die Belagerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Für die meiste internationale Resonanz sorgte bisher von allen Petersburger Filmen Russian Ark, der, in der Eremitage gedreht, 300 Jahre russische Geschichte in einem einzigen Schnitt Revue passieren lässt. Der Film Der Untergang wurde in der Stadt gedreht, da die historische Innenstadt in Teilen große Ähnlichkeiten mit dem Berlin des Jahres 1945 aufweist. In Petersburg (damals noch Leningrad) spielt der Kultfilm Intergirl von Pjotr Todorowski, der letzte große Kinoerfolg der Sowjetunion vor deren Untergang. Der James-Bond-Film GoldenEye (1995) zeigt die Stadt in einem schon fast postapokalyptisch zu nennenden Zustand. Ein anderer britischer Action-Film, Midnight in St. Petersburg (1996) hingegen hat opulente Aufnahmen der Petersburger Sehenswürdigkeiten. Der Film Onegin (1999) mit Ralph Fiennes und Liv Tyler in den Hauptrollen, nimmt den Stoff des Puschkin-Gedichtes als Ausgangspunkt. In Das Rußland-Haus, einem Spionage-Thriller mit Sean Connery, Michelle Pfeiffer und Klaus Maria Brandauer, wird ein romantisches Bild der Stadt gezeigt. Masjanja (russisch Масяня) ist eine beliebte russische nicht-kommerzielle Internet-Trickfilm-Serie, deren Handlung in Sankt Petersburg spielt. Literatur Zahlreiche bekannte russische Künstler haben in Sankt Petersburg gelebt und gearbeitet, darunter Literaten wie Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski, Nikolai Gogol, Anna Achmatowa, Alexander Blok und Joseph Brodsky. Bibliotheken Die Stadt besitzt rund 2000 Bibliotheken, von kleinen Volksbibliotheken in den einzelnen Stadtteilen bis zu mehreren bedeutenden Büchersammlungen. Die Russische Nationalbibliothek ist die zweitgrößte Bibliothek Russlands und eine der drei Nationalbibliotheken des Landes. Sie wurde 1795 durch Katharina II. gegründet und hat einen Bestand von über 30 Millionen Medien, davon über 450.000 Handschriften (Ostromir-Evangeliar, Codex Petropolitanus Purpureus, Codex Leningradensis u. a.). In ihrem Bestand befinden sich Bücher in 85 Sprachen. Die 1714 gegründete Bibliothek der Akademie der Wissenschaften weist über 20 Millionen Bände auf. Die Puschkin-Bibliothek besitzt mit 5000 Werken einen wertvollen Bestand von Werken aus der privaten Bibliothek des Dichters. Die Präsidentenbibliothek Boris Jelzin wurde 2009 gegründet und ist vor allem als Onlinebibliothek von historischen und diplomatischen Dokumenten ausgerichtet. Der Petersburger Text Petersburg, als Zarenstadt über Jahrhunderte kulturelles Zentrum Russlands, zog eine große Zahl von Schriftstellern an, welche die Stadt literarisch verewigten. Nachdem in den ersten Jahrzehnten nach dem Bau der Stadt den Zaren preisende Auftragslyrik das Bild bestimmt hatte, begann 1833 mit Puschkins Gedicht Der eherne Reiter eine andere Art der Literatur dominant zu werden. Das Gedicht thematisiert den russischen Beamten Jewgeni, der am Reiterstandbild Peters des Großen, dem Wahrzeichen der Stadt, zur Zarenbeschimpfung ansetzt. Doch er erregt den Zorn der Statue. Und auf des Hengstes blankem Rücken Mit der emporgestreckten Hand Ihn vorwärts treibend mit den Blicken Braust funkensprühend der Gigant Der arme Irre hastet weiter Wohin auch immer er sich kehrt, Der eherne, erzürnte Reiter Folgt überall auf seinem Pferd. Diese späteren Texte haben eine verblüffende Ähnlichkeit bei Motiven, Sprache, Atmosphäre, aber auch beim Sinn. Der Moskauer Kultursemiotiker Wladimir Toporow prägte dafür 1984 im Aufsatz Petersburg und der Petersburger Text der russischen Literatur (Peterburg i peterburgskij tekst russkoj literatury) den Begriff des „Petersburger Texts“. Die Allgegenwart der Macht des Zaren wie des russischen Staatsapparates, die Beamten- und Soldatenstadt sind ebenso ein stetig wiederkehrendes Thema wie der Wahnsinn, Hochwasser und Überschwemmung, Zerstörung, Untergang, Fieberwahn und (Alb-)Traumstadt. Viele Literaten attestieren der Stadt eine gewisse Unwirklichkeit, eine Aura dessen, dass sie nicht ganz real ist. Das beginnt schon mit dem Mythos, die Stadt sei in der Luft gebaut worden und erst danach auf die Erde gesunken, weil man auf diesem Gelände eigentlich gar nicht bauen könne. Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky attestiert: „Es gibt keinen Ort in Russland, wo die Imagination sich mit solcher Leichtigkeit von der Realität ablöst.“ Nikolai Gogol sagte bereits 1835 über den Newski-Prospekt: „Hier ist alles Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint.“ Allein der Plan, eine Großstadt am Ende der Welt inmitten von Sümpfen zu bauen, gibt Sankt Petersburg diesen Gründungsmythos mit, der die literarische Stimmung bis zur Oktoberrevolution bestimmt. Selbst Giacomo Casanova ließ sich von der Stimmung der Stadt beeinflussen. 1764 schrieb er: „Alles erschien mir, als hätte man es schon als Ruine gebaut. Man pflasterte die Straßen und wusste, dass man sie sechs Monate später erneut würde pflastern müssen.“ Besonders bekannte Nachfolger Puschkins waren in dieser Tradition Nikolai Gogol mit dessen Petersburger Erzählungen sowie der wahrscheinlich berühmteste Schriftsteller der Stadt, Fjodor Dostojewski, dessen Romane und Erzählungen Weiße Nächte, Arme Leute, Der Doppelgänger, Der Idiot und Schuld und Sühne in der Stadt spielen. Das Haus seiner Romanfigur Raskolnikow findet sich in der Stadt, über die er schreibt: „Es wehte ihn daraus immer eine rätselhafte Kälte an, dieses prächtige Panorama war für ihn mit einem stummen, dumpfen Geist erfüllt.“ Mit dem symbolistischen Roman Petersburg (1913) schrieb Andrei Bely eines der Meisterwerke der russischen Literatur. Er steht am Beginn der Reihe der Großstadtromane der Moderne und wurde so oft mit James Joyce’ Ulysses und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz verglichen. Mit der Oktoberrevolution und der Verlagerung der Hauptstadt entstanden weiterhin literarische Werke hoher Bedeutung, die allerdings nicht mehr den typischen Petersburger Text widerspiegelten. Alexander Bloks Erzählung Die Zwölf von 1918 schilderte den Marsch von zwölf Rotarmisten durch die Stadt. Schließlich erscheint Jesus an der Spitze der Gruppe. Daniil Charms, einer der letzten Vertreter der frühen russischen Avantgarde, verfasste neben Die Komödie der Stadt Petersburg zahlreiche kurze Stücke. Eines davon, An der Kaimauer, greift wiederum die klassischen Motive des Petersburger Textes auf: An der Kaimauer unseres Flusses hatte sich eine sehr große Menschenmenge versammelt. In den Fluss gefallen war der Regimentskom- mandeur Sepunow. Er verschluckte sich in einem fort, sprang bis zum Bauch aus dem Wasser. […] „Er geht unter“, sagte Kusma. „Klar geht er unter“, bestätigte ein Mann mit einer Schirmmütze. Und tatsächlich, der Regimentskommandeur ging unter. Die Menge begann sich zu verlaufen. Der gebürtige Petersburger Vladimir Nabokov kehrt in seinen Büchern immer wieder an den Ort seiner Kindheit zurück. Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam, Welimir Chlebnikow, Sergei Jessenin und Joseph Brodsky verewigten die Stadt durch ihre Lyrik. Ebenso wie als Stadt der Literatur erschien die Stadt immer als eine der verfolgten Literatur. Bereits Dostojewski und Puschkin wurden vom Zar verfolgt, nach der Oktoberrevolution wurden zahlreiche Literaten ermordet, bekamen Berufsverbot oder sie wanderten aus, sofern es ihnen möglich war. Ossip Mandelstam bemerkte: „Kein anderes Land nimmt Poesie so wichtig wie Russland, nirgendwo sonst werden ihretwegen so viele Menschen umgebracht.“ Gedenkstätten Auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof wird der Opfer der 900-tägigen Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht gedacht. Die Blockade wurde am 27. Januar 1944 durch Sowjettruppen beendet. Sport Fußball Der bekannteste Sportverein der Stadt ist der 1925 gegründete Fußballklub Zenit St. Petersburg. Die Saison 2007 konnte Zenit erstmals als russischer Meister abschließen. Von 1950 bis 1992 diente das mittlerweile abgerissene Kirow-Stadion, das insgesamt 72.000 Zuschauern Platz bot, als Heimspielstätte für Zenit Sankt Petersburg. Im Jahre 1993 zog die Mannschaft in das 1925 erbaute und 21.570 Zuschauer fassende Petrowski-Stadion um, das bis April 2017 vom Verein für die Heimpartien genutzt wurde. Der Verein gehört seit einigen Jahren dem gleichzeitigen Hauptsponsor Gazprom, der seit der Übernahme viele Millionen in die Verstärkung des Kaders sowie den laufenden Bau der neuen Gazprom-Arena gesteckt hat. Im Spieljahr 2007/2008 gewann der Fußballklub nach 4:1 im Viertelfinale gegen Bayer Leverkusen und 4:0 gegen Bayern München im Halbfinale den UEFA-Pokal in Manchester durch ein 2:0 gegen die Glasgow Rangers sowie in Monaco den UEFA Super Cup mit einem 2:1 gegen Manchester United. Zur Saison 2010 feierten sie den russischen Pokalsieg durch ein 1:0 gegen FK Sibir Nowosibirsk im Rostower Stadion Olimp-2. 2011 und 2012 wurde Zenit erneut russischer Meister. Sankt Petersburg war einer der Austragungsorte der Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Hierzu wurde in der Stadt die Gazprom-Arena errichtet, die ebenfalls für den FIFA-Konföderationen-Pokal 2017 genutzt wurde. Andere Ballsportarten Der Damen-Volleyballverein Leningradka Sankt Petersburg spielt in der höchsten Spielklasse Russlands, der Superleague. Darüber hinaus ist in der Stadt der Basketballverein BK Spartak Sankt Petersburg beheimatet. Die Handballmannschaft der Herren des GK Newa St. Petersburg nimmt am Spielbetrieb der Super League sowie der EHF Champions League teil. Im Dezember 2005 wurde in Sankt Petersburg die Handball-Weltmeisterschaft der Frauen 2005 ausgetragen, wobei die Heimmannschaft zum Weltmeister wurde. Eishockey Der Eishockeyverein SKA Sankt Petersburg spielt in der Kontinentalen Hockey-Liga, während der HK WMF Sankt Petersburg am Spielbetrieb der Wysschaja Hockey-Liga teilnimmt. Die größten Eishockeystadien sind das SKK Peterburgski, der Eispalast Sankt Petersburg und der Jubileiny-Sportkomplex. Im Eispalast wurde das KHL All-Star Game 2011 ausgerichtet. In Sankt Petersburg wurde in den Jahren 2000 und 2016 um die Eishockey-Weltmeisterschaft gespielt. Schach Zu den Bewohnern von Sankt Petersburg zählten einige herausragende Schachspieler: Michail Botwinnik (langjähriger und mehrmaliger Weltmeister zwischen 1948 und 1963), Boris Spasski (Weltmeister von 1969 bis 1972, über Schachgrenzen hinaus bekannt durch das sogenannte Match des Jahrhunderts gegen Bobby Fischer (Vereinigte Staaten) 1972 in Reykjavík, das wegen des Ost-West-Konfliktes im Kalten Krieg weltweites Interesse erregte), sowie Viktor Kortschnoi, langjähriger Vize-Weltmeister und Emigrant aus der Sowjetunion. Kortschnoi erlangte internationale Bekanntheit durch die Duelle mit Anatoli Karpow um die Weltmeisterschaft 1978 in Baguio und 1981 in Meran, welchen große politische Brisanz innewohnte. Karpow lebte lange Jahre in Leningrad. Zu herausragenden Verfassern von Schachaufgaben, die in Sankt Petersburg wohnten, zählen Botwinniks früher Sparringspartner Sergei Kaminer, die Brüder Kubbel und Alexei Troizki. Tennis Das Herren-Tennisturnier St. Petersburg Open wird seit 1995 in der russischen Metropole – im Sportkomplex SKK Peterburgski – ausgerichtet. Damen spielen um den St. Petersburg Ladies Trophy, ein Damen-Tennisturnier der WTA Tour. Turnen Die 22. Turn-Europameisterschaften der Frauen fanden vom 30. April bis 3. Mai 1998 in Sankt Petersburg statt. Automobilsport 1913 und 1914 wurden in Sankt Petersburg die Automobilrennen um den Großen Preis von Russland veranstaltet, die heute nach einer Pause bis 2014 im Rahmen der Formel-1-Weltmeisterschaft ausgefahren werden, jetzt jedoch in Sotschi. Bildung Sankt Petersburg war historisch das Zentrum der russischen Wissenschaft und ist neben Moskau immer noch der wichtigste Bildungs- und Wissenschaftsstandort. In der Stadt sind über 120 Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen ansässig. Davon sind 43 staatlich-zivil, 22 militärisch und etwa 50 werden privat betrieben, sind aber staatlich lizenziert. Zu den bekannteren Universitäten gehören die Staatliche Universität Sankt Petersburg, die Staatliche Universität für Wirtschaft und Finanzen, die Staatliche Polytechnische Universität, die Europäische Universität Sankt Petersburg, die Waganowa-Ballettakademie, die Russische Kunstakademie und das Sankt Petersburger Konservatorium. Zu den militärischen Institutionen gehören beispielsweise die Militärische ingenieurtechnische Universität, die Militärakademie der Fernmeldetruppe, S. M. Budjonny, die Militärmedizinische Akademie S. M. Kirow und die Militärakademie für rückwärtige Dienste und Transportwesen. In der Stadt sind etwa 600.000 Einwohner in Bildung und Wissenschaft beschäftigt, darunter sind ungefähr 340.000 Studierende. In Petersburg lebten und wirkten mehrere Nobelpreisträger, darunter als letzter Schores Alfjorow, der Nobelpreisträger für Physik des Jahres 2000, ehemaliger Direktor des Joffe-Instituts. Mit dem Steklow-Institut für Mathematik verfügt St. Petersburg über ein mathematisches Forschungsinstitut von Weltrang. Führende Mathematiker, unter anderem der Fields-Medaillen-Preisträger Grigori Perelman, wirkten an diesem Institut. Religion Die russisch-orthodoxe Kirche hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder deutlichen Zuwachs erhalten, aber auch andere Religionsgemeinschaften haben Zulauf. So ist Sankt Petersburg Sitz des Zentralen Kirchenamtes und der Kanzlei des Erzbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS) in der St. Petri-Kirche sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlandes in Russland. Die finnisch-lutherische und schwedisch-lutherische Kirche befinden sich in der Nähe, ebenso eine römisch-katholische und eine armenisch-apostolische Kirche. Mit dem Gunsetschoinei-Dazan gibt es einen buddhistischen Tempel in der Stadt. Die Sankt Petersburger Moschee wurde in den Jahren 1910 bis 1913 errichtet. In einer Umfrage aus dem Jahr 2013 bezeichneten sich 70 % der Einwohner als orthodox (1995 waren es noch 58 %). Weitere 20 % gaben an, nicht gläubig zu sein. Insgesamt waren 55 Prozent der Meinung, die Russische-Orthodoxe Kirche habe einen großen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben in Sankt Petersburg. Wirtschaft und Verkehr Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Sankt Petersburg ein Bruttoinlandsprodukt von 119,6 Milliarden US-Dollar (KKB) was ein bedeutender Teil der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes ist. In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 114. Platz und den zweiten Platz in Russland. Das BIP pro Kopf lag bei 23.361 US-Dollar. Wirtschaft Sankt Petersburg ist ein Zentrum russischer Forschung und Entwicklung. Dementsprechend beherbergt es ein großes Potenzial an Betrieben aus diesem Bereich. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der russischen Rubelkrise von 1998 konnte die Stadt große Teile ihres Potenzials retten. In Sankt Petersburg finden sich Betriebe fast aller Zweige der verarbeitenden Industrie, ein besonderer Schwerpunkt liegt aber auf dem Schiff- und Maschinenbau. Unter anderem werden alle russischen atomgetriebenen Eisbrecher in der Stadt gefertigt. Weitere Schwerpunkte des industriellen Sektors in der Stadt sind Radioelektronik (vor allem in der Luft- und Raumfahrt), neue Baustoffe (eine der vorrangigen Wachstumsbranchen), Energiemaschinenbau (Branchenbetriebe gelten als weltweit wettbewerbsfähig), Bau medizinischer Geräte, Vorbeugungsmedizin und Gesundheitswesen sowie Umwelttechnologie. Außerdem besitzt die Stadt Möbelindustrie, Nahrungsmittelindustrie (unter anderem Baltika-Brauerei) und erdölverarbeitende Industrie. In jüngster Zeit beginnt die Informationstechnik eine größere Rolle einzunehmen. Zahlreiche russische Großkonzerne, vor allem solche mit hohem Staatsanteil, verlagern gegenwärtig ihre Hauptquartiere aus Moskau an die Newa. Die Steuern der Gazprom-Öltochter Gazprom Neft, der Außenhandelsbank VTB, der Reederei Sovtorgflot, die Pipeline-Firma Transnefteprodukt oder der Fluggesellschaft Transaero sollen in Zukunft das Stadtbudget auffüllen. Der Erfolg dieser Wirtschaftsansiedlung ist aber nur bedingt auf die guten Petersburger Investitionsbedingungen zurückzuführen, sondern administrativ gesteuert. Ausländische Unternehmen entscheiden sich dagegen aus nüchternen Kalkulationen für ihre Standorte. Russlands Automarkt boomte zu Beginn der 2010er Jahre, die Zulassungszahlen von Import-Pkw erreichten die des früheren Quasi-Monopolisten Lada. Zudem sind wegen des 2012 erfolgten WTO-Beitritts Sonderkonditionen bei Importzöllen entfallen, die das russische Wirtschaftsministerium für die Errichtung von Kfz-Produktionsstätten im Land ausgeschrieben hat. Aus diesem Grund wurde von einer Entwicklung Petersburgs hin zum „russischen Detroit“ gesprochen – die Stadt siedelte bislang die Hälfte aller ausländischen Automobilwerk-Projekte an. Besonders begünstigt wird diese Entwicklung durch einen relativ guten logistischen Anschluss (vor allem über den größten russischen Hafen), qualifizierte Arbeitskräfte, erschlossene Gewerbeflächen, lokale Steuervergünstigungen und die Nähe zum Hauptabsatzmarkt. Neben der boomenden Autoindustrie haben in der Stadt an ausländischen Unternehmen unter anderem Wrigley, Gillette, Rothmans, Unilever, Japan Tobacco und Coca-Cola nennenswerte Investitionen getätigt. Fast eine Milliarde Euro (Stand 2005) Umsatz machte die Baltika-Brauerei. Mehrheitsaktionär ist die Baltic Beverages Holding (BBH), diese wiederum gehört je zur Hälfte der dänischen Carlsberg-Brauerei und der schottischen Brauerei Scottish & Newcastle. Baltika ist inzwischen die größte Brauerei in Russland und Osteuropa und nach Heineken die zweitgrößte in Europa. Das Joint-Venture wurde 1990 in Sankt Petersburg gegründet und hat sich schnell zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Stadt entwickelt. Wichtigster Außenhandelspartner der Stadt ist Deutschland. An Rohstoffen finden sich Kies, Sandstein, Ton und Torf. Hingegen spielt die Landwirtschaft keine Rolle in der lokalen Wirtschaft. 80 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt stehen in Sosnowy Bor zwei Kernkraftwerke, das in Betrieb befindliche Kernkraftwerk Leningrad und das in Bau befindliche Kernkraftwerk Leningrad II. Die Hälfte des Strombedarfs der Region werden von hier eingespeist. In der Sowjetunion war Sankt Petersburg der Hauptflottenstützpunkt der Baltischen Flotte zunächst der zaristischen, dann der sowjetischen und der russischen Marine. Noch immer befindet sich der Großteil der ehemaligen Kriegsschiffe und U-Boote im Petersburger Militärhäfen. Das erste Dieselmotorschiff der Welt, die Vandal, lief von Rybinsk kommend ab 1903 planmäßig Sankt Petersburg an. Vor der Perestroika bildete der rüstungsindustrielle Komplex 80 Prozent der Leningrader Wirtschaft. Hier befinden sich die Werften Admiralitätswerft (Адмиралтейские верфи), die Atom-U-Boote des Projekts 671 sowie das Boot des Projekts 677 fertigte, die Newski-Werft (Средне-Невский судостроительный завод), wo die Minenräumschiffe des Projekts 12700 gebaut wurden, das Baltische Werk (Балтийский завод), das von 1975 bis 2007 unter anderem neun Atomeisbrecher baute, und die Nordwerft (Северная верфь), welche die Zerstörer der Sowremenny-Klasse und der Udaloy-Klasse, die Fregatten der Kriwak-Klasse sowie die Kreuzer der Kresta-II-Klasse und der Kara-Klasse produzierte. Weitere Unternehmen, welche die Sowjetzeit überdauert haben und weltweit bekannt sind, haben ihre Zentralen nach wie vor in Sankt Petersburg. Beispielsweise gibt es dort den renommierten Verlag Prospekt Nauki, bekannt für seine wissenschaftlichen Werke, wie das sowjetische Optik-Kombinat Lomo PLC dessen anfangs unbedeutende Kamera Lomo LC-A (Lomo-Compakt-Automatic), mit ihrer eher zweifelhaften Bildqualität Ausgangspunkt für eine charakteristische künstlerische Photogestaltung, die sogenannten Lomographie, wurde. Ebenfalls in Sankt Petersburg befindet sich das sowjetische Traditionsunternehmen für Uhren, die Uhrenfabrik Petrodworez, mit ihren berühmten Raketa-Uhren. Verkehr Tourismus wird ein zunehmend wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Stadt. Laut der UNESCO gehört die Stadt zu den zehn für Touristen attraktivsten Reisezielen weltweit. Sankt Petersburg ist ein großer Verkehrsknotenpunkt. Hierbei stellt die Stadt eine wichtige Verknüpfung zwischen Seeschifffahrt, Binnenschifffahrt und Eisenbahn her. Schifffahrt Die Häfen von Sankt Petersburg und der Umgebung sind die bedeutendste Hafengruppe Russlands (Güterumschlag 2012: 57,8 Mio. t) und wichtig für den ganzen osteuropäischen und nordasiatischen Raum. Besonders schnell steigt der Containerverkehr. Linienverbindungen bestehen unter anderem nach Stockholm, Helsinki, Kiel, Lübeck und anderen Hafenstädten an der Ostsee sowie zu allen wichtigen Containerhäfen in der Nordsee. Nachbarhäfen von Sankt Petersburg befinden sich an der Ostsee in Ust-Luga, Primorsk (Öl) und in Wyssozk. Das weitere Wachstum des Hafens an den gegenwärtigen Standorten im Stadtgebiet wird durch fehlende Flächen und die schwierige Anbindung an den Hinterlandverkehr über das permanent verstopfte städtische Straßen- und Schienennetz behindert. Entwicklungsprojekte gibt es im Bereich Lomonossow und Bronka, ein neuer Seehafen für den Container- und RoRo-Umschlag am Südufer der Newa-Bucht, 120 Kilometer westlich von St. Petersburg. Nach der ersten Ausbaustufe des Ende 2015 in Betrieb gegangenen Containerterminals von Bronka stehen 107 Hektar Fläche mit Anbindung an das russische Eisenbahnnetz und zum St. Petersburger Autobahnring zur Verfügung. Hier sind fünf Liegeplätze mit bis zu 14,4 m Wassertiefe bei einer Kailänge von zusammen 1.220 m mit einer jährlichen Umschlagkapazität von 1,45 Mio. TEU vorgesehen. Im benachbarten RoRo-Terminal mit 57 Hektar Größe mit drei Liegeplätzen an 710 m Kailänge können bis zu 260.000 Einheiten im Jahr umgeschlagen werden. Ein weiteres Wachstum soll auch im noch etwas weiter westlich liegenden Seehafen von Ust-Luga erfolgen, hier jedoch besonders für die Umschlaggüter Öl und trockene Massengüter. Über die Newa und verschiedene Kanäle bestehen schiffbare Verbindungen zum Ladogasee, zur Wolga und zum Weißen Meer. Dabei fahren die Schiffe nachts durch das Stadtgebiet, wofür Klappbrücken hochgeklappt werden. Seit einigen Jahren hat sich die Passagierschifffahrt in Form von Flusskreuzfahrten als guter Wirtschaftsfaktor herausgestellt, wozu der Flusshafen im Süden der Stadt an der Newa gut ausgebaut wurde. Flugverkehr Etwa zwölf Kilometer südlich der Innenstadt liegt der Flughafen Pulkowo. Am 4. Dezember 2013 wurde das neue, moderne Terminal 1 eröffnet. Es grenzt direkt an Pulkowo-I und wickelt den nationalen sowie internationalen Verkehr ab. Seit dem 28. März 2014 werden alle Flüge nur noch über das neue Terminal abgewickelt. Es ist geplant, das alte Terminal Pulkowo-I zu renovieren und an das neue Gebäude durch Bau eines Durchgangs anzuschließen. Von hier aus fliegt die Fluggesellschaft Rossija, in der die ehemalige Pulkovo Airlines aufgegangen ist. Auch zahlreiche ausländische Airlines bedienen den Flughafen, darunter die deutsche Fluggesellschaft Lufthansa. Sie bietet Direktflüge zwischen Sankt Petersburg und Berlin, Frankfurt am Main, Köln/Bonn, Dresden, Düsseldorf, München, Münster und Wien an. Die Fluggesellschaft Rossija bietet darüber hinaus Flüge nach Hamburg, Hannover und Zürich. Eisenbahn Die erste russische Eisenbahn (Zarskoje-Selo-Bahn) führte ab 1837 von Sankt Petersburg nach Zarskoje Selo und verband die Hauptstadt mit dem „Zarendorf“. Mit der Eröffnung der Nikolaibahn von Sankt Petersburg nach Moskau 1851 wurden die beiden größten Städte des Russischen Reiches verbunden. Der Bau einer Eisenbahnstrecke von der russischen Hauptstadt nach Warschau folgte zwischen 1851 und 1862. Über eine Zweigstrecke von Wilna über Kowno wurde diese an die 1860 fertiggestellte Preußische Ostbahn angeschlossen, über die ab diesem Zeitpunkt via Königsberg Direktverbindung nach Berlin bestand. Bis zum Ersten Weltkrieg fuhr der Nord-Express zwischen Sankt Petersburg und Paris über diese Strecke. Es bestehen direkte Eisenbahnverbindungen nach Murmansk („Murmanbahn“), Helsinki (vom Finnischen Bahnhof aus), Kirow, Moskau (vom Moskauer Bahnhof an der Bahnstrecke Sankt Petersburg–Moskau), Kaliningrad, Minsk und Berlin (vom Witebsker Bahnhof). Auch Bukarest, Budapest, Chisinau, Kiew, Sotschi, Rostow am Don, Wolgograd und Irkutsk / Baikalsee sind umsteigefrei zu erreichen. Seit Dezember 2012 gibt es einmal in der Woche eine umsteigefreie Direktverbindung nach Berlin. Abfahrt ist am Witebsker Bahnhof. Die Stadt ist Verwaltungssitz der Oktober Regionaldirektion der Russischen Staatsbahn. Die Direktion betreibt nicht nur alle Eisenbahnlinien samt zugehöriger Infrastruktur im Großraum Sankt Petersburg, sondern auch ein über 10000 Kilometer langes Schienennetz im Nordwesten des europäischen Teils Russlands. Am 1. November 2017 wurde direkt neben dem Baltischen Bahnhof das neu gestaltete Russische Eisenbahnmuseum eröffnet. Es ist eines der größten Eisenbahnmuseen weltweit. Straßenverkehr Sankt Petersburg ist durch zwölf Fernstraßen erschlossen. Am 7. September 2006 wurde der erste Bauabschnitt der neu gebauten Ringautobahn „KAD“ um Sankt Petersburg für den Verkehr freigegeben. Die 66 Kilometer lange Route umgeht die Hafenstadt im Osten. Doch nach wie vor gibt es Engpässe. Begonnen wurde das mit Kosten von bislang etwa zwei Milliarden Euro größte aktuelle Straßenbauprojekt Russlands im Frühjahr 2001. Für den sich bisher durch die Stadt quälenden Transitverkehr auf der Route von Finnland nach Moskau bedeutet die Autobahn mit ihrer momentanen Kapazität von 50.000 Fahrzeugen pro Tag eine enorme Erleichterung: Die Fahrtzeit zum Passieren der Fünf-Millionen-Stadt dürfte auf etwa ein Drittel schrumpfen. Zum Wahrzeichen der neuen Autobahn wurde eine Ende 2004 eröffnete 2,8 Kilometer lange Hängebrücke, die hoch genug ist, um als einzige Newa-Brücke in Sankt Petersburg zum Passieren des Schiffsverkehrs nachts nicht hochgeklappt werden zu müssen. Das Hochklappen aller anderen Newa-Brücken, insbesondere in den Weißen Nächten, ist zwar touristisch hoch attraktiv, legt jedoch den Straßenverkehr jede Nacht für drei bis fünf Stunden praktisch lahm. Bislang wies der Ring jedoch noch eine vier Kilometer lange Lücke im Stadtteil Rschewka auf, deren Schließung sich als besonders kompliziert erwies: Hier musste sowohl der Newa-Nebenfluss Ochta als auch ein großes Eisenbahngelände samt einem Bahnhof überbrückt werden. Außerdem stießen die Bautrupps auf eine bei der Planung übersehene unterirdische Ölleitung, die erst verlegt werden musste. Engpässe gibt es auf der Strecke aber nach wie vor: Der geplante achtspurige Ausbaustand wurde bislang nur auf 25 Kilometern verwirklicht, ansonsten ist die Autobahn vierspurig. Gespart wurde an der Anbindung des Autobahnringes an das restliche Verkehrsnetz. Mit nur elf Anschlussstellen wurden zwei weniger als ursprünglich geplant realisiert. Am 12. August 2011 wurde der Kfz-Tunnel unter dem Hochwasserschutzdamm für den Verkehr geöffnet, damit gilt die 115 Kilometer lange, seit 1979 in Bau befindliche Trasse als vollendet. Neben der abgekürzt „KAD“ genannten Ringautobahn wird in Sankt Petersburg noch die nur sehr aufwendig zu realisierende Nord-Süd-Stadtautobahn „SSD“ projektiert. Sie wird unter anderem den Petersburger Hafen an den Autobahnring anbinden. Anders als die KAD soll diese Route mautpflichtig werden. Öffentlicher Nahverkehr Die Metro Sankt Petersburg ist aufgrund ihrer Lage im Sumpf und der Notwendigkeit, den Vortrieb der Tunnel in den darunter liegenden Tonsteinschichten vorzunehmen, bis zu 102 Meter tief gebaut und insgesamt die tiefstliegende U-Bahn der Welt. Die 1955 eröffnete Metro besteht aus fünf Linien. Am 28. Dezember 2012 wurden zwei neue Metrostationen nach jahrzehntelangem, wegen finanzieller Schwierigkeiten mehrfach unterbrochenem Bau im dichtbesiedelten Süden der Stadt eröffnet. Bereits vor der Petersburger Metro gibt es zahlreiche Bus- und Trolleybuslinien. Entstanden aus Pferdebahnen gibt es seit 1907 mit der durch amerikanische Firmen entwickelten elektrischen Straßenbahn Sankt Petersburg das zeitweise größte Straßenbahnnetz der Welt. Ein großer Anteil des bodengebundenen Reisendenstroms wird jedoch von den Linientaxis („Marschrutkas“) bewältigt. Sankt Petersburg besitzt zusätzlich ein weit in die Oblast Leningrad und bis nach Oblast Pskow, Oblast Nowgorod und die Republik Karelien reichendes Regionalbahnnetz („Elektritschka“). Fahrradverkehr Erstmals wurde im Sommer 2014 versuchsweise eine Fahrradvermietung an 30 Stationen eingerichtet. Die Stadt ist wegen ihrer flachen Topografie und sehr breiten Straßen gut geeignet zum Fahrradfahren. Partnerstädte Sankt Petersburg und Hamburg führen seit 1957 die erste deutsch-sowjetische bzw. erste deutsch-russische Städtepartnerschaft. Diese wurde später zu zwei Dreieckspartnerschaften mit Dresden (seit 1961) und Prag (1991–2014) ergänzt. Sankt Petersburg unterhält weitere Städtepartnerschaften mit folgenden Städten: Weiterhin besteht ein Kooperationsabkommen mit Bordeaux, Frankreich. Die Stadt als Namenspate St. Petersburg bzw. Leningrad wurde vielfach durch Namenspatenschaften gewürdigt, und zahlreiche Werke künstlerischen Schaffens haben die Stadt zum Inhalt. Insofern kann die folgende Zusammenstellung nur als beispielhafte Auflistung gelten, ohne Anspruch auf annähernde Vollständigkeit zu erheben. Seit 1988/90 ist die Stadt Namensgeber des auf der Halbinsel Kamtschatka neu entdeckten Minerals Leningradit. Zuvor trug bereits der Leningradkollen in Antarktika den Namen. Die in St. Petersburg aufbewahrte älteste vollständig erhaltene Handschrift der hebräischen Bibel wurde ursprünglich Codex Petersburgensis und später Codex Leningradensis genannt, wobei die letztere Bezeichnung bis heute die offizielle ist, aber beide Namen im aktuellen kodikologischen bzw. theologischen Sprachgebrauch gebräuchlich sind. Eine Reihe von Schiffen wurde im Laufe der Zeit nach der Stadt benannt, u. a. eine Zerstörerklasse in den 1930er Jahren, ein Hubschrauberträger (1967) sowie ein Fischtrawler, ein in der DDR gebautes Fährschiff, ein Frachtschiff und ein Containerschiff. Verschiedene Komponisten schrieben musikalische Huldigungen an die Stadt, unter anderem Johann Strauß (Sohn) mit dem „Abschied von St. Petersburg“ (op. 210, 1857) und Richard Eilenberg mit der „Petersburger Schlittenfahrt“ (op. 86, 1886). Unter den literarischen Hommagen ist z. B. der Roman „Abschied von St. Petersburg“ von Danielle Steel zu nennen, der 1995 auch verfilmt wurde. Persönlichkeiten Sankt Petersburg war Geburts- und Wohnort zahlreicher russischer und ausländischer Adliger, Politiker, Künstler und Wissenschaftler. Zu den bekanntesten von ihnen gehören Fjodor Dostojewski, Alexander Puschkin, Daniil Charms, Vladimir Nabokov, alle russischen Zaren seit 1718, Leonhard Euler, Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow, Armand Marseille, Lew Alexandrowitsch Mei, Iwan Pawlow, Dmitri Iwanowitsch Mendelejew oder Dmitri Medwedew, Wladimir Putin. Der in Stockholm gebürtige Alfred Nobel verbrachte 17 Jahre seiner Kindheit und Jugend in Sankt Petersburg. Siehe auch Literatur Hildburg Bethke (Hrsg.), Werner Jaspert (Hrsg.): Moskau, Leningrad heute: Berichte und Impressionen von einer Reise (=Kleine antworten-Reihe). Stimme-Verlag, Frankfurt am Main 1965. Gerhard Hallmann: Leningrad. (Kunstgeschichtliche Städtebücher) 3. Auflage. Seemann, Leipzig 1978, . Solomon Volkov: St. Petersburg. A Cultural History. Free Press, New York 1995, ISBN 0-684-83296-8. Swetlana Smelowa, Nikolaus Pawlow: Literarisches St. Petersburg: 50 Dichter, Schriftsteller und Gelehrte ; Wohnorte, Wirken und Werke, Verlag Jena 1800, Berlin 2003, Deutsche Bearbeitung: Christian Hufen und Martin Stiebert, ISBN 978-3-931911-26-3. Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Eine Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Schöningh, Paderborn 2005, ISBN 3-506-72889-X. Karl Schlögel, Frithjof Benjamin Schenk, Markus Ackeret (Hrsg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Campus, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-593-38321-7. Jan Kusber: Kleine Geschichte St. Petersburgs. Pustet, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2227-6. Paullina Simons: Die Liebenden von Leningrad. Weltbild, Augsburg 2008, ISBN 978-3-8289-9196-5. Joseph Brodsky, Erinnerungen an Petersburg, übersetzt aus dem Englischen von Sylvia List und Marianne Frisch. Hanser Verlag, 152 Seiten, 2003. ISBN 978-3-446-20290-0. Karl Schlögel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-596-16720-3. Marianna Butenschön: St. Petersburg. Stimmen zur Stadtgeschichte. Anthologie. Osburg Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-95510-240-1. Weblinks Petersburg.Aktuell.RU – Deutschsprachiges Stadtjournal aus Sankt Petersburg Petersburger Herold – Deutschsprachige Onlinezeitung aus Sankt Petersburg Reiseführer Sankt Petersburg in Wort und Bild Großformatiger kolorierter Stadtplan von W. P. Clarke (1834) (englisch) Einzelnachweise Föderationssubjekt der Russischen Föderation Ort im Föderationskreis Nordwestrussland Ort in Europa Ort mit Seehafen Ort mit Binnenhafen Planstadt Millionenstadt Peter der Große Ehemalige Hauptstadt (Russland) Simon Petrus als Namensgeber Hauptstadt eines Föderationssubjekts Russlands Hochschul- oder Universitätsstadt in Russland Gegründet 1703
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https://de.wikipedia.org/wiki/Finnischer%20B%C3%BCrgerkrieg
Finnischer Bürgerkrieg
Als Finnischer Bürgerkrieg wird eine bewaffnete Auseinandersetzung bezeichnet, die das erst am 6. Dezember 1917 unabhängig gewordene Finnland im Wesentlichen vom 27. Januar bis zum 5. Mai 1918 erschütterte. Im Hintergrund des Bürgerkrieges standen aufgestaute gesellschaftliche Gegensätze, aber auch die Auswirkungen der revolutionären Ereignisse in Russland, zu welchem Finnland bislang als autonomes Großfürstentum gehört hatte. Die Abdankung des russischen Kaisers und finnischen Großfürsten infolge der Februarrevolution 1917 stürzte Finnland in eine Verfassungskrise, in welcher die öffentliche Ordnung zunehmend zerfiel. Eine durch den Ersten Weltkrieg bedingte Lebensmittelkrise bewirkte im Zusammenspiel mit der Propaganda der russischen Bolschewiki eine Radikalisierung und Militarisierung der Arbeiterbewegung. Diese Entwicklung führte schließlich Ende Januar 1918 zu einem sozialistischen Umsturzversuch. Durch Revolution wurde im Süden Finnlands ein von der Arbeiterschaft geführter Staat errichtet, im Nordteil des Landes konnten sich die Bürgerlichen jedoch behaupten. Nachdem es den bürgerlichen „weißen“ Truppen unter dem Oberbefehl von Carl Gustaf Emil Mannerheim besser als den „Roten“ gelungen war, ihre Kampfverbände für die Kriegsführung auszubilden, gingen sie Mitte März in die Offensive und nahmen nach schweren Kämpfen die Stadt Tampere ein. Deutsche Kampfverbände, die den Weißen zur Hilfe gekommen waren, rückten zugleich im Süden vor. Nach der Eroberung von Viipuri Ende April gaben Anfang Mai die letzten Aufständischen auf. Zu den Nebenerscheinungen des Krieges gehörten politische Gewalthandlungen beider Seiten und zu seinem Nachspiel eine Hunger- und Seuchentragödie unter den Roten in den Gefangenenlagern. Hintergründe Die Ausgangslage für den bewaffneten Konflikt in Finnland wurde durch sich verstärkende gesellschaftliche Gegensätze geschaffen, denen nicht durch entsprechende Reformen Rechnung getragen wurde. Insbesondere im Zusammenspiel mit dem Einfluss der Ereignisse in Russland kam es zu einer Radikalisierung und der Bildung bewaffneter Gruppen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges begünstigte diese Entwicklung und führte zudem zu einer spürbaren Lebensmittelknappheit, welche die Unruhe in der Arbeiterschaft weiter steigerte. Gesellschaftliche Gegensätze Das als autonomes Großfürstentum zum russischen Kaiserreich gehörige Finnland war im 19. Jahrhundert starken wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen. Die anlaufende Industrialisierung und das Bevölkerungswachstum führten zu einer Aufweichung der ständischen Gesellschaft und zur Entstehung neuer Gesellschaftsschichten insbesondere in den Städten. Die weitgehend bürgerlich geprägte nationalromantische Bewegung betrieb die Erhebung des finnischen Nationalbewusstseins durch Förderung der Bildung weiter Bevölkerungsschichten, ohne allerdings eine Änderung der gesellschaftlichen Strukturen anzustreben. Die zunehmend selbstbewussten Arbeiter in den Städten nahmen stattdessen die Ideale des Sozialismus an, im Jahr 1899 wurde die Arbeiterpartei Finnlands gegründet, welche 1903 in Sozialdemokratische Partei Finnlands umbenannt wurde. Die Partei erhielt Zuspruch auch von der arbeitenden Landbevölkerung und den in unsicheren rechtlichen Verhältnissen lebenden Betreibern von Pachthöfen. Im Jahr 1906 wurde der alte ständische Reichstag durch ein demokratisch gewähltes Parlament ersetzt, in welchem die Sozialdemokraten sogleich 80 von 200 Sitzen errangen. Diese Reform konnte jedoch die gesellschaftlichen Spannungen nicht abbauen. Zentrale soziale Reformgesetze scheiterten wiederholt an der Weigerung des Kaisers, diese zu ratifizieren. Im kommunalen Bereich blieb es weiter dabei, dass die Vertreter des Stadtrates nur von Steuerzahlern gewählt wurden und somit die ärmeren Gesellschaftsschichten einflusslos blieben. Da alle sozialen Leistungen in die Zuständigkeit der Gemeinden fielen, waren Verbesserungen in diesem Bereich nur schwierig zu erreichen. Bildung bewaffneter Gruppen Die Parlamentsreform des Jahres 1906 war das Resultat eines 1905 durchgeführten Generalstreiks, der von der Arbeiterschaft Helsinkis ausgerufen worden war, von bürgerlichen Bewegungen aber unterstützt wurde. Da auch die Polizeikräfte streikten, formten die Streikkomitees sogenannte Nationalgarden zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Von diesen spalteten sich teilweise die roten Garden (punakaarti) zum Schutz der Arbeiterschaft ab. Nach Ende des Streiks blieben diese bewaffneten Organisationen bestehen, die bürgerlichen Gruppen nunmehr unter dem Namen Schutzkorps (suojeluskunta). Während eines Soldatenaufstandes in der Festung Viapori kam es im Helsinkier Stadtteil Hakaniemi am 2. August 1906 zu Unruhen, in deren Zusammenhang sich die roten Garden und die bürgerlichen Schutzkorps erstmals in ein Feuergefecht verwickelten, in welchem zehn Menschen ums Leben kamen. Die roten Garden wurden nach diesem Vorfall zunächst aufgelöst. Unterdessen machte sich auch im bürgerlichen Lager eine Radikalisierung bemerkbar, die sich in erster Linie gegen die Zugehörigkeit zu Russland richtete. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschten hinsichtlich des Verhältnisses zu Russland zwei Strömungen vor. Während die vor allem in der Finnischen Partei vertretenen Verfechter einer Nachgiebigkeitspolitik die Treue zur Zarenherrschaft betonten, beharrte die konstitutionalistische Strömung, vertreten vor allem durch die Jungfinnische Partei und später auch den Landbund, auf einer buchstabengetreuen Einhaltung der verfassungsmäßigen Rechte des autonomen Finnland. Nachdem Gouverneur Nikolai Bobrikow 1903 seine Russifizierungsbemühungen begann, spaltete sich von den Konstitutionalisten die militante Aktivistenbewegung ab, welche sich im Untergrund auf eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Russland vorbereitete. Erster Weltkrieg Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 wirkte sich auf die Lebensverhältnisse in Finnland zunächst nicht erheblich aus. Finnische Soldaten nahmen an den Kriegshandlungen nicht teil, soweit sie nicht freiwillig der russischen Armee beigetreten waren. Während die Papierindustrie große Verluste hinnehmen musste, profitierte die finnische Wirtschaft auf dem Metallsektor und auch durch die 1915 begonnenen Befestigungsarbeiten in verschiedenen Teilen des Landes vom Krieg. Ende 1916 begann sich die Kriegssituation jedoch erheblich auf die Versorgungslage in Finnland auszuwirken, als die Verteilung von Butter, Milch und Zucker, später auch von Fleisch rationiert werden musste. Aus der Aktivistenbewegung ging nach Kriegsausbruch die sogenannte Jägerbewegung hervor. In der Hoffnung auf eine Kriegsniederlage Russlands nahm die Bewegung mit Deutschland Kontakt auf und entsandte schließlich 1915 rund 2000 Freiwillige zur militärischen Ausbildung in die deutsche Armee. Das so gebildete Königlich-Preußische Jäger-Bataillon Nr. 27 wurde teilweise auch an der Front eingesetzt und sammelte so soldatische Erfahrung, die in Finnland sonst kaum anzutreffen war. Die politische Entwicklung des russischen Mutterlandes, welche seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts von einer rasanten Destabilisierung der Zarengewalt geprägt war, hatte erhebliche Bedeutung für die Entwicklung der inneren Spannungen Finnlands. Schon der Generalstreik 1905 hatte seinen Ursprung in vergleichbaren Streiks in Russland, insbesondere St. Petersburg, im Rahmen der Geschehnisse um die Russische Revolution 1905 gehabt. Der Krieg verstärkte die inneren Unruhen des Reiches, die schließlich zu den Revolutionen des Jahres 1917 führten, welche auch das finnische Staatssystem aus den Fugen geraten ließen. Finnland nach der Februarrevolution Der russische Kaiser Nikolaus II. verzichtete am 15. März 1917 als Folge der Februarrevolution auf den Thron. Die Regierungsgewalt wurde von einer parlamentarisch ernannten provisorischen Regierung übernommen. Die Revolution gab dem während des Krieges praktisch zum Erliegen gekommenen politischen Leben Finnlands neuen Auftrieb, führte aber gleichzeitig zur Zuspitzung der gesellschaftlichen Gegensätze. Wiederbelebung der Autonomie und Regierungsbildung Bereits am 20. März stellte die provisorische Regierung die unter Nikolaus II. stark beschränkten autonomen Rechte Finnlands wieder her. Das finnische Parlament, welches während des Krieges nicht getagt hatte, wurde einberufen. Trotz des Krieges war im Sommer 1916 eine Parlamentswahl abgehalten worden, in welcher die Sozialdemokraten 103 der 200 Mandate und damit die absolute Mehrheit erhielten. Die parlamentarische Mehrheit bedeutete für die Sozialisten die Chance, die neu gewonnene Freiheit für Reformen zu nutzen, stürzte die Partei aber auch in eine ideologische Krise. Ein einflussreicher Teil der Parteiführung, insbesondere die Redaktion des Parteiorgans Työmies, orientierte sich streng an den Lehrsätzen Karl Kautskys. Eine Beteiligung der Sozialisten an einer Regierung in einem kapitalistischen System, so wie überhaupt die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften, kam nach dieser Lehre nicht in Frage, weil sie das Klassenbewusstsein schwächen würde. Eine sozialistische Regierung würde also eine sozialistische Revolution voraussetzen. Diese würde sich als historische Notwendigkeit entzünden, sobald der Kapitalismus im Land weit genug fortgeschritten sei, ohne dass ein aktives Betreiben der Revolution seitens der Partei angebracht wäre. Die Zeit für die Revolution sah die Partei aber wegen des noch wenig fortgeschrittenen Kapitalismus in Finnland als noch nicht gekommen an. Die Partei einigte sich dennoch mit den Vertretern der bürgerlichen Parteien auf die Bildung eines Koalitionssenates, welchem der Sozialdemokrat Oskari Tokoi vorsitzen und daneben sechs Sozialisten und sechs Bürgerliche angehören sollten. Wegen der ideologischen Bedenken in der Partei blieb deren Unterstützung für Tokois Regierung aber schwach. Die im Senat vertretenen Sozialisten waren Reformer, vor allem Matti Paasivuori, Väinö Tanner und Wäinö Wuolijoki, die nicht den Rückhalt der Parteimehrheit hatten. Der Senat setzte sich jedoch ein ehrgeiziges Programm. Zu ihm gehörten die Ausweitung der Demokratie vor allem auf Kommunalebene, die Begrenzung des Einflusses der russischen provisorischen Regierung, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, insbesondere der Arbeitszeit und der Sozialversicherung, sowie der Erlass von Schulpflicht und Religionsfreiheit. Das Parlament stürzt über das Verhältnis zu Russland Einigkeit bestand zwischen allen Parteien darüber, dass Finnland von Russland unabhängig werden sollte. Nach der Abdankung des Zaren war der verfassungsmäßige Monarch weggefallen. Darüber, was dies für staatsrechtliche Konsequenzen hatte, gingen die Ansichten auseinander. Während einige der Meinung waren, durch den Wegfall des Großfürsten sei die staatliche Verbindung mit Russland zerbrochen, überwog die Auffassung, dass die oberste Gewalt vorläufig auf die provisorische Regierung übergegangen sei. Der Senat unternahm einige Versuche, bei der provisorischen Regierung ein Einvernehmen über eine größere Selbstständigkeit Finnlands zu erreichen, scheiterte mit diesen aber. Die aktivste Rolle im Bestreben nach Unabhängigkeit spielten die Sozialdemokraten, welche die Kompetenzen des von ihnen beherrschten Parlaments ausweiten wollten. Die Partei erhielt Unterstützung von den russischen Bolschewiki unter Lenin, der den Finnen volle Entscheidungsfreiheit und auch das Recht auf Unabhängigkeit zusagte. Mit dieser bedingungslosen Unterstützung konnten die Bolschewiki ihren Einfluss in der finnischen Arbeiterbewegung deutlich stärken. Als die Macht der provisorischen Regierung durch den bolschewistischen Juliaufstand in Petrograd zu wanken schien, brachten die Sozialdemokraten am 18. Juli 1917 das sogenannte Staatsgesetz (valtalaki) ins Parlament ein, mit welchem das Parlament erklärte, die oberste Macht im Staat von nun an selbst auszuüben. Das Staatsgesetz wurde mit großer Mehrheit angenommen, jedoch ging die provisorische Regierung aus den internen Unruhen vorläufig als Sieger hervor und zeigte keine Neigung, das eigenmächtige Staatsgesetz des finnischen Parlaments anzuerkennen. Die bürgerlichen Parteien beschlossen zurückzuweichen und schlugen der provisorischen Regierung vor, das Parlament aufzulösen. Die Sozialdemokraten versuchten, sich der Parlamentsauflösung zu widersetzen, mussten aber schließlich dem Druck nachgeben und sich auf Neuwahlen vorbereiten. Tokoi und die sozialdemokratischen Senatoren zogen sich aus dem Senat zurück, neuer Regierungschef wurde Eemil Nestor Setälä von der Jungfinnischen Partei. In den Anfang Oktober abgehaltenen Neuwahlen des Parlaments erlitten die Sozialdemokraten eine Niederlage und verloren mit 92 Sitzen ihre absolute Mehrheit. Während das bürgerliche Lager die „Abwehr der sozialistischen Gefahr“ feierte, herrschte bei den Sozialdemokraten Verbitterung und Bestürzung darüber, dass die Parlamentsmehrheit als Mittel zur Behebung von Missständen und zur Milderung der im Lande herrschenden Unruhen verloren gegangen war. Zerfall der öffentlichen Ordnung Die russische Februarrevolution hatte unmittelbare Auswirkungen auf die finnische öffentliche Ordnung. Die im Lande befindlichen großen russischen Armeeeinheiten bildeten wie in Russland Arbeiter- und Soldatenräte, welche ab März die Kontrolle über die Armee ausübten. Der Druck der Räte führte auch zum Erliegen der Tätigkeit der Polizei. Am 19. März teilte der Soldatenrat von Helsinki der Sozialdemokratischen Partei mit, dass die zivile Polizeigewalt an die Arbeiterschaft übergeben werde. Auf Druck der Räte erklärten sich die Stadträte bereit, die Ordnungsmacht in die Hände von besonderen Milizen zu geben, deren Organisation von Stadt zu Stadt verschieden war, die aber in allen Fällen von Sozialisten beherrscht wurden. Während des Sommers 1917 verschärften sich die sozialen Spannungen drastisch. Russland beendete die Befestigungsarbeiten in Finnland und verringerte auch den Ankauf von Kriegsbedarf aus Finnland. Folge war ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit sowohl auf dem Land als auch in den Städten. Gleichzeitig nahm die Lebensmittelknappheit alarmierende Formen an. Im Mai verabschiedete das Parlament ein Lebensmittelgesetz, welches die Produktion und Verteilung der Grundnahrungsmittel strenger Kontrolle unterwarf, jedoch vielfach nicht befolgt wurde. Im August drangen Demonstranten in vielen Städten in Lebensmittellager ein und verteilten vor allem Butter an die Arbeiterschaft. Die Gewerkschaften wie auch die Sozialdemokratische Partei erhielten in dieser Zeit massiven Zulauf neuer Mitglieder, welche mehrheitlich keine besondere Bindung an die sozialistische Ideologie hatten, aber aufgrund der aufgeheizten Atmosphäre und der Zuspitzung der sozialen Lage radikalisiert und vielfach gewaltbereit waren. Die eher gemäßigten Parteiführer verloren so zunehmend die Kontrolle über die Arbeiterbewegung, welche an der Basis verschiedene bewaffnete Gruppen bildete. Die durch den zunehmenden Verfall der Ordnung beunruhigten bürgerlichen Bevölkerungsteile gingen bereits ab Juni, besonders aber von August bis November dazu über, örtliche bewaffnete weiße Schutzkorps zu bilden. Während die örtlichen Organisatoren in erster Linie den Schutz vor Randalierern im Auge hatten, spekulierten die russlandfeindlichen Aktivisten auch auf eine Verwendung der Korps bei einem bewaffneten Zusammenstoß mit den russischen Truppen. Die Arbeiterbewegung empfand die Schutzkorps als Instrument zur Unterdrückung der Arbeiterklasse. Die sozialistischen Zeitungen spekulierten, dass die Bürgerlichen den Klassenfeind zunächst durch Aushungern schwächen und schließlich in einem Blutbad ertränken wollten. Schnell begann man, die Mitglieder der Schutzkorps als „Schlachter“ (lahtari) zu bezeichnen. Die Bewaffnung der Arbeitergruppen beschleunigte sich, und Ende Oktober beschloss die Partei die offizielle landesweite Bildung von bewaffneten „Ordnungsgarden“, für welche sich bald wieder die Bezeichnung „Rote Garden“ einbürgerte. Finnland im Sog der Oktoberrevolution Am 6. November 1917, dem Tag der russischen Oktoberrevolution, übernahmen die Bolschewiki in Petrograd die Macht. Der Umsturz versetzte das bürgerliche Finnland in Aufruhr und ermutigte die revolutionäre Basis der finnischen Arbeiterschaft. Im Schatten der neu gewonnenen Unabhängigkeit bereiteten sich die Gegner auf den Zusammenstoß vor. Revolutionäre Unruhen verstärken sich Das Ringen um eine gemeinsame Linie der Arbeiterbewegung war nach der verlorenen Parlamentswahl von zunehmendem Druck der Straße und einer unentschlossenen Parteiführung geprägt. In einer gemeinsamen Sitzung der Führer von Partei und Gewerkschaften am 18. Oktober war man sich einig, dass die Arbeiter an der Basis nicht mehr zu halten wären, wenn der Senat nicht zum Handeln in der Lebensmittelfrage bewegt werden könne. Der Gewerkschaftsbund setzte dem Senat am 20. Oktober ein Ultimatum, die Produktion und Verteilung von Lebensmitteln unter staatliche Kontrolle zu stellen. Trotz fruchtlosen Ablaufs des Ultimatums stellte der Bund die Entscheidung über konkrete Maßnahmen jedoch zunächst zurück. Gleichzeitig veröffentlichte die Sozialdemokratische Partei ein Programm unter dem Titel Wir fordern, in welchem sie neben demokratischen und sozialen Reformen die Auflösung der bürgerlichen Schutzkorps verlangten. Die erfolgreiche Oktoberrevolution führte unmittelbar zu einer Intensivierung der Bemühungen Lenins, auch die finnische Arbeiterbewegung zu einem revolutionären Aufstand zu bewegen. Tatsächlich riefen die Führer der Arbeiterbewegung am 14. November einen Generalstreik aus, der in die Revolution münden sollte. Der Aufruf wurde landesweit befolgt, und die Macht im Land wurde in diesen Tagen faktisch von den Roten Garden ausgeübt. Das eigens gebildete Revolutionäre Komitee verzagte jedoch unter anderem wegen der noch unsicher erscheinenden Position Lenins in Russland und beendete den Streik am 20. November, nachdem einem Teil der Forderungen des Wir fordern-Programmes nachgekommen worden war. Während dieser Tage war es landesweit zu zahlreichen Gewalttaten und Morden gekommen. Unabhängigkeit Das politische Finnland steckte nach der Oktoberrevolution zunächst in einem Machtvakuum. Die bürgerlichen Parteien waren, durch die Geschehnisse des Generalstreiks aufgeschreckt, nunmehr bestrebt, die staatliche Unabhängigkeit möglichst schnell herbeizuführen. Das neu gewählte Parlament erklärte am 15. November 1917, gleichzeitig das Programm der Sozialdemokraten verwerfend, dass es die verfassungsmäßige Autorität des Monarchen vorläufig selbst ausüben werde. Am 27. November wählte es einen neuen Senat unter dem Vorsitzenden Pehr Evind Svinhufvud. Der legte dem Parlament eine formelle Unabhängigkeitserklärung vor, welche am 6. Dezember verabschiedet wurde – gegen die Stimmen der Sozialdemokraten. Es erwies sich bald, dass eine internationale Anerkennung des neuen Staates nicht ohne vorherige Anerkennung durch Sowjetrussland möglich sein würde. Lenin hatte den finnischen Sozialisten bereits früher wiederholt versichert, der Unabhängigkeit Finnlands nicht im Wege zu stehen, und er stand zu diesem Wort, als am 30. Dezember eine finnische Abordnung unter der Führung von Svinhufvud persönlich in Petrograd erschien und um die Anerkennung des finnischen Staates nachsuchte. Zuvor hatte Lenin die Sozialisten erneut zu einer unverzüglichen Revolution aufgefordert. Das weiße Finnland rüstet seine Armee Die Gewalttaten während des Generalstreiks hatten eine Beschleunigung der Bildung von „weißen“ Schutzkorps zur Folge. Eine Gruppe von knapp hundert Jägern, die aus dem Dienst in der deutschen Armee frühzeitig zurückgekehrt waren, wurde hauptsächlich im stärksten Gebiet der Weißen, in Österbotten eingesetzt, um Führungspersonal für die kommende Armee auszubilden. Insbesondere die vom 28. Dezember 1917 bis 14. Januar 1918 in Vimpeli sowie ab 26. Januar in Vörå geschulten Gruppen bedeuteten im späteren Krieg einen wichtigen Schulungsvorsprung der Weißen gegenüber ihren Gegnern. Die Bewaffnung der Schutzkorps war zunächst dürftig. Im Oktober war eine Schiffsladung von 6.500 Gewehren und 30 Maschinengewehren mit dem Hilfsschiff Equity aus Deutschland eingetroffen, ansonsten konnten aber nur vereinzelte Mengen beschafft werden, oft durch heimliche Käufe von den russischen Garnisonen. Ende Januar 1918 umfassten die Schutzkorps rund 40.000 Mitglieder, von denen aber nur 9.000 mit Gewehren ausgerüstet werden konnten. Angesichts der prekären Sicherheitslage und der weiterhin im Land präsenten 75.000 russischen Soldaten war das bürgerliche Lager der Auffassung, dass die Regierung eine reguläre Ordnungsmacht benötigte. Am 12. Januar 1918 beschloss das Parlament gegen den erbitterten Widerstand der Sozialisten, die Regierung zur Ergreifung aller Maßnahmen zu ermächtigen, „welche sie zur Schaffung einer straffen öffentlichen Ordnung als erforderlich ansieht.“ Am 16. Januar beauftragte Svinhufvud den nach Finnland zurückgekehrten Generalleutnant der russischen Armee Carl Gustaf Emil Mannerheim als Befehlshaber mit der Bildung von Streitkräften. Am 25. Januar wurden schließlich die bis dahin privaten Schutzkorps zur regulären Armee der Regierung erklärt. Bereits am 9. Januar 1918 hatte der Senat beschlossen, Verhandlungen mit Deutschland über die Lieferung von weiteren Waffen sowie die Rücksendung der in der deutschen Armee dienenden finnischen Soldaten zu führen. Die Einstellung Deutschlands zu Finnland war zwiespältig. Der mit Russland geschlossene Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk standen einer offenen Stützung antirussischer Aktivitäten entgegen, andererseits erschien es günstig, in Finnland ein deutschlandfreundliches Regime zu sichern. Ludendorff stimmte daher am 18. Januar dem Erwerb von 70.000 Gewehren und anderem Kriegsgerät sowie der Freistellung der finnischen Jäger zu. Die Durchführung dieser Vereinbarungen verzögerte sich allerdings bis in den Februar. Die Aktivitäten Mannerheims richteten sich zunächst in erster Linie gegen die russischen Garnisonen, da er annahm, dass die Unruhen im Land in erster Linie durch die russischen Soldaten und von diesen aufgehetzte kriminelle Elemente verursacht wurden. Am 25. Januar gab Mannerheim den Befehl, die Schutzkorps in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar zu mobilisieren und die russischen Garnisonen in Vaasa und fünf anderen Orten in Südösterbotten zu entwaffnen. Die Sozialisten beschließen die Revolution Nach Ende des Generalstreiks vom November setzten sich zunehmend die Roten Garden an die Spitze der Entwicklung im Lager der Arbeiterbewegung, allen voran die radikalen Garden in den Städten, wo auch der Einfluss der bolschewistischen Propaganda am stärksten war. Insbesondere in Turku kam es zu massiven Plünderungen und Ausschreitungen, bei deren Mäßigung sich die Parteispitze machtlos zeigte. Die Roten Garden zentralisierten ihre Organisation Ende November durch die Einsetzung einer Zentralkommission, welche einige Wochen später in einen Generalstab umgeformt wurde. Zum Oberbefehlshaber wurde Ali Aaltonen, Journalist und Leutnant der russischen Armee, ernannt. Die Parlamentsentscheidung vom 12. Januar 1918 interpretierten die Sozialisten so, dass die Regierung eine Klassenkampfarmee geschaffen habe, welche gegen die finnische Arbeiterklasse gerichtet sei. Die sozialdemokratische Parteiführung war dennoch zunächst nicht eindeutig auf Revolutionskurs. Die gemäßigten langjährigen Mitglieder hielten den bewaffneten Aufstand nicht für unausweichlich. Der Druck der Roten Garden nahm kurz darauf jedoch weiter zu. Ali Aaltonen war Anfang Januar nach Petrograd gereist und hatte unter Vermittlung des zu den dortigen Bolschewiki gehörenden finnischstämmigen Eino Rahja von Lenin am 13. Januar die mündliche Zusage erhalten, den finnischen Roten 10.000 Gewehre und sonstige Waffen zu liefern. Diese Zusage bestätigte er schriftlich am 20. Januar, und gleichzeitig wurde angekündigt, dass der die Waffen transportierende Zug Petrograd am 26. Januar früh morgens verlassen würde. In dieser Lage und in dem Bestreben, die Einheit der Arbeiterbewegung zu wahren, nahm der Parteirat der Sozialisten am 22. Januar neue radikale Mitglieder auf und setzte am 24. Januar ein ausschließlich aus Radikalen bestehendes Exekutivkomitee ein, dessen Vorsitz Eero Haapalainen, Gewerkschaftsführer aus Viipuri, übernahm. Die Führung der Roten Garden nahm an, dass die Schutzkorps den geplanten Waffentransport zu stoppen versuchen würden, und so gaben Aaltonen und Haapalainen am 23. Januar den Befehl zum Generalstreik und zur Mobilisierung der Garden ab dem 25. Januar. Das Exekutivkomitee beschloss schließlich am 26. Januar, dass die Revolution am nächsten Tag beginnen solle. Ausbruch des Bürgerkrieges Praktisch zeitgleich mit dem Beginn des sozialistischen Umsturzversuches begannen die weißen Truppen mit ihren militärischen Aktionen gegen die russischen Garnisonen. Während die Revolution im Süden erfolgreich war, konnte Mannerheim sich ein Stützgebiet in Südösterbotten sichern, von dem aus das bürgerliche Finnland bald den gesamten Nordteil des Landes unter seine Kontrolle brachte. Der Aufstand gelingt im Süden Am Abend des 27. Januar 1918 um 23 Uhr leuchtete am Turm des Gewerkschaftshauses von Helsinki eine rote Lampe zum Signal der beginnenden Revolution. Die Roten Garden besetzten die wichtigsten Gebäude und hatten am folgenden Morgen die Stadt völlig in ihrer Gewalt. In den Städten Südfinnlands begegneten die Revolutionäre ebenso wenig Gegenwehr wie im Großteil der dortigen ländlichen Gebiete. Das Exekutivkomitee der Sozialdemokraten setzte am 28. Januar eine rote Regierung, das Volkskommissariat, ein. Dessen Vorsitz, und damit das Amt des Regierungschefs, übernahm der Parteivorsitzende Kullervo Manner, der Präsident des sozialistischen Mehrheitsparlaments gewesen war. Die rote Regierung hatte sogleich mit den Folgen eines nahezu vollständigen Streiks aller öffentlichen Beamten zu kämpfen. Die Verwaltung musste so aus Vertretern der Arbeiterschaft neu gebildet werden. Ebenso streikte das gesamte Bankwesen und stürzte das rote Finnland in eine schwere Finanzkrise, in welcher es sich während seiner gesamten Existenz nur durch ständigen Nachdruck von Banknoten behelfen konnte. Die Wirtschaftspolitik des Volkskommissariats war auch überwiegend von der Bemühung um Stabilisierung der Lage und Sicherung der Versorgung bestimmt. Als sozialistisch einzustufende Wirtschaftsreformen fanden im roten Finnland nicht statt. Am 20. Februar beschloss die rote Regierung den Text einer neuen Verfassung. Der Entwurf, der weitgehend aus der Feder von Otto Ville Kuusinen stammte und nach dem Krieg zur Volksabstimmung gestellt werden sollte, war streng demokratisch und sprach die oberste Gewalt dem frei gewählten Parlament zu. Der Text war deutlich an die Verfassung der Schweiz angelehnt und freiheitlich, aber kaum als revolutionär zu bezeichnen. Die weiße Regierung behauptet sich im Norden In der Nacht auf den 28. Januar begannen die weißen Schutzkorps mit der Entwaffnung der russischen Garnisonen in Südösterbotten. Die Garnisonen in Laihia, Lapua, Seinäjoki, Ylistaro, Ilmajoki, Kaskinen, Nykarleby und Jakobstad leisteten nur geringen Widerstand, und auch Vaasa konnte noch am gleichen Tag eingenommen werden. In Kristinestad und Kokkola mussten die Schutzkorps dagegen den Widerstand der von den Roten Garden unterstützten Soldaten brechen. Bis zum 31. Januar war jedoch ganz Südösterbotten unter weißer Kontrolle. Dabei wurden 8.000 Gewehre sowie schwere Bewaffnung erbeutet, sodass in der Folge eine wesentlich effektivere Kriegsführung möglich war. Während die Sozialisten in Südösterbotten kaum Unterstützung hatten, waren sie in Nordösterbotten und Lappland stark vertreten. Besonders in Oulu kam es am 3. Februar zu den ersten schwereren Gefechten des Bürgerkrieges. Am 7. Februar hatten die Weißen jedoch den Norden gesichert. In den Städten Jyväskylä und Mikkeli wurden die Aufständischen Anfang Februar von den örtlichen Schutzkorps niedergeschlagen, ebenso in Kuopio nach kurzem Gefecht am 8. Februar. Damit war auch der Nordosten des Landes unter weißer Kontrolle, abgesehen von der Industriestadt Varkaus, welche zunächst eine rote Enklave blieb. In Karelien hatte es bereits vor Ausbruch des Bürgerkrieges starke Aktivitäten der örtlichen Schutzkorps gegeben, welche zu einer Entwaffnung der russischen Truppen in Nordkarelien und im Norden Südkareliens geführt hatten. Diese Gebiete blieben auch nach dem sozialistischen Umsturz in weißer Hand. Gleich zu Beginn ihres Aufstandes mussten die Roten einen schweren Rückschlag hinnehmen, da es ihnen nicht gelang, die Mitglieder des Senats festzunehmen. Drei Senatoren konnten noch kurz vor Kriegsausbruch nach Österbotten reisen, ein vierter folgte ihnen Anfang Februar. Die restlichen Mitglieder, unter ihnen Svinhufvud, konnten sich in Helsinki bei bürgerlichen Bewohnern verstecken. Die entkommenen Senatoren konnten so in Vaasa eine funktionierende, verfassungsgemäße Regierung bilden, was dem weißen Finnland einen unschätzbaren Legitimationsvorteil verschaffte, insbesondere im Verhältnis zum Ausland. Den Vorsitz übernahm Heikki Renvall, bis im März auch Svinhufvud aus Helsinki nach Vaasa geschmuggelt werden konnte. Die Front stabilisiert sich Die Position der Weißen hing in starkem Maße von der Möglichkeit ab, Truppen und Material zwischen den Hauptstützgebieten in Österbotten und Karelien zu bewegen. Zu ihrem Glück war kurz vor Ausbruch des Krieges die neue Eisenbahnstrecke von Haapamäki in der Gemeinde Keuruu über Pieksämäki nach Elisenvaara eingeweiht worden. Zur Sicherung dieser lebenswichtigen Verbindung sandte Mannerheim am 29. Januar das Schutzkorps von Lapua nach Haapamäki. Die Bahnkreuzung wurde kampflos eingenommen, da die roten Führer im nahen Tampere die Bedeutung des Ortes zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt hatten. Die weißen Truppen rückten entlang der Bahnlinie nach Süden noch bis Vilppula vor, wo sie ihre Stellung aufbauten. Vom 2. bis zum 7. Februar führten die Roten mehrere Angriffe gegen Vilppula. In gleichem Maße wie die Roten stärkere Angriffe organisierten, konnten aber auch die Weißen ihre Stellungen und Bewaffnung verstärken, so dass die Angriffe abgewehrt wurden. Nach der Sicherung Vilppulas blieb der Frontverlauf für längere Zeit im Wesentlichen stabil. Die Grenze zwischen dem roten und dem weißen Finnland führte von der Westküste zwischen dem roten Pori und dem weißen Kristiina über Vilppula, Padasjoki, Heinola, Lappeenranta und Antrea bis Rautu an der Grenze zu Russland. Es handelte sich allerdings nicht um eine durchgängige Front. Zu den Wesensmerkmalen des finnischen Bürgerkrieges zählte, dass er im winterlichen und schwer zugänglichen Land ausschließlich entlang der wenigen Verkehrswege, in erster Linie der Eisenbahnstrecken, stattfand. Entsprechend gab es Frontstellungen nur dort, wo eine Bahnstrecke oder eine Landstraße den Frontverlauf kreuzte. Beide Seiten konzentrierten ihre Kräfte zunächst auf die Sicherung des eigenen Hinterlandes. An der Südküste gab es noch zahlreiche funktionierende weiße Schutzkorps, besonders in Porvoo und Loviisa, aber auch in Siuntio und Kirkkonummi. Die letzten dieser Einheiten ergaben sich erst am 1. März und banden bis dahin erhebliche Ressourcen der Roten. Im weißen Hinterland war noch das rote Varkaus verblieben, dessen Rote Garde rund 1.500 Männer umfasste, die allerdings schwach bewaffnet waren. Am 20. Februar führten die Weißen einen Angriff mit 1.050 Soldaten, sechs Maschinengewehren und zwei Geschützen. Am folgenden Tag ergaben sich die Verteidiger. Die Kriegsparteien Weder die Roten Garden noch die Schutzkorps waren dafür geschaffen worden, einen ausgewachsenen Bürgerkrieg zu führen. Schlechte Ausbildung, fehlende Disziplin und unzureichende Führung behinderten die Kriegsführung auf beiden Seiten. Durch gezielte Ausbildung, Einführung der Wehrpflicht und besonders durch das Hinzutreten des Jägerbataillons konnten die Weißen auf diesen Gebieten im Laufe des Krieges Fortschritte erzielen, die ihnen einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Roten gaben. Zugleich sandte das Deutsche Reich Hilfstruppen und verschaffte den Weißen einen weiteren Vorteil. Die Roten Garden Die Roten Garden waren als örtliche Ordnungsorganisationen aus überzeugten Mitgliedern der Arbeiterbewegung gebildet worden. Nach Beginn des Bürgerkrieges strömten den Garden neue Mitglieder zu, teilweise dadurch bedingt, dass die Mitglieder nun ein Gehalt aus der Staatskasse erhielten. Über die Gesamtstärke der Garden gibt es keine verlässlichen Angaben. Zu Beginn des Krieges umfassten sie um die 20.000 Mitglieder, wuchsen aber bis April je nach Schätzung auf 65.000 bis 80.000 an. Die Bewaffnung der Roten beruhte zu Beginn der Auseinandersetzung in erster Linie auf der Ende Januar erhaltenen Waffenlieferung aus Petrograd. Dies genügte nicht, um eine ausreichende Bewaffnung sicherzustellen. Erst als die russische Armee Finnland Ende Februar und Anfang März infolge des Friedensvertrages von Brest-Litowsk räumte, überließen die Garnisonen ihre Waffen den finnischen Revolutionären, was den Waffenmangel bei den Roten mit einem Schlag behob. Die meisten Rotgardisten hatten keinerlei militärische Ausbildung, und insbesondere Angriffsbewegungen waren mit diesen Soldaten sehr schwierig. Der Verteidigungskampf gelang den Roten Garden besser, aber die Furcht vor Umkreisungsbewegungen führte oft zur vorzeitigen Aufgabe von Stellungen und kopfloser Flucht. Die Kriegsführung wurde darüber hinaus durch den Mangel an qualifizierter Führung erschwert. Von einigen russischen Freiwilligen abgesehen hatte die rote Armee praktisch keine ausgebildeten Offiziere. Eine funktionierende zentrale Kommandostruktur kam während des gesamten Krieges nicht zustande. Die Unzufriedenheit mit der Führung drückte sich in den häufigen Wechseln der Oberbefehlshaber aus. Ali Aaltonen hatte sich im Vertrauen auf die Stützung durch die russische Armee allein auf die örtlichen Kommandostrukturen der Roten Garden verlassen. Er wurde bereits am 28. Januar durch Eero Haapalainen als neuen Oberbefehlshaber ersetzt. Nachdem sich dieser als wenig fähiger erwiesen hatte, wurde er am 20. März durch ein Triumvirat aus Evert Eloranta, Eino Rahja und Adolf Taimi ersetzt. Bereits an der Schwelle zum Untergang des roten Finnlands, am 12. April, versuchte man die Kräfte noch einmal zu bündeln, indem Kullervo Manner zum Diktator ausgerufen wurde. Obwohl die Vorgeschichte des roten Umsturzversuches eng mit den russischen Revolutionen verbunden war und die Wortführer der Revolution erhebliche Unterstützung durch die russischen Soldaten im Land erwartet hatten, blieb deren Beteiligung an den Kampfhandlungen letztlich gering und spielte für die Kriegsführung des roten Finnlands keine wesentliche Rolle. Lenin sah sich an einer offenen Kriegsbeteiligung in Finnland durch die prekäre Lage des Weltkrieges und die Friedensverhandlungen mit Deutschland gehindert und beschränkte sich auf gelegentliche Waffenlieferungen. Die Garnisonen blieben größtenteils passiv und gaben nur vereinzelt örtliche Unterstützung. Im Zuge der Evakuierung Finnlands wurde den Soldaten Anfang März freigestellt, sich als Freiwillige der finnischen roten Armee anzuschließen. Von dieser Möglichkeit machten rund tausend Soldaten Gebrauch. Eine Ausnahme stellte Karelien dar, wohin wegen der Nähe zu Petrograd auch Truppen aus Russland über die Grenze geschickt wurden. Insbesondere in den Kämpfen um Rautu Anfang März stellten Russen rund die Hälfte der roten Truppen. Die weiße Armee Die weißen Schutzkorps hatten zunächst mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie die Roten. Unzureichende Ausbildung und fehlende soldatische Disziplin erschwerten ein koordiniertes Vorgehen. Den Weißen gelang es aber in erheblich stärkerem Maße als den Roten, den Ausbildungsstand im Laufe des Krieges zu verbessern. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei, dass den Weißen ausgebildete Offiziere zur Verfügung standen. Zu diesen gehörten ehemalige Angehörige der 1901 aufgelösten finnischen Streitkräfte sowie freiwillige Offiziere der russischen Armee, zu denen auch Mannerheim gehörte. Weitere Offiziere rekrutierten sich aus schwedischen Freiwilligen. Den größten Anstoß bekam die Bildung der Armee aber durch die Ankunft von 1060 in Deutschland ausgebildeten Jägern des 27. Jägerbataillons am 18. und 25. Februar. Diese bildeten eine funktionierende, kriegserfahrene Führungsschicht und dienten den unerfahrenen Truppen zugleich als Vorbild. Die Stärke der weißen Armee bewegte sich im März um die 45.000, Ende April um 75.000. Die Reihen wurden gezielt durch die am 18. Februar eingeführte allgemeine Wehrpflicht verstärkt, was den Anteil der Arbeiter in der Armee erhöhte. Es hatten sich aber auch zuvor bereits Arbeiter den Schutzkorps angeschlossen. Den größten Anteil (56 %) der weißen Soldaten machten allerdings die selbstständigen Bauern mit ihren Söhnen aus. Die ursprünglich äußerst mangelhafte Bewaffnung wurde zunächst durch die Entwaffnung der russischen Garnisonen Ende Januar verbessert. Im Februar erhielt der Senat sodann 70.000 Gewehre und schwere Waffen aus Deutschland, so dass die gesamte Armee mit angemessener Bewaffnung ausgestattet werden konnte. Die Rolle Deutschlands Das kaiserliche Deutschland hatte am Anfang des Bürgerkrieges ein gespaltenes Verhältnis zu Finnland. Es war im deutschen Interesse, sich in der Nachbarschaft Russlands ein befreundetes bürgerliches Land zu sichern, andererseits konnte die offene Unterstützung der Weißen den Friedensprozess von Brest-Litowsk gefährden. Die Anerkennung Finnlands durch Russland und die spätere Unterzeichnung des Friedensvertrages, in dem sich Russland zur Evakuierung Finnlands verpflichtete, erleichterten die Situation. Am 7. März 1918 unterzeichneten die finnischen Gesandten in Berlin, Edvard Hjelt und Rafael Erich, einen Friedensvertrag mit Deutschland. Wenig später traf der soeben aus Helsinki geflüchtete Svinhufvud in Berlin ein und bat um die Entsendung von Hilfstruppen. Die Inanspruchnahme deutscher Hilfe war im weißen Finnland umstritten. Mannerheim hatte diese wiederholt abgelehnt, weil er eine Abhängigkeit Finnlands von Deutschland fürchtete. Auch der Rumpfsenat in Vaasa weigerte sich, die Vereinbarungen Svinhufvuds offiziell zu bestätigen. Der Streit wurde schließlich beigelegt, indem die deutschen Truppen formell dem Oberbefehl Mannerheims unterstellt wurden. Am 3. April 1918 landete die Ostsee-Division der deutschen Armee im Rahmen der sogenannten Finnland-Intervention mit 9500 Mann unter Generalmajor Rüdiger Graf von der Goltz in Hanko sowie am 7. April weitere 2500 Mann, das Detachement Brandenstein, unter Oberst Otto von Brandenstein von Tallinn aus in Loviisa. Verlauf der Kriegshandlungen Nachdem die Front sechs Wochen weitgehend unverändert geblieben war, begann die weiße Hauptoffensive mit der Umkreisung und Eroberung der Stadt Tampere. Im Süden gelandete deutsche Truppen nahmen Helsinki ein und trafen später in Lahti mit Mannerheims Einheiten zusammen. Der eingekesselte rote Flüchtlingsstrom ergab sich nach verzweifelten Gefechten. Die letzten schweren Gefechte wurden in Karelien um die Stadt Viipuri geführt. Der Bürgerkrieg endete am 5. Mai 1918 mit der Aufgabe der letzten Aufständischen. Die Schlacht um Tampere Die Stadt Tampere war im Jahr 1918 das größte Industriezentrum Finnlands und Hochburg der Roten Garden. Am 15. März 1918 begann die weiße Armee einen großangelegten Angriff mit dem Ziel der Einkreisung und anschließenden Eroberung der Stadt. Der Angriff wurde von mehreren Seiten geführt und kam zunächst mit wechselndem Erfolg voran. Vielfach führten bereits kleine Angriffsbemühungen zu ungeordneter Flucht der Roten Verteidiger, an anderen Stellen wurde dagegen zäher Widerstand geleistet. So kam es am 16. März in Länkipohja, einem Dorf in der Gemeinde Längelmäki, zu erbitterten Gefechten, in welchen das Schutzkorps von Lapua seine beiden Kommandeure verlor. Nach der Eroberung des Dorfes erschossen die Weißen sämtliche gefangen genommenen Rotgardisten, eine Vorgehensweise, die in ähnlicher Form auch an anderen Orten praktiziert wurde. Nach tagelangen weiteren Kämpfen wurde schließlich am 26. März die Bahnstation von Lempäälä südlich von Tampere eingenommen und damit der Belagerungsgürtel um die Stadt geschlossen. Die Kämpfe in der Umgebung Tamperes hatten dazu geführt, dass sich die Soldaten der dort stationierten Roten Garden ebenso wie ein großer Teil der Zivilbevölkerung in die Stadt geflüchtet hatten und die Stadt damit zum Bersten mit Menschen gefüllt war. Nachdem die roten Einheiten zuvor oftmals übereilt die Flucht ergriffen hatten, war nunmehr jeder weitere Fluchtweg versperrt, und so bereitete man sich in der Stadt unter Führung des örtlichen Befehlshabers Hugo Salmela auf die Verteidigung der Stadt vor. Dem militärisch ungebildeten Arbeiter eines Bretterlagers gelang es, die in Panik befindlichen Truppen einigermaßen zu ordnen und eine effektive Verteidigung zu organisieren, bis er am 28. März bei einer Explosion den Tod fand. Die Weißen wurden vom plötzlich erstarkten Widerstand überrascht, und der am Gründonnerstag, dem 28. März, begonnene Sturm auf die Stadt endete zunächst in einem Blutbad um den Friedhof Kalevankangas im Osten Tamperes. Im Maschinengewehrfeuer der Roten verloren die Angreifer annähernd 1000 Männer als Gefallene oder Verwundete. Auch in den folgenden Tagen kam der Angriff nur mühsam voran. Die Verteidiger hatten beschlossen, sich nicht zu ergeben, offensichtlich mitbedingt durch die Berichte vom Schicksal der Gefangenen in Länkipohja. Die Einnahme Tamperes erforderte daher tagelange erbitterte Straßenkämpfe, in denen die Stadt Haus für Haus von Osten nach Westen erobert, dabei durch ständiges Geschützfeuer aber auch fast vollständig zerstört wurde. Am 6. April 1918 ergaben sich die letzten in den westlichen Stadtteil Pyynikki gedrängten Verteidiger. Die Schlacht um Tampere war die bis dahin größte kriegerische Auseinandersetzung der finnischen Geschichte. In den Straßenkämpfen fielen nach verbreiteten Schätzungen rund 600 weiße und 1800 rote Soldaten. Nach der Untersuchung von Ylikangas sollen sich unter den genannten roten Gefallenen aber auch bis zu 500 während der Kämpfe Hingerichtete befinden. Vorrücken der Deutschen im Süden Der Fall Tamperes stellte für das rote Finnland einen schweren Schlag dar, sowohl militärisch, da mit den in der Stadt stationierten Truppen ein erheblicher Teil der Roten Garden vernichtet worden war, als auch psychologisch, da die revolutionäre Bewegung eines ihrer wichtigsten Zentren verloren hatte. Bereits drei Tage früher, am 3. April 1918, hatte die Landung der deutschen Truppen in Hanko das Volkskommissariat erschüttert, welches ohnehin kaum noch Kontrolle über seine verbliebenen Truppen hatte. Die Ostseedivision rückte bis zum 10. April entlang der Südküste bis Leppävaara bei Helsinki vor, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Eine energische Verteidigung der Hauptstadt war praktisch auch unmöglich zu organisieren, nachdem Eino Rahja alle in der Stadt verfügbaren Kräfte gesammelt und nach Lempäälä geführt hatte, um das eingeschlossene Tampere zu entsetzen. Das Volkskommissariat hatte am 6. April letztmals in Helsinki getagt und sodann angesichts der heranrückenden Deutschen die Flucht nach Viipuri angetreten. Von der Goltz ließ seine Truppen am 11. April den Sturm auf die Stadt beginnen, am 12. April unterstützt von in den Hafen eingedrungenen Flottenverbänden. Am 13. April gaben die in Siltasaari im Stadtteil Kallio eingekesselten Roten auf. Die Deutschen verzeichneten bei den Kämpfen 200 Gefallene und Verwundete. Die am 7. April bei Loviisa gelandeten Truppen von Oberst von Brandenstein eroberten Loviisa rasch und ohne Gegenwehr und rückten bis zum 11. April bis Orimattila vor. Nachdem auch Goltz nach Norden vorrückte, nahm von Brandenstein am 19. April die Stadt Lahti ein, traf dort mit den weißen Truppen aus dem Norden zusammen und zerschnitt so die Verbindungen der im Westen befindlichen Roten nach Osten. Der rote Flüchtlingszug Bereits am 4. April befahl der rote Generalstab die Evakuierung der westfinnischen Gebiete und den Rückzug der dortigen Roten Garden nach Osten. Nach der Landung der Deutschen schien die Verteidigung dieser Gebiete zunächst aussichtslos, und die rote Führung wollte die Kräfte im Osten neu sammeln. Die örtlichen Kommandanten waren jedoch unwillig, dem Befehl nachzukommen – es sollte lieber die Heimatstadt verteidigt werden. Die Garde von Turku war erst am 10. April bereit, die Evakuierung durchzuführen, Pori sogar erst am 12. April. Auch die weiter östlich stationierten Garden, die später in den Evakuierungsplan einbezogen wurden, verzögerten ihren Aufbruch. Zudem widersetzten sich die Garden dem Befehl, ihre Familien zurückzulassen, sondern machten sich mitsamt Familien und beweglicher Habe auf die Flucht. Die Züge von vielen Tausend schwer beladenen Flüchtlingen kamen auf den vom Tauwetter aufgeweichten Landstraßen nur mühsam voran, und die Reise endete schließlich in der Gegend von Lahti, wo sich der Riegel der Weißen inzwischen geschlossen hatte. An vielen Stellen versuchten die Roten Garden den Durchbruch. In einem verzweifelten Gefecht in Hauho am 28. und 29. April konnten sich die Soldaten, vielfach unterstützt von ihren bewaffneten Frauen, tatsächlich durch die deutschen Reihen kämpfen. Letztlich mussten sich jedoch auch sie, ebenso wie die anderen Flüchtlinge, geschlagen geben. Die letzten von ihnen ergaben sich am 2. Mai 1918. Kriegsabschluss in Karelien Ende April hatten die Roten nur noch die Landschaft Kymenlaakso und einen Teil Kareliens in der Hand. In der schwachen Hoffnung auf Hilfe aus Russland setzten sie ihren Widerstand jedoch weiter fort. Die Weißen begannen am 23. April den Angriff auf Viipuri und hatten die Stadt bald eingekreist. Die Eroberung der Stadt erforderte jedoch zähe Kämpfe und gelang schließlich erst am 29. April. Viele der führenden Personen des roten Finnlands konnten kurz zuvor nach Petrograd flüchten. Die Eroberung Viipuris stellte die letzten größeren Kampfhandlungen dar. Die letzte rote Enklave in Kymenlaakso streckte am 5. Mai 1918 die Waffen. Dieser Tag gilt als Tag des Kriegsendes, wenn auch die Festung Ino in Karelien noch bis zum 15. Mai von russischen Truppen besetzt blieb. In den Kampfhandlungen des Bürgerkrieges verloren nach Erkenntnissen des 2004 abgeschlossenen Projektes des finnischen Staates zur Aufklärung der Kriegsopfer insgesamt 9538 Menschen ihr Leben. Von den Opfern gehörten 3458 der weißen und 5717 der roten Seite an. Diese Zahlen enthalten nicht die rund 350 deutschen und 500–600 russischen Gefallenen. Allein rund 2000 Menschen fielen in der Schlacht um Tampere. Politische Gewalt während des Krieges und danach In den unmittelbaren Kampfhandlungen des Krieges fielen rund sechs Prozent der aktiv am Krieg Beteiligten. Bedeutend mehr Opfer verloren ihr Leben jedoch außerhalb der Schlachtfelder. Für die hiermit zusammenhängenden Vorgänge haben sich die Begriffe „roter und weißer Terror“ eingebürgert. Während der Existenzzeit des roten Finnlands wurden rund 1.650 zur bürgerlichen Bevölkerung gehörende Menschen ermordet. Die Morde verteilten sich zeitlich hauptsächlich auf zwei Phasen. 703 Morde geschahen in der Anfangsphase des Krieges im Februar, als die Roten zahlreiche Mitglieder der Schutzkorps umbrachten, welche versucht hatten, auf die Seite der Weißen zu gelangen. Die zweite Welle von Gewalttaten ereignete sich am Ende des Krieges im April, als 667 Menschen den Tod fanden, oft in den letzten Tagen, bevor die jeweilige Ortschaft an die Weißen fiel. Die Gewalttaten waren größtenteils vereinzelt und geschahen oft, ohne dass es hierzu Befehle gegeben hätte. Nur in wenigen Fällen kam es zu Massenmorden, die größte in einem Zuge getötete Menschenmenge zählte 30 Personen. Das Volkskommissariat verurteilte die unnötige Gewalt öffentlich, zu konkreten Strafmaßnahmen wurde jedoch nicht gegriffen. Die weißen Truppen, die nach eigener Auffassung im Dienste der Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung kämpften, griffen gegenüber den geschlagenen Aufständischen zu drastischen Strafmaßnahmen. Nach der Eroberung von Varkaus wurden innerhalb von wenigen Tagen 200 Rotgardisten hingerichtet, und ähnlich wurde überall nach der Eroberung von Ortschaften und Städten verfahren, in besonderer Schwere in Tampere und Viipuri. Die Hinrichtungen geschahen oft ohne jegliche Anhörung, oft auch nach kurzem Verfahren in Standgerichten, welche aus Soldaten oder auch aus bürgerlichen Bewohnern der jeweiligen Orte gebildet wurden. Erst nach Kriegsende im Mai erließ Mannerheim ein strenges Verbot der ohne gesetzliche Grundlage erfolgenden Hinrichtungen. Insgesamt richteten die Weißen während des Krieges rund 8.400 Rote hin. Dabei wurden die unter den Gefangenen identifizierten Russen praktisch systematisch hingerichtet. Nach dem Krieg verblieben in der Hand der Regierung rund 80.000 Gefangene. Es wurde ein besonderes Staatsverbrechensgericht gegründet, um die große Menge der Fälle einigermaßen rechtsstaatlich verhandeln zu können. Das Gericht verurteilte 555 Personen zum Tode; von diesen Urteilen wurde aber nur ein Teil vollstreckt. 23.000 Rote wurden zu Haftstrafen ohne Bewährung, 44.500 mit Bewährung verurteilt. Die Verfahren nahmen in all ihrer Oberflächlichkeit viel Zeit in Anspruch, und es erwies sich bald, dass die in Gefangenenlagern zusammengepferchten Häftlinge nicht angemessen versorgt werden konnten. Ab dem Juni 1918 begannen die Gefangenen massenweise an Hunger und Seuchen zu sterben, bis zum Oktober wurden insgesamt 12.500 bis 13.000 Tote gezählt. Schätzungen zufolge soll es rund 15.000 Waisen gegeben haben. Nachwirkungen Der Bürgerkrieg hinterließ eine tief gespaltene Gesellschaft und eine gedemütigte Arbeiterschaft. Gemäßigtere Mitglieder unter Führung von Väinö Tanner traten an die Spitze der Sozialdemokratischen Partei, die in der Folge keine revolutionären Neigungen mehr zeigte. Der Großteil der alten Führung hatte sich in das bolschewistische Russland abgesetzt, wo sie im August 1918 die Kommunistische Partei Finnlands gründete und die Spaltung der finnischen Arbeiterbewegung besiegelte. Die Sozialdemokraten blieben lange von der direkten Einflussnahme auf die Politik ausgeschlossen, und erst ab 1937 waren sie wieder regelmäßig an Regierungen beteiligt. Nach Ende des Bürgerkrieges begann das „weiße“ Finnland mit der Errichtung des unabhängigen Staates. Es hatte sich durch die Inanspruchnahme deutscher Hilfe stark an das Deutsche Reich gebunden, und im auf den Krieg folgenden Verfassungsstreit behielten zunächst auch die Monarchisten die Oberhand. Am 9. Oktober 1918 wurde der Deutsche Friedrich Karl von Hessen zum König von Finnland gewählt. Die Kriegsniederlage Deutschlands und der Fall des deutschen Kaiserhauses machten diese Wahl jedoch obsolet, und schließlich gab sich Finnland eine republikanische Verfassung. Die Spaltung der finnischen Gesellschaft spiegelte sich im Rückblick auf den Krieg. Über Jahrzehnte schrieben beide Lager die Geschichte des Krieges aus völlig verschiedenen Blickwinkeln. Die Geschichtsschreibung des obsiegenden bürgerlichen Finnlands vermied sorgsam den Begriff „Bürgerkrieg“ und bezeichnete die Auseinandersetzung als „Freiheitskrieg“, welcher in erster Linie der Befreiung des Landes von den russischen Besatzern und mit ihnen verbündeten Kriminellen diente und sich nicht gegen eigene Bürger richtete. Besonders unter dem Eindruck der Geschehnisse des russischen Bürgerkrieges empfand man den Sieg gegen die finnische Revolution als Sicherung der politischen Souveränität Finnlands. In der sozialistischen Literatur erschien der Krieg dagegen als typischer „Klassenkrieg“ einer unterdrückten Arbeiterklasse, die gegen die herrschende Klasse keinen anderen Ausweg als den Griff zur Waffe fand. Heute hat sich in Finnland allgemein die neutralere Bezeichnung „Bürgerkrieg“ eingebürgert. Literatur Risto Alapuro: State and revolution in Finland. Berkeley, Los Angeles/London 1988, ISBN 0-520-05813-5. Jussi T. Lappalainen: Punakaartin sota. Teile 1 und 2. Valtion Painatuskeskus, Helsinki 1981, ISBN 951-859-071-0, ISBN 951-859-072-9. Manfred Menger: Die Finnlandpolitik des deutschen Imperialismus 1917–1918. Akademie-Verlag, (Ost-)Berlin 1974. Aapo Roselius: Amatöörien sota. Rintamataisteluiden henkilötappiot Suomen sisällissodassa 1918. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Schafberg%20%28Salzkammergut-Berge%29
Schafberg (Salzkammergut-Berge)
Der Schafberg ist ein hoher Berg im Salzkammergut im nördlichen Salzburg und südlichen Oberösterreich. Er befindet sich am Nordende der Nördlichen Kalkalpen und ist durch seine ins Alpenvorland vorgeschobene Position eine markante Landmarke und ein beliebter Aussichtsberg des nordwestlichen Salzkammerguts. Er ist von den drei großen Salzkammergutseen Wolfgangsee, Mondsee und Attersee umgeben. Aufgrund seiner charakteristischen Form, mit gleichmäßig ansteigender Südflanke und senkrecht abfallenden Nordwänden, ist er ein Wahrzeichen der Salzkammerguts. Der Schafberg ist ein bedeutendes Tourismusziel. Am Gipfel befindet sich das älteste Berghotel Österreichs. Die Schafbergbahn, eine von drei noch existierenden Zahnradbahnen in Österreich, befördert jährlich rund 170.000 Besucher auf den Gipfel. Geographie Der Schafberg hat eine maximale Ausdehnung zwischen der Scharflinger Höhe im Nordwesten und dem Schwarzensee im Südosten von 9 und von Nord nach Süd von 7 Kilometern mit einer Gesamtfläche von etwa 50 km². Die Westgrenze beginnt beim Weiler Brunnwinkl in Sankt Gilgen und verläuft über die Scharflinger Höhe zum Eglsee am Mondsee. Von dort folgt die Nordgrenze dem Südufer des Mondsees, der Seeache sowie dem Südufer des Attersees bis Burgbachau. Die Ostgrenze verläuft durch die Burggrabenklamm zur Moosalm und folgt dem Moosbach bzw. Schwarzenbach bis zum Schwarzensee, danach den Schwarzenbach abwärts zur Ache bei Strobl und zum Wolfgangsee. Das Nordostufer des Wolfgangsees bildet die Südwestgrenze bis Brunnwinkl. Verwaltungsmäßig befindet sich der Schafberg in den Bundesländern Salzburg und Oberösterreich. Er gehört zum Bezirk Salzburg-Umgebung im Flachgau (Nordwesten) und zum oberösterreichischen Bezirk Gmunden im Traunviertel (Südosten). Die Landesgrenze verläuft entlang des Klausbachs im Norden, durch den Mittersee zur Einschartung zwischen Spinnerin und Törlspitz, von dort entlang des Ditlbachs bis St. Wolfgang. Die Gemeinden Sankt Gilgen und St. Wolfgang im Salzkammergut haben Anteil am Schafberg. Topologie Der Südflanke steigt gleichmäßig steil vom Wolfgangsee auf an. Der höchste Punkt befindet sich beim Hotel Schafbergspitze mit Im Westen des Nordabfalls liegt die Himmelspforte, eine schmale Felsgasse, wo auf das Gipfelkreuz steht. Östlich der Schafbergspitze befindet sich der Nebengipfel der Spinnerin (), die durch eine Einschartung vom Törlspitz () getrennt ist. Die Nordwände fallen rund 300 Meter senkrecht zum Kar des Suissensees auf ab. Oberhalb des Mittersees beträgt die Wandhöhe rund 200 m. Die Nordabdachung verläuft zunächst mäßig steil zur Eisenaueralm () auf einem kleinen Plateau. Die Ackerschneid fällt von der Eisenaueralm zum Mondsee, zur Seeache und zum Attersee () ab. In der Südostflanke sind der Vormauerstein () und der Sommeraustein () zwei markante Vorgipfel. Im Südwesten fällt die Falkensteinwand vom Falkenstein () senkrecht zum See ab. Verkehr Im Norden verläuft die Attersee Straße bzw. die Seeleiten Straße entlang der Ufer von Mondsee und Attersee. Im Westen verbindet die Mondsee Straße Scharfling mit Sankt Gilgen. Im Südosten führt die St. Wolfganger Straße (L546) von Bad Ischl nach St. Wolfgang im Salzkammergut. Dort befindet sich der Talbahnhof der Schafbergbahn, einer Zahnradbahn, die zum Gipfel des Schafbergs führt. Gewässer Am Schafberg befinden sich fünf Seen etwas nördlich vom Hauptkamm. Von Westen nach Osten sind dies: Krotensee, Suissensee, Mittersee, Mönichsee und Schwarzensee. Am Nordfuß gibt es eine Reihe von Bächen, die in den Mondsee bzw. in den Attersee fließen. Die Bäche der Südflanke fließen zum Wolfgangsee. Die wichtigsten Zubringer sind der Kesselbach, der zum Krotensee fließt, und der Ditlbach, der in St. Wolfgang in den Wolfgangsee mündet. Das Gebiet der Moosalm im Osten entwässert über den Moosbach in den Schwarzensee, der über den Schwarzenbach in die Ischler Ache entwässert. Geologie Tektonik Der Schafberg ist ein Teil der Nördlichen Kalkalpen und wird von Gesteinen der Staufen-Höllengebirgs-Decke des Tirolischen Deckensystems aufgebaut. Während der Bewegung der Staufen-Höllengebirgs-Decke nach Norden wurden das jüngere Bajuvarikum und das Rhenodanubische Deckensystem nordvergent überschoben. Die Staufen-Höllengebirgs-Decke ist durch das dextrale Blattverschiebungssystem der Wolfgangsee-Störung in zwei Schollen zerlegt. Im Südwesten liegt das Osterhorn-Tirolikum und im Nordosten das Schafberg-Tirolikum. Der Schafberg besteht aus einem komplexen Faltensystem, wobei die landschaftsprägende Schafberg-Gipfelregion von einer nach Norden überschlagenen, liegenden Synklinale gebildet wird. Lithostratigraphie Lithostratigraphisch bestehen die Gesteine des Schafbergs überwiegend aus mesozoischen Kalken und Dolomiten der Trias und des Jura, die vor rund 210 bis 135 Millionen Jahren abgelagert wurden. Nordalpine Raibler Schichten (Karnium) befinden sich am Nordabfall des Schafbergzuges im Bereich der Eisenaueralm. Wegen der leichteren Verwitterung ist der Verlauf der Raibler Schichten durch eine Geländeverflachung gekennzeichnet, die zumeist eine Moränenüberlagerung aufweist. Hauptdolomit (Karnium bis Norium) bildet die Basis und die Hauptmasse des Schafbergs und erreicht eine Mächtigkeit von bis zu 1500 m. Er tritt großflächig in der Südflanke und am Nordabfall zu Tage. Unter Wechsellagerung geht aus dem Hauptdolomit der dezimeter- bis metergebankte, graue bis bräunlichgraue Plattenkalk (Norium bis Rhätium) hervor. Seine Mächtigkeit kann bis zu 300 m betragen. Scheibelbergkalk und Kirchsteinkalk (Unterjura) bilden zusammen eine bis zu 200 m mächtige Schicht, die vom Graben des Kesselbachs über die Schafbergalm nach Osten zieht und auch im Bereich der Vormaueralm vorkommt. Massiger, heller Hierlatzkalk (Unterjura) streicht mit bis 100 m Mächtigkeit über den Gipfelzug des Schafberges und ist von der Kote 1782 m nahe dem Hotel Schafbergspitze gegen Osten bis nördlich des Schwarzensees zu verfolgen. Dazwischen befinden sich bunte Kalke der Adnet-Formation, die fossilienführend sind. Radiolarit der Ruhpoldinger Schichten (Oberjura) bildet den Kern der Synklinale im Nordabfall der Schafberg-Gipfelregion. Er kommt nördlich der Himmelspforte, südlich des Suissensees und vom Nordosthang der Spinnerin bis südlich des Mittersees vor. Heller, fast weißer Plassenkalk (Kimmeridgium bis Tithonium) bildet den Falkenstein am nördlichen Wolfgangseeufer und die Höhen des Vormauersteins, des Sommerausteins und des Käferwandls. Ehemalige Vergletscherung Das Gebiet um den Schafberg war während der Eiszeiten immer vergletschert. Am Höhepunkt der jeweiligen Vereisung erfüllten große Eismassen die Täler und reichten immer wieder bis auf rund Nur der Gipfelbereich des Schafbergs ragte als Nunatakker aus den Eisströmen heraus. In den Tälern entstanden übertiefte Becken, die heute von Seen und deren Ablagerungen ausgefüllt sind. Der mächtige Traungletscher verzweigte sich bei Bad Ischl und floss mit einem Seitenast durch das Ischltal über den Wolfgangsee zum Mondsee. Ein kleinerer Seitenast floss durch die Furche von der Schwarzensee-Moosalm zum Attersee und lagerte in der ausgeschürften Mulde wasserstauende Spätglazialtone ab. Am Nordabfall des Schafbergs bildeten sich in den Karen über dem Suissensee und dem Mittersee mächtige Lokalgletscher, die Endmoränenwälle um die Eisenaueralm hinterließen. Höhlen Mit Stand 2014 sind in der Katastergruppe 1531 (Schafberg) des Österreichischen Höhlenverzeichnisses vier Höhlen verzeichnet. Die längste davon ist das Wetterloch (Kat.Nr. 1531/2) mit etwas über 300 m Ganglänge. Die deutlich bewetterte Höhle wurde 1895 als Schauhöhle mit elektrischer Beleuchtung ausgebaut. Der Betrieb wurde aus Rentabilitätsgründen 1906 wieder eingestellt. Die weiteren Höhlen sind die Adlerhöhle (Kat.Nr. 1531/1), das St.-Wolfgang-Loch (Kat.Nr. 1531/3) und der Schafbergschacht (Kat.Nr. 1531/4). Klima Die Wetterwarte der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in St. Wolfgang im Salzkammergut () stellt exakte Daten für das Schafberggebiet zur Verfügung. Die Klimadaten zeigen eine für die Nördlichen Kalkalpen typische Temperatur- und Niederschlagsverteilung: kühle und niederschlagsreiche Sommer und niederschlagsarme Winter. Der Jahresniederschlag beträgt 1467 mm und die Jahresdurchschnittstemperatur 8,8 °C. Die Niederschläge nehmen mit zunehmender Meereshöhe deutlich zu, die Temperatur nimmt ab. Am Schafberggipfel bewegen sich die Jahresniederschläge in einer Größenordnung von 1800 bis über 2000 mm und die Jahresdurchschnittstemperatur liegt zwischen 2 und 4 °C. In freien, höher gelegenen Bereichen dominieren West- und Nordwestwinde, die häufig mit Niederschlag einhergehen. Die im Salzkammergut nach Norden verschobenen Berge wirken gegen die von Westen kommenden Fronten wie Barrieren. Dies führt zu häufigen Stauniederschlägen. Gleichzeitig wirken die Seen mildernd auf Temperaturextreme. Durch die feuchten, warmen Luftmassen der umliegenden Seen kommt es im Herbst und Winter häufig zu stabilen Inversionswetterlagen. In höheren Lagen ist dadurch eine wesentlich längere Sonnenscheindauer festzustellen. Flora und Vegetation Aufgrund der großen Höhenunterschiede zwischen der Tallage und den Gipfelregionen bildet sich in jeder Höhenstufe eine entsprechende Vegetation. Die montane Stufe ist der Bereich der Fichten-Tannen-Buchen-Wälder als Klimaxvegetation, der sich vom Talboden bis auf etwa erstreckt. Die Wälder werden forstwirtschaftlich genutzt und die Fichte (Picea abies) bildet den Hauptteil des Baumbestandes. In den Kalkvoralpen werden Wald- und Baumgrenze in der Regel von der Fichte gebildet. Von Natur aus wäre am Schafbergipfel in etwa die Waldgrenze, diese liegt aufgrund der lange zurückliegenden Rodungen und der Almwirtschaft heute deutlich tiefer. Auch die Bestände der Bergkiefer (Pinus mugo) sind Nachfolger von aufgelassenen Almweiden hin zum subalpinen Fichtenwald. Die Bergmischwälder am Franz-Josef-Weg nach St. Wolfgang enthalten stellenweise noch stattliche Tannen (Abies alba). Auf den Almen im hochmontanen Bereich wachsen für den Schafberg typische, sonst im Salzkammergut seltene, Rosenarten wie die Apfel-Rose (Rosa villosa) und die Busch-Rose (Rosa corymbifera). In der Südflanke befinden sich subalpine Fettweiden und Rostseggenrasen, der in Lagen mit langer Schneebedeckung und größerer Feuchtigkeit den großflächig vorkommenden Horstseggenrasen ersetzt. Im tiefgründigen Rasen wächst häufig der Allermannsharnisch (Allium victorialis), der in Oberösterreich sonst sehr selten ist. In südexponierten Hängen, im von einzelnen Kalkfelsen durchsetzten Blaugras-Horstseggenrasen, wächst das sehr seltene Steirische Kohlröschen (Nigritella stiriaca). Diese in Österreich endemische Art ist vom Salzkammergut bis in die Hochschwabgruppe verbreitet. An der windexponierten Kante des Nordabbruchs hat sich ein Polsterseggenrasen entwickelt, in dem viel Silberwurz (Dryas octopetala), Alpen-Süßklee (Hedysarum hedysaroides) und Bewimperter Mannsschild (Androsace chamaejasme) wächst. Im Mittersee gedeiht das Langblättrige Laichkraut (Potamogeton praelongus). Dieses Vorkommen ist das einzige in Salzburg und in Oberösterreich. Von den vorkommenden Pilzen sind viele mit der Fichte und anderen Nadelbäumen vergesellschaftet. Dies sind etwa Feinschuppiger Ritterling (Tricholoma imbricatum) Geselliger Glöckchennabeling (Xeromphalina campanella) Braunschuppiger Tintling (Coprinopsis romagnesiana) Schmalblättriger Risspilz (Inocybe leptophylla, Syn. Inocybe casimiri) Erdigriechender Schleimkopf (Phlegmacium variecolor) Anis-Klumpfuß (Cortinarius odorifer) Fauna Das Schafberggebiet ist reich an Wildarten. Besonders die felsigen Bereiche sind für Gämsen (Rupicapra rupicapra) ein Rückzugsgebiet; die Tiere treten in hohen Dichten auf. Im Bereich von Almen und Wäldern finden Rothirsche (Cervus elaphus) und Rehe (Capreolus capreolus) gute Lebensbedingungen, wenn auch in geringerer Dichte. Alpensalamander (Salamandra atra) und Bergmolch (Ichthyosaura alpestris) sind im Gebiet verbreitet. In den tieferen Lagen kommt auch der Feuersalamander (Salamandra salamandra) vor. Die Gelbbauchunke (Bombina variegata) ist weit verbreitet. Auch die Erdkröte (Bufo bufo) und der Grasfrosch (Rana temporaria) steigen mit größeren Beständen bis zur Waldgrenze. Von den Reptilienarten ist die Bergeidechse (Zootoca vivipara) am häufigsten vertreten, aber auch die Blindschleiche (Anguis fragilis) ist bis in die hochmontane Zone weiter verbreitet. Die Ringelnatter (Natrix natrix) ist nur im östlichen Schafberggbiet in der Umgebung des Schwarzensees nachgewiesen. Die Kreuzotter (Vipera berus) kommt im Gebiet vor und ist im Frühjahr an der Südseite, wie etwa am Purtschellersteig, häufig zu beobachten. Alpendohlen (Pyrrhocorax graculus) und Kolkraben (Corvus corax) sind häufig anzutreffen. Alpenbraunellen (Prunella collaris) und Bergpieper (Anthus spinoletta) wurden ebenfalls nachgewiesen. In der sonnigen und windgeschützten Mulde des Suissensees, am Fuß der Nordwände, fliegt im Sommer häufig der streng geschützte Apollofalter (Parnassius apollo). Seine Raupen entwickeln sich an der Weißen Fetthenne (Sedum album), überwintern und verpuppen sich erst im Frühjahr nach der Schneeschmelze. Der Schwarze Apollo (Parnassius mnemosyne) ist in der Unterart hartmanni im Gebiet östlich des Schafberges zu finden. Diese Populationen sind durch besonders dunkle Weibchen ausgezeichnet. Naturschutz Der Schafberg liegt auf Salzburger Seite im Landschaftsschutzgebiet Schafberg–Salzkammergutseen. In Oberösterreich stehen der Schwarzensee (n016, Listeneintrag) und der Moorkomplex der Moosalm (n130, Listeneintrag), mit 48,77 ha bzw. 70 ha Fläche, unter Naturschutz. Bergsport Wandern Von St. Wolfgang aus war der Schafberg schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einfach über bestehende Almwege zu besteigen. Aufgrund seiner hervorragenden Gipfelaussicht über das Salzkammergut war der Schafberg schon damals ein beliebter Aussichtsberg. In einer der Hütten auf der Schafbergalm gab es Milch, Butter und Brot, zur Not auch ein Heulager. In St. Wolfgang standen Bergführer und Träger zur Verfügung. Eine Besonderheit waren die Sesselträger. Jeweils eine Person wurde mit einer Art Sänfte von zwei Trägern auf den Gipfel getragen. Für viele Salinenarbeiter und Holzknechte, die ihre Arbeit mit dem Niedergang der Salzwirtschaft verloren hatten, war das Sesseltragen eine bescheidene Einkommensquelle. Es entwickelte sich rasch ein eigener Berufsstand mit festen Tarifen, fixen Standplätzen und strengen Regeln für die Sicherheit der zu tragenden Personen. In St. Wolfgang gab es im 19. Jahrhundert ungefähr dreißig Sesselträger. Ihnen diente zur Abwicklung ihrer Geschäfte ein Stüberl im St. Wolfganger Hotel Post als Standquartier. Dort wurden die Aufträge entgegengenommen und auf Schiefertafeln wurde festgehalten, welcher Kunde mit welchem Träger unterwegs war. Ein Führer auf den Schafberg kostete 1 ¼ Gulden, die Beförderung wahlweise auf einem Maultier oder mit Sesselträgern 8 Gulden. Die 1893 eröffnete Schafbergbahn beendete den Beruf der Sesselträger in St. Wolfgang. Das Hotel Schafbergspitze, eine Hütte der Naturfreunde und auch private Unterkünfte bieten Übernachtungsmöglichkeiten für Wanderer. Das markierte und beschilderte Wegenetz am Schafberg wird vom Österreichischen Alpenverein gewartet. Der Österreichische Weitwanderweg Nr. 04 überquert den Schafberg von Norden nach Süden. Dieser Weg trägt dort als Voralpenweg die Nummer 804. Von allen Himmelsrichtungen führen Anstiege auf den Schafberg. Die bekanntesten sind: Weg 17 bzw. 27 Purtschellersteig vom Mönichsee im Osten durch die Südflanke auf den Gipfel Weg 18 Himmelspfortensteig von der Eisenaueralm über die Nordwestflanke auf den Gipfel Weg 20 Schafbergsteig von Winkl auf die Schafbergalm und durch die Südflanke auf den Gipfel Weg 23 Schafbergweg von St. Wolfgang auf die Schafbergalm Berglauf Seit 1983 findet regelmäßig im Mai der Schafberglauf statt. Der Wettbewerb wird von der Laufgemeinschaft St. Wolfgang veranstaltet. Die Strecke folgt dem Wanderweg 23 bzw. 24 von St. Wolfgang zum Gipfel. Auf einer Länge von 7,2 Kilometer sind 1.188 Höhenmeter zu überwinden. Der Streckenrekord beträgt 43:03. Klettern Klettertechnisch sind vor allem die Falkensteinwand, die Hochwänd und die Nordwand erschlossen. Es gibt Routen in allen Schwierigkeitsgraden. Die Falkensteinwand ist für ihre senkrecht bis überhängende Wand, die direkt in den Wolfgangsee abstürzt, bekannt und auch für deep water soloing geeignet. Gleitschirmfliegen Der Schafberg ist ein bekanntes Gebiet für Gleitschirmflieger. Die Südflanke jenseits der Baumgrenze ist mit ihrem Gefälle ein idealer Startplatz. Um die Mittagszeit entsteht oft eine günstige Thermik, die genutzt wird, um rasch an Höhe zu gewinnen. Dem Gleitschirmflieger bietet sich aus großer Höhe ein Blick auf einen Großteil der Seen des Salzkammerguts. Mountainbiking Die Eisenaueralm, im Norden des Schafbergs, ist ein beliebtes Ziel für Mountainbike-Touren. Die Forststraßen entlang des Kienbachs und durch den Burgaugraben sind ausgewiesene Mountainbike-Strecken. Bei der Buchberghütte befinden sich Ladestationen für E-Bikes. Wintersport Im Winter wird der Schafberg nur selten für Skitouren und Schneeschuhwanderungen genutzt. Bei entsprechender Schneelage führt die Route über den Sommerweg von St. Wolfgang oder entlang der Trasse der Schafbergbahn auf den Gipfel. Der Schnee auf den südseitigen Hängen im Gipfelbereich ist jedoch oft abgeblasen. Wirtschaft Tourismus Wegen des großen Interesses zahlungskräftiger Gäste wurde der Schafberg systematisch für den Bergtourismus erschlossen. 1853 erbaute der Wirt des Gasthauses zum Roß (Schwarzingers Gasthaus) aus St. Wolfgang am Gipfel ein gemauertes Gasthaus mit 16 Betten und einem Dachbalkon. 1864 wurde mit dem Hotel Schafbergspitze das erste Berghotel Österreichs eröffnet. Es verfügte über eine telefonische Sprechstelle mit dem Hotel Post in St. Wolfgang. Ende der 1860er-Jahre besuchten bereits an die 5000 Personen pro Jahr den Schafberggipfel. Mit der Einweihung der Schafbergbahn 1893 verstärkte sich der Bergtourismus erheblich. Ein Jahr später wurde die Lokalbahn von Salzburg nach Bad Ischl eingerichtet, was die Anreise wesentlich erleichterte. Vom ersten Elektrizitätswerk Oberösterreichs in St. Wolfgang wurde das Schafberghotel ab 1894 mit Strom versorgt. Das Wetterloch, eine Höhle nahe dem Schafberggipfel, wurde als Schauhöhle eingerichtet und mit elektrischem Licht beleuchtet. Der älteste Bauteil des Hotels fiel im Jahr 1906 einem Brand zum Opfer. In St. Wolfgang existiert eine ausgeprägte touristische Infrastruktur. Die Schafbergbahn, das Hotel und die Wolfgangseeschifffahrt werden seit 2005 von der Salzkammergutbahn GmbH betrieben, die am 9. Februar 2006 von der ÖBB an die Salzburg AG verkauft wurden. Westlich des Hotels liegt die Gaststätte Himmelspforte - Schafberg. Auf der Schafbergalm, bei der Haltestelle Schafbergalpe, befindet sich der Gasthof Schafbergalpe. Schafbergbahn Die Schafbergbahn, eine Zahnradbahn, fährt vom Schafbergbahnhof in St. Wolfgang über die Haltestation Schafbergalm bis zur Station Schafbergspitze auf Höhe. Die Bahnstrecke beträgt 5,85 km, der Höhenunterschied , die Fahrt dauert ca. 35 Minuten. Die Schafbergbahn wird von Anfang Mai bis Ende September betrieben. Die Bauarbeiten zur Schafbergbahn wurden im April 1892 begonnen. 350 Arbeiter, großteils Italiener, benötigten für die Errichtung ein Jahr. Material und Verpflegung mussten mit rund 6.000 Maultierlasten auf den Berg geschafft werden. Die Schafbergbahn wurde am 1. August 1893 eröffnet. Die Betriebsgebäude wurden mehrmals erneuert. Im Juni 1986 wurde der Neubau des Aufnahmegebäudes eröffnet. Der Warteraum war vergrößert und die Abfahrts- und Ankunftsbahnsteige waren getrennt worden. Die bisherigen Stumpfgleise waren verlängert und durch eine Weiche mit einem Ausziehgleis verbunden worden, was das Abstellen einer zusätzlichen Zuggarnitur ermöglichte. 2020 wurde mit dem Neubau der Talstation begonnen. 2022 transportierte die Schafbergbahn rund 170.000 Besucher auf den Schafberggipfel. Forstwirtschaft Die Forstverwaltung Herrschaft St. Wolfgang, im Besitz der Familie Scheidt, verwaltet ein 1800 Hektar großes Gebiet, zu dem ein Großteil des Schafbergs, der Schwarzensee und der oberösterreichische Teil des Wolfgangsees gehören. Die Wälder an der Westflanke, der Bereich zwischen Ackerschneid und Seeache, sowie der nordöstliche Teil in Oberösterreich sind im Eigentum der Österreichischen Bundesforste und werden als Forstrevier Sankt Gilgen verwaltet. Die Wälder werden forstwirtschaftlich genutzt und sind von einem Netz von Forststraßen durchzogen. Landwirtschaft Die Landwirtschaft am Schafberg ist bis auf wenige Ausnahmen auf die Weidenutzung der Almen beschränkt. Alle Almen sind Rodungsalmen, auch die Almweiden oberhalb der Schafbergalm. Die älteste schriftliche Aufzeichnung über die Landwirtschaft im Gebiet enthält ein Urbar von 1416. Damals hatte bereits jeder Bauernhof seine Nieder- und Hochalmen. 1718 gab es im Wolfgangseegebiet 62 Almen. Danach nahm deren Zahl ab. Das Schafberggebiet lag außerhalb des Kammerguts. Es musste jedoch seine Wälder für die Salzproduktion in den Salinen zur Verfügung stellen. Heute sind die vielen Privatalmen eine Besonderheit im Salzkammergut, wo sonst Servitutsalmen üblich sind. Meistens werden auf den Almen keine Milchkühe mehr gehalten, sondern Galtvieh. Energiewirtschaft Der Schwarzensee wird als Speicher für das Kraftwerk Schwarzensee der Energie AG genutzt. Dieses wurde im Jahr 1908 in Vollbetrieb genommen und verfügt über 2 zweidüsige Freistrahlturbinen. Das Kraftwerk produziert pro Jahr rund 3,35 GWh an elektrischer Energie. Namenskunde Der Berg wurde erstmals 841 als „Skafesperc“ im Traditionskodex des Klosters Mondsee erwähnt (super verticem montem quem vulgo nominat Skafesperc). Der Name ist auf die ausgedehnten Schafweiden der Schafbergalm zurückzuführen und wurde sekundär auf den Gipfel des Berges übertragen. Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Schweizer Aussichtsberg Rigi wird der Schafberg auch als „Der Rigi des Salzkammergutes“ bezeichnet. Auf den Rigi führt ebenfalls eine Zahnradbahn und im Gipfelbereich befindet sich ein Hotel. Geschichte Das Gebiet um den Mondsee mit dem Schafberg war ursprünglich im Territorium des Klosters Mondsee, das zum Hochstift Regensburg gehörte. Das Territorium des Erzstifts Salzburg umfasste Gebiete im Süden des Schafbergs. Eine erste Grenze ist im Traditionscodex des Klosters Mondsee dokumentiert. Die Zugehörigkeit der Gebiete wurde von Bischof Liupram von Salzburg und Bischof Baturich von Regensburg ausgehandelt. Mondsee und Salzburg erhoben jedoch weiterhin Ansprüche auf die Jagd- und Holzrechte (cum jure lignandi et venandi) am Schafberg und insbesondere auf die Fischereirechte im Wolfgangsee. Dies führte zu jahrhundertelangen Grenzstreitigkeiten. Erst mit dem Grenzrezess vom 26. Mai 1689 zwischen Kaiser Leopold I. und dem Fürsterzbischof Johann Ernst von Thun und Hohenstein wurden die bis heute gültigen Grenzen festgelegt. Der Schafberg in Kunst und Literatur Der Schafberg, mit seiner markant abfallenden Nordseite, ist Gegenstand einer Volkssage. Aufgrund seiner Bekanntheit fand der Schafberg Einzug in die Literatur des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Journalistin, Dichterin und Librettistin Helmina von Chézy beschrieb im 1833 erschienenen Reisebuch Norika ihre Besteigung des Schafberges. Joseph Victor von Scheffel verbrachte 1862 einige Wochen in St. Wolfgang und ließ sich von der Landschaft des Schafbergs und des Wolfgangsees inspirieren. Dort schuf er die ersten Teile seines Werks Bergpsalmen. Im Herbst 1847 verbrachte der Dachsteinforscher Friedrich Simony sieben Wochen am Gipfel des Schafbergs und zeichnete bei der klaren Sicht im Herbst ein Panorama der Schafberg-Aussicht. Neben seinen Dachsteinbildern zählt das Schafberg-Panorama zu seinen bekanntesten Werken. In der Biedermeierzeit kamen Landschaftsmaler in das Salzkammergut und zum Schafberg. Ferdinand Georg Waldmüller, August Schaeffer von Wienwald und Friedrich Gauermann schufen Werke mit dem Schafberg und dessen Umgebung. Der Schafberg war Drehort für die Musicalverfilmung The Sound of Music. Dieser Film (USA 1965) prägt vor allem in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Lateinamerika und Japan das Österreich-Image bis zum heutigen Tag, während er im deutschsprachigen Raum (Titel der deutschen Fassung: Meine Lieder – meine Träume) nur auf mäßigen Erfolg stieß und dort bis heute vergleichsweise unbekannt ist. Amateurfunk-Umsetzer Auf der Schafbergspitze war bis 28. September 2018 ein Amateurfunkrelais installiert, betrieben von der FIRAC Österreich (Eisenbahner-Funkamateure). Das Amateurfunkrufzeichen lautete OE2XBB und die Sendefrequenz war 439,200 MHz. Das Relais war bis weit in den bayerischen Raum hörbar. Literatur Weblinks Einzelnachweise Salzkammergut-Berge Berg in den Alpen Salzkammergut Geographie (Sankt Gilgen) Geographie (St. Wolfgang im Salzkammergut) Wasserscheide Ager – Ischl
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https://de.wikipedia.org/wiki/Teichralle
Teichralle
Das Teichhuhn (Gallinula chloropus), auch Teichralle genannt, ist eine Vogelart aus der Gattung der Teichhühner (oder Teichrallen, Gallinula) in der Familie der Rallen (Rallidae). Sie kommt mit mindestens 16 Unterarten in den gemäßigten, subtropischen und tropischen Klimazonen Eurasiens sowie Afrikas vor. Die europäische Brutpopulation wird auf mindestens 900.000 Paare geschätzt. In den meisten Staaten Europas sind die Bestände stabil. In Deutschland wurden Bestandsrückgänge und Arealeinbußen festgestellt, so dass das Teichhuhn hier zurzeit (ab 2006) in der Vorwarnstufe der Roten Liste gefährdeter Arten geführt wird. Name Die wissenschaftliche Artbezeichnung Gallinula chloropus bedeutet „grünfüßiges Hühnchen“ und spielt auf die Beinfärbung dieser Ralle an. In der deutschsprachigen ornithologischen Literatur wurde im 19. Jahrhundert die Bezeichnung „Gemeines Teichhuhn“ verwendet. Anfang des 20. Jahrhunderts nannte man es „Grünfüßiges Teichhuhn“ oder nur Teichhuhn – ein bis heute verwendeter Name. Zoologisch korrekter ist bei dieser Art die Bezeichnung Teichralle, da die Art, wie auch das Blässhuhn, ein typischer Vertreter der Rallen ist. Beschreibung Merkmale ausgewachsener Vögel Die in Europa vorkommende Unterart des Teichhuhns ist mit einer Körperlänge von etwa 33 Zentimetern etwas kleiner als ein Rebhuhn. Die Altvögel sind an der Körperoberseite dunkel olivbraun, an Kopf und Hals sowie der Körperunterseite dunkel grauschwarz gefärbt. Männchen und Weibchen sehen gleich aus, unterscheiden sich nur geringfügig durch Größe und Gewicht. Sie haben eine rote Stirnplatte, einen roten Schnabel mit gelber Schnabelspitze sowie rote Augen. Der kurze Schwanz mit schwarzweißer Unterdecke wird oft nach oben gestelzt. Auf der Unterseite ist das Gefieder schiefergrau, die Flanken weiß gestreift. Füße und Beine sind gelblich grün; oberhalb des Intertarsalgelenks haben die Beine ein rotes Band. Der Vogel fällt auf, weil er beim Schwimmen ständig mit dem gestelzt getragenen Schwanz wippt und rhythmisch mit dem Kopf nickt. Küken und Jungvögel Die frisch geschlüpften Küken haben einen rot-orangen Schnabel mit einer gelben Spitze. In den ersten Tagen haben sie an der Oberschnabelspitze außerdem einen gelblichweißen Höcker, den sogenannten Eizahn. Die Stirnplatte ist auffällig rot. Das Dunenkleid ist bei frisch geschlüpften Küken schwarz mit einem grünlichen Glanz am Rücken. Augenbrauenartig verläuft ein leuchtend blauer Streifen oberhalb der Augen. Im Jugendkleid ist das Teichhuhn auf der Oberseite graubraun und unterseits grauweiß gefärbt. Auch Kinn und Kehle sind schmutzigweiß, wobei die Halsseiten ein wenig ins Rostfarbene schimmern. Im Übergangskleid zwischen Jugendkleid und dem Gefieder eines Altvogels sind Kopf und Rücken olivbraun. Die übrige Oberseite ähnelt dem Ruhekleid ausgewachsener Vögel. Die Schnabelbasis beginnt sich dann allmählich rot zu färben. Im Frühjahr nach dem Geburtsjahr ist der Schnabel bereits so rot, wie er für ausgewachsene Vögel typisch ist. Lautäußerungen Der am häufigsten zu hörende Ruf ist ein kurr oder krürr. Die Alarmrufe sind kurz und abgehackt und dienen vor allem dazu, die Jungvögel zu warnen. Diese Rufe klingen situationsbedingt unterschiedlich – je nachdem, ob sich ein potentieller Feind schwimmend nähert, an Land befindet oder ein Greifvogel am Himmel erscheint. Schreckrufe sind ebenfalls kurzsilbig. Zum Drohrufrepertoire des Teichhuhns gehört auch ein fauchender Kehllaut, der gelegentlich zu hören ist, wenn der Vogel am Nest überrascht wird oder sich ein Artgenosse im Brutrevier befindet. Er geht häufig einem Angriff unmittelbar voran. Von den Küken ist bereits ein leises Piepen zu hören, kurz bevor sie aus dem Ei schlüpfen. Mit einer Reihe unterschiedlicher Stimmfühlungs- und Bettellaute halten sie Kontakt zu den Elternvögeln. Diese Laute werden mit kee-ip umschrieben, das in bestimmten Situationen sehr schrill klingt. Flüchtende Junge rufen ein lautes und für den menschlichen Beobachter ängstlich klingendes ptili ptili, dessen Silben umso schneller aneinander gereiht werden, je mehr sich der Jungvogel in Gefahr fühlt. Verbreitung Teichhühner leben in Europa, in Asien ostwärts bis Sulawesi und Sumbawa, in Afrika, auf Madagaskar und den Seychellen, Mauritius und Réunion. Sie fehlen in Australien. Die Unterarten und ihre Verbreitung Innerhalb des sehr großen Verbreitungsgebietes wird je nach Autor eine unterschiedliche Anzahl von Unterarten abgetrennt. Generell hat sich die Anzahl der beschriebenen Unterarten im Verlauf des 20. Jahrhunderts reduziert, weil man bestimmte nachgewiesene Färbungs- und Größenunterschiede nicht mehr als Unterartmerkmale ansieht. Engler (2000) geht von 14 gesicherten Unterarten und zwei Inselformen aus, deren Unterartstatus umstritten ist. Neben der auch in Europa vorkommenden Nominatform Gallinula chloropus chloropus, deren Verbreitungsgebiet im nächsten Abschnitt etwas ausführlicher dargestellt ist, sind dies im Einzelnen: G. c. indica kommt im Süden der Arabischen Halbinsel, im Irak, in Kaschmir, Südtibet, im Süden und Osten Chinas, in Japan, auf den Ryūkyū-Inseln, Taiwan, Hainandao, in Vorder- und Hinterindien, auf Sri Lanka, in Birma sowie im Norden von Malakka bis Tenasserim vor. G. c. orientalis lebt im Süden von Malakka, auf Sumatra, Java (Insel), Bali, Lombok, Sumbawa, Flores, Kangean, Borneo (Kalimantan) und Sulawesi. G. c. lozanoi ist auf die Philippinen beschränkt. G. c. guami lebt auf den Marianen. G. c. meridionalis lebt in Afrika von den Tropen bis zur Kapprovinz sowie auf den beiden Inseln São Tomé und Annobón. G. c. pyrrhorhoa kommt auf Madagaskar, Réunion und Mauritius vor. G. c. correiana ist eine weitere auf Inseln lebende Unterart und auf den Azoreninseln Terceira und Faial zu finden. G. c. seychellarum ist eine Inselform, deren Einordnungen als Unterart noch diskutiert wird. Sie lebt auf den Seychellen. Die Verbreitung der Nominatform Gallinula chloropus chloropus Gallinula chloropus chloropus ist die 1758 von Carl von Linné beschriebene Nominatform des Teichhuhns. Ihr Verbreitungsgebiet reicht von Großbritannien und den Shetland-Inseln über Südnorwegen, Südschweden und Südfinnland und Sankt Petersburg, Nischni Nowgorod bis nach Tomsk in Westsibirien. Sie ist außerdem im Westen des Altais, in Kasachstan, der Dsungarei, in Tianshan, Kaschmir sowie im Westen Turkestans vertreten. Im Süden erstreckt sich das Brutareal über Marokko, den Westen der Sahara bis zur Hochebene des Atlasgebirges in Algerien sowie den Norden von Tunesien. Als Brutvogel kommt sie außerdem im Nordosten von Libyen, im Nildelta und im Sinai sowie in Israel, Libanon, Syrien und im Irak vor. In Europa ist die Art ein typischer Bewohner des Tieflandes. Die Höhenverbreitung im Bergland schwankt regional. So liegen die Brutplätze in Mitteldeutschland selten in Höhen über 600 Meter; in der Schweiz brütet die Art dagegen bis zu 800 Metern über dem Meeresspiegel. Die bisher höchste nachgewiesene Brut fand am Silsersee in einer Höhe von 1800 Metern über Normalnull statt. Zugverhalten In Abhängigkeit von den jeweiligen klimatischen Gegebenheiten ist das Teichhuhn Zug-, Stand- oder Strichvogel. Generell lässt sich sagen, dass es unter den Teichhühnern der west- und mitteleuropäischen Länder Zugvögel gibt, die größere Entfernungen bis in ihre Überwinterungsareale zurücklegen. Der Anteil der Vögel, für den dies zutrifft, ist im östlichen und nördlichen Europa höher. Teichhühner, die in Skandinavien brüten, überwintern überwiegend in Frankreich sowie in Spanien und auf den Britischen Inseln. Vereinzelt hat man diese Brutvögel auch im Norden Sudans, am Persischen Golf, in Mali oder in Senegal wiedergefunden. Teichhühner, die im östlichen Deutschland brüten, nutzen als Überwinterungsgebiet ein Areal, das vom Westen Deutschlands, den Niederlanden, Belgien, Spanien, Frankreich bis nach Italien reicht. Niederländische Brutvögel sind dagegen überwiegend Kurzstreckenzieher, die sich häufig im Winter in Belgien einfinden. Britische Brutvögel sind überwiegend Standvögel, für die eine Überwinterung auf dem europäischen Festland bislang nicht belegt werden konnte. Über das Zugverhalten der asiatischen Unterarten weiß man noch wenig. Bei den europäischen Teichhühnern, die Zugvögel sind, findet der Wegzug aus dem Brutgebiet überwiegend im Zeitraum von September bis November statt. In geeigneten Gebieten versammeln sich Teichhühner zu sogenannten Wintertrupps. Diese lösen sich noch vor Frühlingsbeginn auf und ziehen von Anfang März bis in den April in ihre Brutareale zurück. Teichhühner fliegen auf ihrem Zug vor allem nachts. Lebensraum Der optimale Lebensraum eines Teichhuhns besteht aus einem stark eutrophen und flachen Gewässer mit einer dichten Röhrichtvegetation am Ufer und größeren Schwimmblattgesellschaften auf der offenen Wasserfläche. Aufgrund ihrer hohen Anpassungsfähigkeit findet sich die Art aber auch an Gewässern, die diesem Optimalhabitat nicht entsprechen. Sie nutzt auch kleinere Tümpel und Wasserlöcher, die eine Wasserfläche von 20 bis 30 Quadratmetern haben, und ist unter anderem in Torfabbaugebieten, auf Rieselfeldern, entlang Überschwemmungsflächen und langsam strömender Flüsse sowie Lehm- und Kiesgruben zu finden. Gallinula chloropus zählt außerdem zu den Tierarten, die sich Stadtgebiete als Lebensraum erobert haben und ist dort in Gärten, Parks und Zoos zu sehen, wenn diese ausreichend Wasserflächen bieten. Dabei stellt sie nur geringe Ansprüche an die Wasserqualität. Wesentlicher als diese ist das Vorhandensein einer geeigneten Ufervegetation. Nahrung und Nahrungserwerb Teichhühner sind Allesfresser, deren Nahrungsspektrum vor allem von ihrem jeweiligen Lebensraum bestimmt ist. Sie fressen unter anderem die Samen und Früchte von Sumpf- und Wasserpflanzen, die Knospen von Weiden und Pappeln, Grasspitzen sowie Insekten, Weichtiere und andere Kleintiere. Die pflanzliche Nahrung überwiegt dabei. Für ihre Suche nach Nahrung nutzen Teichhühner auch Wiesen und Weiden in unmittelbarer Nähe zu Gewässern. Außerhalb der Brutzeit erweitert sich der Raum, in dem Teichhühner nach Nahrung suchen. Sie sind dann gelegentlich auch in Gärten, auf Äckern oder Saat- und Stoppelfeldern zu beobachten, die sich nicht in Gewässernähe befinden. Sie picken dann vor allem frisch aufgegangene Saat beispielsweise von Winterroggen auf. In Gärten fressen sie auch frisch keimenden Spinat oder Kohl. Die tierische Nahrung besteht unter anderem aus Schnecken, Spinnentieren, Imagines von Libellen und Käfern sowie aus Blattläusen und diversen Käferarten. Fischbrut und kleine Fische gehören nur ausnahmsweise zu ihrem Nahrungsspektrum. Sie picken jedoch an toten Fischen, die auf der Wasseroberfläche treiben. Beobachtet wurde außerdem, dass sie Vogelkadaver anfressen und gelegentlich Eier anderer Vogelarten verzehren. Fortpflanzung und Fortpflanzungsverhalten Balzverhalten Die Paarbildung beginnt bei Zugvögeln in der Regel, bevor sich die Wintertrupps vor Frühlingsanfang auflösen. Normalerweise ist es das Teichhuhnweibchen, das sich ein Männchen als Partner aussucht. Unter den Weibchen finden dabei heftige Kämpfe statt und die Gewinnerinnen dieser Auseinandersetzungen suchen sich meist die Männchen aus, die besonders gut ernährt sind. Der Ernährungszustand des Männchens wird von den Weibchen als Hinweis darauf gewertet, wie gut diese für das spätere Brüten und für die Revierverteidigung geeignet sind. Bei den Standvögeln unter den Teichhühnern beginnt die Paarbildung und die Balz häufig bereits im Zeitraum Oktober bis Dezember und damit deutlich früher als bei den Individuen, die in Überwinterungsgebiete ziehen. Bei Standvögeln kommt es dabei vor, dass sich Paare bilden, die mehrere Jahre miteinander leben. Einem sich nähernden Weibchen schwimmt das Männchen in Imponierhaltung und einem rhythmischen Scheinpicken gegen die Wasseroberfläche entgegen. Wendet das Weibchen sich ab, beginnt das Männchen es zu treiben, bis dieses nach kurzer Schwimmstrecke wendet und ebenfalls beginnt, ein Scheinpicken durchzuführen. Verfolgungsschwimmen und Scheinpicken gegen die Wasseroberfläche, die als Verhalten zur Paarbildung gehören, können bis zu achtmal wiederholt werden. Eine vollzogene Paarbildung ist daran zu erkennen, dass die beiden Vögel keine Individualdistanz zueinander einhalten und sich gegenseitig das Gefieder pflegen. Das Nest Männchen beginnen in Mitteleuropa frühestens ab Ende Februar in ihrem Revier geeignete Nistplätze auszuwählen. Während einer Fortpflanzungsperiode können Nester mit drei unterschiedlichen Funktionen gebaut werden. Zum einen gehören dazu sogenannte Balzplattformen, die nestähnliche Bauten an Land oder auf festen Unterlagen knapp oberhalb des Wasserspiegels sind. Bis zu fünf solcher Balzplattformen, die die Männchen gelegentlich während der Brutzeit als Schlafplatz nutzen, können in einem Revier entstehen. Das eigentliche Nest, das das Gelege aufnimmt, entsteht etwa eine Woche vor der ersten Eiablage. Die überwiegende Zahl der Teichhuhnpaare baut zwei Gelegenester, bevor sie sich für eines entscheidet. Das zweite Gelegenest wird sehr häufig später als Rastplatz der Elternvögel benutzt. Am Bau sind beide Geschlechter beteiligt; das Nestfundament wird überwiegend vom Männchen errichtet, die Auskleidung der Nistmulde wird weitgehend vom Weibchen vorgenommen. Die Nester sind bei der ersten Eiablage noch nicht vollendet. Die weitgehende Fertigstellung des Nestes erfolgt während der Eiablage und während der Bebrütungszeit, indem weiterhin grüne Pflanzentriebe in die Nestanlage eingefügt werden. Eine große Zahl der Nester hat einen „Baldachin“ aus Pflanzen, die das Nest vor der Entdeckung durch Eierräuber und Kükenräuber schützt. Für die Jungvögel baut das Männchen kurz vor deren Schlüpfen in den meisten Fällen mindestens ein Ruhe- und Schlafnest. Häufig dient eine alte Balzplattform als Fundament eines solchen Jungennestes, das im Aussehen und der Bauweise den Gelegenestern gleicht. Es wird allerdings sehr schnell errichtet, so dass es weniger stabil ist. Gelege- und Jungennester befinden sich meist gut versteckt in der Ufervegetation. Werden diese Nestformen auf der Wasseroberfläche verwendet, dann dienen Seggenbulten, Schilfhorste oder im Wasser liegende Baumwurzeln oder -stümpfe als Verankerungspunkt. Als Deckungspflanzen dienen dann Binsen, Kalmus, Igelkolben, Rohrkolben, Rohrglanzgras (vgl. Bild) oder die Sumpf-Schwertlilie. Gelegenester werden gelegentlich auch über dem Boden in dichten Sträuchern, in den Astgabeln von Bäumen oder in Rankpflanzen angelegt. Auch hier befindet sich der Neststandort jedoch selten mehr als 50 Zentimeter oberhalb des Bodens. Brut Der Beginn der Brutperiode ist regional unterschiedlich. In Mitteleuropa beginnen Teichhühner jedoch in der Regel ab Mitte April mit der Eiablage, wenn das Gelegenest noch nicht fertig gestellt ist. Die Weibchen legen ihre Eier meist am Abend zwischen 19 und 22 Uhr. Die Eier haben eine feinkörnige und feste Schale, die glatt ist und schwach glänzt. Sie haben eine gelblichbraune bis graubeige Grundfarbe, weisen kastanienbraune bis schwärzlich-purpurne Flecken auf und wiegen etwa 20 Gramm. Das Gelege besteht aus fünf bis elf Eiern. Teichhühner brüten häufig ein zweites Mal und legen unter optimalen Bedingungen auch ein drittes Gelege. Das zweite und dritte Gelege umfasst jedoch jeweils weniger Eier. Neben den Verlusten durch Fressfeinde (siehe unten) kommt es zu Gelegeverlusten vor allem durch Unwetter, bei denen die Eier zu lange im Wasser liegen, so dass sie so weit auskühlen, dass die Embryos absterben. Die Bebrütung der Eier beginnt meist, bevor das Gelege vollständig ist. Die Brutdauer liegt zwischen 19 und 22 Tagen, und beide Elternvögel sind an der Brut beteiligt. Die Männchen brüten nach neuestem Forschungsstand überwiegend nachts, und ihr Anteil am Brutgeschäft ist größer als jener des Weibchens. Die Ablösung zwischen den beiden Elternvögeln findet ohne erkennbares Zeremoniell statt. Eier von Teichhühnern sind auch schon in den Nestern von Rebhühnern, Blessrallen, Schwarzkopfruderenten und Lachmöwen gefunden worden. Ob Teichhühner aber gezielt Brutparasitismus betreiben, ist noch nicht ausreichend belegt. Die Küken Bereits zwei bis zweieinhalb Tage bevor sich das Küken aus seinem Ei befreit hat, erscheint ein erster kleiner Riss in der Schale. Diesem folgen im Laufe des nächsten Tages weitere Risse, die alle regelmäßig entlang der Luftkammer des Eies verteilt sind. Von dem Zeitpunkt, an dem man das erste Mal den Schnabel des Kükens durch ein kleines Loch in der Eischale erkennen kann, dauert es noch etwa zwei bis achtzehn Stunden, bevor das Küken vollständig geschlüpft ist. Die Küken oder Dunenjungen bleiben häufig ein bis drei Tage im Nest, bevor sie dieses erstmals verlassen. Sie sind jedoch bereits vom ersten Lebenstag an selbständig schwimmfähig. Ab dem fünften Lebenstag können die Küken außerdem auch tauchen. Sie sind so in der Lage, sich unter Wasser und an Wasserpflanzen zu verstecken. Dabei ragt nur noch der Kopf bis zur Augenregion aus dem Wasser. Ab dem 10. Lebenstag können sie eigenständig Nahrung suchen. An der Aufzucht und Betreuung der Küken sind beide Elternvögel beteiligt. Brütet das Weibchen noch die verbleibenden Eier aus, dann ist es das Männchen, das die Jungen betreut und gegebenenfalls im Jungennest hudert. Kommt es zu einer Folgebrut, die schon acht bis zehn Tage nach dem Schlupf des letzten Kükens beginnen kann, ist es ebenfalls das Männchen, welches die Küken führt. Gefüttert werden die Küken, indem die Altvögel ihren Schnabel etwas seitlich vor die Schnabelspitze des Jungen halten. Dieses nimmt die Nahrung durch Picken am Unterschnabel des Elternteils auf. Die Entwicklung zum Jungvogel Zwischen dem 20. und 21. Lebenstag verschwindet allmählich die Buntfärbung des Kopfes, die für das Küken typisch war. Am 28. Lebenstag haben die Jungvögel ihr Dunenkleid vollständig verloren; die Füße werden nun allmählich grünlich. Zwischen dem 31. und 45. Lebenstag entwickeln sich nach und nach die Schwingen und Flügeldecken. Ab dem 45. Lebenstag werden sie in der Regel nicht mehr durch Eltern gefüttert. Mit 49 Tagen sind die Jungvögel ausgewachsen und können bereits etwas fliegen. Das Wachstum der Hand- und Armschwingen sowie des Schwanzes ist jedoch erst mit dem 60. Lebenstag abgeschlossen, so dass sie erst dann ihre volle Flugfähigkeit besitzen. Die Jugendmauser liegt in der 15. bis 18. Lebenswoche. Verteidigung des Brutreviers Ihr unmittelbares Brutrevier verteidigen Teichhühner sowohl gegen Artgenossen wie gegen andere Tiere. Zur Verteidigung gehört ein sehr breit gefächertes Handlungsrepertoire. Einem sich dem Nest nähernden Graureiher droht ein Teichhuhn beispielsweise zuerst mit nach vorne gestrecktem Kopf und geöffneten Flügeln und würde dann dem Graureiher gegebenenfalls drohend entgegenlaufen oder -schwimmen. Zu Konfliktsituationen zwischen Graureihern und Teichhühnern kommt es regelmäßig, und häufig gelingt es dem Teichhuhn, Graureiher – die die Küken fressen würden – vom Nest fernzuhalten. Gegenüber Höckerschwänen zeigt das Teichhuhn ein ähnliches Verhalten. Sie springt diesen sogar manchmal an Kopf oder Hals. Auch gegenüber gleich großen oder kleineren Vögeln zeigen Teichhühner ein ähnlich aggressives Verhalten. Enten greifen sie regelmäßig an, wenn diese den Jungvögeln oder dem Gelege zu nahe kommen. Belegt sind außerdem mehrere Fälle, bei denen Teichhühner die Küken von anderen Vogelarten töteten. Dies geschieht durch Hacken auf Kopf und Hals sowie durch den Versuch, die anderen Vögel unter Wasser zu drücken. Auch gegenüber dem Menschen zeigt das Teichhuhn vor allem während der Bebrütung der Eier ein ausgesprochen aggressives Verhalten. Ornithologen sind bei Nistkontrollen mehrfach von Teichhühnern mit Drohlauten angefaucht worden und vereinzelt auch in die Finger gebissen worden. Fressfeinde Im Folgenden sind die Tierarten genannt, die in Europa typische Fressfeinde darstellen. Hechte gehören zu den Tierarten, die die Küken des Teichhuhn regelmäßig verschlingen. Adulte Teichhühner fallen sehr großen Hechten jedoch nur gelegentlich zum Opfer, wie entsprechende Funde in Mägen von Hechten belegen. Auch der Wels dürfte in ähnlicher Weise den Teichhühnern gefährlich werden. Zu den typischen Teichhuhnjägern gehört vor allem die Rohrweihe, die einen ähnlichen Lebensraum nutzt. Für die nordfriesische Insel Föhr konnte nachgewiesen werden, dass hohe Rohrweihenbestände und die Chance eines Jungvogels, das zweite Lebensjahr zu erreichen, negativ miteinander korreliert sind: In den Jahren, in denen eine hohe Dichte dieser Greifvögel zu verzeichnen ist, erlebt kaum ein Küken das zweite Lebensjahr. Der Habicht und der Seeadler gehören gleichfalls zu den Greifvögeln, die regelmäßig Teichhühner als Beute schlagen. Mäusebussarde und Wanderfalken fangen gelegentlich ebenfalls Teichhühner. Unter den Eulen ist es der Uhu, der am häufigsten Teichhühner fängt. Dort, wo sich das Verbreitungsgebiet mit der Schneeeule überdeckt, jagt diese gleichfalls Teichhühner. Zu nur gelegentlichen Jägern von Teichhühnern zählen dagegen Waldkauz, Wald- und Sumpfohreule. Möwenarten wie Silbermöwe und Mantelmöwe sind ebenfalls solche Gelegenheitsjäger. Gefährdet sind durch sie besonders die Küken, aber auch ausgewachsene Teichhühner, die geschwächt sind, können ihnen zum Opfer fallen. Steinkauz und Lachmöwe können allenfalls Küken erbeuten. Auch unter den Säugetieren hat das Teichhuhn eine große Anzahl von Fressfeinden. Igel, Mauswiesel und Wildschwein fressen die Eier, wenn sie sie erreichen können. Wanderratte, Marderhund, Baummarder, Hermelin, Mink, Fischotter sowie verwilderte Katzen und Hunde fressen auch die Küken und schlagen gelegentlich ausgewachsene Vögel. Eher skurril ist es, dass ein Teichhuhn einmal beinahe zum Opfer von Erdkröten wurde. Engler (2000) weist auf einen Fall hin, bei dem man ein ausgewachsenes Männchen aus einem Teich fischte, an dessen Hals und Kopf sich Kröten festgeklammert hatten und dabei waren, den Vogel dadurch zu ersticken. Ursache dieses ungewöhnlichen Vorfalls ist der ausgeprägte Klammerreflex der Froschlurchmännchen während der Laichzeit. Verhalten gegenüber Fressfeinden Teichhühner flüchten bei Annäherung eines Feindes normalerweise in die dichte Ufervegetation und bleiben dort so lange, bis sie sich wieder sicher fühlen. Befinden sie sich an Land, fliehen sie gewöhnlich laufend oder unter Nutzung des sogenannten Laufflugs. Ein Flüchten im Flug ist selten. Befinden sich die Vögel im Wasser, flüchten sie entweder schwimmend, wegtauchend oder ebenfalls im Laufflug. Öfter als an Land fliegen sie auf, um in der Ufervegetation Deckung zu suchen. Untertauchen und gegebenenfalls ein Wegschwimmen unter Wasser als Tarnverhalten wird vor allem gegenüber Luftfeinden sowie Menschen genutzt. Sie nutzen dabei Wasserpflanzen als Deckung und tauchen so tief mit ihrem Körper ein, dass sich nur noch der Kopf oberhalb des Wassers befindet. Ist keine deckende Vegetation vorhanden, tauchen sie auch völlig unter, wobei sie sich unter Wasser am Boden oder an Unterwasserpflanzen festkrallen und bis zu zwei Minuten dort verharren können. Das Auftauchen erfolgt langsam. Lebenserwartung Anhand der Funde von beringten Teichhühnern weiß man, dass freilebende Vögel bis zu acht Jahre alt werden können. Nach Untersuchung der Vogelwarten Helgoland und Radolfzell wird allerdings nur etwa jeder neunte Vogel älter als zwei Jahre. Für ausgewachsene Vögel gibt es zwei Jahreszeiten, in denen sie durch Fressfeinde besonders gefährdet sind. Während der Fortpflanzungszeit, wenn die Tiere durch Balz und Revierverteidigung weniger aufmerksam sind, werden sie häufig von Beutegreifern geschlagen. Noch stärker ist ihre Sterblichkeit während der Wintermonate, wenn die Vegetation ihnen nur einen unzureichenden Schutz bietet. Strenge Winter mit lang anhaltenden Frostperioden führen darüber hinaus zu einer Schwächung der Vögel, sodass lokale Populationen zusammenbrechen können. Bestand und Bestandsentwicklung Für die Größe des europäischen Brutbestandes gibt es nur grobe Schätzungen, er wird auf mindestens 900.000 und maximal 1.700.000 Paare geschätzt, von denen bis zu 180.000 in Mitteleuropa brüten. Die Bestände sind in den meisten Staaten stabil, nur in Deutschland, Kroatien, Estland und Lettland wurde in den letzten Jahren ein negativer Populationstrend festgestellt. So nahm im Bodenseegebiet zwischen 1980/81 und 1990/91 der Bestand um 60 % und im Großraum Bonn zwischen 1975 und 1990 um 55 % ab. Insgesamt ist der Trend jedoch uneinheitlich; während für einige Regionen wie etwa den Lahn-Dill-Kreis in Hessen, die Insel Rügen, den Kreis Dithmarschen gemeldet wird, dass eine zunehmende Anzahl langjährig besetzter Brutplätze nicht mehr besiedelt werden, blieb in anderen Regionen die Brutpopulation konstant. Größere kurzfristige Bestandsschwankungen in Mittel- und Westeuropa sind in erster Linie auf hohe Verluste in strengen Wintern zurückzuführen. Langfristige Rückgänge sind jedoch vor allem auf Biotopverluste, Störungen durch verschiedene Freizeitaktivitäten und einen zunehmenden Konkurrenzdruck durch Blessrallen zurückzuführen. Literatur Einhard Bezzel: BLV Handbuch Vögel. BLV Verlagsgesellschaft, München 1996, ISBN 3-405-14736-0. Helmut Engler: Die Teichralle. Westarp Wissenschaften, Hohenwarsleben 2000, ISBN 3-89432-347-7. Franz Müller: Wildbiologische Informationen für den Jäger. Band 2: Federwild. Verlag Norbert Kessel, Remagen 2006, ISBN 3-935638-60-4. Weblinks Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Teichhuhns Einzelnachweise Rallenvögel
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https://de.wikipedia.org/wiki/BMW%20E28
BMW E28
Der BMW E28 ist eine Limousine der 5er-Reihe von BMW. Er ist die zweite Generation des BMW-5ers und löste seinen Vorgänger E12 im Herbst 1981 ab. Nachfolger des E28 ist der ab Herbst 1987 produzierte E34. BMW baute den E28 zwischen April 1981 und Dezember 1987 im BMW-Werk Dingolfing sowie von 1985 bis 1989 im Werk Rosslyn. Insgesamt wurden 14 verschiedene Modelle des E28 angeboten, dabei waren einige Modelle bestimmten Märkten vorbehalten. Insgesamt rollten 722.328 Exemplare des E28 vom Band, wobei die meistgebauten Modelle 520i, 528e, 528i und 524td zusammen rund zwei Drittel der Produktion ausmachten. Konstruktiv gilt der E28 als Weiterentwicklung seines Vorgängers, von dem einige charakteristische Konstruktionsmerkmale übernommen wurden. BMW führte beim E28 technische Neuerungen wie Bordcomputer, Fahrerairbag und Antiblockiersystem in der 5er-Reihe ein. Neu waren auch die auf geringen Kraftstoffverbrauch ausgelegten Diesel- und Eta-Modelle und eine M5 genannte Variante mit höherer Motorleistung. Die gegenüber dem E12 deutlich verbesserten Fahrleistungen des E28 stießen – wie seine Innenraumgestaltung auch – bei der Fachpresse Anfang der 1980er-Jahre großteils auf Wohlwollen. Das äußere Erscheinungsbild, das sich kaum von dem seines Vorgängermodells unterschied, war dagegen häufig Gegenstand der Kritik in zeitgenössischen Publikationen. Gegen Ende der 1980er-Jahre zeichnete sich ab, dass der E28 im Vergleich zu direkten Konkurrenzmodellen wie Mercedes-Benz W 124 oder Audi 100 C3 zunehmend technisch veraltet war, insbesondere bezüglich Fahrwerk und Aerodynamik. Rückblickend wird der E28 als solide konstruiertes, robustes und rostbeständiges Fahrzeug bewertet. Für BMW war der E28 ein wirtschaftlicher Erfolg. Modellgeschichte Entwicklung (1975–1981) BMW-Angaben zufolge begann die Entwicklung der Baureihe E28 Anfang 1975 und dauerte sechs Jahre. Entwickelt wurde der Wagen mit Hilfe von computergestützten Verfahren, darunter computergestützte Konstruktion, Finite-Elemente-Methode und Modalanalyse. Erste Prototypen aus dem Jahr 1978 hatten zwei gleich große Rundscheinwerfer und zwischen Fondtür und C-Säule ein Dreiecksfenster, was beides nicht in die Serie übernommen wurde. Der E28 ist in vielen Teilen aus der Vorgängerbaureihe E12 weiterentwickelt. Äußerlich ähnelt der E28 dem E12, da die Karosserieform nur im Detail geändert wurde; die Fahrgastzelle blieb nahezu unverändert. Bug und Heck des E28 entwickelte BMW aber völlig neu, wodurch der Luftwiderstandsbeiwert (cw) auf 0,39 verringert werden konnte. Auch die Auftriebswerte an den Achsen konnten um jeweils 21 % verringert werden. Durch die computergestützte Konstruktion und verbesserte Werkstoffe war der E28 je nach Modell 60–90 kg leichter als sein Vorgänger. BMW versuchte mit dem E28 vor allem ein technisch hoch entwickeltes Fahrzeug zu schaffen. Darüber hinaus waren ab Werk viele elektronische Komponenten wie Antiblockiersystem (ab Herbst 1981 für 525i und 528i; ab 1983 auch für 524td), der Bordcomputer „Check-Control“, der wichtige Fahrzeugfunktionen wie die Beleuchtung und die Betriebsflüssigkeiten (Ölstand und Kühlflüssigkeitsstand) überwacht (ab 525i, teilweise für 520i im Export), elektronische (beziehungsweise digitale) Motorsteuerung, elektronische Heizungsregelung, Geschwindigkeitsregelung (Tempomat) sowie ein Fahrerairbag verfügbar. Alle Sechszylinder-Ottomotoren und im Modell 518i auch der Vierzylindermotor haben Saugrohreinspritzung; einen in Solex-Lizenz von Pierburg hergestellten Registervergaser gab es nur bis Sommer 1984 im Vierzylindermodell 518. Die Konstruktion der Vorderachse übernahm BMW im Wesentlichen vom BMW E23, änderte sie aber in Details ab. Es ist eine „Doppelgelenkachse“, das heißt der sonst verwendete Dreiecksquerlenker der MacPherson-Federbeinachse ist in zwei Bauteile aufgelöst: einen Querlenker und eine Zugstrebe. Die am Federbein hintereinander liegenden Anlenkpunkte des Querlenkers und der Zugstrebe ergeben einen kleineren Lenkrollradius. Das führt zu verminderten Störkräften in der Lenkung, die ab dem 520i serienmäßig als Servolenkung ausgeführt wurde. Eine weichere Längsfederung und Änderungen an den Stoßdämpfern sorgen für mehr Abroll- und Fahrkomfort. Die Schräglenker-Hinterachse ist eine Neukonstruktion. Die Achsschwingen in Schalenbauweise konnten weitgehend automatisch aus Blechpressteilen und einem Radträger aus weißem Temperguss zusammengeschweißt werden und sind leichter als die des E12. Markteinführung (1981–1983) Nachdem der E28 im April 1981 in die Serienfertigung übernommen worden war, wurde er im Juni 1981 der Presse vorgestellt. Die offizielle Vorstellung für die allgemeine Öffentlichkeit fand im September 1981 auf der IAA statt. In Europa bot BMW zunächst die Ottomotormodelle 518, 518i, 520i, 525i und 528i an. Auf dem deutschen Markt war der 518i anfangs nicht erhältlich. In den USA war die Einführung der leistungsstarken europäischen Modelle vor allem wegen schärferer Abgas- und Kraftstoffverbrauchsgesetzgebung nicht möglich. Bereits 1978 hatte BMW deshalb das „eta“-Antriebskonzept für den Ottomotor vorgestellt, das den Kraftstoffverbrauch im Vergleich zum konventionellen Antriebskonzept beim Ottomotor durch vergrößerten Hubraum und ein vermindertes Drehzahlniveau senken sollte. Der griechische Buchstabe η „eta“ ist das Formelsymbol für den Wirkungsgrad. Auf dem amerikanischen Markt wurde 1981 zunächst als einziges E28-Modell das mit digitaler Motorsteuerung und lambdageregeltem Abgaskatalysator ausgerüstete Eta-Modell 528e zum Verkauf angeboten. Das „e“ in der Modellbezeichnung steht entsprechend dem Antriebskonzept für „eta“. Äußerlich fallen die nordamerikanischen E28-Modelle durch geänderte Scheinwerfer und Stoßfänger auf. Ab 1982 war in den USA der 533i erhältlich, der mit 3,2-Liter-Motor und Abgaskatalysator in etwa auf dem Leistungsniveau des europäischen 528i lag. Im April 1982 folgte der 528e in Japan, war aber anfangs als Spitzenmodell über dem dort ebenfalls erhältlichen 518i positioniert. Im März 1983 folgte auf dem japanischen Markt der noch leistungsstärkere 535i. Ab April 1983 waren auch in Deutschland der 518i und ein Eta-Modell verfügbar, der 525e. Technisch entspricht der 525e dem 528e, unterscheidet sich aber außer im äußeren Erscheinungsbild durch eine vereinfachte Ausstattung von ihm. Für die Saison 1982 der Sportwagen-Meisterschaft in der Gruppe A setzte die BMW Motorsport GmbH kurzzeitig einen BMW E28 auf Basis des Modells 528i ein. Umberto Grano und Helmut Kelleners wurden mit dem stark modifizierten Fahrzeug Europameister. Es hatte ein verstärktes Fahrwerk, nahezu keine Innenausstattung und wog 1080 kg. Die Motorleistung war von 135 kW um mehr als 40 kW gesteigert worden, der Wagen erzielte so mit dem Getrag-Sportgetriebe eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 230 km/h. Auf der IAA 1981 in Frankfurt kündigte BMW den 524td als ersten dieselbetriebenen Personenwagen der Marke offiziell an. Ende 1982 ging er mit 100 Vorserienwagen in Produktion. Auf der IAA im Herbst 1983 wurde das Modell dann vorgestellt. Es hat einen 2,4-Liter-Reihensechszylinder-Wirbelkammermotor des Typs BMW M21, der vom Ottomotor BMW M20 abgeleitet ist. Mit Turboaufladung erreicht der M21 eine Leistung von 85 kW. Seinerzeit galt der 524td als Fahrzeug mit sehr guten Fahrleistungen und als schnellste in Serie hergestellte Diesellimousine der Welt. Ebenfalls ab Herbst 1983 gab es für das Modell 518 einen elektronisch geregelten Vergaser des Typs 2BE anstelle des rein mechanischen 2B4-Vergasers. Flüssiggasantriebskonzept (1984) 1984 stellte BMW auf Basis des E28 ein Fahrzeug mit elektronischer Saugrohreinspritzung und Flüssiggasbetrieb (LPG) vor. Im Vergleich zum Vergasermotor ergibt sich nur eine geringe Leistungseinbuße (ca. 5 %) und ein Mehrverbrauch im Gasbetrieb von ca. 20 %. Für den Gasbetrieb spricht allerdings die Umweltfreundlichkeit durch sehr geringe Schadstoffanteile im Abgas, die hohe Klopffestigkeit von LPG und insbesondere der in vielen Ländern günstige Preis von Flüssiggas bei guter Verfügbarkeit. Der Übergang beim Wechsel der Kraftstoffart ist nahezu ruckfrei. Erreicht wurde das durch die erstmals angewandte Anordnung des Gasmischerteils hinter der Drosselklappe und ein neuartiges Mischregelventil, das eine synchrone Ansteuerung der Drosselklappe erlaubte. Der 5er-BMW konnte sowohl mit Benzin als auch mit Gas gefahren werden, so dass sich der Aktionsradius erweiterte. Ein Kippschalter erlaubte ein Umschalten zwischen Benzin- und Gasbetrieb während der Fahrt. Der Gaseinfüllstutzen wurde neben dem für Kraftstoff angeordnet, weshalb sich der BMW für Gasbetrieb äußerlich nicht von einem BMW mit konventionellem Antrieb unterscheiden lässt. Der im Kofferraum quer zwischen den Radhäusern untergebrachte Gastank ist durch eine Klappe abgeschlossen und alle anderen Aggregate der Flüssiggasanlage wurden im Motorraum untergebracht. Modellpflege (1984) 1984 führte BMW als neues Topmodell auch in den USA und Europa den 535i ein, in Europa wahlweise mit oder ohne Abgaskatalysator. Der 518 und der 533i wurden aus dem Programm genommen. Leichte Modifikationen am Erscheinungsbild und der Technik gab es ab Herbst desselben Jahres. Markanteste äußere Änderung ist die aerodynamisch überarbeitete Frontschürze, die dadurch etwas voluminöser und runder erscheint. Der Luftwiderstandsbeiwert (cw) betrug nun 0,37. Die bei den größeren Motoren serienmäßigen Radblenden aus rostfreiem Stahl wichen, wie auch bei den anderen BMW-Modellen, silbermetallic lackierten Kunststoffblenden, die im Laufe der Zeit geringfügig im Durchmesser vergrößert wurden und zum Schluss die Felgen komplett abdeckten. Die Radioantenne, auf Wunsch auch automatisch, wurde vom vorderen linken Kotflügel auf die hintere rechte Seitenwand verlegt, später auf die linke. Der Innenraum blieb nahezu unverändert. Nur die Form einiger Schalter wie beispielsweise des Lichtschalters wurde geändert. Die Kopfstützen wurden geglättet und ihrer „Ohren“ beraubt. Ab ca. Mitte 1985 entfiel der Keder in den Sitzbezügen zwischen der Sitzfläche und den Seitenwangen. Ein Fahrerairbag war nun als Sonderausstattung für 2310 DM erhältlich. M5, M535i und 535is (1984–1987) Auf Basis des 535i führte BMW ebenfalls im Herbst 1984 den M535i ein. Er fällt vor allem durch seine „Verspoilerung“ auf, die sich aus Front- und Heckschürze, Schweller- und Radhausverkleidungen sowie einem voluminösen Heckflügel zusammensetzte. Für dieses Modell waren speziell geformte TRX-Räder mit Reifen im Format 220/55VR390TR und ein M-Technic-Sportfahrwerk (Fahrzeugtieferlegung rund 20 mm) serienmäßig erhältlich. Ab Werk sind Sportsitze und ein Sperrdifferenzial eingebaut. Auf dem nordamerikanischen Markt war der M535i nicht erhältlich, stattdessen gab es dort ab etwa 1986 den 535is, der ebenfalls auf dem 535i basierend zwar mit Frontspoiler und Heckabrisskante sowie Sportfahrwerk, nicht aber mit verbreiterten Seitenschwellern ausgerüstet wurde. Etwa gleichzeitig mit dem M535i stellte die M-Motorsport GmbH den ersten BMW M5 vor. Er trägt den Werkscode E28S und wurde in Handarbeit hergestellt. Wichtigstes Merkmal unter vielen mehr oder weniger kleinen Änderungen zu den „normalen“ E28-Limousinen war die Motorisierung mit dem intern als M88/3 bezeichneten Motor, der auch im M635 CSi (ebenfalls ein Produkt der BMW Motorsport GmbH) verwendet wurde und ursprünglich für den Sportwagen M1 entwickelt worden war. Dieser Sechszylindermotor, den es im deutschen E28S anders als im M635CSi nur ohne lambdageregelten Abgaskatalysator gab, hat vier Ventile pro Zylinder und sechs Einzeldrosselklappen. Er hat 3,5 Liter Hubraum und leistet 210 kW (286 PS). Im Sommer 1985 ging der M5 in Serie. Wichtigster Absatzmarkt für den ersten BMW M5 war jedoch der nordamerikanische Markt, 1340 aller 2241 gebauten BMW E28S M5 wurden dort abgesetzt, was einem Anteil von rund 60 % entspricht. Deshalb wurde bereits beim ersten M5 ein spezielles Modell für den nordamerikanischen Markt entwickelt, um den dortigen Kundenwünschen zu entsprechen, es hat wie auch die anderen E28-Modelle für den nordamerikanischen Markt geänderte Stoßfänger. Die Produktion des nordamerikanischen Modells begann 1986. Anders als das deutsche Modell hat das nordamerikanische Modell einen Abgaskatalysator, mit dem der Motor 191 kW leistet. Dieser Motor wird als S38B35 bezeichnet, basiert aber technisch auf dem M88-Motor des deutschen Modells. Das Fahrverhalten des E28S galt in den 1980er-Jahren als beeindruckend. Technische Änderungen ab 1985 bis Produktionsende (1985–1987) Einige Motorvarianten waren ab 1985 auch in Deutschland mit Katalysator lieferbar. Zunächst betraf das den 525e und den 535i/M535i, später folgte der 520i. Ab 1986 war der 520i nicht mehr ohne Katalysator lieferbar und erhielt zudem eine Leistungssteigerung von 92 kW auf 95 kW. Da bleifreies Benzin zunächst nur als Normalbenzin mit 91 ROZ verfügbar war, waren alle werksseitig mit Katalysator ausgerüsteten oder für den nachträglichen Katalysatoreinbau vorbereiteten Modelle dafür ausgelegt und deshalb mit niedriger verdichtenden Motoren ausgestattet. Die Motorelektronik wurde in diesen Fällen ebenfalls angepasst. Modelle, die keinen Abgaskatalysator haben und auch nicht ab Werk eine Vorbereitung darauf erhielten, wurden stets für eine Benzinklopffestigkeit von 98 ROZ ausgelegt. Vor 1983 gebaute BMW-Motoren ohne Abgaskatalysator benötigen darüber hinaus für die Schmierung der Ventilsitzringe verbleites Benzin. Auf dem Genfer Autosalon im März 1986 präsentierte BMW ein Dieselmodell mit verringerter Motorleistung, den 524d. Er wird, anders als der 524td, von einem freisaugenden Dieselmotor des Typs M21 angetrieben. Die Motorleistung beträgt hier 63 kW. Verkauft wurde der 524d nur in Ländern, wo Dieselfahrzeuge mit niedriger Motorleistung Steuer- oder Versicherungsvorteile boten. Wichtigste Absatzmärkte waren Frankreich und Italien. Ab Herbst 1986 erhielten die Modelle ab 520i die Schräglenker-Hinterachse mit 13 Grad Pfeilung und Zusatzlenkern aus dem 528i sowie Scheibenbremsen hinten. Beim 528i war nun ABS serienmäßig. Die Serienausstattung des 518i wurde durch Servolenkung, Drehzahlmesser und vordere elektrische Fensterheber aufgewertet. 520i, 524td und 525e erhielten größere Reifen der Dimension 195/70 R 14. Die Produktion des E28 wurde im Dezember 1987 beendet. Im Januar 1988 wurde er durch die Baureihe E34 abgelöst. In Südafrika lief die Produktion des E28, der dort aus Teilesätzen montiert wurde, erst 1985 an, nachdem dort der Vorgänger E12 seit 1982 mit der Innenausstattung und den Motoren der neuen Baureihe als Zwitterbaureihe E12/8 gebaut worden war. Ebenso wurde die Baureihe erst später (1989) als in Deutschland von der Baureihe E34 abgelöst. Abschließend gewertet gilt der BMW E28 als wirtschaftlicher Erfolg für BMW. Der E28 im Wettbewerb Marktpositionierung Der BMW E28 gilt nach den Maßstäben der 80er Jahre als obere Mittelklasse. Rund 71 % aller gebauten E28 haben eine Leistung von 85 kW bis 95 kW. In dieser Klasse verglichen Autozeitschriften wie auto, motor und sport den 520i (92 kW) mit wichtigen Konkurrenzmodellen wie Mercedes-Benz W 124 200 (80 kW), Audi 100 Typ 44 2.0 (85 kW), Ford Scorpio 2.0i GL (85 kW) und Opel Rekord E2 2.2i CD (85 kW). Der 524td mit seinem 85 kW leistendem Dieselmotor wurde im Besonderen mit Fahrzeugen wie dem Volvo 760 GLE Turbodiesel (82 kW) und Mercedes-Benz W 124 300 D (80 kW) verglichen. Auf größere Stückzahlen brachte es auch der 528i (135 kW), der sich gegen Fahrzeuge wie den Audi 200 Typ 44 2.1 Turbo (134 kW), Mercedes-Benz W 123 280 E (136 kW) und Volvo 760 Turbo (127 kW) behaupten musste. Hinsichtlich Fahrwerkskonstruktion und Karosseriekonzept galt der BMW E28 1985 im Vergleich als veraltet, so hat zum Beispiel der Audi 100 Typ 44 eine wesentlich strömungsgünstigere Karosserie mit einem Luftwiderstandsbeiwert von cw 0,30 (E28: 0,37), der Mercedes-Benz W 124 hat eine fortschrittliche Mehrlenkerachse (BMW E28: Schräglenkerachse). Modelle BMW bot den E28 in folgenden Modellen an: 518: Basismodell, mit Vierzylindervergasermotor und einfacher Ausstattung. Gebaut bis 1984. 518i: Wie 518, aber mit Saugrohreinspritzung. Zunächst nur für den Export, ab 1983 auch für Deutschland; gebaut über den gesamten Produktionszeitraum. 520i: Basismodell mit Sechszylinder-Ottomotor; für den europäischen Markt, gebaut über den gesamten Produktionszeitraum. Ab 1985 mit Abgaskatalysator lieferbar. 524td: Basismodell mit Sechszylinder-Dieselmotor; für den weltweiten Markt, gebaut ab 1983. 524d: Dieselmodell ohne Abgasturbolader und entsprechend weniger Motorleistung; vor allem für den südeuropäischen Markt, gebaut ab 1986 in kleiner Stückzahl. 525i: Gehobenes Modell mit Sechszylinder-Ottomotor; für den europäischen Markt, gebaut über den gesamten Produktionszeitraum. 528e: Basismodell auf dem nordamerikanischen und japanischen Markt mit Sechszylinder-Ottomotor und Abgaskatalysator, gebaut über den gesamten Produktionszeitraum. 525e: Auf günstigen Verbrauch ausgelegtes Modell für den europäischen Markt auf Basis des 528e; wie 528e, aber mit vereinfachter Ausstattung. Gebaut ab 1983. 528i: Bis zur Modellpflege 1984 das Topmodell mit Sechszylinder-Ottomotor und straffer abgestimmtem Fahrwerk, danach ein gehobenes Modell. Gebaut über den gesamten Produktionszeitraum. 533i: Gehobenes Modell mit Sechszylinder-Ottomotor für den nordamerikanischen Markt, mit Abgaskatalysator. Von 1982 bis 1984 gebaut. 535i: Topmodell für den weltweiten Markt, mit Sechszylinder-Ottomotor. Gebaut ab 1983, ab 1984 verfügbar in Europa. Wahlweise mit Abgaskatalysator. M535i: Sportmodell auf Basis des 535i, zusätzlich Karosseriemodifikationen; für den europäischen Markt; gebaut ab 1984, wahlweise ohne Abgaskatalysator. 535is: Topmodell für den nordamerikanischen Markt, wie 535i, aber mit sportlicherer Ausstattung. Gebaut ab 1986, mit Abgaskatalysator. M5: Topmodell der BMW M-Motorsport GmbH, mit eigenem Werkscode (E28S anstatt E28). Die Modelle für den europäischen und nordamerikanischen Markt unterscheiden sich grundlegend in der Motorisierung. Abgaskatalysator nur für US-Modelle. Ab 1984 gebaut. Die erste Ziffer der Modellbezeichnung kennzeichnet die BMW 5er-Reihe, die letzten zwei Ziffern der Modellbezeichnung geben in der Regel den auf zur nächsthöheren ganzen Zahl gerundeten Hubraum in Dezilitern an. Ausnahme sind die Eta-Modelle 525e und 528e, die einen 2,7-Liter-Motor haben, sowie die beiden Diesel-Modelle, bei denen die Hubraumangabe abgerundet wurde. Die Preise für das Basismodell 518 (66 kW) begannen im Oktober 1981 bei 21.350 DM, während der 520i (92 kW) 25.400 DM kostete. Der Grundpreis für den 525e (92 kW) lag 1983 bei 30.165 DM, der 524td (85 kW) kostete 32.200 DM. Stückzahlen Insgesamt baute BMW 722.328 E28. Sonderserien- und Ausstattungen Edition Gegen Frühjahr 1986 wurden die Modelle mit den M20- und M21-Motoren (sowie einige Exportversionen des 518i) auch als Editionsmodelle angeboten, die luxuriöser ausgestattet wurden und sonst nur auf Sonderwunsch bestellbare Extras wie zum Beispiel Schiebedach, Sportlenkrad, Lederschaltknauf, elektrische Fensterheber vorne, vier Kopfstützen, Velours-Ausstattung, wärmedämmendes Glas serienmäßig bieten. Auch wurde hier die Rücksitzbank mit rechts und links einzeln ausgeformter Sitzlehne, großer Mittelarmlehne und angepasster Hutablage aus den Varianten mit dem M30-Motor eingebaut. Shadowline Die Ausstattungslinie „Shadowline“ war ab 1986 verfügbar. Sie konnte bei allen Wagen, die in Diamantschwarz (181), Delphin (184) oder Lachssilber (203) lackiert wurden, bestellt werden. Alle Chrom- und Inoxteile sind mit Ausnahme der Niere und der Räder schwarz eingefärbt beziehungsweise eloxiert. Die Stoßstange und die Außenspiegel sind in Wagenfarbe lackiert. Tuningversionen und Umbauten Einige Fahrzeugtuner und Karosseriebauer boten modifizierte Varianten des E28 an. Es gab Versionen von Alpina, AC Schnitzer und Hartge. Schulz baute einige E28 zu touring-Versionen (Kombi) um, da der E28 von BMW ab Werk nie als Kombi angeboten wurde. Es sollen 32 E28-Kombis von Schulz entstanden sein. Bevor BMW in Europa den E28 mit der 160 kW leistenden 3,5-Liter-Ausführung des M30-Motors als 535i anbot, war besonders das Umbauen des 528i auf diesen größeren und leistungsstärkeren Motor beliebt. Zusätzlich zum reinen Motorumbau wurden oft das Fahrwerk oder die Innenausstattung überarbeitet. Schnitzer baute auf Basis des E28 das Modell S3.5, dessen Motor einen modifizierten Zylinderkopf, geschmiedete Kolben, eine Nockenwelle mit mehr Ventilzeitüberschneidung, einen Fächerauspuffkrümmer und einen Ölkühler hat. Mit diesen Modifikationen leistet der Motor 180 kW. Das Fahrwerk wurde mit härteren Federn und Bilsteinstoßdämpfern ausgerüstet und die Karosserie um 20 mm tiefergelegt. Die Höchstgeschwindigkeit liegt mit dem unveränderten lang übersetzten Seriengetriebe bei 240 km/h. Alpina bot ab November 1981 den B9 3,5 an, bei dem ebenfalls ein 3,5-Liter-Motor mit modifizierten Komponenten (Zylinderkopf, Kolben, Nockenwelle und Motronic) eingesetzt wurde. Die Leistung beträgt hier ebenfalls 180 kW, die Höchstgeschwindigkeit 240 km/h. Der B9 wurde ab etwa 1985 vom B10 abgelöst, der einen stärkeren 3,5-Liter-Saugmotor mit 192 kW Leistung hat. Ergänzend dazu bot Alpina den B7 Turbo an, der mit einem anfangs 221 kW, später 235 kW leistenden turboaufgeladenen Motor über 260 km/h Höchstgeschwindigkeit erreicht. Technische Beschreibung Der BMW E28 ist eine viertürige Stufenhecklimousine mit längs eingebautem Frontmotor und Hinterradantrieb. Die Karosserie ist selbsttragend. Bei einer Länge von 4620 mm ist der Wagen 1700 mm breit, 1415 mm hoch und hat einen Radstand von 2625 mm. Die Spurweite der Vorderräder beträgt 1430 mm, die der Hinterräder 1470 mm oder 1460 mm. Je nach Ausstattung wiegt der Wagen fahrfertig zwischen 1140 kg und 1410 kg (Leermasse). Fahrwerk Die Vorderräder sind einzeln an MacPherson-Federbeinen mit doppeltwirkenden Stoßdämpfern und Schraubenfedern, Querlenkern und getrennten Zugstreben aufgehängt. Diese auch Doppelgelenkachse genannte Konstruktion bewirkt einen kleinen Lenkrollradius. Des Weiteren ist eine gummigelagerte Torsionsstabfeder als Stabilisator eingebaut. Die Hinterachse ist eine Schräglenkerachse. Bei den schwächeren Modellen bis zum 525i hat sie einen Pfeilwinkel von 20°, ab dem 528i sind es 13°. Dies bewirkt eine geringere Spurweitenänderung beim Ein- und Ausfedern, geringere Radsturzänderungen, reduziertes Anfahrtauchen und ein weniger von der Zuladung abhängiges Eigenlenkverhalten. Die Lenker sind an einem deltaförmigen Träger montiert, der an drei Punkten an der Karosserie gelagert ist. Die Lager des Trägers sind aus Gummi und in Längsrichtung beweglich. Die Räder werden an den Schräglenkern geführt; die Federn sind um die Dämpfer herum angeordnet. Modelle ab 528i haben an der Hinterachse einen Torsionsstabilisator. Ab Werk waren Stahlscheibenräder und Leichtmetallscheibenräder für den E28 erhältlich. Die Standardraddimension ist 6 J × 14 H2. Es passen auch Räder mit einer um einen halben Zoll (12,7 mm) größeren oder kleineren Breite. Die Einpresstiefe beträgt bei allen Rädern +22 mm. Serienmäßig waren anfangs Stahlscheibenräder mit der kleinsten Felgenmaulweite (5½ J × 14 H2), größere Räder waren aufpreispflichtig. Später wurden größere Räder Serie. Den E28 gibt es sowohl als Links- wie auch als Rechtslenker. Die Lenkung ist serienmäßig entweder eine ZF-Kugelumlauflenkung (Kugelmutterlenkung) mit fahrgeschwindigkeitsabhängiger Servowirkung oder eine Gemmer-Lenkung von ZF mit Globoidschnecke und Zahnrolle (Schneckenrollenlenkung) beim 518 und 518i. Bremsanlage Die Bremsanlage ist eine hydraulische Diagonal-Zweikreisbremsanlage mit Bremskraftverstärker. Die Bremskraft wirkt an den Vorderrädern auf Bremsscheiben, die mit Ausnahme derer des 518 innenbelüftet sind. An den Hinterrädern sind bis 1986 bei den Modellen mit bis zu 2,4 Litern Hubraum Trommelbremsen eingebaut; ab 2,5 Litern Hubraum baute BMW von Beginn an auch hier Scheibenbremsen – allerdings nicht innenbelüftet – ein. Der Bremsscheibendurchmesser beträgt 284 mm beziehungsweise 282 mm, die Trommelbremsen haben einen Durchmesser von 250 mm. Ab Sommer 1986 verwendete BMW in allen Baureihen asbestfreie Bremsbeläge und rüstete alle Modelle – mit Ausnahme des 518i – auch an der Hinterachse mit Scheibenbremsen aus. Um das Blockieren der Räder beim Bremsen zu verhindern, konnte der E28 gegen Aufpreis mit einem Antiblockiersystem (ABS) ausgerüstet werden (ab 528i von 1986 an Serienausstattung). Mit ABS ausgerüstete Fahrzeuge haben an den Hinterrädern ungeachtet ihrer Motorisierung stets Scheibenbremsen. Das ABS schaltet sich nach dem Umdrehen des Zündschlüssels ab dem erstmaligen Überschreiten einer Geschwindigkeit von 12 km/h automatisch ein. Danach regelt das ABS bei allen Bremsungen im Blockierbereich, wenn die Fahrzeuggeschwindigkeit einen Wert von etwa 5…7 km/h überschreitet. Bei Fehlfunktionen oder zu geringer Fahrzeugbatteriespannung (< 10,5 V) schaltet sich das ABS automatisch ab, was mit dem permanenten Aufleuchten der ABS-Kontrollleuchte in der Armaturentafel angezeigt wird. Die Handbremse wirkt bei allen Modellen auf Bremstrommeln an den Hinterrädern. Kraftübertragung Sowohl handgeschaltete Vier- und Fünfganggetriebe von Getrag als auch automatische Drei- und Viergangwandlergetriebe von ZF wurden im E28 eingebaut. Insgesamt waren vier verschiedene Fünfgang-Schaltgetriebe sowie drei Automatikgetriebe verfügbar. Bei den handgeschalteten Getrieben wird das Moment vom Motor über eine hydraulisch betätigte Einscheibentrockenkupplung mit Drehschwingungsdämpfer auf die Getriebeeingangswelle übertragen, bei den Automatikgetrieben übernimmt diese Funktion ein hydrodynamischer Drehmomentwandler. Das Basis-Fünfgangschaltgetriebe für den 518i und 520i ist in den Vorwärtsgängen synchronisiert, nicht jedoch im Rückwärtsgang. Es ist bis einschließlich zum dritten Gang etwas länger übersetzt. Das Standardgetriebe von 525e, 525i, 528i sowie M535i hat auch einen synchronisierten Rückwärtsgang. Für den 528i, 535i und M535i war außerdem ein Sportgetriebe lieferbar, das in allen Gängen kürzer übersetzt ist, die Übersetzung des fünften Gangs entspricht dabei der des vierten Gangs des Standardgetriebes. Das Schaltschema unterscheidet sich vom normalen Getriebe, der erste Gang liegt hinten links. Der 524td hat ein im ersten und zweiten Gang besonders kurz übersetztes Schaltgetriebe, die Übersetzungen des vierten und fünften Gangs entsprechen aber dem Basisgetriebe. Beim 518 ist serienmäßig das Vierganggetriebe eingebaut, das Basis-Fünfganggetriebe war gegen Aufpreis erhältlich. Bei den automatischen Getrieben wurde der Typ 4 HP 22 bis einschließlich 524td verwendet, der Typ 4 HP 22 EH ab dem 525e. Das Dreiganggetriebe 3 HP 22 gab es nur bis 1982. Die beiden Vierganggetriebe unterscheiden sich in der elektrohydraulischen Ansteuerung und durch eine geänderte Übersetzung in den ersten beiden Gängen. Um den Wirkungsgrad zu verbessern, wird ab ca. 2500 min−1 Motordrehzahl eine Wandlerüberbrückungskupplung zugeschaltet. Ab Werk waren keine Automatikgetriebe für 518, 518i, 524d und M5 verfügbar. Vom Getriebe wird die Antriebskraft über eine geteilte Gelenkwelle an das Kegelrad-Hinterachsdifferenzial übertragen, von dort gelangt die Kraft über Doppelgelenkwellen an die Hinterräder. Auf Wunsch wurde auch ein Lamellenselbstsperrdifferenzial mit einem Sperrwert von 25 % eingebaut. Das Übersetzungsverhältnis des Hinterachsantriebs ist abhängig von der Motorisierung. Für bestimmte Märkte wurden die Übersetzungen kürzer oder länger gewählt. Motor BMW bot alle Motoren aus dem damaligen BMW-Motorenprogramm für den E28 an. Dazu gehören der Dieselmotor M21 sowie die Ottomotoren M10, M20 und M30, inklusive den technisch darauf basierenden Sportmotoren. Diese Motoren sind, mit Ausnahme des Vierzylindermotors M10, Sechszylinderreihenmotoren und haben eine obenliegende Nockenwelle, einen Querstromzylinderkopf, Druckumlaufschmierung sowie indirekte Kraftstoffeinspritzung. Bei den Ottomotoren ist sie als Saugrohreinspritzung ausgeführt, beim Dieselmotor M21 als Wirbelkammereinspritzung; den M10 gab es im 518 auch noch mit Fallstromregistervergaser. Die Motorsteuerung ist abhängig vom Fahrzeugmodell: Beim 525e, 528e, 533i, 535i, M535i, 535is, M5 und 520i mit Abgaskatalysator ist ein digitales Motorsteuergerät eingebaut, das zusammengefasst alle wesentlichen Funktionen des Motors steuert, wie zum Beispiel Gemischbildung, Zündung und Abgasreinigung. Die Saugrohreinspritzung dieser Modelle funktioniert nach dem Prinzip einer L-Jetronic. Bei Modellen mit Ottomotor ohne Motorsteuergerät sind Einspritzung (beziehungsweise Gemischbildung) und Zündung getrennt: Die Zündanlage ist eine Transistorzündanlage, während die Einspritzanlage ebenfalls eine elektronisch geregelte L/LE-Jetronic ist. Ausnahme sind hier frühe 520i-Modelle, die eine mechanische K-Jetronic-Einspritzanlage mit Mengenteiler haben sowie der 518 mit 2B4-Vergaser. Von 1983 bis zur Einstellung 1984 wurde der 518 mit einem elektronisch geregelten 2BE-Vergaser ausgerüstet. Die Dieselmodelle haben eine Verteilereinspritzpumpe. Alle Modelle mit elektronischer Motorsteuerung haben eine Schubabschaltung, die im Schubbetrieb bei Drehzahlen über 1200 min−1 die Kraftstoffzufuhr unterbricht. Der Motor ist im E28 längs über der Vorderachse geneigt eingebaut, er ist vorn auf dem Vorderachsträger gelagert und hinten mit dem Getriebe verschraubt. Gekühlt werden die Motoren mit Wasser, der Kühler ist dafür bei allen Modellen ein Querstromrippenrohrkühler. Der Lüfter wird temperaturabhängig mittels Viscokupplung zugeschaltet. Sofern eine Klimaanlage eingebaut ist, hat der E28 einen weiteren elektrisch angetriebenen Lüfter. Modelle mit Automatikgetriebe haben noch einen Getriebeölkühler, der 524td und der M535i zusätzlich dazu einen Motorölkühler unterhalb des Wasserkühlers, der bei vor der Modellpflege gebauten Fahrzeugen neun charakteristische Lüftungsschlitze im Frontblech erforderlich machte. BMW verzichtete beim Turbodieselmotor M21 auf den Einsatz eines Ladeluftkühlers. Sowohl der Dieselmotor als auch der 2,7-Liter-M20-Ottomotor sind jeweils in allen Leistungsstufen mit einem Zweimassenschwungrad ausgerüstet. Karosserie Der E28 hat eine selbsttragende Ganzstahlkarosserie, die mit der Bodengruppe verschweißt ist. Die Fahrgastzelle ist eine Sicherheitsfahrgastzelle mit Knautschzonen an Front und Heck. Der Kofferraum fasst 460 l, der Kraftstofftank 70 l. Der Luftwiderstandsbeiwert (cw) der Karosserie beträgt für Fahrzeuge des Bauzeitraumes 1981 bis Herbst 1984 serienmäßig 0,39 und mit aerodynamisch optimierten Rädern 0,385. Für Fahrzeuge ab Herbst 1984 ist der cw-Wert mit 0,37 angegeben; die Stirnfläche (A) des E28 beträgt 2,02 m2. Die Seitenscheiben bestehen aus Einscheibensicherheitsglas, die Frontscheibe ist aus Verbundglas hergestellt. Eine Heckscheibenheizung ist bei allen Modellen serienmäßig eingebaut. Die Chromstoßfänger mit aufgesetzter Gummistoßleiste sind an Heck und Front in einheitlicher Stärke rundum bis an die Radhäuser gezogen. In der Fahrzeugfront hat der E28 einen schmalen, zweigeteilten Kühlergrill (BMW-Niere) und unterschiedlich große Doppelscheinwerfer. Die US-Modelle haben hingegen gleich große Scheinwerfer mit dem Durchmesser der innenliegenden Fernlichter. Eine Scheinwerferreinigungsanlage war auf Wunsch erhältlich. Die Frontblinker und Nebelscheinwerfer sitzen unterhalb des Stoßfängers in der im Vergleich zum E12 geringfügig größeren Frontschürze. Das Fahrzeugheck hat einen hohen und deutlich kantigen Abschluss sowie große Heckleuchten mit einer waagerechten Chromleiste in der Mitte. An Türen und Kotflügeln hat der E28 Stoßleisten, die einige Millimeter breiter sind als die des E12. Die Motorhaube mit Haubendämpfern ist hinten angeschlagen und überdeckt nicht die Kotflügel. Innenraum Das zum Fahrer hin geneigte Armaturenbrett mit der in einigen Versionen zweiteiligen Mittelkonsole ist kantig und voluminös gestaltet und hat große schaumgepolsterte Prallflächen vor allem auf der Beifahrerseite. Das Vierspeichenlenkrad hat eine zentrale Prallplatte. Die Innentürgriffe liegen ergonomisch günstig. Im Vergleich zum E12 haben die Vordersitze des E28 eine verbesserte Polsterung und verlängerte Rückenlehnen. Sie sind einzeln manuell (oder mit entsprechender Ausstattung elektrisch) verstellbar. Im Fond hat der E28 eine einteilige Rückbank mit ausklappbarer Mittelarmlehne. Hintere Kopfstützen waren in der Serienausstattung nicht enthalten, aber auf Wunsch erhältlich. Eine Besonderheit ist die Serviceintervallanzeige im Armaturenbrett des E28, die den nächsten Wartungszeitpunkt anzeigt. Dazu hat sie grüne, gelbe und rote Kontrollleuchten, wobei die grünen Kontrollleuchten nach und nach erlöschen, bis die gelbe und danach die roten Leuchten anzeigen, dass eine Wartung fällig ist. Zusätzlich dazu gibt es besondere Leuchten für eine Inspektion und den Ölwechsel. Der Wartungszeitpunkt wird vom Bordcomputer abhängig von verschiedenen Funktionsgrößen wie Motordrehzahl, gefahrenen Kilometern, Geschwindigkeit, Öldruck und Betriebszeit berechnet. Auch eine Anzeige des momentanen Kraftstoffverbrauchs war für den E28 verfügbar. Technische Besonderheiten der Eta-Modelle Im 528e und 525e ist ein 2693-cm³-Sechszylinder-Ottomotor des Typs M20 mit einer Leistung von 90 kW bei 4250 min−1 eingebaut. Der rote Bereich des Drehzahlmessers beginnt bei 4500 min−1. Das maximale Drehmoment von 230 N·m bei 3250 min−1 erlaubt ein länger übersetztes Hinterachsgetriebe (2,93:1). Die Ansaugrohre sind sehr lang, um die Zylinderfüllung durch den Schwingrohreffekt bei niedrigen Drehzahlen zu verbessern. Der Motor mit Graugussmotorblock und Aluminiumzylinderkopf ist auf geringe innere Reibung hin optimiert. Durch das abgesenkte Drehzahlniveau konnten Ventilfedern mit geringerer Vorspannung verwendet werden. Auch die Kolbenringe haben eine geringe Vorspannung. Darüber hinaus hat der Motor nur vier statt sieben Nockenwellenlager. Serienmäßig ist für die Abgasreinigung im 528e ein Dreiwegekatalysator und eine Lambdaregelung eingebaut, für die eine sehr aufwändige Motorsteuerung notwendig ist, sodass ihn BMW mit einem digitalen Motorsteuergerät des Typs Bosch Motronic (DME) ausstattete. Obwohl der Motor für Normalbenzin mit einer Klopffestigkeit von 91 ROZ ausgelegt ist, ist seine Verdichtung von recht hoch. In der Ausführung für den deutschen Markt ohne Abgaskatalysator mit 92 kW Leistung liegt die Verdichtung mit noch einmal deutlich höher. Technische Besonderheiten der Modelle mit Abgaskatalysator BMW bot den E28 ab 1985 sowohl mit als auch ohne Dreiwegekatalysator an, auch eine für den Katalysatorbetrieb vorbereitete Ausführung war ab Werk erhältlich. Da die Bodengruppe des E28 und bei den Modellen mit M30-Motor auch die Motorkomponenten nicht von vornherein für den Katalysatorbetrieb konstruiert worden waren, mussten für den Katalysator bei einigen Modellen Kompromisse eingegangen werden. Der M535i mit Katalysator hat im Vergleich zum M535i ohne Katalysator eine von 10:1 auf 8:1 reduzierte Verdichtung, sodass er mit bleifreiem Normalbenzin (91 ROZ) klopffest arbeiten kann. Darüber hinaus sind andere Kolben eingebaut und durch eine modifizierte Nockenwelle die Ventilsteuerzeiten geändert; der Ventilöffnungswinkel wurde von 264° KW auf 260° KW reduziert, während durch eine verspätete Ventilöffnung eine leichte Ventilzeitüberschneidung erzielt wurde, die im niedrigen Drehzahlbereich die Drehmomentabgabe verbessert. Da der M30-Motor im Teillastbereich teilweise mit einer Luftzahl von – betrieben wird, was den Einsatz eines Dreiwegekatalysators unmöglich macht, musste auch die Motorsteuerung so angepasst werden, dass die Luftzahl in allen Betriebsbereichen etwa beträgt. Diese Maßnahmen haben eine von 160 kW auf 136 kW reduzierte Nennleistung zur Folge; in Kombination mit der von 3,07:1 auf 3,25:1 verkürzten Hinterachsübersetzung ist auch der Benzinverbrauch erheblich größer. Der 520i war ab 1986 nur mehr mit Abgaskatalysator erhältlich. Die Motorleistung verringerte sich indes nicht, sie beträgt wie beim Modell ohne Abgaskatalysator 95 kW. Bei den Eta-Modellen war anfangs durch den Katalysatoreinsatz die Motorleistung leicht vermindert, wurde aber später wieder erhöht. Die einzigen Modelle, die nicht mit Abgaskatalysator erhältlich waren, waren der 518 bzw. 518i, 525i, 528i und der europäische M5. Lackierungen Über den Produktionszeitraum von mehr als sechs Jahren waren zahlreiche Farbvarianten erhältlich, die im Folgenden aufgeführt sind. Bei den Jahresangaben handelt es sich jeweils um die Modelljahre, die jährlich in der Regel im September wechseln. So betrifft beispielsweise das Modelljahr 1986 den Zeitraum von September 1985 bis September 1986. Die drei Farben mit den Jahresangaben von 1988 waren demnach nur in den letzten Produktionsmonaten erhältlich. Technische Daten der Motorisierungen 518 – 525e 525i – M5 524d – 524td Tuningfahrzeuge auf E28-Basis Technische Daten der Getriebe Fahrleistungen Werte in Klammern gelten für Automatikgetriebe; für 518, 518i, 524d und M5 war ab Werk kein Automatikgetriebe verfügbar. Anmerkungen Rezeption Fahrzeuggestaltung Die Form des BMW E28 mit der schräg nach hinten geneigten Front und dem senkrechten Doppelnierengrill ähnelt sehr der des E12. David Kiley meint: „Zu behaupten, der E28 sei dem Vorgänger-5er E12 ähnlich, ist eine starke Untertreibung.“ Claus Luthe zufolge, ab 1976 Chefdesigner bei BMW, war das Design des E28 durch die von seinem Vorgänger Paul Bracq neu eingeführte Designlinie bereits größtenteils vorgegeben, sodass Luthe mit seinem Team nur Kleinigkeiten des Äußeren beeinflussen konnte. BMW legte mehr Wert darauf, das Fahrzeug technisch auf ein hohes Niveau zu bringen und den Luftwiderstand im Vergleich zum Vorgänger zu senken, um den Kraftstoffverbrauch zu verringern. Dennoch zog die Motorpresse über den E28 her, da das Erscheinungsbild als zu konservativ galt und bei Markteinführung kein 3,5-Liter-Motor angeboten wurde. Kritisiert wurde auch der Chromstreifen in den Rückleuchten. Die mot urteilte 1981: „Die ‚neue‘ BMW 5er-Reihe, die im August erscheint, wurde äußerlich so wenig geändert, daß sie im Straßenbild kaum auffallen wird. Die Finessen stecken unter dem Blech.“ Eberhard von Kuenheim, von 1970 bis 1993 Vorstandsvorsitzender der BMW AG, antwortete in einem Interview mit dem Herausgeber von auto, motor und sport, Helmut Luckner, auf die provokative Frage, warum der E28 dem E12 „so schrecklich ähnlich werden mußte“: „Da könnte einem schon was Besseres einfallen.“ Luckner sagte indes über den E28, die Karosserie wirke „altbacken“ und sähe von hinten einem Ford oder Audi „zum Verwechseln ähnlich“, im Übrigen sei das Auto „bieder“. Fahrzeugtechnik Der stern schrieb im Frühjahr 1981 über den E28: „Um den Fünfern endlich mehr Fahrkomfort zu geben, entschloß sich BMW zu einer aufwendigen Verbesserung: Sie erhalten die Doppel-Gelenk-Vorderachse von den Siebener-Modellen. Die sorgt nun im Verein mit der bewährten Schräglenker-Hinterachse für ausgezeichnete Straßenlage.“ Fünf Jahre später meinte Andreas Borchmann, die Fünfgangschaltung gehöre „zum Besten, was es zur Zeit gibt“. Am Fahrkomfort merke man aber, dass „der BMW etwas in die Jahre gekommen ist“, auf Kopfsteinpflaster liege der Wagen „nicht so ruhig“. Der Autotester erklärte, dies liege an der straffen Fahrwerksabstimmung. Die Lenkung kritisierte Borchmann als „um die Mittellage nicht besonders genau“. Michl Koch urteilte 1986 in der Zeitschrift sport auto positiv über den M535i mit Abgaskatalysator: „Trotzdem ist schon der erste Gehversuch der Bayrischen Motorenwerke im abgasfreien Raum recht überzeugend ausgefallen: Trotz verminderter Leistungsfähigkeit erweist sich der M535i in der Kat-Version als muskulöses Fahrzeug mit souveränen Fahrleistungen. Den Mehrverbrauch kompensiert teilweise der geringere Preis für bleifreien Sprit.“ In der von sport auto durchgeführten Leistungsmessung des Fahrzeuges auf einem Rollenprüfstand wurde eine Motorleistung von 182 PS (134 kW) ermittelt, was leicht unter der Werksangabe (136 kW) liegt. Bei schonender Fahrweise konnte der Benzinverbrauch von den sport-auto-Testfahrern nicht unter 11 l Normalbenzin (91 ROZ) auf 100 km gesenkt werden, im Vergleich dazu liegt der Kraftstoffverbrauch des M535i ohne Abgaskatalysator unter 10 l Superbenzin (98 ROZ) auf 100 km. Hans J. Schneider meint 2007 zum mäßigen Luftwiderstandsbeiwert von cw 0,39 (Basismodell) beziehungsweise 0,385 (Modelle mit verkleideten Radkappen): „Das war nicht berauschend, aber damals zumindest guter Durchschnitt.“ Zur Karosserie schreibt er, dass sie bekannt dafür sei, „rostbeständig“ und „langlebig“ zu sein. Ungünstig urteilte Schneider über die Bremsanlage, sie erweise sich bei „bei harter Beanspruchung als zu schwach“, nach 15- bis 20-maligem Anbremsen sei mit Bremsfading zu rechnen. Saugdieselmotor im 524d Andreas Borchmann schrieb 1986, der M21-Saugmotor sei für einen Diesel „durchzugsschwach“, erst ab einer Drehzahl von 3000 min−1 stelle er genügend Leistung zur Verfügung. Trotz der Bauweise als Sechszylinder biete der M21 nicht die Laufruhe eines Mercedes-Benz OM 602 mit nur fünf Zylindern. Positiv hob Borchmann das Geräuschverhalten hervor, der M21-Dieselmotor bleibe auch bei hohen Drehzahlen recht leise und gehöre in „dieser Disziplin zur Diesel-Spitze“. Der im Test ermittelte Kraftstoffverbrauch von 8,5 l/100 km sei „nicht schlecht“. Innenraum Andreas Borchmann urteilte, der Innenraum des E28 sei „aufgeräumt“, aber „altmodisch“. Borchmann führt dies auf steil stehende Scheiben, die hohe Sitzposition und das weit in den Innenraum ragende Lenkrad zurück. Die kantige Karosserieform heize sich im Sommer nicht so stark auf und sei darüber hinaus „sehr übersichtlich“, ungünstig sei jedoch das Scheibenwischerfeld, das auf der Fahrerseite „zu klein geraten“ sei. Während die Rücksitzbank zwar bequem ausgeformt sei, biete der Fond wenig Beinfreiheit, für drei Personen sei die Rücksitzbank „doch recht schmal“. Borchmann kritisierte auch die Sitzhöhenverstellung, deren Bedienung „die Mentalität eines Puzzlespielers und die Fingerfertigkeit eines Taschenspielers“ erfordere. Im „hübsch anzusehenden Armaturenbrett“ bemängelte der Autotester die fehlende Beleuchtung des Schalters für die Heckscheibenheizung. Retrospektive Bewertung 535i Tyler Hoover – ein ehemaliger amerikanischer Gebrauchtwagenhändler und Automobiljournalist, der inzwischen die Sendung Hoovie’s Garage moderiert – urteilte Anfang Januar 2018 durchweg positiv über den E28 (535i): Literatur Hans J. Schneider: BMW 5er – Technik + Typen, Modelle bis 1997. Bielefeld 2007, ISBN 978-3-7688-5789-5. Hans-Rüdiger Etzold: So wird’s gemacht (Band 68): BMW 5er Reihe 9/72 bis 7/81 (TYP E12), BMW 5er Reihe 7/81 bis 8/87 (TYP E28). Delius Klasing, Bielefeld 1990, ISBN 3-7688-0666-9. Weblinks Informationen zur Modellreihe E28 Die Interessengemeinschaft für die ersten beiden 5er BMW Einzelnachweise E028 Fahrzeug der oberen Mittelklasse Limousine
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https://de.wikipedia.org/wiki/Die%20Gesch%C3%A4fte%20des%20Herrn%20Julius%20Caesar
Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar
Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar ist ein unvollendetes Werk des deutschen Schriftstellers Bertolt Brecht, das ursprünglich aus sechs Büchern bestehen sollte. Brecht arbeitete daran von 1938 bis 1939 im dänischen Exil. 1949 erschien zuerst das zweite Buch der Reihe „Unser Herr C.“ in der Zeitschrift Sinn und Form (Berlin). 1957 wurden postum das dritte Buch „Klassische Verwaltung einer Provinz“, ebenfalls in Sinn und Form, sowie das gesamte Fragment (Bücher 1–4) im Gebrüder Weiss Verlag (Berlin/West) und im Aufbau-Verlag (Berlin/DDR) veröffentlicht. Der Roman gehört zu den weniger bekannten Werken Brechts. Dennoch ist die Bedeutung des Fragments allgemein und innerhalb des brechtschen Gesamtwerkes nicht zu unterschätzen: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar bildet einerseits ein Beispiel für die Gattung des historischen Romans der Zwischenkriegszeit, andererseits aber stellt das Werk die Übertragung des Verfremdungseffekts aus dem Bereich des epischen Theaters auf den Roman dar und offenbart besonders Brechts Verständnis der Geschichte als „Perspektive der anderen Seite“. Die Haupthandlung des Romans beschreibt die Zeit von Caesars Beteiligung an der Catilinarischen Verschwörung (691 röm. Zeitrechnung bzw. 63 v. Chr.) bis zu seiner Statthalterschaft in Spanien und seiner daran anschließenden Bewerbung um das Konsulat (694 röm. Zeitrechnung bzw. 60 v. Chr.). Eingebettet ist die Haupthandlung in eine Rahmenerzählung, die das Vorhaben eines jungen Anwalts wiedergibt, eine Biografie über den zwanzig Jahre zuvor ermordeten Caesar zu verfassen. N. B. Den nachfolgenden Ausführungen liegt folgende Textausgabe zugrunde: Werner Hecht, Jan Knopf u. a. (Hrsg.): Bertolt Brecht. Prosa 2. Romanfragmente und Romanentwürfe (= Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 17). Frankfurt am Main. Inhaltsübersicht Aufbau (Erzähl- und Zeitebenen) Der Roman gliedert sich in sechs Bücher, wobei Brecht lediglich die ersten drei Bücher und den Anfang des vierten Buches vollständig ausgeführt hat. Die erzählten und erlebten Geschehnisse lassen sich drei Erzählebenen zuordnen: Die ersten beiden sind in der Rahmenhandlung anzusiedeln; es handelt sich dabei um die Ebene des jungen Anwalts, der aus der Ich-Perspektive die Rahmenhandlung darlegt, und die Ebene Mummlius Spicers. Letzterer erinnert sich in seinen Gesprächen mit dem Ich-Erzähler an seinen Umgang mit Caesar. Da der Ich-Erzähler (der junge Anwalt) seinerseits diese Erinnerungen in der Rahmenerzählung wiedergibt, ist die Erzählebene Spicers innerhalb der des Ich-Erzählers festzusetzen. Die dritte Erzählebene bilden die Tagebuchaufzeichnungen des Sekretärs Caesars namens Rarus, die die eigentliche Haupthandlung darstellen. Die Erzählebene des Rarus steht somit losgelöst von den beiden anderen Erzählebenen. Die Einteilung der Erzählebenen deckt sich dabei in etwa mit derjenigen der Zeitebenen: Die ersten beiden Zeitebenen bestehen in den Berichten des Erzählers und der übrigen Figuren der Rahmenhandlung (Mummlius Spicer, Afranius Carbo, Vastius Alder, ein Legionär Caesars). Der Erzähler berichtet aus der Rückschau über seine Erlebnisse bei Spicer, die über drei Tage verlaufen und etwa im Jahr 730 anzusiedeln sind. Während die Figuren der Rahmenerzählung in einem nennenswerten Abstand zu den bei Rarus beschriebenen Ereignissen befinden, schreibt Rarus selbst seine Erlebnisse unmittelbar nach deren Geschehen nieder. So stellen die Figuren der Rahmenerzählung und Rarus zwar dieselben Jahre der römischen Geschichte dar, ihre Perspektive ist aber eine andere. Nach Herbert Claas ermöglicht der geringe, aber vorhandene Zeitabstand der Rahmenhandlung zu den Geschehnissen der Verschwörung Catilinas einerseits eine abgeschlossene Legendenbildung; der Caesarmythos ist also bereits gewachsen. Andererseits, so Claas, könnten die Gesprächspartner des Ich-Erzählers als Zeitzeugen gelten, was ihren Berichten eine gewisse „fiktive Authentizität“ verleihe. Die römische Zeitrechnung selbst, die Brecht den gesamten Roman hindurch verwendet, erscheint abschließend als Teil jener fiktiven Authentizität. Buch 1: „Karriere eines vornehmen jungen Mannes“ Das erste Buch des Fragments „Karriere eines vornehmen jungen Mannes“ umfasst die Rahmenhandlung des Romans: Ein junger Anwalt, der Ich-Erzähler, beschließt eine Biografie über den vor 20 Jahren ermordeten Caesar zu schreiben. Dazu besucht er Mummlius Spicer, Caesars ehemaligen Bankier, der elf Tagesreisen von Rom entfernt in einer Villa auf einem wohlhabenden, von Sklaven bewirtschafteten Landgut lebt. Er bittet Spicer um die Herausgabe der Tagebücher des Sklaven Rarus, eines Sekretärs Caesars, von denen er glaubt, dass sie sich in Spicers Besitz befänden. Spicer treibt zunächst ein Spiel mit dem Ich-Erzähler, indem er anfangs behauptet, er habe die Tagebücher weggeworfen, dann erklärt, der Anwalt könne damit überhaupt nichts anfangen, und schließlich die exorbitante Summe von 12000 Sesterzen für die Leihgabe der Tagebücher verlangt, unter der Bedingung, dass der Ich-Erzähler dazu die „Erläuterungen“ Spicers zu den Tagebüchern berücksichtige. Verärgert willigt der junge Anwalt ein. Im weiteren Verlauf der Handlung, die einen Zeitraum von einigen Tagen einnimmt, erhält der Ich-Erzähler von Spicer sowohl erste Berichte über die Situation im Rom zur Zeit, als Caesar die politische Bühne betrat, als auch zu Caesar selbst. Spicer erzählt ihm in einer Weise, die der Anwalt als „gleichgültig“ (S. 178, Z. 32) und „schamlos“ (S. 187, Z. 9) bezeichnet, von Caesars Verhältnis zur sog. „City“ (Oberschicht der Kaufleute in Rom), von Caesars ersten scheiternden Versuchen als Anwalt und seinem Zusammentreffen mit den kleinasiatischen Piraten (der berühmten „Seeräuberanekdote“). Später trifft der Ich-Erzähler weitere Personen, die ihm über Caesar berichten, unter anderem einen ehemaligen Legionär aus Caesars Heer und den Anwalt Afranius Carbo, der von den wirtschaftlichen Konflikten in Rom zu Caesars Zeiten erzählt. Das erste Buch schließt mit einem von Spicer gegebenen Überblick über Caesars gesamte Karriere, der gleichfalls als grobe Gliederung der nachfolgenden Bücher zu verstehen ist. Buch 2: „Unser Herr C.“ Das zweite Buch „Unser Herr C.“ gibt den ersten Teil der Tagebuchaufzeichnungen von Caesars Sekretär Rarus wieder. Die Aufzeichnungen beinhalten die Ereignisse der Monate August bis Dezember des Jahres 691 (d. h. 63 v. Chr.). Rarus legt den Schwerpunkt auf die Beschreibung der finanziellen und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten Caesars. Im Vordergrund steht hier die Verschwörung Catilinas und Caesars Rolle innerhalb dieser Verschwörung. Daneben werden die Privatgeschäfte Caesars und Crassus’ geschildert. Die römische Republik befindet sich in Unruhe, die Fraktionskämpfe zwischen City und Senat (bestehend aus der Schicht der reichen Großgrundbesitzer) bilden den Rahmen der Catilinarischen Verschwörung. Caesar und Crassus stehen offiziell auf Seiten der City, nutzen die Unruhen aber für ominösen Getreidehandel und Grundstücksspekulationen. Die City, die sich mit dem Senat im Streit um die Eroberung Kleinasiens befindet, versucht, eine Diktatur des Gnaeus Pompeius Magnus zu erzwingen. Zweck dieser Diktatur, über deren Einzelheiten sich City und Pompeius im Voraus verständigt haben, soll es sein, die (ökonomische) Macht des Senats zu brechen. Dazu soll Pompeius Catilina an seinem Aufstand hindern. Um Antrag und Ausrufung der Diktatur zu rechtfertigen, augmentiert die City künstlich die wirtschaftliche Not Roms und fördert die Verschwörung Catilinas. Schließlich zieht sich die City aber von ihrem Handel mit Pompeius aus Angst vor Catilina zurück. Die Niederwerfung Catilinas übernimmt nach dessen gescheiterter Konsulatsbewerbung somit der Senat, der als Sieger aus den Fraktionskämpfen hervorgeht. Da Caesar (ebenso wie bedingt auch Crassus) auf den Sieg der City spekuliert hatte, sieht er sich nun mit einer hohen Verschuldung konfrontiert. Gleichzeitig drohen ihm wegen seiner Unterstützung Catilinas politische und juristische Repressalien. Die Stimmung im Volk hat sich mittlerweile gegen Catilina gewandt und man spricht nur noch von der „Abwehrung der Diktatur“ (S. 280, Z. 28). Die sog. „Sturmrotten“ und „Straßenklubs“, in denen sich die Anhänger Catilinas aus den unteren Schichten zusammengeschlossen hatten, werden aufgelöst und ihre Mitglieder verhaftet. In den Unruhen kommt es zum Börsensturz, über die Gründe dieses ökonomischen Zusammenbruchs herrschen unterschiedliche Spekulationen. Caesar entwindet sich seiner politischen Ächtung, indem er nach erfolgreicher Kandidatur um das Praetorenamt selbst die Prozesse gegen die Catilinarier führt. So kann er zugleich alle Verdachtsmomente gegen sich außer Kraft setzen. Das gesamte zweite Buch zeugt von inhaltlicher Komplexität, was sich darin begründet, dass es Rarus selbst an Überblick und tiefergreifendem Verständnis der Geschehnisse mangelt. Die Auflösung und die Hintergründe der Ereignisse erfährt Rarus (und somit auch der Leser) erst am Schluss des zweiten Buches von Caesar selbst. Buch 3: „Klassische Verwaltung einer Provinz“ Das dritte Buch „Klassische Verwaltung einer Provinz“ behandelt intensiver Caesars Umtriebe bei und nach dem Ende der Catilinarischen Verschwörung. Es ist geteilt in die diesmal knappen Aufzeichnungen des Rarus und die daran anschließenden mündlichen Ergänzungen Spicers. Caesar, der auf die Rückkehr des Pompeius mitsamt seinem Heer hofft und demzufolge auf ein neues Siedlungsprogramm setzt (daher die Grundstücksspekulationen), beseitigt als Praetor die Beweise seiner Beteiligung an der Verschwörung Catilinas. Da Catilinas Heer jedoch vorzeitig vernichtet wird, ist eine Diktatur des Pompeius oder dessen Eingreifen mit seinem eigenen Heer unnötig. Pompeius kehrt daher ohne Heer in Rom ein, was seine Popularität im Volk immens sinken lässt: Eine Lösung der Bodenfrage und der ökonomischen Probleme durch eine eventuelle Machtergreifung des Pompeius ist ausgeschlossen. Caesar sieht sich nun mit massiven Schulden konfrontiert, die aus seinen Grundstücksspekulationen herrühren. Da er nach dem Ablauf seiner Amtszeit seinen Amtsschutz nicht mehr genießt, setzt er sich zur Statthalterschaft nach Spanien ab. Einen zweiten, parallel verlaufenden Handlungsstrang bildet Rarus’ Reise zum Schlachtfeld von Pistoria, dem Ort der Niederlage Catilinas, wo er sich auf die vergebliche Suche nach seinem Geliebten Caebio begibt. Seine Trauer um Caebio bildet die Ursache dafür, dass der zweite Teil der Aufzeichnungen des Rarus verhältnismäßig kurz ausfällt, weshalb die Erzählung von Spicer ergänzt wird. Dazu tritt in der Rahmenhandlung die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem Dichter Vastius Alder, der sich über die historische Bedeutung Caesars und sein Verhältnis zu Senat und City verbreitet. Spicer berichtet abschließend über die finanziellen Folgen der Verschwörung Catilinas und die Flucht Caesars in die Statthalterschaft nach Spanien. Buch 4: „Das dreiköpfige Ungeheuer“ Das vierte, nicht vollständig ausgeführte Buch enthält die Aufzeichnungen des Rarus über Caesars Rückkehr aus Spanien und dessen anschließende Bewerbung um das Konsulat. Caesar hat in Spanien beachtliche Erfolge erzielt, vor allem finanzieller Natur. Um seiner Wahl zum Konsul möglichst große Erfolgschancen zu garantieren, plant er einen Triumphzug als Wahlwerbung. Da sich aber die hohen finanziellen Kosten des Triumphzuges nicht aus den spanischen Einkünften begleichen lassen, wird Caesar folglich durch Verwicklungen mit den römischen Bankiers (auf deren Geld Caesar für die Ausführung des Triumphzuges angewiesen ist) in Spanien aufgehalten. Er kann so nicht mehr vor der Zeit zur Konsulatsbewerbung nach Rom kommen, in der er die Stadt noch vor dem Triumphzug betreten darf. Deshalb entschließt er sich, auf den Triumphzug zu verzichten, was für ihn wiederum hohe finanzielle Verluste zur Folge hat (da er bereits große Geldsummen auf die Vorbereitung des Triumphes verwandt hat). Geschickt und opportunistisch kalkulierend nutzt er aber die mittlerweile aufgekommene Stimmung des Volkes gegen Kriege und Eroberungen und stellt sich, im Gegensatz zu seinem ursprünglichen Plan (für den der Triumphzug erforderlich gewesen wäre), statt als Feldherr, als Friedensbringer dar. Hier endet das vierte Buch. Die inhaltliche Konzeption der letzten drei Bücher Das eigentliche Thema des vierten Buches sollte in dem 1. Triumvirat bestehen, daher auch der Titel „Das dreiköpfige Ungeheuer“. Aus Brechts Aufzeichnungen geht hervor, dass der Schwerpunkt in der inhaltlichen Konzeption auch weiterhin auf Caesars „finanziellen“ Motivationen begründet liegt (S. 349, Z. 11–12): Die Lösung der Bodenfrage durch die Lex Julia wird „entlarvt“ als „eine gigantische Grundstücksspekulation des historischen Triumvirats“ (S. 349, Z. 17–18), wobei Caesar sich trotz „Amtsmissbrauch“ wachsenden Schulden gegenübersieht. Weiterhin soll der „wahre Wert“ politischer Legalität innerhalb des römischen Staates dadurch entlarvt werden, dass Caesars Handlungen weitgehend als legal anerkannt werden (S. 349, Z. 37–38). Die weitere Handlung beschreibt die Gründung der „Gallischen Handelsgesellschaft“ und die Flucht Caesars vor Anklagen (nach dem Ende des Konsulats) in die gallische Provinz. Die privaten Liebschaften des Rarus werden ebenfalls weitergesponnen, wobei die Schicksale seiner beiden neuen Geliebten stellvertretend für das römische Volk konzipiert sind (S. 350, Z. 31–33). Der Gallische Krieg bildet den Inhalt des fünften Buches, das nach Brecht als das „idyllischste“ der sechs Bücher konzipiert ist (S. 351, Z. 26–27). Näher behandelt werden auch hier Caesars ökonomische Umtriebe: So versucht er bewusst, das Ende des Krieges hinauszuzögern, um größtmöglichen Profit aus seiner Statthalterschaft in Gallien zu ziehen. Die Aufzeichnungen Brechts zum Inhalt enden mit der Beschreibung von Caesars Überschreitung des Rubikons und seiner Rückkehr nach Rom sowie einem Ausblick auf die düstere Zukunft des römischen Staates. Figuren des Romans Figuren der Rahmenhandlung Bei den Figuren der Rahmenhandlung handelt es sich in allen Teilen um von Brecht erdachte, nicht reale Charaktere, die jeweils unterschiedlichen Zwecken innerhalb der Romankonzeption dienen. Sie lassen sich auf keine historischen Personen zurückführen. Der Ich-Erzähler Der junge, namenlose Anwalt, der es sich zur Aufgabe erkoren hat, eine Biografie über den großen Politiker Gaius Iulius Caesar zu schreiben, stellt für die Rahmenerzählung die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den Ereignissen und dem Leser dar. Bereits ganz zu Beginn des Romans deutet sich die Absicht an, die der Ich-Erzähler mit seiner Biografie verfolgt, nämlich die Entschleierung der Caesarlegende und die Aufdeckung der wahren Beweggründe der Handlungen des Staatsmannes Caesar („Da war die Legende, die alles vernebelte. Er hatte sogar Bücher geschrieben, um uns zu täuschen. […] Vor die Erkenntnis der wahren Beweggründe ihrer Taten haben die großen Männer den Schweiß gesetzt.“, S. 167, Z. 19–23). Der Ich-Erzähler ist sich eines bedenklichen Wahrheitsgehalts der Berichte von und über Caesar bewusst. Dennoch ist er zunächst von der ruhmvollen Vergangenheit des Politikers überzeugt, den er als sein Idol betrachtet (S. 171, Z. 32). Besondere Empörung ruft bei ihm deshalb die gleichgültige und schamlose Darstellung Caesars von Seiten Spicers hervor (S. 178, Z. 31–35). Später zeigt der Ich-Erzähler neben Ärger auch Gleichgültigkeit gegenüber den aus seiner Sicht pejorativen Äußerungen Spicers (S. 187, Z. 17–19). Die Einstellung des Ich-Erzählers zu Caesars Person bzw. zu den Ausführungen Spicers ist allerdings einem Sinneswandel unterworfen. Vollständig ausgeführt allerdings ist lediglich der wachsende Zweifel des Ich-Erzählers an der Caesargestalt sowie seinem eigenen biografischen Vorhaben (S. 320, Z. 23). Durch die Perspektive des Ich-Erzählers und die Subjektivität seiner Darstellung ist dem Leser die Identifikation mit dem jungen Anwalt unvermeidbar. Der besagte langsame Sinneswandel des Ich-Erzählers ist von Brecht so konzipiert, dass er sich eins zu eins auf den Leser übertragen lässt und zur „Entschleierung“ der Caesarlegende beiträgt. Mummlius Spicer Ebenso wie auch die übrigen Charaktere der Rahmenhandlung wird Mummlius Spicer durch die Eindrücke und Vermutungen des Ich-Erzählers charakterisiert. Spicer, ehemals Gläubiger und Bankier Caesars, hat offensichtlich von Caesars Geschäften profitiert: Er besitzt ein reiches, von Sklaven bewirtschaftetes Landgut mit Oliven- und Weinanbau sowie eine schlichte, ländliche Villa mit einer Bibliothek (S. 167–168). Äußerlich wird Spicer als groß, knochig und mit vornüber gebeugtem Körper beschrieben; die Handhabung der Empfehlungsschreiben, die der Ich-Erzähler ihm vorweist, verweisen auf Spicers Beruf (er geht die Empfehlungspapiere des Anwalts sehr genau durch, S. 167, Z. 35–38). Der Erzähler spricht darüber hinaus oft von Spicer als „dem Alten“. Dieses Attribut verleiht Spicer eine gewisse Autorität in Hinblick auf seine Lebenserfahrung; der Ich-Erzähler betont außerdem die Bescheidenheit Spicers (S. 167 Z. 25–29). Dagegen sind die Berichte Spicers wiederum von einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Allwissenheit geprägt: Der Ich-Erzähler berichtet von der scheinbaren Trägheit des Bankiers, die dieser beim Erzählen an den Tag legt (S. 180, Z. 3–14). Dennoch durchschaut Spicer zugleich die Beweggründe der Taten Caesars und der City auf bemerkenswerte Weise (z. B. S. 186, Z. 38 bis S. 187, Z. 7). Die Bedeutung Spicers für und innerhalb der Konzeption des Romans wird bei näherer Betrachtung seiner Einstellung zur Geschichtsschreibung deutlich: Spicer selbst äußert sich an mehreren Stellen abwertend über die römischen Historiker (S. 169, Z. 25–26, S. 172, Z. 15–17). Spicer wird für Brecht somit zum „Sprachrohr“, durch das er eine grundlegende Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung (bzgl. Caesars) äußern kann. Übrige Personen Innerhalb der Rahmenerzählung begegnen dem Ich-Erzähler drei weitere, knapp umrissene Personen, die alle ihrerseits eigene Meinungen zu Caesar vorbringen. Zunächst trifft er einen alten Legionär, der in einer Hütte zusammen mit einem Sklaven lebt; seinen Lebensunterhalt verdient er mit einem kleinen Olivenbetrieb und gelegentlichem Fischen. Viel erfährt der Anwalt nicht von dem Veteranen (S. 189, Z. 10, Z. 26–27). Auch für seine Meinung bzgl. der Beliebtheit Caesars bei den einfachen Soldaten erhält der Erzähler keine befriedigende Antwort (S. 189, Z. 30–36). Die weiteren Ausführungen des Legionärs bzgl. seines Schicksals als Soldat im Bürgerkrieg lassen ihn als einen typischen Vertreter der unteren Volksschichten erscheinen, denen nur die Alternative zwischen einem Leben als Soldat oder dem Leben als Bauer auf einem Stück Land offensteht, das für Ackerbau prinzipiell zu klein erscheint. In Brechts Konzeption personifiziert der Legionär somit das vom Kapitalismus „ausgebeutete“ einfache Volk. Die beiden anderen Personen, die dem Ich-Erzähler im weiteren Verlauf der Rahmenhandlung begegnen, sind der Anwalt Afranius Carbo und der Dichter Vastius Alder, beides wohlhabende und erfolgreiche Männer des römischen Staates. Carbo erfreut den Ich-Erzähler zunächst mit Schmeicheleien und Lob bezüglich seines Plans, eine Caesarbiografie zu verfassen (S. 192, Z. 8–14). Diese Freude wandelt sich aber bald in Enttäuschung über die offenbar „oberflächliche“ und „anfechtbare“ Darstellungsweise der Person Caesars durch Carbo (S. 193, Z. 3–4). Bald aber offenbart sich dann die heuchlerische Art Carbos (S. 195, Z. 37 bis S. 196, Z. 3). Ganz ähnlich verhält es sich bei Alder: Sein Äußeres beschreibt der Erzähler wie das einer Mumie (S. 303, Z. 11–14) und seinen militärischen Ruhm relativiert er ebenso wie seine dichterischen Leistungen (S. 303, Z. 14–23). Die abschätzigen Bemerkungen Spicers bezüglich des Dichters tun ihr Übriges (S. 306, Z. 31–35; S. 307, Z. 14–20). Insgesamt ergänzen die übrigen Figuren der Rahmenerzählung die Funktion Spicers: Obwohl der Ich-Erzähler ihren eigenen Äußerungen abwertend gegenübersteht, sind sie doch Stellvertreter bestimmter Personengruppen, die jede auf ihre Art die negativen Seiten der Geschichte Caesars verdeutlichen, der Legionär als „Ausgebeuteter“, Carbo und Alder als „Ausbeuter“. Figuren der Haupthandlung Im Gegensatz zur Rahmenhandlung basieren die Charaktere der Haupthandlung auf real existierenden, historischen Persönlichkeiten, abgesehen von Alexander, Crassus’ Bibliothekar, und Rarus sowie seinen Geliebten Caebio und Glaucos. Die tatsächlichen Eigenschaften der historischen Figuren sind allerdings im Sinne des brechtschen Geltungsanspruch mehr oder minder stark modifiziert. Daher bietet ihre Darstellung keine „Dokumentation“ der realen historischen Akteure. Rarus Die Figur des Rarus, Caesars Sklave und Sekretär, bildet die Erzählinstanz der Haupthandlung: Seine Tagebuchaufzeichnungen entsprechen dem Text des zweiten und in Teilen des dritten und vierten Buches des Romans; neben Spicer übernimmt folglich Rarus im Wesentlichen die Charakterisierung Caesars. Innerhalb der ausgearbeiteten Teile des Romans wird Rarus selbst einerseits durch Spicer charakterisiert, dessen Äußerungen ohne Kommentar oder Bewertung vom Erzähler wiedergegeben werden. Andererseits erfährt der Leser einiges über Rarus durch dessen eigene Äußerungen in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Rarus wird unter anderem durch Spicers Äußerungen gegenüber dem Ich-Erzähler charakterisiert: Spicer gibt zu verstehen, dass Rarus hauptsächlich die „geschäftliche Seite“ der Biografie Caesars dokumentiere und die Berichte nicht ohne Erläuterungen zu gebrauchen seien (S. 169, Z. 19–20, Z. 24–25). Diese Äußerungen Spicers über Rarus verdeutlichen bereits in der Rahmenhandlung (und erfahren Bestätigung in Rarus’ Aufzeichnungen), dass Rarus die Handlungsweisen Caesars, der City und des Senats erst versteht, als Caesar ihm sie selbst erklärt (S. 284, Z. 11–13). Die zweite Charaktereigenschaft, auf die in den Ausführungen Spicers angespielt wird, ist Rarus Sinn für private Angelegenheiten: Neben Caesars „Frauengeschichten“ räumt er vor allem seiner Beziehung mit Caebio großen Raum in seinen Aufzeichnungen ein, was zugleich Rarus’ Sensibilität als auch eine gewisse Naivität seinerseits offenbart (besonders bei der Suche nach Caebio auf dem Schlachtfeld von Pistoria). Rarus’ fehlender Realitätssinn ergänzt sich mit seinem ausbleibenden Verständnis für Caesars Strategien und Geschäfte. Rarus selbst scheint sich dieser seiner Charaktereigenschaften nicht bewusst zu sein, glaubt er sich doch anderen Sklaven und vor allem den Klienten Caesars überlegen (S. 202, Z. 25–30). Gerade das Zusammenwirken dieser drei zentralen Eigenschaften des Rarus erklärt dessen Bedeutung für den Roman: Nicht nur wird der Leser durch die inhaltliche Komplexität der Tagebuchaufzeichnungen zum konzentrierten Verfolgen der Handlung gezwungen; auch mit der naiven und teils gar ignoranten, wirklichkeitsfremden Haltung des Rarus gelingt es Brecht, eine Gruppe der Gesellschaft darzustellen, die die Not der unteren Bevölkerungsschichten nicht nachvollziehen kann. Gaius Julius Caesar Die Hauptfigur in Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, Gaius Iulius Caesar selbst, tritt nie persönlich innerhalb des Romans in Erscheinung: Stets wird er indirekt charakterisiert, entweder durch die Gesprächspartner des Ich-Erzählers in der Rahmenhandlung oder durch Rarus’ Tagebuchaufzeichnungen (Beschreibungen der Geschäfte Caesars, Wiedergabe von Dialogen, Reden etc.). Caesar wird also zum Objekt der Darstellungen mehrerer Erzähler, die ihren Berichten jeweils unterschiedliche subjektive Prägungen geben. Der Schwerpunkt der Romanhandlung wird von vornherein durch die Wahl der Erzähler auf Caesars finanziellen Geschäfte festgelegt, Rarus als Sekretär Caesars, Spicer als Bankier des Politikers. So nehmen auch Caesars Finanzen und seine geschäftlichen Kalkulationen einen zentralen Raum innerhalb der Charakterisierung seiner Person ein. Caesars chronische Schuldenlast ist ein immer wiederkehrendes Motiv des Romans. Der anfänglich beschriebene „sorglose Umgang“ mit Geld wird fast zur Verschwendungssucht gesteigert (S. 201, Z. 11–23, S. 252, Z. 4–5). Allerdings handelt Caesar bei allen geschäftlichen Unternehmungen, ungeachtet ihres jeweiligen Erfolges, berechnend und gelassen (S. 286, Z. 1–4). Besonders beispielhaft erweist sich in dieser Hinsicht auch Caesars „Komödie“ im Senat (S. 289, Z. 7 bis S. 299, Z. 3). Die Politik ist für Caesar folglich insgesamt nur Mittel zum Zweck, um seine Schulden und seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren. Caesars Verhältnis zu Crassus beruht wiederum unmittelbar auf Caesars geschäftlichen und politischen Kalkulationen, wobei Crassus von Caesar instrumentalisiert wird. In der engen Verknüpfung von Finanzen und politischem Kalkül erscheinen die chronischen Schulden Caesars als bewusste Strategie (S. 307, Z. 35–38, S. 308, Z. 4–14). Für Caesar also die Schulden Mittel zum Zweck, das heißt Instrument des politischen Aufstiegs. Diese Schuldenstrategie erscheint als ein Element von Caesars Opportunismus, der ebenfalls seiner politischen Kalkulation entspringt: Solange ihm der politische Erfolg garantiert bleibt, verhält er sich der politischen Richtung gegenüber gleichgültig. Er ändert seine Haltung stets nach der Seite des (vermeintlichen) Siegers, mal unterstützt er die City, mal Catilina, mal das Volk, letztlich agiert er aber immer zugunsten seiner eigenen Ziele, in denen die Politik als „Objekt“ finanzieller Interessen erscheint. Weiterhin bedeutsam für eine Charakterisierung Caesars erscheint sein Verhältnis zur City und zum Volk (S. 173, Z. 7, S. 343, Z. 10–11, S. 342, Z. 21–35). Die Einstellung des Volkes zu Caesar ist insofern interessant, als sie teils als Glorifizierung, teils als Verunglimpfung Caesars in gewissem Kontrast zu Rarus’ Caesarbild steht; somit bildet sie eine wichtige weitere Ebene der Caesardarstellung im Roman. Durch Unmut und Wankelmut bleibt das Volk demnach ein unförmiger Mob, der sich leicht durch geschickte Demagogie verführen lässt. Caesar selbst bemüht sich schließlich besonders vor den Konsulatswahlen um die Gunst des Volkes, macht Zugeständnisse (S. 293, Z. 3–9) und veranstaltet Spiele, ohne allerdings wirkliches Interesse für die Nöte des Volkes zu hegen. Ähnlich ambivalent gibt sich Caesars Verhältnis zur City: Caesar blieb zunächst lediglich ein „Handlanger“ der City (S. 177–178), später hingegen löst er sich aus seinen Bindungen und macht auch die City in Teilen zu einem Machtinstrument. Es erweist sich für den Leser im fortschreitenden Romanverlauf kaum noch als differenzierbar, wer wen instrumentalisiert und wer wessen „Spielball“ bleibt. Erst bei der allgemeinen Aufklärung der Geschehnisse durch Rarus am Ende des zweiten Buches verdeutlicht sich die Überlegenheit Caesars (S. 284–287). Immer dann, wenn Caesar sich in eine Lage gebracht sieht, die es nötig macht, sich eine Weile aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, begibt er sich auf eine ausgiebigere Reise: Nach seinem Scheitern als Anwalt in seinen jüngeren Jahren begibt er sich bekanntlich nach Rhodos; als Caesar wegen der Umtriebe Catilinas und seiner Beteiligungen daran in politische und auch finanzielle Bedrängnis gerät, zieht er sich in seine Statthalterschaft nach Spanien zurück (S. 310–313). So hängen auch diese „Fluchten“ Caesars unmittelbar mit seinen politischen und finanziellen Planungen und Berechnungen zusammen. Das Fazit, welches Rarus zwischenzeitlich über Caesars politische Fähigkeiten zieht (S. 286, Z. 35 bis S. 287, Z. 4), ist nach Ansicht Spicers zu pessimistisch (S. 307, Z. 25–28). Hans Dahlke ordnet Caesar in einer Reihe mit den „Brecht-Gestalten“ Mackie Messer und Arturo Ui ein und belegt den thematischen Zusammenhang des Caesarromans mit der Dreigroschenoper. Die Darstellung der Caesarfigur beschreibe, so Dahlke, bei Brecht ein „beispielhaftes Gangstertum“. Aus der Darstellung Caesars als „Verbrecherfigur“ (u. a. S. 342, Z. 4–5), ergibt sich notwendig die Vielschichtigkeit der Caesarfigur. Das „Gangstertum“ Caesars ist verbunden mit seiner Gerissenheit, die dadurch verstärkt wird, dass Rarus nicht immer die Vorhaben des Politikers durchschaut und auch dem Leser erst spät die ganze Raffinesse der mit Demagogie und finanziellem Kalkül verbundenen politischen Agitation Caesars offenbar wird. City und Senat Der Machtkampf zwischen City und Senat, der vornehmlich in ökonomischen Interessenkonflikten begründet liegt, bildet eine zentrale Thematik des brechtschen Caesarromans. Die sogenannte „City“ setzt sich aus den reichen Bankiers und Kaufleuten Roms zusammen und wird als „demokratisch“ charakterisiert. Die „City“ repräsentiert eine Rolle innerhalb des Romans, die die Unfähigkeit der reichen Handwerksschicht, selber gegen die Bedrohung der Republik einzuschreiten, verdeutlicht: Hier wechseln sich Unentschiedenheit mit Profitgier und Feigheit ab. Die City ist sich zwar eher der Gefahr durch Catilina bewusst als beispielsweise das römische Volk, erweist sich aber in den entscheidenden Situationen als handlungsunfähig. Die fehlende Führung innerhalb der City lässt sie letztlich in ihrer inneren Zersplitterung den Machtkampf mit dem Senat verlieren (soweit es aus dem von Brecht ausgeführten Teil des Romans entnehmbar ist). Der ökonomische und auch politische Konkurrent der City personifiziert sich in den Großgrundbesitzern, die auf dreihundert patrizische Familien verbreitet seit den Anfängen der Republik die politische Macht unter sich aufteilen, vornehmlich in Form von Magistraturen und Sitzen im Senat. Obwohl der Senat Teil einer (scheinbar) demokratischen Republik ist, interessiert er sich nur für die Erhaltung seiner eigenen Macht, die mit dem Erhalt der Republik einhergeht. So ist auch die Niederschlagung und Vernichtung Catilinas durch den Senat Produkt dieser übergeordneten wirtschafts- und machtpolitischen Interessen. Dem Senat ist aber offenbar genau so wenig wie der Bevölkerung die Gefährdung der Republik und seiner eigenen Machtposition bewusst. Für Brecht bietet sich also schließlich über die Charakterisierung des Senats die Möglichkeit, die tatsächliche brüchige Struktur einer Republik darzustellen, die nur mehr oder minder von einem Tag zum nächsten am Leben erhalten wird, ohne dass dem Gros der Bevölkerung und auch den Machthabern bewusst zu sein scheint, wie nahe der „Untergang“ des republikanischen Systems bevorsteht. Übrige Personen In der Haupthandlung des Romans werden noch einige weitere historische Personen beschrieben, so etwa Gnaeus Pompeius Magnus, Marcus Licinius Crassus, Marcus Tullius Cicero und Lucius Sergius Catilina. Allen diesen Figuren ist gemein, dass sie auf ihre Weise im politischen Prozess scheitern und Objekte des Machtkampfes innerhalb der Republik werden. Dabei stilisiert Brecht sie teilweise auch zu bloßen Machtinstrumenten Caesars, des Senats oder der City herab. Pompeius erscheint von vornherein als unpopulär und vor allem unentschieden und wie bei Caesar sind auch bei Pompeius die Beweggründe seiner politischen Handlungen immer wieder finanzieller Natur. Allerdings gibt sich Pompeius nicht so geschickt wie Caesar, weshalb er schließlich politisch scheitern muss. Pompeius ist nach dem Konzept Brechts letztlich nur ein Wegbereiter für Caesar; er beginnt schließlich den Ruin Roms und Italiens mit dem Krieg in Kleinasien, Caesar vollendet ihn mit dem Gallischen Krieg (S. 352, Z. 6–10). Der in Rarus’ Aufzeichnungen erwähnte Crassus repräsentiert den historischen Marcus Licinius Crassus, der unter seinen Zeitgenossen für großen Reichtum bekannt war und sich am ersten Triumvirat beteiligte. Bei Rarus wird Crassus vornehmlich als Partner und Geldgeber Caesars beschrieben. Crassus repräsentiert beinahe stereotyp den Charakter des reichen Immobilienbesitzers und Geschäftsmannes, der schwitzend vor Hitze und barocker Leibesfülle frei von Menschlichkeit und Verständnis den Kopf schüttelt über die Klagen der Armen und der den eigenen Intellekt an seine Grenzen führt bei dem Versuch, neue und schnelle Methoden der Geldanhäufung zu erdenken. Ähnlich wie Rarus stellt auch Crassus demnach einen Vertreter jener Gesellschaftsgruppe dar, der das Einfühlungsvermögen für die Nöte unterer sozialer Schichten fern liegt. Catilina personifiziert die Diktatur und den Umsturz der republikanischen Ordnung. Catilina gibt sich gleich zu Beginn in Rarus’ Aufzeichnungen als Mann des Volkes. Allerdings ist er weder der Popular, der er zu sein vorgibt, noch versteht er es wie Caesar mit geschickten Kalkulationen nicht nur die Volksunruhen, sondern auch und vor allem die Differenzen zwischen City und Senat auszunutzen. Catilina plant im Gegensatz zu Caesar sein Vorhaben weniger pragmatisch und zukunftsbezogen, weshalb seine Umsturzbestrebungen abschließend scheitern. Dass Catilina zwar scheitert, die von ihm ausgegangene Gefahr jedoch nach seinem Tod von vielen Seiten falsch eingeschätzt wird, verdeutlicht die unsichere Position der Republik. Das Bewusstsein für diese Unsicherheit ist offenbar nur bei Cicero vorhanden, der ständig und teils hysterisch vor Catilina warnt. Man verlässt sich größtenteils auf den Konsul, das Volk wählt demokratisch und nach dem Sturz Catilinas wähnt man die Republik in Sicherheit. Von einer Diktatur Caesars wird zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht gesprochen. In Rarus’ Aufzeichnungen erscheint der Konsul Cicero für das römische Volk als die Inkarnation der Republik und der Demokratie: Man versteht ihn als Gegenpol zu Catilina, in der Überzeugung, dass es keine Diktatur geben könne, „weder von rechts noch von links“, solange Ciceros Macht in Rom ungeschmälert bleibe (S. 213, Z. 25–29). Ciceros Vorgehen gegen Catilina bestärkt seine Charakterisierung als eines Politikers, der über alles bestrebt ist, einen möglichen Untergang der Republik durch die Umtriebe Catilinas zu verhindern. Zum einen ist Cicero der „Schutzherr“ der republikanisch-demokratischen Ordnung Roms; unantastbar und zielstrebig sorgt er für das Wohl der Republik. Zum anderen aber zeigt sich in Rarus’ Aufzeichnungen der „wahre“ Charakter Ciceros. Er mag zwar die Republik verteidigen; dass sein nervöser „Aktionismus“ gegen Catilina in Brechts Darstellung lediglich Auswuchs seiner Feigheit und damit vermutlich politischer Versagensängste zu sein scheint, gibt Ciceros Figur aber letztlich der Lächerlichkeit preis. Cicero gelingt es zwar, mit hohem Kraftaufwand seinerseits den Umsturz Catilinas zu verhindern; Caesar aber, den Brecht seinen Aufzeichnungen zufolge als den eigentlichen Ruin der Republik Roms konzipiert hatte, entwindet sich geschickt einer möglichen Strafverfolgung, womit die Rettung der Republik auf lange Sicht gescheitert ist. Die Sprache des Romans Der Sprachduktus des Romans ist in seiner Gesamtheit situationsgebunden. Zunächst einmal unterscheidet sich vor allem die Wortwahl je nach Geschehen und Romanfigur. Die Sprache des Erzählers gestaltet sich sehr wortreich und präzise. Seine Berichte enthalten häufig Landschaftsbeschreibungen, insbesondere der Güter Spicers. Das von Seiten des Erzählers benutzte Vokabular ist weitgehend frei von umgangssprachlichen Ausdrücken und darüber hinaus geprägt von zahlreichen termini technici, die den jungen Anwalt gebildet erscheinen lassen (S. 191, Z. 35–40). Rarus’ Sprache hingegen ist geprägt von einigen umgangssprachlichen Ausdrücken und unterscheidet sich auch ansonsten vom Niveau des Ich-Erzählers: Parataxe wechselt sich mit hypotaktischen Satzkonstruktionen (häufig Aneinanderreihungen) ab, die von Fachtermini geprägt sind, welche sich aber auf den ökonomischen Bereich beschränken. Allerdings ist die Satzstruktur in den Tagebuchaufzeichnungen bei hypotaktischen Sätzen insofern verhältnismäßig einfach gehalten, als Rarus auch diese Sätze stets direkt und häufig ohne Konjunktionen mit dem Subjekt des Hauptsatzes einleitet. (S. 339, Z. 12–16). Dass die von Rarus benutzten Fremdwörter sich vornehmlich auf den ökonomischen Bereich beschränken, unterstreicht seine Charakterisierung als Caesars Sekretär, der zwar mit den finanziellen Unternehmungen des späteren Diktators vertraut ist, darüber hinaus aber kein Verständnis für die Hintergründe jener Geschäfte zeigt. Typisch für Rarus’ Artikulation sind auch die Bezeichnungen führender Politiker und Geschäftsleute nach deren Charakter: Von Crassus wird beispielsweise des Öfteren als dem „Schwamm“ gesprochen (S. 209, Z. 11), der ehemalige Konsul Lentulus wird als die „Wade“ bezeichnet (S. 239, Z. 25–33). Daneben legt Rarus in seiner Darstellung auch besonderen Wert auf die Beschreibung sowohl der äußeren Erscheinung einzelner Personen als auch deren Gewohnheiten und privater Beziehungen. Für den Roman ist die hierdurch erzeugte Subjektivität der Darstellung entscheidend: Einerseits wird eine besondere Anteilnahme des Lesers am Geschehen durch die lebendige Erzählweise ermöglicht und somit auch die Glaubhaftigkeit der Tagebuchaufzeichnungen gesteigert. Daneben bedingt der Tagebuchcharakter bei Rarus eine besondere Schamlosigkeit der Darstellung, die wiederum ihrerseits letztlich Rarus’ Glaubwürdigkeit zuträglich ist. Insgesamt ist der Roman schließlich geprägt von allgemeinen Begrifflichkeiten aus der modernen Sprache wie „Trust“, „City“, „demokratisch“ oder „Sturmrotten“. Die Funktion dieser Anachronismen erweist sich als nicht ganz eindeutig. Brecht wollte zwar keine Analogie zu den Entwicklungen der Weimarer Republik schreiben, der Roman beinhaltet aber bewusste oder unbewusste zeitgeschichtliche Anspielungen (S. 515). Da die Entlarvung der Caesarlegende und damit des Diktatorenbildes allgemein (S. 171, Z. 26–28) mit dem Anspruch verknüpft ist, die zeitgeschichtlichen Geschehnisse zu erklären, ist man trotz der Einschränkung von Brechts Seite gezwungen, ihm eine gewisse Analogiebildung zu unterstellen; ein anderer Erklärungsansatz für die sprachlichen Anachronismen lässt sich in der Sekundärliteratur nicht finden. Interpretation Leitmotive Der gesamte Roman Brechts beinhaltet mehrere spezifische Leitmotive, die in ihrer Gesamtheit von zentraler Bedeutung für den Geltungsanspruch des Werkes sind. Diese Leitmotive besitzen ihre Basis einerseits in der sozialistischen Haltung Brechts, andererseits in den in seinen Schriften allgemein vorhandenen literarischen Grundkonzeptionen; erstere ist vornehmlich auf der inhaltlichen Ebene ausgeprägt, letztere auf der strukturell-kompositorischen. Die „Herrschaft des Monopolkapitals“ Die Herrschaft des Monopolkapitals stellt den zentralen Zankapfel in der Auseinandersetzung zwischen City und Senat dar. Der Inhalt dieser Auseinandersetzung ist der Kampf „zweier Fraktionen der herrschenden Klasse über die beste Methode der Ausbeutung“ des Ostens, das heißt der dortigen neuen römischen Provinzen; die Motive des Senats und der City unterscheiden sich dabei nach ihren jeweiligen ökonomischen Interessen. Der Senat besitzt seit der Vertreibung des letzten römischen Königs eine beinahe unangefochtene Macht in Rom, befindet sich also im Kampf mit der City in einer verteidigenden Position, während die City den Angreifer jener Macht darstellt. Das einfache Volk bleibt von den Auseinandersetzungen ausgeschlossen: Obwohl die City so tut, als unterstütze sie das Volk und wolle ihm zu seinem Recht verhelfen, handelt sie dennoch nur im eigenen (hauptsächlich finanziellen) Interesse und ist bereit, dafür das Volk zu verraten. Die „herrschenden Klassen“ sind also in der Romankonzeption Brechts die City und der Senat, die beide als rivalisierende Gruppen der Bourgeoisie zu bezeichnen sind. Verbrechen und Macht An der Figur Caesars, verdeutlicht sich die Verbindung von Verbrechen und Macht. Die Ambivalenz Caesars und sein Opportunismus bedeuten die zentralen Elemente des „Gangstertums“ in Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. Die Gerissenheit, die Caesar hierbei an den Tag legt, stellt dabei die Basis seines Verbrechertums dar, das in der systematischen Instrumentalisierung des römischen Volkes besteht: Brecht zeigt, wie „die herrschende Klasse sich bei ihrem Bestreben, die Macht auszuüben, der vielfältigsten kriminellen Delikte schuldig“ macht; diese Verbrechen bestehen neben Verrat am Volk und Krieg gegen andere Völker auch in Erpressung, Mord und Hochverrat. Die „Enthüllung des Verbrechens“ als zentrales Motiv in Brechts Roman ist ein wesentliches Element der satirischen Wirkung des Werkes. Das Verbrechen ist letztlich eine „von der Hochfinanz angestiftete und bezahlte politische Unternehmung“. Verbrechen und Macht bedingen sich so letztlich gegenseitig: Das Verbrechen wird ausgeübt von Inhabern der Macht, die Macht aber erhält und vermehrt sich durch Verbrechen; das Verbrechen wird dabei von der herrschenden Klasse auf dem Rücken der beherrschten Klasse ausgetragen. Geld und Ökonomie Der ökonomische Aspekt spielt eine zentrale Rolle im brechtschen Roman; die Charakterisierung Caesars und die Entlarvung seiner Gestalt erfolgt hauptsächlich über Caesars „Geschäfte“. Gleichzeitig bildet der stetig fortschreitende wirtschaftliche Ruin Roms die Basis für Caesars politischen Aufstieg; Geld und wirtschaftliche Kalkulation bleiben dabei vorausgesetzt. Die Wirtschaft der Republik erscheint aus mehreren Gründen desolat: Zunächst basiert der ökonomische Erfolg in der Landwirtschaft auf einer breit ausgebauten Sklavenwirtschaft; wer sich keine Sklaven leisten kann, bleibt in der Landwirtschaft auf Kleinanbau beschränkt. Die Sklavenwirtschaft steht aber gleichzeitig in Konkurrenz zu der ärmeren Handwerksschicht in der Stadt, die ihre Existenz durch die Sklaven als billige Arbeitskräften gefährdet sieht. So bedeutet gerade der Krieg in Kleinasien eine Belastung, da der Markt durch die Eroberungsstrategie des Senats mit neuen Sklaven überschwemmt wird (S. 185–186). Durch den Bevölkerungsanstieg und die hohe Arbeitslosigkeit herrscht ein großer Mangel an Getreide, was zu einer Steigerung der Kornpreise und der Armut im Volk führt. Ein weiteres Problem liegt dabei in der Lösung der Bodenfrage, die eine Neuverteilung von Land als Ackerboden an die ärmeren, vom Krieg geschädigten Bauern und auch Veteranen garantieren soll; der Senat (als Repräsentant der Großgrundbesitzer) widersetzt sich hier den Forderungen des Volkes. Die zunehmende Verelendung und der ökonomische Ruin setzen sich fort in einer sich stetig steigernden Inflation, deren Auswirkungen sich in dem Sturm auf die Wechselstuben widerspiegeln (S. 242, Z. 33). Schließlich kommt es zu Aktienstürzen und zum Börsenkrach, der Ruin der römischen Wirtschaft befindet sich auf einem ersten Höhepunkt (S. 283, S. 286). Caesars politischer Aufstieg beruht schließlich auf der direkten Verbindung von Geld und Ökonomie: Caesar selbst nämlich bleibt stets Teil der „verbrecherischen herrschenden Klasse“, auch wenn seinen Geschäften nicht immer Erfolg beschieden scheint und sich seine Schulden vermehren. Die stete Ignoranz des Senats und der City in Bezug auf das zunehmende Elend der römischen Unterschicht sowie die Profitgier der herrschenden Klassen erhebt sich so zu einem zentralen Motiv in Brechts Roman. Die „Herrschaft des Monopolkapitals“ (das heißt der Großgrundbesitzer im Senat sowie der City, siehe oben) in Verbindung mit der „Ausbeutung“ der armen Bevölkerungsgruppen lässt sich als Analogiebildung zur Unterdrückung der Arbeiterklasse im Kapitalismus betrachten; die Sklaverei ist dabei für die Großgrundbesitzer Mittel zum Zweck, das heißt neben einer rücksichtslosen Eroberungsstrategie im Krieg Garantie für größtmöglichen Profit. Caesar letztlich stellt sich so in den Dienst der ökonomischen Profitgier von City und Senat, die ihn mit ihrem „ergaunerten“ Geld dafür bezahlen. „Demokratie“ – Herrschaft des Volkes? Die „Demokratie“ der römischen Republik ist einer eindeutigen Relativität unterworfen: Durch die Intrigen und die verbrecherische Ausbeutung des Volkes durch Senat und City wird die reale Machtposition der Plebs allgemein infrage gestellt. Darüber hinaus ist die Machtverteilung im Senat durch die „Vetternwirtschaft“ der Adelsfamilien ebenfalls ein Zeichen für die „Aushöhlung“ der Demokratie, was durch die Machtposition des Senats verstärkt wird. Demgegenüber herrscht im Volk offensichtlich keine besondere Hochschätzung der Demokratie: Die Interessen des Volkes beständen in Arbeit, Lebensunterhalt, Wohnung und Familie (S. 232, Z. 25–27). Das Elend des Volkes erscheint als so groß, dass es sich die (wenn auch geringe) Macht abkaufen lässt. Die Demokratie Roms erscheint bei Brecht folglich als ausgehöhlte Scheindemokratie, die sich wie ein (käufliches) Mittel zum Zweck darbietet. In Zusammenhang mit der Gattung des historischen Romans der 1930er Jahre kann vom Zweck der Bloßlegung der „vermeintlichen Antriebe der Hitler und ihrer Gefolgsleute und ebenfalls“ der „Reaktionen der von ihnen irregeleiteten Volksschichten“ gesprochen werden. Die „Demokratie“ wird letztlich ebenfalls Instrument der ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse; sie hat in den Kämpfen zwischen City und Senat „die Funktion, den kleinen Mann für die Geschäfte einer Fraktion einzuspannen“. Brecht übt hiermit eine indirekte Kritik an der (seiner Meinung nach) kapitalistischen („Schein-“) Demokratie der Weimarer Republik, die für ihn neben der Machtausübung im Faschismus eine Form der „Diktatur der Bourgeoisie“ darstellten. Die „Perspektive der anderen Seite“ Brechts „Perspektive der anderen Seite“, die eine zentrale Rolle in Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar spielt, äußert sich in seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ in komprimierter Form. Die bereits von Karl Marx entwickelte und von Brecht aufgegriffene „Perspektive der anderen Seite“ beschreibt ein Prinzip der historischen Betrachtung, nach dem die Geschichte nicht als Geschichte der „Großen“, das heißt der „Herrschenden“, sondern als Geschichte der „Beherrschten“ verstanden wird. Inwiefern dies für Brechts Roman ein weiteres zentrales Darstellungsmotiv bildet, zeigt sich zum einen in der Konzentration auf die Beschreibung der „Unterdrückung der Beherrschten“ (sowohl Volk als auch Sklaven, Spicers Landgut u. Ä.). Andererseits verdeutlicht es sich aber auch in der Wahl des Rarus als Erzähler der Rahmenhandlung: Rarus besitzt zwar als Caesars Sekretär eine herausgehobene Stellung, steht aber dennoch in stetem Kontakt zu den niederen Bevölkerungsschichten (über seine Liebschaft mit Caebio, über das Klientelwesen Caesars sowie über seine Meinungsumfragen vor den Konsulatswahlen 694). Die „Perspektive der anderen Seite“ und die damit verbundene historische Sichtweise erweisen sich damit letztlich insofern als wesentlich für Brechts Geltungsanspruch, als sie eine Entschleierung der Caesarlegende aus Sicht des einfachen Volkes ermöglichen. Letztere sieht ihre Notwendigkeit in der Ablösung von dem falschen, konstruierten Geschichtsbild der Bourgeoisie. Der „V-Effekt“ Ein weiteres Mittel der Entschleierung der Caesarlegende ist der vor allem aus Brechts epischem Theater bekannte „Verfremdungseffekt“, durch den laut Hans Dahlke die Figur Caesars „der Lächerlichkeit preisgegeben und die Caesar-Legende entlarvt wird“. Dieser Entlarvung entspricht auch die merkliche Entwicklung des Ich-Erzählers der Rahmenhandlung. Zunächst ärgert sich der junge Anwalt über die schamlose Behandlung Caesars durch Spicer. Nach der Lektüre der ersten Schriftrolle des Rarus beginnt er allerdings, skeptisch zu werden gegenüber dem Heroentum der Caesargestalt. Die Entwicklung des Erzählers kann mit der Entwicklung des Lesers gleichgesetzt werden. Die Rolle der antiken Geschichtsschreibung Aus dem Zusammenwirken von „V-Effekt“ und der „Perspektive der anderen Seite“ lässt sich die Rolle der antiken Geschichtsschreibung innerhalb des Romans erschließen. An mehreren Stellen des Romans ist von den römischen Historikern die Rede (S. 169, Z. 25–26, S. 172, Z. 15–17). Die antiken Geschichtsschreiber hatten wesentlich zur Glorifizierung Caesars beigetragen; ihre Widerlegung musste also für Brecht ein zentrales Interesse darstellen, um die Entlarvung der Caesarlegende zu gewährleisten und sämtliche zeitgeschichtliche Berufungen auf die „ruhmreiche“ Diktatur Caesars zunichtezumachen. Im Sinne des brechtschen Geltungsanspruchs hat Brecht letztlich eine „Richtigstellung“ der (in seinem Sinne zu positiven „bürgerlichen“) antiken Geschichtsschreibung beabsichtigt; dieser Korrektur hat er mit gewissen Modifikationen und Ergänzungen Ausdruck verliehen. Brechts Geltungsanspruch: Der Caesar-Roman als Analogie zur Zeitgeschichte? Ein typisches Merkmal der historischen Romane der Zwischenkriegszeit besteht aus dem Versuch, gegenwärtige politische Ereignisse wie den Aufstieg des Nationalsozialismus und das Scheitern der Weimarer Demokratie zu erklären. Die „Korrektur“ des Caesarbildes hin zum Negativen verbindet sich mit der Entschleierung der verklärten Sicht auf die sich stetig etablierende Diktatur in Deutschland (und auch Italien); schließlich erklärt der Ich-Erzähler Caesar bereits zu Beginn des Romans zum Urbild des Diktators. Die Not des Volkes und der wirtschaftliche „Ruin“ der Republik gehen schließlich einher mit dem Aufstieg der Diktatur. Von dem Versuch der Erklärung zeitgeschichtlicher Geschehnisse ausgehend liegt dem Caesar-Roman ein Darstellungsmuster zugrunde, das allgemein die Entstehung einer Diktatur aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch eines Staates beschreibt. Letzterer wird dabei nach der Theorie des Klassenkampfes verursacht durch die „Herrschaft des Monopolkapitals“ (siehe oben) und die Unterdrückung der Arbeiterklasse. Caesar selbst bildet mit seinem „Gangstertum“ ein Element jenes Prozesses. Das Thema des Romans ist offensichtlich nicht im Eigentlichen nur die Person Caesars, sondern vielmehr die Klassensituation und der ökonomische Zusammenhang. Entstehungsgeschichte Vorgeschichte des Romans Bereits einige Zeit vor dem Beginn der eigentlichen Arbeit am Caesar-Roman 1938 beschäftigte sich Brecht mit der Caesarfigur: In einem Brief Brechts an Karl Korsch (1937/38) ist von Brechts Plänen zu einem Caesar-Theaterstück in Paris die Rede. Die Beschäftigung mit Shakespeares Julius Caesar bildet dabei die Grundlage für dieses Vorhaben, das Brecht wahrscheinlich bereits vor 1929 in den Sinn kam. 1932 diskutierte er mit Fritz Sternberg den Plan zu einem Stück, in dessen Mittelpunkt die „Tragödie des Brutus“ stehen sollte. Diese hätte darin bestanden, dass mit dem Mord an Caesar die Diktatur nicht beseitigt worden wäre, sondern „Rom tauscht[e] für den ermordeten großen Diktator nur einen schlechteren kleinen ein“. Brecht war an einer „soziologischen“ Modifikation der Tragödie gelegen, die sich allerdings als schwierig erwiesen hat. Es mochte nur schwerlich möglich gewesen sein, aus dem dramatischen Stoff Shakespeares eine gesellschaftliche Begründung für Aufstieg und Fall des Diktators herauszuarbeiten. Um die eigentliche Ausgestaltung des Stücks zu erleichtern, entschließt sich Brecht zu gewissen Vorarbeiten: Neben dem unvollendeten Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar verfasst er darüber hinaus die kurze Erzählung Caesar und sein Legionär (1942). Da der Roman in kompletter Form vermutlich nahe achthundert Seiten umfasst hätte, wäre vermutlich auch ein Theaterstück entsprechend umfangreich ausgefallen. Letztlich liegen die Anfänge von Brechts Auseinandersetzung mit dem Caesarstoff im eigentlichen Sinn bereits in seiner Schulzeit, als er im Lateinunterricht erste Erfahrungen mit Caesar und Sallust sammelte (S. 509–510). Diese können als die Basis seiner intensiven Beschäftigung mit dem Diktator betrachtet werden, während die schriftstellerischen Anfänge des Romans in seiner Idee zur Neubearbeitung Shakespeares liegen. Die Quellen und Vorlagen Brechts Eine ausführliche Auflistung sämtlicher von Brecht verwendeten antiken und geschichtswissenschaftlichen Quellen findet sich im Kommentar der verwendeten Textausgabe, S. 518–522 (diese Auflistung basiert auf eigenen Aufzeichnungen Brechts); nachfolgend sind nur die wichtigsten kurz erläutert. Antike Autoren Neben Caesar selbst, dessen Schriften Brecht gleich zu Beginn der Rahmenhandlung schmäht (S. 167), lassen sich aus den antiken Geschichtsschreibern vor allem Sueton, Plutarch, Cassius Dio und Sallust als Quellen Brechts anführen. Brecht übernimmt Passagen teilweise wörtlich aus De coniuratione Catilinae von Sallust, beispielsweise Rarus’ Beschreibung seiner Reise auf das Schlachtfeld von Pistoria. Allerdings fehlten bei Sallust für Brechts Empfinden einige wesentliche Dinge in seiner Beschreibung, nämlich die menschlichen Umstände, das heißt das Elend des Schlachtgeschehens ob der kalten Jahreszeit und ähnliches. Darüber hinaus hat Brecht wegen gewisser Fragwürdigkeiten bzgl. des Wahrheitsgehalts bei Sallust vermutlich zunächst einen expliziten Bezug auf Sallust vermieden und dann später nachträgliche Ergänzungen vorgenommen. Bei Cassius Dio entnimmt Brecht neben kleineren Details besonders die Schilderung von Caesars Spanienaufenthalt, die bei Plutarch und Sueton nur in einigen Sätzen berücksichtigt wurde. Bei Plutarch und Sueton hat sich Brecht offenbar größere und genauere Anleihen gestattet: Zwar war auch gerade Plutarch nur in Maßen verwendungsfähig; sein hoher künstlerischer Anspruch ging des Öfteren zu Lasten des Realitätsgehaltes. Dennoch diente Plutarch gerade ob seiner umfangreichen Darstellungen solcher (Neben-)Figuren wie Cicero, Catilina u. Ä. neben Sueton als zentrale Quelle Brechts. Bei Sueton erweist sich wiederum dessen stoffliche Konzeption als interessant für Brecht: Es sind, so Dahlke, gerade die zahlreichen (teils auch pikanten) Einzelheiten, die Suetons Darstellung im Sinne von Brechts Geltungsanspruch wertvoll machen; schließlich tragen gerade sie zu einer verstärkten „Perspektive von unten“ bei. Letztlich allerdings macht die Seeräuberanekdote deutlich, wie Brecht einerseits die antiken Autoren zwar verwendet, andererseits aber im Sinne der Zielsetzung seines Romans eigene Modifikationen und Ergänzungen vornimmt. Diese Änderungen des historischen Stoffes begründen sich wiederum in dem allgemeinen literarisch-schöpferischen Anspruch Brechts. Monografien bürgerlicher Geschichtswissenschaftler Neben den historischen Quellen nutzte Brecht auch die Monografien in seinem Sinne „bürgerlicher“ Historiker wie Mommsen und Guglielmo Ferrero zur Ausgestaltung der historischen Basis des Romans: Brecht muss wohl die Anmerkung Mommsens, die Umstände der Catilinaverschwörung lägen im Dunkeln, als Herausforderung verstanden haben. Es stellte sich also für Brecht besonders reizvoll dar, diese These Mommsens zu widerlegen, indem er ökonomische Interessen als zentrale Hintergründe der Verschwörung hinstellt. Bemerkenswerterweise dient Mommsen Brecht aber gerade auch bei den Einzelheiten der Catilinarischen Verschwörung neben den antiken Autoren als Quelle seiner Beschreibungen, zum einen, da Mommsen einen umfassenden Epochenüberblick liefert, und zum anderen, weil er ausführlich die Ereignisse der Verschwörung beschreibt. Wesentliche Details in Hinblick auf die Sklavenwirtschaft sowie einige Einzelheiten hat Brecht von Guglielmo Ferrero übernommen. Die Charakterisierungen der Frauen Caesars finden ihre Basis offenbar bei Georg Brandes. Darüber hinaus diente Max Webers Römische Agrargeschichte zur Quelle Brechts; der soziologische Ansatz Webers zog offenbar Brechts Interesse auf sich. Brecht verwendete die bürgerliche Geschichtswissenschaft vornehmlich, um sich notwendige historische Kenntnisse anzueignen, und nicht, um sie positiv oder negativ zu bewerten. In der bürgerlichen Geschichtsschreibung (ebenso wie in den antiken Schriftstellern, siehe oben) fand Brecht einerseits eine wesentliche Materialbasis und Inspirationsquelle, andererseits fügte er aber prägende eigene Elemente und benutzte damit letztlich auch in diesem Punkt Historie als Mittel zum Zweck. Literarische Einflüsse – Der historische Roman in der Exilliteratur Bei der Konzipierung seines Werkes Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar als historischem Roman nahm Brecht gewisse Anleihen, aber auch bewusste Abgrenzungen zu anderen historischen Romanen der Exilliteratur vor. Als maßgebliche Beispiele sind Lion Feuchtwangers Josephus-Trilogie, Alfred Döblins Das Land ohne Tod sowie Heinrich Manns Henri-Quatre-Romane anzuführen. Diesen ist das Ziel gemein, vergleichbare historische Begebenheiten und Personen oder Gegenbeispiele zur Hitlerdiktatur historisch zu verarbeiten; dabei liegt ihnen eine personalistische Geschichtsauffassung sowie eine moralisch-psychologische Sichtweise zugrunde. Brecht übernahm die moralische Kritik, die sich auf die Hintergründe der Hitlerdiktatur übertragen ließ, kehrte sich aber gleichsam vom personalistischen Geschichtsbild der übrigen Exilliteratur ab: Sein Schwerpunkt liegt letztlich auf der Klassensituation und nicht auf Caesar als Einzelfigur. Philosophische und literaturtheoretische Einflüsse: Hegel und Feuchtwanger Der Lektüre von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und die Auseinandersetzung und schließliche Abwendung von Feuchtwanger kommt in Brechts Roman eine zentrale Bedeutung zu; aus Hegels Abhandlung ergaben sich für Brecht „die Entwicklungslinien der römischen Geschichte im Übergang zum Kaisertum“. Hegel, dessen Werk Brecht selbst als „unheimlich“ bezeichnete (S. 515), erregte Brechts Interesse offenbar durch sein Verständnis der großen Personen der Weltgeschichte, deren subjektiver Wille zum Objekt eines „Weltgesetzes“ gemacht werde. Brecht übernahm von Hegel daher die These, dass sich die Geschichte als „Interpretation ihrer [einzelner Individuen] zufälligen Interessen im Bezugsrahmen objektiv-gesellschaftlicher Systemzwänge“ vollziehe. Die Widersprüchlichkeit des objektiven Geschichtsprozesses, die sich in der hegelschen Dialektik offenbart, diente Brecht daher als indirekte konzeptionelle Inspiration für seinen Roman. Weiterhin gelegen kam Brecht Hegels Darstellung Roms als „Räuberstaat“, die ihm die Analogie zur „legalen“ Machtergreifung der Nationalsozialisten ermöglichte. Auch die Reflexionen Hegels über die Ästhetik scheinen Brecht beeinflusst zu haben; seine Randbemerkungen an seinen Hegel-Ausgaben bestätigen eine umfassende Beschäftigung auch mit Hegels kunsttheoretischen Ausführungen. Anders verhält es sich in Bezug auf Feuchtwanger: Brecht lag mit Feuchtwanger über die „Omnipotenz der Geschichtsschreiber“ im Oktober 1941 im Streit (S. 516). Diese Auseinandersetzung bildet einen Punkt in einer langen Kontroverse zwischen Brecht und Feuchtwanger über den Charakter von Geschichtsdichtung. Zwar blieb Brecht und Feuchtwanger offenbar das Interesse an der römischen Geschichte gemein. Feuchtwanger beschäftigte jedoch eher das Schicksal der Juden und die Gegnerschaft zum deutschen Faschismus, während Brecht seinen Schwerpunkt auf die ökonomischen Verhältnisse legte: So kritisierte Brecht am Josephus-Roman Feuchtwangers, dass die wirtschaftliche Seite und die Geschäfte der herrschenden Klasse außer Acht gelassen worden seien, die ja die zentrale Ursache für die Zerstörung Jerusalems gebildet hätten. Feuchtwanger spezialisierte sich, so Dahlke, auf die „individualpsychologische Durchleuchtung“; Brecht hingegen hasste Feuchtwangers eigenen Äußerungen zufolge „alles Psychologisieren“, es sei ihm auf eine „gleichnishafte Situation“ und auf die „Echtheit des Wortes“ angekommen. Die gegensätzlichen Auffassungen Brechts und Feuchtwangers werden dann abschließend noch einmal in ihrem jeweiligen Verständnis von der Funktion des Schriftstellers deutlich: Der Schriftsteller hebt bei Feuchtwanger „nicht nur die Flüchtigkeit der Geschehnisse auf, sondern auch ihre Vieldeutigkeit“, indem er „den Ereignissen Wirklichkeitscharakter“ verleiht. Dem Schriftsteller kommt also bei Feuchtwanger ein absoluter Wahrheitsanspruch zu. Brecht hingegen hat sich eine Darstellungsweise geschaffen, die zur Entlarvung der Caesarfigur möglichst viele unterschiedliche unkommentierte Individualurteile zu Wort kommen lässt. Damit gewährleistet Brecht eine Mischung aus subjektiven, falschen Aussagen zu Caesar und objektiven, wahren. Mit dieser Methode ist Brecht der historischen Wirklichkeit näher gekommen als Feuchtwanger. Rezeptionsgeschichte Die Rezeptionsgeschichte des Caesar-Romans beschränkt sich auf einige vereinzelte Aufsätze zum Vorabdruck von Buch 2 Unser Herr C. in Sinn und Form. Zu den wesentlichen drei Besprechungen des Romans zählt zunächst Ernst Niekischs Schrift „Heldendämmerung. Bemerkungen zu Brechts Roman ‚Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar‘“, der zusammen mit dem zweiten Buch in Sinn und Form (siehe oben) erschien. Niekisch versucht eine allgemeine Definition des Begriffs „Heldentum“ und bezeichnet den Roman als „Entlarvungsliteratur“, ähnlich wie Sartres Die Fliegen. Als zweites ist Max von Brücks Aufsatz Zweimal Caesar zu nennen. Dieser zieht einen Vergleich mit Thornton Wilders The Ides of March und stellt den Versuch Brechts zur Entlarvung der Caesarfigur als gescheitert dar. Den letzten Essay bildet Wolfgang Grözingers Besprechung Bert Brecht zwischen Ost und West, die sich auf das gesamte Sonderheft von „Sinn und Form“ bezieht und den Roman als „Fleißaufgabe“ bezeichnet. Einen wesentlichen Teil des Aufsatzes macht letzthin auch nicht mehr eine eigentliche Betrachtung des Caesar-Romans, sondern vielmehr von Niekischs Anmerkungen aus. Allen genannten Autoren waren problematischerweise nur das zweite Buch und weder die übrigen Buchteile noch Brechts Aufzeichnungen dazu zugänglich (S. 528). Eine nennenswerte Wirkung der Veröffentlichung des zweiten Romanbuches hat es insgesamt nicht gegeben (S. 528). Der „hauptsächlich als Autor der Dreigroschenoper bekannte“ Brecht ist in Sinn und Form gleichermaßen als Dramatiker, Lyriker und Romancier vorgestellt worden (S. 528). Gerade wegen Brechts großen Bekanntheitsgrads lässt sich weitgehend ausschließen, dass die geringe Rezeption in einem ebenfalls geringen Bekanntheitsgrad des Romanfragments begründet gewesen ist. Unter Umständen bleiben zwei Aspekte für die geringe Wirkung des Romans zu nennen, nämlich zum einen, dass Brecht gerade als Dramatiker Bedeutung erlangt hatte und man deshalb seinen Roman mehr als einen Versuch abtat. Zum anderen lässt sich in Verbindung damit der fragmentarische Charakter des Romans anführen, der den Versuchscharakter des Werkes zu betonen scheint, aber auch eine vollständige Kenntnis der Gesamtschrift verwehrt: Schließlich erlaubt eine unvollständige Lektüre kein umfassendes Urteil über den Roman. Unter der Regie von Jean-Marie Straub und Danielle Huillet entstand 1972 als deutsch-italienische Co-Produktion der Film „Geschichtsunterricht“, der die bisher einzige Verarbeitung des brechtschen Romans darstellt. Der Film handelt von einem jungen Mann aus der Gegenwart, der mehrere römische Bürger aus antiker Zeit über den Aufstieg Caesars interviewt. Der Film ist von künstlerischen und dokumentarischen Elementen geprägt; das Drehbuch basiert auf Brechts Roman. Kritik Inhaltliche Ungenauigkeiten Bei genauerer Lektüre insbesondere der Rahmenhandlung von Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar offenbaren sich gewisse größere und kleinere inhaltliche und historische Ungenauigkeiten. Es stellt sich die Frage, warum der Ich-Erzähler anscheinend keine eigenen Erfahrungen bzgl. Caesars politischer Agitation vorweisen kann. Außerdem sind offensichtliche Widersprüche in der Festlegung des Zeitpunktes der Rahmenerzählung vorhanden: Die Bemerkung des Erzählers, dass Caesar gerade zwanzig Jahre tot sei (S. 171, Z. 15), veranlasst ihn zunächst, die Rahmenhandlung im Jahr 24 v. Chr. anzusetzen. Allerdings deutet der Erzähler an anderer Stelle an, dass dreißig Jahre seit dem Aufstandsversuch Catilinas vergangen seien, woraus sich das Jahr 33 v. Chr. als Zeitpunkt des Berichtes festlegen ließe. Daraus ergibt sich wiederum ein weiteres Logikproblem des Textes: In den anfänglichen, allgemeinen Bemerkungen des jungen Anwalts zu Caesars Person erklärt er, die Monarchen hätten seinen (also Caesars) „erlauchten Namen“ den ihrigen hinzugefügt (S. 171, Z. 24–25). Im Jahr 33 v. Chr. allerdings liegt das Ergebnis des Bürgerkrieges nach Caesars Tod noch offen, wie Dahlke anmerkt. Folglich gibt es also noch gar keine Monarchie und vor allem auch nicht mehrere Monarchen, die sich den Namen Caesars aneignen könnten. Der Erzähler greift also an dieser Stelle in eine Zukunft voraus, die er unter Umständen gar nicht kennt. Selbst wenn man annimmt, dass er die Niederschrift seiner Erlebnisse unternommen hat, als Augustus bereits als Monarch an der Macht war, kann er nicht so alt geworden sein, um die allgemeine Etablierung von Caesars Namen als Fürstentitel zu erleben. Für diese inhaltlichen und logischen Ungereimtheiten lassen sich auf den ersten Blick zwei Begründungen finden: Zum einen wäre es möglich, dass Brecht den Roman noch einmal überarbeiten wollte und dann auch diese zeitlichen und historischen Fehler korrigiert hätte; demnach könnte man letztere dem fragmentarischen Charakter des Romans zuweisen. Zwar ließ Brecht lediglich das zweite Buch seines Romans (losgelöst von der Rahmenhandlung) zu seinen Lebzeiten veröffentlichen. Dennoch gibt es keine Hinweise darauf, dass Brecht eine Überarbeitung des ersten und dritten Buches geplant hatte. Demnach kann der fragmentarische Charakter des Romans nur zum Teil als Erklärung für die logischen Probleme der Rahmenhandlung gelten. Eine weitaus schlüssigere Erklärung geben einige Texte aus Brechts Nachlass, die seine Arbeit am Roman reflektieren. Hier zeigt sich deutlich, wie genau und sorgfältig Brecht historische Fakten verwendet, sie gleichfalls aber auch modifiziert. So schreibt er an einer Stelle, die Bodenspekulationen seien bei Caesar „nirgends bezeugt“, Ferrero jedoch weise „auf die aktien der asiatischen steuergesellschaften hin, die caesar (nach cicero) für die herabsetzung der pachtbeträge erhalten“ habe. Brecht war weniger an historisch korrekter Darstellung der Ereignisse gelegen, denn der Anspruch nach Entlarvung der Caesarlegende übersteigt vielmehr den Anspruch nach geschichtlicher Neutralität. Die Rahmenhandlung selbst bleibt mehr Mittel zum Zweck. Die Seeräuberanekdote als Modifikation historischer Ereignisse Die sogenannte „Seeräuberanekdote“ erweist sich als besonders beispielhaft für Brechts Modifikation geschichtlicher Ereignisse. In der historischen Realität der „Seeräuberanekdote“ begibt sich Caesar nach seinem Scheitern als Anwalt in einem Prozess auf eine Reise von Rom nach Rhodos. Auf dieser Reise wird Caesars Schiff von Piraten gekapert und er selbst als Geisel genommen. Caesar schickt einige seiner Männer aus, die das Lösegeld zusammentragen sollten. Bis das Lösegeld eintrifft, bringt Caesar seine Zeit mit den Piraten zu und verfasst Gedichte und Reden, die er seinen Entführern vorliest. Als sie ihm keine Bewunderung entgegenbringen, schimpft er sie als Barbaren und droht ihnen lachend, er werde sie aufknüpfen lassen. Nach Auszahlung des Lösegeldes wird Caesar an Land gebracht. In Freiheit rüstet Caesar sofort nach eigenem Ermessen Schiffe und setzt den Piraten nach. In einer Seeschlacht versenkt oder kapert er ihre Schiffe und nimmt die Überlebenden als Gefangene. Letztere bringt er zum Propraetor der Provinz Asia, auf dass dieser die Piraten angemessen bestrafe. Der Propraetor sieht davon allerdings ab und will die Piraten lieber als Sklaven verkaufen. Daraufhin ließ Caesar seine Gefangenen eigenmächtig kreuzigen. Diese Passage wird bei Plutarch und Sueton caesarfreundlich beschrieben. Der hieraus folgenden „Glorifizierung“ Caesars musste Brecht entsprechend seinem Geltungsanspruch Abhilfe schaffen. Brecht ergänzt also die Anekdote um einige gewichtige Einzelheiten: So lässt er Spicer erklären, dass Caesar an Bord seines Schiffes eine Ladung Sklaven geschmuggelt hätte. Dies verstieß gegen die Verträge der kleinasiatischen Sklavenhändler mit den römischen, griechischen und syrischen Häfen. Deshalb, so Spicer, habe der kleinasiatische Exporttrust Caesars Schiff kapern und die Ladung beschlagnahmen lassen. Das Lösegeld sei demzufolge eine Art Schadensersatzsumme gewesen. Nachdem Caesar wieder auf freiem Fuß gewesen sei, habe er in einem räuberischen Überfall die kleinasiatische Firma angegriffen und die gefangenen Kaufleute mit gefälschten Papieren kreuzigen lassen (S. 182, Z. 30 bis S. 184, Z. 27). Bemerkenswert hierbei erscheint, dass es für diese Ausführungen Spicers keine historischen Beweise gibt, sie also Brechts eigene Erfindung sind. Daraus geht hervor, dass Brecht hier schließlich seinem Anspruch nach Entlarvung Caesars als „Verbrecherfigur“ nachhelfen muss, indem er gewisse Modifikationen vornimmt. Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar: Ein Fall von Geschichtsklitterung? Die inhaltlichen Ungenauigkeiten und die bewussten Änderungen historischer Begebenheiten zugunsten der Entschleierung der Caesar-Legende (Seeräuberanekdote) bedingen die Frage, inwiefern Brechts Roman sich als Geschichtsklitterung bezeichnen ließe. Natürlich handelt es sich bei Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar nicht um eine sachliche Biografie des antiken Politikers; man darf Brecht also gewisse Modifikationen des historischen Stoffes erlauben. Dennoch liegt dem Werk ein geschichtlicher Anspruch zugrunde. Um dieses Ziel zu erreichen und Caesars historischen Ruhm zunichtezumachen, konnte Brecht die Geschichte nicht neu erfinden, sondern musste gewisse reale Tatsachen berücksichtigen und in seine eigene Darstellung der Ereignisse einfließen lassen. Die Schwierigkeit, mit der Brecht sich also bei seinen Arbeiten am Roman konfrontiert sah, lag in dem Spagat zwischen Geltungsanspruch und Glaubwürdigkeit: Der Zweck der Faschismusdeutung und der satirische Charakter des Werkes erschwerten die Bemühungen, sich nicht zu weit von der historischen Realität zu entfernen und den Roman damit der Unglaubwürdigkeit anheimfallen zu lassen. Darüber hinaus ging es Brecht um eine aus der Sicht „von unten“ erfolgende Darstellung der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Es kam ihm darauf an, seiner Darstellung einen symbolhaften Charakter zu verleihen und seinen Roman quasi als Parabel auf den Leser wirken zu lassen. Der Roman sei zudem einerseits konzipiert als eine „Gegenrede“ gegen die „Geschichtslügen der Hitlerideologen“, so Dahlke. Zum anderen allerdings richte sich das Werk gegen die „personalistischen Geschichtsauffassungen der historischen Romane des Exils“. Diese konzentrierten sich zumeist auf die Humanisierung bestimmter historischer Personen und beschrieben deren individuelle Existenz. Bei Brecht hingegen wird das Individuelle an Caesar den gesellschaftlichen Aspekten untergeordnet. Gleichzeitig besitzt Brechts Roman einen gewissen satirischen Charakter, der mit einer „moralischen Empörung“ verknüpft sei, heißt es bei Dahlke. Letztere wiederum sei das „Ergebnis einer echten Geschichtserkenntnis“. Diese Geschichtserkenntnis beruhe auf einer zentralen Betrachtung der „analogen gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem Diktator die Macht zuspielten“. Offenbar knüpft Brecht ergänzend dazu seinen „Realismus“ (vor allem innerhalb seiner Werke) stets an die Betrachtung der sozialen Umstände und des Klassenkampfes. Mit welchen Problemen Brecht allerdings diesbezüglich bei der Lektüre der antiken Quellen und der geschichtswissenschaftlichen Literatur zu kämpfen hatte, geht aus seinem Nachlass hervor; dort schreibt er, wie spät es ihm erst aufgegangen sei, „was es mit der aktion des pompeius, dieser regulierung der brotversorgung, auf sich gehabt haben musste: er hatte die hungernden niederzuwerfen. und ich las diese bücher nur [!], weil ich die geschäfte der herrschenden klassen zur zeit der ersten grossen diktatur enthüllen wollte, also mit bösen augen! so schwierig ist es, die geschichtsbücher zu entziffern“. Die Quellen, die Brecht zur Verfügung standen, bedurften also einerseits noch gewisser „Auslegungen“, andererseits erwiesen sie sich wohl auch nicht immer als so ausführlich, wie es Brecht lieb gewesen wäre. Demnach sah er sich offenbar gezwungen, eigene Ergänzungen (und damit Modifikationen) zur ökonomischen Geschichte hinzuzufügen, denn wie er Spicer bemerken lässt, „Sie wissen, daß diese Seite unsere Historiker wenig interessiert“ (S. 169, Z. 25–26). Brecht war sich andererseits der Problematik bewusst, dass sein Geltungsanspruch zwangsweise eine historische Basis erforderte; außerdem hat er nachweislich große Sorgfalt auf die Quellenarbeit verwandt. Daher lässt sich ausschließen, dass Brecht plante, eine bewusste Manipulation der Geschichte in Form von Geschichtsklitterung vorzunehmen; letztere hätte ihn außerdem lediglich auf eine Stufe mit den von ihm kritisierten „Hitlerideologen“ gestellt. Brecht hat „die Analogie für ein legitimes künstlerisches Mittel“ gehalten, „vorausgesetzt, die historischen Besonderheiten, die geschichtliche Einmaligkeit des behandelten Falls“ sind gewahrt geblieben und er (also Brecht) hat damit recht gehabt. Es bleibt schließlich streitbar, ob Brecht die Caesarfigur wie auch die historischen Ereignisse zur Unglaubwürdigkeit herabstilisiert hat oder ob ihm die Trias von Entschleierung, Perspektive von unten sowie zeitgeschichtlichem Bezug gelungen ist. Literatur Textausgaben Werner Hecht, Jan Knopf u. a. (Hrsg.): Bertolt Brecht. Prosa 2. Romanfragmente und Romanentwürfe (= Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 17). Frankfurt am Main 1989. Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. Romanfragment. Berlin-Schöneberg 1957. Sekundärliteratur Literatur zu Brechts Roman „Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar“ Klaus Baumgärtner: Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, Kindlers Literaturlexikon, dtv, Band 9, 1974, S. 3876–3877 Heinz Brüggemann: Literarische Technik und soziale Revolution. Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts. Reinbek 1973. Herbert Claas: Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Caesar. Frankfurt am Main 1977. Hans Dahlke: Cäsar bei Brecht. Eine vergleichende Betrachtung. Berlin/Weimar 1968. Carsten Jakobi: Die epische Form als Kritik der Geschichtsschreibung. Bertolt Brechts Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. In: Carsten Jakobi (Hrsg.): Antike-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. (= Sonderheft literatur für leser 28/2005, H. 4), S. 295–311. Ulrich Küntzel: Nervus rerum: die Geschäfte berühmter Männer. Frankfurt a. M. 1991. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Dreizehn%20Kolonien
Dreizehn Kolonien
Als die Dreizehn Kolonien – auch numerisch geschrieben: 13 Kolonien – werden diejenigen britischen Kolonien in Nordamerika bzw. British America bezeichnet, die sich 1776 in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von ihrem Mutterland, dem Königreich Großbritannien, lossagten. Andere britische Besitzungen in Nordamerika wie die vorherige französische Kolonie Québec und die Kolonien von Nova Scotia (Neu Schottland) und Prince Edward Island blieben der britischen Krone loyal verbunden und wurden später als Kanada vereinigt. Loyal blieben darüber hinaus auch die – vormals spanischen und zwischenzeitlich ebenfalls im Besitz der Briten befindlichen – Kolonien von Ostflorida und Westflorida. Geographie und Gliederung Geographisch umfassten die 13 Kolonien, die sich im Verlauf des Unabhängigkeitskriegs als Vereinigte Staaten von Amerika (USA) konstituierten, die nordamerikanische Ostküste vom Unterlauf des Sankt-Lorenz-Stroms im Norden bis zur Halbinsel Florida im Süden. Nördliche Nachbarn waren bis 1763 die französische Canada-Kolonie rund um den Sankt-Lorenz-Strom sowie das östlich davon gelegene, ursprünglich ebenfalls in französischem Besitz befindliche Akadien. Wichtigste Ausbreitungshürde im Süden war das spanische Florida. Im Westen waren die Kolonien zunächst auf das Küstenland begrenzt; später bildeten die Appalachen die Grenzlinie. Die räumlich-geographischen Verhältnisse gestalteten sich recht uneinheitlich. Während im Süden die Atlantische Küstenebene weitflächiger ist und kontinuierlich zu den Appalachen hin ansteigt, schieben sich die nördlichen Appalachen wie ein Riegel zwischen die Küstengebiete und die Großen Seen. Historiker untergliedern die 13 Kolonien für gewöhnlich in drei Gruppen: Neuengland Provinz New Hampshire, das spätere New Hampshire Provinz Massachusetts Bay, das spätere Massachusetts und Maine Kolonie Rhode Island und Providence Plantations, das spätere Rhode Island Kolonie Connecticut und New Haven, das spätere Connecticut Mittlere Kolonien Provinz New York, das spätere New York und Vermont Provinz New Jersey, das spätere New Jersey Provinz Pennsylvania, das spätere Pennsylvania Kolonie Delaware (vor 1776, die Unteren Countys am Delaware als Nebenland von Pennsylvania), das spätere Delaware Südliche Kolonien Provinz Maryland, das spätere Maryland Kolonie Virginia, das spätere Virginia und West Virginia Provinz North Carolina, das spätere North Carolina Provinz South Carolina, das spätere South Carolina Provinz Georgia, das spätere Georgia Zeitlich erstreckte sich die Gründung über einen Zeitraum von 125 Jahren. Erste Kolonie war Virginia (1607). Zwischen 1620 und 1636 folgten die drei Neuengland-Kolonien Massachusetts (1629), Rhode Island und Connecticut (beide 1636) sowie Maryland (1634). Die erste Neuengland-Gründung – die 1620 gegründete Plymouth Plantation der Pilgerväter – fungierte zunächst als eigenständige Kolonie und wurde erst 1696 Teil von Massachusetts. Das Gebiet der Mittelatlantik-Kolonien New York, New Jersey und Delaware war zuerst von Niederländern (Nieuw Nederland) und Neuschweden erschlossen worden und kam erst in den 1660er-Jahren in Besitz des Königreichs England. 1663, 1680 und 1681 erweiterte sich der Kolonienbestand um drei weitere: Carolina, New Hampshire und Pennsylvania. Letzte der 13 Kolonien war Georgia, das erst 1732 gegründet wurde. Die 13 Kolonien entsprechen zwar 16 der heutigen 50 Bundesstaaten der USA. Bis zum Ende des Unabhängigkeitskriegs fanden allerdings zahlreiche kleinere und größere territoriale Veränderungen statt. 1729 wurde Carolina in North Carolina und South Carolina aufgeteilt. Delaware war bis 1776 Teil von Pennsylvania – wenn auch ab 1702 unter faktischer Selbstverwaltung. Maine war bis zum Unabhängigkeitskrieg Teil der Massachusetts-Kolonie und konstituierte sich erst 1820 als US-Bundesstaat. Das Vermont-Territorium wurde bis zum Siebenjährigen Krieg von Frankreich beansprucht. Danach war es umstrittenes Gebiet zwischen den beiden Kolonien New Hampshire und New York und wurde erst nach Ende des Unabhängigkeitskriegs US-Bundesstaat. Die westlichen Grenzen der heutigen Bundesstaaten Georgia, North Carolina, Virginia, Pennsylvania und New York wurden ebenfalls erst nach dem Unabhängigkeitskrieg festgelegt. Darüber hinaus blieb auch der genaue Grenzverlauf mit Kanada bis ins 19. Jahrhundert hinein ungeklärt. Entwicklung Die britische Besiedlung der späteren US-Ostküste war Teil der frühneuzeitlichen Entdeckungs- und Eroberungsaktivitäten, in deren Folge die europäischen Großmächte Spanien, Frankreich, Niederlande und England den nordamerikanischen Kontinent unter sich aufteilten. Im Unterschied zum imperial geprägten spanischen Reich in Mexiko, dem restlichen Mittelamerika und in Südamerika sowie den weit ausgreifenden, vorwiegend auf Handel kaprizierten französischen Besitztümern im heutigen Kanada waren die britischen Kolonien an der nordamerikanischen Ostküste Siedlerkolonien, bei denen die faktische Urbarmachung und Besiedlung von Land im Vordergrund stand. Zeitlich gesehen erfolgten die englischen bzw. britischen Besiedlungsversuche vergleichsweise spät. Geopolitisch waren sie Teil der von Elisabeth I. forcierten Auseinandersetzung mit dem spanischen Weltreich. Nach einem erfolglos gebliebenen Besiedlungsversuch bei Roanoke Island an der Küste des heutigen North Carolina (1586–1590) erfolgte 1607 mit Jamestown im heutigen Virginia die erste erfolgreiche Gründung. Zweite Gründung war die Plymouth-Kolonie im heutigen Neuengland (1620). Konsolidieren konnten sich die ersten Ansiedlungen erst im Zuge der sogenannten Great Migration zwischen 1630 und 1650. Angestoßen unter anderem von den innerbritischen Auseinandersetzungen vor und während des Englischen Bürgerkriegs, wanderten erst Tausende, dann Zehntausende in die neuen Kolonien aus. Dominierende Kolonie in Neuengland wurde Massachusetts; zum bedeutendsten Zentrum der Neuengland-Kolonien avancierte die Hafenstadt Boston. Die von puritanischen Auswanderern geprägten Kolonien in Neuengland wurden verstärkt durch Neugründungen religiöser Dissidenten (Rhode Island und Connecticut). In den 1660er-Jahren erweiterte sich das Gebiet der britischen Kolonien durch Übernahme der zwischen Neuengland und Virginia gelegenen niederländischen und schwedischen Ansiedlungen. Bedeutendste Stadt war hier New York, das vormalige Nieuw Amsterdam. Die Ausbreitung ins Landesinnere ging einher mit zahlreichen gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Ureinwohnern. In Virginia waren dies der Erste und Zweite Powhatan-Krieg. Brachte der erste (1610–1622) die Ansiedlungen um Jamestown zeitweilig an den Rand der Zerstörung, drängte der zweite (1644–1646) die dortigen Ostküstenstämme endgültig ins Hinterland ab. Der Pequot War (1636–1637) und der King Philip’s War (1676–1678) brachten in Neuengland ähnliche Ergebnisse. Zug um Zug bildete sich entlang der Ostküste ein geschlossenes Siedlungsgebiet heraus, von dem aus Siedler weiter in bislang unerschlossene Gebiete vorstießen. Neben der vergleichsweise großflächigen, zwischen Atlantik und Ontariosee liegenden Kolonie New York etablierte sich als Brücke ins Hinterland die 1682 erfolgte Neugründung Pennsylvania. Diese war nicht nur eine überdurchschnittlich prosperierende Kolonie. Die 1682 gegründete Koloniehauptstadt Philadelphia avancierte bald zur bedeutendsten Stadt der 13 Kolonien. Ein wesensbildender Unterschied zwischen den südlichen Kolonien und denen weiter im Norden war die Sklaverei. In massenhafter Form etablierte sie sich zwar erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Sklavenarbeit sowie eine feudalaristokratische, von ländlichen Gentry-Idealen bestimmte Gesellschaftsstruktur prägten jedoch zunehmend das Gesicht der südlichen Kolonien – vor allem das des unteren Südens mit den beiden Kolonien South Carolina und Georgia. Bedeutendste Stadt – und gleichzeitig wichtige Metropole für den Sklavenhandel – wurde Charleston. Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts war von weiterer Expansion geprägt – vor allem ins Landesinnere hinein, wo das Appalachen-Gebirge nunmehr als Grenzlinie zu den noch unerschlossenen Gebieten avancierte. Als weitere Komponente gesellten sich nun jedoch die zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und Frankreich hinzu. Sie setzten mit dem Pfälzischen Krieg (King William’s War, 1689–1697) ein, gingen weiter mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (Queen Anne’s War, 1702–1713) und dem Österreichischen Erbfolgekrieg (King George’s War, 1744–1746) und mündeten schließlich in den Siebenjährigen Krieg (French and Indian War in Nordamerika: 1754–1763). Charakteristisches Merkmal dieser Kriege war ihre hybride Form: Anders als in den europäischen Pendants waren reguläre Verbände lediglich am Rande beteiligt. Hauptkombattanten waren Siedlermilizen sowie Indianerstämme, die sich auf der einen oder anderen Seite beteiligten. Wichtigster Bündnispartner der Briten war die Irokesen-Föderation. Das Gros der Stämme im Ostküsten-Hinterland hingegen neigte aufgrund des britischen Siedlungsdrucks stärker der französischen Seite zu. Der Charakter dieser Auseinandersetzungen änderte sich erst im Siebenjährigen Krieg, der auf dem nordamerikanischen Kontinent den Charakter eines finalen Kriegs um die Vorherrschaft annahm. Beide Seiten setzten erstmals auch reguläre Truppenverbände in größerem Ausmaß ein. Sieger in dieser Auseinandersetzung blieb England. Ergebnis des Pariser Friedens von 1763 war, dass sämtliche französischen Besitztümer in Kanada und östlich des Mississippi an die Briten fielen. Die Frage der Westexpansion war einer der beiden Gründe, die schließlich zur Loslösung von Großbritannien und der Gründung der USA führten. Die Proclamation Line aus dem Jahr 1763 legte den Appalachenkamm als vorläufige Besiedlungs-Westgrenze fest. Aufgrund wachsenden Siedlungsdrucks – vor allem in Richtung des neu unter britische Oberhoheit gekommenen Ohio-Tals – war diese Grenzlinie von Anfang an umstritten. Umstritten war auch die sogenannte Stempelsteuer aus dem Jahr 1765. Darüber hinaus forderten die kolonialen Repräsentativorgane immer deutlicher Selbstverwaltung sowie die Gleichbehandlung mit den Einwohnern der britischen Inseln. Der Widerstand gegen die britische Kolonialpolitik führte 1775 schließlich zum Unabhängigkeitskrieg, in dessen Gefolge sich die 13 Kolonien für unabhängig erklärten und sich im Anschluss zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammenschlossen. Im Frieden von Paris 1783 übernahmen die 13 Kolonien nicht nur die Regierungsgewalt über das bisherige Kolonialgebiet. Teil der USA wurde darüber hinaus auch das zwischen Appalachen, Mississippi und Großen Seen gelegene Gebiet, welches Großbritannien im Siebenjährigen Krieg von den Franzosen übernommen hatte. Territoriale Ausdehnung und Politik Territoriale Ausbreitung Ein charakteristisches Merkmal der 13 Kolonien war der stetig sich ausdehnende und damit verändernde Siedlungsraum. Die Frontier verschob sich dabei fortwährend weiter nach Westen, ins Landesinnere hinein. Ausgehend von wenigen Siedlungsstützpunkten an der Ostküste breiteten sich die besiedelten Gebiete Stück für Stück aus: zunächst in die küstennahen Gebiete, später dann ins Appalachen-Vorland sowie – ab Mitte des 18. Jahrhunderts – über deren Hauptkette hinaus. Markante Eckpunkte dieser Entwicklung waren: 1620: ungefährer Scheidepunkt, ab dem der Erfolg von Siedlungskolonien an der Ostküste Nordamerikas nicht mehr zu bezweifeln war. 1630 bis 1677: die Ausbreitung neuenglischer Siedler in der Küstenebene sowie die Flussläufe hinauf. Indianische Restpopulationen wurden dabei auf höhergelegenen Gebieten insular zurückgelassen, die Macht der Indianer im südlichen Neuengland im Zug zweier großer Indianerkriege – dem Pequot War und dem King Philip’s War – gebrochen. 1635: Besiedlung des oberen Connecticut-Tals durch den aus Massachusetts abgewanderten Puritaner Thomas Hooker und seine Anhänger. 1636: Gründung der Kolonie Rhode Island durch die Dissidenten Roger Williams und Anne Hutchinson. Als größere Städte dort entstanden Providence und Portsmouth. 1638: Gründung der New Haven Colony am unteren Connecticut River durch die beiden strenggläubigen Puritaner John Davenport und Theophilus Eaton. 1662 wurden die beiden Ansiedlungen am Connecticut River zur Kolonie Connecticut vereint. 1650–1672: Erschließung des den Appalachen vorgelagerten Piedmont-Plateaus. 1663: Gründung der Kronkolonie Carolina. 1676: Nach der Niederschlagung der gegen die Oligarchie in Virginia gerichteten Rebellion von Nathaniel Bacon (Bacon’s Rebellion) wendeten sich die Unterlegenen gen Westen und rücken die Frontier dabei weiter Richtung Appalachen vor. 1677–1704: Schließung noch unbesiedelter Lücken die Ostküste entlang; Besiedlung auch der höhergelegenen Gebiete in Massachusetts und Connecticut. Die dort noch lebenden Indianerpopulationen wurden dabei entweder verdrängt, aufgerieben oder assimiliert. um 1700: Abdrängung der Spanier im Südkolonien-Bereich weiter in Richtung Florida. 1704: weitere Ausdehnung nach Norden ins Gebiet der Kolonie New Hampshire sowie ins Gebiet von Maine. 1712: erste Erkundung des den Appalachen vorgelagerten Shenandoahtals. 1732: Gründung der Kolonie Georgia. 1725: in etwa der Zeitpunkt, ab dem Indianer in Neuengland nicht mehr als existenzielle Bedrohung angesehen wurden. ab 1750: weitere Gebietserweiterungen von Virginia und den Carolinas aus. Bis 1750 hatte die Siedlungsgrenze in etwa die Appalachen erreicht. Das besiedelte Terrain lässt sich grob dreiteilen. Erste Zone waren die Küstengebiete. Dort bildete sich früh eine kommerziell orientierte Landwirtschaft heraus – einhergehend mit einer kontinuierlich fortschreitenden Wohlstandsvermehrung. In dieser Zone etablierten sich auch die bedeutendsten urbanen Handelszentren der Kolonien: Boston, New York, Philadelphia, Baltimore und Charleston. Die zweite Zone bildete das Hinterland. Der Übergangsbereich zwischen Küste und der eigentlichen Frontier umfasste große Teile Neuenglands sowie weniger fruchtbare Gebiete im Landesinnern der Mittelatlantik- und Südkolonien. Ökonomisch bestimmte dort Subsistenzwirtschaft das Bild. Sklaverei spielte in dieser Hinterlandzone eine geringe Rolle; Handel und Handwerk waren jedoch ebenfalls wenig ausgeprägt. Aufgrund der hohen Geburtenrate stellte diese Zone das Gros derjenigen, die weiter Richtung Westen zogen und auf diese Weise die Frontier vorverlagerten. Dritte Zone schließlich war die Frontier selbst. Wesentliches Merkmal dieser Region war, dass ihr Verlauf ständig in Fluss war. Bewohner auf Kolonistenseite waren vorwiegend Trapper, Pelzhändler, Holzfäller sowie vorgeschobene Farmer – sogenannte Backwoodsmen, die allein in die Wildnis eingedrungen waren und als Pioniere für nachfolgende Siedlungen fungierten. Politische Struktur Politisch hing die Entwicklung der einzelnen Kolonien stark von ihrem jeweiligen Rechtsstatus ab. Formalisierte Beziehungen der Kolonien untereinander gab es bis 1754 nicht; sämtliche Beziehungen waren jeweils auf das Mutterland hin ausgerichtet. Formal hatten sich im Verlauf der Besiedlung drei Grundtypen herausgebildet: Handelsgesellschafts-, Eigentümer- und Kronkolonien. In der Frühphase der Besiedlung waren Handelsgesellschafts- und Eigentümerkolonien, die jeweils einer Handelskompanie oder einer einzelnen Person als Besitztum übertragen wurden, das vorherrschende Modell; beide wurden in Form einer königlichen Charter erteilt. Ausnahme war Virginia, dessen Chartergesellschaft – die Virginia Company of London – zuvor in Konkurs gegangen war, und das darum bereits 1624 in eine Kronkolonie umgewandelt wurde. Die Stück um Stück erfolgenden Neugründungen etablierten ein Patchwork unterschiedlicher Rechtsformen mit jeweils eigenen Verwaltungs- und Mitspracheformen. Den im Lauf der Zeit auf die Anzahl von sieben angewachsenen Kronkolonien (New Hampshire, New York, New Jersey, Virginia, North Carolina, South Carolina und Georgia) standen gegenüber: ein Zwitter aus Kron- und Charterkolonie (Massachusetts), zwei Charterkolonien (Rhode Island und Connecticut) und drei Eigentümerkolonien (Pennsylvania, Delaware und Maryland). Abgesehen vom Rechtsstatus gestalten sich die politischen Verhältnisse in den einzelnen Kolonien recht ähnlich. Ein vereinheitlichender Faktor war die englische Sprache, ein weiterer das englische Rechtssystem, welches in den Kolonien übernommen wurde. Für politisch ähnliche Verhältnisse sorgte die Übernahme des britischen Zweikammersystems. Das Unterhaus, die sogenannte Assembly, bildete dabei das Gegengewicht zum Rat oder Senat, dessen Mitglieder vom Gouverneur bestimmt wurden. In der Praxis ermöglichte die Zusammenstellung von Gouverneur, Rat und Assembly unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten: In den Kronkolonien wurde der Gouverneur in der Regel ernannt. In den Eigentümer-Kolonien bestimmten ihn die Eigentümer. In Massachusetts wurde auch der Gouverneursrat gewählt. In Pennsylvania und Delaware gab es keinen Rat; in Rhode Island hingegen wurde auch der Gouverneur direkt gewählt. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein waren die 13 Kolonien – so der Philosoph Edmund Burke – vom Prinzip der „heilsamen Vernachlässigung“ geprägt. Ähnlich wie bei dem in der Karibik bereits praktizierten System der Royal Colonies wurden die noch verbliebenen Gesellschafter- und Eigentümerkolonien peu à peu in Kronkolonien transferiert. Lediglich Pennsylvania, Maryland, Rhode Island und Connecticut konnten ihren alten Rechtsstatus behaupten. Vor allem den wirtschaftlichen Austausch richtete England schon früh auf bilaterale Handelsbeziehungen hin aus. Wesentlicher Markstein hierfür war der Navigation Act von 1651. 1660 folgte ein zweiter Navigation Act. Letzterer legte fest, dass Baumwolle, Zucker und Tabak ausschließlich nach England exportiert werden durften. Die Handelsbeziehungen sorgten immer wieder für Streitigkeiten zwischen Parlamenten und Gouverneuren. Im 18. Jahrhundert bestimmten Zwistigkeiten in Sachen Abgaben sowie politische Mitspracherechte wesentlich die Politik in den einzelnen Kolonien – ein Konfliktpunkt, welcher schließlich in den Unabhängigkeitskrieg mündete. Ungeachtet der merkantilistisch orientierten Austauschformen versuchte England, die nordamerikanische Kolonial-Administratur auch politisch stärker an das Mutterland zu binden. Jakob II. fasste 1686 bis 1688 sämtliche Neuengland- und Mittelatlantik-Kolonien zu einem Dominion of New England zusammen. Nach seinem Sturz und der Etablierung eines Parlaments im Zug der Glorious Revolution wurde diese Maßnahme allerdings rückgängig gemacht. Stattdessen erfolgte 1696 die Schaffung eines Board of Trade and Plantations – einer obersten britischen Kolonialbehörde, welche fortan oberste Instanz war für die Beziehungen zwischen Kolonien und Mutterland. Im Allgemeinen jedoch blieb die Politik der „heilsamen Vernachlässigung“ bestimmend. Gesonderte Finanzmittel etwa standen den Gouverneuren vor Ort nicht zur Verfügung. Ebenso wenig gab es reguläre britische Soldaten – ein Fakt, der sich erst zu Beginn des Siebenjährigen Krieges änderte. Bevölkerung Bevölkerungszuwachs Genaue Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung der Kolonien lassen sich nur über Interpolationsmodelle ermitteln. Im Detail variieren die ermittelten Zahlen etwas. Der generelle Trend von nur wenigen Hundert Erstkolonisten über sechsstellige Zahlen in der mittleren Besiedlungsperiode bis hin zur Angabe „über zwei Millionen“ zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs ist jedoch unstrittig. In der Frühphase der Kolonisation gestaltete sich die Auswanderung eher schleppend. Die Anzahl der Erstsiedler in Jamestown, Virginia, betrug 105. Im Jahr 1616 lebten von 1600 Ankömmlingen noch 350. Auch in der 1620 gegründeten Neuengland-Kolonie Plymouth war die Sterberate hoch: Von den 101 Erstkolonisten überlebten viele den ersten Winter nicht. Für Kolonisten-Nachwuchs sorgten in den ersten Jahrzehnten vor allem zwei Faktoren: a) das System der Schuldknechtschaft und Sträflingsarbeit, welches vor allem in den frühen südlichen Kolonien sehr ausgeprägt war, b) die religiösen und politischen Verwerfungen im Mutterland. Im Zug der „Great Migration“ zwischen 1630 und 1640 zogen zehntausende Neuansiedler in die Kolonien. In den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts wanderten vor allem puritanische Dissidenten aus. Im Zug des Englischen Bürgerkriegs und der Herrschaft von Lordprotektor Oliver Cromwell kehrte sich das Verhältnis zeitweilig um zugunsten von Gegnern des calvinistischen Bekenntnisses. Im 18. Jahrhundert trat der spezielle Beweggrund der religiösen Unterdrückung dann weitgehend in den Hintergrund. In Zahlen gestaltete sich der Bevölkerungsanstieg wie folgt: Von 1610 bis 1640 erhöhte sich die Bevölkerung der Kolonien von rund 500 auf mehrere zehntausend. 1689 hatte die Population bereits einen Stand von rund 200.000. Ein Fünftel davon lebte in den mittleren Kolonien, jeweils zwei Fünftel in den nördlichen und südlichen. Die Millionengrenze wurde zur Mitte des 18. Jahrhunderts überschritten, die Zwei-Millionen-Grenze um 1760. Zu berücksichtigen dabei ist, dass die genannten Zahlen Schätzwerte sind; zuverlässige Zahlen liefert erst der erste US-Zensus aus dem Jahr 1791. Die Bevölkerung verteilte sich sowohl ethnisch als auch regional höchst ungleich. Das Hinterland sowie die Mittelatlantik-Kolonien wuchsen während des zweiten Schubs im 18. Jahrhundert stärker als die Süd- und Neuenglandkolonien. In Neuengland hatte die Bevölkerungsexplosion bereits zu Ende des 17. Jahrhunderts eingesetzt. Das Hinterland des Old West entlang der Frontier fungierte als Auffangbecken für alle, die mit den Verhältnissen in den älteren Siedlungsgebieten unzufrieden waren. Westlich der Appalachen schließlich lebte auch kurz vor dem Unabhängigkeitskrieg nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung. Als größte Städte weisen Zahlen für 1770 aus: Philadelphia (35.000), New York (25.000), Boston (16.000) und Charleston (11.000). Herkunft Am homogensten gestaltete sich die Herkunft der Siedler zu Beginn der Kolonisierung. Im Süden stellten Briten aus England und Wales den größten Bevölkerungsanteil. An zweiter Stelle folgten Schwarzafrikaner. Letztere waren vor allem in der Plantagenregion an der Küste konzentriert, in geringerer Anzahl allerdings auch im Hinterland ansässig. Im 18. Jahrhundert ließen sich dort Iro-Schotten sowie – in geringerer Anzahl – auch Deutsche nieder. Letzte kamen vorwiegend aus Pennsylvania und begannen in Richtung Süden mit der Besiedlung des Shenandoah-Tals. In den Neuengland-Kolonien war die ethnische Homogenität am stärksten ausgeprägt. Laut dem ersten US-Zensus waren 81 % der Bevölkerung dort englischer Herkunft. Am heterogensten gestaltete sich die Situation in den Mittelatlantik-Kolonien. Dem Zensus von 1791 gemäß betrug der Bewohneranteil englischer Herkunft im Staat New York 52 %, in Pennsylvania sogar nur 35 %. Niederländer machten in New York 17,5 %, in New Jersey 16,6 % der Bevölkerung aus. Im Hinterland der beiden Kolonien New York und Pennsylvania hatten sich eine beträchtliche Anzahl von Iro-Schotten sowie französischen Hugenotten niedergelassen. Der Anteil der Deutschen betrug in Pennsylvania rund ein Drittel, für alle Kolonien zusammengenommen immer noch 10 %. Dennoch basiert die Behauptung, Deutsch sei in den Kolonien fast Amtssprache geworden, auf nationalistischen Mythen aus der Zeit des Kaiserreichs (siehe Muhlenberg-Legende). Faktisch richtig ist, dass die englische Sprache trotz zeitweilig starker deutscher Zuwanderung stets Standard blieb. Eine weitere Besonderheit der Mittelatlantik-Kolonien waren die jüdischen Gemeinden, die sich in einigen Städten herausgebildet hatten. In New York gingen sie bis in die holländische Kolonialzeit zurück. Günstige Ansiedlungsbedingungen – sowie, verbunden damit, eine religiös tolerante Haltung – existierten darüber hinaus in einigen Städten des Südens. Die englische Auswanderung im 17. Jahrhundert war zwar stark den politisch-religiösen Umbrüchen auf der britischen Insel geschuldet. Hinzu kamen jedoch auch wirtschaftliche Gründe. Ein auswanderungsbefördernder Faktor war beispielsweise der Zusammenbruch der Tuchindustrie während des Dreißigjährigen Kriegs. Die periodisch wiederkehrenden Subsistenzkrisen auf der irischen Insel waren auch der Grund für die massenhafte Einwanderung nordirischer Ulster-Schotten. Die deutsche Auswanderung erreichte 1750 ihren Spitzenwert mit 30.000 Einwanderern. Bis zum Unabhängigkeitskrieg ließen sich etwa 100.000 deutsche Auswanderer in den Kolonien nieder. Die Anwerbung neuer Kolonisten in Europa erfolgte zum Teil mittels stark überzeichneter, idealistisch gefärbter Lobpreisungen. Ein Beispiel für diese Art Animierung war etwa das 1734 erschienene Traktat Der Nunmehro in der Neuen Welt vergnügt und ohne Heim-Wehe lebende Schweitzer. Religion Bedeutendster Gegensatz in der frühen Kolonialperiode war der zwischen staatskirchlich orientierten Anglikanern und staatskirchenkritischen Puritanern. Während erstere sich vorzugsweise in den südlichen Kolonien niederließen, avancierte Neuengland zur Domäne der Puritaner. Pioniere im Norden waren die puritanischen Pilgerväter. Die auch mit dem Begriff Separatisten bezeichneten Pilgerväter waren Angehörige einer puritanischen Abspaltung, die sich besonders kompromisslos gegen die anglikanische Staatskirche wandte und – anders als der gemäßigte Mainstream des Puritanismus – eine Erneuerung derselben nicht mehr für möglich hielt. Im Gegensatz zu der radikalen Gruppe in Plymouth handelte es sich bei den Siedlern in Massachusetts um gemäßigte Puritaner. Die moderate Haltung bezog sich allerdings nur auf die anglikanische Staatskirche – nicht auf die calvinistischen Prinzipien. Im 17. Jahrhundert erfuhr speziell der Puritanismus in Massachusetts eine spürbare Radikalisierung. Das rigide-unduldsame, teilweise Züge einer Theokratie annehmende Kontrollsystem führte bereits sehr früh zur Gründung zweier Ablegerkolonien: Rhode Island und Connecticut. Die theologische Dogmatik der Massachusetts-Kolonie war stark von ihren drei geistlichen Führern geprägt: John Cotton (1585–1652), Increase Mather (1639–1723) und dessen Sohn Cotton Mather (1663–1728). Alle drei propagierten eine stark fundamentalistisch geprägte Auslegung des Puritanismus. Seinen Höhepunkt erreichte der puritanische Radikalismus mit den Hexenprozessen von Salem (1692). Ab der Wende zum 18. Jahrhundert setzte schließlich ein Umdenken und eine Wende zur Liberalisierung ein. Massachusetts wurde so auch zu einem ersten Zentrum des amerikanischen Unitarismus. Die privilegierte Sonderstellung der puritanisch orientierten kongregationalistischen Kirche allerdings blieb in diesem Teil der Kolonien noch lange erhalten – mit der Folge, dass Baptisten, Quäker und Anglikaner lediglich einen Duldungsstatus genossen. In den südlichen Kolonien war die anglikanische Kirche dominierend. Mit dem verstärkten Zuzug nicht-englischer Auswanderer gewannen jedoch auch Baptisten und Presbyterianer zunehmend an Stärke. Den größten Einfluss hatten sie in den Carolinas sowie im Hinterland von Virginia. Im öffentlichen Leben der mittleren Kolonien spielte Religion eine geringere Rolle. Aufgrund des starken nicht-englischen Bevölkerungsanteils koexistierte eine breite Palette unterschiedlicher Glaubensrichtungen: Presbyterianer, Baptisten, Kongregationalisten, Holländisch Reformierte, Deutsch-Reformierte, Pietisten, Hugenotten und schließlich auch Katholiken. Der Katholizismus hatte vor allem in Maryland seine Hochburg und war in sämtlichen Kolonien eine minoritäre, vielfach mit Vorbehalten bedachte Richtung. Grob vereinfacht lassen sich die Hochburgen der einzelnen Glaubensbekenntnisse wie folgt veranschlagen: Massachusetts, Maine, New Hampshire und Vermont-Gebiet – Puritaner, südliche Kolonien – Anglikaner, Rhode Island und South Carolina – Baptisten, Pennsylvania – Quäker und Lutheraner, New York – Holländisch Reformierte, Maryland – Katholiken, Hinterland von Virginia und Pennsylvania – Presbyterianer. Für eine weitere Ausdifferenzierung der Glaubensbekenntnisse sorgte in den 1730er- und 1740er-Jahren die Great-Awakening-Bewegung. Ausgelöst von dem englischen Prediger John Wesley, rückte sie stärker als bislang das persönliche Glaubenserlebnis in den Mittelpunkt. Verbreitet von den beiden Predigern Jonathan Edwards und George Whitefield, fand die neue Bewegung vor allem in den nördlichen und mittleren Kolonien zahlreiche Anhänger. Neben den Baptisten profitierten vor allem die sich neu formierenden Methodisten von dieser Erweckungsbewegung. Darüber hinaus hatte sie starke theologische Einflüsse auf die herkömmliche puritanische Lehre in Neuengland. Sie aktualisierte die Verknüpfung der Erlösungsidee mit dem amerikanischen Territorium und war so eine der geistigen Quellen, aus denen sich das spätere US-amerikanische Sendungsbewusstsein speiste. Unabhängigkeitsbefürworter und Loyalisten Die politische Faktionierung in (liberale) Whigs und (konservative) Tories, welche sich im Mutterland ab dem Ende des 17. Jahrhunderts herausgebildet hatte, bildete sich in den Kolonien nur bedingt ab. Die politische Kultur dort war stark vom Gedankengut der britischen Whigs bestimmt, dasjenige der britischen Tories konnte in den nordamerikanischen Kolonien nur wenig Fuß fassen. Faktoren, die diese Tendenz verstärkten, waren die gegen die Kolonierechte gerichtete Politik der beiden Stuart-Monarchen Karl II. und Jakob II. sowie das negative Image der schottischen Jakobiten, die für eine Wiederinstallierung der Stuart-Monarchie kämpften. Ab den 1740er-Jahren begannen sich die Unterschiede zwischen den beiden politischen Kulturen allerdings zu nivellieren. Stattdessen trat die Frage der kolonialen Repräsentationsrechte immer stärker in den Vordergrund. Was den Konflikt anbelangte, der schließlich in den Unabhängigkeitskrieg mündete, ging zwar eine breite Mehrheit mit den Forderungen nach mehr Eigenständigkeit und Mitspracherechten konform. In der Frage Pro oder Contra Unabhängigkeit allerdings verfügte keine Seite über eine eindeutige Mehrheit. Der Historiker Michael Hochgeschwender veranschlagt den Anteil der unabhängigkeitsskeptischen Tory-Bevölkerung auf circa 20–25 %; größte Bevölkerungsgruppe im Unabhängigkeitskrieg seien die Neutralen gewesen. Eine starke Polarisierung erfuhr die Frage durch den Verlauf des Unabhängigkeitskriegs selbst. So kämpften auf Seite der Briten auch Tory-Milizen – ein Faktor, welcher dem Unabhängigkeitskrieg partiell Züge eines Bürgerkriegs verlieh. Die 1775 vom britischen Gouverneur Lord Dunmore verfasste und als Dunmores Proklamation bekannt gewordene Proklamation zur Sklavenbefreiung für Afrikaner, welche in britischen Verbänden mitkämpften, erwies sich letztendlich als wenig wirksam. In den südlichen Kolonien wurde die Proklamation allgemein als Aufruf zu Sklavenaufständen verstanden. Ein Faktor, der den Briten generell zugutekam, war die Tatsache, dass sich die indianischen Stämme an der Grenze – so sie in die Auseinandersetzung eingriffen – auf der Seite der Briten beteiligten. Joseph Brant, ein Anführer der Irokesen, avancierte zum Hauptmann der British Army. Als Gegenleistung erhielten er und seine Mitkämpfer nach der Niederlage ein Reservat in der kanadischen Provinz Ontario. Nach Beendigung der Kämpfe gelang es der Republik, das Gros der ehemaligen Loyalisten wieder einzugliedern. Eine Totalamnestie lehnten die USA allerdings ab. Nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs verließen rund 60.000 Personen die ehemaligen Kolonien. Hinzu kamen um die 33.000 Sklaven. Das Gros fand in Kanada Exil. Einige exilierte Tories verfolgten dort weiter eine totaloppositionelle Linie und organisierten von Kanada aus den Indianer-Grenzkrieg in Vermont, im westlichen New York und im Ohio-Tal. Afrikaner Schwarzafrikaner waren die einzige Bevölkerungsgruppe, die unfreiwillig in den Kolonien lebte beziehungsweise in diese verschleppt wurde. Die ersten Sklaven wurden 1619 in Virginia eingeführt. In nennenswertem Ausmaß verbreitet war das System der Sklaverei jedoch erst ab dem Ende des 17. Jahrhunderts mit dem atlantischen Dreieckshandel. Global gesehen war es lediglich ein Teil innerhalb eines Spektrums unterschiedlicher Zwangsarbeitsformen, welches die Kolonialmächte Spanien, Portugal, Niederlande, Frankreich und England auf dem amerikanischen Doppelkontinent etablierten. In der frühen Kolonisationsperiode konkurrierte die Sklaverei mit unterschiedlichen Formen der Schuldknechtschaft – speziell dem zeitlich befristeten System der Indentured Servants. Verglichen mit den mörderischen Bedingungen auf den Zuckerinseln in der Karibik (Barbados, Jamaika) und den damit verbundenen hohen Mortalitätsraten war das Schicksal der Sklaven in den Festlandskolonien erträglich. Härtere Bedingungen waren zunächst beschränkt und etablierten sich vor allem in den Reisanbaugebieten von South Carolina. Die Plantagenwirtschaft, die sich vor allem im unteren Süden flächendeckend ausbreitete, bildete die Grundlage der dort dominierenden Gentry-Gesellschaft – einem stark von feudalaristokratischen Zügen geprägten System, welches sich stark von dem in den mittleren und nördlichen Kolonien unterschied. In Zahlen ausgedrückt gestaltete sich das System der Sklaverei wie folgt: Um 1770 lebten in den Kolonien rund 500.000 schwarzafrikanische Sklaven. Das Gros davon lebte in den südlichen Kolonien; dort machten Sklaven ein gutes Drittel der Bevölkerung aus. Eine andere Berechnung veranschlagt für das Jahr 1760 400.000 Afrikaner – ein Viertel davon nördlich von Maryland, drei Viertel südlich davon. Hochburgen der Sklaverei waren Virginia südlich des James River mit 4 Sklaven pro weißen Steuerzahler sowie South Carolina mit 7 bis 13, in manchen Gegenden bis zu 40 Sklaven. 1790 lebten auf dem Gebiet der USA rund 700.000 versklavte Schwarzafrikaner – 290.000 davon in Virginia, jeweils 100.000 in Maryland, North und South Carolina, 25.000 in New York und 57.000 in den Kolonien Pennsylvania, Connecticut, Massachusetts und Rhode Island. Insgesamt wurden auf den amerikanischen Doppelkontinent mehr als 9,5 Millionen Afrikaner verschleppt. Der nordamerikanische Anteil daran betrug rund 5 %. Ausprägung und regionale Verbreitung der Sklaverei gestalteten sich stark unterschiedlich. In den nördlichen Kolonien vollzog sich die Abkehr von der Sklaverei recht schnell. In Rhode Island und Connecticut spielte sie praktisch keine Rolle, in den Mittelatlantik-Kolonien war sie hingegen stärker verbreitet. Insgesamt waren die nördlichen und mittleren Kolonien – so der Historiker Michael Hochgeschwender – zwar Gesellschaften mit Sklaven, allerdings keine Sklavenhaltergesellschaften. In diesen Kolonien vollzog sich die Ablösung von den afrikanischen Wurzeln vergleichsweise schnell. In den südlichen Kolonien war das Bild gemischt. In Maryland, Delaware und Virginia waren kleinere Tabak- und Familienfarmen vorherrschend. Aufgrund des engeren Zusammenlebens vollzog sich hier ein partielles Vermischen von europäischen und afrikanischen Lebensformen. In South Carolina und Georgia hingegen entwickelten sich schon früh Formen einer spezifisch afroamerikanischen Kultur. Eine spezielle Ausprägung davon war die Sklavensprache Gullah. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die Bedingungen, unter denen Sklaverei stattfand, rechtlich fixiert. Aus Angst vor Sklavenaufständen nahmen die einschlägigen Slave Codes in ihrer Schärfe schon früh zu. Sie legalisierten lebenslange Sklaverei sowie erschwerte Freilassungsbedingungen und verboten Geschlechtsverkehr sowie Ehen zwischen Schwarzen und Weißen. Mangels anderer Gegenwehr-Möglichkeiten gestaltete sich der Widerstand der versklavten Afrikaner eher passiv und subtil. Gängige Widerstandsformen waren Arbeitsverweigerung, Brandstiftung sowie Flucht. Im 18. Jahrhundert erfuhr das System der Sklaverei einen großen Aufschwung und veränderte das Bild der südlichen Kolonien schließlich nachhaltig. Ein Nebeneffekt davon war, dass die Nachfrage nach weißen Schuldknechten mit der Zeit ebenso zurückging wie die Einwanderung in die Südkolonien. Indianer Die Anzahl der Indianer auf dem amerikanischen Doppelkontinent insgesamt, in Nordamerika sowie im Einzugsbereich der 13 Kolonien wurde seitens der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten deutlich nach oben korrigiert. Ging man um 1965 noch von 900.000 bis 1,5 Millionen Ureinwohnern in Nordamerika zur Zeit der Entdeckung aus, veranschlagen mittlere Schätzungen heute eine Anzahl von 6 bis 7 Millionen. Ebenso wie in den anderen Großregionen des Doppelkontinents hatte auch an der nordamerikanischen Ostküste der Bevölkerungsrückgang längst eingesetzt. Sowohl Puritaner als auch Virginier trafen auf eine Urbevölkerung, die aufgrund bereits erfolgter Kontakte in ihrer Widerstandskraft geschwächt war. Aktuelle Schätzungen: Lebten um 1570 östlich des Mississippi rund 3 Millionen Ureinwohner, waren es 1670 lediglich noch 300.000. Interpolierte Zahlen für das südliche Neuengland: 120.000 (1570) und 12.000 (1670). Das Muster der Kontakte gestaltete sich in Virginia und Neuengland ähnlich. Zu Beginn waren die wenigen Siedler auf Kooperation mit den umliegenden Stämmen angewiesen. Bekannte Vorkommnisse, die in die Mythenbildung der späteren USA Einzug fanden, waren die Hochzeit zwischen dem virginischen Tabakpflanzer John Rolfe und der Häuptlingstochter Pocahontas sowie das erste Thanksgiving, das die Kolonisten der Plymouth-Siedlung zusammen mit Indianern feierten. Bald jedoch mündete das Zusammenleben in eine Serie gewaltsam ausgetragener Auseinandersetzungen (in Virginia: erster und zweiter Powhatan-Krieg, im südlichen Neuengland: Pequot War und King Philip’s War). Ergebnis der aufgeführten Kriege sowie der weniger spektakulären in den Mittelatlantik-Kolonien war, dass es in den Ostküstenkolonien bis auf Assimilierte keine Indianer mehr gab. Der King Philip’s War 1675–1676 markierte auch im Hinblick auf die jeweiligen Populationen einen Scheidepunkt: Mit 32.000 war die Anzahl der neuenglischen Siedler bereits doppelt so hoch wie die der Indianer. Indianermission war von Anfang an ein integraler Bestandteil kolonialer Politik. Zielgerichtete Missionierungsversuche begannen allerdings vergleichsweise spät (in Massachusetts: ab 1644) und zeitigten nur mäßige Erfolge. Assimilierte Indianergruppen gerieten bereits während der frühen Indianerkriege zwischen die Fronten. Darüber hinaus galten sie sowohl in den Augen der kolonialen als auch der indianischen Gesellschaften als Außenseiter. Zahlenmäßig fielen die bekehrten Indianer, die sogenannten „Praying Indians“, kaum ins Gewicht. In Neuengland betrug ihr Anteil weniger als 10 % der noch verbliebenen Indianerbevölkerung. Im 19. Jahrhundert waren die assimilierten Indianergruppen an der Ostküste weitgehend ausgestorben. Auch vor direkter Gewalt schützte Assimilation nicht. Bekanntestes Beispiel hierfür ist das Massaker von Gnadenhütten in Pennsylvania 1782 an christianisierten Angehörigen der Delaware. Bestimmend für die mittlere und späte Kolonialperiode war die machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Briten und Franzosen. Die französische Indianerpolitik war stark auf den Handelsaustausch hin ausgerichtet und entsprechend stärker von einer Laissez-faire-Haltung geprägt. Wichtigster Partner im französischen Pelzhandel rund um die Großen Seen waren die Huronen. Als Reaktion darauf ging die in der Region dominierende Konföderation der Irokesen ein enges Bündnis mit den Briten ein. Zusätzlichen Druck auf die Stämme übte die stetig nach Westen vorrückende Siedlungsgrenze aus. Die Lenni Lenape (Delaware) beispielsweise zogen sich von ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten an der mittleren Ostküste ins spätere Pennsylvania zurück und von dort schließlich weiter in Richtung Westen. Das immer engere Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Akteure führte zu zwei größeren innerindianischen Kriegen: 1626 vernichteten die Irokesen die Mohikaner im oberen Hudson-Tal. 1634 bis 1648 wurden die Huronen – ursprünglich etwa 18.000 Menschen umfassend – durch Seuchen stark dezimiert und schließlich von den Irokesen bis auf wenige Reste ausgerottet. Der Siebenjährige Krieg sowie der Unabhängigkeitskrieg zwölf Jahre danach brachte die Stämme an und jenseits der Frontier in existenzielle Bedrängnis. Dem Pontiac-Aufstand ab 1763 schlossen sich Stämme vom Gebiet der Großen Seen bis hinunter in die Region Kentucky und Tennessee an. Obwohl er koloniale Milizen und reguläre Einheiten stark in Bedrängnis brachte, scheiterte er letztendlich. Der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg markierte schließlich das Ende indianischer Eigenständigkeit in der Region zwischen Großen Seen und Appalachen. Die Irokesen-Konföderation spaltete sich auf in einen neutralen Teil, eine Mehrheit, die auf Seiten der Briten kämpfte, und eine Minderheit, die auf Seiten der USA in den Krieg zog. Im Nordwestgebiet mündete der Unabhängigkeitskrieg in eine Serie von Indianerkriegen, die zeitweilig zwar Erfolge für die involvierten Stämme brachten, ein weiteres Vorrücken der Besiedlungsgrenze jedoch nicht dauerhaft verhindern konnte. Wirtschaft und Soziales Wirtschaft Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und den Kolonien waren vom Prinzip des Merkantilismus bestimmt. Gemäß den Vorgaben der verhängten Navigation Acts fokussierte Großbritannien einen von bilateraler Arbeitsteilung geprägten Austausch. Besonders exklusive Rohstoffe wie Indigo, Tabak, Reis, Wolle und Pelze durften ausschließlich ans Mutterland verkauft werden. Weitere Bestimmungen verboten die Herstellung konkurrenzfähiger Fertigprodukte wie Eisen, Kleider oder Hüte. Dennoch stieg der Anteil der Kolonien am Bruttosozialprodukt des Empires kontinuierlich an: Die Wirtschaftsleistung der Kolonien stieg von 5 % im Jahr 1700 auf 40 % im Jahr 1776. Der Binnenhandel stieg bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auf 25 % des Gesamtvolumens an. Wachstumsmotor blieb allerdings der Handel mit dem Mutterland sowie der Karibik. Die Gesellschaft der 13 Kolonien war vorwiegend agrarisch geprägt. 80 % der Bevölkerung lebte auf Farmen und Plantagen, 10–15 % betätigten sich als Handwerker, lediglich 5 % waren Kaufleute oder Angehörige freier Berufe. Landbesitz war statistisch gesehen Normalfall: 50 bis 75 % aller landlosen Männer gelang es, im Verlauf ihres Lebens Landbesitz zu erwerben; lediglich 25 % blieben dauerhaft ohne Landbesitz. Das Auskommen der Bevölkerung gestaltete sich bis in die untere Mittelklasse hinein gut. Niedriger als in der Alten Welt war auch die Sterblichkeitsrate. Ein Grund hierfür war das Fehlen jener periodisch auftretenden Subsistenzkrisen, wie sie in Europa an der Tagesordnung waren. Zum Problem entwickelte sich hingegen die chronische Geldknappheit. Da die Kolonien über keine eigene Münzprägeanstalt verfügten, behalf man sich zeitweilig mit einer eigenen Papierwährung. Auf Dauer konnte sich diese jedoch nicht etablieren. Aufgrund ihres zweifelhaften Zahlwerts wurde sie im Currency Act von 1751 beziehungsweise 1765 explizit für ungültig erklärt. Das wirtschaftliche Profil variierte innerhalb der einzelnen Kolonien deutlich. Die Wirtschaft in den Neuengland-Kolonien war stark von Landwirtschaft und Fischerei geprägt. Als ergänzende Sektoren kamen Holzwirtschaft und Schiffbau sowie Gerbereien, Wollspinnereien und Rumbrennereien hinzu. In den Mittelatlantik-Kolonien war die Landwirtschaft noch ausgeprägter als im Norden. Fruchtbare Böden ermöglichten eine breite Anbaupalette sowie ergänzende Milch- und Viehwirtschaft. Auf Überschüsse hin orientierte Farmen bestimmten das Bild. In Teilen des Hudson-Tals hingegen herrschten von den Niederländern etablierte Groß-Landbesitze mit dazugehörigem Pächtersystem vor – eine semifeudale Form der Bewirtschaftung, die starke Ähnlichkeit hatte mit den Verhältnissen in der französischen Neukanada-Ansiedlung am Sankt-Lorenz-Strom. Flankierend ergänzt wurde die Wirtschaft der Mittelatlantik-Kolonien durch bedeutende Handelszentren wie New York und Philadelphia. In den südlichen Kolonien war das Bild gemischt. Die Küstengebiete von Virginia und South Carolina waren von Plantagenwirtschaft geprägt mit entsprechendem Lebensstil und basierend auf Sklavenarbeit. Die landwirtschaftliche Produktion hier tendierte stark zu Monokulturen. Die Fokussierung auf die Hauptprodukte Tabak, Reis und Indigo band die südlichen Kolonien stärker an die Wirtschaft des Mutterlandes als den Rest. Zum wichtigsten Ausfuhrhafen avancierte die Südkolonien-Metropole Charleston. In North Carolina hingegen setzten sich kleinteiligere Formen von Landwirtschaft stärker durch. In Virginia schließlich erfolgte mit der Zeit eine Umorientierung in Richtung Getreideanbau. Die für den oberen Süden zentrale Küstenregion an der Chesapeake Bay veränderte infolge dieser Umstellung stark ihr Erscheinungsbild. Speziell die aufstrebende Hafenstadt Baltimore gewann hier zunehmende Bedeutung. Soziale Gliederung Die gesellschaftliche Binnenstruktur der 13 Kolonien war von unterschiedlichen Hierarchieformen durchzogen. Die homogenste Gesellschaftszusammensetzung fand sich in den Neuengland-Kolonien. Die ansässige Bevölkerung war vorwiegend englischer Abstammung. Zudem zeichnete sich Neuengland als Basis zahlreicher sektiererischer Religionsgemeinschaften aus. Die Lebenserwartung war aufgrund des gesunden Klimas höher als im Süden. Wirtschaftlich herrschte Kleinlandwirtschaft vor. Darüber hinaus waren die lokalen Selbstverwaltungsinstitutionen stark ausgeprägt. Eine typische Zusammenkunftsform hier war das Town Meeting. Deutliche Unterschiede bestanden indes zwischen Stadt und Land sowie Küste und Hinterland. Im Hinterland war Subsistenzwirtschaft weit verbreitet. In den Städten traten Klassen- und Schicht-Gegensätze stärker ins Gewicht. Die Weltläufigkeit der in Boston und Salem ansässigen Oberschicht war deutlich geringer als die derjenigen in der Mitte oder im Süden. Die Unterklasse von Boston hingegen galt als chronisch aufsässig – ein Faktor, welcher der Stadt den Spitznamen „Unruly Boston“ eintrug. Die Sozialstruktur in den mittleren Kolonien gestaltete sich wesentlich komplexer. Zum einen war der englische Bevölkerungsanteil deutlich niedriger. 1770 lag er zwischen 30 und 45 %. Hinzu kamen Einwanderer aus Schweden, Schottland, Deutschland sowie Familien jüdischer Herkunft. Prägend für diesen Teil der Kolonien war eine ausdifferenzierte Mischung aus Farmern, Handwerkern, Kaufleuten, Kleinunternehmern und Arbeitern. Die großen Städte der Region waren kosmopolitisch orientiert und in den transatlantischen Handel vollständig eingebunden. In Pennsylvania zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen dem Ost- und dem Westteil der Kolonie. Die Quäker-Elite konzentrierte sich im Osten rund um die Metropole Philadelphia. Aufgrund des auf sie zugeschnittenen Wahlrechts hielt sie ihre Vormachtstellung bis zum Unabhängigkeitskrieg. Im westlichen Kolonieteil dominierten anglikanische Großgrundbesitzer sowie iro-schottische Neusiedler. Aufgrund ihrer sozialen Situation waren sie in Bezug auf die Indianer an der Westgrenze deutlich konfliktorientierter als die Kolonie-Elite im Osten. In New Jersey sowie den älteren Teilen von New York koexistierten kleinbäuerliche Lebensweisen ähnlich wie in Neuengland mit feudalähnlich organisiertem Großgrundbesitz. Speziell im Tal des Hudson bestimmten weitausgreifende, noch auf die niederländische Periode zurückgehende Landbesitzungen das Bild – die sogenannten River Gods mit alteingesessenen Besitzerfamilien wie den Rensselaers, Livingstons, de Lanceys, Schuylers und Philipps. Das gesellschaftliche Klima in den mittleren Kolonien war stark von Weltoffenheit und Toleranz geprägt. Anders als in Neuengland wurde Reichtum offen zur Schau gestellt; von der Mentalität her galt die Bevölkerung in den mittleren Kolonien als unbeschwerter und lebenslustiger als die Neuengländer im Norden. Die Sozialstruktur des Südens war ländlich-hierarchisch geprägt. Einzige größere Metropole in der Region war Charleston. Im Detail existierten in den südlichen Kolonien allerdings Zonen mit deutlich unterschiedlichem Gepräge. Wichtigste Unterscheidungslinie war die zwischen oberem und unterem Süden (Upper South und Lower South) – eine Markierung, die sich bis zum Beginn des Unabhängigkeitskriegs klar herausgebildet hatte. Zum Upper South zählten die Kolonien Maryland, Virginia und Delaware; der Lower South umfasste die beiden Carolinas und Georgia. Aufgrund der extensiv betriebenen Sklavenwirtschaft hatte die Sozialstruktur des unteren Südens starke Ähnlichkeiten mit der in den karibischen Sklavenhalterkolonien. Aufgrund der hohen Konzentration von Sklaven (im Süden allgemein: 40 %, in South Carolina: über 50 % der ansässigen Bevölkerung) war die Furcht vor Sklavenaufständen groß. Die Verhältnisse in Georgia waren ursprünglich egalitärer geprägt. Allerdings näherten sich die Zustände in der südlichsten Kolonie recht rasch an die Verhältnisse im benachbarten South Carolina an. Aristokratisch geprägte Pflanzer-Dynastien standen zwar auch im Upper South an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide. Die für die Südkolonien typische Ständegesellschaft mit ihren klaren Abgrenzungen zwischen oben und unten wurde dort allerdings aufgebrochen durch Freibauerntum ähnlich wie im Norden. Hinzu kam eine heterogenere Bevölkerungszusammensetzung sowie ein deutlich geringerer Anteil an Sklaven. Darüber hinaus verfügte der obere Süden über einige mittelgroße Hafenstädte wie zum Beispiel Baltimore. Von einer eher durchmischten Struktur war auch das vergleichsweise abgelegene North Carolina geprägt. Als zweite wichtige Trennlinie etablierte sich die zwischen der tiefgelegenen Tidewater-Region an der Küste und dem höhergelegenen Appalachen-Vorland des Piedmont. Die Sozialstruktur des Piedmont ähnelte in vielem der in den mittleren und nördlichen Kolonien. Ansiedler in dieser Region waren vorwiegend Iro-Schotten und Schotten. Sklaverei spielte in dieser kleinagrarischen, von Subsistenzwirtschaft geprägten Region nur wenig eine Rolle. Bestimmender hier waren die stetigen Auseinandersetzungen mit den Indianerstämmen in der Grenzregion. Soziale Konflikte entluden sich im Verlauf der Koloniengeschichte mehrmals auf gewaltsame Weise. Bekanntestes Beispiel ist Bacon’s Rebellion – ein von Neusiedlern im Hinterland getragener Aufstand gegen die koloniale Oligarchie in Virginia 1676. Hintergrund war die – in den Augen der Rebellen – zu laxe Vorgehensweise der Staatsregierung gegen die Indianer im Hinterland. In anderen Fällen fanden die Auseinandersetzungen zwischen Siedlergruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft statt – so etwa in Pennsylvania zwischen Iro-Schotten an der westlichen Koloniegrenze und deutschen Kolonisten. In den Grenzgebieten der Carolinas wiederum entzündete sich der Konflikt an Interessengegensätzen zwischen Grenzzonen-Siedlern und „Proprietors“ von der Küste. Im Hudson-Tal eskalierte die Auseinandersetzung zwischen den ansässigen Großgrundbesitzern und Neusiedlern aus Massachusetts gegen Ende des Siebenjährigen Kriegs. Zusätzlich angeheizt wurde dieser Konflikt durch Bodenspekulanten aus Boston, die beabsichtigten, das Landmonopol der „River Gods“ aufzubrechen. Bildung, Kultur und Alltag Bildung und Kultur Bereits im 17. Jahrhundert etablierten sich die ersten höheren Bildungseinrichtungen. Vorreiter war die Neuengland-Kolonie Massachusetts. Die erste Universitätsgründung erfolgte bereits 1636: die Harvard University in Cambridge nahe Boston. Die zweite Universität war das William and Mary College in Williamsburg, Virginia (1693). 1701 folgte die Yale University in New Haven, Connecticut. Weitere Gründungen erfolgten um die Mitte des 18. Jahrhunderts: das College of Pennsylvania in Philadelphia (1740), Princeton in New Jersey (1746), die Columbia University in New York City (1754), Brown in Rhode Island (1764), Rutgers in New Jersey (1766) und das Dartmouth College in New Hampshire (1769). Das Grundschulsystem war in den Neuengland-Kolonien am weitesten entwickelt. In den Mittelatlantik-Kolonien bestanden Ansätze. In den südlichen Kolonien fehlte diese Komponente fast vollends. Der Alphabetisierungstand vor dem Unabhängigkeitskrieg: Von den Männern konnte die Hälfte lesen und schreiben, bei den Frauen betrug der Anteil lediglich ein Viertel. Der Buchdruck etablierte sich im Vergleich zu Europa eher zögerlich. 1639 wurde in Cambridge die erste Druckpresse in Betrieb genommen. Maryland folgte 1685, Virginia 1730. Bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts dominierten theologische oder sonst religiöse Publikationen. Das nach der Bibel wohl meistgelesene Gedicht war The Day of Doom von Michael Wigglesworth (1662). Eine wichtige Publikation der früheren Kolonisierungsphase war Magnalia Christi Americana von Cotton Mather (1702) – eine mit religiöser Sinndeutung versehene Pioniergeschichte der Puritaner in Amerika. Bedeutende Dichter im 17. Jahrhundert waren Michael Wigglesworth, Anne Bradstreet und Edward Taylor. Ein bedeutender Mathematiker der nordamerikanischen Kolonialära war Thomas Godfrey, der bekannteste Universalgebildete der Drucker, Verleger, Autor und Politiker Benjamin Franklin. Ab 1700 stieg das Volumen an gedruckten Publikationen deutlich an. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Pamphlete in allen Kolonien verbreitet. Der Postdienst sorgte bereits ab 1710 für den kostenlosen Transport von Zeitungen. Benjamin Franklin baute diesen in seiner Funktion als Postmaster General zusätzlich aus. Gebildete Kolonisten beteiligten sich zunehmend auch am transatlantischen Austausch. Die Aufklärung – vorwiegend in ihrer britischen Variante – fasste in gebildeteren Kreisen ebenfalls zunehmend Fuß. Lokal gab es dabei Unterschiede: Während radikalere Varianten der Whigs-Philosophie vor allem in den nördlichen und mittleren Kolonien Anklang fanden, orientierte man sich im Süden stärker am führenden Kopf der Country-Partei, dem britischen Politiker und Philosophen Lord Bolingbroke. Zum geistig-kulturellen Brennpunkt in den Kolonien entwickelte sich Philadelphia. Benjamin Franklin avancierte hier zur Leitfigur einer gemäßigt orientierten amerikanischen Aufklärung. Zum Kreis um Franklin gehörten unter anderem der Astronom David Rittenhouse, der Arzt Benjamin Rush, der Literat Francis Hopkinson sowie die Künstler Benjamin West und Charles Willson Peale. Neuengland adaptierte das Gedankengut der Aufklärung vergleichsweise spät: Das Gegenstück zu der in Philadelphia ansässigen American Philosophy Society, die in Cambridge beheimatete American Academy of Arts and Sciences, wurde erst 1780 gegründet. Früh in den Kolonien präsent war auch die Freimaurerei. 1730 erfolgte die Gründung der ersten amerikanischen Provinzialloge. Das Freimaurertum war auch unter den führenden Köpfen der Unabhängigkeitsbewegung stark präsent. Bekannte Vertreter: Benjamin Franklin und George Washington. In Sachen Theater und Musik gab es teils erhebliche Unterschiede zwischen den puritanischen Neuengland-Kolonien und dem Süden. Bei den Puritanern war Theater verboten. Die Gründe für die Ablehnung ergaben sich aus der puritanischen Ideologie: Vorbehalte gegen das berufsmäßige Betreiben von unterhaltenden Aktivitäten sowie, generell, gegen das Beziehen von Lebensunterhalt aus unproduktiver Arbeit. Im Süden hingegen herrschte reges Interesse an Theateraufführungen. Die Aufführungen allerdings wurden in der Regel von Laien-Schauspielgruppen absolviert. Das erste Stück, das angeblich in Nordamerika aufgeführt wurde, war Ye Beare and Ye Club aus dem Jahr 1665. Bezüglich Musik nahmen die neuenglischen Puritaner eine gemäßigt tolerante Haltung ein. Increase Mather, der zweite unter den drei führenden puritanischen Theologen, befürwortete sogar das Tanzen – allerdings nur unter Angehörigen des gleichen Geschlechts. Cotton Mather, sein Nachfolger, setzte sich für eine Verbesserung des Kirchengesangs ein und forderte zu diesem Zweck ein konsequenteres Singen nach Noten. Unter seiner Ägide wurde das Bay Psalm Book 1698 um dreizehn Melodien erweitert. In der Malerei gab es wenig eigenständige Ansätze. Landschaftsbilder, das verbreitetste Genre, wurden flankiert von Porträts. Oft wurde in diesen der europäische Hintergrund des Porträtierten herausgekehrt und seine soziale Position in Szene gesetzt. Ein früher Porträtist indianischen Lebens ist der Maler John White (1540–1593), der unter anderem an der Roanoke-Expedition von Walter Raleigh teilnahm. Architektur und Gebrauchsgegenstände-Fertigung unterlagen lokalen Abweichungen. Beim Hausbau dominierte eine praktische, platzökonomische Form. Im Süden war die Kombination aus Weidenruten und Lehm ein gebräuchliches Bau-Rohmaterial. Die sogenannten Log Cabins (Blockhütten) kamen zum Ende des 17. Jahrhunderts auf. Etabliert wurde diese Bauweise wahrscheinlich von Siedlern aus Skandinavien. Ergänzend hinzu kamen Bautechniken, die von den Indianern adaptiert wurden. Extravagante Züge waren auch in der Möbelfertigung verpönt. Bei den puritanischen Neuengländern etwa war eine vereinfachte, im Zierrat reduzierte Form des angloflämischen Stils verbreitet. Alltag und Rechtsprechung Rechtsprechung sowie darüber hinausgehende Alltagsreglements gestalten sich im Süden und in den neuenglischen Kolonien zum Teil stark unterschiedlich. In der Regel orientierte sich die Rechtsprechung in den Kolonien nach den Grundsätzen des britischen Common Law; selbst auf die korrekte Richterperücke wurde in der kolonialen Rechtsprechung ebenso Wert gelegt wie im Mutterland. Die Drakonik der Strafen entsprach im Wesentlichen den gängigen Praktiken des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Todesstrafe als härteste Form der Sanktion beispielsweise war nicht nur für Mord angesetzt, sondern – wenn auch nicht durchgehend in die Praxis umgesetzt – ebenso für bestimmte Sexualpraktiken, Ehebruch, Vergewaltigung, Raub, Pferdediebstahl, Brandstiftung, Hochverrat und Spionage. Auch die sogenannten Blue Laws, welche sich der Einhaltung der Sabbatruhe und der allgemeinen Sexualmoral widmeten, galten mehr oder weniger in allen Kolonien. Eine Besonderheit im Süden waren – in der frühen Kolonialepoche – die Regelungen zur Schuldknechtschaft sowie – in der mittleren und späten Periode – die auf Afroamerikaner gemünzten Slave Codes. Eine weit verbreitete Praxis war darüber hinaus die körperliche Züchtigung von Untergebenen. Sie umfasste nicht nur familiäre Abhängigkeitsverhältnisse, sondern war auch gegenüber un- sowie halbfreien Arbeitskräften sowie Hauspersonal weit verbreitet. In den neuenglischen Kolonien setzte sich schon früh der Trend hin zu einer religiös eingefärbten Rechtsprechung durch. Der puritanischen Ideologie gemäß sollte Amerika ein „plantation of religion, not a plantation of trade“ sein. Während sich in Virginia eine enge Anlehnung an das englische Rechtssystem etablierte, basierte die Justiz in den Neuengland-Kolonien stark auf biblischen Grundsätzen. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Radikalisierung des neuenglischen Kongregationalismus im Verlauf des 17. Jahrhunderts. Increase Mather etwa zeigte sich bezüglich Alkoholkonsum tolerant; sein Nachfolger Cotton Mather indes tendierte bereits zu einer abolitionistischen Haltung. Einen Trend hin zu Einfachheit enthielten auch die Reglements in Bezug auf angemessene Kleidung. Auffällige oder gar extravagante Kleidungsstücke waren verpönt. Darüber hinaus betonte die Art der Kleidungswahl auch ständische, soziale Unterschiede. Mit Körperstrafen geahndet wurden Abweichungen von der gängigen Sexualmoral – beispielsweise durch öffentliche Auspeitschung, etwa für unehelichen Verkehr. Das übliche Strafmaß hierfür: 30 Peitschenhiebe auf den Rücken. Weitere gängige Sanktionen waren: der Einsatz von Brandeisen, Stellung an öffentliche Pranger, Einklemmen der Zunge in einen gespaltenen Stock sowie – bei Brandstiftung – öffentliche Verbrennung. Die Todesstrafe für Ehebruch war – mit Ausnahme der Plymouth-Kolonie und Rhode Island – zwar in allen Neuengland-Kolonien angesetzt. In der Praxis fielen diesbezügliche Urteile jedoch deutlich milder aus. Bekanntestes Beispiel für den religiösen Fanatismus in Neuengland sind die Hexenprozesse von Salem 1692, in deren Verlauf es zu rund 200 Anklagen kam. 150 Verdächtige wurden inhaftiert, 19 Personen und zwei Hunde aufgehängt, ein nicht geständiger Verurteilter zu Tode gepresst. Die Verstrickung des obersten Koloniegeistlichen Cotton Mather ist umstritten; belegt ist allerdings seine Beteiligung in der Vorermittlungsphase. Historiker bewerten die Salemer Prozesse als eine Reaktion auf die innere Krise des neuengländischen Puritanismus. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts lockerte sich die religiöse Kontrolle Zug um Zug. Während im 17. Jahrhundert etwa Quäker noch vertrieben und in Einzelfällen sogar hingerichtet wurden, setzte mit dem verstärkten Zuzug von Angehörigen anderer protestantischer Gemeinschaften Zug um Zug eine Liberalisierung ein. Eine Besonderheit in der frühen Kolonialperiode war der Mangel an Einwanderinnen. Frauen- und allgemein Nachwuchsmangel stellten speziell in der Virginia-Kolonie ein großes Problem dar. 1619 wurden 90 heiratsfähige junge Frauen nach Virginia verschifft. Aufgrund des Siedlermangels verlegte sich die Handelsgesellschaft zusätzlich auf die zwangsweise Verschickung von Waisenkindern. Da man mit dem ersten Schub gute Erfahrungen gemacht habe, forderte die Kolonie 1619 weitere 100 Kinder an. Die traditionelle Frauenrolle wurde auch im weiteren Verlauf der Kolonienentwicklung wenig hinterfragt. Die Bedingungen an der Grenze modifizierten zwar die männliche Vormachtstellung, stellten sie grundsätzlich allerdings nicht in Frage. Unternehmerinnen etwa waren in der Regel Witwen, welche das Geschäft ihres Mannes fortführten. In Frage gestellt wurde das traditionelle Rollenbild von einigen Aufklärern. Der Radikalaufklärer Thomas Paine etwa stellte in seiner Schrift Reflections of Unhappy Marriages (1776) die christliche Ehe in Frage. Eine Verlängerung der Ehe über die Phase der Leidenschaft sei, so Paine, nicht weiter als „offene Prostitution, auch wenn sie durch den Buchstaben des Gesetzes abgemildert wird“. Im Großen und Ganzen bewegten sich Rollenverständnis-Veränderungen in dem Rahmen, der auch in Europa vorherrschte: mit der Folge, dass sich wirkliche Veränderungen in Richtung Emanzipation erst nach der Kolonialperiode vollzogen – im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts. Siehe auch Britische Kolonisierung Amerikas Geschichte der Vereinigten Staaten Literatur Deutsch Hans R. Guggisberg, Hermann Wellenreuther: Geschichte der USA. 4., erweiterte und aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2002, ISBN 978-3-17-017045-2. Jürgen Heideking, Christof Mauch: Geschichte der USA. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Francke Verlag, Tübingen / Basel 2006, ISBN 978-3-7720-8183-5. Michael Hochgeschwender: Die Amerikanische Revolution. Geburt einer Nation 1763–1815. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-65442-8. Stephan Maninger: Die verlorene Wildnis. Die Eroberung des amerikanischen Nordostens im 17. Jahrhundert. Verlag für Amerikanistik, Wyck auf Föhr 2009, ISBN 978-3-89510-121-2. Dominik Nagl: No Part of the Mother Country, but Distinct Dominions – Rechtstransfer, Staatsbildung und Governance in England, Massachusetts und South Carolina, 1630–1769. Lit Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-643-11817-2. Gerd Raeithel: Geschichte der nordamerikanischen Kultur. Band 1: Vom Puritanismus bis zum Bürgerkrieg 1600–1860. 4. Auflage. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-88679-166-1. Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415–2015. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-68718-1. Bernd Stöver: United States of America. Geschichte und Kultur. C. H. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63967-8. Hermann Wellenreuther: Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts. 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März 2014 Einzelnachweise Britische Kolonialgeschichte (Amerika) !Dreizehn Kolonien Koloniegründung der Frühen Neuzeit
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Leipziger Disputation
Die Leipziger Disputation war ein akademisches Streitgespräch zwischen dem Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck als Herausforderer und den Wittenberger Theologieprofessoren Andreas Bodenstein (genannt Karlstadt) sowie Martin Luther als Verteidigern. Es fand vom 27. Juni bis zum 15. Juli 1519 in der Leipziger Pleißenburg statt. Herzog Georg von Sachsen hatte sich erfolgreich für die Ausrichtung der Disputation durch die Universität Leipzig eingesetzt. Ursprünglich hatte Karlstadt Eck im Mai 1518 zu einer Disputation über die menschliche Willensfreiheit und die Gnade Gottes aufgefordert. Er hatte von Ecks Kritik an Luthers 95 Thesen erfahren und wollte die gemeinsame Wittenberger Theologie öffentlich verteidigen. Mit Lucas Cranach entwarf er das wahrscheinlich erste reformatorische Flugblatt. Eck bezog sich mit seinen Thesen zur Vorbereitung der Disputation statt auf Karlstadt so deutlich auf Luther, dass dieser schriftlich reagierte und im Frühjahr 1519 eine eigene Teilnahme an der Leipziger Disputation anstrebte. Zugleich rückte Eck die Themen Kirche und Papstamt ins Zentrum der Auseinandersetzung mit Luther. Die Disputation von Karlstadt und Eck über die menschliche Willensfreiheit fand wie geplant in Leipzig statt, fand aber weniger Beachtung als die Disputation über den päpstlichen Primat, dessen Begründung aus göttlichem Recht von Luther verneint und von Eck verteidigt wurde. Die Rollenverteilung bei einer Disputation war unsymmetrisch. Als Opponent hatte Eck die Möglichkeit, den Gang der Diskussion vorzugeben. Er nutzte dies, um Luther damit zu konfrontieren, dass ähnliche Aussagen zum Papsttum vom Konstanzer Konzil im Fall des Jan Hus als ketzerisch verurteilt worden waren. Luther erklärte, das Konzil habe geirrt, einige Sätze von Hus seien christlich und evangelisch. Damit relativierte Luther nicht nur die Autorität des Papstes, sondern auch die Autorität von Konzilien. Mit diesen Aussagen hatte er sich faktisch vom Kirchenverständnis seiner Zeit gelöst. Als Respondent konnte Luther Eck mit seinen Argumenten aus der Kirchengeschichte punktuell in Schwierigkeiten bringen. Aber auf den Gang der Gespräche gewann er wenig Einfluss. Eck wurde nach dem Ende der Veranstaltung in Leipzig als Sieger der Disputation gefeiert. Auch Luther räumte ein, dass Eck gesiegt habe. Allerdings trat der von Eck erwartete Effekt nicht ein: Sympathien für einen Ketzer bekundet zu haben, schadete Luther nicht. Das akademische Urteil über die Disputation blieb aus, aber die öffentliche Meinungsbildung kam in Gang und fiel zugunsten Luthers aus. Luther begann, Jan Hus als seinen Vorläufer zu interpretieren. Leipziger Disputation im Kontext Die Leipziger Disputation im Sommer 1519 fand in einem Zeitfenster statt, das sich Anfang 1520 wieder schloss: Nach dem Tod von Kaiser Maximilian (12. Januar 1519) hatte Luthers Landesherr Friedrich der Weise als Mitglied des Kurfürstenkollegiums eine wichtige Rolle bei der anstehenden Kaiserwahl. Friedrich schützte seinen Wittenberger Professor, als dieser durch seine 95 Thesen in den Konflikt mit der römischen Kurie geriet. Damit folgte er einem auch in anderen zeitgenössischen Konflikten zu beobachtenden Muster: Weltliche Obrigkeiten versuchten, die kirchliche Jurisdiktion auf ihrem Territorium zu kontrollieren. Die Kurie war vor allem daran interessiert, dass Friedrich bei der Kaiserwahl in ihrem Sinn agierte. Um ihn nicht zu brüskieren, stellte sie Luthers Häresieprozess zurück. Das ermöglichte es Luther und seinem Kreis, ihre Reformideen ein Jahr lang ungehindert zu verbreiten. Parallel zur Leipziger Disputation fand in Frankfurt der Kaiserwahltag statt. Die Wahl des Habsburgers Karl erfolgte am 28. Juni 1519; am 3. Juli unterzeichnete er die von Friedrich dem Weisen entworfene Wahlkapitulation. Seit Anfang des Jahrhunderts waren in den größeren Städten sowie an einigen Fürstenhöfen Kreise von Gebildeten entstanden, die eine Begeisterung für Wissenschaft und Literatur der Antike teilten. Sie befürworteten Reformen, z. B. eine Modernisierung des Universitätsbetriebs. „Es ist verständlich, daß man hier in Luthers Anläufen gegen Scholastik und Ablaßwesen verwandte Bestrebungen sah und in dem Wittenberger Professor einen Bundesgenossen begrüßte.“ Diese neuen Freunde übersahen zunächst, dass Luther selbst vom Humanismus nicht tief geprägt worden war. Vorläufig fand Luther hier eine interessierte Öffentlichkeit, an die er sich wenden konnte, während die amtlichen kirchlichen Stellen und Teile der Theologenschaft mit Unverständnis und Ablehnung reagierten. Ihr Beharren auf dem Status quo und der gegen ihn in Gang gebrachte Häresieprozess bewirkten, dass Luther ein eigenes Verständnis der Kirche (Ekklesiologie) entwickelte – als Gemeinschaft der Gläubigen und nicht als Heilsanstalt. „Er trat immer weiter aus dem bisherigen Kirchenwesen heraus.“ Dies sind Entwicklungen, die die Reformationsgeschichte im Zeitraum von 1517 bis 1520 prägen und bei dem Ereignis der Leipziger Disputation wie in einem Brennglas betrachtet werden können. Publizistischer Vorlauf Vor Beginn der Auseinandersetzungen standen Johannes Eck und Martin Luther in einem freundschaftlichen Briefwechsel. Der Nürnberger Diplomat und Humanist Christoph Scheurl hatte die beiden miteinander bekannt gemacht. Die Freundschaft, auf die sich beide beriefen, war allerdings keine persönliche Beziehung, sondern ein unter Humanisten üblicher Kontakt. Im Gegensatz zur Wettkampfmentalität scholastischer Theologen kultivierte man in Scheurls Freundeskreis und ähnlichen Netzwerken einen harmoniebetonten Austausch, indem man eigene und fremde Werke einander zur Lektüre zusandte und brieflich Kontakt hielt. Johannes Eck übersandte an Martin Luther seine Wiener Disputationsthesen, und Luther ließ Eck seine Disputationsthesen gegen die scholastische Theologie und gegen den Ablass überbringen. Eck schrieb an Scheurl, er würde zehn Meilen weit gehen, um an der Disputation teilzunehmen, zu der Luther mit seinen 95 Thesen eingeladen hatte. Er liebe diese Form der akademischen Auseinandersetzung. In einem Brief an den Wiener Humanisten Johannes Cuspinian beurteilte Eck die 95 Thesen so: „Ich leugne nicht die sehr großen Mißbräuche bezüglich des Ablasses. Darin lobe ich Luther. Was er aber über das Sakrament der Buße behauptet, bestreite ich entschieden.“ „Spießchen“ und „Sternchen“ Bei einem Besuch des Eichstätter Fürstbischofs Gabriel von Eyb, dem Kanzler der Universität Ingolstadt, äußerte sich Eck kritisch über Luthers Thesen. Der Bischof wünschte eine schriftliche Ausarbeitung dieser Kritik. Eck verfasste daraufhin Anmerkungen (Adnotationes) zu achtzehn von Luthers 95 Thesen, die für den persönlichen Gebrauch des Bischofs bestimmt waren. Der Augsburger Domherr Bernhard Adelmann ließ diesen Text im März 1518 auf Umwegen Luther zukommen. Anknüpfend an eine Bemerkung Ecks betitelte Luther diese in polemischem Ton gehaltene Schrift Obelisci („Spießchen“, , latinisiert von ). Die antike Literaturwissenschaft benutzte den Obeliscus als Zeichen für unechte, auszumerzende Textstellen. Im Mittelalter wurden ketzerische Sätze auf diese Weise gekennzeichnet. Ihrem privaten Charakter entsprechend ist nicht leicht nachzuvollziehen, wie sich die Anmerkungen Ecks genau auf Luthers 95 Thesen beziehen. Im Blick auf die spätere Auseinandersetzung ist interessant, dass Eck Luther vorwarf (wohl mit Blick auf die Thesen 48 und 57), er lasse es an Ehrfurcht gegenüber dem Papst mangeln. Dem evangelischen Kirchenhistoriker Volker Leppin zufolge nahm Luther zu dieser Zeit eine Haltung des Gehorsams gegenüber dem Papst ein und hielt ihn zugleich für einen fehlbaren Menschen; damit sei er aber im Rahmen des damals Vertretbaren geblieben. Eck bemerkte außerdem, Luthers Verständnis der Kirche verbreite „böhmisches Gift“. Der Verdacht Ecks, Luther stehe dem als Ketzer in Konstanz verbrannten böhmischen Theologen Jan Hus nahe, zieht sich als Leitmotiv durch die folgende Auseinandersetzung, bis das Thema beim Rededuell in Leipzig zwischen Eck und Luther öffentlich ausgetragen wurde. Luther verfasste 1518 eine Gegenschrift mit dem auf die Obelisci Bezug nehmenden Titel Asterisci („Sternchen“). Mit diesen textkritischen Zeichen wurde der wertvollere Text markiert. Über Wenzeslaus Linck sandte Luther Eck die Asterisci am 19. Mai zu. In dem beigefügten Begleitbrief zeigte sich Luther verletzt über Ecks scharfen Ton. Scheurl unternahm im Juni einen Versöhnungsversuch zwischen Eck und Luther. Weder die Obelisci noch die Asterisci waren für den Druck gedacht; der erste Druck der beiden miteinander verschränkten Texte erfolgte später in bearbeiteter Form in einer Ausgabe von Luthers lateinischen Werken. Karlstadts Disputationsaufforderung Unterdessen hatte Karlstadt, Dekan der theologischen Fakultät der Wittenberger Universität, die Obelisci gelesen. Er publizierte mit Datum vom 9. Mai 1518 ohne Luthers Wissen 406 Thesen (380 plus 26 für den Druck hinzugefügte), von denen sich die Thesen 103 bis 213 gegen Eck richteten. Ihm ging es darum, den guten Ruf der Universität zu verteidigen. Diese sogenannten „Verteidigenden Schlußsätze“ (Apologeticae conclusiones) stellen zugleich Karlstadts persönliche theologische Standortbestimmung dar. Die Bibel war für ihn die höchste Autorität. Er vertrat die Unfähigkeit des menschlichen Willens zum Guten und die Passivität des Menschen gegenüber der Gnade Gottes. Über diese Thesen wollte er im Sommer 1518 in mehreren Veranstaltungen öffentlich disputieren. Dabei ist bemerkenswert, dass es ein Druckwerk war, das die Leipziger Disputation lostrat: Für die geplante Disputationsserie hätte Karlstadt seine Apologeticae conclusiones in üblicher Weise als „Zettel“ (Plakatdruck) veröffentlichen können, davon hätte Eck in Ingolstadt wahrscheinlich nichts bemerkt. Stattdessen entschied er sich für einen Libelldruck der Offizin Rhau-Grunenberg und erreichte damit eine größere Leserschaft. Eck antwortete Luther Ende Mai brieflich, noch in Unkenntnis von Karlstadts Publikation: Er berief sich auf die frühere Freundschaft, die Obelisci seien den Wittenbergern durch eine Indiskretion bekannt geworden, und ihm liege nichts an einem Streit. Auch Luther schrieb noch einmal deeskalierend an Eck, doch Karlstadts Disputationsvorhaben hatte nun durch die in Hunderten von Exemplaren verbreiteten Apologeticae conclusiones eine Eigendynamik gewonnen – Eck musste reagieren. Er tat das mit seiner Verteidigungsschrift, die am 14. August 1518 im Druck erschien. Sie war betitelt als „Verteidigung gegen die bitteren Angriffe des Dr. Andreas Bodenstein aus Karlstadt“ (Defensio contra amarulentas D. Andreae Bodenstein Carolstatini invectiones). Auf dem Titelblatt schlug er Karlstadt vor, die strittigen Fragen vom apostolischen Stuhl und den Universitäten Rom, Paris oder Köln entscheiden zu lassen. Als Datum für die Disputation schlug er den 3. April 1519 vor, den Ort solle Karlstadt bestimmen. Auf dem Reichstag zu Augsburg im Oktober 1518 trafen sich Luther und Eck und verständigten sich über die Bedingungen der Disputation. Luther trat dabei als Unterhändler für Karlstadt auf. Die Wittenberger schlugen Leipzig oder Erfurt vor, und Eck wählte Leipzig. Eck wandte sich nun über Herzog Georg von Sachsen an die Universität Leipzig, um deren Zustimmung zur Disputation zu erhalten. Aber die Leipziger Theologen sträubten sich zunächst. Das Thema sei heikel und solle auf einer Provinzialsynode oder vor päpstlichen Kommissaren verhandelt werden. Dafür setzte sich auch Bischof Adolf von Merseburg beim Herzog ein. Dem Landesherrn war es aber ein persönliches Anliegen, die Disputation stattfinden zu lassen. Georg von Sachsen wollte mit der Ausrichtung dieses akademischen Streitgesprächs das Ansehen seiner Landesuniversität vermehren. Karlstadts Flugblatt Zur Vorbereitung der Leipziger Disputation entwickelte Karlstadt in Zusammenarbeit mit Lucas Cranach dem Älteren ein großformatiges Flugblatt (Querformat, 29,9 × 40,7 cm) mit dem Titel „Wagen“. Es erschien im März 1519 und verbreitete sich rasch. In zwei Bildzonen sieht man oben einen von Paulus und Augustinus gelenkten Achtspänner, der mit einem Laien zur Himmelspforte unterwegs ist, wo er von Christus erwartet wird. In der unteren Bildzone ist ein Siebenspänner mit einem scholastischen Theologen in Gegenrichtung zum Höllenrachen unterwegs. Der Holzschnitt wurde wohl in einem zweiten Druckvorgang mit erläuternden Textfeldern kombiniert. Es gibt sowohl eine lateinische als auch eine deutsche Version dieses wahrscheinlich ältesten reformatorischen Flugblatts. Der obere Wagen verdeutlicht das theologische Programm, für das Karlstadt Anfang 1519 stand, der untere Wagen stellt die Gegenposition satirisch dar. Karlstadt empfahl in der Tradition der Mystik ein christliches Leben, das durch Kreuzesnachfolge, Buße und Gelassenheit gekennzeichnet war. Der „Wagen“ wirkte provozierend, besonders die Gegenüberstellung des zum Himmel fahrenden Laien als des wahren Christen und des zur Hölle fahrenden Scholastikers. Der Laie verzichtet laut beigefügtem Text auf den Eigenwillen und lässt Gott wirken, während auf dem Höllenwagen die Willensfreiheit proklamiert wird: „Unser wil macht guter werck substantz“. Eck, der die Darstellung auf sich bezog, beschwerte sich zweimal brieflich bei Friedrich dem Weisen. In Leipzig zerriss ein Theologieprofessor auf der Kanzel ein Exemplar des Flugblatts. Leipziger Studenten, die bei der Beichte bekannten, sich über die Darstellung amüsiert zu haben, bekamen harte Bußen auferlegt. Ecks Thesen und Luthers Gegenthesen Als textliche Grundlage zur Disputation mit Karlstadt veröffentlichte Eck am 29. Dezember 1518 zwölf Thesen. Dabei griff er aber Themen aus Luthers 95 Thesen auf. Besonders offensichtlich war das bei der Schlussthese, die auf Luthers Kommentar zu seinen 95 Thesen (den Resolutiones) Bezug nahm. Gegen Luther formulierte Eck: „Es ist falsch zu behaupten, daß die römische Kirche vor den Zeiten [Papst] Sylvesters … noch nicht die Oberhoheit gehabt hat, vielmehr haben wir den, der den Stuhl des hl. Petrus innehatte und seinen Glauben besaß, immer als den Nachfolger Petri und allgemeinen Stellvertreter Christi anerkannt.“ Damit wurde das Thema des päpstlichen Primats auf die Agenda der Leipziger Disputation gesetzt. Luther, der zu diesem Zeitpunkt gar nicht als Disputationsteilnehmer vorgesehen war, reagierte mit 12 Gegenthesen, die er einem offenen Brief an Karlstadt vom 4./5. Februar 1519 beifügte. Sie wurden bereits am 7. Februar gedruckt. In der am 14. März 1519 gedruckten „Verteidigung und Entgegnung des Johannes Eck gegen Anklagen des Augustiners Martin Luther“ (Disputatio et excusatio Joannis Eccii adversus criminationes F. Martini Lutter ordinis Eremitarum) erweiterte Eck seine Thesenreihe. Die Schlussthese zur Frage der Superiorität der römischen Kirche wurde dadurch zu Ecks dreizehnter These. Luther formulierte 13 Gegenthesen unter dem Titel „Disputation und Entgegnung gegen die Anschuldigungen des Johannes Eck“(Disputatio et excusatio adversus criminationes Joannis Eccii). Mit der Schlussthese zum päpstlichen Primat ging Luther über seine bisherigen Äußerungen zum Thema hinaus: „Daß die römische Kirche über allen anderen steht, wird [nur mit schwachen Argumenten] bewiesen aus den eiskalten Dekreten der römischen Päpste in den letzten 400 Jahren, gegen welche die bewährte Geschichte der ersten 1100 Jahre, der Text der Hl. Schrift und der Beschluß des Nizänischen Konzils, des heiligsten von allen, steht.“ Luther leitete aus den Konzilsbeschlüssen von Nizäa die Gleichrangigkeit der Bischöfe von Rom und Alexandria ab. Während Luther von Eck und Herzog Georg weiterhin im Unklaren gelassen wurde, ob er an der Disputation überhaupt teilnehmen durfte, spitzte sich der Konflikt zwischen Eck und Luther durch ihren folgenden Briefwechsel auf die Autorität des Papstes zu. Karlstadt positionierte sich in dieser Frage deutlich anders als Luther. In seinen Thesen gegen Eck, die er im April 1519 publizierte, hob er hervor, dass er ein „Verehrer des Papstes und gehorsames Glied der Kirche“ sei. Aber nicht nur Karlstadt, sondern auch andere Wittenberger Kollegen und der Nürnberger Scheurl fanden Luthers Schlussthese problematisch. Eine so ungeschützte Aussage würde Eck zweifellos angreifen. Um sich darauf vorzubereiten, trieb Luther eingehende Studien des Kirchenrechts und der Kirchengeschichte. Ihr Ergebnis ist die am 6. Juni 1519 veröffentlichte Abhandlung mit dem Titel „Luthers Erklärung seiner 13. These über die Macht des Papstes“ (Resolutio Lutheriana super propositione sua decima tertia de potestate papae). „Diese Schrift hat gegenüber der Disputation den Vorzug, daß Luther hier weitaus systematischer seine Auffassung vom Papsttum entfalten konnte, als es in der Disputation möglich war“, so Bernhard Lohse. Luther schätzte die Konzilien der alten Kirche, zusammen mit den Kirchenvätern, da sie zeitlich und inhaltlich dem Neuen Testament relativ nahe standen. Dagegen bewertete er die jüngere kirchliche Tradition und ihre Konzilien kritisch. In dem Briefwechsel mit Hieronymus Dungersheim, der nach der Leipziger Disputation stattfand, legte Luther offen, welche kirchenhistorischen Quellen ihm zur Verfügung standen: das Corpus Iuris Canonici, die Kirchengeschichte des Eusebius und jene des Cassiodor, die Papstchronik von Bartolomeo Platina, die Schriften der Kirchenväter (vor allem Augustinus und Cyprian), schließlich die griechischen Kanones des Konzils von Nicäa. Die Resolutio war eine Art literarischer Ersatz für eine Teilnahme an der Disputation, falls Luther nicht zugelassen werden sollte. Darum argumentierte Luther in dieser Schrift streng nach akademischen Standards. Dass er sich im Vorwort für die erschwerte Lesbarkeit entschuldigte, zeigt nach Meinung des evangelischen Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann, dass er mit einem Publikum rechnete, dem Disputationen nicht vertraut waren. Schon hier habe Luther danach gestrebt, die Diskussion in eine Öffentlichkeit jenseits des akademischen Rahmens hinauszutragen; dies sollte sich im Verlauf der Disputation und in ihrem Nachgang wiederholen. Öffentliche Inszenierung Vorgeplänkel Der evangelische Kirchenhistoriker Christopher Spehr charakterisiert die Leipziger Disputation als „Theologenkongress von nationaler Bedeutung mit öffentlich-inszeniertem Rahmenprogramm.“ Noch unmittelbar vor Beginn der Veranstaltung erließ Bischof Adolf von Merseburg ein Verbot der Disputation, das an einer Kirchentür angeschlagen wurde. Georg von Sachsen ließ den Boten verhaften, das Verbotsmandat dem Bischof zurückschicken und traf Vorkehrungen, um etwaige Störungen zu verhindern. Während über das Interesse der Leipziger Bevölkerung an Eck, Karlstadt oder Luther nichts Sicheres bekannt ist, fand sich ein zahlreiches auswärtiges Publikum ein. Mosellanus zufolge waren viele Äbte, Grafen und Ritter des Goldenen Vlieses eingetroffen, um die Disputation mitzuerleben, außerdem zahlreiche Gelehrte und Ungelehrte. Hieronymus Emser war als Hofgeistlicher des Herzogs zugegen, und der Abt von Lehnin war vom Brandenburger Bischof entsandt worden. Unter den Beobachtern waren Johann Lang aus Erfurt, Thomas Müntzer, der kursächsische Rat Hans von der Planitz, der mansfeldische Rat Johann Rühel und ein böhmischer Orgelmacher namens Jakubek. Eck behauptete mehrfach, in der Zuhörerschaft säßen etliche aus Prag angereiste „Häretiker“. Johannes Eck traf bereits am 22. Juni 1519 in Begleitung eines Dieners in Leipzig ein. Die Leipziger Lokaltradition, Eck habe beim Bürgermeister Benedikt Beringershain in dessen Wohnhaus Petersstraße / Ecke Thomasgäßchen gewohnt, ist unbelegt. Am 24. Juni zog die Wittenberger Delegation durch das Grimmasche Tor in die Stadt ein: Im vorderen Wagen saß Karlstadt, der zahlreiche Bücher mitführte. Im zweiten Wagen saßen Luther und Melanchthon zusammen mit dem späteren Herzog Barnim IX. von Pommern-Stettin, damals Ehrenrektor der Wittenberger Universität. Nikolaus von Amsdorf und Johann Agricola hatten sich als Kollegen der Delegation angeschlossen. Rund 200 teils mit Spieß und Hellebarde bewaffnete Wittenberger Studenten gingen als Ehrengeleit neben den Wagen her. Diese studentische Eskorte war eine Geste der Solidarität; sie zeigt, dass zu dieser Zeit zwischen der Wittenberger Studentenschaft und den noch recht jungen Professoren Luther und Karlstadt eine große Nähe bestand. Nach dem Wartburgaufenthalt 1521/22 konnte Luther in seinen späteren Jahren als Professor daran nicht wieder anknüpfen. Während des etwa dreiwöchigen Streitgespräches wohnten die Reformatoren bei dem Buchdrucker Melchior Lotter in dessen Haus in der Hainstraße. Einige der mitgereisten Studenten randalierten in der Stadt und machten sich einen Spaß daraus, Eck zu bedrängen. Sie zogen nachts lärmend vor seinem Quartier auf und versuchten, ihn während der Disputation aus dem Konzept zu bringen, indem sie zu ihren Degen griffen. Der Dresdner Hoftheologe Emser organisierte für Eck eine Eskorte aus jungen Magistern der Leipziger Universität. Diener des Stadtrats begleiteten Eck, wenn er in Leipzig unterwegs war, man rechnete also mit Übergriffen. Auch die Rivalität der traditionsreichen Universität Leipzig und der jungen Wittenberger Universität spielte bei diesem Geplänkel eine Rolle. Organisatorischer Rahmen Der Herzog war zeitweise persönlich anwesend; die Organisation und Leitung der Veranstaltung hatte er seinem Rat Caesar Pflugk und seinem Kanzler Johann Kochel übertragen. Diese beiden wirkten während der Disputation auch als Schiedsrichter. Da die Universität Leipzig keinen großen Saal zur Verfügung stellen konnte, fand die Disputation in der Hofstube der Pleißenburg statt. Der Raum war mit Tapisserien hergerichtet. Für die Kontrahenten hatte man zwei Katheder aufgestellt. Die Zuhörer wählten ihre Plätze nahe dem Katheder des von ihnen bevorzugten Disputanten, dabei saßen die Vertreter der Leipziger Universität auf der Seite Ecks. 76 bewaffnete Leipziger Bürger sicherten die Veranstaltung ab. Der 26. Juni war der Absprache organisatorischer Fragen zwischen Eck und Karlstadt gewidmet. Die Absprachen zwischen Eck und Luther wurden erst am Folgetag getroffen – weil Luther bis zum Beginn der Veranstaltung offiziell als Begleiter Karlstadts, aber nicht als Disputant galt. Den Sieger der Disputation zwischen Karlstadt und Eck sollte die theologische Fakultät der Universität Erfurt bestimmen, bei der Disputation Ecks mit Luther dagegen die theologischen Fakultäten der Universitäten Erfurt und Paris gemeinsam, aber mit Ausnahme der Mitglieder des Dominikaner- und Augustinereremitenordens. Luther hielt Theologen und Kirchenrechtler in der Primatsfrage für parteiisch. Er schlug vor, das Schiedsgericht den ganzen Universitäten zu übertragen. Auch Gelehrte anderer Fakultäten könnten die Materie beurteilen. Georg von Sachsen, der darüber zu entscheiden hatte, lehnte Luthers Vorstoß ab. Eck hätte gerne nach „italienischer“ Weise in freier Rede disputiert. So hätte er als geübter Disputationsredner mit seiner Schlagfertigkeit punkten können. Karlstadt ließ sich aus gutem Grund nicht darauf ein. Vier Notare protokollierten alle Reden, die ihnen von den Disputierenden in die Feder diktiert wurden. Dadurch sank der Unterhaltungswert gegenüber der „italienischen“ Disputation, andererseits konnte das Publikum bei dem geruhsamen Tempo der Argumentation genauer folgen. Wie sich herausstellte, schrieben auch einige Zuhörer mit. Der Plan, die Akten der Disputation nur dem Schiedsgericht zugänglich zu machen, wurde durch diese inoffiziellen Mitschriften gegenstandslos. Programm Die Disputation begann am 27. Juni mit einem Festakt. Nachdem Simon Pistoris der Ältere das gesamte Auditorium im Namen der Leipziger Universität begrüßt hatte, ging man gemeinsam zum Gottesdienst in die Thomaskirche. Der Thomanerchor führte eine für diesen Anlass von Georg Rhau komponierte zwölfstimmige Messe auf. Es folgte die Festprozession zur Pleißenburg. Dieser Programmpunkt stellte eine Analogie zwischen der Disputation und einem Turnier her. Die Eröffnungsrede in der Hofstube hielt Petrus Mosellanus, der als humanistischer Ireniker zu einem fairen Disputationsstil aufrief. Daraufhin knieten alle Anwesenden nieder, und die Thomaner sangen, begleitet von den Stadtpfeifern, „Komm heiliger Geist“. Es gab drei Gesprächsgänge und siebzehn Disputationstage: 27. und 28. Juni, 30. Juni bis 3. Juli: Eck gegen Karlstadt; 4. bis 9. Juli und 11. bis 13. Juli: Eck gegen Luther; 14. und 15. Juli: Eck gegen Karlstadt. Am 29. Juni, dem Peter- und Paulstag, fand keine Disputation statt. Barnim von Pommern hatte sich eine Predigt Luthers in der Schlosskirche gewünscht. Wegen Überfüllung der Kirche predigte Luther im Disputationssaal. Zufällig war Tagesevangelium. Das gab Luther Gelegenheit, seine Position auch in Predigtform vorzutragen; diese Predigt erschien überarbeitet später im Druck. Eck hielt anschließend in mehreren Leipziger Kirchen Gegenpredigten. Die Dauer der Veranstaltung war dadurch vorgegeben, dass Kurfürst Joachim von Brandenburg im Anschluss daran bei Herzog Georg von Sachsen zu Gast war, die Pleißenburg also anderweitig genutzt werden sollte. Ähnlich wie bei der Eröffnung, gab es auch ein Zeremoniell beim Abschluss der Disputation: ein feierliches Te Deum und eine Rede. „Luther hat daran wahrscheinlich nicht mehr teilgenommen, da er zu einem Treffen mit Staupitz abgereist war.“ Während die Wittenberger Delegation die Stadt direkt nach dem Ende der Veranstaltung verließ, wurde Eck neun Tage lang in Leipzig als Sieger gefeiert. Dass der Ingolstädter die ihm gebotenen Annehmlichkeiten zu genießen wusste und sie in Briefen rühmte, gab später den Stoff für die Satire Eccius dedolatus und Luthers Verunglimpfung Ecks als „Dr. Sau“ bzw. das „Schwein von Ingolstadt“. Regeln und Strategien Eine Disputation folgte festen Regeln und verlief anders als eine Diskussion heute. Der Leser der Leipziger Disputationsprotokolle wird damit konfrontiert, dass die Kontrahenten bis zu fünfzehn Argumente simultan disputierten. „Der eigentliche Streitgegenstand scheint in einer Vielzahl unübersichtlicher Nebenfragen, Beweisketten und Widerlegungen unterzugehen, nebenher werden Streitigkeiten über Verfahrensregeln und Decorum ausgetragen.“ Bevor die Disputation begann, versicherten die Teilnehmer in der sogenannten protestatio mit einem Eid, alles, was quasi im Eifer des Gefechts von ihnen gesagt werde und was vielleicht gegen die Lehre der Kirche verstoße, werde nur „disputative“ erörtert, aber nicht „assertive“ behauptet. Durch die vorher festgelegte Rollenverteilung war Luther zum Respondenten bestimmt worden. Als solcher machte er den ersten Zug und warf seine These in den Ring (in Luthers Fall war das die 13. These aus der zuvor gedruckten Thesenreihe). Dann war Eck am Zug. In der Rolle des Opponenten hatte er das erste Wort und präsentierte seine Oppositionsthese. Luther als Respondent durfte nur auf Ecks Darlegungen antworten, er hatte keine Möglichkeit, seine eigene Argumentation zu entwickeln oder auf seine ursprüngliche These zurückzulenken. Positiv betrachtet genoss der Respondent die Freiheit des Experimentierens. Er brauchte keine Beweise für seine eigene These zu bringen; es reichte, wenn er alles entkräftete und zerstörte, was der Opponent gegen ihn an Argumenten aufbot – und sei es auch nur aus formalen Gründen. Ecks Oppositionsthese und die von Eck dafür angeführten Beweise „bilden die Materie, aus der heraus sich … die Leipziger Disputation zu einem immer komplexeren Gebilde von Argumenten, Nebenargumenten, Schlüssen, Gründen und Beweisen entfaltete.“ Beide Redner ließen sich von ihren Anhängern gelegentlich mit der „Munition neuer Argumente“ versorgen und kritisierten die gleiche Praxis bei der Gegenseite. Luthers Strategie war es, Eck in eine Diskussion über die griechische Kirche zu locken. Denn die Ostkirche hatte den päpstlichen Primat nicht anerkannt. Wenn die Päpste ihren Anspruch auf Oberhoheit im Byzantinischen Reich jahrhundertelang nicht durchsetzen konnten, dann galt er anscheinend nicht überzeitlich und absolut. Falls Eck auf Luthers eingestreute Bemerkungen zu diesem Thema einging, konnte Luther so auf indirektem Weg seine Themen auf die Agenda der Disputation setzen. Positionen des Disputs Image der Teilnehmer Der Auftritt der Disputanten wurde vom Publikum verglichen. Es liegen mehrere Beschreibungen vor. Mosellanus beispielsweise schrieb, Luther sei mittelgroß und hager, höflich und freundlich, aber ein scharfer Polemiker. Karlstadt sei klein von Gestalt, habe eine dunkle Gesichtsfarbe, eine undeutliche Stimme und sei jähzornig. Eck dagegen sei auffallend groß und kräftig, ein guter Redner mit vortrefflichem Gedächtnis. Durch die schiere Menge an angeführten Zitaten und Argumenten, die oft nicht zum Thema gehörten, verwirre er seine Gegner. Eck gegen Karlstadt Eck und Karlstadt disputierten über den freien Willen und sein Verhältnis sowohl zur göttlichen Gnade wie zu den guten Werken. Hier, zwischen Karlstadt und Eck, kamen also für Luther zentrale Themen zur Sprache, und Karlstadt trat an für die Verteidigung der Wittenberger Theologie. Dem Wittenberger Dekan fehlte das rednerische Talent, er zitierte umständlich aus den mitgebrachten Büchern. Eck beantragte mit Erfolg, seinem Gegner dies zu verbieten. So konnte er seinen Vorteil im freien Disputieren ausspielen. Argumentativ war Eck in der schwierigeren Position, denn er vertrat die Kooperation des menschlichen Willens mit der göttlichen Gnade, wobei es den Anschein des Pelagianismus zu vermeiden galt. Es gelang Karlstadt aber nicht, die Schwächen von Ecks Argumentation für sich zu nutzen. Im Einzelnen: Eck vertrat die Meinung, der freie Wille des Menschen sei kooperationsfähig mit der Gnade Gottes. Er hielt diese Position aber nicht durch und behauptete zeitweilig auch, der freie Wille sei angewiesen auf die Gnade. Karlstadt gelang es nicht, Eck zu stellen. Die nächste Runde ging klar an Eck: Karlstadt versagte bei der Unterscheidung von primären und sekundären Ursachen des guten Handelns. Im abschließenden Gesprächsgang konnte Karlstadt Eck mit dem Thema Gnade als Voraussetzung guten Handelns in Bedrängnis bringen. Um nicht als pelagianischer Ketzer zu erscheinen, lenkte Eck ein. Dabei verwirrte er Karlstadt aber durch feine Differenzierungen in der Gnadenlehre, so dass Karlstadt seine stärkere Position letztlich nicht nutzen konnte. Karlstadt machte bei der Disputation einen etwas derangierten Eindruck. Er hatte mit seinem Reisewagen bei der Ankunft in Leipzig einen Unfall gehabt, war gestürzt und hatte sich dabei verletzt; dies beeinträchtigte ihn anscheinend. Trotzdem, so der evangelische Kirchenhistoriker Martin Brecht, sei Karlstadts Auftritt kein Desaster gewesen, Eck kein klarer Sieger. Eck selbst habe Karlstadt im Verlauf der Gespräche signalisiert, dass man sich über die strittigen Fragen verständigen könne. Obwohl die Initiative zur Disputation von ihm ausgegangen war und er an der Universität eine höhere Position hatte als Luther, musste Karlstadt erfahren, dass das öffentliche Interesse Luther galt und auch Eck es offenbar darauf abgesehen hatte, sich mit Luther zu messen. Eck gegen Luther Der Schlagabtausch zwischen Eck und Luther gilt als Höhepunkt der Leipziger Disputation. Angesichts der komplizierten Gesprächsführung werden die von Eck und Luther immer wieder aufgenommenen Themen von Kirchenhistorikern häufig nicht chronologisch, sondern nach Sachgesichtspunkten geordnet dargestellt. Der evangelische Kirchenhistoriker Kurt-Victor Selge etwa sieht folgende Themenkomplexe: Wie verhalten sich die Bibel und die Schriften der wichtigsten Theologen der ersten christlichen Jahrhunderte (Kirchenväter) zueinander? Wie ist die Bibel auszulegen? Was ist die Tradition der Kirchenväter in der Frage der päpstlichen Oberhoheit (Primat)? Worin besteht die Autorität von Papst und Konzil? Was ist die autoritative Tradition in der Kirchengeschichte, welche Traditionen sind illegitim? Gibt es politisch-rationale Gesichtspunkte bei der Kirchenverfassung? Der evangelische Kirchenhistoriker Anselm Schubert gibt zu bedenken, dass die „Spitzensätze“ beider Redner auch Elemente der jeweiligen Strategie waren, mit der man den Kontrahenten in eine bestimmte Richtung lenken wollte. Außerdem zwang das Regelwerk dazu, alle Argumente der Gegenseite in der Art eines Pflichtprogramms abzuarbeiten. Er sieht den reformationsgeschichtlich interessantesten Aspekt dieses Rededuells deshalb nicht im Austausch der Argumente, sondern in einer Eskalation, die am vorgesehenen Abschlusstag eintrat: Als Respondent hatte Luther den Vorteil, dass das letzte Wort ihm gehören sollte. Eck griff zu dem üblichen, aber regelwidrigen Mittel, dem Kontrahenten das Schlusswort zu verwehren: er redete drei Stunden lang ununterbrochen. Es wurde darüber Abend, und Luther blieb am Ende nur, höflich zu bedauern, dass ihm die Zeit für eine Antwort fehle. Wenn das der Abschluss der Disputation gewesen wäre, wäre Eck nach den Regeln Sieger gewesen, da Luther die zuletzt vorgebrachten Argumente Ecks nach dem Protokoll nicht mehr widerlegt hätte. Der kursächsische Rat von der Planitz legte daraufhin beim Herzog Widerspruch ein, und die Disputation wurde um zwei Tage verlängert. Am nächsten Morgen präsentierte Luther seine Widerlegungen auf Ecks zuletzt vorgebrachte Argumente. Er hielt aber nicht nur sein Schlusswort, sondern wandte sich mit wenigen Sätzen auf deutsch an das Publikum. Er erklärte, dass er die Oberhoheit der römischen Kirche und den ihr zustehenden Gehorsam nicht anfechte, sondern nur ihre Herleitung aus göttlichem Recht. Diese knappe Rede war nach Schubert der Höhepunkt der Veranstaltung. Luther wandte sich an die Öffentlichkeit anstatt an den Kontrahenten und die ausrichtende Fakultät. Er wechselte vom Lateinischen zum Deutschen und machte dadurch offensichtlich, dass er den akademischen Rahmen verließ. Dass die Öffentlichkeit sich eine Meinung bilden und die Argumente beurteilen sollte, sei völlig neuartig gewesen. Dieser eklatante Regelverstoß Luthers habe ein starkes Echo gefunden. Biblische Begründung des Papstamtes Ab dem 4. Juli wurde über den Primat diskutiert. Es war Eck, der Luther den Gang der Diskussion vorgab. Seine Oppositionsthese, das Material für die ganze folgende Primatsdiskussion, lautete: „Die Alleinherrschaft und die Oberherrschaft in der Kirche ist aus göttlichem Recht heraus und durch Christus eingesetzt, weshalb der Text der Heiligen Schrift und die allgemeine Geschichtsauffassung dieser nicht widersprechen.“ Ecks Argumentation lag folgendes Kirchenverständnis zugrunde: Christus ist das Haupt der himmlischen, siegreichen Kirche (ecclesia triumphans); der Papst ist das Haupt der irdischen, kämpfenden Kirche (ecclesia militans). In mehreren Gesprächsgängen steuerte Eck auf die Frage zu, wer die höchste Autorität in der Kirche besitze: der Papst, das Konzil oder wer sonst? Er war bereit, seine Argumente überwiegend aus der Bibel und den Schriften der Kirchenväter zu nehmen. Damit kam er Luther entgegen. Die Scholastik war in dieser Diskussion von untergeordneter Bedeutung. Eck konnte für seine Position, dass der Nachfolger Petri aufgrund göttlichen Rechts der Monarch der Kirche sei, mit dem Neuen Testament argumentieren. In den Evangelien hat Simon Petrus eine Sonderstellung unter den Jüngern. Luther stützte sich zur Relativierung der von Eck angeführten Bibelstellen auf die Autorität des Paulus: Christus sei das Haupt der Kirche. Eck las die Bibel grundsätzlich mit den Interpretationen der Kirchenväter, während Luther bereit war, nur mit der Bibel gegen die Kirchenväter zu argumentieren. Der katholische Kirchenhistoriker Heribert Smolinsky fasst zusammen: „Die Frage nach dem Primat erschien als ein Problem der Schriftauslegung, wie die unterschiedlichen Interpretationen von und durch Luther und Eck zeigten.“ Volker Leppin weist darauf hin, dass Eck und Luther eine gemeinsame Basis teilten, beide bejahten die Autorität der Bibel und der Kirchenväter. Luther tendiere aber dazu, den Gegensatz zwischen Bibel und kirchlicher Lehre scharf wahrzunehmen (Differenzmodell), während Eck versuche, beide zu vereinbaren (Harmoniemodell). Rang der Päpste in den ersten christlichen Jahrhunderten Für die Diskussion über das Papstamt im Laufe der Kirchengeschichte hatte sich Luther besonders präpariert. Er vertrat einen Ehrenvorrang des Bischofs von Rom, aber die Selbständigkeit der östlichen Kirchen sei eine historische Tatsache. Die ekklesiologische Wirklichkeit der Ostkirchen stehe gegen den Primatsanspruch der römischen Kirche. Hier nutzte Luther seine kirchengeschichtlichen Studien, die er vor der Disputation getrieben hatte. Sein Maßstab war die Praxis der Alten Kirche: Die alexandrinische und die römische Stadtkirche waren jeweils für die umgebenden Gebiete zuständig. Der Bischof von Jerusalem hatte einen Ehrenprimat über die gesamte Kirche. Luther erklärte, so Leif Grane, „dass alle Gespräche über den Ursprung uns nicht nach Rom führen, sondern nach Jerusalem, zu der Mutter aller Kirchen (matrix omnium ecclesiarum)“. Die griechischen Bischöfe wurden nicht von Rom bestätigt. Eck gestand letzteres für die Alte Kirche zu, meinte aber, dass der Papst die Oberhoheit über alle Priester gehabt habe. Die Argumentation mit der griechischen Kirche gebe für das Thema aber nichts her, denn die Orthodoxen seien als Schismatiker und Häretiker von der römischen Kirche abgefallen. Damit befanden sie sich für Eck außerhalb des Christentums, während für Luther der Kirchencharakter der Ostkirche auch nach dem Schisma selbstverständlich fortbestand. Gegen Luthers Berufung auf die ungeteilte Kirche des ersten Jahrtausends hatte Eck „einen schweren Stand“, so der katholische Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof. Ob Eck das klar war, müsse aber offen bleiben. Jedenfalls verlagerte Eck die Diskussion auf die jüngere Kirchengeschichte. Er gebrauchte die Assoziationen, die bei dem Wort Schisma mitschwingen, um von der griechischen Kirche auf die böhmische Kirche überzuleiten. Verurteilung von Hus auf dem Konstanzer Konzil Eck begründete seine Sicht des Papstamtes mit der Bulle Unam sanctam (1302), in der die Heilsnotwendigkeit des päpstlichen Primats in pointierter Form gelehrt wurde. Er betonte, dass John Wyclif und Jan Hus aufgrund ihrer Kritik an dieser Bulle als Ketzer verurteilt worden seien. Am Vormittag des 5. Juli legte Eck Luther einige Sätze von Hus vor, die das Konstanzer Konzil im Jahr 1415 verdammt hatte, darunter auch dieser: „Petrus ist und war nicht das Haupt der heiligen katholischen Kirche.“ Luther erklärte, dass nicht alle damals verurteilten Sätze des Hus häretisch seien. Einige davon seien sogar ganz christlich und evangelisch. (Herzog Georg empörte das so, dass er fluchend aufsprang.) Schubert meint, Luther habe aus dem bisherigen Diskussionsverlauf erkannt, dass Eck nicht auf das als Köder ausgeworfene Thema der griechischen Kirche einging. Stattdessen provozierte Eck mit der Ketzerthematik und wartete darauf, dass Luther einen Fehler machte. In dieser Situation habe Luther ein riskantes taktisches Manöver vollzogen und Ecks Hussitenvorwurf mit seinem eigenen Argument der griechischen Kirche verknüpft: Hus sei für den Satz verurteilt worden, dass es nicht heilsnotwendig sei zu glauben, dass die römische Kirche höher als die anderen Kirchen sei. Die Heiligen der griechischen Kirche hätten das aber auch nicht geglaubt. Um nach den geltenden Spielregeln dieses Argument bringen zu können, musste Luther einen für ketzerisch erklärten Satz des Hus bekräftigen („certum“). Damit begab er sich aus dem Sicherheitsbereich heraus, der mit der protestatio am Beginn abgesteckt worden war. Irrtumsfähigkeit von Konzilien Eck, der auf eine derartige Äußerung seines Kontrahenten hingearbeitet hatte, war sich über die Konsequenzen klarer als Luther selbst. Wie ein unerfahrener Koch vermische Luther, was niemals zusammengemengt werden dürfe: Heiligkeit und Häresie. Während Luther inhaltlich über die verurteilten Sätze diskutieren wollte, reichte für Eck die bloße Tatsache, dass das Konzil sie für häretisch erklärt hatte. Eck trat nun als Verteidiger des Konstanzer Konzils auf. Luther wollte eigentlich an der Autorität von Konzilsentscheidungen festhalten, wurde aber durch Ecks geschickte Argumentation genötigt, ihre Irrtumsfähigkeit zuzugeben. Thomas Kaufmann beurteilt diese kritische Phase der Disputation so: „Mit der Affirmation irgendeines verurteilten Artikels war für Eck eo ipso der Sachverhalt der Ketzerei gegeben; dass Luther unter den ‚verdammenswürdigen Irrtümern‘ Hussens christliche Aussagen finden zu können meinte, interpretierte er logisch zwingend als Infragestellung der Autorität der Konzilien. Diese formale Kriteriologie reichte nach Eck für den Nachweis der Ketzerei Luthers aus.“ Für Luther war die Disputation ab jetzt persönlich gefährlich geworden. Er war nicht mehr durch die protestatio gedeckt und musste den Ketzervorwurf auf jeden Fall abwehren, denn der konnte jenseits der akademischen Veranstaltung Konsequenzen haben. Diese defensive Strategie bestimmte Luthers weitere Argumentation zum Thema Konzilien. Dafür dass Konzilien irrtumsfähig seien, konnte Luther mit Panormitanus eine anerkannte Autorität zitieren. Allerdings, so Franz Xaver Bischof, bewegte sich Luther auch hier schon in einem Grenzbereich: „Zu behaupten, dass ein bestimmtes Konzil faktisch geirrt habe und nicht nur hypothetisch zu behaupten, dass ein Konzil irren könne, war ein Novum…“ Nicht mehr von Panormitanus gedeckt war Luthers Formulierung, das Konzil sei ein „Geschöpf des Wortes“ (creatura verbi), das heißt, eine historisch gewachsene Institution, die der Autorität der Heiligen Schrift unter- und nachgeordnet sei. Luther präzisierte dann aber, dass weder ein ganzes Konzil noch die Kirche insgesamt in Glaubensfragen geirrt habe. Für Eck dagegen war undenkbar, dass ein rechtmäßiges Konzil auch nur in einer Einzelentscheidung irren könne. Alles, was ein rechtmäßig versammeltes Konzil festgesetzt habe, sei ganz gewiss, da der Heilige Geist dabei anwesend gewesen sei. Rückblickend hat Luther später Eck als „Sieger“ der Leipziger Disputation bezeichnet, denn dieser hatte ihn gezwungen, Konsequenzen aus seinen bisherigen Aussagen zu ziehen, die er von sich aus noch nicht hatte ziehen wollen. Autorität der Bibel Der weitere Verlauf der Disputation zwischen Eck und Luther hatte nicht die gleiche Intensität. Ab dem 8. Juli wurde über das Fegefeuer diskutiert, am 11. Juli stand der Ablass auf der Agenda, und an den beiden letzten Tagen ging es um das Thema Buße. Bei der Diskussion über das Fegefeuer unterschied Luther erstmals zwischen kanonischen biblischen Büchern und Apokryphen; das Fegefeuer wurde nämlich mit der Belegstelle begründet. Luther vertrat hier die Ansicht, dass nicht alle biblischen Sätze gleich wichtig seien, sondern in ihrer Bedeutung von der Mitte der Schrift her gewichtet werden sollten. Er lehnte es ab, Lehrartikel aus den Apokryphen zu begründen. Eck erwiderte, dass die Makkabäerbücher zwar nicht zum hebräischen Kanon gehörten, aber die Kirche habe sie in ihren Kanon aufgenommen. Luther hielt dagegen, dass die Kirche keinem Buch mehr Autorität verleihen könne, als dieses von sich aus besitze. Urteil der Universitäten Erfurt und Paris Vereinbarungsgemäß hätten nun die Theologen und Kanonisten der Universitäten Erfurt und Paris nach Prüfung der Akten gemeinsam einen der Disputanten zum Sieger erklären sollen. Im Oktober hörte Luther gerüchteweise, die Erfurter würden sich für Eck entscheiden. Er kündigte an, dass er sich auf deutsch und lateinisch gegen seine Verurteilung zur Wehr setzen würde. Luther versuchte also, so Brecht, durch Einschüchterung ein akademisches Urteil zu verhindern. Am 29. Dezember 1519 gaben die Erfurter Theologen aber bekannt, aus formalen Gründen kein Urteil abgeben zu können. Nach Einschätzung von Brecht hatte Luthers Parteigänger Johann Lang sich für dieses Votum in Erfurt eingesetzt. Damit war auch das Veröffentlichungsverbot für die Texte der Disputation hinfällig, und Lang sorgte dafür, dass sie in Erfurt gedruckt wurden. Sowohl Johannes Eck als auch Georg von Sachsen versuchten weiterhin, von der Pariser Universität ohne die Erfurter einen Urteilsspruch zu erhalten. Am 4. Oktober wurden die Akten mit dem offiziellen Antrag an die Sorbonne übersandt. Im Dezember trat dort eine Kommission zusammen; jedes der 24 Mitglieder sollte ein Exemplar der Akten erhalten, die Druckkosten sollte Herzog Georg tragen. Einen Urteilsspruch zur Leipziger Disputation gab Paris nicht ab, allerdings erfolgte im April 1521 eine Verurteilung der Schriften Luthers. Öffentliche Meinungsbildung Nach der Disputation kam ein Meinungsbildungsprozess in Gang, der zugunsten Luthers ausfiel und ihm vor allem unter Humanisten Sympathien eintrug. Zwar gab es ein Verbot, die offiziellen Protokolle vor dem Entscheid der Universitäten Erfurt und Paris zu veröffentlichen. Doch dieses wurde „durch andere, sich als authentisch gerierende Verlaufsdokumentationen publizistisch wirkungsvoll unterlaufen.“ Im Effekt, so Kaufmann, wurde das Ereignis der Disputation durch die davor und danach stattfindende Publizistik geradezu degradiert. Die Disputanten meldeten sich bald nach der Leipziger Disputation mit eigenen Publikationen zu Wort. Zwischen Karlstadt und Eck entwickelte sich eine literarische Fehde, die zum Austausch von Beleidigungen geriet und sachlich ohne Interesse war. Luther veröffentlichte „Erklärungen“ (Resolutiones) zu seinen Leipziger Thesen, Eck antwortete am 2. September 1519 mit einer „Reinigung“ (Expurgatio … adversus criminationes F. Martini Lutter), worin er versicherte, dass die Sorge um die Kirche ihn motiviere. Luther reagierte mit einem offenen Brief vom 7. November 1519. Darin erklärte er Eck zum Heuchler, nicht zuletzt weil er in der Disputation mit Karlstadt überführt worden sei, die pelagianische Irrlehre zu vertreten und nun weiter daran festhalte. Aus dem Leipziger Publikum gab es Berichte und Stellungnahmen unterschiedlicher Qualität. Der Mediziner Heinrich Stromer und der Jurist Simon Pistoris, die Luther nahestanden, meinten, dieser sei als Sieger aus der Disputation hervorgegangen. Petrus Mosellanus hielt die Disputation für gescheitert. Die Leipziger Fakultät stellte Eck ein sehr gutes Zeugnis aus, und ebenfalls lobend äußerten sich Johannes Cellarius und Johannes Rubius über Ecks Auftritt. Rubius, ein von Wittenberg nach Leipzig gewechselter Student, verfasste seine Schrift in schlechtem Latein (es folgte eine weitere auf Deutsch, ebenfalls mit starken Mängeln) und veranlasste den Wittenberger Johannes Eisermann zu einer satirischen Antwort unter dem Pseudonym Nemo; Cellarius reagierte verärgert (als Nullus) und erwähnte, dass man sich seitens der Universität Leipzig bemühte, die als peinlich empfundenen Schriften des Rubius aus dem Verkehr zu ziehen. Melanchthon verfasste einen sich unparteiisch gebenden Bericht (Epistola de Lipsica Disputatione), den er an Johannes Oekolampad in Augsburg schickte und der bald auch gedruckt erschien. Er kritisierte Ecks Disputationsstil und rühmte Luthers Bildung und Beredsamkeit. Das Werk schloss mit einer Liebeserklärung für Luthers „wahren und reinen christlichen Geist“. Eck veröffentlichte eine Gegendarstellung, in der er Melanchthon als theologisch inkompetenten „Grammatiker“ disqualifizierte. Dieser Vorwurf traf Melanchthon nicht und wirkte sich eher zu Gunsten Melanchthons und damit auch Luthers aus. Einen in dem aufgeheizten Klima ungewöhnlichen Weg schlug der Leipziger Professor Hieronymus Dungersheim ein, der im Oktober 1519 einen Briefwechsel mit Luther begann. Er versuchte, Luther durch Sachargumente davon zu überzeugen, dass bereits das Konzil von Nicäa den römischen Primat anerkannt habe. Dabei stützte er sich auf einen Text aus den Pseudoisidorischen Dekretalen, einer Sammlung kirchenrechtlicher Fälschungen des Frühmittelalters. Luther antwortete ablehnend, er wisse, wo das geschrieben stehe. Er zeigte wenig Interesse am Austausch mit Dungersheim und beendete den Briefwechsel im Sommer 1520 in schroffer Form. Der Dresdner Hoftheologe Hieronymus Emser verfasste für Johannes Zack, Administrator des Erzbistums Prag und Probst von Leitmeritz, einen Bericht über die Leipziger Ereignisse. Es war eine Art Gutachten, da der Empfänger ein besonderes Interesse an Luthers Haltung zu den Konflikten in Böhmen haben musste. Er stellte klar, dass Luther sich nicht mit den Hussiten identifiziert, sondern nur gütliche Gespräche mit ihnen gefordert habe. Luther hätte auf dieses relativ moderate Votum sachlich reagieren können. Aber er überzog Emser, den er wegen seines Wappens als „Steinbock“ bzw. „Bock“ titulierte, mit heftiger Polemik. Auch Eck trat auf Seiten Emsers in diese literarische Fehde ein. Der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler verfasste 1519 als Reaktion auf die Leipziger Disputation eine volkssprachliche Verteidigung Luthers (Schutzred und christenliche Antwort ains erbarn liebhabers goetlicher wahrhait der hailigen geschrifft), die nach Einschätzung von Thomas Kaufmann gerade durch ihre Anonymität wirkte: Der Autor beanspruche, einen Platz jenseits des Gelehrtenstreits einzunehmen, er äußere sich besorgt zu Fragen, die alle Christen angingen. Der Anonymus repräsentiere gleichsam die öffentliche Meinung. Spengler war in Leipzig nicht unter den Zuhörern gewesen. Als Humanist und theologischer Autodidakt hatte er aber sämtliche Veröffentlichungen Luthers studiert. Die „Schutzrede“ bezeichnet die Bibel, Gottes Wort, als jedermann zugängliche Norm des christlichen Lebens, und Luther sei es, der sie gegen Menschenworte seiner Gegner zur Geltung bringe. Mit der anonymen Satire „Der enteckte Eck“ (Eccius dedolatus) wurde Eck in humanistischen Kreisen lächerlich gemacht. Neben Eck selbst und fiktiven Personen kam auch der Leipziger Rubius als Ecks ergebener Freund darin vor. Das Werk, hinter dem Willibald Pirckheimer als Hauptautor vermutet wird, zirkulierte zuerst als Manuskript im Netzwerk der Sodalitäten, bevor es im Frühsommer 1520 gedruckt wurde. Nachwirkungen Melanchthon Melanchthon sah nach der Leipziger Disputation die Notwendigkeit, die Autorität der Bibel (Sola scriptura) klarer zu fassen – da ja die Autorität von Papst und Konzilien relativiert worden war. Am 9. September 1519 legte er folgende Bakkalaureatsthese zur Diskussion vor: „Für einen Katholiken ist es nicht notwendig, über die Dinge hinaus, die ihm durch die Schrift bezeugt werden, noch andere zu glauben“. Melanchthon war Luther voraus und zog diesen mit. Luther formulierte entsprechende Thesen erst 1520 in seiner Programmschrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Luther Im Nachhinein konnte Luther Ecks Manöver, mit dem er ihn zu einer Sympathieerklärung für die Hussiten gedrängt hatte, in einen publizistischen Erfolg für seine Sache ummünzen. Denn die Wittenberger gingen offensiv mit Ecks Ketzereibeschuldigung um. Sie verließen sich darauf, so Thomas Kaufmann, „dass das Image der Hussiten außerhalb der Schultheologie keineswegs so negativ war, wie Häresiologen vom Schlage Tetzels oder Ecks vorausgesetzt hatten.“ Besonders wichtig war die politische Rückendeckung durch den kursächsischen Hof. Er stellte sich zu den Vorwürfen, Luther vertrete die hussitische Ketzerei, demonstrativ uninteressiert. Am Rande der Leipziger Veranstaltung hatte es ein Gespräch Luthers mit dem böhmischen Orgelbauer Jakubek gegeben. Luther hatte dabei geäußert, er würde Hus gern durch die Lektüre seiner eigenen Schriften kennenlernen. Wenzel von Roždalowsky, Probst am Kaiser-Karl-Kolleg in Prag, wurde von Jakubek informiert und sandte Luther umgehend ein Exemplar von Hus’ Hauptwerk Über die Kirche (De ecclesia). Jan Poduška, Priester an der Prager Teynkirche, schrieb Luther, es gäbe in Böhmen viele, die für ihn beteten. Zum Jahresende 1519 und Anfang 1520 identifizierte sich Luther mit Hus. Er äußerte gegenüber Spalatin: „Wir sind alle unwissend Hussiten“. Ähnlichkeiten bestanden in der Kirchenauffassung und der Frage des Laienkelchs. Aber Luther fühlte sich Anfang 1520 vor allem mit dem Märtyrer Hus verbunden. Im Oktober 1520 machte er seine Sympathien für Hus auch öffentlich bekannt; in der Schrift Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen erklärte er, nicht einige, sondern alle Sätze des Jan Hus, die in Konstanz verdammt worden waren, seien christlich und wahr. Er hoffe, dass Gott auch ihn, Luther, würdigen würde, für diese Artikel den Märtyrertod zu sterben. Im weiteren Fortgang der Reformation wurde Hus immer mehr zu Luthers Vorläufer stilisiert, auch von Luther selbst. Die historische Kontinuitätslinie von Hus zu Luther hatte Eck im Vorfeld der Leipziger Disputation und dann auf dem Höhepunkt dieser Veranstaltung konstruiert. Aber Luther machte sie sich zu eigen und baute sie weiter aus. Diese Kontinuitätskonstruktion wurde „zu einem integralen und essentiellen Bestandteil der historisch-geschichtstheologischen Selbstdeutung des lutherischen Protestantismus,“ so Kaufmann. Böhmische Brüder und Utraquisten bewahrten unter Luthers Einfluss ihre hussitische Tradition. Während er sich in die Kirchengeschichte vertiefte, begann Luther die Befürchtung umzutreiben, dass der Papst der Antichrist sei. Dass diese in der Bibel prophezeite Gestalt sich an die Spitze der Christenheit gesetzt hatte, konnte nur bedeuten, dass das Ende der Welt nahe war. Bei der Leipziger Disputation spielte dieses Thema explizit noch keine Rolle. Es beschäftigte Luther aber zunehmend. Der Reformator entwickelte ein apokalyptisches Geschichtsbild. Eck Bereits kurz nach dem Ende der Disputation schrieb Eck an Luthers Landesherrn Friedrich den Weisen. Er informierte ihn aus seiner Sicht über Luthers Lehre und verband das mit dem Appell, politisch gegen ihn vorzugehen. Karlstadt und Luther mussten zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen. Sie warfen Eck Hinterlist vor und erklärten, es gehe nur um Meinungsverschiedenheiten in Fragen von Ablass, Fegefeuer und Papsttum; einzig bei der Buße bestehe eine echte Differenz zwischen Eck und ihnen. Das sah Eck anders. Mit seinem Schreiben vom 8. November 1519 stellte er klar, dass er Beweise für Häresien habe. Eine Provinzialsynode solle Luthers Lehre untersuchen. Eck strebte also zu diesem Zeitpunkt Luthers Verurteilung auf regionaler Ebene an. Im Herbst 1519 schrieb Eck außerdem an Papst Leo X. Er teilte ihm mit, dass er bei der Leipziger Disputation gesiegt habe und machte Vorschläge zum weiteren Vorgehen gegen Luthers hussitische Häresie. Er selbst wünschte als Inquisitor in Thüringen, Meißen und der Mark Brandenburg tätig zu werden. Eck verfasste drei Bücher vom Primat des Petrus (De primatu Petri) zur Widerlegung Luthers, die er Leo X. widmete und bei seiner Romreise im Frühjahr 1520 mitnahm. Er traf am 25. März dort ein und wurde in ehrenvoller Audienz empfangen. Der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh charakterisierte die Schrift De primatu Petri so: „In seiner Exegese trifft er den Literalsinn der Texte vielfach sachlich richtiger als Luther … [Aber:] Er häuft die Beweise, ohne sie zu gewichten, und bringt sich so um die publizistische Wirkung.“ Das Häresieverfahren gegen Luther trat 1520 in ein neues Stadium; nach der Kaiserwahl brauchte man keine Rücksichten mehr auf den sächsischen Kurfürsten zu nehmen. Aber bisher war man über Luthers Ansichten in Rom schlecht informiert. Eck konnte ein umfassendes Bild von dessen Positionen vermitteln. Daraufhin trat eine Kommission zur Formulierung einer Bannandrohungsbulle zusammen. Ihr gehörten die Kardinäle Pietro Accolti und Thomas Cajetan, der Theologieprofessor Johannes Hispanus und Eck selbst an. Am 2. Mai informierte Eck den Papst über den Stand der Beratungen. Die Bulle Exsurge Domine wurde am 24. Juli durch Anschlag an der Peterskirche sowie der päpstlichen Kanzlei auf dem Campo de’ Fiori veröffentlicht. Eck übernahm die Aufgabe, die Bulle als päpstlicher Nuntius in den sächsischen Bistümern, Kursachsen und Oberdeutschland bekanntzumachen. Zwingli Der Schweizer Reformator Huldrych Zwingli betrachtete die Leipziger Disputation (und nicht etwa den Thesenanschlag) als Beginn der Reformation. Er steht damit für eine größere Zahl humanistisch geprägter Theologen, die sich nach diesem Ereignis Luther zuwandten. Faszinierend war für diese Zeitgenossen, dass Luther sowohl das Papstamt als auch die Konzilien in ihrer Autorität relativierte und die Bibel als einzige Autorität gelten ließ. Forschungsgeschichte Text der Disputation Der lateinische Text der gesamten Disputation wurde von Valentin Ernst Löscher 1729 herausgegeben (Vollständige Reformations-Acta und Documenta, Band 3). Löscher gab an, dabei einen Druck des offiziellen Protokolls aus dem Jahr 1519 genutzt zu haben sowie eine private Nachschrift; von diesem Manuskript machte er aber nur selten Gebrauch. Die Disputation zwischen Luther und Eck ist zwar in mehreren Ausgaben der Werke Luthers enthalten, jedoch gehen alle diese Editionen (darunter WA 2, 254–383) auf die gleichen Quellen zurück, die auch Löscher vorlagen. Es soll über 30 Hörermitschriften gegeben haben. Eine, die Löscher als Manuskript vorlag, ist in der Bibliothek des Geschwister-Scholl-Gymnasiums Freiberg erhalten. Eine weitere private Mitschrift, die Otto Clemen 1930 edierte, befindet sich in der Stadtbibliothek Nürnberg. Der Text, den Löscher und andere für das offizielle Protokoll hielten, wurde 1519 in der Offizin von Matthes Maler zu Erfurt gedruckt. Johannes Lang war der Herausgeber – aber als Textgrundlage dienten nicht die notariellen Protokolle, sondern eine Hörermitschrift. Die offiziellen Protokollhandschriften sind verschollen. Erhalten blieben mehrere Exemplare eines Drucks der Pariser Offizin von Jodocus Badius (Januar 1520), der sich auf das amtliche Protokoll stützte. Die Pariser Universität veranlasste diesen Druck, um ihr Urteil im Rededuell zwischen Eck und Luther abgeben zu können. Deshalb ist die Disputation zwischen Eck und Karlstadt darin nicht enthalten. Zwei Exemplare dieses sehr seltenen Drucks besitzt die Bibliothèque nationale in Paris, zwei die British Library und eines die Pitts Theological Library in Atlanta. Ein Exemplar befindet sich in der Bibliothek des Predigerseminars Wittenberg. Dort stieß Otto Seitz auf diesen Text, den er 1903 veröffentlichte. Der 59. Band der Weimarer Ausgabe enthält eine textkritische Edition des im Dezember 1519 gedruckten, unautorisierten Protokolls unter dem Titel Disputatio inter Ioannem Eccium et Martinum Lutherum. In dieser Version erlangte der Text der Disputation nämlich unter den Zeitgenossen die größte Bekanntheit. Geschichtliche Rezeption „Eck ging, wie er sich rühmte und Luther auch eingestand, als Sieger aus der Disputation vom Platz, während der Wittenberger Professor und sein Umfeld die mediale Öffentlichkeit – und die geschichtliche Rezeption! – beherrschten.“ (Franz Xaver Bischof) Dabei wurde das Thema trotz seiner Bedeutung für das evangelische Selbstverständnis relativ wenig behandelt; die einzige Monographie legte Johann Karl Seidemann schon 1843 vor. Kurt-Victor Selge erarbeitete den historischen Hintergrund der Disputation (1973 und 1975), was beispielsweise von Martin Brecht in seiner Luther-Biografie (1983) rezipiert wurde. Im Folgenden werden drei Einordnungen der Disputation innerhalb der Reformationsgeschichte vorgestellt, die wegen ihrer breiten Bekanntheit als klassisch gelten können. Leopold von Rankes Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (Band 1: 1839) stand am Beginn moderner Reformationsgeschichtsschreibung. Das Werk wurde im 19. Jahrhundert auch wegen seiner ansprechenden literarischen Gestaltung breit rezipiert. Ranke wertet sehr stark: Eck profitiere als Gelehrter zwar von seiner umfassenden Ausbildung, seiner Intelligenz und seiner Gedächtnisleistung. Aber das alles diene ihm nur dazu, „um damit Aufsehn zu erregen, weiter zu kommen, sich ein genußvolles und vergnügtes Leben zu verschaffen.“ Damit bildet er den Gegensatz zum ernsten, tiefsinnigen Wahrheitssucher Luther. Das Rededuell der beiden deutschen „Bauernsöhne“ ist nach Ranke ein Wendepunkt der Geschichte, denn sie stehen für zwei alternative Weltanschauungen. „Von dem Ausgang ihres Kampfes, den Erfolgen des Einen im Angriff, des Andern im Widerstand, hieng großentheils der künftige Zustand der Kirche und des Staates ab.“ Nach Leipzig erkenne Luther die Autorität der römischen Kirche in Glaubensfragen nicht mehr an. Luther habe aus dieser Disputation wertvolle neue Ressourcen mitgenommen, nämlich Kenntnis der griechischen wie der böhmischen Kirche: „Alle Geister und Kräfte versammeln sich um ihn, welche je dem Papstthum den Krieg gemacht.“ Die sehr materialreiche Geschichte des deutschen Volkes seit des Ausgang des Mittelalters von Johannes Janssen kam als Werk eines katholischen Historikers vor dem Hintergrund des Kulturkampfs zu einer gegenteiligen Bewertung der Charaktere: Eck sei eine im positiven Sinne „conservative Natur“ und zugleich aufgeschlossen für neue wissenschaftliche Entwicklungen, „ein Mann von ganz ungewöhnlicher Begabung und einer seltenen Frische und Beweglichkeit des Geistes.“ Luther dagegen halte seine Sache für die Sache Gottes, „alle seine Behauptungen erschienen ihm als ausgemachte Wahrheiten, von welchen er nie ablassen könne.“ Janssen fand Luthers Sicht von Papst und Kirche bereits in der Resolutio, die Luther zur Vorbereitung der Disputation veröffentlicht hatte. Die Leipziger Disputation habe für Luthers Entwicklung nichts Neues gebracht. Dementsprechend behandelte Janssen dieses Ereignis relativ knapp und verwies für die Einzelheiten immer wieder auf die Monographie von Seidemann. Janssen stellte heraus, dass die Disputation trotz des Verbots der kirchlichen Behörde und gegen den Widerstand der Leipziger Universität durchgeführt wurde, auf Betreiben Georgs von Sachsen: die weltliche Gewalt habe damit in kirchliche Angelegenheiten eingegriffen. Karl Heussi formulierte in seinem Kompendium der Kirchengeschichte, einem aus konfessionell-lutherischer Perspektive verfassten Standardwerk: die Leipziger Disputation habe Luther „auf der betretenen Bahn ein gutes Stück vorwärts gedrängt“. Ein historischer Wendepunkt war sie also nicht. Die Kritik am Ablasswesen habe sich zum grundsätzlichen Widerspruch gegen die Papstkirche ausgeweitet. Luthers Bewegung und der Humanismus seien durch die Sympathien, die der Wittenberger nach der Disputation gewann, für einige Zeit fast ineinandergeflossen. Heussi verweist hier auf den modernen Wittenberger Universitätsbetrieb und Philipp Melanchthons Wirksamkeit an der Universität und als Mitarbeiter Luthers. Damit wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wissenschaftlicher Konsens festgestellt, was die Bedeutung der Disputation für Luther betrifft. Dagegen brachte das 20. Jahrhundert eine besseres Verständnis des Theologen Johannes Eck, angestoßen durch Joseph Grevings Schrift Johann Eck als junger Gelehrter (Münster 1906). Erwin Iserloh schrieb 1981 ein Standardwerk, das Eck im Titel als Scholastiker, Humanist, Kontroverstheologe charakterisiert. Hätte von Ranke Recht, so wäre die Beschäftigung mit Eck als Theologen wenig fruchtbar, da er bei ihm nur eine Art Virtuosentum erkannte. Dies wird heute anders gesehen. Es ist bemerkenswert, dass katholische und evangelische Kirchenhistoriker auf der Tagung Luther und Eck, die im März 2017 in München stattfand, die Gemeinsamkeiten beider Protagonisten herausarbeiteten. Beide waren Professoren, Prediger, Polemiker, Bibelübersetzer, Reformer – und in ihrem Denken antijudaistisch geprägt. Der komparatistische Blick zeige, „wie beide auch ein scheinbar gemeinsames theologisches Rollenprofil ihrer Zeit bedienten“, so Franz Xaver Bischof und Harry Oelke im Vorwort des von ihnen herausgegebenen Tagungsbandes. Künstlerische Rezeption Die Leipziger Disputation wurde mehrfach in Bilderzyklen zu Luthers Leben oder zur Geschichte der Reformation aufgenommen. Qualitativ herausragend war Gustav Königs Darstellung der Leipziger Disputation aus dem Zyklus seiner 1846 bis 1851 entstandenen, sehr populären Radierungen zu Luthers Leben. Denn König hatte historische Studien getrieben, so dass seine Wiedergabe des Themas auf der Höhe der damaligen Lutherforschung war. In den 1860er Jahren wurde die Leipziger Disputation zweimal zum Thema großformatiger Historiengemälde. Sowohl Julius Hübner als auch Carl Friedrich Lessing zitierten Königs Radierung. Die Auseinandersetzung mit König ist bei der Figur Melanchthons besonders deutlich. König platziert den Wittenberger Griechischprofessor auf einem Stuhl neben Luthers Katheder. Melanchthon wirkt introvertiert und passiv, weil König das im Blick auf Melanchthons Jugend passend erschien – historisch zutreffend ist es wohl kaum. Das Publikum Hübners und Lessings erwartete einen Luther, der so aussah, wie man ihn von den Cranach-Bildern aus seinen späteren Lebensjahren kannte: ein breites Gesicht, eine füllige Gestalt, die mit positiven Werten wie Sicherheit, Standhaftigkeit, Autorität identifiziert wurde. Der historische Luther des Jahres 1519 war dagegen hager, wie Mosellanus schrieb und wie er auf Cranachs Porträt von 1520 zu sehen ist. Für die Künstler stellte sich die Frage, wie weit sie historische Korrektheit anstreben oder den Seherwartungen des Publikums entsprechen wollten. Julius Hübner Das Ölgemälde „Die Disputation Martin Luthers mit Johannes Eck“ von Julius Hübner entstand in den Jahren 1863 bis 1866. Es maß 328 × 617 cm, befand sich in der Galerie Neue Meister (Dresden) und ist Kriegsverlust. Erhalten blieb aber die Farbenskizze zum Gemälde (48,3 × 87,5 cm, 1864), welche sich in den Kunstsammlungen Weimar befindet. Eck (links) und Luther (rechts) stehen an ihren Kathedern einander gegenüber, daneben sitzt je ein mitschreibender Notar. Vor Luther sind die Wittenberger Theologen Karlstadt und Melanchthon zu erkennen. Zu Füßen Ecks kauert ein Narr. In der Bildmitte thront Herzog Georg von Sachsen, neben ihm der jugendliche Barnim von Pommern. Während letzterer interessiert, doch entspannt wirkt, drückt die Körpersprache Georgs von Sachsen starke Erregung aus. Sein Blick ist auf Luther gerichtet. Dieser hat die rechte Hand in abwehrender Geste gegen Eck ausgestreckt, der ihn mit Argumenten angreift, und blickt wie entrückt zum Himmel. Hübner hat sich insgesamt sehr um Realismus bemüht, verliert sich dabei auch in Details, aber bei der Darstellung Luthers geht er von diesem Grundsatz ab. Er zeigt den idealisierten Reformator in denkmalhafter Pose. Zwar trägt Luther sein schwarzes Ordensgewand, doch er dreht den Kopf gerade so, dass die Tonsur des Mönchs nicht zu sehen ist. Carl Friedrich Lessing Carl Friedrich Lessing schuf 1867 das Ölgemälde „Disputation zwischen Luther und Eck auf der Pleißenburg zu Leipzig“ (308 × 438 cm), welches sich in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe befindet. Dass beide Historiengemälde fast zur gleichen Zeit entstanden, lud zu Vergleichen ein, wobei Lessings Werk günstiger beurteilt wurde. Der Grundaufbau des Bildes ist der gleiche: Luther (links) und Eck (rechts) an ihren Kathedern einander gegenüber stehend, der sitzende Herzog in der Bildmitte. Luther ist aber nicht in der Defensive, er geht bei Lessing deutlich zum Angriff über. Die linke Hand stützt sich auf die aufgeschlagene Bibel, der rechte Arm ist (ähnlich wie in Gustav Königs Darstellung der Szene) mit nach oben geöffneter Handfläche in eleganter Geste erhoben, wobei Luther sich zugleich etwas nach vorn neigt. Eck scheint erschrocken zurückzuweichen. Dass Luther am linken, Eck am rechten Katheder steht, unterstreicht, wer hier aktiv handelnd dargestellt ist. Die Leserichtung unterstützt die Aussage des Bildes. Offenbar legte Lessing die Szene zugrunde, die Leopold von Ranke als zentralen Moment der Leipziger Disputation herausgehoben hatte: „Der unerschütterliche Luther schwankte keinen Augenblick. Er wagte zu sagen, unter den Artikeln des Johann Huß … seyen einige grundchristliche und evangelische. Ein allgemeines Erstaunen erfolgte. Herzog Georg der zugegen war, stemmte die Hände in die Seiten; kopfschüttelnd rief er seinen Fluch aus: ‚das walt die Sucht.‘“ Lessing stellte den Herzog im Moment des Aufspringens dar, die Hände hat er bereits in die Seiten gestützt. Lessings Luther trägt einen Doktorhut. Er ist zwar nicht unbedingt hager, aber jugendlich, was das Publikum irritierte. Gegenüber Hübner hat Lessing die Zahl der dargestellten Personen reduziert, auf unnötige Details verzichtet und die Kontrahenten näher aneinander gerückt. Das Ergebnis ist eine weniger bühnenhafte, natürlich wirkende Szene. Gleichwohl ergreift Lessing Partei, er zeigt „den Sieg des protestantischen Prinzips über das katholische, des freien Geistes über Rückständigkeit und doktrinäres Beharren“. Rudolf Siemering Das von Rudolf Siemering geschaffene Lutherdenkmal auf dem Eislebener Marktplatz wurde im Rahmen der Feierlichkeiten zu Luthers 400. Geburtstag 1883 enthüllt. Vier Reliefplatten am Granitsockel der bronzenen Lutherfigur stellen die Allegorie des Siegs des Guten über das Böse, Luther als Bibelübersetzer, Luther im Kreis seiner Familie und Luthers Konfrontation mit Eck auf der Leipziger Disputation dar. In der populären Zeitschrift Gartenlaube wurde diese Reliefplatte anlässlich der Denkmalenthüllung so erläutert: „Hier der wortreiche, an sophistischer Weisheit genährte Vertheidiger mittelalterlicher Ideen; dort der körnige, an Gottes Wort stark gewordene Augustiner. Diese beiden Profile – Luther und Eck – verkörpern zwei von Grund aus verschiedene Welt- und Lebensanschauungen, wie sie auch in Eck’s Decretalen und in Luther’s Bibel zum Ausdruck kommen.“ Erinnerungsort in Leipzig Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 wurde am 11. Mai 2017 ein Erinnerungsort für die Leipziger Disputation der Öffentlichkeit übergeben. Der Leipziger Künstler Harald Alff gestaltete die Gedenkinstallation im Auftrag des städtischen Kulturamtes. In die Installation sind zwei gleichartige Medaillons aus Edelstahl mit den Porträts und Lebensdaten von Luther und Eck einbezogen sowie ein Erläuterungstext. Der Erinnerungsort befindet sich am Neuen Rathaus als dem Nachfolgebau der Pleißenburg. Fassadenfiguren am Haus Burgplatz-Passage Der am 20. Juni 2019 eingeweihte Petersbogen-Erweiterungsbau Burgplatz-Passage am Leipziger Burgplatz (Christoph Kohl Stadtplaner Architekten CKSA, Berlin) nimmt mit sechs mannshohen Fassadenfiguren aus Cottaer Sandstein Bezug auf die Leipziger Disputation. Die Idee zu diesen Figuren stammt von Christoph Kohl. Zu sehen sind: Johannes Eck, Georg von Sachsen, Martin Luther (untere Reihe von links), Petrus Mosellanus, Johannes Calvin und Johann Langius Lembergius (obere Reihe von links). Mit der Figur des Reformators Calvin, der keinen direkten Bezug zur Leipziger Disputation hatte, wurde einem Wunsch der Schweizer Eigentümer entsprochen. Literatur Franz Xaver Bischof: Papst und Allgemeines Konzil: Die Argumentation Ecks. In: Franz Xaver Bischof, Harry Oelke (Hrsg.): Luther und Eck: Opponenten der Reformationsgeschichte im Vergleich. Allitera, München 2017, ISBN 978-3-86906-937-1, S. 91–106. Martin Brecht: Martin Luther. Band 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521. 2. Auflage, Calwer Verlag, Stuttgart 1983, ISBN 3-7668-0678-5. Leif Grane: Martinus noster. Luther in the German Reform movement 1518–1521 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte. Band 55). Philipp von Zabern, Mainz 1994, ISBN 3-8053-1652-6, S. 81–114. Henrike Holsing: Luther – Gottesmann und Nationalheld: sein Image in der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts (Dissertation). Köln 2004 (PDF). Erwin Iserloh: Johannes Eck (1486–1543): Scholastiker, Humanist, Kontroverstheologe (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung. Band 41). Aschendorff, Münster 1981, ISBN 3-402-03340-2. Johannes Janssen: Geschichte des deutschen Volkes: seit des Ausgang des Mittelalters, Band 2, Herder, Freiburg im Breisgau 1876. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung. 2., durchgesehene und korrigierte Auflage. Mohr, Tübingen 2018, ISBN 3-16-156327-1. Thomas Kaufmann: Die Mitte der Reformation: Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen. Mohr, Tübingen 2019, ISBN 978-3-16-156606-6. Armin Kohnle: Die Leipziger Disputation und ihre Bedeutung für die Reformation. In: Markus Hein, Armin Kohnle (Hrsg.): Die Leipziger Disputation 1519: 1. Leipziger Arbeitsgespräch zur Reformation. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2011, ISBN 3-374-02793-8, S. 9–24. Volker Leppin: Luther und Eck – Streit ohne Ende? In: Jürgen Bärsch, Konstantin Maier (Hrsg.): Johannes Eck (1486–1543). Scholastiker – Humanist – Kontroverstheologe (= Eichstätter Studien. Band 20). Pustet, Regensburg 2014, ISBN 978-3-7917-2538-3, S. 131–160. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, ISBN 3-525-52197-9 (Digitalisat). Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Band 1, Leipzig 1839 (Digitalisat). Anselm Schubert: Libertas Disputandi: Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 105 (2008), S. 411–442. Anselm Schubert: Das Wort als Waffe bei Luther. In: Franz Xaver Bischof, Harry Oelke (Hrsg.): Luther und Eck: Opponenten der Reformationsgeschichte im Vergleich. Allitera, München 2017, ISBN 978-3-86906-937-1, S. 251–264. Johann Karl Seidemann: Die Leipziger Disputation im Jahr 1519. Aus bisher unbenutzten Quellen historisch dargestellt und durch Urkunden erläutert. Dresden und Leipzig 1843. Otto Seitz: Der authentische Text der Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, Berlin 1903 (Digitalisat). Kurt-Victor Selge: Der Weg zur Leipziger Disputation. In: Bernd Moeller, Gerhard Ruhbach (Hrsg.): Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Mohr, Tübingen 1973, ISBN 3-16-135332-3, S. 168–210. Kurt-Victor Selge: Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975), S. 26–40. Christopher Spehr: Luther und das Konzil: Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit (= Beiträge zur historischen Theologie. Band 153). Mohr, Tübingen 2010, ISBN 978-3-16-150474-7. Christopher Spehr: Papst und Allgemeines Konzil: Die Argumentation Luthers. In: Franz Xaver Bischof, Harry Oelke (Hrsg.): Luther und Eck: Opponenten der Reformationsgeschichte im Vergleich. Allitera, München 2017, ISBN 978-3-86906-937-1, S. 75–90. Christian Winter: Die Protokolle der Leipziger Disputation. In: Markus Hein, Armin Kohnle (Hrsg.): Die Leipziger Disputation 1519: 1. Leipziger Arbeitsgespräch zur Reformation. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2011, ISBN 978-3-374-02793-4, S. 35–44. Weblinks Einzelnachweise Martin Luther Reformation (Deutschland) Geschichte des Luthertums Christentumsgeschichte (Leipzig) Historisches Religionsgespräch Religion 1519 Veranstaltung (16. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Antennariidae
Antennariidae
Die Antennariidae sind eine Familie meist relativ kleiner und gut getarnter, plumper Knochenfische aus der Ordnung der Armflosser (Lophiiformes). Im Deutschen werden die Tiere als Anglerfische oder Fühlerfische bezeichnet, was aber zu Verwechselungen mit den erst jüngst von den Antennariidae abgetrennten Familien Histiophrynidae, Rhycheridae und Tathicarpidae führen kann. Im Unterschied zu den verwandten Tiefsee-Anglerfischen (Ceratioidei) leben Anglerfische im flachen Wasser tropischer und subtropischer Meere. Sie sind schuppenlos und zeigen als typisches Merkmal eine aus dem ersten Hartstrahl der Rückenflosse gebildete „Angel“ (Illicium) mit anhängendem Köder (Esca). Verbreitung Antennariidae leben in tropischen und subtropischen Regionen im Atlantik und Pazifik, im Indischen Ozean, im Roten Meer, nicht aber im Mittelmeer. Ihr Verbreitungsgebiet liegt zum großen Teil zwischen den 20-Grad-Isothermen, den Gebieten, in denen das Oberflächenwasser gewöhnlich eine Temperatur von mindestens 20 °C hat. Im Gebiet der Kanaren, den Azoren und Madeiras, an der Atlantikküste der USA, der Südküste Australiens, der Nordspitze Neuseelands, bei Japan, bei Durban in Südafrika und an der Baja California überschreiten sie allerdings die 20-Grad-Isothermen. Die meisten Arten gibt es im Indopazifik, mit dem Verbreitungsschwerpunkt um die Inselwelt Indonesiens. Der Brackwasser-Anglerfisch (Antennarius biocellatus) ist in den Meeren um Indonesien, Neuguinea, den Philippinen, Taiwan und den Salomonen heimisch und geht auch in das Brack- und Süßwasser der Flussmündungen. Anglerfische leben – mit einer Ausnahme – auf dem Meeresgrund an Korallen- und Felsriffen maximal in Tiefen bis 100 Meter. Der Sargassum-Anglerfisch (Histrio histrio) ist in allen Weltmeeren pelagisch in treibenden Tangen anzutreffen und wird mit ihnen oft in kältere Gewässer bis zur Küste Norwegens verdriftet. Merkmale Anglerfische haben ein völlig fischuntypisches, gedrungenes Aussehen. Der plumpe, hochrückige, nicht stromlinienförmige Körper ist schuppenlos und nackt oder mit gegabelten Hautauswüchsen, den Spinulae, versehen. Die Tiere sind oft prächtig bunt, weiß, gelb, rot, grün oder schwarz, aber auch verschiedenfarbig fleckig und somit in ihrem farbenprächtigen Riffbiotop getarnt. Die Färbung ist auch innerhalb einer Art sehr variabel und die Arten sind nur schwer zu unterscheiden. Der kurze Körper hat 18 bis 23 Wirbel. Das Maul ist groß und schräg gestellt. Anglerfische haben Gaumenzähne. Von den drei Hartstrahlen der Rückenflosse wurde der erste zur Angel (Illicium) mit anhängendem Köder (Esca) umgebildet. Das Illicium hat oft eine Streifenzeichnung. Die Esca hat bei den einzelnen Anglerfischarten eine unterschiedliche Form und ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den Arten. Sie ähnelt mal einem Fisch, einer Garnele, einem Borsten- oder Röhrenwurm, oder ist einfach ein unförmiges Büschel. Man konnte allerdings bei Magenuntersuchungen keine Spezialisierung auf bestimmte, z. B. nur Würmer fressende, Beutefische feststellen. Bei Verlust kann die Esca regeneriert werden. Bei vielen Arten können Illicium und Esca zum Schutz bei Nichtgebrauch in eine Vertiefung am zweiten und dritten Rückenflossenstrahl gelegt werden. Beide Rückenflossenstrahlen sind vergrößert und von Haut überzogen. Der weichstrahlige Teil der Rückenflosse hat 10 bis 16 Flossenstrahlen, die Afterflosse 6 bis 10. Brust- und Bauchflossen sind kurz, haben starke Flossenstrahlen und ähneln Händen. Die kehlständigen Bauchflossen befinden sich vor den Brustflossen. Die Brustflossen haben 6 bis 14 Flossenstrahlen. Die Brustflossenmuskeln, 8 Abduktoren und 5 Adduktoren, sind gut entwickelt. Hinter den Brustflossen liegen die kleinen, runden Kiemenöffnungen. Anglerfische werden 2,5 bis 38 Zentimeter groß. Alle Antennariidae haben eine Schwimmblase. Autapomorphien, die die Antennariidae von den verwandten Familien aus der Unterordnung der Fühlerfischähnlichen (Antennarioidei) unterscheiden, sind der verkürzte Körper, die S-förmig gebogene Wirbelsäule und der vergrößerte dritte Rückenflossenstachel mit dem zugehörigen Pterygiophor. Im Unterschied zu den Histiophrynidae, haben die Antennariidae Eierstöcke, die wie eine Goldene Spirale geformt sind. Der Mesopterygoid, ein Knochen zwischen Pterygoid (Flügelbein) und Metapterygoid, sowie Epurale, längliche, freistehende Knochen im Schwanzflossenskelett, sind vorhanden. Ein weiteres Merkmal der Unterfamilie ist das Fehlen eines Brutpflegeverhaltens, während die Histiophryninae verschiedene Formen von Brutpflege betreiben. Die Antennariinae sind Freilaicher und aus den Eiern schlüpfen pelagische Larven. Mimikry und Tarnung Die absonderliche Gestalt der Antennariidae hat den Zweck, sie unsichtbar zu machen und einer potentiellen Beute eine Nahrungsquelle vorzugaukeln. In der Verhaltensforschung nennt man dies Peckhamsche oder Angriffsmimikry. Die Anglerfische sind durch eine unförmige Gestalt, Farbe und Hautanhängsel als bewachsener Stein, Korallen, Schwamm oder Seescheide getarnt. Letztere haben an den Stellen der Öffnungen der Schwämme oder Seescheiden Flecken. 2005 wurde eine schwarze Form des Gestreiften Anglerfischs (Antennarius striatus) entdeckt, die Seeigel nachahmt. Einige Anglerfische werden auch von Algen oder kleinen Hydroidpolypen bewachsen. Die Tarnung ist so perfekt, dass Nacktschnecken über die Tiere kriechen. Die Tarnung scheint für die schuppen- und schutzlosen Anglerfische neben der Funktion als Angriffsmimikry aber auch als Schutz vor Fressfeinden wichtig zu sein. Aufgescheuchte und gut sichtbare Anglerfische wurden sowohl in Aquarien als auch in freier Natur sofort von Riffbarschen, Lippfischen und anderen Fischen angegriffen und zumindest im Aquarium auch getötet. Anglerfische können sich auch aufblasen, indem sie wie Kugelfische Wasser in ihren Magen aufnehmen. Viele Antennariidae können die Farbe ihrer Haut wechseln und verfügen meist über eine helle und eine dunkle Färbung. Die helle ist meist gelb oder gelbbraun, die dunkle grün, schwarz oder dunkelrot. Die meisten Anglerfische zeigen sich mit heller Haut. Der Farbwechsel dauert einige Tage bis zu mehreren Wochen. Was den Farbwechsel auslöst, ist bisher unbekannt. Eine besondere Anpassung hat der Sargassum-Anglerfisch entwickelt. Er lebt im Atlantik und Indopazifik zwischen Algenbeständen und treibenden Tangen der Gattung Sargassum, wo er sich mit seinen Flossen festhalten und herumklettern kann. Seine Färbung und zahlreiche Hautanhänge tarnen ihn in seinem Lebensraum, den er nie verlässt. Fortbewegung Antennariidae sind standorttreu. Sie liegen den größten Teil der Zeit still auf dem Meeresgrund und warten auf Beute. Wenn sie eine erspähen, können sie sich mit Hilfe ihrer Brust- und Bauchflossen langsam der Beute nähern. Dabei stehen ihnen zwei „Gangarten“ zur Verfügung. Sie können die Brustflossen abwechselnd vorwärts bewegen und sie wie ein zweibeiniges Landwirbeltier einsetzen. Dabei spielen die Bauchflossen keine Rolle. Zum anderen können sie sich in einer Art von langsamem Galopp bewegen. Dabei bewegen sie beide Brustflossen gleichzeitig vor und zurück und stützen ihr Körpergewicht bei der Vorwärtsbewegung der Brustflossen vorübergehend auf die Bauchflossen. Beide Gangarten halten sie nur kurze Strecken durch. Im freien Wasser schwimmen Antennariidae mit Schlägen der Schwanzflosse. Außerdem haben sie eine Art „Düsenantrieb“, der besonders oft von jungen Anglerfischen benutzt wird. Dazu pressen sie das mit dem Maul aufgenommene Atemwasser stoßartig im Rhythmus der Atmung aus den weit hinten in der Nähe der Brustflossenbasis liegenden engen Kiemenöffnungen aus. Beutefang Antennariidae fressen Garnelen und Fische, darunter auch Artgenossen. Eine potentielle Beute wird zuerst beobachtet und mit den Augen verfolgt. Bei einer Annäherung von ungefähr der siebenfachen Körperlänge des Anglerfisches beginnt er die Angel nach Art des Bewegungsmusters des von der Esca dargestellten Tieres zu bewegen. Hat die Esca die Form eines Wurms, so wird sie sinusförmig, wie die Schwimmbewegungen von Borstenwürmern, bewegt. Dabei drückt sich der Anglerfisch flach auf den Untergrund. Ist das Opfer nur noch eine Körperlänge entfernt, dreht sich der Anglerfisch in eine für das Zuschnappen günstige Position. Der Beutefang geschieht durch plötzliches Aufreißen des Maules. Dabei wird das Volumen der Mundhöhle um das Sechsfache vergrößert und das Opfer mit Wasser in das Maul gerissen. Das Wasser strömt durch die Kiemen wieder ins Freie, während die Beute verschluckt wird und die Speiseröhre durch einen Ringmuskel verschlossen wird, um das Entkommen des Opfers zu verhindern. Zeitlupenaufnahmen haben gezeigt, dass das Aufreißen des Mauls nur sechs Millisekunden dauert, eine Zeit, in der sich ein Muskel gar nicht zusammenziehen kann. Deshalb wird ein bisher unbekannter biomechanischer Vorgang im Kiefer vermutet, der Energie speichern und plötzlich freisetzen kann. Die Beute der Antennariidae kann sogar etwas größer sein als sie selbst. Bisher ist zweimal fotografisch dokumentiert worden, wie Anglerfische Rotfeuerfische verschluckt haben. Das Gift in den harten Flossenstacheln dieser ungewöhnlichen Beute scheint ihnen nichts ausgemacht zu haben. Fortpflanzung Das Fortpflanzungsverhalten der normalerweise einzelgängerisch lebenden Anglerfische ist noch nicht genügend erforscht. Es gibt wenige Beobachtungen an Tieren, die in Aquarien leben, und noch weniger aus dem Meer. Alle Antennariidae sind Freilaicher und betreiben im Unterschied zu den substratlaichenden Histiophrynidae keine Brutpflege. Einige Tage bis acht Stunden vor der Eiablage schwillt der Hinterleib des Weibchens an, weil die Eier Wasser aufnehmen. Das Männchen nähert sich dem Weibchen etwa zwei Tage vor dem Laichvorgang. Man weiß nicht, ob das Laichen durch einen externen Auslöser wie die Mondphasen ausgelöst wird oder ob das Männchen durch einen vom Weibchen abgegebenen Geruch angelockt wird. Bei allen bisher beobachteten Paaren war ein Partner deutlich größer, manchmal sogar um das Zehnfache. Konnte man die Geschlechter bestimmen, so war das große Individuum immer das Weibchen. Das Laichen findet immer nach Einbruch der Dunkelheit statt. Bei der Balz schwimmt das Männchen zunächst hinter dem Weibchen her, berührt es mit dem Maul und hält sich immer in der Nähe der Kloake auf. Dann schwimmt es parallel zum Weibchen, berührt es mit einer Brustflosse und beginnt zu zittern, worauf auch das Weibchen mit Zittern reagiert. Kurz vor dem Ablaichen streckt das Weibchen alle Flossen von sich, beginnt über den Meeresboden zu schwimmen und hebt seinen stark angeschwollenen Hinterleib. Plötzlich schwimmen die Partner nach oben ins freie Wasser und stoßen am höchsten Punkt Eier und Spermien aus. Manchmal soll das Männchen auch mit dem Maul die Eier aus der Kloake ziehen. Beide Fische schwimmen zu Boden und trennen sich sofort, weil womöglich das kleinere Männchen sonst vom Weibchen verspeist werden kann. Die Eier sind 0,5 bis einen Millimeter groß und hängen in einer gelatinösen Masse oder einem Band zusammen, das beim Sargassum-Anglerfisch bis drei Meter lang und 16 Zentimeter breit sein kann. Es können 48 000 bis 280 000 Eier sein. Bei den meisten Arten treibt der Eiballen an der Meeresoberfläche. Die nach zwei bis fünf Tagen schlüpfenden Larven sind zwischen 0,8 und 1,6 Millimeter lang und leben während der ersten vier Tage vom Dottersack. Sie haben lange Flossenfilamente und ähneln damit winzigen tentakeltragenden Quallen. Ein bis zwei Monate leben die Larven planktonisch. Danach, mit einer Länge von 15 bis 28 Millimeter, haben sie schon die Gestalt der erwachsenen Fische und gehen zum Leben am Meeresgrund über. Junge Anglerfische ahmen in der Farbe oft giftige Nacktschnecken und Plattwürmer nach. Sie leben zunächst in seichtem Wasser zwischen Algen, Seegras und Schwämmen. Stammesgeschichte Fossile Überreste der Anglerfische gibt es kaum. In der norditalienischen Monte-Bolca-Formation, die aus Ablagerungen der Tethys im mittleren Eozän entstand, fand man den nur drei Zentimeter langen Histionotophorus bassani, der zunächst als Anglerfisch beschrieben wurde. Heute hält man Histionotophorus aber für ein Synonym der rezenten Gattung Brachionichthys, die zu der mit den Anglerfischen nah verwandten Familie Brachionichthyidae gehört. Das älteste sicher zu den Anglerfischen gehörende Fossil wurde 2009 als Eophryne barbutii beschrieben. 2005 wurde ein fossiler Anglerfisch aus dem oberen Miozän Algeriens beschrieben. Antennarius monodi soll zur Antennarius ocellatus-Gruppe (heute Gattung Fowlerichthys) gehören und dem rezenten Fowlerichthys senegalensis nahestehen. Systematik Die wissenschaftliche Bezeichnung der Antennariidae wurde im Jahr 1822 durch den polnischen Zoologen Feliks Paweł Jarocki geprägt. Systematisch gehören die Anglerfische zu den Armflossern (Lophiiformes), einer Gruppe von Echten Knochenfischen (Teleostei), die sich als Lauerjäger dem Leben auf dem Meeresboden bzw. in der Tiefsee angepasst hat. Innerhalb der Armflosser bilden die Antennariidae mit sechs anderen, artenärmeren Familien zusammen das Taxon der Fühlerfischähnlichen (Antennarioidei). Diese bilden zusammen mit den Tiefsee-Anglerfischen, den Seekröten und den Seefledermäusen ein unbenanntes Taxon, das die Schwestergruppe der Seeteufel (Lophioidei) ist. Das folgende Kladogramm zeigt die verwandtschaftliche Stellung der Antennariidae zu den anderen Familien der Anglerfische: Gattungen und Arten Von den ehemals 165 in den letzten beiden Jahrhunderten beschriebenen Arten sind nach verschiedenen Revisionen der Familie 31 Arten übrig geblieben. In der Vergangenheit hatte man häufig verschiedene Farbformen einer Art als eigenständige Arten angesehen. Je zwölf Arten gehören den Gattungen Antennarius und Antennatus an, die weiter in Artengruppen unterteilt werden. Außerdem wurde die ehemalige Unterfamilie Histiophryninae als eigenständige Familie von den Antennariidae abgespalten, für die Gattung Rhycherus und ihre nahen Verwandten wurde die Familie Rhycheridae eingeführt und für Tathicarpus wurde 2022 eine monotypische Familien aufgestellt. Gattung Antennarius Daudin, 1816. A. pictus-Gruppe Commersons Anglerfisch (Antennarius commerson) (Latreille, 1804). Warzen-Anglerfisch (Antennarius maculatus) (Desjardins, 1840). Vielfleck-Anglerfisch (Antennarius multiocellatus) (Valenciennes, 1837). Leoparden-Anglerfisch (Antennarius pardalis) (Valenciennes 1837). Gemalter Anglerfisch (Antennarius pictus) (Valenciennes 1837). A. striatus-Gruppe Zottiger Anglerfisch (Antennarius hispidus) (Bloch & Schneider, 1801). Indischer Anglerfisch (Antennarius indicus) Schultz, 1964. Gestreifter Anglerfisch (Antennarius striatus) (Shaw, 1794). A. pauciradiatus-Gruppe Zwerg-Anglerfisch (Antennarius pauciradiatus) Schultz, 1957. Randalls Anglerfisch (Antennarius randalli) Allen, 1970. A. biocellatus-Gruppe Brackwasser-Anglerfisch (Antennarius biocellatus) (Cuvier, 1817). Gattung Antennatus Schultz, 1957. A. tuberosus-Gruppe Peitschen-Anglerfisch (Antennatus flagellatus) Ohnishi, Iwata & Hiramatsu, 1997. Linien-Anglerfisch (Antennatus linearis) Randall & Holcom, 2001. Gebänderter Anglerfisch (Antennatus strigatus) (Gill, 1863). Tuberkel-Anglerfisch (Antennatus tuberosus) (Cuvier, 1817). A. nummifer-Gruppe Schwanzatemloch-Anglerfisch (Antennatus analis) (Schultz, 1957). Bermuda-Anglerfisch (Antennatus bermudensis) Schultz, 1957. Sommersprossen-Anglerfisch (Antennatus coccineus) (Lesson, 1831). Neuguinea-Anglerfisch (Antennatus dorehensis) Bleeker, 1859. Seitenatemloch-Anglerfisch (Antennatus duescus) Snyder, 1904. Rückenfleck-Anglerfisch (Antennatus nummifer) (Cuvier, 1817). Rosa Anglerfisch (Antennatus rosaceus) Smith & Radcliffe, 1912. Blutroter Anglerfisch (Antennatus sanguineus) Gill, 1863. Gattung Fowlerichthys Barbour, 1941. Rauer Anglerfisch, (Fowlerichthys avalonis) (Jordan & Starks, 1907). Ozellen-Anglerfisch (Fowlerichthys ocellatus) (Bloch & Schneider, 1801). Großaugen-Anglerfisch (Fowlerichthys radiosus) Garman, 1896. Fowlerichthys scriptissimus (Jordan, 1902). Senegal-Anglerfisch (Fowlerichthys senegalensis) Cadenat, 1959. Gattung Histrio Fischer, 1813. Sargassum-Anglerfisch (Histrio histrio) (Linnaeus, 1758). Gattung Nudiantennarius Nudiantennarius subteres (Smith & Radcliffe, 1912). Aquarienhaltung Gelegentlich werden Anglerfische zur Haltung im Meerwasseraquarium im einschlägigen Fachhandel angeboten. Die Fische sind allerdings nicht sehr haltbar, verweigern oft das Futter oder verfetten, wenn sie doch Futter aufnehmen. Sie sterben in der Regel innerhalb eines Jahres, wobei die meisten sogar nicht länger als ein halbes Jahr überleben. Im Aquazoo Düsseldorf und im Vivarium Karlsruhe hatte man allerdings mehr Erfolg und pflegte Anglerfische über vier Jahre. Quellen und weiterführende Informationen Einzelnachweise Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil aus den unter Literatur angegebenen Quellen, darüber hinaus werden folgende Quellen zitiert: Literatur Kurt Fiedler: Lehrbuch der Speziellen Zoologie, Band II, Teil 2: Fische, Gustav Fischer Verlag, Jena 1991, ISBN 3-334-00339-6. Joseph S. Nelson, Terry C. Grande, Mark V. H. Wilson: Fishes of the World. Wiley, Hoboken, New Jersey, 2016, ISBN 978-1118342336 Rudie H. Kuiter, Helmut Debelius: Atlas der Meeresfische, Kosmos-Verlag, 2006, ISBN 3-440-09562-2. Hans A. Baensch, Robert A. Patzner: Mergus Meerwasser-Atlas Band 6, Non-Perciformes (Nicht-Barschartige). Mergus-Verlag, Melle, ISBN 3-88244-116-X. Ewald Lieske, Robert F. Myers: Korallenfische der Welt, 1994, Jahr Verlag, ISBN 3-86132-112-2. Koralle, Meerwasseraquaristik-Fachmagazin, Nr. 38, April/Mai 2006, Natur und Tier Verlag Münster, . Weblinks www.frogfish.ch Informationen zu Anglerfisch-Arten und Fotos von Anglerfischen, Bestimmungsschlüssel Armflosser Lophiiformes
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https://de.wikipedia.org/wiki/Babesiose%20des%20Hundes
Babesiose des Hundes
Die Babesiose des Hundes (Synonym „Hundemalaria“, Piroplasmose) ist eine durch Einzeller der Gattung Babesia hervorgerufene Infektionskrankheit bei Hunden, die eine Zerstörung der roten Blutkörperchen und damit eine mehr oder weniger ausgeprägte Blutarmut (Anämie) hervorruft. Die Erkrankung verläuft meistens akut mit hohem Fieber und endet ohne Behandlung binnen weniger Tage tödlich. Die Übertragung erfolgt durch Zecken. Während die Babesiose bis in die 1970er Jahre vor allem eine „Reisekrankheit“ war, kommt sie durch die Ausdehnung des Verbreitungsgebiets der Auwaldzecke mittlerweile auch nördlich der Alpen natürlich vor. Die Diagnose wird über einen Nachweis der Babesien-DNA oder eine mikroskopische Untersuchung des Blutes gesichert. Zur Behandlung werden Antiprotozoika eingesetzt. Andere Tierarten oder der Mensch sind durch die beim Hund krankheitsauslösenden Babesien nicht gefährdet. Allerdings kommen auch bei anderen Säugetieren Erkrankungen durch zumeist wirtsspezifische Babesien vor (→ Babesiose des Menschen und Systematik der Babesien). Erreger und Verbreitung Babesien sind Einzeller, die als Parasiten die roten Blutkörperchen befallen. Sie werden den Apicomplexa zugeordnet. Ein Abschnitt ihres Vermehrungszyklus findet im Zwischenwirt – verschiedenen Zeckenarten – statt. Die Babesiose der Hunde wird durch mehrere Babesienarten hervorgerufen, die für andere Tierarten nicht krankheitserregend sind. In einer Studie ließen sich zwar Antikörper gegen Babesia canis bei Pferden nachweisen, die Infektion verläuft bei diesen Tieren aber ohne klinische Symptome und ist selbstlimitierend. Mittlerweile sind 9 genetisch unterscheidbare Babesien-Arten beim Hund bekannt. Babesia canis (Piana & Galli-Valerio, 1895) ist eine relative große Babesienart (2–4 × 4–7 μm), die weltweit vorkommt. Man unterscheidet heute drei Unterarten, die sich hinsichtlich ihrer DNA und ihres Vektors, aber nicht morphologisch unterscheiden: Babesia canis canis wird durch die Auwaldzecke (Dermacentor reticularis) übertragen, die sich mittlerweile in ganz Mitteleuropa ausgebreitet hat. Diese Babesien-Unterart ist im deutschsprachigen Raum am häufigsten für Erkrankungen bei Hunden verantwortlich. Ursprünglich nur in Nordafrika, Nord- und Mittelitalien, Frankreich und im südlichen Teil Ungarns und Österreichs vorkommend („Mittelmeerkrankheit“), gibt es mittlerweile Naturherde in Deutschland, der Schweiz, Holland und Polen. Der Erreger ist stark krankheitsauslösend. Man unterscheidet zwei Stämme. Der Frankreich-Stamm kommt aus dem nördlichen und östlichen Mittelmeerraum und kommt mittlerweile auch in einigen südwestlichen Regionen Deutschlands vor. Der Ungarn-Stamm kommt vor allem auf dem Balkan und in der Ukraine vor, mittlerweile aber auch in einigen Regionen Ostdeutschlands. Babesia canis vogeli wird durch die Braune Hundezecke (Rhipicephalus sanguineus) übertragen. Infektionen mit diesem Erreger sind in Mitteleuropa selten und verlaufen mild. Verbreitet ist B. c. vogeli in Nordafrika, dem Mittelmeerraum und Frankreich. Babesia canis rossi wird durch Haemaphysalis elliptica verbreitet und kommt nur in Afrika südlich der Sahara vor. Der Erreger ist die am stärksten krankheitsauslösende Babesienart. In neueren Arbeiten werden diese drei großen Babesien auch als separate Arten gezählt, zudem gibt es zwei weitere Isolate (North-Carolina-Isolat und Großbritannien-Isolat), die auf weitere große Babesienarten hinweisen. Babesia gibsoni (Patton, 1910) ist eine weitere bei Hunden vorkommende Babesienart. Sie ist kleiner (1,1–2 × 1,2–4 μm) und damit auch morphologisch von B. canis zu unterscheiden. Der Erreger ist vor allem in Asien und den Vereinigten Staaten verbreitet, man unterscheidet einen Asia- und einen California-Genotyp. Überträger sind Zecken der Gattungen Haemaphysalis (Haemaphysalis spinosa) und Rhipicephalus. Im Jahre 2007 wurden erstmals zwei ortsständige Infektionen mit dem asiatischen Genotyp in Deutschland beschrieben. In einer aktuellen Studie wird vorgeschlagen, die „kleinen Babesien“ des California-Genotyps als eigenständige Art, Babesia conradae, einzustufen. Die ebenfalls zu den „kleinen Babesien“ gezählte Art Babesia vulpes (früher Theileria annae), befällt primär Füchse und kommt im Bereich der Pyrenäen und in Nordamerika vor, Einzelfälle wurden auch bei Hunden in Deutschland festgestellt. Ihr Überträger ist wahrscheinlich die Igelzecke (Ixodes hexagonus). Der erste Nachweis der Erkrankung wurde 1934 in den USA erbracht. Es gab aber bereits Berichte über Hundeerkrankungen in Italien aus dem Jahr 1895 und in Afrika aus dem Jahr 1896, die auf eine Babesiose hinweisen. Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der Babesiose (Enzootiegebiet) innerhalb Europas beschränkte sich bis in die 1970er Jahre auf Südeuropa, so dass die Erkrankung in Deutschland nahezu ausschließlich bei Hunden nach Urlaubsreisen in diese Region auftrat („Mittelmeerkrankheit“). Die erste Babesia-vulpes-Infektion wurde im Jahre 2000 bei einem aus Nordspanien stammenden Hund in Deutschland nachgewiesen. Mit der Ausbreitung der Auwaldzecke auf ganz Mitteleuropa kommen auch in Deutschland ortsständige Krankheitsfälle vor: Etwa ein Drittel der erkrankten Hunde hatte niemals einen Auslandsaufenthalt. Die Durchseuchung der Auwaldzecken mit Babesien ist in Deutschland zwar noch relativ gering, allerdings stetig ansteigend. Etwa 0,5 % der Auwaldzecken sind Babesienträger. Nachdem zunächst nur am Oberrhein ortsständige Infektionen beobachtet wurden, gibt es mittlerweile Enzootiegebiete im Saarland, in Rheinland-Pfalz, in den Isarauen bei München, in der Umgebung von Regensburg, in den Elbauen und in Brandenburg. Derzeit werden einige tausend Erkrankungen pro Jahr in Deutschland festgestellt. Davon sind etwa 300–400 ortsständige Infektionen, die fast alle im Saarland und am Oberrhein auftreten. Krankheitsentstehung Die Übertragung beim Zeckenstich dauert etwa 48 bis 72 Stunden, unter experimentellen Bedingungen konnte bereits nach 12 Stunden nach Anheften der Zecke eine Übertragung von B. c. canis nachgewiesen werden. Durch das Anheften der Zecke an den Wirt werden durch Reizung des Nervensystems die in verschiedenen Organen ruhenden Sporozoiten aktiviert und entwickeln sich zu Kineten, die dann in die Speicheldrüsen einwandern und mit dem Zeckenspeichel in den Blutkreislauf des Hundes gelangen. Neben der Übertragung durch Zecken ist eine Infektion von Hund zu Hund über eine Bluttransfusion oder durch Blut-Blut-Kontakte – beispielsweise bei Beißereien – möglich. Auch eine Übertragung von der Hündin auf ihre Nachkommen („vertikale Infektion“) wird vermutet und ist für B. gibsoni nachgewiesen. Die Sporozoiten dringen in die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) der Hunde ein und vollziehen eine ungeschlechtliche Vermehrungsphase (Merogonie). Die dabei entstehenden Entwicklungsstadien (sogenannte Merozoiten) führen zu einer Schädigung der Erythrozyten, werden nach deren Zerstörung freigesetzt und können dann wiederum in neue, noch nicht befallene Erythrozyten eindringen. Der Organismus zeigt als Reaktion auf die Infektion zunächst eine Akute-Phase-Reaktion mit Anstieg des C-reaktiven Proteins und Fibrinogens, einem Thrombozyten- und Leukozytenabfall sowie einer Senkung des Blutdrucks. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer Immunantwort mit Bildung von IgG- und IgM-Antikörpern. Eine vollständige Beseitigung des Erregers durch das Immunsystem des Hundes findet jedoch nicht statt, so dass diese Tiere eine ständige Infektionsquelle (Erregerreservoir) darstellen und damit für die Aufrechterhaltung des Infektionszyklus sorgen. Zecken nehmen bei einem Saugakt die befallenen Erythrozyten auf. Im Zeckendarm entwickeln sich die Merozoiten zu geschlechtlichen Babesienstadien (Gamonten und Gameten). Diese differenzieren sich zu Kineten, welche in die Eier innerhalb der Eierstöcke der Zecke eindringen und somit den Erreger auf die Zeckennachkommen weitergeben (transovarielle Übertragung). Durch diese transovarielle Übertragung sind nicht nur adulte Zecken, sondern auch Nymphen Babesienüberträger. Zudem wandern die Kineten in die Speicheldrüsen der Zecke, wo sie sich zu den für Hunde infektiösen Sporozoiten differenzieren. Krankheitsbild In Deutschland tritt vor allem die akut verlaufende Form der Babesia-canis-canis-Infektion auf. Die Inkubationszeit beträgt 5 bis 7 Tage, selten kann sie bis zu drei Wochen nach dem Zeckenstich dauern. Krankheitszeichen (Symptome) sind ein gestörtes Allgemeinbefinden und Fieber, gefolgt von Fressunlust, Gewichtsverlust und Abgeschlagenheit. Ein bis zwei Tage später kommt es aufgrund des Zerfalls der roten Blutkörperchen (Hämolyse) zu Blutarmut (Anämie), Blutharnen, Ausscheidung des Blutfarbstoffabbauprodukts Bilirubin über den Harn (Bilirubinurie) und gegebenenfalls auch Gelbsucht. Eine Leber- und Milzvergrößerung kommt häufig vor. Bei schweren Verläufen treten eine Bauchwassersucht und Wasseransammlungen (Ödeme) sowie Haut- und Schleimhautblutungen infolge Blutplättchenmangel (Thrombozytopenie) und eine Blutgerinnung innerhalb der Blutgefäße (disseminierte intravasale Koagulopathie) auf. Entzündungen der Maul- (Stomatitis) und Magenschleimhaut (Gastritis) sowie der Muskulatur (Myositis) sind häufig. Auch eine zentralnervöse Form mit epilepsieähnlichen Anfällen, Bewegungsstörungen und Lähmungen ist möglich. Die akute Form endet unbehandelt binnen weniger Tage mit dem Tod durch Atemnot, Anämie und Nierenversagen, welches eine gefürchtete Komplikation einer Babesiose ist. Der seltene perakute Verlauf endet ohne deutliche Symptome binnen ein bis zwei Tagen tödlich. Die Infektion mit B. canis rossi verläuft ähnlich wie die mit B. canis canis. Der Grad der klinischen Erscheinungen hängt von verschiedenen Faktoren ab. In den klassischen Naturherden von Babesia canis canis (Südösterreich, Ungarn, Norditalien) sind die Jungtiere aufgrund einer hohen Durchseuchung im Allgemeinen durch Antikörper aus der Erstmilch (Kolostrum) der Hündin geschützt, entwickeln durch primäre Latenz einen weitgehenden Schutz und werden zu immunen Überträgern. Hier dominiert der chronische oder subklinische Krankheitsverlauf mit unspezifischen Symptomen wie intermittierendem Fieber, Fressunlust, Blutarmut und allgemeiner Schwäche. Auch die Infektionen mit B. canis vogeli und den „kleinen Babesien“ verlaufen milder. Diagnostik Die Babesiose kann klinisch mit einer Vielzahl anderer fieberhafter Erkrankungen verwechselt werden. Die Diagnose ist über einen normalen Blutausstrich („Dünner Tropfen“) oder den so genannten „Dicken Tropfen“ möglich, wobei Kapillarblut sensitiver ist als venöses Blut. Die Erreger können in der Frühphase der Infektion und in den Phasen zwischen den Vermehrungsschüben im Blut (Parasitämie) nur in geringer Zahl auftreten und damit übersehen werden. Sicher ist der Nachweis im Blutausstrich erst etwa sieben Tage nach der Infektion. Die Babesien können unter dem Mikroskop nachgewiesen werden, wobei die Giemsa-Färbung – im Gegensatz zu den üblichen Schnellfärbungen – am zuverlässigsten ist. B. canis zeigt sich als paarweise oder in größeren Gruppen rosettenförmig angeordnete birnenförmige Gebilde in den roten Blutkörperchen, B. gibsoni als ringförmig angeordnete Strukturen. Ein sicherer PCR-Nachweis der DNA der Erreger ist bereits 3 bis 5 Tage nach der Infektion möglich. Serologische Untersuchungen wie der Immunfluoreszenzantikörpertest und der Enzyme-linked Immunosorbent Assay (ELISA) sind bei akutem Verlauf ohne Bedeutung, da die Tiere noch keine Antikörper gebildet haben. Antikörper sind frühestens 10 Tage nach der Infektion nachweisbar. Bei chronischem Verlauf treten zyklische Veränderungen des Antikörperspiegels auf. Sind bei einer Blutuntersuchung die Leukozytenzahl < 7250/µl, die Thrombozytenzahl < 55.000/µl und die Retikulozytenzahl < 61.600/µl ist bei entsprechendem Vorbericht immer an eine Babesiose zu denken, so dass ein direkter Erregernachweis versucht werden sollte. Differentialdiagnostisch müssen vor allem eine Anaplasmose, eine immunbedingte hämolytische Anämie, eine immunbedingte Thrombozytopenie, eine Infektion mit Mycoplasma haemocanis, Entzündungen des Harntraktes und Vergiftungen mit Zwiebeln ausgeschlossen werden. Behandlung und Vorbeugung Da die Krankheit bei nicht aus Endemiegebieten stammenden Tieren und Babesienarten mit hoher Virulenz ohne Behandlung schnell tödlich endet, sollte bei Verdacht unverzüglich eine Therapie eingeleitet werden. Antiprotozoika wie Imidocarb oder Diminazen sind gegen B. canis gut, gegen „kleine Babesien“ dagegen nur wenig wirksam. Imidocarb kann auch zur Prophylaxe bei Reisen in Endemiegebiete einmalig verabreicht werden – der Schutz hält etwa drei Wochen an. Eine Kombination aus Atovaquon und Azithromycin kann auch chronische Infektionen mit B. gibsoni heilen. Auch Phenamidin ist gegen „kleine Babesien“ wirksam, aber derzeit in Deutschland nicht erhältlich. In akuten Fällen ist bei einem Hämatokrit unter 20 eine Bluttransfusion oder die Gabe von Hämoglobin-Glutamer 200 angezeigt. Die Behandlung mit Imidocarb wird je nach Region unterschiedlich gehandhabt. In den ursprünglichen Endemiegebieten wird es mit niedriger Dosierung einmalig angewendet, um die akute Erkrankung zu unterdrücken, aber den Erreger zur Ausbildung einer langen belastbaren Immunität nicht vollständig zu eliminieren. In nicht-endemischen Regionen wird der Wirkstoff dagegen in höherer Dosierung zweimalig angewendet. Dadurch wird der Erreger vollständig bekämpft, die anschließende Immunität hält dafür aber nur 1 bis 2 Jahre. Zur Behandlung seropositiver Hunde ohne Krankheitsanzeichen gibt es bislang keine validen Richtlinien. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist eine Behandlung solcher Hunde nicht angezeigt, wenn die PCR negativ ist. Bei Tieren mit entfernter Milz oder immunsupprimierten Tieren sollte dennoch eine Behandlung in Erwägung gezogen werden. Die wichtigste Prophylaxe ist das Absuchen des Tieres nach Zecken nach jedem Spaziergang und deren sofortige Entfernung. Ein Schutz vor Zecken durch äußerlich anzuwendende zeckenabtötende Wirkstoffe (Akarizide wie Deltamethrin, Flumethrin oder Permethrin) oder oraler Akarizide wie Fluralaner oder Afoxolaner ist sinnvoll, da sie auch die Gefahr des Auftretens weiterer, durch Zecken auf Hunde übertragbarer Erkrankungen wie Borreliose, Ehrlichiose, Hepatozoonose oder FSME senken. Gegen B. c. canis und B. c. rossi existierte ab 2004 ein Impfstoff (Handelsname Nobivac Piro), der zwar nicht vor einer Infektion schützte, aber die Erkrankung deutlich abmilderte. Er musste nach einer zweimaligen Grundimmunisierung halbjährlich verabreicht werden. Die Ständige Impfkommission Veterinärmedizin empfahl einen generellen Einsatz nicht. 2012 ist die EU-Zulassung auf Bitte des Herstellers erloschen, so dass derzeit keine Impfung mehr möglich sind. Literatur Dieter Barutzki et al.: Die Babesiose des Hundes. In: Deutsches Tierärzteblatt. 55, 2007, , S. 284–293. Katrin Hartmann: Parasitäre Infektionen. In: Peter F. Suter und Hans G. Niemand (Hrsg.): Praktikum der Hundeklinik. 10. Auflage. Paul-Parey-Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-8304-4141-X, S. 316–324. Cornelia Heile und Eberhard Schein (Hrsg.): Leitlinie Verhinderung der Erregerübertragung durch blutsaugende Vektoren bei Hunden. Bundesverband Praktizierender Tierärzte, 2007. Maja Hirsch: Babesiose. In: Reisekrankheiten in Europa. IDEXX Laboratories 2009, S. 2–5. Einzelnachweise Parasitose bei Hunden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Windm%C3%BChlen%20in%20Berlin
Windmühlen in Berlin
Existierten um 1860 rund 150 Windmühlen in Berlin und den umliegenden, noch selbstständigen Dörfern, so sind es auf dem heutigen Stadtgebiet noch acht. Dazu zählen vier Mühlen an ihren ursprünglichen Standorten (Britzer Mühle, Jungfernmühle, Adlermühle, Zehlendorfer Mühle). Hinzu kommen ein Neubau (Bockwindmühle Marzahn) und zwei umgesetzte Mühlen im Deutschen Technikmuseum Berlin, in dem sich ferner eine Wassermühle befindet. Eine weitere umgesetzte Mühle wurde in Gatow aufgebaut. Diese acht Windmühlen verteilen sich auf fünf Holländermühlen und drei Bockwindmühlen. Neben den noch vorhandenen Mühlen und rund zwanzig Straßenbezeichnungen wie Mühlsteinweg oder Am Mühlenberg erinnert das Wappen des ehemaligen Bezirks Prenzlauer Berg, das als stilbildendes Element vier schwarze Windmühlenflügel in goldenem Schild zeigte, an die große Zeit der Berliner Windmühlen. Besondere Bedeutung unter den bestehenden Berliner Mühlen kommt der Britzer Mühle zu, die als einzige der ursprünglichen Mühlen vollständig funktionsfähig ist. Die Mühle bildet seit 1987 in einem anderthalbjährigen Lehrgang Hobbymüller zum Diplom-Windmüller aus. Ein ähnliches Ausbildungsangebot bietet die gleichfalls funktionsfähige Bockwindmühle in Marzahn, die als Neubau aus dem Jahr 1994 allerdings nicht zum historischen Mühlenbestand zählt. Beide Ausbildungen gelten nicht als Berufsausbildung. Geschichte Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt in der Beschreibung der vorhandenen Mühlen. Deshalb beschränkt sich der Geschichtsteil auf die Nachzeichnung der wichtigsten Entwicklungslinien in der Berliner Mühlengeschichte. Zisterzienser und Gewerbefreiheit In der hoch- und spätmittelalterlichen Wirtschaft gehörte das Mühlenrecht, das eng an das Wasserrecht gekoppelt war, (Warnatsch). Gab es im Berliner Raum bereits im 13. Jahrhundert mit der Panke-Mühle und einer Mühle am Mühlendamm zwischen Alt-Berlin und Cölln zwei Wassermühlen, folgten die ersten Windmühlen um 1375 in den damaligen Dörfern Buckow, Rudow und dem Lehniner Klosterbesitz Celendorpe, dem heutigen Ortsteil Zehlendorf. In der Zauche und im Teltow betätigten sich die einflussreichen Zisterziensermönche aus Lehnin als Pioniere im Mühlenbau. Aufgrund ihrer fortschrittlichen Technologie waren sie in den Dörfern der jungen Mark Brandenburg willkommene Entwicklungshelfer und besaßen selbst insgesamt 19 Mühlen. Stefan Warnatsch veranschlagt die Einnahmen der Mönche aus ihren 19 Mühlen auf mindestens durchschnittlich rund 100 Gulden jährlich pro Mühle; der Gewinn der Müller dürfte die drei- bis vierfache Summe betragen haben. Nachdem die Gewerbefreiheit die Restriktionen des Zunftwesens und der Ständegesellschaft abgelöst hatte und im Jahr 1810 als Hauptbestandteil der Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen eingeführt worden war, kam es zu einem kurzen Boom an Mühlenbauten. Um 1860 existierten in der Stadt und ihrer Umgebung noch rund 150 Betriebe, die aufgrund mangelnder Kapitalausstattung überwiegend zum technisch rückständigen Typus Bockwindmühle gehörten; die ertragreicheren, erheblich teureren Holländermühlen konnten sich nur wenige Müller leisten. Vier Zentren Im Wesentlichen hatten sich vier Zentren mit hohen Mühlenkonzentrationen herausgebildet. Rund dreißig Mühlen standen am Prenzlauer Berg, davon zierten alleine acht Getreidemühlen den Rand des Windmühlenbergs, der dem Bezirk den ursprünglichen Namen gegeben hatte. Das 1992 verliehene Wappen des ehemaligen Bezirks Prenzlauer Berg versinnbildlichte den größten Berliner Mühlenstandort, indem es als stilbildendes Element vier schwarze Windmühlenflügel in goldenem Schild zeigt, die diagonal ausgerichtet sind. Das zweite große Zentrum bildete das Gebiet um Müller- und Seestraße im Wedding, elf Mühlen standen nördlich von Schöneberg um den seinerzeitigen Mühlenweg (seit 1912: Badensche Straße) und eine große Zahl Loh- und Walkmühlen befand sich in Rixdorf. Mehr als zwanzig Straßennamen erinnern im Jahr 2005 an die alten Mühlenstandorte, davon tragen allein zehn die Bezeichnung Mühlenstraße oder Mühlenweg. Hinzu kommen weitere Namen mit den unterschiedlichsten Zusammensetzungen wie beispielsweise Mühlbergstraße, Mühlsteinweg oder Am Mühlenberg. Berliner Mühlenberge Die Berliner Mühlenberge und Hügel liegen überwiegend auf den rund 15 Meter dicken Platten des Barnim und Teltow, geschlossenen Grundmoränenbildungen der Saaleeiszeit und der letzten Eiszeit, die zum Teil von flachwelligen Endmoränenbildungen überlagert sind. Insbesondere in den Randbereichen hinterließen die Wassermassen der abtauenden Gletscher vor rund 15.000 Jahren hügelige Ablagerungen aus Geschiebemergel und Sand. Die in weiten Teilen tundraähnlichen Hügel mit spärlichem Bewuchs waren als Standorte für Windmühlen sehr geeignet. Auch auf dem Hangbereich der Nauener Platte, deren Ausläufer bis zur westlichen Havelniederung reichen, findet sich mit dem Gatower Windmühlenberg ein alter – und demnächst erneuerter – Mühlenstandort, der mit dem seltenen Vegetationstyp Sand-Trockenrasenflora unter Naturschutz steht. Dampfkraft und Elektrifizierung Die Einführung der effektiveren Antriebsform Dampfkraft führte dazu, dass die meisten naturkraftbetriebenen Mühlen um 1870 dem Konkurrenzdruck nicht mehr gewachsen waren und verschwanden. Diesem sogenannten Ersten Mühlensterben folgte mit der zunehmenden Elektrifizierung des Mühlenantriebs und der Ausbildung der Großmühlen das Zweite Mühlensterben. Von den ehemals rund 150 Betrieben blieb eine Handvoll übrig, die nach 1945 zum Teil noch einmal – vergeblich – versuchten, mit den Großbetrieben mitzuhalten. Die letzte noch tatsächlich produzierende Windmühle, allerdings bereits motorbetrieben, war die Jungfernmühle in Buckow, die 1980 den Betrieb aufgab. Die neben dem Wasserrad älteste Kraftmaschine der Menschheit, das Windrad, hatte damit hinsichtlich der Müllerei in Berlin endgültig ausgedient und wird nur noch aus historischen beziehungsweise musealen Gründen, zu Liebhaber-, zu Lehrzwecken und zur Bewahrung eines Stücks alter Mühlenromantik gepflegt. Erhaltene Windmühlen, ursprünglicher Bestand Sämtliche vorhandenen und im Folgenden aufgeführten Berliner Mühlen stehen unter Denkmalschutz. Zwei Berliner Mühlen, die historische Britzer Mühle und die 1993 neugebaute Bockwindmühle in Marzahn, sind vollständig funktionsfähig. Britzer Mühle Die Britzer Mühle am Buckower Damm 130 in Britz, ehemals Stechan’sche Mühle, ist eine typische Galerie-Holländermühle, windgängig und voll funktionsfähig. Der Zwölfkant-Bau aus dem Jahr 1866 hat eine Höhe von rund 20 Metern, der Durchmesser der Jalousieklappenflügel beträgt von Spitze zu Spitze 25 Meter. Eine Windrose dreht die auf gusseisernen Rollen gelagerte Kappe selbsttätig im Wind. Der ehemalige Name geht auf den Mühlenmeister Karl Albert August Stechan zurück, der die Mühle samt Inventar im Jahr 1874 für 19.000 Taler kaufte. Die Mühle gehört organisatorisch zum Britzer Garten, der ehemaligen BUGA 1985, liegt allerdings nicht auf dem Gelände, sondern am Rand inmitten eines weitläufigen Obstgartens. Die Verwaltung obliegt der landeseigenen Grün Berlin Park und Garten GmbH. Führungen durch die Mühle und die Ausbildung zum Diplom Windmüller sind vom Verein Britzer Müllerei e. V. organisiert. Die Mühle ist individuell und bei Führungen zu besichtigen. Brot wird als eigenes Mühlenprodukt zum Verkauf angeboten. Zudem bietet die Britzer Mühle wie die gleichfalls funktionsfähige und 1994 neu gebaute Bockwindmühle in Marzahn die Möglichkeit, den Traum einer Hochzeit „Ganz in Weiß“ zu verwirklichen. Adlermühle in Mariendorf Die Adlermühle (auch mit der Schreibweise Adler Mühle) aus dem Jahr 1889 im Mariendorfer Buchsteinweg 32–34 ist gleichfalls eine achteckige Galerieholländermühle, allerdings ist keine Technik mehr vorhanden und die Mühle ist nicht mehr windgängig. Der Mahlbetrieb endete im Jahr 1959, seit 1963 steht der Bau unter Denkmalschutz. Nachdem die Mühle lange Zeit ohne Flügel war, ersetzen seit 1982 Segelgatterflügel die historischen Jalousieflügel, außerdem bekam die Mühle einen Steert. Die ehemalige Kornmühle wird als Vereinsheim und Freizeitstätte des Berliner Schwimmvereins „Friesen 1895“ e. V. genutzt, der sich mit Eigen- und öffentlichen Mitteln um den Ausbau und Erhalt der verwahrlosten Mühle verdient gemacht hat. Es finden gelegentlich öffentliche Veranstaltungen wie Pfingstkonzerte, Führungen am Tag der offenen Tür und Ausstellungen am Deutschen Mühlentag statt, den die Deutsche Gesellschaft für Mühlenkunde und Mühlenerhaltung alljährlich durchführt. In der ersten Etage kann ein Raum für Festlichkeiten für bis zu 50 Personen gemietet werden. Die Mühle ist zu den Öffnungszeiten zugänglich. Den Namen führt die Mühle nach dem Adler, dem Wappentier Preußens, der über der Eingangstür angebracht ist. Laut Gerhard Schlimpert Zehlendorfer Mühle Die Zehlendorfer Mühle zwischen der Schlettstadter und Berliner Straße 75 am einstigen Zehlendorfer Mühlenpark ist eine Holländermühle in der selteneren Rundform. Die Kornmühle, die auf das Jahr 1881 (andere Angaben 1879, 1880) und den Mühlenmeister Radlow zurückgeht, ist nicht funktionsfähig, hat bereits seit 1943/1944 keine Flügel mehr und auch die Kappe und die Galerie fehlen, sodass nur noch das dreigeschossige Grundgemäuer aus Backsteinen vorhanden ist. Diese Mühle ist die dritte in Zehlendorf. Der erste Bau, eine Bockwindmühle, fand bereits im Landbuch Karls IV. von 1375 Erwähnung und stand am Südausgang des Ursprungsdorfes, das im Besitz der Zisterziensermönche vom Kloster Lehnin war. Da die Mönche zu dieser Zeit insbesondere im Mühlenbau führend waren, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Bau der ersten Zehlendorfer Mühle auf ihre Initiative zurückgeht. Erst im Jahr 1875 musste sie dem Ausbau der Eisenbahn weichen. Fünf Jahre später kam es dann gleich zu zwei Neubauten, wovon einer nach nur fünf Jahren wieder abgerissen wurde; er befand sich an der Sundgauer Straße. Der andere Neubau war die noch vorhandene Zehlendorfer Mühle. Schon im Jahr 1898 stellten die Betreiber wegen Windmangel auf einen Antrieb mit einem petroleumbetriebenen Motor um, den sie 1921 durch einen Elektromotor ersetzten. Die Flügeldemontage erfolgte 1943/1944 aus Gründen der Kriegsführung, um feindlichen Flugzeugen den Orientierungspunkt zu nehmen. Seit den 1950er Jahren war die leerstehende und im Privatbesitz befindliche Mühle Zankapfel zwischen Behörden und dem Besitzer, für eine denkmalgerechte Erhaltung fehlten die finanziellen Mittel. Nach jahrzehntelangem Verfall war das Gemäuer in einem desolaten Zustand. Im Jahr 1997 fand sich ein privater Investor, der mit erheblichen Eigenmitteln und in enger Absprache mit den Denkmalschützern den Grundbau bis unter die ehemalige Kappe sanierte und zu seinem sehr originellen, privaten Wohnhaus umbaute. Die historische Backsteinfassade und die Holzfenster konnten nach dem alten Vorbild bewahrt werden. Jungfernmühle in der Gropiusstadt Die kleine achteckige Jungfernmühle (Wieneckesche Mühle) in der Gropiusstadt, Goldammerstraße 34 ist eine Galerie-Holländermühle (Kornmühle). Die älteste erhaltene Mühle der Stadt aus dem Jahr 1757 (andere Angaben 1753) hat nur noch Jalousieflügel- und Windrosenattrappen und ist ohne Funktion. Allerdings wurde hier noch bis zum Frühjahr 1980 – mittels elektrischer Energie – Korn gemahlen, so dass die Jungfernmühle die letzte aus wirtschaftlichen (und nicht musealen) Gründen betriebene Berliner Windmühle war. In der Mühle befindet sich ein Restaurant. Mit den Neubauten am umgebenden Platz versuchten die Städteplaner, ein harmonisches Bauensemble zu gestalten und statteten die Neubauten daher als holländische Giebelhäuser mit roten Backsteinen aus. Die Jungfernmühle hat zwei Umsetzungen hinter sich. Der Bau des holländischen Zimmermanns Adrian den Ouden, einem der letzten niederländischen Bewohner des berühmten Potsdamer Holländischen Viertels und verheiratet mit der Witwe des Baumeisters des im holländischen Stil gehaltenen Jagdschlosses Stern, befand sich ursprünglich auf dem Amtsacker in der Nähe des Nauener Tores in Potsdam. Seit 1788 im Eigentum des Müllermeisters Walsleben, musste die Mühle 1860 nach rund einhundertjährigem Betrieb der Arndt’schen Villa, in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße 63, weichen. Ein neuer Besitzer, Johann Wilhelm Blankenberg aus Rixdorf, ließ die Mühle sehr wahrscheinlich auf den Rixdorfer Rollbergen wieder aufbauen. Hier stand sie nur kurze Zeit, denn nach erneutem Eigentümerwechsel im Jahr 1872 ließ der nächste Besitzer und Namensgeber des Zweitnamens der Mühle (Wienecke’sche Mühle), Otto Wienecke, das Gebäude an seinen heutigen Standort nach Buckow verlegen. Eine Inschrift teilt dazu mit: Vier Generationen Müllermeister Wienecke 1969. Der Erstname Jungfernmühle geht auf eine tragische Begebenheit beim Bau im Jahr 1757 in Potsdam zurück, als die Müllerstochter bei der Besichtigung der neuen Mühle unter plötzlich auftretendem Wind von den Flügeln erfasst und in einem hohen Bogen auf der Galerie zerschmettert wurde. In den 1990er Jahren wurde die Mühle für einen Restaurantbetrieb umgebaut. Durch zusätzlich eingebaute Glasfenster ist der Blick bis in den Dachstuhl noch möglich. Der Rest der Innenräume ist dem Restaurantbetrieb entsprechend umgestaltet worden. Seit Frühjahr 2018 wird die Jungfernmühle durch die Restaurantgruppe Wiesenstein bewirtschaftet, die in Berlin mehrere – zum Teil historische – Gaststätten und Standorte verwaltet. Neue und umgesetzte Windmühlen Da in den folgenden Abschnitten von Mühlen die Rede ist, die nach Berlin umgesetzt wurden, sei einleitend erwähnt, dass diese Umsetzungen auch in umgekehrter Richtung stattfanden, also aus Berlin hinaus. Insbesondere in der Gründerzeit nahmen die aus dem Boden schießenden Wohnsiedlungen den Mühlen zunehmend den Wind. So kam es beispielsweise im Jahr 1888 zur Umsetzung einer Schöneberger Mühle nach Mariendorf, die von dort bereits 1903 weiter zu ihrem Standort auf dem Mühlenberg in Saalow, Ortsteil der Gemeinde Am Mellensee bei Zossen, transportiert wurde. Dort steht die 1974/1975 restaurierte Paltrockwindmühle noch. Die Kastenbauweise der hölzernen Paltrock- und Bockwindmühlen war so konstruiert, dass sie leicht auseinanderzunehmen und an anderem Ort wieder aufzubauen waren. Marzahner Bockwindmühle, Neubau von 1994 Die zurzeit einzige – nichtmuseale – Berliner Bockwindmühle, ein Neubau aus dem Jahr 1994 des niederländischen Mühlenbauers Harrie Beijk, befindet sich in Marzahn, in der Straße Hinter der Mühle. Sie ist neben der Britzer Mühle die zweite komplett eingerichtete und funktionsfähige Mühle und verfügt über Jalousieflügel und intakten Schrotgang, doppelten Sechskantsichter, Quetsche, Ausmahlmaschine und Askaniasichter. Bei einem Flügeldurchmesser von 20,5 Metern und einem Gesamtgewicht von 44 Tonnen kann die Mühle mit zwei Gängen bis zu 1000 Kilogramm Roggen- oder Weizenmehl pro Tag erzeugen. Die Luftströmungen lassen jährlich rund 200 windbetriebene Betriebstage mit einer nutzbaren Antriebsleistung von 8–12 Kilowatt zu. Neben der Mühle steht ein Kleinwindkraftwerk, das als Windmessstation (Anemometer) dient. Wie bei der Britzer Mühle bieten auch hier qualifizierte Fachkräfte Fortbildungskurse zur historischen Müllerei an. Die Marzahner Mühle steht für Besichtigungen oder für die Teilnahme an Führungen offen. Sie liegt unmittelbar benachbart zum alten Kern des ehemaligen Angerdorfes Marzahn auf einem kleinen Hügel, auf dem kleinere Tiergehege mit Gänsen, Schafen, einem Pferd und einem Esel sowie ein kleines Areal mit historischen landwirtschaftlichen Geräten eingerichtet wurde. Eingebettet in die dichte Hochhaus- und Plattenbaukulisse Marzahns an der Ecke der stark frequentierten Landsberger Allee und Allee der Kosmonauten bietet das historische Marzahn mit seiner neuen Mühle ein bizarr-kontrastreiches Bild. Die drei Vorläufermühlen dieses Neubaus reichen zurück bis in das Jahr 1815, als der erste Marzahner Müller Christian Friedrich Krüger eine Bockwindmühle errichten ließ. Diese erste Mühle, die Folgebauten von 1873 und 1908 und der heutige Neubau verteilten sich auf drei Standorte in Marzahn. 1978 erwarb die DDR die letzte Mühle, die nur noch aus einem gemauerten Turm mit einem flügellosen Stahlgerüst bestand, und ließ sie abreißen. Vier Jahre später fasste der Ost-Berliner Magistrat den Beschluss zum Neubau, um den Marzahner Dorfkern gestalterisch aufzuwerten. Ursprünglich hatten die Planungen die Errichtung einer Hollandmühle vorgesehen. Wegen der gesellschaftlichen Umbrüche kam es nicht mehr zur Realisierung. Der erste Müller fand sich 1994 auf eine Stellenanzeige, auf die sich zehn Interessenten gemeldet hatten. Holländermühle Foline im Technikmuseum Die sehr kleine, achteckige Galerieholländermühle Foline kam aus Poghausen, Ortsteil von Uplengen in Ostfriesland, in das Deutsche Technikmuseum nach Kreuzberg und 1985 zur Aufstellung. Die komplette Kornmühle mit Windrose und Jalousieflügeln ist windgängig und gelegentlich in Betrieb, obwohl die hohen Baumbestände vor ihr die Winde nicht völlig frei anströmen lassen. Ursprünglich eine reine Schrotmühle, ist sie mit einer zusätzlichen kleinen Motormühle mit Quetsche, Walzenstuhl, Sichtung ausgestattet. Der Name Foline zählt zu den typischen altostfriesischen weiblichen Namen. Die beiden Mühlen des Technikmuseums befinden sich – landschaftlich untypisch umgeben von Baumbestand – im sechs Hektar umfassenden Museumspark, der auf dem Gelände des seit langem stillgelegten Bahnbetriebswerks des ehemaligen Anhalter Bahnhofs liegt. Ganz ähnlich wie im neuen Natur-Park Schöneberger Südgelände mit seinem doppelsinnigen Motto „Bahnbrechende Natur“, der seit dem Jahr 2000 als Naturpark unter Schutz steht, konnte sich hier eine über Jahrzehnte unberührte Natur mit für Berlin seltenen und vielfältigen Beständen herausbilden und über das alte Bahngelände ausbreiten. Am 2. September 2011 wurde auf diesem Gelände der Ostpark des Parks am Gleisdreieck eröffnet, dessen westlicher Weg unmittelbar an den beiden Windmühlen vorbeiführt. Die Mühlen sind von diesem öffentlichen Weg aus zwar sehr gut zu sehen, aber nicht zugänglich, da das Museumsgelände durch einen Zaun vom Park getrennt ist. Bohnsdorfer Bockwindmühle im Technikmuseum Im Freigelände des Technikmuseums befindet sich eine weitere Windmühle, die Bohnsdorfer Bockwindmühle. Die etwa 14 Meter hohe Mühle verfügte über Türenflügel mit rund 20 Metern Durchmesser, war windgängig mit einem Schrotgang und Beutelwerk und manchmal in Betrieb. Bei einem Besuch der Mühle im November 2022 waren die Flügel nicht mehr montiert, Reste eines Fügels lagen etwas abseits verfallen am Boden. Das ursprünglich Vollkropfmühle oder nach einem Besitzer auch Staberow’sche Mühle genannte Bauwerk stammt aus dem Jahr 1820, stand bis 1874 in der Grünauer Straße bei Köpenick und kam anschließend nach Bohnsdorf in die Glienicker Straße 508. 1958 unter Denkmalschutz gestellt und 1983 abgebaut, erfolgte noch im gleichen Jahr ihre Neuaufstellung auf dem Gelände des Technikmuseums. Auch wenn diese Mühle in Berlin verblieben ist, zählt sie wegen der Umsetzung in das Museum nicht zu den erhaltenen historischen Mühlen an ihren originären Standorten. Die älteren Namen der Mühle finden sich in amtlichen Aufzeichnungen beispielsweise als Wuhlkropfmühle (1820) oder Vollkropfs Mühle (1850). Nach den Analysen des Namenforschers für den Teltow, Gerhard Schlimpert, geht der Name auf den sogenannten Vollkropf zurück, der bereits 1704 als Amtsforst verzeichnet ist. An den Namen erinnern zwischen Glienicker Weg und Spree ein Reststück des Vollkropfgrabens und das kleine Biotop Vollkropfwiesen am Graben. Die Feucht- und Nasswiesen mit Magerrasen und Röhrichtbeständen stehen unter Naturschutz. Da auf dem ausgedehnten Gebiet südlich der Spree eine slawische Siedlung gefunden wurde, könnte es sich um einen alten slawischen Wüstungsnamen handeln. Ein Nachweis dazu existiert jedoch nicht und eine stimmige etymologische Ableitung zum Namen Vollkropf liegt nicht vor. Kursierende Ableitungen aus dem mittelniederdeutschen Krop = Auswuchs, Kropf, Schlund hält Schlimpert für nicht plausibel, da zum einen die Mundartform fehlt und zum anderen das Beiwort Voll- unklar bleibt, das sich auch als Vulc-krop findet. Wiedererrichtete Bockwindmühle in Gatow Seit dem Jahr 2004 gibt es eine weitere – anfangs noch zerlegte – Bockwindmühle in Berlin, die nach Auskunft der Käufer der Mühle im Technikmuseum sehr ähnlich sein soll und die aus Metzelthin, Ortsteil von Wusterhausen/Dosse, von der Prignitz nach Gatow in die Buchwaldzeile 43 umgesetzt wurde. Der Aufbau der Mühle, für die ursprünglich ein Standort bei Wriezen am Oderbruch geplant war, wurde seit 2004 vorbereitet und im Jahr 2008 vollendet. Standort ist der historische Windmühlenberg mit der seltenen Sand-Trockenrasenflora, der inmitten einer kleinen Siedlung liegt und seit dem 9. Februar 2002 als Naturschutzgebiet Windmühlenberg unter Schutz steht. Auf dem 52 Meter hohen Berg stand bis 1921 (nicht 1923, wie oft angegeben) die alte Gatower Bockwindmühle aus dem Jahr 1845 (andere Angaben 1824 und 1844), die ein skurriles Ende nahm, als sie für einen Film des Regisseurs Richard Eichberg (1888–1952) regelrecht abgefackelt wurde. Der Mühlenbesitzer, der Ortsbäcker, hatte die verwahrloste und ausgediente Mühle zuvor an die Produktionsfirma des Films verkauft, die das hölzerne Bauwerk gemäß Drehbuch für die letzte Szene in Brand steckte. Recherchen des Fördervereins historisches Gatow ergaben, dass es sich bei dem Film von Eichberg, der 1938 mit dem zweiteiligen und vertonten Remake von Joe Mays Das indische Grabmal (1. Teil: Der Tiger von Eschnapur) weltweit bekannt wurde, um den Stummfilm Die Liebesabenteuer der schönen Evelyne, Deutscher Titel Die Mordsmühle auf Evenshill, handelte. Die Uraufführung des in den USA indizierten und im Deutschen Reich nicht jugendfreien Films fand am 23. Dezember 1921 in Berlin statt. Das weitere Schicksal des Films ist unklar, die Kopien sind offenbar verschollen (Darsteller waren u. a. Lee Parry, Oskar Sima in einem seiner ersten Filme überhaupt, Karl Falkenberg und Felix Hecht). Der Förderverein Gatow kaufte die neue Mühle für rund 4000 Euro aus der Konkursmasse der Gesellschaft, die die Mühle der Stadt Wriezen hatte spenden wollen. Die zerlegte Mühle lagerte bereits auf dem Güterbahnhof des Oderbruch-Städtchens. Laut Förderverein gleicht die rund 225 Jahre alte Mühle der abgebrannten Gatower Mühle. In Absprache mit den Behörden fand sich am Rand des Schutzgebietes ein Platz neben einem alten Wasserturm, an dem sich die Errichtung der Mühle mit den Erfordernissen des Naturschutzes in Einklang bringen ließ. Von Oktober 2005 bis Oktober 2006 ruhte das Bauvorhaben, da gegen die bereits erteilte Baugenehmigung aus nachbarrechtlichen Gründen Widerspruch eingelegt wurde. Der Widerspruch wurde 2006 abgewiesen. Der Bau begann noch im Oktober 2006. Maßgeblich an den Arbeiten beteiligt waren die Auszubildenden der Knobelsdorff-Schule unter der Leitung des Zimmerermeisters Wellner. Die „Taufe“ der nahezu fertiggestellten Mühle fand am 6. September 2008 in Gegenwart des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit mit einem Festakt statt. Nach 87 Jahren drehten sich also wieder Windmühlenflügel auf dem Gatower Berg. Die Kosten des gesamten Baus hatten rund 180.000 Euro betragen, finanziert mit 150.000 Euro Lottomitteln, 30.000 Euro Eigenmitteln und zahllosen Stunden ehrenamtlicher Arbeit. Im Jahr 2008 fand das Jubiläum 750 Jahre Gatow an der Havel, 1258–2008 statt – das Logo zu dieser Feier zeigt eine Bockwindmühle, das ehemalige und jetzt wiederhergestellte Wahrzeichen des Dorfes in der Stadt. Siehe auch Geschichte der Windenergienutzung Deutsche Gesellschaft für Mühlenkunde und Mühlenerhaltung Windmüller Literatur Gerald Bost: Die Britzer Mühle – Ein technisches Denkmal mit bewegter Geschichte, Berlin 2016 terra press, ISBN 978-3-942917-24-7. Britzer Mühle. Hrsg.: Britzer Garten. Berlin 1991 (Broschüre). Micaela Haas, Joachim Varchmin: Mühlen gestern und morgen, Wind- und Wasserkraft in Berlin und Brandenburg. Martina Galunder Verlag, Nümbrecht 2002, ISBN 3-89909-009-8. Heinrich Herzberg, Hans Joachim Rieseberg: Mühlen und Müller in Berlin. Ein Beitrag zur Geschichte der Produktivkräfte. Berlin 1986. Werner Peschke: Das Mühlenwesen in der Mark Brandenburg. Von den Anfängen der Mark bis um 1600. Diss. VDI-Verlag, Berlin 1937. Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch. Teil 3. Die Ortsnamen des Teltow. Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 1972. (Zitat zur Adlermühle S. 214, zur Bohnsdorfer Bockwindmühle = Wuhlkropfmühle/Vollkropfmühle, S. 251 f.) Stephan Warnatsch: Geschichte des Klosters Lehnin 1180–1542. Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser. Band 12.1. Diss. Berlin, Freie Universität 1999. Lukas Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-931836-45-2. (zum Klosterbesitz Zehlendorfer Mühle S. 276 und allgemein zum Mühlenwesen der Mönche in der Mark S. 276 ff.; Zitat zum Mühlenrecht, S. 279) Hans Joachim Rieseberg: Mühlen in Berlin. Katalog zur Ausstellung in der Domäne Dahlem vom 20. Mai bis 28. August 1983. Verein der Freunde der Domäne Dahlem (Hrsg.), Medusa Verlagsgesellschaft, Berlin 1983, ISBN 3-88602-077-0 D. Ogden, G. Bost: Ganzel & Wulff – The Quest for American Milling Secrets. In: TIMS Bibliotheka Molinologica, Volume 20, 2010, ISBN 978-92-9134-025-5. Quellen Zur Zehlendorfer Mühle Informationstafel vor Ort, 2005 Diverse Informationsblätter verschiedener Mühlen, 2005 jeweils vor Ort erhältlich Telefonische Auskünfte am 21. Oktober 2005 zur vorgesehenen Mühle in Gatow durch das Bezirksamt Berlin-Spandau, Natur- und Grünflächenamt Telefonische Auskünfte am 1. November 2005 zur vorgesehenen Mühle in Gatow durch Ulrich Reinicke vom Förderverein historisches Gatow. „Der Einspruch der Nachbarn wurde abgewiesen. Baubeginn fand am 24. Oktober 2006 statt. Die Kosten des gesamten Baues werden ca. 180.000 Euro betragen. Die Finanzierung ist bereits gesichert: 150.000 Euro Lottomittel und 30.000 Euro Eigenmittel. Wir gehen davon aus, termingerechte Holzlieferung vorausgesetzt, dass die Mühle 2008 fertig wird.“ Weblinks Deutsches Technikmuseum Berlin Mühlenvereinigung Berlin-Brandenburg e. V. Einzelnachweise Mühle in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geysir
Geysir
Ein Geysir [], auch Geiser [], ist eine heiße Quelle, die ihr Wasser in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen als Fontäne ausstößt. Einen solchen Ausbruch bezeichnet man als Eruption. Namengebend für Geysire ist der Große Geysir auf Island. Etymologie Die Bezeichnung Geysir (Geiser) wurde im 19. Jahrhundert aus dem isländischen geysir (Name der vorhin erwähnten heißen Springquelle, dann als Appellativ verallgemeinert für alle derartigen Phänomene) entlehnt. Es handelt sich um ein Nomen Agentis zum schwachen Verb geysa „in heftige Bewegung versetzen, hervorstürmen, -stürzen“, das wiederum das Frequentativum des Verbs gjósa „hervorbrechen, -sprudeln, -stürzen“ ist. Ähnliche Erscheinungen Weitere postvulkanische oder mit Thermalquellen in Zusammenhang stehende Erscheinungen: Schlammvulkan Fumarole Mofette Schwarze Raucher Solfatare Siedeverzug Vorkommen Geysire erfordern eine spezielle Kombination von geologischen und klimatischen Bedingungen, die nur an wenigen Orten großflächig bestehen. Geysire sind von drei Faktoren abhängig: einer Wasserversorgung in Form eines Grundwasserleiters, einer Wärmequelle (eine Plume oder Superplume) und mindestens einem Reservoir mit einer Verengung zum zugehörigen Leitungssystem. Es existieren sechs Geysirfelder größeren Ausmaßes: Yellowstone-Nationalpark (Wyoming) (ca. 300 aktive Geysire) Dolina Geiserow (das Tal der Geysire), Kronozki Nationales Biosphärenreservat Kamtschatka (Russland) (ca. 200 aktive Geysire; Bestand durch einen Erdrutsch am 3. Juni 2007 mit Bildung eines Stausees gefährdet) Nordinsel (Neuseeland) (51 aktive Geysire) El Tatio, Antofagasta (Chile) (38 aktive Geysire, 46 insgesamt in Chile) Haukadalur (Island) (26 aktive Geysire auf ganz Island) Umnak Island (Alaska) (8 aktive Geysire) In den USA existieren vereinzelt Geysire wie in Nevada, Kalifornien, Oregon und Alaska. Über eine nennenswerte Anzahl verfügen Papua-Neuguinea (16 aktive Geysire), Neubritannien (16), Narage (1), Lihir- und Ambitle-Inseln (9), Deidei- und Iamelele-Inseln (12) sowie Indonesien mit 8 aktiven Geysiren auf Sumatra, 4 auf Java, 3 auf Celebes und einem aktiven auf der Insel Bacan. Daneben existieren Geysire noch in Peru (10), Volksrepublik China (10), Mexiko (9), auf den Fidschiinseln (5), Japan (4), Kenia (4), Äthiopien (2), Bolivien (2) und Myanmar (1). Über 300 aktive Geysire, etwa die Hälfte von allen weltweit existierenden, befinden sich im Yellowstone-Nationalpark. Dagegen gibt es in Island, im „Land der Geysire“ lediglich zwei nennenswerte Geysire: den Großen Geysir und den Strokkur. Letzterer eruptiert unregelmäßig im Abstand von wenigen Minuten und manchmal auch bis zu dreimal kurz hintereinander. Der Große Geysir, der nach einem Erdbeben gegen Ende des 13. Jahrhunderts erstmals in schriftlichen Quellen beschrieben wurde, brach dagegen zuletzt um 1916 mit Wassersäulen von 70 bis 80 m Höhe aus. Nach zwei kräftigen Erdbeben im Jahr 2000 kam es allerdings wie schon früher nach Erdstößen mit mehrmonatiger Verzögerung zu einem vorübergehenden Anstieg der Aktivität mit unregelmäßigen Ausbrüchen, die allerdings mit früheren Höhen nicht vergleichbar waren und nach wenigen Jahren auch wieder völlig zum Erliegen kamen. Die Zahl der aktiven Geysire ist mit Vorsicht zu betrachten, da Geysire sehr schnell inaktiv werden können und in selteneren Fällen inaktive Geysire zum Beispiel durch Erdbeben wieder aktiviert werden. Mehrere der oben gezählten Geysire sind außerdem in Gefahr, durch geplante Nutzung geothermischer Energie zu erlöschen oder inaktiv zu werden. Siehe: Durch Menschen zerstörte Geysire. Andererseits kann, wie im Fall des Fly Geyser, durch eine fehlerhafte Geothermie-Bohrung ein Geysir aus Menschenhand entstehen. Weitere, recht große Geysirfelder gab es bis in die 1980er Jahre in Nevada: Beowawe und Steamboat Springs. Durch die Errichtung geothermischer Kraftwerke in der Nähe wurde die vorhandene Hitze allerdings verringert und der Wasserspiegel sank so weit, dass die Geysire nicht mehr aktiv sind. Eigenschaften Das erste naturwissenschaftliche Modell für die Funktion eines Geysirs erklärte 1846 der deutsche Chemiker Robert Wilhelm Bunsen auf Grund eines leicht nachvollziehbaren Experiments, in dem ein Modell-Geysir in verkleinertem Maßstab mit beheiztem Kessel als Reservoir und einer Röhre als Kanal nachgebaut wurde und auch „eruptives Verhalten“ zeigt. Geysire kommen in aktiven vulkanischen Gebieten vor. Sie besitzen einen Kanal in Form einer Röhre, der in ein unterirdisches Wasserreservoir mündet. Es können sich auch mehrere Wasserreservoire hintereinander befinden. Typischerweise werden Geysire über das Grundwasser gespeist. Das ausgestoßene Wasser hat eine Temperatur zwischen 90 °C und knapp über dem Siedepunkt, das Wasser im Reservoir kann auf wesentlich höhere Temperaturen überhitzt sein. Der Eruptionskanal beziehungsweise Verengungen im Eruptionskanal spielen eine wesentliche Rolle bei den Eruptionen des Geysirs. Ist keine Verengung vorhanden bzw. ist sie zu weit, so kann der Wasserdampf ungehindert austreten (Dampfquelle) oder sofern der Dampf weit genug abkühlt und kondensiert, entsteht eine heiße Quelle. Je enger die Engstelle ist, desto stärker wird die thermische Konvektion unterbunden, und von der Höhe des Eruptionskanals hängt der Druck ab, den die Wassersäule und teilweise auch das umgebende Gestein auf das erhitzte Wasser weiter unten ausübt. Um dies zu veranschaulichen: Die Engstelle zwischen dem oberen Reservoir und dem Eruptionskanal des Old Faithful hat einen Durchmesser von etwa zehn Zentimetern. Die Engstelle befindet sich in ca. 7,5 m Tiefe über dem oberen Reservoir. Old Faithful wurde bis auf reichlich 16 m Tiefe mit einer Videokamera befahren, insofern sind die Verhältnisse bis in diese Tiefe recht gut bekannt und die Dynamik der Eruption dieses Geysirs ist recht gut erklärbar. Die Wärme einer Magmakammer erhitzt das Grundwasser auf über 100 °C. Durch den Druck der darüber stehenden Wassersäule siedet das Wasser zunächst nicht (Siedepunktserhöhung). Bei einer Eruption geschieht im einfachsten Fall Folgendes: Erst wenn die Temperatur im Reservoir auf weit über den Siedepunkt angestiegen ist, steigen einzelne Dampfblasen durch die Engstelle im Kanal aufwärts und pressen einen Teil der Wassersäule nach oben. Dadurch sinkt unten der Druck rapide ab und das überhitzte Wasser geht schlagartig in Dampf über. Herausgeschleudert wird eine Mischung aus kochend heißem Wasserdampf, kühlerem beziehungsweise kondensiertem Wasser und gelösten Mineralien sowie Gesteinspartikeln. Im Laufe der Jahre werden durch das heiße Wasser feine Spalten im Gestein zu Schächten aufgeweitet und im günstigsten Fall durch im Wasser vorübergehend gelöste Mineralien (z. B. Silikate) ausgekleidet und damit stabilisiert. Besteht auf dem Weg zur Oberfläche keine wirksame Verengung z. B. durch einen Übergang von einer Kammer (Reservoir) zu einer Leitung, so tritt das Wasser als heiße Quelle oder Dampfquelle zu Tage. Im Wesentlichen wird das Bunsen-Modell heute noch als zutreffend angesehen, auch wenn Bunsen meinte, dass die Verhältnisse in der Natur selbst verwickelter seien und dass statt eines senkrechten Kanals eine „gekniete Röhre“ vorhanden sein müsse, an deren höchstgelegenem unterirdischem Teil sich Dampf sammeln müsse, bis der Druck ausreicht, um das Wasser auszuschleudern. Untersuchungen am Old Faithful mit einer Temperatur-, Druck- und Kamerasonde im Jahr 1992 haben aber gezeigt, dass das Modell mit dem gerade aufsteigenden Kanal hinreichend ist (Lit.: Scott Bryan, 1995), wenn eine ausreichende Verengung vorhanden ist. Die Funktion der Verengung (engl. constriction) ist ausreichend, um Dampfblasen vorübergehend zurückzuhalten, sie ersetzt die Funktion des Rohrknies im Bunsen-Modell. John Sargent Rinehart beschreibt (1980) sechs Geysirmodelle: Modell A: Idealerweise ein unterirdisches Reservoir (mehrere hintereinander sind in der Praxis möglich) ist mit einem langen Eruptionskanal verbunden, der oberirdisch in einem nicht getauchten Kegel mündet. Dieses Modell wird von anderen Quellen auch als düsenförmiger (cone type) Geysir beschrieben. Eruptionstyp: Ziemlich regelmäßiges Intervall, lange Eruptionen, hohe Eruptionssäule als Wasser- und Dampfstrahl. Ein typischer Vertreter dieses Modells ist der Geysir Old Faithful im Yellowstone-Nationalpark. Modell B: Tiefer, enger Eruptionskanal ohne große unterirdische Kammer, nahezu ebene Mündung des Kanals. Eruptionstyp: kurze heftige Eruptionen. Ein typischer Vertreter dieses Modells ist der Round-Geysir, Yellowstone-Nationalpark. Modell C: Ähnlich Modell A, aber kein hoher über dem Wasserspiegel mündender Kegel als Mündung des Eruptionskanals, sondern eine Düse knapp unter der Wasseroberfläche eines Teiches. Eruptionstyp ähnlich Modell A, aber kein ungestörter Wasserstrahl, sondern teilweise hoch geworfener Wasserschwall. Modell D: Ähnlich Modell C, aber in den Eruptionskanal mündet ein komplexeres System mehrerer Seitenkammern, die sich nacheinander entleeren. Eruptionstyp: Serie von Eruptionen mit unregelmäßigen kurzen Pausen, Gruppen von Ausbrüchen, Wasserschwall. Modell E: Der Eruptionskanal führt von einer größeren unterirdischen Kammer in einen Teich. Eruptionstyp: Lange, einigermaßen regelmäßige Eruptionen, die wenig heftig sind, niedrige Eruptionssäule in Form eines Wasserschwalls, kein Wasserstrahl. Modell F: Tiefer, langer Eruptionskanal, der in einem Teich mündet. Eruptionsverhalten wie Modell E. Folgende Faktoren beeinflussen die Tätigkeit von Geysiren: Jahreszeiten und Niederschlagsmengen (mehr oder weniger intensiv), da Niederschläge teilweise in dem abgedichteten System, das ein Geysir voraussetzt, sehr lange brauchen, bis sie im Grundwasserleiter des Geysirs ankommen (dies kann über das Verhältnis der Isotope des Wasserstoffs im ausgeworfenen Wasser bestimmt werden); Luftdruck (entscheidend), da der Siedepunkt des Wassers direkt vom Luftdruck abhängig ist; Gezeitenkräfte (entscheidend), hohe Gezeitenkräfte weiten die Spalten, die den Geysir mit Grundwasser versorgen, Erdbebentätigkeit (von Geysir zu Geysir unterschiedlich und teilweise nicht direkt abhängig vom Abstand zum Epizentrum), allerdings lassen sich anhand der Tätigkeit von Geysiren Erdbeben noch nicht vorhersagen. Auch rein äußerlich ohne Beobachtung der Eruptionstätigkeit lassen sich Geysire meist von Thermalquellen unterscheiden. Dunkelfarbige Bakterienrasen kommen in der Regel nur in den Quelltöpfen heißer Quellen vor. Das Wasser in den Eruptionskanälen und Teichen von Geysiren ist zu heiß, um diese Matten von dunklen thermophilen Bakterien zuzulassen. Es gilt erfahrungsgemäß die Regel: Je heißer das Wasser, desto heller sind die Beläge an thermophilen Bakterien. Heiße Quellen haben oft scharfe Kanten aus Sinter, die bei den verschiedenen Wasserständen der Quelle abgelagert werden. Sinterablagerungen an Geysiren sind eher knollenförmig als scharfkantig. Sinterbohnen, Sintereier und knollenförmiger Sinter weisen auf einen Geysir hin. Diese Formationen bilden sich bei regelmäßigen Spritzern und Schwallen von mineralisiertem Wasser. Arten von Geysiren Bezogen auf die Periodizität der Eruptionen gibt es mehr oder weniger regelmäßig ausbrechende und unregelmäßig ausbrechende Geysire. Es gibt Geysire, bei denen sich starke und schwache Eruptionen unterscheiden lassen. Dass starke Eruptionen die unregelmäßigeren sind, lässt sich nicht nachweisen. Der Steamboat-Geysir im Yellowstone-Nationalpark hat sehr unregelmäßige starke Eruptionen, der Castle-Geysir gehört zu den Geysiren mit dem regelmäßigsten Intervall, solange er nicht in schwachen Eruptionen ausbricht. Weitere Unterscheidungsmöglichkeiten sind im Abschnitt Begriffsdefinitionen beschrieben. Fotosequenz eines eruptierenden Geysirs Geysire in Neuseeland Die meisten der neuseeländischen Geysire wurden seit 1886 durch natürliche Einflüsse oder durch Eingriff des Menschen zerstört. Das Rotomahana Geysirfeld ging durch den Ausbruch des Vulkans Mount Tarawera 1886 verloren. Zwei Drittel der Geysire im Geysirfeld Orakei Korako wurden durch die Errichtung des Ohakuri-Staudamms 1961 überflutet. Das Geysirfeld Taupo Spa ging verloren, als der Fluss Waikato in den fünfziger Jahren umgeleitet wurde. Das Wairakei Geysirfeld existiert nicht mehr, seitdem in der Nähe ein geothermisches Kraftwerk errichtet wurde. Der bisher größte Geysir, der Waimangu-Geysir erlosch aufgrund natürlicher Ursachen; er existierte nur von 1900 bis 1904. Das größte verbleibende Geysirfeld in Neuseeland ist heute Whakarewarewa in der Nähe von Rotorua. Berühmte Geysire Beehive-Geysir (Yellowstone-Nationalpark, mittleres Intervall in der Messperiode 2003 ca. 18 Stunden unregelmäßig, 45–55 m hohe fontänenartige Eruptionssäule, vier bis fünf Minuten Dauer, düsenartig) Castle-Geysir (Yellowstone-Nationalpark, mittleres Intervall 2003 außerhalb der Zeiten mit kleinen Eruptionen etwa zwölf Stunden 45 Minuten IBE (interval between eruptions, siehe Abschnitt Intervall weiter unten) vorhersagbar, 20 bis 30 m hohe Eruptionssäule, große Eruption: 20 Minuten Wasserphase, 40 Minuten Dampfphase; düsenartig) Giant-Geysir (Yellowstone-Nationalpark, Intervall sehr unregelmäßig und zeitweilig extrem lang, Eruptionsdauer bis über eine Stunde, 50–83 m hohe Eruptionssäule, düsenartig, etwa zwei Meter Durchmesser) Giantess-Geysir (Yellowstone-Nationalpark, sehr unregelmäßig und zeitweilig extrem lang (mehrere Monate), 30–60 m hohe Eruptionssäule, Wassereruptionen: Ausbrüche fünf bis zehn Minuten Wasserphase dann 30 bis 60 Minuten Pause, Dampferuptionen: Dampfphase bis zu sechs Stunden, springbrunnenartig) Grand Geysir (Yellowstone-Nationalpark, in der Messperiode 2003 mittleres Intervall von 9:50 Stunden IBE, nicht so regelmäßig wie Old Faithful, 50–60 m hohe Eruptionssäule, zehn bis zwölf Minuten Dauer, bricht oft mehrmals unmittelbar hintereinander aus, auf Ausbrüche bis neun Minuten Dauer folgt in der Regel ein zweiter sehr spektakulärer Ausbruch zur vollen Wurfhöhe, springbrunnenartig) Great-Fountain-Geysir (Yellowstone-Nationalpark, ca. 30–50 m hohe Eruptionssäule, Intervall zwölf ± zwei Stunden, etwa zehn Prozent der Ausbrüche als besonders gewaltige Eruption, spuckt mit vielen Pausen (bis fünf Minuten) für ca. 1,5 Stunden) Großer Geysir (Island, alle 24 bis 30 Stunden, zehn Meter hohe Eruptionssäule) Nach langer Inaktivität seit einem Erdbeben im Juni 2000 wieder aktiv. Grotto-Geysir (Yellowstone-Nationalpark, Intervall unregelmäßig aber vorhersagbar, zehn bis 13 m hohe Eruptionssäule, ein bis zwölf, selten über 26 Stunden Dauer, springbrunnenartig) Old Faithful Geysir (Yellowstone-Nationalpark, Intervall ca. 91 Minuten IBE vorhersagbar, im Jahr 2003 minimal 45 Minuten, maximal 124 Minuten, 30–55 m hohe Eruptionssäule, zwei bis fünf Minuten Dauer, düsenartig) Strokkur Geysir (Island, Intervall etwa zehn Minuten, 20–30 m hohe Eruptionssäule, kurze heftige Eruption) Geysire in der Dichtung Liebevoll, wenn auch nicht in den Einzelheiten korrekt beschreibt Karl May die Geysire, Sinterterrassen und Schlammtöpfe im Yellowstone-Nationalpark in seiner Amerika-Erzählung Der Sohn des Bärenjägers (anderer Titel: Unter Geiern – 1. Teil) im Kapitel Am P’a-wakon-tonka. Das Ende eines Geysirs Warum ein Geysir inaktiv wird oder erlischt Durch die permanenten Eruptionen vergrößert sich der Schlot (Eruptionskanal) mit der Zeit und der Geysir wird zu einer heißen Quelle. Menschengeschaffene künstliche Geysire sind in dieser Hinsicht meist sehr stabil, da das Bohrloch in der Regel verrohrt wird. Erdbeben in der Umgebung eines Geysirs können zu einer wesentlichen Veränderung seines Eruptionsverhaltens führen. Er kann nicht nur wieder erwachen, er kann auch inaktiv werden oder erlöschen. Der Bau von geothermischen Kraftwerken in der Nähe von Geysiren führt meistens dazu, dass die Geysire nicht mehr ausbrechen, da der Grundwasserspiegel und die Temperatur des Wassers, das den Geysir speist, sinken. Die Zugabe von Detergentien wie Spülmittel oder Schmierseife zum Thermalwasser, um einen Ausbruch zu provozieren, wirkt sich auf Dauer auch nachteilig auf die Eruptionstätigkeit aus. Wo diese Praxis früher üblich war, um Touristen einen Ausbruch vorzuführen, ist sie inzwischen meist durch Gesetzgebung verboten (Beispiel: Großer Geysir, Island). Oft führt auch Vandalismus zum Ende der Eruptionstätigkeit eines Geysirs. Werden Steine oder Gegenstände in den Schlot geworfen, kann die Eruptionstätigkeit aufhören. Meist wird der Eruptionskanal verstopft, der Druck der Eruption reicht nicht aus, um den Fremdkörper auszuwerfen und der Geysir wird zur heißen Quelle. Das spektakulärste Ende eines Geysirs steht bevor, wenn das umgebende Gestein dem Dampfdruck nicht widerstehen kann. Dies führt zur Explosion des Geysirs, also der Zerstörung der obersten Partie des Auswurfschachts (Beispiel: Porkchop-Geysir im Norris-Geysir-Becken, Yellowstone-Nationalpark explodierte am 5. September 1989). Wenn durch diese hydrodynamische Veränderung nicht schon die Eruptionsschwingung zum Erliegen kommt, so wird jedenfalls die Austrittsöffnung zerstört. Durch Menschen zerstörte Geysire Geysire sind sehr empfindliche Naturphänomene. Durch menschliches Einwirken wurden zahlreiche Geysire und Geysirfelder meist unwiederbringlich zerstört. Der Ebony-Geysir im Norris-Geysir-Becken (Yellowstone-Nationalpark) wurde 1950 durch Hineinwerfen von Steinen, Holzblöcken und Schutt zerstört. Das gleiche Schicksal erlitt der Minute-Geysir in der gleichen Region, durch den Druck entstand ein anderer Kanal, die Eruptionshöhe jedoch schrumpfte auf fünf Prozent der ursprünglichen Größe. Der Bau geothermischer Anlagen brachten den Beowawe-Geysir, Spitfire-Geysir, Teakettle-Geysir, Pincushion-Geysir sowie etwa 23 weitere Geysire auf dem Beowawe-Geysir-Feld in Nevada um 1950 zum Versiegen. Die restlichen Geysire in diesem Feld versiegten 1987. Ebenfalls in Nevada wurden viele Geysire im Steamboat-Springs-Geysir-Feld durch den Bau eines geothermischen Kraftwerks zerstört. Dem Bau solcher Kraftwerke sind auch zahlreiche Geysire auf Island und Neuseeland zum Opfer gefallen. Begriffsdefinitionen Im Zusammenhang mit Geysiren werden oft Begriffe gebraucht, die aus der englischen Sprache übersetzt werden. Aktiver Geysir Ein Geysir gilt als aktiv, wenn er innerhalb der letzten zwei Jahre eine Eruption hatte. Diese Definition ist eine willkürliche Vereinbarung und dient der Systematik. Düsenartiger Geysir (engl.: „Cone Type Geyser“, übersetzt: „Kegelgeysir“) Düsenartige Geysire haben einen schmalen Wasser- und Dampfstrahl. Sie besitzen keinen oder nur einen sehr kleinen Teich, der den Wasserstrahl kaum beeinflusst. Die Mündung des Eruptionskanals muss sich nicht zwangsläufig auf einem Sinterkegel befinden, das ausgeworfene Wasser darf sich jedoch nicht in tieferen Becken über dem Eruptionskanal sammeln. Entspricht Rinehart Modell A oder B. Beispiel: Old Faithful. Inaktiver Geysir (engl.: „dormant Geyser“) Ein Geysir gilt als inaktiv, wenn er innerhalb der letzten zwei Jahre kein eruptives Verhalten zeigte. Diese Definition ist eine willkürliche Vereinbarung und dient der Systematik. Ein inaktiver Geysir kann durchaus wieder aktiv werden (Giant-Geysir, Yellowstone-Nationalpark; Großer Geysir, Island). Intervall Es existieren zwei Definitionen für diesen Begriff: Die Zeitspanne zwischen dem Beginn einer Eruption bis zum Beginn der nächsten. Die Abkürzung aus dem Englischen lautet IBE: Interval Between Eruptions. Die Zeitspanne vom Ende einer Eruption bis zum Beginn der nächsten. Die erste Definition wird vorwiegend im Zusammenhang mit den Geysiren im Yellowstone-Nationalpark gebraucht, die zweite im Zusammenhang mit Geysiren außerhalb des Yellowstone-Nationalparks, zum Beispiel denen in Neuseeland. Die Angabe des Intervalls sollte in diesem Bezug immer erklärt werden. Springbrunnenartiger Geysir (engl.: „Fountain Type Geyser“) Springbrunnenartige Geysire befinden sich in einem Teich und werfen das Wasser nicht in einem scharfen Strahl, sondern in einem Schwall aus. Die Eruption kann in mehrere Ausbrüche aufgeteilt sein (die Definition der GOSA macht dies zur Bedingung). Um den Verlauf einer Eruption zu beschreiben, reicht allerdings die Unterscheidung in „düsenartig“ oder „springbrunnenartig“ nicht aus. Hier müssen komplexere Modelle herangezogen werden. Entspricht Rinehart Modell D bis F. Beispiel für einen springbrunnenartigen Geysir: Grand-Geysir. Falsche Geysire Der Sammelbegriff „falscher Geysir“ stellt keine Wertung dar, sondern dient in der Systematik zur Abgrenzung von den natürlich entstandenen Geysiren. „Falsche Geysire“ können genauso beeindruckend sein wie echte Geysire. Im englischen Sprachraum bezeichnet man falsche Geysire als „misnamed geysers“. Ob durch Bohrungen entstandene künstliche Geysire und Kaltwassergeysire Naturdenkmäler sind, ist umstritten. Es gibt drei Arten falscher Geysire: durch Menschen erzeugte „künstliche Geysire“, „Kaltwassergeysire“ und „kontinuierlich ausbrechende Geysire“. Künstlicher Geysir Werden in geothermisch aktiven Gebieten von Erdwärme beheizte Höhlen oder Aquifere angebohrt, die eine ausreichende Wasserversorgung besitzen, können sich unter geeigneten Bedingungen Geysire bilden, die ein Eruptionsverhalten wie natürliche Geysire besitzen. Ein bekannter künstlicher Geysir ist beispielsweise der Old Faithful of California in Calistoga, Napa Valley (Intervall etwa 30 Minuten, Eruptionsdauer drei bis vier Minuten, Ausbruchshöhe 20 bis 33 Meter). Hingegen wird bei Soda Springs in Idaho mit Zeitschaltuhr und Ventil gemogelt. Für Anschauungszwecke gibt es Konstruktionen aus einem gasbeheizten Wasserbehälter und einem daran angeschlossenen senkrecht nach oben ragenden, oben offenen Rohrstück. Das damit nur einmalig erreichbare Entspannungsereignis tritt bei kontinuierlicher Erwärmung des Wasservorrates spontan dann ein, wenn im Behälter die durch den Druck der Wassersäule im Rohr leicht erhöhte Siedetemperatur erreicht ist. Bei der Cola-Mentos-Fontäne wird die Ausgasung von Kohlendioxid hingegen durch zugegebene Substanzen ausgelöst. Kaltwassergeysir (engl.: „Eruption Controlled Geyser“) Bei Kaltwassergeysiren wird der Druck, mit dem das Wasser aus dem Eruptionskanal getrieben wird, nicht durch Wasserdampf, sondern durch im Wasser gelöstes oder in Höhlen austretendes und plötzlich ausperlendes Kohlendioxid erzeugt. In aller Regel sind sie das Ergebnis einer Bohrung. Bekannte Kaltwassergeysire im deutschsprachigen Raum sind der Wallende Born (Eruptionshöhe etwa 2 bis 4 Meter, Intervall etwa 35 Minuten) und der Geysir Andernach (mit bis zu 60 m Höhe der höchste Kaltwassergeysir der Welt, Intervall etwa 2 Stunden). In der Slowakei befindet sich der Herlianský Geysir bei Herľany. Siehe auch Nyos-See, der durch eine ebensolche Eruption bekannt geworden ist. Kontinuierlich ausbrechender Geysir (engl.: „Perpetual Spouter“) Ein kontinuierlich ausbrechender Geysir ist kein Geysir im eigentlichen Sinn (ein Geysir zeichnet sich durch sein in Intervallen auftretendes eruptives Verhalten aus), sondern eine Thermalquelle, die ähnlich wie ein Geysir ständig heißes Wasser oder heißes Wasser und Wasserdampf ausstößt. Porkchop-Geysir im Yellowstone-Nationalpark war vor seiner Explosion solch ein „Perpetual Spouter“. Auch der Fly Geyser nördlich von Gerlach im Bundesstaat Nevada, USA ist sowohl künstlichen Ursprungs (eine Quellbohrung bekam Verbindung mit einer hydrothermalen Quelle) als auch ein Perpetual Spouter. Geysire als Biotop Geysiren, die man früher wegen der Hitze für steril hielt, sind von Archaeen und Bakterien besiedelt, die bis über 100 Grad Wassertemperatur aushalten. Siehe Näheres bei Hyperthermophile. Geysirrekorde Der Geysir mit den höchsten Eruptionen der Erde ist der Steamboat-Geysir im Yellowstone-Nationalpark. Die höchste Wurfhöhe der Fontäne, die je beobachtet wurde, betrug 130 m. Eine große Eruption ist beim Steamboat selten, aber dann erreicht er Höhen von mindestens 76 m. Der Geysir mit den höchsten Ausbrüchen in der Geschichte war der Waimangu-Geysir in Neuseeland mit einer Fontäne bis 460 m Höhe. Der Geysir existierte nur von 1900 bis 1904. Er wurde durch einen Erdrutsch verschüttet. Grot Yubileinyi im Tal Dolina Geiserow auf der Halbinsel Kamtschatka wirft hoch und weit. Die Fontäne wird schräg ausgeworfen und erreicht eine Höhe von ca. 33 m und eine Weite von bis zu 76 m. Die regelmäßigsten Intervalle wurden im Yellowstone-Nationalpark über die letzten Jahre am Riverside-Geysir gemessen und wenn der Castle-Geysir nicht gerade in kleinen Eruptionen ausbricht, übertrifft er den Riverside-Geysir sogar an Regelmäßigkeit. Auf dem Neptunmond Triton gibt es Stickstoffgeysire, die ein Gemisch aus flüssigem Stickstoff und mitgerissenem Gesteinsstaub bis in 8 km Höhe ausstoßen. Literatur John Sargent Rinehart: Geysers and Geothermal Energy. Springer Verlag, Berlin 1980, ISBN 0-387-90489-1 (englisch). T. Scott Bryan: The Geysers of Yellowstone, Third Edition. University Press of Colorado, Colorado 1995, ISBN 0-87081-365-X (englisch). Carl Schreier: A field guide to Yellowstone’s geysers, hot springs and fumaroles. 2. Auflage. Homestead Pub, Moose WY 2003, ISBN 0-943972-09-4 (englisch). Weblinks deutsch: Stromboli online – Vulkane auf Swisseduc: Yellowstone Caldera (mehrere Seiten über Geysire, auch Filmclips) Die heißen Quellen im Haukadalur (Island) Helgi Torfason: Marc Szeglat: Geysire und heiße Quellen auf Vulkane.net, Oberhausen englisch: The Geyser Observation and Study Association (GOSA) Geysers and the Earth’s Plumbing Systems – eingehende Erklärung von Geysir-Modellen Geyser Resources plus Yellowstone Resources. Johnston’s Archive Geysers. Museum of Unnatural Mystery WyoJones’ Geyser Site illustrierter russisch- und englischsprachiger Bericht über die Entwicklungen in der Dolina Geiserow auf Kamtschatka seit dem 3. Juni 2007 Einzelnachweise Quelltyp Vulkanismus Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Salemer%20M%C3%BCnster
Salemer Münster
Das Salemer Münster war die Abteikirche der ehemaligen Reichsabtei Salem (gegründet 1137/38; aufgehoben 1804 durch die Säkularisation) und dient heute als Pfarrkirche der römisch-katholischen Gemeinde von Salem. Das gotische Münster wurde im Zeitraum von etwa 1285 bis 1420 als dreischiffige Säulenbasilika errichtet und gehört zu den bedeutendsten hochgotischen Bauwerken der Zisterzienser im deutschen Sprachraum. In der äußeren Form entspricht die Kirche weitgehend der ursprünglichen Baugestalt, während Umbauten im Innenraum die Raumwirkung nachhaltig veränderten. Das Inventar umfasst Ausstattungsgegenstände aus der Zeit der Spätgotik, des Barock, des Rokoko und des Klassizismus. Es ist nach dem Ulmer und dem Freiburger Münster die drittgrößte gotische Kirche Baden-Württembergs. Erste Klosterkirche Im Jahr 1137 traf eine Gesandtschaft von Zisterziensern aus dem Kloster Lützel (Oberelsass) auf der Gemarkung Salmannsweiler am Bodensee ein, um das Kloster Salem zu gründen. Zum Zeitpunkt der Besiedelung stand dort bereits eine Kapelle, die dem Doppelpatrozinium der Heiligen Verena und Cyriak unterstellt war. Diese wohl schon baufällige (vetustate paene collapsa) Kapelle wurde um 1150 für den Neubau einer Klosterkirche abgerissen. Von der ersten Klosterkirche sind keine baulichen Zeugnisse erhalten. Wenn die Kirche der Primarabtei Clairvaux und die zur gleichen Zeit erbauten Kirchen von Lützel, Kaisheim und anderen Zisterzienserklöstern Rückschlüsse erlauben, handelte es sich um eine dreischiffige Basilika mit kreuzförmigem Grundriss im Stil der Romanik. Nach Knapp (2004) könnte das Querhaus neben der zentralen rechtwinkligen Apsis auf der Nordseite in drei und auf der Südseite in zwei nach Osten ausgerichtete Kapellen eingeteilt gewesen sein. Belegt ist, dass sie vollständig aus Stein gebaut wurde und mindestens acht Altäre besaß, von denen die ersten vier am 13. September 1152 durch den Bischof von Chur und den Bischof von Konstanz geweiht wurden. Die Kirche selbst wurde am 14. Juli 1179 nach rund 30 Jahren Bauzeit geweiht. Ein Jahrhundert später wurde sie wieder abgerissen, um Platz für den Bau des Münsters zu schaffen. Bauzeit Bis zum Tod Friedrichs II. 1250 stand das Kloster unter dem Schutz der Stauferkönige. Das Machtvakuum im Römischen Reich, das seinem Tod folgte, nutzten die Nachbarn des Klosters aus, um sich dessen Besitztümer zu sichern und einstige Schenkungen rückgängig zu machen. Erst Rudolf I. von Habsburg, dessen Amtsantritt 1273 das Interregnum beendete, nahm Salem unter seinen Schutz und sorgte dafür, dass die verlorenen Güter wieder zurückgegeben wurden. Durch die so gesicherten Einkünfte und eine Reihe in den 1280er Jahren ausgestellten Ablassbriefe sah sich das Kloster finanziell in der Lage, eine neue, größere Kirche zu bauen. Der Münsterbau dokumentiert somit auch eine neue Ära in der Geschichte des Klosters – den Beginn der Protektion durch die Habsburger, die dem Kloster über Jahrhunderte hinweg die Unabhängigkeit sichern sollte. Initiator des Neubaus war der Abt Ulrich II. von Seelfingen (1282–1311). Vermutlich war der ausschlaggebende Grund für den Neubau, dass die alte Kirche für den Konvent, der sich innerhalb weniger Jahrzehnte auf rund 300 Mönche und Laienbrüder vergrößert hatte, zu klein geworden war. Lange Zeit war man der Auffassung, der Neubau sei im Jahr 1299 begonnen worden; neuere Bauuntersuchungen und die Verbindung des Kirchenbaus mit der Revindikationspolitik Rudolfs I. legen dagegen einen Baubeginn um 1285 nahe. Für den Neubau wurden nicht mehr, wie für die Vorgängerkirche, grob behauene Bruchsteine verwendet, sondern große Quader von behauenem Sandstein, die aus Steinbrüchen in der Umgebung stammten. Die Arbeiter und Planer dürften zumeist Laienbrüder gewesen sein, von denen einige auch über Salem hinaus wirkten, so etwa bei der Errichtung des Turms der Klosterkirche Bebenhausen. Der Bau wurde an der Ostseite begonnen und schritt zunächst rasch voran. Im Jahr 1307 wurden elf Altäre geweiht; 1313 bzw. 1319 wurden zwölf weitere konsekriert. Als der Chor und das Querschiff um 1319 fertiggestellt und überdacht waren, wurde der Bau nur noch langsam weitergeführt, wenn nicht gar vorübergehend eingestellt. Die Zahl der Mönche war seit dem Jahr 1300 kleiner geworden, so dass der bereits überdachte Raum unter dem östlichen Mittelschiff ausreichend Platz für den Konvent bot. Schuld an der Unterbrechung waren zunächst Finanzierungsprobleme, da mit Ludwig dem Bayern von 1314 bis 1347 ein Papstgegner an der Macht war, der die Habsburger Protektion über Salem aufhob und damit die Rechtssicherheit vieler Güter aufkündigte. Nachdem Ludwigs Nachfolger Karl IV. die Abtei wieder in ihren Rechten bestätigt hatte, brach 1348 die Pest über Süddeutschland herein. Erst um 1400 konnte der Bau weitergeführt und in den 1420er Jahren vollständig überdacht werden, wie neuere dendrochronologische Untersuchungen zeigten. Die Bauzeit von rund 150 Jahren ist im Vergleich dennoch recht kurz, blieben doch viele gotische Kirchenbauten über lange Zeit unvollständig oder wurden, wie das Ulmer Münster, erst im gotikbegeisterten 19. Jahrhundert vollendet. Die Kirchweihe fand bereits vor dem Bauabschluss statt. Abt Jodokus Senner nutzte das Konzil von Konstanz, das im Jahr 1414 begonnen hatte, und lud den dort anwesenden Erzbischof von Salzburg Eberhard III. ein, die Kirchweihe zu vollziehen. Eberhard III. sah sich Salem wohl dadurch verbunden, dass sein Amtsvorgänger Eberhard II. rund 200 Jahre zuvor das Kloster unter seinen Schutz genommen hatte. Es gilt als wahrscheinlich, dass bei der Kirchweihe am 23. Dezember 1414 auch König Sigismund anwesend war, der am Vortag in Überlingen im Salemer Stadthof übernachtet hatte und am 24. Dezember auf dem Konzil eintraf. Mit Salem als Vorreiter hatte die gotische Baukunst ihren Weg vom oberrheinischen Straßburg an den Bodensee gefunden: Ungefähr gleichzeitig ließ auch das Bistum Konstanz das Konstanzer Münster in gotischem Stil modernisieren, und kurz nach dem Bauabschluss in Salem sollte auch in der benachbarten Reichsstadt Überlingen mit dem Ausbau der Stadtpfarrkirche St. Nikolaus zur fünfschiffigen Basilika begonnen werden, um Salem noch zu überbieten. Architektur Baukörper Das Münster ist als Baukörper in das Klostergeviert integriert und überragt es kaum an Höhe. Die strengen, schlichten Formen der Kirche kontrastieren heute mit dessen ausladendem barockem Baustil. Die architektonische Reduzierung der Salemer Kirche, die nur durch einzelne Zierelemente an der Fassade aufgelockert wird, distanziert sich demonstrativ vom Prunk der amtskirchlichen Kathedralen und der Klosterarchitektur der Cluniazenser. Im Süden schließt sich direkt der Kreuzgang an, der zum Konventsgebäude führt. Dieser Zugang, das sogenannte Bernhardsportal, diente als Eingang für die Mönche, während die übrigen Kirchgänger das Westportal benutzten. Ein weiteres Portal – seit 1750 geschlossen – findet sich an der Nordseite des Querhauses; es diente ursprünglich als separater Eingang für hochrangige Gäste. Beim Salemer Münster handelt sich um eine dreischiffige Basilika mit Querhaus, Chor und Chorumgang auf einer rechteckigen Grundfläche von 67 × 28 m (Außenmaße); dabei ragt der schmale, hohe Baukörper des Querhauses nicht seitlich über das Grundviereck hinaus. In den Ausmaßen entspricht das Salemer Münster ungefähr dem Konstanzer Münster, in der Länge dem Basler Münster. Das Baumaterial ist fein strukturierter Molasse-Sandstein in gelb-grauen, grünlichen und braunen Farbtönen, der im Außenbereich unverputzt ist. Als regionale Vorbilder des kreuzförmigen Baus könnten die Klosterkirche von Kappel am Albis und das heute nicht mehr existierende Münster des Klosters Petershausen gedient haben. Da Petershausen sich ebenso wie Salem vom Bistum Konstanz unabhängig gemacht hatte und Salem diese Unabhängigkeit auch demonstrieren wollte, liegt wohl in der Petershausener Klosterkirche das unmittelbare Vorbild des Salemer Münsters. Der Dachfirst des Querhauses ist bis zum 32 m hohen First des Mittelschiffs hinaufgezogen. Die Satteldächer von Lang- und Querhaus überragen die niedrigen Seitenschiffe mit ihren Pultdächern um etwa das Doppelte. Der Dachstuhl über dem Hochchor stammt teilweise noch aus dem Jahr 1301. Auf dessen Südseite sind originale glasierte Dachziegel erhalten, die dem Dach einst einen goldenen Schimmer verliehen; bis zur Neueindeckung 1997 war das gesamte Dach des Langhauses noch großteils mit bauzeitlichen Ziegeln eingedeckt. An der Außenseite des Baukörpers verleihen nur die Harfengiebel und die Lanzettfenster dem architektonisch eher grobschlächtigen Bauwerk eine gewisse Filigranität. Die Westfront wird von einem hohen dreieckigen Harfengiebel überragt, dessen Grundform, ein gleichseitiges Dreieck, in der mittelalterlichen Zahlenmystik als Verehrung der Dreifaltigkeit verstanden werden konnte. Zwei mächtige Strebepfeiler stützen die Fassade und rahmen den Eingang zur Kirche. Die Gestaltung der Giebel wiederholt sich in ähnlicher Form an der Ostseite sowie an Süd- und Nordseite des Querschiffs. Zehn Maßwerkfenster auf jeder Seite des Mittelschiffs (Obergaden) spenden dem Innenraum Licht. Davon liegen sechs Achsen westlich und vier östlich des Querhauses. Die Seitenschiffe besitzen eine Fensterachse mehr, da die Fensterbögen des östlichen Mittelschiffs seit dem Umbau von 1750 weiter auseinander liegen als die Joche des Chorumgangs. Weitere, mächtige Maßwerkfenster finden sich an den vier Giebeln der Kirche, wobei die Fenster der Ostseite im Zuge der Umgestaltung des Innenraums um 1750 zugemauert wurden. Die Stirnseite des nördlichen Querhauses besitzt zusätzlich ein großes achtblättrig gefächertes Rosettenfenster nach dem Vorbild des Straßburger Münsters, was belegt, dass sie als Schauseite der Kirche angelegt wurde. Auch das Maßwerkgitter vor der Giebelwand mit gestaffelten zweibahnigen Lanzetten, die durch Kleeblattformen horizontal verbunden sind, hat wohl in Straßburg sein Vorbild. Turmbau 1753–1757 Gemäß den Ordensbestimmungen der Zisterzienser, die Einfachheit und Bescheidenheit forderten, erhielt das Münster keinen Kirchturm, sondern nur einen einfachen Dachreiter, der die Glocken trug. Im 18. Jahrhundert änderte sich die Situation: Im Jahr 1697 vernichtete ein Brand fast den gesamten Klosterbau. Das Münstergebäude überstand den Brand weitgehend unbeschädigt, während ein Großteil des Inventars ein Raub der Flammen wurde. Beim Neubau der Klosteranlage durch den Vorarlberger Baumeister Franz Beer 1697–1708 drohte das Münster optisch hinter dem riesigen Gebäudekomplex zu verschwinden. Beer plante daher einen freistehenden Glockenturm ein, der jedoch nicht ausgeführt wurde. Abt Anselm II. Schwab (Amtszeit 1746–1778), der seinen Sinn für das Repräsentative bereits mit dem Bau der Wallfahrtskirche Birnau bewiesen hatte, konnte sich der Versuchung nicht mehr entziehen, die Kirche mit einem prächtigen Vierungsturm auszustatten. Der Baumeister Johann Caspar Bagnato, der durch den Bau des Altshausener Schlosses bekannt geworden war, erhielt 1753 den Auftrag zur Planung und zum Bau, so dass der Turm im Jahr 1756 bereits stand. Der Turm wurde in Fachwerktechnik aus Holz konstruiert und mit Kupferplatten verkleidet. Die Eckpilaster waren aus Blei und mit Bronze verziert, so dass sich der Turm von weitem optisch nicht von gemauerten Türmen dieser Art unterschied, sondern in seinem Kupferglanz sogar noch weitaus prächtiger gewirkt haben muss. Mit dem vergoldeten Turmknopf, der selbst fast zwei Meter Durchmesser hatte, erreichte der Turm eine Höhe von über 85 m – mehr als fünfzig Meter höher als der Dachfirst des Langhauses. Sechzehn neue, mit Reliefs verzierte Glocken sowie ein neues Uhrwerk wurden angeschafft. Innenraum Mittelschiff und Seitenschiffe sind von gotischen Kreuzgewölben überdeckt. Das Gewölbe des Langhauses wird von Stützen getragen, die in einer asymmetrischen „Eisbrecherform“ ausgebildet sind: Zum Laienraum hin präsentieren sie sich als rechteckige Pfeiler, deren wuchtige Gestalt durch schlanke Säulenbündel gemäßigt werden; zu den Seitenschiffen hin schließen sie spitzwinklig ab, wodurch das Gewölbe leichter und die Seitenschiffe geräumiger wirken. Die Pfeiler wurden aus Gründen der Statik weit in die Tiefe gezogen und ersetzten so besondere Strebebögen an der Außenseite. Durch diese Bauweise entstanden zwischen den Pfeilern Räume für kleine Seitenkapellen, die wiederum mit Kreuzrippen überwölbt sind, wodurch der Eindruck eines zusätzlichen Seitenschiffs entsteht. Die östlichen Teile der Seitenschiffe sind durch Säulenreihen und Rippengewölbe in jeweils zwei schmalere Schiffe aufgeteilt. Die äußeren Stützen sind als schlanke Pfeiler angelegt, die zum Mittelschiff hin als Dreiviertelsäule abschließen. Die Säulen, die direkt zwischen Chorraum und Umgang liegen, haben einen achteckigen Querschnitt. Sie gehören zum ältesten Bauabschnitt und dokumentieren noch eine Orientierung an einem älteren Baustil, wie er etwa für die Kirche des Stifts Lilienfeld charakteristisch ist. Insgesamt sind die Stützen des Umgangs wesentlich schlanker als die massiven Pfeiler des westlichen Langschiffes, wodurch der Chorraum lichter und leichter wirkt. Die sichtbaren Stützelemente wurden also zugunsten der optischen Gesamtwirkung des Innenraums verborgen oder umgeformt. Diese Entwicklung, die typisch ist für den Beginn der deutschen Hochgotik im Gegensatz zur französischen Gotik, zeigt sich auch in der Auffassung des Innenraums als zu gestaltende plastische Raumschale. Umbau des Chorpolygons Das östliche Mittelschiff (Chor) besaß bis 1750 auf drei Seiten einen Umgang mit polygonalem Abschluss nach dem Vorbild der Klosterkirche von Morimond. Über dem westlichsten Joch des Chors bildete sich durch dessen Überwölbung ein Obergeschoss, wo sich vermutlich eine kleine Kapelle befand, die der Jungfrau Maria, allen Engeln und dem Erzengel Michael gewidmet war. Die damals noch unverblendeten Fenster der Westfassade ließen Licht durch die Säulenreihen des Chors und des Obergeschosses fallen und erzeugten so wohl eine mystisch wirkenden Lichteffekt. Im Auftrag von Abt Anselm II. entfernte Johann Caspar Bagnato im Jahr 1750 die Binnengliederung im Ostteil der Kirche und erweiterte so den nutzbaren Raum des östlichen Langhauses. Das Gewölbe über dem östlichen Teil des Umgangs und das obere Stockwerk mit der Michaelskapelle wurden entfernt, so dass nur der Nord- und Südteil des Umgangs verblieben. Das Langhausgewölbe verlängerte sich dadurch um ein zusätzliches Joch. Anders als mancher andere Kirchenherr des 18. Jahrhunderts wusste Anselm die alte guet gottische gestalt der Kürchen zu schätzen, so dass er die Architektur trotz aller Umbauten nicht stilistisch aktualisieren ließ. Das neu entstandene Gewölbe über dem Hochchor fügt sich daher ohne Stilbruch in das übrige gotische Spitzbogengewölbe des Langhauses ein. Grund für den Umbau waren unter anderem Platzprobleme: Die Klosterchronik Apiarium Salemitanum beschwerte sich schon 1708 über den großen Andrang der Laien und den „ungemeinen Concursus“ in der Kirche. Abt Anselm befürchtete, die Klosterdisziplin könnte durch diesen Kontakt mit dem Volk zu sehr gestört werden. Der Hochaltar rückte also unter die Vierung, das Chorgestühl auf die Ostseite des nunmehr verlängerten Langhauses. Zuvor waren Laien und Mönche nur durch eine hölzerne Absperrung (Lettner) getrennt gewesen, nun waren die Patres räumlich vollkommen unter sich. Die mittelalterlichen Lichtspiele gingen verloren und wichen einer frontal-theatralischen Raumwirkung; dafür war der Chorraum nun besser beleuchtet, da durch zusätzliche Fenster im oberen Teil des Langhauses mehr Licht in den Raum fiel. Ausstattung Ausstattungsphasen Schlichtheit in der Gestaltung und Verzicht auf Farben galt bei den Zisterziensern auch für den Innenraum der Kirche. Während die Amtskirche und Orden wie die Cluniazenser ihr Vermögen in den prachtvollen Schmuck der Kirchen investierten, befürchtete man bei den Zisterziensern, der üppige Bilderschmuck könnte die Mönche von der Frömmigkeit ablenken. Der Drang zur Dekoration ließ sich jedoch nicht immer aufhalten: Bei der Ausstattung hielten sich die Gestalter des Salemer Münsters nicht mehr so stark zurück, wie es in der Frühzeit der Ordenskunst der Fall war. Vergoldete Schlusssteine, bemalte Gewölberippen und farbige Elemente in den ansonsten farblosen Fenstern, wie man sie in Salem vermutet, wurden jedoch von der Ordensleitung nicht gern gesehen. Auch das Kirchengerät sollte aus einfachsten Materialien bestehen; ein Grundsatz, der sich jedoch bereits im Spätmittelalter nicht mehr konsequent durchsetzen ließ. So erscheint die Ausstattung stets als Kompromiss zwischen der spirituellen Verpflichtung zum Verzicht und den Geltungsbedürfnissen der Äbte, die schließlich nicht nur auf religiöser, sondern auch auf politischer Ebene mit den Fürstbischöfen zu konkurrieren hatten. Spätmittelalter Nur wenig ist über die Ausstattung des 14. und 15. Jahrhunderts bekannt, noch weniger ist davon erhalten. Die Fragmente, die man der Ausstattung der Klosterkirche, angrenzender Gebäude oder der Pfleghöfe zurechnen kann, sind heute weit verstreut. So können Holzskulpturen und Tafelmalereien insofern mit der Zisterzienserabtei in Verbindung gebracht werden, als dass sie vermutlich zur ehemaligen Ausstattung gehörten oder zumindest zu einem späteren Zeitpunkt sicher im Besitz Salems nachgewiesen werden können. Die Innenwände des Münsters waren zu der Zeit in einfachem Weiß getüncht und mit Einfassungen in Grün-, Rot- und Ockertönen sowie dekorativen Ornamenten versehen. Abt Johannes I. Stantenat (1471–1494) ließ neben baulichen Ausbesserungen die Fenster des Langhauses erneuern, das steinerne Sakramentshaus errichten und einen Holzschnitzaltar fertigen; das von Michel Erhart (Ulmer Schule) um 1494 geschnitzte Retabel ging wahrscheinlich bis auf wenige Holzfiguren verloren. Die großen und zahlreichen Fenster durften nach den Ordensvorschriften nur mit schlichten Grisaillen bemalt werden, um nicht gegen die Gebote der simplicitas (Einfachheit) und humilitas (Demut) zu verstoßen. Kunsthistoriker vermuten, dass auch farbige und figurale Elemente eingebaut wurden; es gibt jedoch keinen Hinweis, ob und in welchem Umfang die Fenster farbig gestaltet waren. Glashandwerker sind in den reichen Salemer Quellen belegt: „Item domum adiacentem, quam pictores et vitrorum artifices frequentius inhabitare consueverunt.“ Frühbarock Um 1620 gewann das Kloster mit der Gründung der Oberdeutschen Zisterzienserkongregation, die ihren Sitz in Salem hatte, einen hohen Status innerhalb des Ordens. Gleichzeitig wurde in Salem auch die neue Liturgie der Tridentinischen Messe eingeführt, die neue Sakralgegenstände und eine Neuordnung des Kirchenraums erforderte. Abt Thomas I. Wunn (1615–1647) nahm die gestiegene Bedeutung seines Klosters und die erforderliche räumliche Umordnung zum Anlass, den gesamten Raum neu ausstatten und dekorieren zu lassen. Die von 1627 bis 1633 durchgeführten Arbeiten gelten als die früheste vollständige Barockausstattung Süddeutschlands. Der Bildhauer Christoph Daniel Schenck fertigte einen kolossalen Hochaltar, dessen Holzschnitzwerk (das der Brand von 1697 weitgehend zerstörte) mit einer Höhe von fast 20 Metern bis unter das Gewölbe des Langhauses reichte. Er besaß zahlreiche, teils überlebensgroße geschnitzte Figuren. Die Schutzheiligen der Kirche (Patrozinien) waren dabei in Gold gefasst, andere naturalistisch bemalt oder in schlichtem Weiß gehalten. Die Vielzahl der Schnitzfiguren auf dem Hochaltar wurde durch ein Dutzend überlebensgroßer hölzerner Apostelfiguren vervollständigt. Die Wände wurden grau getüncht und mit einem Fugennetz bemalt, die Verblendungen der Obergaden illusionistisch ausgeschmückt, das Gewölbe mit Pflanzengirlanden dekoriert. Um die erhabene Wirkung des Hochaltars zu verstärken, wurden die teils farbigen Fenster vollständig durch schmucklose Klarverglasung ersetzt. Barock und Rokoko Die „zweite Barockisierung“ begann um 1710 nach dem Neubau der durch den Brand von 1697 zerstörten Klosteranlage. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Wiederaufblühen des Klosters im 18. Jahrhundert, die durch Steuererleichterungen möglich wurde. Auch die repräsentativen Aufgaben der Reichsabtei waren gewachsen, musste sie doch mit dem feudalen Prunk der umliegenden Grafschaften und Kleinfürstentümern konkurrieren. Zunächst mussten jedoch die beim Brand beschädigten Orgeln repariert und die zerstörten Altäre und Kirchengeräte ersetzt werden. Der Bildhauer Franz Joseph Feuchtmayer, seit 1706 im nahen Mimmenhausen sesshaft, fertigte einen Großteil der plastischen Ausstattung, der Maler Franz Carl Stauder die Altargemälde. Unter den Äbten Konstantin Miller (1725–1745) und Anselm II. Schwab (1748–1778) wurde die Ausstattung im Stil des Rokoko bis etwa 1765 fortgesetzt. Die Gewölbekappen des Chorumgangs wurden, dem Zeitgeschmack entsprechend, von Franz Joseph Spiegler mit figürlichen farbigen Deckenfresken ausgemalt, von denen wenige heute wieder unter dem abblätternden Putz sichtbar werden. Zahlreiche Altäre wurden neu gestaltet und mit Antemensalen aus Stuckmarmor versehen. Die dekorativen und plastischen Arbeiten übernahm in der Nachfolge des älteren Feuchtmayer dessen Sohn Joseph Anton Feuchtmayer. Im Münster zeugen heute nur noch einige Putten und Stuckfiguren sowie die Sitzbänke des Chorgestühls von dieser Ausstattungsphase. Klassizismus Der künstlerische Umbruch, der Salem wieder in die Rolle des Vorreiters unter den süddeutschen Abteien brachte, verdankt sich den Reisen von Abt Anselm nach Paris in den Jahren 1765 und 1766. Dort lernte Anselm die Hofarchitektur des französischen Frühklassizismus kennen und beschloss begeistert eine groß angelegte Umgestaltung des Münsters in französischem Stil. Die Klosterleitung versuchte zunächst, den renommierten Schloss- und Kirchenbaumeister Pierre Michel d’Ixnard für den Gesamtentwurf zu gewinnen. Die Planungsphase zog sich jedoch ohne endgültigen Entschluss über mehrere Jahre hin und wurde durch Feuchtmayers Tod im Jahr 1770 auch noch der künstlerischen Leitung beraubt. Erst im Jahr 1772 wurde das Projekt wieder umfassend aufgenommen und mit Erfolg durchgeführt. Als Baudirektor stellte das Kloster d’Ixnards Schüler Johann Joachim Scholl ein, der einen Gesamtentwurf ausarbeitete und die Durchführung leitete. Feuchtmayers Nachfolger Johann Georg Dirr und dessen Schwiegersohn Johann Georg Wieland übernahmen einen großen Teil der plastischen Arbeiten an Altären, Monumenten und Dekorationselementen. Vor allem Wieland wird die innovative Formsprache der Altäre zugeschrieben, die statt der geschwungenen Linien des Spätbarock einfache, geometrisierende Elemente wie Pyramiden, Obelisken, Dreiecksgiebel und Säulenstümpfe wählte. Vor der Ostwand wurde ein riesiger Schmuckaufbau installiert, der einem Bühnenbild gleicht. Der Innenraum wurde 1777 vollständig in hellen Grautönen gestrichen, damit er mit dem Alabaster der Altäre harmonierte; dabei wurden auch die barocken Fresken übermalt. Diese letzte umfassende Neugestaltung prägt heute noch das gesamte Erscheinungsbild und gilt als einzigartig in der südwestdeutschen Sakralkunst. Sie wurde Vorbild für ähnliche Ausstattungen, etwa in der Abteikirche von Neresheim. Der Kunsthistoriker Georg Dehio lobte ihre „pseudodorisch steife Austerität“, die sich gut in den „echtesten und wahrhaftesten Mönchsstil“ der Zisterzienserarchitektur einfüge. Waren „Verschönerungen“ gotischer Kirchen im 18. Jahrhundert üblich, wurde die Ausstattung des Salemer Münsters so gestaltet, dass sie den Ausblick auf die ursprüngliche Kirchenarchitektur öffnete. Das war ganz im Sinne des neuen Kunstverständnisses für die Gotik, das in Frankreich um 1750 und etwas später mit Goethe auch in Deutschland Fuß fasste. Altäre Der heutige Hochaltar geht auf einen Entwurf von 1773 zurück. Ursprünglich sollte der Auftrag an Josef Anton Feuchtmayer gehen, doch da dieser 1770 starb, wurde er von seinem Nachfolger Johann Georg Dirr geplant und ausgeführt und 1785 durch Johann Georg Wieland erneuert. Das Relief zeigt eine Darstellung der Fußwaschung und des Letzten Abendmahls. Da der Altar unter der Vierung zu stehen kommen sollte, ist er von beiden Seiten motivisch verziert. Zwei Priester konnten so gleichzeitig die Messe für die Laien auf der Westseite und für den Konvent auf der Ostseite lesen. Die Kirche besitzt 25 weitere Altäre. Die 10 größten sind in den Seitenkapellen zwischen den Langschiffpfeilern aufgestellt; weitere im Umgang des Chors. Teilweise sind die Altartische noch aus dem Mittelalter erhalten; der Aufbau und die Bildwerke wurden von Dirr und Wieland im Stil des französischen Klassizismus entworfen und aus hellem Alabaster (aus dem Klettgau) gefertigt. Sie sind zum Teil Ordensheiligen wie Bernhard von Clairvaux und Benedikt von Nursia gewidmet, aber auch der regional verehrte Heilige Konrad von Konstanz wurde berücksichtigt. Ostwandaufbau Eine besondere Nische unter der Ostwand erhielt die Heilige Verena, die bereits eine Patronin der Vorläuferkirche des Münsters war. Dirr gestaltete hier den Verena-Altar sowie zwei Reliefs, die die Versuchung des Hl. Benedikt und die Versuchung des Hl. Bernhard darstellen. Wieland schuf zwei Standbilder von Johannes und Maria sowie ein großes Relief, das die Himmelfahrt Mariä darstellt und ein älteres Altarblatt mit demselben Motiv ersetzte. Chorgestühl Das geschnitzte Chorgestühl fertigten Josef Anton Feuchtmayer und seine Mitarbeiter Franz Anton und Johann Georg Dirr zwischen 1765 und 1775. Die Sitze stammen aus der Zeit von 1766/1767 und sind stilistisch noch dem Rokoko verpflichtet, während die Rückwand und der Aufbau bereits klassizistisch sind. Zehn vergoldete, um 1785 von Wieland gestaltete Relieftafeln, die auf das Gestühl aufgesetzt sind, zeigen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Auf ihnen stehen wiederum geschnitzte Halbsäulen, die Büsten (vermutlich) von Ordensheiligen tragen; eine eindeutige Identifizierung war bislang nicht möglich. Das alte Chorgestühl stammte von Melchior Binder aus dem Jahr 1593. Die davon erhaltenen Reste sind heute am Westende der Seitenschiffe aufgestellt. Bemerkenswert ist an ihnen die eigenständige Verknüpfung der spätgotischen Formsprache mit antikisierenden Elementen, wie sie in der italienischen Renaissance üblich waren. Gedenkmonumente Vier klassizistische Monumente sind in der Vierung aufgestellt. Sie erinnern an die wichtigsten Personen der Klostergeschichte und der Ordenstradition: Auf dem Äbtemonument sind neben Totengerippen die Salemer Äbte mit ihren Sterbedaten aufgelistet. Zwei weitere Monumente erinnern an Benedikt von Nursia, den Begründer des westeuropäischen Mönchstums, und an Bernhard von Clairvaux, den Ordensheiligen und großen Missionar der Zisterzienser. Das Stiftermonument schließlich ist den Stiftern des Klosters gewidmet: Freiherr Guntram von Adelsreute, der den Baugrund für das Kloster schenkte, König Konrad III., der Salem zur Reichsabtei erhob, sowie Papst Benedikt XII., der zum ersten Mal an einen Salemer Abt das Recht vergab, die Pontifikalinsignien im Wappen zu führen. (1384 wurde dieses Recht durch Urban VI. dauerhaft verliehen.) Ein Salztöpfchen und ein Wappen erinnern an Eberhard II., den Erzbischof von Salzburg, der nach dem Aussterben der Stifterfamilie das Kloster im Jahre 1201 unter seinen Schutz nahm und in der Folge als „zweiter Stifter“ des Klosters verehrt wurde. Gewölbeschlusssteine Aus der frühesten Bauzeit um 1298 stammen 57 vergoldete Reliefs an den Schlusssteinen des Kreuzrippengewölbes im Chorumgang. Sie zeigen im Südschiff unter anderem Tiersymbole, darunter einen Löwen, einen Adler und einen Pelikan, die hier für Auferstehung, Himmelfahrt und Opfertod Christi stehen, einen Affen als Symbol des Teufels sowie Fratzen, Monstren und Dämonen, die als apotropäische Figuren Unheil abwehren sollten. Daneben gibt es eine Reihe von Darstellungen aus dem Leben der Jungfrau Maria: die Flucht nach Ägypten, die Geburt Christi sowie einen Vogel Strauß als Sinnbild der Unbefleckten Empfängnis. Im nördlichen Umgang finden sich die Anbetung der Könige, ein Engel, ein betender Mönch sowie zahlreiche Pflanzenmotive, die symbolisch für die Jungfrau Maria oder nach anderen Deutungen für Christus stehen. Die Darstellung des bärtigen Mönches wird gewöhnlich als (Selbst-)Porträt des Werkmeisters gedeutet, der in diesem Fall ein frater barbatus, ein barttragender Laienbruder gewesen sein muss. Der Wechsel von figürlichen zu floralen Motiven ist ungewöhnlich; denkbar ist, dass das Programm geändert wurde, nachdem die Leitung des Zisterzienserordens 1298 die Marienverehrung und die übermäßige Ausschmückung der Kirchen heftig verurteilt hatte. Sakramentshaus Zu den ältesten Ausstattungsgegenständen zählt das spätgotische Sakramentshaus (Tabernakel) von 1494. Das mit gotischen Ornamenten geschmückte steinerne Türmchen ist 16 Meter hoch. Er stand ursprünglich als Monument auf dem Grab des großen Abts Johannes I. Stantenat (1471–1494) und steht heute an der Nordwand des Querhauses, wo er teilweise von der Empore verdeckt wird. Die Fialen sind Steinmetzarbeiten aus Salemer Werkstätten, vermutlich aus der Hand des überregional wirksamen Werkmeisters Hans von Safoy. Die vergoldeten Schnitzfiguren wurden nicht für den Sakramentsschrein angefertigt, sondern sind wahrscheinlich Reste des von Michel Erhart gefertigten Hochaltars. Seitdem er 1751 an seinen heutigen Platz gerückt wurde, rahmen den Schrein vergoldete Putten und Wolkentürme aus Josef Anton Feuchtmayers Werkstatt. Apostelfiguren Die frühe Barockzeit hinterließ ihre Spuren in Form von vierzehn überlebensgroßen Holzskulpturen, die die zwölf Apostel, die Jungfrau Maria und Jesus Christus darstellen und in bescheidenem Grau mit wenigen Zierelementen aus Blattgold gehalten sind. Sie stehen auf klassizistischen Konsolen vor den Fenstern des Langhauses. Die Figurenreihe wurde von Christoph Schenck begonnen, 1630 von Zacharias Binder vollendet und gehört zu den bedeutendsten Holzschnitzwerken des Frühbarock im Bodenseeraum. Orgel Im 15. Jahrhundert fand Orgelmusik Einzug in die zisterziensischen Gottesdienste. Die Salemer Orgelgeschichte deckt sich in allen wichtigen Abschnitten mit der Baugeschichte des Münsters, das 1414 geweiht wurde. Einige Jahrzehnte später berichtet Caspar Bruschius in seiner Chronologia, dass Abt Georgius Münch 1441 eine „recht ansehnliche“ Orgel errichten ließ, deren größte Pfeife 28 Fuß Länge und 4 Spannen Umfang hatte. Die zweite Orgel war wohl eine kleinere Chororgel, die wahrscheinlich bald nach der Weihe des Münsters als Zweckinstrument aufgestellt wurde. Der nächste Abt bestellte 1511 eine neue kleine Orgel bei einem Priester Bernhardin aus dem Kloster Reichenau. Um 1600 erfolgte ein Um- und Neubau der beiden Orgeln. Das Apiarium berichtet noch 1708 von der „alldasigen“ Orgel mit der 28 Fuß hohen Pfeife in der Mitte des Prospektfeldes, das sich demnach nach beiden Seiten verjüngte. In der Nacht vom 9./10. März 1697 wurde die Abtei von einem Brandunglück heimgesucht, das mit Ausnahme der Kirche die Klostergebäude zerstörte. Dennoch hatte die Chororgel schwer gelitten und war unspielbar geworden. Für den nötigsten Gebrauch diente dann ein liegendes Orgelpositiv, das 1720 der erzbischöfliche Orgelmacher Johann Christoph Egedacher aus Salzburg reparierte. Bereits 1714 hatte Abt Stephan I. diesen ausgewählt, um nach seiner Vorstellung vier ganz individuelle Orgeln mit zusammen 117 klingenden Registern bauen zu lassen. Verwirklicht wurden in neuer Aufrichtung nur die sogenannte Liebfrauenorgel auf der Empore des südlichen Querhauses und die Dreifaltigkeitsorgel auf der Westempore. Beide besaßen jeweils zwei Manuale, 31 klingende Register und hatten im Pedal einen Subbaß 32′. Erst Abt Anselm II. (Amtszeit 1746–1778) griff das vier Orgeln umfassende Projekt wieder auf und ließ „seine“ Kirche mit vier neuen Orgeln ausstatten. Beauftragt wurde damit der schwäbische, aber in Dijon ansässige „königliche Orgelmacher“ Karl Joseph Riepp. Sie entstanden in den Jahren 1766 bis 1774, umfassten insgesamt 13 Klaviaturen und waren aus 12 Werken mit 7223 Pfeifen zusammengesetzt. In ihrer verschiedenartigen klanglichen Individualität und Charakteristik – z. B. Liebfrauenorgel, weich und brillant Dreifaltigkeitsorgel, stark standen zumindest die drei großen im Einklang und doch im bewussten Unterschied. Abgestimmt waren sie auf das außergewöhnliche Geläut der Glocken im Vierungsturm, der 1807/1808 abgetragen wurde. Die südliche Empore des Querhauses trug die Liebfrauen- und die nördliche die Tabernakelorgel (für letztere übernahm die Wasserkraft eines unterirdisch umgeleiteten Baches die Funktion des Kalkanten). Im prächtigen Orgelgehäuse über dem Westportal war das Werk der Dreifaltigkeitsorgel eingebaut, und unsichtbar hinter dem Chorgestühl verborgen jenes der Orgue Ordinaire. In eigens komponierten Orchestermessen wurden die Orgeln gleichzeitig bespielt. Durch die Folgen der Säkularisation wurde mit dem Verkauf der beiden Querhausorgeln die bedeutendste sowie auch interessanteste Leistung der Orgelbaukunst in Süddeutschland zerstört. Die bis 1900 noch vorhandene intakte Dreifaltigkeitsorgel über der Westempore wurde 1901 durch ein pneumatisches Werk aus der Überlinger Orgelbauwerkstatt Wilhelm Schwarz & Sohn ersetzt. Die typische Disposition dieser Zeit umschließt das erhaltene klassizistische Gehäuse aus der Werkstatt von Johann Georg Dirr, wobei der Prospekt noch Riepps Handschrift und die teilweise von ihm mitverwendeten Pfeifen des Johann Christoph Egedacher der Vorgängerorgel zeigt. Sie hat folgende Disposition: Koppeln: II/I, III/I, III/II, I/P, II/P, III/P, Sub I, Super I, Sub II/I Spielhilfen: Feste Kombinationen (Piano, Mezzoforte, Forte, Tutti), Crescendowalze An die beiden verkauften Orgeln erinnern heute in Salem nur noch die hölzernen Emporen im Querschiff, deren Unterseiten um 1765 von Andreas Brugger mit biblischen Motiven bemalt wurden. Die Orgelgehäuse sind in der Stadtkirche Winterthur und St. Stephan Konstanz weitgehend erhalten. Das verloren geglaubte Rückpositiv der Liebfrauenorgel mit seinem geschnitzten Dekor von Joseph Anton Feuchtmayer bildet heute den Mittelteil der Orgel in Charmey/Schweiz. Deren Prospektpfeifen tragen die Inschriften von Riepp und seinem Gesellen Louis Weber aus dem Jahr 1768. Glocken Vor der Säkularisation war das Geläute das größte und eindrucksvollste des gesamten Barock; es wurde von Zeitgenossen als „Glockenhimmel von Salem“ gerühmt. Die Glockenzier, von Joseph Anton Feuchtmayer entworfen, ist an Virtuosität, an Sensibilität und an künstlerischer Ausdrucksform kaum zu überbieten. Aufgrund der Säkularisation wurden folgende Glocken vom übrigen Geläut getrennt an verschiedene Kirchengemeinden verkauft: Epitaphe Die Grabplatten im Münster dokumentieren, dass die meisten Äbte des Klosters hier bestattet wurden – mit Ausnahme derjenigen, die vor ihrem Tod das Kloster verließen. Bei einigen Gräbern, etwa denen des Stifters Guntram von Adelsreute († 1138?) und des ersten Salemer Abtes Frowin († 1165) sind Zweifel angebracht: Zum einen stand zu ihrer Todeszeit noch keine der Klosterkirchen; zum anderen wurden erst im 18. Jahrhundert bei Umbauarbeiten Skelette exhumiert und unter diesen Namen bestattet. Hier liegt – angeblich – auch der Salzburger Erzbischof Eberhard II. († 1246). Weiter ruhen hier Hugo I. von Werdenberg († 1280) und die Herren von Bodman, Gremlich und Jungingen, die sich als Stifter um die Wirtschaftslage des Klosters verdient gemacht hatten; die letzten Gräber dieser Adelsfamilien stammen allerdings aus dem frühen 17. Jahrhundert. Seit dem frühen 15. Jahrhundert wurden im Münster auch verdiente nichtadelige Laien wie der Baumeister Michael von Safoy bestattet. Säkularisierung 1804, Restaurierungen bis 2002 Im Jahr 1804 wurde das Kloster säkularisiert. Das Münster und die Klostergebäude gingen in den Besitz der Markgrafschaft Baden über. Da das Münster als katholische Pfarrkirche weiter genutzt werden sollte, musste zumindest die Benutzbarkeit des Innenraums gesichert werden. Der inzwischen baufällige Holzturm wurde 1807 abgerissen und der heute noch bestehende gedrungene Dachreiter mit Zeltdach nach Entwürfen von Wilhelm Kleinheinz errichtet. Trotz der Begeisterung des 19. Jahrhunderts für die als besonders „deutsch“ empfundene Gotik gab es in Salem zunächst kaum Interesse an der Reparatur der Bauwerke über das Notwendigste hinaus. Erst nach dem Regierungswechsel in Baden 1853 gab es ernsthafte Bemühungen, die baufällige Klosterkirche als Baudenkmal zu erhalten. In einem Schreiben des Bauinspektors Beyer heißt es 1864, die Mauersteine seien In den Jahren 1883–1892 wurde das Münster umfassend restauriert; dabei wurde vor allem am West- und Südgiebel ein erheblicher Teil des Steinmaterials ausgetauscht und durch neuen Rorschacher Sandstein ersetzt, der sich durch seine etwas dunklere Färbung vom originalen Mauerwerk abhebt. Obwohl der Restaurator Franz Baer vorbildlich bemüht war, die historische Gestalt des Münsters zu erhalten, gingen doch einige originale Bauteile verloren: West- und Südgiebel wurden schlichter gestaltet; die fast zerstörten Masken an den Giebelkonsolen wurden durch zeitgenössische Neuschöpfungen ersetzt. Weitere „Verbesserungen“ wie der geplante Dachreiter in neugotischem Stil unterblieben. Unter Leitung des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg begann 1997 eine erneute Bestandssicherung, die 2002 abgeschlossen wurde. Eine umfangreiche Sanierung des Innenraums steht noch aus. Ein wichtiges Ergebnis der Maßnahmen war vor allem eine detaillierte Dokumentation des Baubestands, die weitere Forschungen und Instandsetzungsmaßnahmen befördern wird. Nutzung Das Münster war Klosterkirche der Reichsabtei Salem bis zu deren Schließung im Jahr 1804. Das Kloster schließt im Süden durch das Bernhardsportal an den Bernardusgang an, der den Abteitrakt mit der Kirche verbindet. Durch diesen mit prächtigen Stuckornamenten verzierten Gang zogen die Mönche sieben Mal täglich zum Gottesdienst in die Kirche. Das nördliche Querhaus diente in der Frühzeit des Klosters als separater Gebetsraum für hochrangige Gäste. Im 17. Jahrhundert wurde die Kirche auch Laien geöffnet, wobei es für die Mitglieder der Pfarrgemeinde Salem (oder Salmannsweiler) auf dem nördlichen Klostergelände zusätzlich eine (heute nicht mehr existente) Pfarrkirche gab. Die Laien waren von den Mönchen durch einen hölzernen Lettner getrennt. Ab 1765 stand zusätzlich der Hochaltar zwischen dem Chor, wo der Konvent saß, und dem Laienraum, so dass sie noch strenger voneinander abgetrennt waren. Nördlich des Münsters lag der Friedhof für die Mönche und Laienbrüder. Die Äbte wurden, sofern sie ihr Amt bis zu ihrem Tod ausübten, im Münster bestattet. Daneben gab es im nahen Stefansfeld einen Friedhof für die Bürger der umliegenden Ortschaften. Die dortige Stefansfeld-Kapelle wurde erbaut von Franz Beer, dem Baumeister des barocken Klosterbaus. Seit 1808 dient das Münster der Katholischen Pfarrgemeinde von Salem als Gotteshaus. Aus dieser Zeit stammen Kanzel und Taufstein, die von den Mönchen nicht benötigt worden waren. Das Münster wie das umgebende Kloster war nach der Säkularisation im Privatbesitz der Markgrafen von Baden. 2009 erwarb das Land Baden-Württemberg die Anlage. Den Besuchern der Kloster und Schloss Salem genannten ehemaligen Klosteranlage ist das Münster im Rahmen von Führungen gegen Gebühr zugänglich. Außerdem wird es für sonntägliche Gottesdienste der katholischen Pfarrgemeinde und für Konzerte genutzt. Literatur (chronologisch) Oskar Hammer: Das Münster in Salem. Diss., Stuttgart 1917. Doris Ast: Die Bauten des Stifts Salem im 17. und 18. Jahrhundert. Tradition und Neuerung in der Kunst einer Zisterzienserabtei. Diss., München 1977. Reinhard Schneider (Hrsg.): Salem: 850 Jahre Reichsabtei und Schloss. Stadler, Konstanz 1984. ISBN 3-7977-0104-7. Stephan Klingen: Von Birnau nach Salem. Der Übergang vom Rokoko zum Klassizismus in Architektur und Dekoration der südwestdeutschen Sakralkunst. Diss., Bonn 1993, 1999. Ulrich Knapp: Ehemalige Zisterzienserreichsabtei Salem. Schnell und Steiner, Regensburg 1998 (3. Aufl.), ISBN 3-7954-1151-3. (Kurzführer) Günter Eckstein, Andreas Stiene: Das Salemer Münster. Befunddokumentation und Bestandssicherung an Fassaden und Dachwerk. Arbeitshefte des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg. Bd. 11. Theiss, Stuttgart 2002. ISBN 3-8062-1750-5. Richard Strobel: Die Maßwerkfenster der Klosterkirche Salem. Zur Erhaltung und Dokumentation von gotischem Maßwerk. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 32. Jg. 2003, Heft 2, S. 160–167. (PDF) Ulrich Knapp: Salem: Die Gebäude der ehemaligen Zisterzienserabtei und ihre Ausstattung. Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1359-3. (Standardwerk) Ulrich Knapp: Salem. Katalog der Pläne und Entwürfe. Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1359-3. (Bestandsdokumentation durch das Landesdenkmalamt Baden-Württemberg und Quellensammlung zur Baugeschichte) Ulrich Knapp: Eine Musterrestaurierung des 19. Jahrhunderts. Die Instandsetzung der Klosterkirche Salem in den Jahren 1883 bis 1894. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 17. Jg. 1988, Heft 3, S. 138–146. (PDF) Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, Klaus Gereon Beuckers unter Mitarbeit von Charlott Hannig (Hrsg.): Die Zisterzienserabtei Salem. Neue Forschungen. Kunstverlag Fink, Lindenberg 2023. Tonträger Kurt Kramer: Das Salemer Münster. Der Glockenhimmel von Salem. Theiss, Stuttgart 2002 (CD). Weblinks Homepage Schloss Salem Unterrichtsmedien im Internet: Klosterkirche Salem Burgundische Romanik – Pontigny – Zisterziensergotik auf gebaut.eu Schwarz-Orgel des Münsters Salem auf Orgel-Verzeichnis.de Einzelnachweise Kirchengebäude im Bodenseekreis Gotisches Bauwerk im Bodenseekreis Gotische Kirche Bauwerk der Wessobrunner Schule Kirchengebäude im Erzbistum Freiburg Munster Salem, Salemer Münster Marienkirche Erbaut im 15. Jahrhundert Munster Zisterzienserkirche Reichsabtei Salem Kirchengebäude in Europa
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Operation Cobra
Die Operation Cobra war eine Offensive der alliierten Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg an der Westfront im deutsch besetzten Frankreich. Sie dauerte vom 25. Juli bis zum 4. August 1944 und bedeutete den Ausbruch aus dem Normandie-Brückenkopf, der nach der Landung der Alliierten an der Küste der Normandie (Operation Neptune) entstanden war. Die Operationen Cobra und Neptune waren Bestandteile der Operation Overlord. Die Operation Cobra kennzeichnet den Übergang vom materialaufwendigen Stellungskrieg – bei dem die Hauptlast auf Infanterie und Artillerie lag – hin zum Bewegungskrieg mit Panzerverbänden in Nordfrankreich. Der erfolgreiche Ausgang ermöglichte den alliierten Streitkräften raumgreifende Operationen, die letztlich zur Bildung des Kessels von Falaise führten. Auf die deutsche Niederlage in dieser Kesselschlacht folgte der Rückzug der noch handlungsfähigen Verbände von Wehrmacht und Waffen-SS über die Seine, die damit verbundene Aufgabe eines Großteils von Frankreich bzw. die weitergehende Befreiung vom Nationalsozialismus. Mancherorts wird das Ereignis auch als Durchbruch bei Avranches bezeichnet, wobei der Durchbruch tatsächlich bei Saint-Lô stattfand. Nach der Eroberung von Avranches wurde der Wehrmachtführung lediglich der Umfang der Operation bewusst. Vorgeschichte Hintergrund Der Plan zur Operation Overlord sah nach einer erfolgreichen Landung einen stetigen Ausbau des Brückenkopfes durch schnell nachgeführte zusätzliche alliierte Einheiten vor. Städte, Häfen und Landefelder dienten dabei als Eckpunkte für Operationen. Die Alliierten versuchten schnell in eine mobile Kriegsführung überzugehen, um ihre taktische Überlegenheit in der Luft, zu Lande mit Panzern und motorisierter Infanterie sowie mit Hilfe ihrer Logistik zum Tragen zu bringen. Damit sollte ein Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg vermieden werden. Ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Alliierten war der Aufbau der Truppen im Brückenkopf, der schneller vonstattengehen musste, als die Deutschen ihre eigenen Truppen mobilisieren konnten. Der deutsche Truppenaufbau musste nachhaltig gestört werden. Damit begann ein Wettlauf in der Normandie, der einer der bedeutendsten für den Verlauf des alliierten Feldzuges wurde. Zur Bekämpfung der deutschen Nachschubwege bombardierte die alliierte Luftwaffe das Eisenbahn- und Straßennetzwerk in Nordfrankreich. Die eigens für die Invasion geschaffene Second Tactical Air Force (2nd TAF) unterstützte mit Tieffliegerangriffen effektiv die mittleren und schweren Bomber der USAAF und RAF (siehe Luftkrieg während der Operation Overlord). Auch der Aufbau der alliierten Streitmacht auf dem europäischen Kontinent verlief planmäßig und vor allem schneller als auf der Gegenseite. Im Juli wurde der Fortschritt allerdings dadurch behindert, dass der Brückenkopf noch nicht deutlich erweitert worden war, oder mit Montgomerys Worten: Es waren noch keine weiteren Claims im Inland abgesteckt worden. Der bisherige Brückenkopf war förmlich „übervölkert“, die Anzahl der sich in alliierter Hand befindlichen Flugfelder war weit geringer als geplant. Caen, ein Primärziel am Landungstag, war noch nicht erobert worden und es befand sich auch kein größerer Hafen in alliierter Hand. Die Schlacht um die Normandie war in meist kleine Schlachten zerfallen, weshalb die alliierten Verbände nur sehr langsam gegen die deutsche Verteidigung vorstießen. Beispielsweise verzeichnete das VIII Corps zwischen dem 2. und 14. Juli Verluste von mehr als 10.000 Mann (Tote, Verwundete und Vermisste) bei einem Raumgewinn von nur elf Kilometern. In der Schlacht um Saint-Lô, dessen Eroberung Vorbedingung für die geplante Ausbruchsoffensive war, verlor das XIX Corps im Juli 11.000 Mann. Am 25. Juli, dem Beginn der Operation Cobra, hatten die Alliierten erst die D+5-Linie erreicht, das heißt, sie hielten Positionen, die sie planmäßig schon am 11. Juni hätten erreicht haben sollen. Dies war eine Folge der Entscheidung des Oberbefehlshabers der deutschen Wehrmacht an der Westfront (OB West), Gerd von Rundstedt. Uneinig mit Erwin Rommel, der die Heeresgruppe B an der Invasionsfront befehligte, bevorzugte er die Stationierung von Panzerverbänden im Hinterland der möglichen Invasionsstrände. Das führte dazu, dass die Alliierten nach erfolgreicher Brückenkopfbildung erst verzögert auf starken Widerstand trafen, vor allem im Gebiet um Caen. Die alliierten Verluste waren hoch, und Luftunterstützung wurde dadurch erschwert, dass Alliierte sowie Deutsche sehr nahe beieinander lagen. Die alliierten Kommandeure konnten ihre erreichten Fortschritte nicht unmittelbar in das Kampfgeschehen einfließen lassen und ein Stellungskrieg schien sich anzubahnen. Damit wurde ein Mangel der alliierten Planung für die Tage nach der Invasion aufgedeckt. Man war so mit den Problemen, die die Invasion selbst mit sich brachte, beschäftigt, dass ein adäquates Konzept zum Ausbau des Brückenkopfes fehlte. Besonders die taktischen Probleme an der Front der 1. US-Armee im Westen waren so nicht erwartet worden. Auf der deutschen Seite war das Heranführen von Nachschub eine Aufgabe, die nicht zufriedenstellend gelöst werden konnte. Das Oberkommando forderte eine Herauslösung der in vorderster Front gebundenen Panzerverbände durch nachrückende Infanterie. Dies hätte einerseits den Stellungskrieg unvermeidbar gemacht und andererseits die mobilen Verbände für Gegenangriffe loseisen sollen. Auf der taktischen Ebene agierten die deutschen Einheiten effizient, sie wichen nur langsam zurück und fügten dabei den angreifenden Alliierten schwere Verluste zu. Das unübersichtliche Gelände im Westen kam der Wehrmacht dabei entgegen. Es bestand aus weiträumigem flachem Land, durchzogen von kleinen Straßen mit vielen Hecken, dem Bocage, als Deckungsmöglichkeit. Im offeneren Ostgebiet wurde die Frontlinie von motorisierten Einheiten wie der 9., 10. und 12. SS-Panzer-Division sowie deren schweren Panzerbataillonen und anderen Panzer- und Panzergrenadiereinheiten, wie der Panzer-Lehr-Division, der 2. SS-Panzer-Division und Teilen der 2. Panzer-Division verteidigt. Der größte Bereich der Verteidigungslinie wurde aber nach Möglichkeit von nicht-mobilen Infanterieeinheiten gehalten. Dies führte dazu, dass die Infanterie in aufreibenden Frontkämpfen hohe Verluste erlitt und die Panzereinheiten in den Rückzugsschlachten abgenutzt wurden. Luftunterstützung gab es für die deutschen Bodentruppen nicht mehr. Damit konnte deren gewohntes schnelles Vorrücken nicht stattfinden. Dazu kam der Erfolg der alliierten Operation Fortitude, der umfangreiche deutsche Kräfte der 15. Armee in den Niederlanden und im Raum Calais band. Planung Um den sich abzeichnenden Stellungskrieg in der Normandie zu verhindern, begann der Oberbefehlshaber der 1. US-Armee, Omar Bradley, einen Ausbruchsplan auszuarbeiten. Einige Wochen lang arbeitete er offenbar allein ein Konzept aus, das er am 10. Juli 1944 seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem britischen Feldmarschall Bernard Montgomery, und seinem britischen Gegenüber, General Miles Dempsey, präsentierte. Beide erklärten sich einverstanden, die vorgesehenen Unterstützungsattacken in Richtung Caen für den amerikanischen Durchbruch auszuführen. Im weiteren Verlauf begannen Montgomery und Dempsey einen eigenen britischen Ausbruchsplan zu verfolgen – die Operation Goodwood. Der Oberkommandierende Dwight D. Eisenhower sicherte den Angriffen alliierte Luftunterstützung zu, die aus schweren und leichten Bombardements und taktischen Luftangriffen bestehen sollten. Allerdings waren die Kommandeure der strategischen Luftstreitkräfte sehr skeptisch, ihre Verbände in eine taktische Schlacht zu schicken, da sie glaubten, dass sie für diese Rolle ungeeignet und besser in ihrer strategischen Aufgabe aufgehoben wären. Trotzdem waren ihre Flugzeuge an vielen Flächenbombardements in der Normandie, wie der Operation Charnwood am 7. Juli, der Operation Goodwood am 18. Juli und der Operation Cobra am 24. und 25. Juli beteiligt. Bradley unterrichtete am 12. Juli die ihm unterstellten Offiziere. Der Plan der Operation Cobra bestand aus drei Phasen. Zuerst sollte das VII Corps eine Lücke in die deutsche Front schlagen. Sodann sollten von den Ausbruchsdivisionen starke Flanken beiderseits der Lücke aufgebaut werden, damit ein aus drei Divisionen bestehender Stoßkopf dort vorrücken konnte. Das VIII und XIX Corps waren für lokale Angriffe auf die Deutschen vorgesehen, damit diese keinen Nachschub zur Frontlinie führen konnten. Bei einem erfolgreichen Abschluss der ersten beiden Phasen wäre der deutsche Widerstand nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen und die komplette Cotentin-Halbinsel hätte eingenommen werden können. General J. Lawton Collins, Kommandeur des VII Corps, schlug kleinere Änderungen des Plans vor, um den Durchbruch mehr nach Süden zu verlegen. Bei einem Erfolg brachten seine Änderungen die Möglichkeit zu einem schnelleren Vorrücken in die Bretagne, um die dortigen Atlantikhäfen einzunehmen. Der Originalplan ging nicht von einem vollständigen Zusammenbruch der deutschen Front in der Normandie aus, sondern bestand nur aus einer Erweiterung des Brückenkopfes zur Einleitung in den Bewegungskrieg hinter dem deckungsbietenden Küstenland und der Einnahme von wichtigen Häfen. Der Vorstoß sollte durch ein kurzes aber heftiges Bombardement mit mittleren und schweren Bombern auf das vorgesehene Gebiet eröffnet werden. Die Erwartung ging dahin, dass die angerichteten Schäden und der Schockfaktor die deutsche Defensive aufweichen würde. Sofort danach sollte die Infanterie auf die deutschen Linien stoßen. Wenn der deutsche Widerstand auf dem Höhepunkt des Zusammenbruchs war, sollten die drei Divisionen durchbrechen. Die Luftunterstützung war wegen ihrer Wetterabhängigkeit der kritischste Punkt der Operation. Deshalb bekam Trafford Leigh-Mallory, der Kommandeur der Luftflotte, die Befugnis, den Beginn der Operation zu bestimmen. Schlüsseleinheiten der Erstschläge waren das VII Corps mit der 4., 9. und 30. US-Infanteriedivision. Die drei vorgesehenen Divisionen für den Ausbruch waren die 1. US-Infanteriedivision sowie die 2. und 3. US-Panzerdivision. Die 1. US-Infanteriedivision wurde dazu zeitweilig vom Quartiermeister der 1. US-Armee mit Fahrzeugen ausgestattet. Das VIII Corps unter General Troy H. Middleton hatte die 8., 79., 83. und 90. US-Infanteriedivision für den Angriff vorgesehen und hielt die 4. US-Panzerdivision in Reserve. Mehr als 1.300 mittlere M4-Panzer, 690 leichte M5A1-Panzer und 280 M10-Panzerjäger standen diesen Einheiten zusammen mit hunderten Artilleriegeschützen zur Verfügung. Annähernd 140.000 Schuss an Artilleriemunition aller Kaliber kamen hinzu. Der Frontabschnitt für den Vorstoß des VII Corps war etwa 6,4 Kilometer breit. Die Folgen der britischen Operation Goodwood Die Operation Goodwood, der britische Ausbruchsversuch, wurde am 18. Juli gestartet. Bei einem Treffen mit Feldmarschall Bernard Montgomery am 10. Juli 1944 schlug der Kommandeur der britischen 2. Armee, General Miles Dempsey, den Plan zur Operation Goodwood vor. Am selben Tag genehmigte Montgomery auch die Operation Cobra. Der kanadische Teil der Operation Goodwood wurde mit dem Codenamen Operation Atlantic bezeichnet. Die Taktik, schwere Bomber als Vorbereitung für den Artilleriebeschuss einzusetzen, wurde wie einige Monate zuvor bei der Schlacht um Monte Cassino ausgeführt. Im Gegensatz zu Cobra beruhte Goodwood auf einem massiven Panzereinsatz, um den taktischen Ausbruch zu erreichen, und weichte die deutsche Front nicht mit Artilleriebeschuss auf. Der Fehlschlag der Operation, bei der mehr als 400 Sherman-Panzer am 18. Juli zerstört wurden, war enttäuschend, aber ironischerweise stellte er klar, dass die Hauptstreitmacht der deutschen Panzer im Bereich der britischen 2. Armee verblieb, weit weg von der Position der 1. Armee. Die Amerikaner vermuteten daher richtigerweise, dass mit einem deutschen Gegenschlag gegen Cobra in den ersten Tagen kaum zu rechnen war. Falls doch, würde er aber nur aus kleineren Einsätzen in Bataillonsstärke bestehen. Die Zeit vor dem Angriff In den Tagen, die noch bis zum Angriff verblieben, sicherten das VII und VIII Corps die Gebiete, in denen sich die Truppen für den Vorstoß aufstellen sollten. Dabei erlitt die Infanterie schwere Verluste. Die Positionen sollten taktisch ausgesucht und gut aus der Luft ausgemacht werden können. Die Linie entlang der Straße von Saint-Lô nach Périers war ideal. Die Kommandeure der Fliegereinheiten benötigten einen Abstand von mindestens drei Kilometern zwischen den Stellungen eigener und gegnerischer Verbände. Weil die Verlustzahlen bei den vorausgegangenen Operationen so hoch waren und jeder Landgewinn daher schwer bezahlt worden war, wollte Bradley das Gebiet nicht aufgeben und nur etwa 700 Meter zurückweichen. Schlussendlich wurden die Frontlinien der Infanterie doch um 1 bis 1,3 Kilometer nach hinten verlegt, um größtmögliche Sicherheit während der Bombardements zu gewährleisten. Die Haupteinheiten zogen sich nur rund eine Stunde vor den Luftschlägen zurück und ließen noch bis 20 Minuten vor der Bombardierung Beobachtungsposten zurück. Die Kampfhandlungen Der vorbereitende Luftangriff vom 24. Juli Der Angriffstag war ursprünglich auf den 18. Juli festgesetzt worden, doch das schlechte Wetter führte immer wieder zu einer Verschiebung des Termins. Letztlich galt der 24. Juli als Starttermin. Doch wiederum veranlasste das schlechte Wetter Leigh-Mallory noch einmal zu einer 24-stündigen Verschiebung. Etliche schwere Bomber der 8th Air Force empfingen den durchgegebenen Rückruf nicht und setzten ihre Mission fort. Rund 335 B-17, von denen einige durch schlechte Sichtverhältnisse beeinträchtigt wurden, warfen 685 Tonnen Bomben im Zielgebiet ab. Obwohl der Verhinderung der Bombardierung eigener Positionen besondere Beachtung geschenkt worden war, fielen dennoch Bomben auf die Stellungen der amerikanischen Einheiten. Bradley hatte aus diesem Grund ein Überfliegen des Gebietes parallel zur Frontlinie gefordert, um das Risiko, von eigenen Bombern getroffen zu werden („Friendly Fire“), zu minimieren. Er ging davon aus, dass die Kommandeure der Lufteinheiten zugestimmt hätten, doch nur die taktischen Kampfflugzeuge der 9th Air Force erreichten das Ziel parallel zum Frontverlauf. Die schweren Bomberverbände der 8th Air Force wussten von der Vereinbarung nichts und erreichten die Front rechtwinklig zu ihrem Verlauf. Die zu kurz geratenen Abwürfe trafen genau die für den Erstangriff vorgesehenen Truppenteile. Mehr als 100 Amerikaner wurden dabei getötet und rund 500 verletzt. Allein das 1. Bataillon des 120. Infanterieregiments der 30. Infanteriedivision beklagte 25 Tote. Nachdem der Überraschungseffekt verloren war, wurde erwogen, den Angriff zu verschieben oder sogar ganz abzubrechen. Doch Bradley entschied sich zur Durchführung. Im Nachhinein war diese Entscheidung richtig, da die Deutschen während der ihnen geschenkten 24 Stunden nichts unternahmen, um ihre Verteidigungsstellungen zu verstärken. Sie gingen davon aus, dass sie einen amerikanischen Vorstoß durch ihren Artilleriebeschuss gestoppt hätten. Zwar wurden Einheiten der Panzer-Lehr-Division in das Zielgebiet verlegt, aber gleichzeitig Einheiten der 2. Panzer-Division zum britischen Sektor nach Osten abgezogen. Der eigentliche Angriff beginnt (25. Juli) Am Morgen des 25. Juli hatte sich das Wetter verbessert und der Angriff wurde um 9:40 Uhr wiederholt. Leichte und schwere Bomber warfen mehr als 3.300 Tonnen Bomben auf das Zielgebiet. Wieder fielen Bomben auch auf die amerikanischen Stellungen, 111 Soldaten kamen dabei ums Leben und 490 Mann wurden verwundet. Auch General Lesley J. McNair war unter den Getöteten. Die Fehlabwürfe resultierten aus dem kleingehaltenen Zielbereich und dem Wind, der den Bombenrauch in die amerikanischen Positionen blies. Einige Flugzeugbesatzungen warfen daher ihre Last voreilig in den Rauch ab, ohne ihr Ziel genau anzuvisieren. Die Opfer, die das kostete, waren dennoch wahrscheinlich geringer als die zusätzlichen Verluste, die ohne Bombereinsatz durch das deutsche Abwehrfeuer entstanden wären. Die Kampfeinheiten erholten sich schnell von der Bombardierung. Trotz schwerer Verluste in einigen Verbänden musste nur ein Bataillon ersetzt werden. Alle anderen griffen an diesem Morgen an, teilweise etwas verspätet. Aber um 11:00 Uhr lief der Angriff wie vorgesehen weiter. Die deutschen Einheiten waren vom Bombensturm hart getroffen worden. Die Eliteeinheit der Panzer-Lehr-Division war fast vollständig aufgerieben. Panzer lagen umgekippt an den Straßen, Stellungen waren zerstört und die Überlebenden irrten oftmals orientierungslos durch das Gelände, so dass die Kommandostruktur in weiten Teilen zusammenbrach. Etwa zwei Drittel der Divisionen waren dem Angriff zum Opfer gefallen. Bedingt durch das vorsichtige Vortasten durch die verteidigten umliegenden Gebiete, die mit ihren Hecken und Gräben hervorragende Deckungen für die Deutschen boten, kam die amerikanische Infanterie anfangs nur relativ langsam voran. Obwohl es nur wenige Verteidiger gab, waren sie nicht zu unterschätzen. Mehr und mehr wich aber die Front nach Osten zurück, so dass am ersten Tag etwa 3,5 Kilometer Landgewinn auf Kosten von mehr als 1.000 Opfern gemacht wurden. Am 26. Juli verlief der weitere Vorstoß etwas schneller und die Amerikaner drangen mehr als sieben Kilometer nach Westen vor. Durch- und Ausbruch vom 27. Juli bis 4. August Collins spielte mit dem Gedanken, dass ein früherer Ausbruch unabdingbar wäre und unterrichtete am Morgen des 26. Juli die drei Divisionskommandeure darüber. Dies war eine bedenkliche Entscheidung, denn bei einem zu frühen Durchbruchsversuch vor dem Aufweichen der deutschen Frontlinie hätten die Einheiten den vorgesehenen Vorstoßkeil überschwemmt, wären in einen Stau geraten und hätten damit einen Teil ihrer Kräfte darin verbraucht. Andererseits hätte bei einer zu langen Wartezeit der Durchbruch langsamer als vorgesehen erfolgt. Dies wiederum hätte den Deutschen die Möglichkeit gegeben, schnell Nachschub heranzuführen oder sogar einen Gegenangriff auszuführen. Am 27. Juli wurde dann die volle Stärke aller drei Divisionen in die Schlacht geworfen. Sie durchbrachen die Front der deutschen Einheiten vor dem VII Corps, indem die amerikanischen Fahrzeuge gegen den brechenden deutschen Widerstand vorrückten. Die Frontlinie beim VIII Corps begann ebenfalls zu bröckeln, als die deutschen Einheiten sich aus Angst vor einer Einkesselung zurückzuziehen begannen. Die Richtigkeit von Collins Entscheidung bestätigte sich am 28. Juli, als das VIII Corps mehr als 19 Kilometer Landgewinn verzeichnete und die 4. Panzerdivision die wichtige Straßenkreuzung von Coutances einnahm, die direkt hinter der deutschen taktischen Verteidigungszone lag. Dort schloss sich das VIII Corps unter General Pattons Leitung an. Bis zum 30. Juli hatte die 4. Panzerdivision Avranches genommen und damit die deutschen Widerstandsnester im Norden der Cotentin-Halbinsel abgeschnitten und eingeschlossen. Unterdessen hielten die Kanadier mit ihrem II. Korps die Deutschen im Osten an ihren Positionen auf, indem sie sie in heftige Kämpfe verwickelten. Zu der Zeit existierte keine einheitliche deutsche Frontlinie mehr, die der 1. Armee im Wege stand, und so durchdrangen deren vorrückende Einheiten unverteidigtes Gebiet. Vier Divisionen des VIII Corps stießen bis zum 4. August bis hinter Avranches vor. Das gut zu verteidigende Land des Bocage lag nun hinter ihnen, so dass von da an die Mobilität der amerikanischen Einheiten das Kampftempo und die Schlachtrichtung bestimmte. Montgomery, der Kommandeur der alliierten Bodentruppen, verkündete am 4. August eine generelle Änderung im weiteren Invasionsplan. Anstatt die 3. US-Armee in die Bretagne zur Eroberung der Atlantikhäfen zu beordern, wurde ihr größter Teil in Anbetracht des deutschen Zusammenbruchs nach Osten geschickt. Auch die 1. Armee operierte weiter östlich und die Briten und Kanadier setzten ihre Angriffe im Osten und nach Süden fort, um die restlichen deutschen Truppen einzuschließen. Damit hatten die Kämpfe begonnen, die schließlich zum Kessel von Falaise und einem schnellen Vorstoß durch Nordfrankreich führen sollten. Auswirkungen der Operation Cobra Die Operation Cobra brachte viele Änderungen der Kriegslage und beendete die Kämpfe um die Normandie. Sie leitete den schnellen Vorstoß durch Nordfrankreich ein, der bis etwa Mitte September 1944 andauerte. Der alliierte Vorstoß endete schließlich nicht durch deutschen Widerstand, sondern aufgrund Ausrüstungsmangels. Die alliierten Truppen waren Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden und überforderten die Möglichkeiten ihrer Logistik. Ironischerweise konnte das VIII Corps das Ziel der schnellen Einnahme der bretonischen Atlantikhäfen während der Schlacht um die Bretagne nicht erreichen: Die Deutschen hielten Brest bis Ende September, Lorient und Saint-Nazaire sogar bis in den Mai 1945. Da aber schon im August Marseille den Alliierten unzerstört in die Hände fiel, war dies irrelevant, was Montgomery in seiner Entscheidung vom 4. August auch so anführte. Die Auswirkungen der Operation waren weitreichender als vorher angenommen, oder wie Bradley sagte: „[Cobra] had struck a more deadly blow than any of us dared imagine“ (deutsch: „[Cobra] hatte einen tödlicheren Schlag ausgelöst, als sich irgendeiner von uns vorzustellen gewagt hätte“). Dies war als Anerkennung der Flexibilität und Mobilität der alliierten Armeen gedacht sowie für die Aufrechterhaltung des Vorstoßes so lange und so weit wie möglich. Am Mittag des 1. August wurde die 3. Armee aktiviert und das VIII Corps kam wie geplant unter deren Oberkommando. Das Oberkommando über die 1. Armee übernahm General Courtney Hodges. General Bradley, der bisher die 1. Armee befehligt hatte, übernahm das Kommando über die neu gegründete 12. US-Heeresgruppe, die aus der 1. und 3. Armee bestand. Nach dem Zusammenbruch der Verteidigungsfront in der Normandie flohen die deutschen Truppen mit allem, was sie in der Eile mitnehmen konnten. Die alliierte Luftstreitmacht setzte ihnen erheblich zu, indem Straßen, Brücken und Eisenbahnstrecken angegriffen und stark beschädigt wurden. Damit senkten sie die Rückzugsgeschwindigkeit der Deutschen erheblich. Etliche Haupteinheiten wurden im Kessel von Falaise eingeschlossen. Diese Niederlage war mit rund 60.000 Mann Verlusten eine der größten für die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Die Verluste seit dem Beginn der Operation Overlord beliefen sich damit auf mehr als 400.000 Soldaten, 1.500 Panzer und Lafettenfahrzeuge. Letztlich wurden 25 Divisionen praktisch komplett ausgeschaltet. Während der Ausbruchsphase waren die Verluste deutlich höher als in den vorherigen statischen Schlachten. So multiplizierte sich der deutsche Verlust an Panzern im August, verglichen mit den Zahlen vom Juni und Juli. Die deutschen Panzerdivisionen erreichten die deutsche Grenze vollkommen ausgebrannt und ohne Panzer. Das am 2. Juli 1944 eröffnete Personal-Karussell im Wehrmachts-Führungsstab setzte sich fort, als der Oberbefehlshaber West (OB West) Generalfeldmarschall Günther von Kluge als Folge der Niederlage und des fehlgeschlagenen Gegenangriffes (Unternehmen Lüttich) bei Hitler in Ungnade fiel. Hitler wurde von Seiten der SS zugetragen, dass von Kluge möglicherweise die Kapitulation seiner Einheiten vorbereiten würde. Er wurde am 17. August durch Walter Model ersetzt, der wiederum Anfang September von Gerd von Rundstedt abgelöst wurde. Von Rundstedt war am 2. Juli angeblich altersbedingt von ebendiesem Posten durch Adolf Hitler abgesetzt worden. Die Absetzung folgte einem Vorschlag von Rundstedts und Erwin Rommels (Oberbefehlshaber Heeresgruppe B), die Front auf eine Linie südlich von Caen zurückzuverlegen und zu stabilisieren, was die folgende Operation Cobra erheblich gefährdet hätte. Sowohl Erwin Rommel als auch Günther von Kluge waren zumindest teilweise in Umsturzpläne eingeweiht, die im Zusammenhang mit dem Claus Schenk Graf von Stauffenbergs Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944 standen. Kluge nahm sich am 19. August 1944, kurz nach seiner Ablösung durch Model, das Leben. Rommel, dem am 14. Oktober 1944 zwei Generäle im Auftrag Hitlers den Suizid nahelegten, beging ebenfalls Suizid. Bis zum 25. August hatten alle in die Normandieschlacht eingebundenen alliierten Einheiten die Seine erreicht; am selben Tag kapitulierte der deutsche Stadtkommandant von Groß-Paris. Der Angst der alliierten Oberkommandierenden vor einem Stellungskrieg folgte eine Siegeseuphorie: Alle glaubten nun, der Krieg sei praktisch schon gewonnen. Die Alliierten setzten ihren schnellen Vorstoß durch Nordfrankreich fort und trafen die kurzsichtige Entscheidung, auf die Einnahme von Antwerpen und seines großen Hafens vorerst zu verzichten und vorher die Operation Market Garden zu starten. Nach Erwin Rommel, der schon Anfang Juli einen Separatfrieden im Westen vorschlug, erklärte nun auch der „neue“ OB West Gerd von Rundstedt, dass es besser sei, in Friedensverhandlungen einzutreten. Literatur Steven J. Zaloga: Operation Cobra 1944. Breakout from Normandy. Osprey Military, Oxford 2001, ISBN 1-84176-296-2. William Yenne, Bill Yenne: Operation Cobra and the Great Offensive. Sixty Days That Changed the Course of World War II. Pocket Books, New York 2004, ISBN 0-7434-5882-6. Christopher Pugsley: Operation Cobra. Sutton, Strout 2004, ISBN 0-7509-3015-2. Percy E. Schramm: Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944–1945. 8 Bde. Bernard & Graefe, Bonn 1990, ISBN 3-7637-5933-6. Weblinks Operation Cobra (englisch) Operation Cobra. Dokumentation des National Geographic Channel United States Army in World War II. European Theater of Operations. The Supreme Command: Contents (Inhaltsverzeichnis) Kapitel 11: The Breakout and Pursuit to the Seine Operation Overlord Cobra Cobra Geschichte (Normandie) Cobra Militärgeschichte der Vereinigten Staaten (Zweiter Weltkrieg) Konflikt 1944
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%B6nwalde%20%28Wandlitz%29
Schönwalde (Wandlitz)
Schönwalde ist ein Ortsteil der Gemeinde Wandlitz. Die Gemeinde gehört zum Landkreis Barnim im Bundesland Brandenburg. Bis zum Jahr 2003 war Schönwalde eine selbstständige Gemeinde innerhalb des Amtes Wandlitz. Im Wandlitzer Ortsteil Schönwalde leben auf 22,53 km² 2355 Einwohner, das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 104,5 Einwohnern je km². Nach einer ersten urkundlichen Nennung im Jahre 1750 und dem Gründungserlass von 1753 ist Schönwalde eines der Kolonistendörfer, die der preußische König Friedrich II. in einer kurzen Friedenszeit nach dem Zweiten Schlesischen Krieg und vor Beginn des Siebenjährigen Krieges anlegen ließ. Der 18 Kilometer nördlich der königlichen Residenz, des Berliner Schlosses, angelegte Ort entwickelte sich von seiner ursprünglichen Bestimmung als Tuchlieferant für die preußische Armee über einen Standort der Holzverarbeitung zum Wohnstandort vor den Toren der Großstadt Berlin. Nahe der Berliner Stadtgrenze und infrastrukturell angebunden an Bundes- und Landesstraße sowie einer Regionalbahnlinie ist Schönwalde begehrter Wohnplatz für Zuzügler aus der deutschen Hauptstadt. Innerhalb der ersten 15 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer verdoppelte sich die Einwohnerzahl des Ortes. Durch die Lage am südlichen Rand des geschlossenen Waldgebietes des Naturparks Barnim ist die Umgebung Schönwaldes mit dem Gorinsee und dem Mühlenbecker See gleichzeitig Naherholungsgebiet für die Bewohner der nordöstlichen Bezirke Berlins. Geografie Geografische Lage Schönwalde befindet sich auf dem westlichen Teil der Barnim-Hochfläche, dem sogenannten Niederbarnim. Die Höhe über Normalhöhennull (NHN) nimmt von Ost nach West leicht ab. Höchster Punkt mit 69,6 Meter über NHN ist die nordöstliche Ortsteilgrenze zu Bernau in der Bernauer Heide. Mit 44,5 Meter über NHN ist die Fläche des Mühlenbecker Sees an der Westgrenze der niedrigste Punkt des Ortes. Die Höhe der Ortsmitte an der Kirche beträgt 57 Meter, die des zwei Kilometer östlich von dieser gelegenen Gorinsees 58,5 Meter über NHN. Nachbarorte Angelegt als Straßendorf an der Chaussee Richtung Prenzlau liegt Schönwalde etwa 3,5 km nördlich der Berliner Stadtgrenze direkt an der Bundesstraße 109 und der Regionalbahnlinie RB 27, auch Heidekrautbahn genannt. Angrenzende Gemeinden sind im Osten die Stadt Bernau mit dem Stadtteil Schönow, im Westen die Gemeinde Mühlenbecker Land mit dem Ortsteil Mühlenbeck. Die nördliche Ortsteilgrenze zum benachbarten Wandlitzer Ortsteil Basdorf bildet westlich der Bundesstraße das Renne-Gestell, ein gerade in west-östlicher Richtung durch den Forst gezogener Waldweg, östlich der B 109 die Straße Waldkorso, die schon an das geschlossene Siedlungsgebiet Basdorfs angrenzt. Im Süden schließt sich der Wandlitzer Ortsteil Schönerlinde an Schönwalde an. Die Grenze verläuft durch die geschlossene Bebauung am Südrand von Schönwalde hindurch. Südöstlich bestehen kurze Grenzabschnitte zu Berlin, dem Bucher Forst, einem renaturierten Gebiet ehemaliger Rieselfelder, sowie zum Ortsteil Zepernick der Gemeinde Panketal. Naturraum Neben 0,79 km² bebauter Fläche und 0,70 km² Verkehrsfläche besteht das Ortsgebiet von Schönwalde aus 15,62 km² Wald, 4,89 km² landwirtschaftlicher Nutzfläche und 0,40 km² Wasserfläche. Außer den beiden Seen, dem zwei Kilometer östlich des historischen Ortskerns gelegenen Gorinsee und dem nicht zum Gemeindegebiet gehörenden, aber unmittelbar westlich angrenzenden Mühlenbecker See, gibt es an Wasserflächen noch den Mühlenteich beim Schloss Dammsmühle und zwei Fließgewässer. Diese sind das Tegeler Fließ, das bei Basdorf entspringt und über den Mühlenteich, den Mühlenbecker See und den Tegeler See in Berlin in die Havel entwässert, und der Lietzengraben, der von der Grenze zu Schönow kommend das südöstliche Ortsgebiet zu Panketal abgrenzt und bei Berlin-Karow in die Panke mündet. Der Waldreichtum beherrscht das nördliche Ortsgebiet von Schönwalde. Dabei besteht der Wald östlich der Bundesstraße meist aus Kiefernforsten, westlich in Richtung Mühlenbecker See aus Buchen- und Mischwaldbeständen. Der letztere gehört zum Forst Schönwalde mit Sitz im Forsthaus Mühlenbecker Chaussee/ Ecke Neumühler Straße in Schönwalde. Der Wald zwischen der B 109, Schönow und Basdorf gehört mehrheitlich zum Goriner Forst sowie der Bernauer Heide und damit den Berliner Forsten, die vom Forstamt Pankow in Berlin-Buch verwaltet werden. Südlich des Forst Gorin und der Siedlung Gorinsee schließt an der Landesstraße 30, die in Ost-West-Richtung Bernau mit Schönwalde und Mühlenbeck verbindet, eine größere freie Fläche an, die landwirtschaftlich genutzt wird. Eine nach dem Zweiten Weltkrieg an der Hobrechtsfelder Straße erbaute Landwirtschaftssiedlung ragt in diese Fläche hinein. Sie wird wegen der räumlichen Nähe zur Siedlung Gorinsee gerechnet. Geologie Schönwalde liegt zwischen Bernau und Oranienburg an der Nordostgrenze des Berliner Stadtgebietes. Die Ortsmitte befindet sich dabei auf einer Grundmoränenfläche des Barnim. Als Barnim wird die eiszeitlich gebildete Hochfläche zwischen dem Berliner Urstromtal im Süden und dem Eberswalder Urstromtal im Norden bezeichnet. Die nördlichen Bereiche des ehemaligen Gemeindegebietes von Schönwalde, die Waldflächen der Bernauer Heide und des Forst Gorin, bilden Sander-Flächen, die im Bereich des westlichen Tegeler Fließtals in eine glaziale Rinne auslaufen. Die dort vorhandenen Sande und Kiese vermischen sich weiter südlich beziehungsweise östlich auf der Grundmoränenfläche mit Geschiebemergel zu abwechselnden Schichten aus Ton, Lehm, Mergel und auch Sanden und Kiesen. Die unterschiedliche Wasserdurchlässigkeit der teilweise übereinander liegenden Bodenarten der Grundmoränenfläche führt im Bereich der besiedelten Flächen des Ortes zu unterschiedlichen Tiefen der Grundwasser führenden Schichten, dem sogenannten Schichtenwasser. Klima Der Barnim liegt, wie die umgebenden Regionen, im Übergangsbereich vom ozeanischen Klima Westeuropas zum kontinentalen Klima Osteuropas. Aufgrund seiner bescheidenen Relativhöhe in Bezug zu den angrenzenden Urstromtälern von Havel und Spree besitzt der Niederbarnim, auf dem Schönwalde liegt, keine ausgeprägten Witterungsunterschiede gegenüber seinem Umland. Wetterextreme wie Stürme, starker Hagel oder überdurchschnittlicher Schneefall sind selten. Die mittlere Niederschlagsmenge eines Jahres in der sieben Kilometer entfernten Wetterstation Berlin-Buch betrug im Erfassungszeitraum von 1951 bis 2008 eine Menge von 580,9 mm (l/m²), von 1989 bis 2008 von 588,1 mm und von 1999 bis 2008 eine Menge von 621,3 mm. Es ist in den vergangenen Jahren somit ein Anstieg der Niederschlagsmengen im Bereich zu verzeichnen. Der Ort Schönwalde weist dabei nur unwesentliche Unterschiede zu Berlin-Buch auf. Insgesamt fallen die Niederschläge im Raum Berlin-Buch geringer aus, als der bundesweite Durchschnitt von zirka 800 mm. Die Sommermonate Juli und August weisen im Erfassungszeitraum von 1999 bis 2008 mit einem Durchschnittswert von 82,6 mm im Juli den meisten Niederschlag auf. Die geringsten Niederschlagsmengen fielen im gleichen Messzeitraum mit einem Mittelwert von 35,3 mm im April. Mit der Erhöhung der Niederschlagsmenge für die Region ging auch eine Steigerung der Niederschlagstage einher. So ist in der Statistik der Wetterstation Berlin-Buch für den Zeitraum von 1951 bis 2008 die Anzahl von 171,4 Tagen genannt, an denen im Jahr durchschnittlich Niederschlag fiel, für den Zeitraum von 1989 bis 2008 waren es 172,2 Tage und für den zehnjährigen Zeitraum von 1999 bis 2008 wurden durchschnittlich 182,0 Niederschlagstage pro Jahr registriert. Die meisten Tage mit Niederschlag gab es im letztgenannten Zeitraum durchschnittlich im Monat Januar mit 18,9 Tagen, die wenigsten im September mit 12,0 Tagen. Als Niederschlagstage gelten dabei alle Tage mit einer Niederschlagsmenge über 0,1 mm. Die Zahl der Sonnenstunden pro Tag stieg leicht an, von 4,5 täglichen Sonnenstunden im Jahresdurchschnitt (1951 bis 2008) über 4,8 Stunden (1989 bis 2008) auf 4,9 Stunden (1999 bis 2008). Daraus ergibt sich ein mittlerer Wert von 1790 Sonnenstunden im Jahr für den Zeitraum von 1999 bis 2008. Die mittlere Jahrestemperatur stieg für die drei Vergleichszeiträume von 9,1 °C über 9,7 °C auf 10,0 °C. Kältester Monat im Zeitraum von 1999 bis 2008 war der Januar mit Durchschnittswerten von 1,5 °C, wobei der kälteste mit −3,8 °C im Jahr 2006 und der wärmste mit 5,4 °C im Jahr 2007 gemessen wurde. Der durchschnittlich wärmste Monat war der Juli mit 19,3 °C und einem mittleren Spitzenwert von 23,3 °C im Jahr 2006. Geschichte Gründung Die Gründungsurkunde des Dorfes Schönwalde datiert vom Januar des Jahres 1753. In ihr bestimmte der König von Preußen, Friedrich II. (später als „der Große“ bezeichnet), dass in der Gegend von Mühlenbeck „auf allerhöchst deroselben Kosten“ ein Spinnerdorf von hundert Familien angelegt werden soll, genannt Schönwalde. Der Ortsname wird vielfach auf den damaligen Mühlenbecker Amtsrat (auch Oberamtmann) Schönwald zurückgeführt. Andere Quellen gehen von einer Namensherkunft aus dem Mittelniederdeutschen aus, da der Ort anfänglich noch Schönewalde geschrieben wurde, wie auf einer Karte aus den Jahren 1774/75 ersichtlich. Demnach soll die Schreibweise Schönwalde erst im Jahre 1805 aufgetaucht sein. Erstmals urkundlich genannt wurde der Ort 1750, die Ausarbeitung des Dorfplanes erfolgte 1751 durch J. E. Loescher. Um die preußische Textilindustrie aus der Abhängigkeit von Importen zu führen und die Landbesiedelung voranzutreiben, betrieb Friedrich der Große in seiner Regentschaft von 1740 bis 1786 eine rege Kolonisierungspolitik. Hauptsächlich aus Württemberg, Sachsen, der Pfalz, Polen und Mecklenburg wurden Wollspinner angeworben und in sogenannten Spinnerdörfern wie neben Schönwalde auch Sachsenhausen, Marienwerder und Friedrichshagen angesiedelt. Die aus dem Ausland nach Preußen ziehenden Neusiedler wurden durch ein Edikt aus dem Jahre 1748 für eine festgelegte Zeit von Steuern und Abgaben befreit und nicht zum Armeedienst gezogen. Der preußischen Staat stellte ihnen Haus, Hof, Ackerland und -geräte, Vieh und die erste Aussaat. Eine königliche Instruktion vom 8. Dezember 1779 bestätigte nochmals die Rechte der Kolonisten. Bereits im Jahre 1750 beauftragte der Direktor der Etablissementkommission, Kriegsrat Pfeiffer, das Amt Mühlenbeck mit der Prüfung einer Ansiedlung von Leinewebern und Spinnern in den Amtsdörfern. Am 12. Dezember 1752 erhielt der zuständige Förster Lemonius vom Mühlenbecker Oberamtmann Schönwald den Befehl, an der Uckermärkischen Straße unweit der Ruinen des Altenhofs, gelegen in der Gemarkung Schönerlinde, einen Bestand Erlen und Buchen zu fällen und das Holz für den Bau der Häuser des neuen Dorfes bereitzustellen. Schönwalde entstand als typisches preußisches Kolonistendorf dieser Zeit, ein Straßendorf mit breiter Hauptstraße, einem zentralen Platz, dem angrenzenden Schulzengehöft mit Dorfschänke und großen Gärten hinter den Kolonistenhäusern. Den Besitzstand der Kolonisten sowie die Pflichten und Rechte des Schulzen und der Gemeinde regelte die „Erbliche Verschreibung vom 29. Mai 1753“. Sie wurde an diesem Tage durch den König bestätigt, nachdem sie auf königlichen Befehl vom 28. März 1753 durch den Kriegsrat Pfeiffer entworfen und am 20. Mai 1753 von der Churmärkischen Kriegs- und Domänenkammer ausgefertigt worden war. Die „Confirmatio der erblichen Verschreibung von den Schulzen und der Gemeinde des vor hundert Familien angelegten Spinner Dorfes Schönewalde“ soll am 31. Mai 1753 unterzeichnet worden sein. Aufbau des Kolonistendorfes Schon am 30. Januar 1753 war Ludwig Meschker, Landmeister und Kommissar bei der Etablissementkommission, von Kriegsrat Pfeiffer als Schulze des neuen Dorfes „angenommen und bestellt“ worden. Als Spinnermeister von Schönwalde hatte er die Wolle aus Berlin zu holen und das Gesponnene wieder dorthin zu schaffen. Er hatte auf die Qualität zu achten und den Wollspinnern den Lohn auszuzahlen. Weiterhin hatte er Polizeigewalt in Bagatellsachen und Ordnungsaufgaben bezüglich des Dorfes wie auch der einzelnen Häuser. Dem Schulzen wurden acht Gerichtsschöppen zugeteilt, zwei für je ein Dorfviertel, die ihn bei seinen Aufgaben unterstützten. Für seine „Mühwaltung“ erhielt der Schulze das alleinige Recht des Bier- und Branntweinausschanks, des Victualienhandels, das Hüterecht für zehn Kühe auf der Gemeindewiese sowie 90 Morgen Ackerland und 12 Morgen Wiese. Zur Ansiedlung in den Spinnerkolonien wurden nur „Ausländer“ zugelassen, das heißt, sie durften noch nicht in Preußen gesiedelt haben. Die ersten Ansiedler von Schönwalde kamen bereits im Frühjahr 1753. Sie wurden zunächst im Amt in Mühlenbeck einquartiert, um ihnen dann ein Haus im neu entstandenen Ort zuzuweisen. Die Kolonistenhäuser waren als Doppelhäuser gebaut. Die Wände wurden aus Lehmfachwerk hergestellt und das Dach mit Stroh gedeckt. Die Eingänge befanden sich an der Straßenseite in der Mitte des Doppelhauses. Zum Nebengelass gehörten eine kleine Scheune und ein Stall. Die Häuser waren von allen Abgaben befreit, durften aber ohne Genehmigung weder veräußert noch beliehen werden. Zu jedem Haus gehörte ein Morgen Gartenland (zirka 2553 m²) und jeder Kolonist erhielt einen Morgen Wiese. Weiterhin erhielt er das Recht, ein Stück Vieh auf die gemeinsame Weide zu treiben. Neben den Kolonistenhäusern wurde ein Schulmeister- und Küsterhaus am Südostrand des Dorfplatzes im Zentrum des Ortes errichtet. Zu diesem Haus gehörten zwei Morgen Garten und je ein Morgen Acker und Wiese. Erster Schulmeister wurde Johann Gottlieb Meschker. Die Revisionsliste vom 6. Mai 1754 führte bereits 36 Kolonisten mit 102 Familienangehörigen an. Aus Württemberg kamen die Familien Bandel, Hebich, Kurtz, Langnik, Lutz, Schulz, Schwarzmeyer, Seiler, Steck, Tost, Vogel und Widemer. Die Familien Böttcher und Möricke stammten aus Sachsen, die Familie Liebenhagen aus Mecklenburg-Strelitz, aus Thüringen die Familie Porst und aus der Pfalz die Familie Hagebuch. Nur zwei Familien kamen aus der Mark Brandenburg, aus dem benachbarten Schönerlinde die Familie Lentz und aus Wensickendorf Familie Ströhmann. Schließlich hatten zwei Familien, Charles und Sourell, französische Vorfahren. Sie gehörten zu den seit dem Potsdamer Edikt von 1685 in Preußen angesiedelten Hugenotten. Am 20. März 1755 wurden 40 Kolonisten in Schönwalde vereidigt. Im Verzeichnis der ersten Vereidigung finden sich die Namen: Ludwig Meschker (Schulze); Dost, Lessing, Schwarzmeyer, Spannemann (4 Schöppen); Allmer, Berger, Beßmann, Blumenthal, Böttger, Charles, Hoffmann, Hyronimus, Kahle, Kest, Keyser, Keutel, Knoll, Kurz, Leininger, Lutz, Meyer, Möricke, Naumann, Georg und Martin Nitze, Reuscher, Seyler, Schilkopf, Schlumbach, Schoene, Schuhmacher, Sommer, Thomee, Vogel, Völkel, Christian und Joseph Wiedemer und Wüst; des Weiteren Bohmbach, Hebich, Krause, Lange, Schmidt und Seeger, die bei der Vereidigung abwesend waren. Ein Teil der Namen ist auch nach über 200 Jahren im Dorf zu finden. Die Bevölkerung des Dorfes wuchs rasch an. Die Revisionstabelle von 1769 verzeichnete bereits 443 Personen, die auf den 100 Kolonistenstellen lebten. Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung Ausbau des Siedlungskerns Vor der Gründung von Schönwalde gehörte das spätere Gemeindegebiet zum Mühlenbecker Forst. Das Waldgebiet zwischen heutigem Ortszentrum und Mühlenbecker See wird auf alten Karten als Schönerlindsche Gehege bezeichnet. Der Wald zwischen Ortszentrum und Gorinsee hieß nach der Ortsgründung Schönewaldsche Heyde, wie auch der Ort selbst 1774/75 noch Schönewalde geschrieben wurde. Einzige Ansiedlung in der Nähe vor 1753 war der Altenhof, etwa einen Kilometer südwestlich der Mitte des neuen Ortes. Der Altenhof wurde seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr bewohnt und war nur noch als Flurbezeichnung bekannt. Seit den Jahren 1746/1747 bestand nördlich des Mühlenbecker Sees eine Mühle, die von einem Müller Grüwel aus dem Ort Mönchmühle betrieben wurde. Nach Erwerb der Mühle durch den Berliner Lederfabrikanten Peter Friedrich Damm im Jahre 1755 heißt dieser Ort Dammsmühle. Später wurde durch Um- und Anbauten aus Dammsmühle ein Barockschloss (zur Schlossgeschichte siehe Schloss Dammsmühle). Schönwalde wurde als Straßendorf mit 50 Doppelhäusern beidseitig der Hauptstraße in etwa Nord-Süd-Ausrichtung angelegt. In der Mitte befand sich ein achteckiger Platz mit einem 1780 bis 1782 errichteten Bethaus als Zentrum und dem Anwesen des Schulzen mit der Dorfschänke an der Ostseite. Die einfachen Kolonistenhäuser standen in einer Flucht zur Straße. Dahinter befanden sich die Nebengebäude mit angeschlossenen Gärten. Die Straße führte im Norden nach Basdorf, im Süden unter Umgehung Schönerlindes nach Blankenfelde. Der heutige Bernauer Damm existierte noch nicht. An seiner Stelle gab es nur einen Weg in den Wald und zum nordöstlich hinter den Gärten im Jahre 1755 geweihten Friedhof. In westliche Richtung führte ein Weg vom Dorfplatz durch die „Stege“ nach Dammsmühle. In den Jahren 1830 bis 1832 ließ das Land die Chaussee von Berlin durch die Schorfheide nach Prenzlau ausbauen. Sie führte durch die Hauptstraße von Schönwalde. Es entstand die erste Pflasterung und eine direkte Verbindung zum südlichen Nachbarort Schönerlinde. Auf einer Karte von 1839 ist schon der seitherige Straßenverlauf in Ost-West-Richtung nach Mühlenbeck beziehungsweise Bernau/ Schönow zu erkennen. Am nördlichen Ortsrand an der Stelle des Gewerbegebietes war eine Oberförsterei entstanden. In den Jahren 1843/44 konnte das Bethaus aus Fachwerk dank eines „Königlichen Gnadengeschenks“ von 1000 Talern durch eine Kirche aus gebranntem Stein ersetzt werden. Die Inneneinrichtung konnte zum größten Teil aus Spenden finanziert werden. Der hölzerne Glockenturm an der Ostseite des Gebäudes wurde erst 1875 aufgestellt. Zehn Jahre später, 1885 bis 1886, erwarb die Kirchengemeinde für das Gotteshaus für 2500 Mark eine Orgel der Firma Sauer aus Frankfurt (Oder). Der abseits der Kirche am östlichen Ortsrand liegende Friedhof musste bis 1937 auf eine Totenhalle verzichten. Die Grundsteinlegung der Friedhofskapelle erfolgte am 12. Mai 1936, die Einweihung am 19. September 1937. Von der Gründung Schönwaldes 1753 bis zum Jahr 1866 gab es im Dorf keine eigene Pfarrstelle, der Ort war der Kirche von Bernau unterstellt. Ab dem 2. Dezember 1866, dem Tag der Loslösung vom Rektorat zu Bernau, versahen bis zum Jahr 2008 sechzehn Pfarrer ihren Dienst in Schönwalde. Das Ortsbild änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich. Die Siedlungsfläche blieb zwar auf die Kolonistengrundstücke beschränkt, die durch den wirtschaftlichen Aufschwung am Rande Berlins zu einigem Vermögen gekommenen Eigentümer der Grundstücke ersetzten nun aber nach und nach die strohgedeckten Kolonistenhäuser durch größere Häuser mit zum Teil prächtigen Stuckfassaden im Stil des Historismus. Im Jahre 1903 wurde auf der Nordwestseite des Dorfplatzes ein Denkmal für den Gründer des Ortes, König Friedrich dem II. von Preußen, aufgestellt. Für die 1904 gegründete Freiwillige Feuerwehr entstand ab 1906 ebenfalls auf dem Dorfplatz ein Feuerwehrdepot gegenüber der Kirche. Der Steigeturm an dessen Westseite war ein nachträglicher Anbau aus den 1930er Jahren. Erweiterung des Siedlungsgebietes Ein wichtiger Einschnitt in der Entwicklung Schönwaldes war die Eröffnung der Bahnlinie von Berlin-Reinickendorf nach Groß-Schönebeck beziehungsweise Liebenwalde am 21. Mai 1901. In einer Entfernung von 900 Metern vom Ortszentrum an der Straße Richtung Mühlenbeck entstand der Bahnhof Schönwalde. Bau und Betrieb der Strecke erfolgte durch die Niederbarnimer Eisenbahn AG, an der sich die Gemeinde Schönwalde mit einem Aktienbestand im Wert von 12.000 Mark beteiligte. Die Bahnlinie führte zu einer wesentlich besseren Anbindung an die Reichshauptstadt und damit zu kürzeren Fahrzeiten für Berufspendler, hauptsächlich Bauarbeitern, und Besucher von Ämtern des Kreises Niederbarnim, die ihren Sitz in Berlin hatten. Die Wirtschaft profitierte durch den auf der Bahnstrecke betriebenen Güterverkehr aber auch durch den einsetzenden Ausflugstourismus von Berlin ins Umland. Nicht zuletzt entstand durch die neue Bahnlinie in den 1920er Jahren die erste größere Siedlungserweiterung des Ortes. Die Bahnhofssiedlung wurde südöstlich der Bahntrasse, südlich der Straße nach Mühlenbeck angelegt, also zwischen dem Bahnhof und dem alten östlich gelegenen Ortskern. Seitdem sind sämtliche neu erschlossenen Siedlungsgebiete Schönwaldes an dieser Ost-West-Achse entstanden. In den 1920er und 1930er Jahren wurden erste Flächen im späteren Ortsteil Gorinsee (oder Gorin) besiedelt. Die südlich des etwa 700 × 400 Meter großen Sees und der an ihm vorbeiführenden Straße nach Schönow angelegten Parzellen beherbergten sowohl Dauerbewohner als auch Wochenend- und Sommergäste. 1934 wurde am See das „Gasthaus Freibad Gorinsee“ (späterer Name „Libelle“) genehmigt. Östlich des Sees entstand ein Zeltplatz, der sich bis 1990 flächenmäßig in den Hochwald ausdehnte, danach aber aufgrund des Einspruchs des Eigentümers, der Berliner Forsten, wieder verkleinert wurde. Nach der Bodenreform 1946/1947 siedelten sich auch Neubauern, vornehmlich an der Hobrechtsfelder Straße, in der Siedlung an. Teile der Siedlung gehörten zur Gemarkung Schönerlinde, bis die Gemeindevertretung von Schönwalde auf Antrag der Bewohner am 30. Juli 1956 einer Eingemeindung nach Schönwalde zustimmte. 1959/60 entstand im Zuge einer Aktion „Perlenkette für Berlin“, einem Ausbau von Naherholungszentren um Berlin, das Strandbad Gorinsee. Es wurde ein in den 1990er Jahren wieder abgerissener Badesteg errichtet und ein Parkplatz angelegt. Ab 1965 kam es zur bislang letzten Siedlungserweiterung am Gorinsee. Westlich des Sees wurden Parzellen vergeben, auf denen Bungalows entstanden. Dieser Bereich hat gemäß dem Einigungsvertrag Bestandsschutz, Baugenehmigungen werden dort aber nicht mehr erteilt. Im Gegensatz dazu wurden nach 1990 in der Siedlung Gorinsee südlich des Sees viele Wochenendgrundstücke zu Wohngrundstücken mit Einfamilienhäusern. Mit der Zunahme der Bevölkerungszahl von Schönwalde ging ein ständiger Wohnraummangel einher. Im 19. Jahrhundert wurde dem noch mit dem Um- und Ausbau der Gebäude auf den Kolonistengrundstücken begegnet. Eine Erweiterung der Siedlungsfläche war zunächst nicht möglich, da die Bebauung des landwirtschaftlich genutzten Bodens nach dem Rezess von 1866 verboten war und der umliegende Wald zu diesem Zwecke nicht gerodet werden konnte, da er nicht der Gemeinde gehörte. Erst 1921 erwarb die neu Siedlungsgesellschaft Niederbarnim m.b.H. Land zu beiden Seiten der Bahnhofstraße (seit Mitte des 20. Jahrhunderts Mühlenbecker Chaussee) und die Bahnhofssiedlung entstand. In den Jahren 1937 bis 1939 wurden westlich des Bahnhofs sieben Mehrfamilienhäuser errichtet, die sogenannte „Waldsiedlung“, die aber nicht des Bevölkerungsdrucks des Ortes wegen gebaut wurde, sondern der Unterbringung von Beamten der nahe gelegenen Gendarmerie-Kaserne diente. Der Zuzug von 300 Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg verschärfte die Wohnungssituation zusätzlich. Ab den 1950er Jahren entstand nach und nach die „Neue Siedlung“ auf Bodenreformland nördlich der Bahnhofstraße, westlich anschließend an den alten Ortskern. Zwischen 1970 und 1990 gab es dann noch zwei kleinere Siedlungserweiterungen, einmal die Bebauung des kaum genutzten Sportplatzes südlich der Waldsiedlung und der Bau von acht betriebseigenen Wohnhäusern des VEB Versuchstierproduktion nördlich des Ortes gegenüber dem Gewerbegebiet an der Hauptstraße. Da die Bahnlinie der „Heidekrautbahn“ nach Berlin-Reinickendorf, nach West-Berlin, führte, kam es in den Jahren der deutschen Teilung zu wesentlichen Einschränkungen im Verkehr. Schon in den 1950er Jahren war zwar eine neue Streckenführung nach Süden, abzweigend einen Kilometer nördlich der Schönwalder Bahnhofstraße, Richtung Berlin-Karow gebaut worden. Sie diente aber nur dem Güterverkehr. Nach dem Bau der Berliner Mauer war der Personenverkehr der Strecke der Niederbarnimer Eisenbahn von der Berliner Innenstadt abgeschnitten. Die Bahnlinie diente danach nur noch als Industriebahn für Bergmann-Borsig in Berlin-Wilhelmsruh. In den 1960er Jahren wurde der Personenverkehr auf die neue Strecke Richtung Berlin-Karow zu einem provisorischen Haltepunkt in Berlin-Blankenburg umgeleitet. Erst später nutzte man den S-Bahnhof Berlin-Karow als Umsteigebahnhof und errichtete einen neuen Haltepunkt in Schönerlinde. Schönwalde erhielt bei der Fahrstreckenumstellung nach Berlin-Blankenburg einen neuen Haltepunkt, der zwischen dem alten Bahnhof und dem Ortskern lag. Dieser ist, wie die Strecke nach Berlin-Karow, noch immer in Betrieb. Eine Wiedereröffnung der alten Bahnlinie nach Berlin-Reinickendorf wurde seit 1990 des Öfteren in Erwägung gezogen, bis 2009 aber nicht realisiert. Auf der alten Strecke fahren bislang nur Traditionszüge zu besonderen Anlässen. Während es in früheren Zeiten Planungen zur Elektrifizierung der Bahnlinie gab, so in den 1930er Jahren und in den 1980er Jahren als Erweiterung des S-Bahn-Netzes bis zum Bahnhof Wandlitzsee, wurde nach 1990 wegen rückläufiger Fahrgastzahlen der Strecken-Ast nach Liebenwalde bis Wensickendorf verkürzt. Das Rest-Netz wurde durch die Niederbarnimer Eisenbahn AG, die die Strecken von der Deutschen Bahn AG zurück übertragen erhielt, saniert und wird mit modernen Dieseltriebzügen bedient. Siedlungsverdichtung und Ausbau der Infrastruktur nach 1990 Nach Instandsetzung der Dorfstraße, nunmehr Hauptstraße, in den Jahren 1910 bis 1912 und der Aufbringung einer mangelhaften Asphaltschicht im Jahre 1963 erfolgte von 1990 bis 1992 eine grundhafte Erneuerung der Bundesstraße 109 durch Schönwalde einschließlich der Nebenflächen, wie Gehwegen, Parktaschen und Nebenstraßen am Dorfplatz. Dabei wurden Wasser- und Abwasserleitungen neu verlegt. Allgemein kann nach 1990 von einem kräftigen Aufschwung der Bautätigkeiten in Schönwalde gesprochen werden. Neue Siedlungsgebiete entstanden beiderseits der Bahnhofstraße, so der Eichengrund, die Siedlungen am Fuchsbergweg, an der Birkenstraße und auf dem ehemaligen Fabrikgelände der Holzwarenfabrik Otto Liebenhagen am alten Bahnhof. Dies ging einher mit der ständigen Verdichtung der alten Siedlungsgebiete. Die Einwohnerzahl des Ortes verdoppelte sich von 1156 am 3. Oktober 1990 auf 2347 im Jahr 2010. Auch Einzelbauobjekte, die seither das Ortsbild prägen, wurden in Angriff genommen. So entstanden in den 1990er Jahren ein Geschäftshaus an der Südostecke des Dorfplatzes, in das ein Lebensmittel- und ein Getränkemarkt sowie eine Bäckerei, eine Fleischerei und ein Blumengeschäft einzogen, und der Anbau an das Feuerwehrhaus im Ortszentrum. Gegenüber der Feuerwehr wurde im August 1993 das restaurierte Denkmal des Ortsgründers Friedrich II. wieder aufgestellt, dessen Büste zu DDR-Zeiten von Einwohnern Schönwaldes aufbewahrt worden war. Das Original wurde in der Nacht zum 1. Juni 1995 gestohlen. So ließ die Gemeindeverwaltung im Oktober 1996 eine ähnliche Büste aus Kaltgussmetall als Ersatz aufstellen. Nach dem Jahr 2000 entstand an Stelle der früheren Schule in der Waldsiedlung ein Gebäude als Gemeindezentrum. Dort wurden der Kindergarten und die Gemeindebibliothek untergebracht. Außerdem befinden sich im Obergeschoss das Sprechzimmer der Ortsvorsteherin und ein kleiner Beratungsraum für den Ortsbeirat. Auf demselben Grundstück wurde eine Sporthalle für die Gemeinde Schönwalde errichtet. Sie wird zumeist durch den 1995 gegründeten Sportverein genutzt. Auch im Gewerbegebiet an der Hauptstraße gab es ab 1990 rege Bautätigkeiten. Einige der investierenden Firmen konnten sich jedoch nicht halten. Im Jahre 2007 eröffnete dort ein zweiter Lebensmittel-Supermarkt, direkt gegenüber dem 2006 dorthin verlagerten Markt, der bis dahin im Ortszentrum angesiedelt war. Im Januar 2008 zog auch der Getränkemarkt von der Ortsmitte zum Standort der beiden Lebensmittelmärkte an der nördlichen Ortsgrenze. Des Weiteren wurde eine weitere Räumlichkeit für verschiedene kleine Läden im Gewerbegebiet gebaut. Im Geschäftshaus am Dorfplatz befindet sich nach Wegzug des Lebensmittel- und Getränkemarktes nunmehr neben der Backwaren-Verkaufsstelle ein Baumarkt. Ein zwischenzeitlich dort eingerichteter Drogeriemarkt besteht seit der Insolvenz der Firma Schlecker im Ort nicht mehr. Wirtschaftliche Entwicklung Gewerbe In dem neu gegründeten Ort Schönwalde übten zunächst die Frauen, älteren Kinder und einige Männer den Beruf des Spinners aus. Die meisten Männer gingen dagegen ihren ursprünglich erlernten Berufen nach. Im Kirchenbuch der Gemeinde sind acht Zimmerleute, vier Schneider, vier Maurer, drei Tischler, zwei Schuhmacher, zwei Müller, zwei Köhler, dazu je ein Bäcker, Färber, Pantoffelmacher, Messerschmied, Radmacher, Garnweber, Stellmacher, Tuchmacher und Dachschieber aufgeführt. Schon während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) geriet das Spinnen ins Stocken und hörte um 1800 ganz auf. Aufgrund des im Gegensatz zu den geringen landwirtschaftlichen Nutzflächen großen Waldbestandes in der Umgebung suchten viele Einwohner Auskommen in der Holzverarbeitung. Um 1790 begann der Nutzholzhandel, kurze Zeit später wurden Leitern sowie Stiele für Handwerksgeräte, Backschieber und Bäckereigeräte aus Holz hergestellt. 1810 begann Gustav Liebenhagen in der Dorfstr. 63 (später Hauptstr.) in einer kleinen Werkstatt mit der Fertigung von Backschiebern. Diese Werkstatt wurde an diesem Standort über die Jahre von Otto Liebenhagen weiter zu einer kleinen Fabrik mit ca. 30 Mitarbeitern ausgebaut. Gegenüber gab es noch das Sägewerk Firma Paul Grünewald. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts gingen einige Handwerksbetriebe zur industriellen Fertigung über. Am alten Bahnhof begann 1927 Otto Liebenhagen eine zweite Niederlassung in Form eines Sägewerks zu errichten. Mit der Eisenbahn kamen Baumstämme aus Brandenburg und Mecklenburg. 1934 wurde bereits in einer Fabrik mit vier Werkhallen gearbeitet. Die Arbeiter stellten vor allem Klein- und Küchenmöbel, Kisten, Bügelbretter, Schneideplatten, Blumenkästen, Sägeböcke, Backschieber, Rundstäbe, Ladeneinrichtungen sowie Leisten für Schuhe und Ausrüstungen für Baufirmen her. Abnehmer der Waren war der Markt der nahen Reichshauptstadt Berlin. Viele Einwohner Schönwaldes arbeiteten dort als Pendler, zumeist im Baugewerbe. Im Ort entstand ab 1931 am „Alten Forsthaus“, am Ortsausgang Richtung Basdorf, eine Hühnerfarm. Der Geflügelhof Forsthaus Schönwald entwickelte sich zu einer anerkannten Geflügelzucht-Lehrwirtschaft für Leghorn und Rhodeländer. Ab 1935 wurden nach Zukauf von Parzellen vom Staatsforst auch Pferde, Kühe und Schweine gehalten. Nachdem der Besitzer Otto Bartsch, Honorarprofessor an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin 1934–1937, im April 1945 durch sowjetische Soldaten erschossen wurde, leitete dessen Frau Frieda Bartsch den Betrieb bis zum Verkauf 1960 an die LPG Schönerlinde weiter. Auf dem Gelände entstand in den 1960er Jahren eine Zuchtanstalt für Versuchstiere. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Werkstätten beschädigt und wegen des Mangels an Rohstoffen wurden zunächst nur Reparaturarbeiten getätigt. Schon bald belebten sich aber die traditionellen Holz- und Baugewerke und neben diesen entstand neues Gewerbe im Dienstleistungsbereich. Die 1953 bestehenden 44 Handwerks- und Gewerbebetriebe des Ortes beschäftigten 168 Arbeitskräfte. In den 1960er Jahren schloss sich ein Teil der Tischler zu einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) zusammen. Andere Betriebe wurden zu Volkseigenen Betrieben (VEB) verstaatlicht. Die größten Betriebe waren in den 1970er Jahren die PGH Möbel und Wohnraum, der VEB Versuchstierproduktion (1973 gegründet), der VEB Heimkunst (später Betriebsteil des VEB Korb- und Flechtwaren Heringsdorf), der VEB Großküchenbau (entstand 1972 aus der Enteignung der Otto Liebenhagen Holzwarenfabrik, wurde später Teil des Holzverarbeitungswerks Klosterfelde und damit ab 1980 zum VEB Profilleistenwerk Schönwalde) und die Firma Seils (Hochbau). In diesen und den kleineren Betrieben wurden über 500 Arbeitskräfte beschäftigt. Die genossenschaftlichen und staatlichen Betriebe wurden 1990 aufgelöst, zum Teil reprivatisiert oder geschlossen, wie die Versuchstierproduktion. Reprivatisiert an die Erben von Otto Liebenhagen, wurde am 1. Juli 1990 auch die ehemals enteignete Firma Otto Liebenhagen, jetzt VEB Profilleistenwerk Schönwalde. Bis 1997 wurde der Betrieb in dem Profilleistenwerk unter der Firmierung Schönwalder Profilleisten GmbH weitergeführt. Hier entstanden Zulieferteile für die Möbelindustrie. Beschäftigt waren bis zu 35 Mitarbeiter, überwiegend aus den umliegenden Orten. In den Jahren 1990 bis 1992 etablierten sich über 70 Gewerbebetriebe, überwiegend im Dienstleistungs- und Einzelhandelsbereich. Teilweise siedelten sich völlig neue Gewerbe im Ort an. Ein Hotel im Schloss Dammsmühle musste jedoch schon bald wieder schließen. Auf dem Gelände des VEB Versuchstierproduktion entstand durch die Ansiedlung verschiedener Firmen ein Gewerbegebiet. Ein weiteres Gewerbegebiet ist ab 1997 auf dem ehemaligen Gelände der Schönwalder Profilleisten GmbH, der Gewerbehof Schönwalde, in der heutigen Mühlenbecker Chaussee 16 entstanden. Dort haben sich 10 Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen mit ca. 30 Beschäftigten angesiedelt. Im Jahr 2004 waren in Schönwalde 225 Gewerbebetriebe gemeldet. Bis Ende des Jahres 2008 hatte sich diese Zahl auf 249 erhöht. Es ist also in den letzten Jahren, wie im gesamten Gemeindegebiet Wandlitz, ein leichter Anstieg der gemeldeten Gewerbebetriebe zu verzeichnen. Landwirtschaft Aufgrund der Erbverschreibung von 1753 hatte die Gemeinde Schönwalde 137 Morgen (etwa 34 ha) Land und die Erlaubnis, 108 Kühe auf die Weide in die Mühlenbecker Forst zu schicken. Das Anwachsen des Viehbestandes der Gemeindeherde, schon 1777 bereits 250 Kühe, 200 Schweine und 200 Gänse, führte zu Streitigkeiten mit dem Amt Mühlenbeck um die Weiderechte, die erst 1821 durch den Verkauf der Ländereien des Schulzengutes an 57 Kolonisten entschärft wurde. Nach Beseitigung der „Weidegerechtigkeit“ im Jahre 1866 und damit verbundener Abfindung der „Hüthungsgenossen“ mit 370 Morgen Land für das Weiderecht verfügten die Kolonisten von Schönwalde zusätzlich über 470 Morgen (etwa 115 ha) Land. In den folgenden Jahren kauften oder pachteten einzelne Schönwalder Land in den benachbarten Dörfern, vor allem in Schönerlinde. Bei vielen landwirtschaftlichen Betrieben des Ortes kam es wiederholt zu Zwangsversteigerungen, allein sieben in den Jahren 1904 bis 1912, was wohl auf den geringen Landbesitz zurückzuführen war. Das gerichtliche Verzeichnis über Eintragungen in die „Erbhöferrolle“ aus dem Jahr 1934 benennt sechs Bauern in Schönwalde, die allerdings nur einen Besitz zwischen 8 und 11 Hektar hatten. Während der Bodenreform 1946/1947 erhielten 137 Personen Land, darunter nur sieben Personen über 10 Hektar und fünfzehn weitere über einen Hektar. Der größte Teil des vergebenen Bodens war als Garten- und Siedlungsland in kleine Parzellen aufgeteilt. Auf einem Teil davon entstand später die Siedlung an der Linden- und Neumühler Straße. 1952 bewirtschafteten 44 bäuerliche Betriebe insgesamt 317,57 ha Ackerland. Die Anzahl verringerte sich in den folgenden Jahren auf 31 im Jahre 1959. Infolge Überalterung der Bauern lagen 1957 vierzig Morgen (10 ha) Land brach. Die seit 1956 verstärkte Werbung zum Zusammenschluss zu Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften führte 1958 zum Eintritt einiger Bauern der Gorin-Siedlung in die LPG am Gorinsee und 1961 zur Gründung einer LPG am Hauptort Schönwalde. Die letztere schloss infolge fehlender Arbeitskräfte 1966 einen Kooperationsvertrag mit dem VEG (Volkseigenes Gut) Schönerlinde. Der größte Teil der Flächen wurde dem VEG zur Bewirtschaftung übergeben. Der Rest von 83 Hektar wurde 1967 der LPG Schönerlinde angeschlossen. Nach der Reprivatisierung der Flächen war 1991 der in Berlin wohnhafte Gerhard Heeger einziger Landwirt in Schönwalde. Als langjähriges Mitglied der LPG und Leiter der Jungrinderanlage am Gorinsee baute er auf gekauftem und gepachtetem Boden einen bäuerlichen Familienbetrieb auf. Politik Ortszugehörigkeit Schönwalde gehört seit der Gründung 1753 zu Brandenburg, innerhalb des Königreichs Preußen zur Mark Brandenburg und aktuell zum Land Brandenburg der Bundesrepublik Deutschland. Von 1815 bis 1952 war der Ort Bestandteil des Kreises Niederbarnim der preußischen Provinz Brandenburg beziehungsweise des Landes Brandenburg der DDR. Seit der Verwaltungsreform der DDR vom 23. Juli 1952 gehörte Schönwalde zum Kreis Bernau im Bezirk Frankfurt (Oder). Nach Auflösung der Bezirke und Neugründung des Landes Brandenburg am 3. Oktober 1990 war Schönwalde eine selbstständige Gemeinde im Kreis Bernau. Die Verwaltungsaufgaben wurden seit dem 1. Juli 1992 durch das Amt Wandlitz innerhalb des Landkreises Barnim wahrgenommen. Mit der Umwandlung des Amtes zur Gemeinde Wandlitz durch Landesgesetz zum 26. Oktober 2003 verlor der Ort Schönwalde seine Selbstständigkeit. Die ehemalige Gemeinde ist seitdem Ortsteil der Großgemeinde Wandlitz. Eine Verfassungsbeschwerde aller amtsangehörigen Gemeinden gegen die kommunale Neugliederung vor dem Verfassungsgericht des Landes Brandenburg wurde am 16. Juni 2005 zurückgewiesen. Ortsvorsteher Das frühere Amt des Bürgermeisters wird seit der Fusion mit Wandlitz von einem Ortsvorsteher, bis 2008 auch Ortsteilbürgermeister genannt, wahrgenommen. In das Amt des Bürgermeisters wurde Maria Brandt (zunächst parteilos, seit April 2001 Mitglied der SPD) am 5. Dezember 1993 gewählt. Bis zu ihrem plötzlichen Tod im September 2019 konnte sie ihre Amtszeit als Ortsvorsteher immer wieder verlängern. Der Ortsbeirat hat beratende Funktion für die Gemeindevertretung von Wandlitz bezüglich der Entscheidungen des Gremiums, die den Ortsteil Schönwalde betreffen. Einige der Vertreter des Ortsbeirates sind gleichzeitig Gemeindevertreter. Als Ortsvorsteherin wurde Gabriele Bohnebuck (Die Linke) im Dezember 2019 neu in das Amt berufen. Ortsbeirat Der Ortsbeirat hat beratende Funktion für die Gemeindevertretung von Wandlitz bezüglich der Entscheidungen des Gremiums, die den Ortsteil Schönwalde betreffen. Einige der Vertreter des Ortsbeirates sind gleichzeitig Gemeindevertreter. Am 26. Mai 2019 fanden die letzten Kommunalwahlen statt. Die Wahlbeteiligung betrug 67,7 Prozent der wahlberechtigten Einwohner. Danach setzt sich der aus fünf Personen bestehende Ortsbeirat wie in der Tabelle gezeigt zusammen. Wappen Auf dem Wappenschild von Schönwalde ist eine Eiche in grün auf silbernem (weißem) Grund dargestellt, die unten auf grünem Grund verwurzelt ist. Unter der Eiche befindet sich eine goldene (gelbe) Krone, links und rechts des Baumes je eine Spindel in rot. Die Eiche besitzt fünf goldene Eicheln. Die Eiche symbolisiert den Waldreichtum des Ortsgebietes und die Gründung inmitten des Mühlenbecker Forstes. Die Krone verweist auf die Gründung durch königliche Order, die Spindeln auf den Grund der Gründung, der Ansiedlung von Textilarbeitern (Spinnern und Webern) in Preußen. Das Wappen von Schönwalde wurde erst im Jahre 1995 bestätigt. Vorausgegangen war ein Bürgerentscheid zu verschiedenen Wappenentwürfen, bei dem sich der Gestaltungsvorschlag des ortsansässigen Olaf Tausch durchsetzte und mit leichten Änderungen angenommen wurde. Die Abänderungen betrafen die Wegnahme zweier halbkreisförmiger blauer Felder neben dem unteren Grün (die den Gorinsee und den Mühlenbecker See darstellen sollten) und das Auswechseln eines Dammsmühle symbolisierenden Mühlrades durch eine zweite Spindel. Die Einfügung des Monogramms Friedrichs II. statt der Krone als eindeutigeren Bezug auf die königliche Gründung wurde schon durch den Gestalter des Wappens zugunsten der Königskrone der besseren Darstellbarkeit wegen verworfen. Ortspartnerschaften Schönwalde am Bungsberg, seit 1991 Kultur und Sehenswürdigkeiten Bau- und Bodendenkmale Jeder der neuen Wandlitzer Ortsteile besitzt Baudenkmale und auch Bodendenkmale, die allesamt in der Brandenburgischen Denkmalliste aufgeführt sind. Kirchen Evangelische Kirche Schönwalde Der im Jahre 1844 fertiggestellte Ziegelbau der Schönwalder Dorfkirche, mit den Maßen 21 m × 11,70 m, ersetzte ein 1780 bis 1782 als Fachwerkbau ohne Kirchturm errichtetes Bethaus. Die neue Kirche wurde im klassizistischen Rundbogenstil erbaut und kam einem Musterentwurf für ländliche Gemeinden nahe, der von dem Architekten Karl Friedrich Schinkel als sogenannte Normalkirche entwickelt wurde. Der am 22. September 1844 geweihte Neubau musste jedoch zunächst ohne Kirchturm auskommen, bevor 1875 an der Ostseite ein hölzerner Turm für die 1872 erworbenen zwei Glocken angefügt wurde. Im Inneren der Kirche befindet sich eine 1885/1886 für 2500 Mark eingebaute Orgel der Firma Wilhelm Sauer aus Frankfurt an der Oder. Die Orgelweihe fand am ersten Advent 1886 statt. Der 1904/1905 geplante Bau eines steinernen Kirchturmes wurde nicht realisiert. Anfang der 1960er Jahre wurde im Rahmen einer Renovierung und Modernisierung der westliche Eingang zugemauert, 1963 der Innenraum umgestaltet. Im Rahmen einer umfassenden Sanierung bekam die Kirche Ende der 2000er Jahre ein neues Ziegeldach und im Frühjahr 2010 für 22.600 Euro drei nach historischem Vorbild nachgebaute Eingangstüren aus Eichenholz, eine davon am vormals zugemauerten Westgiebel. 2011/2012 wurde die Dorfkirche weiterhin saniert, wozu aus dem Gemeindeetat 21.750 Euro bereitgestellt wurden. Musik Der Ort Schönwalde verfügt über drei Standorte, in denen in unregelmäßigen Abständen Konzerte veranstaltet werden, die Dorfkirche, die Pfarrscheune und das private Antiquarium. Dabei handelt es sich zumeist wegen der von der Größe her begrenzten Räumlichkeiten um Kammermusik oder Auftritte von Solisten. Aber auch die drei Chöre des Ortes, der 1992 gegründete „Gemischter Chor Cantare Schönwalde e. V.“, der 1997 gegründete „Kirchenchor Schönwalde“ sowie der „MäN A KOR“ (Männerchor) sind in der Kirche und der Pfarrscheune zu verschiedenartigen Anlässen als Interpreten unterschiedlicher Musikstile vertreten. Bauwerke Schloss Dammsmühle Bei dem dreigeschossigen Gebäude des Schlosses Dammsmühle etwa 2,8 km nordwestlich der Ortsmitte von Schönwalde handelt es sich um einen Um- und Anbau einer ehemaligen Wassermühle. Den Namen erhielt der Ort nach Peter Friedrich Damm, einem Berliner Lederfabrikanten, der die ab 1747 errichtete Mühle im Jahr 1755 kaufte. Nach einigen Bränden, unter anderem 1767 mit anschließendem Wiederaufbau 1768, und mehrmaligen Besitzerwechseln wurde das Gebäude von Adolf Friedrich Wollank 1894 erworben und bis 1896 in neubarockem Stil umgebaut und erweitert. Von 1968 bis 1978, während der Nutzung ab 1959 als Gästehaus des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, wurde das Mansarddach durch ein zusätzliches Stockwerk mit Flachdach ersetzt. Das Schloss steht leer und verfällt zusehends. Es ist samt seinen Nebengebäuden von einem verwilderten Park umgeben, der sich vom Mühlenbecker See nordöstlich um den Mühlenteich erstreckt. Die Übernahme des Geländes im Jahr 2009 durch einen neuen Pächter brachte außer einem Aufräumen des Geländes bisher keine baulichen Veränderungen am Schloss und den Nebengebäuden. Straßendorf Schönwalde Die ursprüngliche Kolonistensiedlung des 18. Jahrhunderts an der Hauptstraße mit teils Gründerzeitfassaden wurde Ende der 1990er Jahre unter Flächendenkmalschutz gestellt. Der inzwischen wieder aufgehobene Denkmalbereich umfasste die beidseitig der Straße in strenger geradliniger Flucht stehenden 120 Häuser sowie den achteckigen Platz in der Dorfmitte mit den darauf befindlichen Gebäuden der Kirche und des Feuerwehrhauses. Angelegt in etwa Nord-Süd-Ausrichtung hat der Bereich der Hauptstraße ungefähr eine Länge von 1.200 Metern. Viele der Häuser sind Bauten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wobei die zu ihrer Bauzeit üblichen reich verzierten Stuckfassaden teilweise entfernt wurden. Von den typischen Lehmbauten der Gründungszeit des Dorfes haben sich nur wenige erhalten. Im Jahr 2008 wurde das „Eingetragene Denkmal mit Gebietscharakter“ des Straßendorfes Schönwalde (Grundstücke 1–61 und 66–128) durch das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und das Archäologische Landesmuseum von der Denkmalliste des Landes Brandenburg gelöscht. Als Begründung wurde angegeben, dass wegen gravierender baulicher Veränderungen der letzten 15 Jahre kein öffentliches Interesse mehr an der Erhaltung des Denkmalensembles besteht. Es sei jedoch mit der Eintragung von weiteren Einzeldenkmalen innerhalb des nun nicht mehr geschützten Gebietes zu rechnen. Vereine und regelmäßige Veranstaltungen Der 1995 gegründete Sportverein des Ortes, der Sportverein Schönwalde im Barnim e. V., bot zunächst die Sparte Tischtennis an, gespielt in dafür hergerichteten Räumen des abgerissenen alten Schulgebäudes. Seit der Nutzung der neuen Sporthalle auf demselben Gelände in der Straße Alte Schule kamen Badminton, Basketball, Hallenfußball, Gymnastik, Hallenhockey, Ju-Jutsu und Volleyball hinzu. Einen eigenen Sportplatz besitzt der Ort nicht. Der in der Hauptstraße 47 ansässige gemeinnützige Verein Schönwalder Bürger e. V. (Tradition und Entwicklung) wurde im Januar 2004 gegründet und beschäftigt sich mit der Fortschreibung der Chronik des Ortes, der Erstellung von Projekten einschließlich Ausstellungen und Vorträgen zur Ortsgeschichte und bietet historische Ortsrundgänge an. Abgeschlossene Projekte sind z. B. „Schönwalde – ein Spinnerdorf im Wandel“ und „Dammsmühle – Mühle, Herrenhaus, Schloss“. In Vorbereitung befindet sich das Projekt „Historie des Altenhofes“ zur Siedlungsgeschichte der näheren Umgebung vor der Gründung Schönwaldes. Das Vereinsregister des Ortsteils umfasst mit den oben genannten Organisationen insgesamt 12 Vereine (Stand Ende 2009). Dazu gehören vor allem noch der Demokratische Frauenbund, der Feuerwehrverein, der Gemischte Chor Schönwalde, die Schönwalder Schützengilde, die Jagdgenossenschaft Schönwalde und der Förderverein Dorfkirche Schönwalde. Das Schönwalder Sommerfest ist ein jährlich stattfindendes mehrtägiges Fest in den Monaten Juni, Juli oder August. Wirtschaft und Infrastruktur Verkehr Schönwalde verfügt über einen Haltepunkt der Bahnstrecke Berlin-Karow–Fichtengrund an der Linie RB 27 und einen Bahnhof der nur noch zu besonderen Anlässen betriebenen Strecke der sogenannten Heidekrautbahn Richtung Berlin-Wilhelmsruh. Es besteht eine Direktverbindung der RB 27 Richtung Süden nach Berlin-Karow. In Richtung Norden führt die Strecke nach Groß Schönebeck in der Schorfheide und Wensickendorf beziehungsweise Schmachtenhagen. Eigentümerin und Betreiberin der Strecke ist die Niederbarnimer Eisenbahn AG. Durch Schönwalde führen zwei Buslinien der Barnimer Busgesellschaft. Das ist zum einen die Linie 891, ausgehend vom S-Bahnhof in Zepernick, zum anderen die nur an Schultagen betriebene Linie 902. Der Ort liegt an der Bundesstraße 109 zwischen Schönerlinde und Basdorf, in Schönwalde als Hauptstraße benannt. Auf Höhe der Kirche wird die Bundesstraße durch die Landesstraße 30 von Bernau (Ortsteil Schönow) in Richtung Mühlenbeck gekreuzt. Die L 30 ist in Schönwalde mit den Straßennamen Bernauer Damm und Mühlenbecker Chaussee bezeichnet. Öffentliche Einrichtungen Freiwillige Feuerwehr Schönwalde Vor der Gründung der Schönwalder Freiwilligen Feuerwehr im Jahre 1904 bestand eine alle Bürger des Dorfes verpflichtende Feuerbereitschaft. Das 1906 in der Dorfmitte errichtete Feuerwehrdepot bekam in den 1930er Jahren einen Steigeturm an der Westseite und 1997/98 einen daran anschließenden Anbau zur Unterbringung größerer Fahrzeuge. Die ersten Frauen, vier Kameradinnen, wurden 1964 aufgenommen. Ebenfalls 1964 entstand eine Arbeitsgemeinschaft Brandschutzhelfer für Kinder und Jugendliche, die 1990 aufgelöst und im März 1991 zur heutigen Jugendfeuerwehr umgebildet wurde. Der Freiwilligen Feuerwehr Schönwalde gehören 28 aktive Kameraden im operativen Dienst an, 20 Mitglieder der Jugendfeuerwehr und die Kameraden der Alters- und Ehrenabteilung sowie die Mitgliedern des Feuerwehrfördervereins. Der Feuerwehr stehen in ihrem Feuerwehrhaus drei Fahrzeuge zur Verfügung, ein Tanklöschfahrzeug (TLF 16/25) vom Typ Mercedes Atego, ein Löschgruppenfahrzeug (LF 8/6) vom Typ Mercedes Atego und ein Mannschaftstransportfahrzeug (MTF) VW T6. Ergänzt wird der Fuhrpark durch ein Rettungsboot (RTB mit 25 PS Motor). Bibliothek Schönwalde Die Bibliothek wurde im Oktober 1952 mit einem Umfang von 188 Büchern als Gemeindebibliothek von Schönwalde eröffnet. In den Jahren 1988 bis 1989 war sie zeitweise geschlossen. Sie gehört als einer von vier Standorten zur Gemeindebibliothek Wandlitz. Im Bestand der Ortsteilbibliothek Schönwalde befinden sich etwa 5500 Bücher, Zeitschriften, DVDs, CDs und CD-ROMs. Angeboten werden auch Lesungen für Erwachsene und Kinder. Die Bibliothek befindet sich im Haus der Ortsteilverwaltung, in der Straße Alte Schule 5. Kindertagesstätte Traumland Der Kindergarten von Schönwalde wurde Anfang der 1950er Jahre eröffnet. Er befand sich in der Hauptstraße, bis im Juli 2003 die Räumlichkeiten eines als Gemeindezentrum neu errichteten Gebäudes am Standort Alte Schule 5 bezogen werden konnten. Im Untergeschoss des Hauses der Ortsteilverwaltung nutzt die Kindertagesstätte vier große und einen kleineren Raum, einschließlich eines Kreativraumes und einer Wissensecke. Die nebenstehende Sporthalle wird vormittags kostenfrei mit genutzt. Die Kita bietet Platz für 82 Kinder, sie ist voll ausgelastet. Träger der Kindertagesstätte ist die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bernau, Soziale Dienste 'Am Weinberg' gGmbH. Am 29. November 2007 erhielt die Kita Traumland für das Projekt „Kinder lernen leben“ den Gesundheitsförderpreis 2007 „Emmi – Eltern machen mit“ (1. Preis bei 11 Bewerbungen), ausgelobt vom Gesundheits- und Bildungsressort des Landes Brandenburg. Neues Gemeindezentrum Im Sommer 2020 konnten die Einwohner und ihre Gäste die Einweihung eines neuen Gemeindezentrums feiern: Das einige Jahre bereits nicht mehr genutzte Marktgebäude wurde komplett umgebaut und erneuert. Es erhielt die amtliche Bezeichnung Gemeindezentrum SW 38, in dem sich jetzt das Bürgerbüro der Ortsvorsteherin, die Ortsbibliothek und Veranstaltungsräume befinden. Bildung Mit der Gründung von Schönwalde wurde eine Schule eingerichtet. Das Schulmeister- und Küsterhaus stand unweit der Kirche am südöstlichen Rand des achteckigen Dorfplatzes. Die zunächst einklassige Schule wurde durch Schülerzuwachs im Jahre 1847 zweiklassig, 1863 mit 138 Schülern dreiklassig. Der Unterricht fand jahrgangsübergreifend statt. Im Jahre 1939 wurde die bis dahin evangelische, mittlerweile vierklassige Volksschule in eine konfessionsungebundene Gemeinschaftsschule umgewandelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte eine Trennung der einzelnen Altersstufen und eder Unterricht fand im Ort zum achten, ab 1958/59 bis zum zehnten Schuljahr statt. Ab dem Schuljahr 1964/65 diente die ehemalige DSF-Schule in der Waldsiedlung (hinter den Bahnlinien Richtung Dammsmühle) als Unterrichtsort für das fünfte bis zehnte Schuljahr. Ab 1972 erteilten die Schulen in Schönwalde nur noch Unterricht bis zur achten Klasse. Die Schüler der neunten und zehnten Klassen gingen ab dahin im Nachbardorf Basdorf zur Schule. Für Abiturienten bestand schon seit den 1950er Jahren die Möglichkeit, die Hochschulreife nach zwölf Schuljahren in der Oberschule Wandlitz zu erlangen. Anfang der 1970er Jahre ließ die Gemeindeverwaltung die alte Schule am Dorfplatz schließen und zu einer Einkaufsstätte umbauen. 1977 wurde die Schönwalder Schule in der Waldsiedlung der Basdorfer Schule angegliedert und in dem Gebäude nur noch bis zum vierten Schuljahr unterrichtet. Nach der Wende blieb es kurzzeitig bei der Weiterführung der Schönwalder Schule. Ab 1991, als Filiale der Grundschule Basdorf mit erweitertem Musikunterricht durch die Musikschule Bernau, wurde die Ortsschule Mitte der 1990er Jahre geschlossen. Die Schulpflichtigen von Schönwalde nutzen die Schulen der Gemeinde Wandlitz in den Ortsteilen Basdorf, Wandlitz und Klosterfelde. In Wandlitz kann am dortigen Gymnasium die Hochschulreife erworben werden. Die Schul-Situation im Ortsteil soll sich aber nach dem Willen der Gemeindeverwaltung durch einen Neubau wieder verbessern: Am 31. August 2020 beschloss der Hauptausschuss die Leistungsvergabe zur Verkehrsuntersuchung für einen Bebauungsplan Grundschule Schönwalde – Bernauer Damm. Die Schule soll eine Mensa, eine Sporthalle, Außensportanlagen und einen Hort erhalten. Die Fertigstellung ist zum Schuljahr 2024/25 vorgesehen. Persönlichkeiten Söhne und Töchter des Ortes Maximilian Böttcher (1872–1950), Schriftsteller Persönlichkeiten, die vor Ort leben oder gewirkt haben Erich Kloss (1889–1964), Schriftsteller, Lehrer von 1909 bis 1913 und Schulleiter von 1945 bis 1950 an der Grundschule Schönwalde Sascha Gluth (* 1970 in Karlsburg), Schauspieler, wohnt in Schönwalde Julia Horvath (* 1974 in Salzburg), Schauspielerin, wohnt in Schönwalde Literatur Ino Weber: Schönwalde und Schloss Dammsmühle. Historie, Freizeittipps und tolle Wandertouren. 2018, ISBN 978-3-7460-9199-0. Weblinks Schönwalde auf der Website der Gemeinde Wandlitz Infoseite. Schönwalde, Gemeinde Wandlitz Einzelnachweise Ort im Landkreis Barnim Ehemalige Gemeinde (Landkreis Barnim) Geographie (Wandlitz) Gegründet 1753 Gemeindeauflösung 2003
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https://de.wikipedia.org/wiki/Francesco%20Datini
Francesco Datini
Francesco Datini oder Francesco di Marco Datini (* um 1335 in Prato; † 16. August 1410 ebenda) war ein toskanischer Fernhändler, Bankier, Tuchproduzent und Spekulant. Die von ihm gegründete und über Jahrzehnte ausgebaute Gesellschaft agierte vor allem im westlichen Mittelmeer, aber auch in England, Flandern und auf der Krim, und führte in einer Art Holding zahlreiche weitere Gesellschaften. Diese Struktur bevorzugten vor allem die toskanischen Großhändler, aber nur wenige wagten sich auf das Gebiet der Banken oder gar der Spekulation auf Wechsel. Berühmt wurde Datini zum einen durch eine bis heute bestehende Stiftung für die Armen seiner Geburtsstadt Prato, zum anderen dadurch, dass ein großer Teil seiner Korrespondenz erhalten geblieben ist – insgesamt über 150.000 Schreiben, davon allein 11.000 Privatbriefe. Sie ist die Basis für eines der bedeutendsten wissenschaftlichen Institute zur Wirtschaftsgeschichte des Spätmittelalters – und sie ermöglicht tiefe Einblicke in den Alltag. Datini wurde von Johannes Fried (2009) als „vielleicht der berühmteste mittelalterliche Kaufmann“ bezeichnet. Leben Francesco di Marco Datini wurde 1335 als eines der vier Kinder des Schankwirts Marco di Datino und der Monna Vermiglia im toskanischen Prato geboren. Über die Eltern ist wenig bekannt. Sie hatten vier Kinder, lebten in der Nachbarschaft Porta Fuia und besaßen etwas Land in der Nähe von Prato, das seit mindestens 1218 in Familienbesitz war. Mindestens einmal verkaufte der Vater zusammen mit seinem Sohn Francesco Fleisch auf dem Markt von Prato. Kaum 13-jährig machte ihn die Große Pest zur Vollwaise. Darüber hinaus starben zwei seiner drei Geschwister an der Pest; ihre Namen waren Nofri und Vanna. Francesco selbst hatte schon ein Testament aufsetzen lassen, das vom 1. Juni 1348 datiert. Zahlreichen Prateser Kirchen wollte er darin kleine Beträge zur Lesung von Messen für seine Seele überlassen, darunter San Piero in seiner Geburtsgemeinde Porta Fuia. Er selbst wollte in San Francesco in Prato beigesetzt werden. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Stefano, der ebenfalls überlebt hatte, wurde er zunächst für dreizehn Monate bei einer Verwandten aufgenommen. Sie kamen unter die Vormundschaft des Piero di Giunta del Rosso, eines Tuchmachers und -färbers. Die eigentliche, in der Erinnerung Francescos liebevolle Aufnahme fanden die Brüder bei Piera di Pratese Boschetti. Dann ging er als Lehrling ins benachbarte Florenz, wo Francesco in zwei Läden arbeitete. Die Lehre bestand üblicherweise darin, dass die Jungen zunächst in den Verkauf und die interne Organisation des Ladens eingeführt wurden. Eine spezifische Organisation der Lehre, wie sie später entwickelt wurde, gab es noch nicht. Avignon Schon als 15-Jähriger ging Datini nach Avignon, wo er zunächst als Botenjunge arbeitete. Bald leitete er als Faktor eine Filiale seines Ziehvaters. Damit war er, anders als die Lehrlinge, an den Gewinnen beteiligt. Datini war, wie die meisten Händler, nicht an ein bestimmtes Gewerbe gebunden. Er machte in Avignon mit Luxuswaren und Waffen gute Geschäfte, bei deren Abwicklung ihm die Anwesenheit einer großen florentinischen Händlerkolonie sehr zustattenkam, die sowohl über Kontakte zum päpstlichen Hof als auch zu weltlichen Potentaten verfügte. Darüber hinaus verfügte sie über Beziehungen zu den Waffenfabrikanten, die beispielsweise um Mailand herum ansässig waren. Daher tauchen in den Quellen Kettenhemden, Handschuhe, Helme ebenso auf wie Armbrustbolzen. 1353 holte er seinen jüngeren Bruder Stefano nach, wobei er das 138 Lire umfassende Erbe seines Vaters antrat. 1354 erwarb Piero di Giunta für seinen Ziehsohn ein kleines Häuschen in Prato. Über die nächsten Jahre ist praktisch nichts bekannt, außer, dass Datini sich ab April 1359 für wenige Monate in Prato aufhielt, bevor er am 15. Juli nach Avignon zurückkehrte. Ab 1361 war er, zusammen mit Niccolò di Bernardo, einem Neffen seiner Ziehmutter und einem weiteren Toskaner, im Waffengeschäft zwischen Mailand und Avignon tätig. 1363 bis 1367 gehörte er als Partner zu dessen Unternehmen, doch wenige Jahre nach 1363 mietete er zusammen mit seinem Partner eine erste bottega, womit die beiden einen eigenen Laden besaßen. Für die Übernahme des Warenbestandes zahlten sie dem Vormieter Giovanni di Lotta 900 Florin, darüber hinaus als eine Art Ablösesumme weitere 300. Fünf Jahre später war er bereits zum Sozius in verschiedenen Handelskompanien aufgestiegen. So gründete er im Oktober 1367 mit dem Florentiner Toro di Berto eine Gesellschaft, die bis 1373 bestand – und die besonders dann florierte, wenn der Papst in Avignon war. Diese Datini-di-Berto-Gesellschaft ist die erste Gesellschaft des Mittelalters, deren Buchhaltung fast vollständig erhalten geblieben ist. 1367 eröffnete Datini sein erstes eigenes Geschäft in der Loge des Cavaliers an der Ecke Rue la Mirallerie und la Lancerie (heute Rue du Puits-des-Bœufs und Place de l’Horloge). Im Haus befand sich ein Warenlager und ein Verkaufsladen, ein Wechseltisch sowie eine Taverne. Damit war seine Gesellschaft eine der ersten, die von einer päpstlichen Bulle vom 18. März 1368 profitierten, die ausländischen Stoffhändlern die Ansiedlung an den Ufern der Sorgue und der Durance erlaubte. Die zunächst auf drei Jahre geschlossene Gesellschaft wurde 1370 verlängert. Allerdings war Datini hierin der schwächere Partner, denn von den 2.500 Florin, die beide Partner einbrachten, musste er sich die Hälfte von Tuccio Lambertucci borgen, mit dem er schon früher zusammengearbeitet hatte. Lambertucci wurde damit zum stillen Teilhaber. Zudem waren die ersten drei Jahre bis 1370 eine durchaus schwierige Phase, da sich Papst Urban V. nicht in Avignon, sondern in Rom aufhielt. Damit halbierten sich die Gewinne der Gesellschaft und sie stiegen erst mit der Rückkehr des Papstes wieder an. Im März 1373 übernahm Datini die Leitung einer eigenen Firma, die ohne das Kapital anderer auskam. 1374 konnte er ein zweites Haus erwerben, eine bella chasa et boteglia. Ab 1376 wurde die Situation der über tausendköpfigen italienischen Händlerkolonie in Avignon äußerst schwierig. Das hing mit der Absicht des dort residierenden Papstes zusammen, nach Rom zurückzukehren, was bald zu Konflikten in Italien führte, in die auch Florenz verstrickt wurde. Obwohl sich die Florentiner Kolonie in Avignon bis 1381 auflöste, zögerte Datini angesichts des Krieges, nach Prato zurückzukehren. Dieser Krieg kostete die Florentiner allein zwei Millionen Florin und brachte ihnen den päpstlichen Bann ein – eine Katastrophe für den Handel der Stadt, der damit fast lahmgelegt wurde. Nur zwei Tage nach dem teuer erkauften Friedensschluss brach am 24. Juni 1378 ein Aufstand der von Kriegsabgaben überforderten unteren Volksschichten los. Bis zum 31. August herrschten die Ciompi, die Wollkämmer; sie forderten zusammen mit anderen Handwerkern der Tuchindustrie zu einem Viertel die Beteiligung an der Regierung und die Bildung neuer Zünfte. Als keine unmittelbare Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erreicht wurde, die Tuchproduktion sich nicht, wie erhofft, erhöhen ließ und die Bewegung auseinanderfiel, brach der Aufstand zusammen. Datini, der 1376 Mona Margherita di Domenico Bandini geheiratet hatte, eine 19-jährige Florentinerin aus niederem Adel, konnte nicht unberührt von diesen Vorgängen bleiben. Ihr Vater, Domenico Bandini, war schließlich 1360 als Aufstandsführer in einer früheren Erhebung hingerichtet worden. Auch dies dürfte die Rückkehr der Datini verzögert haben. Noch 1382, kurz vor seiner Rückkehr nach Prato, gründete Datini eine bis 1400 bestehende Handelskompanie in Avignon und übernahm deren Leitung. Als Partner nahm er Boninsegna di Matteo und Tieri di Benci auf. Gewinn und Verlust wurden in diesen Gesellschaften entsprechend der Einlage von Geldanteilen und der geleisteten Arbeit aufgeteilt. Die Dauerhaftigkeit dieses und anderer Zusammenschlüsse sollte kennzeichnend für seine Geschäftstätigkeit werden, wie im Übrigen für die toskanischen Gesellschaften insgesamt. Prato Im zu Florenz gehörenden Prato, wohin der inzwischen wohlhabende Mann nach einer 33-tägigen Reise im Januar 1383 zurückkehrte, wurde er Mitglied der Compagnia dell’ Arte della Lana, der Wollweberzunft. Erst mit dieser Mitgliedschaft durfte er einem entsprechenden Gewerbe nachgehen und konnte zugleich seine Interessen in der Stadtregierung vertreten. Dort saß er, wenn auch eher widerwillig, weil er es vorzog, seine Zeit für seine Geschäfte zu verwenden, im Stadtrat und wurde darüber hinaus Gonfaloniere della Giustizia. Im Rahmen seiner zahlreichen Tätigkeiten entwickelten sich Freundes- und Geschäftskontakte zu Lapo Mazzei (die umfangreiche Korrespondenz zwischen den befreundeten Männern publizierte Cesare Guasti) und Guido del Palagio, bald aber auch zu den bedeutendsten Florentiner Familien, wie den Medici, den Tornabuoni, den Pazzi, den Guicciardini, den Alberti und den Paciti. Seine Korrespondenz mit seinen toskanischen Faktoren weitete sich stark aus, wie etwa nach Siena. Zusammen mit seinem ehemaligen Vormund, dem Tuchweber Piero di Giunta und einem entfernten Verwandten, stieg er als Gesellschafter in zwei Fernhandelsfirmen in Pisa (spätestens im Januar 1383) und Florenz ein. Die eine stellte eine Familienhandelsfirma dar, die andere eine Alleininhaberfirma. 1384 erfolgte die Gründung einer bescheidenen Kompanie für Wolle in Prato, zusammen mit Piero di Giunta del Rosso, einem Färbermeister, mit dem er schon seit langem verbunden war, und seinem Sohn Niccolò, innerhalb der Arte della Tinta, der Färberzunft. 1394, beim Tod Pieros, nahm er Agnolo, den Sohn Niccolòs, als Partner auf. Diese Verbindung von Verwandtschaft und Teilhaberschaft unter persönlicher Mitarbeit blieb typisch für Datinis Handelsorganisationen, die im Ausland, insbesondere in England, unveredeltes Wolltuch einkauften, um es in Prato veredeln zu lassen. Zu dieser Kompanie kam bald eine Firma für Schleierstoffe. Um seiner Stellung in der Stadt angemessenen Ausdruck zu verleihen, ließen die Datini zwischen 1383 und 1399 zwischen der Via Rinaldesca und der Via del Porcellatico einen Stadtpalast errichten. Berühmte Maler der Zeit, wie Niccolò di Piero Gerini (um 1340–1414/15), Agnolo di Taddeo Gaddi und Bartolomeo di Bertozzo, schmückten ihn aus. Vor dem Haus befand sich ein Garten mit Rosen und Violen. Vor dem heutigen Eingang befand sich ein weiteres Gebäude, so dass der damalige Besitz den heutigen Palast hinsichtlich der Ausdehnung noch bei weitem übertraf. Piero di Giunta del Rosso hatte das Grundstück bereits 1354 erworben. Das erste, noch sehr bescheidene Gebäude kostete nur 63 lire, 6 soldi. Nach und nach kaufte man weitere angrenzende Gebäude hinzu. Datini kalkulierte den Gesamtaufwand 1399 mit etwa 6000 Florin. Florenz Da sein Geschäftsrahmen längst das kleine Prato sprengte, dessen Bevölkerungszahl zudem vom Anfang des 14. Jahrhunderts bis zum ersten Viertel des nachfolgenden von 26.000 auf 8.000 schrumpfte, zog Datini nach Florenz um. Dort gründete er mit Stoldo di Lorenzo und einem weiteren Gesellschafter eine Kompanie, 1388 eine weitere mit Domenico di Cambio, die bis zu seinem Tod fortbestand. Im selben Jahr wurde er Mitglied in der Seidenmachergilde. Innerhalb der Stadt, in der er ab 1394 fast durchgängig wohnte, zog er mehrfach um. So wohnte er zunächst am Ponte alla Carraia, dann in Porta Rossa und in Por Santa Maria, schließlich in der Via Santa Cecilia und an der Piazza Tornaquinci. Darüber hinaus reiste er rastlos zwischen den für sein Handelsimperium wichtigsten Städten in Italien. Hinzu kam, dass ihn mehrfach Ausbrüche der Pest zwangen, die Stadt zu verlassen. So floh er mitsamt seinem Hausstand 1390 nach Pistoia, wo er bis zum 17. Mai 1391 blieb. 1392 beteiligte sich die Florentiner Kompanie an einer Genueser Firma, in der die drei örtlichen Gesellschafter zu Leitern wurden: „Francesco di Marco, Andrea di Bonanno & Co“. Zugleich machte Datini aus seiner Pisaner Firma eine Kompanie, in der die Florentiner Kompanie ebenfalls die meisten Anteile besaß. Diese Pisaner Kompanie konnte wiederum ihr Kapital anderen Unternehmen zur Verfügung stellen: ein weiterer Schritt zu engerer Verflechtung. Im folgenden Jahr gründete die Genueser Firma Zweigniederlassungen in Barcelona, Valencia und auf Mallorca. Luca del Sera – er sollte zu Datinis Testamentsvollstreckern zählen – ging nun nach Barcelona. 1394 erfolgte die Gründung dreier weiterer Firmen in Barcelona, Valencia und auf Mallorca, mit Agenturen auf Ibiza und in San Matteo, einem Dorf in Katalonien. Mallorca erwarb in Venedig Kupfer, das ab 1398 über jüdische Mittelsmänner südwärts über Honein (wohin sie ab 1391 von Mallorca geflohen waren) bis in den Tuat im südlichen Algerien gehandelt wurde, von dem Datini Kenntnis erhielt. Dieser Handel wurde bis September 1410 fortgesetzt, also über Datinis Tod hinaus, wenn es auch 1407/08 zu einem schweren Einbruch kam, als eine der Karawanen – sie konnten 8000 bis 12.000 Kamele umfassen – ausgeraubt wurde. Während San Matteo zum wichtigen Wollsammelpunkt wurde, war Ibiza für sein Salz berühmt. Die dortige Filiale wurde von Florentinern geleitet. Überhaupt umgab sich Datini fast nur mit Toskanern, möglichst aus den ihm bekannten Städten, besser noch aus der näheren und weiteren Verwandtschaft. 1395 wurde Datini Mitglied in der Florentiner Färberzunft. Ein Jahr später wandelte er die katalanische Firma in die Katalanische Handelskompanie mit Sitz in Barcelona bzw. Valencia um. Die Florentiner Firma war dabei wieder mehrheitlich am Kapital beteiligt, ihre drei Gesellschafter leiteten wiederum die drei Teilunternehmen. Daneben bestand dort seine Alleininhaberfirma weiter, die eine leitende Rolle in seinem Firmensystem übernahm. Eine solche Verflechtung von Einlageanteilen sollte typisch für Datinis Gesellschaft werden, deren Fäden in Florenz zusammenliefen. Die einzelnen Kompanien waren einzig und allein durch seine Person untereinander verbunden, bzw. durch sein Kapital, das ihm die Entscheidungsgewalt gab. Dabei kamen Kontakte in die einflussreichsten Florentiner Kreise seinen Geschäften zugute. Auf dem Höhepunkt seiner Firma arbeitete Datini 1398 mit einem investierten Kapital von 45.500 Florin. 1399 musste Datini abermals vor der Pest nach Bologna fliehen, wo er bis 1401 blieb. Dort konnte er die weiträumigen Kontakte von Männern nutzen, die ebenfalls dorthin geflohen waren, wie Filippo Tornabuoni, Piero Bonciani und Antonio di Niccolò da Uzzano, Bartolomeo Balbani aus Lucca oder Giovanni di Feo Bracci aus Arezzo. Margherita Datinis Frau, Margherita († 1423), wurde 1357 als jüngstes der sieben Kinder des Domenico Bandini geboren, dessen Besitz in Florenz 1358 infolge politischer Kämpfe konfisziert worden war. Sie heiratete den zu dieser Zeit etwa vierzigjährigen Francesco im Alter von 19, nach anderen Angaben von 16 Jahren in Avignon, ohne dass sie eine Mitgift in die Ehe hatte einbringen können. Die Ehe blieb kinderlos. 1380 schrieb Monte Angiolini an Datini, dass diese Tatsache nach vier Jahren eine große Belastung darstellte, am 21. Juni 1381 entschuldigte er sich bei Margherita für seine Einmischung. Die Distanz zwischen den Eheleuten nahm deutlich zu, eine der Ursachen, warum es zu einer umfangreichen Korrespondenz zwischen den beiden kam. Mit Francesco ging sie 1383 nach Prato, wechselte hin und wieder nach Florenz, als Francesco seine Geschäfte dorthin verlagerte. Von dort erreichten sie allein 132 der erhaltenen 182 Briefe ihres Mannes – weitere 44 erreichten sie aus Prato und 6 aus Pisa. Margherita lebte zunehmend in Prato und sorgte für den Ausbau des Hauses und der Ländereien, sowie für die Tagesabläufe in ihrem riesigen Haushalt. Bei ihrem Briefwechsel wurden zahlreiche Grundsätze des kaufmännischen Briefwechsels beherzigt, wie beispielsweise die Angabe des Ausstellungsdatums, des beauftragten Boten, des Bezugs auf den letzten Brief, auch der stundengenaue Termin der Annahme oder der Vermerk „beantwortet am...“. Daher ist bekannt, dass mindestens 61 Briefe Francescos und 24 Briefe Margheritas verloren gegangen sind, von denen wir insgesamt 248 kennen. Zeitliche Lücken entstanden vor allem dadurch, dass die beiden zusammen in einem Haus wohnten, wie 1393, als sie vor der Pest nach Pistoia flohen, oder 1400–1401, als sie aus demselben Grund nach Bologna gingen. Die meisten Briefe stammen aus den Jahren 1394–1395 und 1397–1399, einer Phase, in der bis zu drei Briefe am Tag geschrieben wurden. Datini diktierte gelegentlich seine Briefe, ließ sie sogar manchmal in seinem Sinne schreiben, Margherita musste sie diktieren, da sie zunächst nicht schreiben konnte. Außerdem verweisen beide, wenn es zu persönlich wurde, darauf, dass der Rest „a bocca“, also mündlich, besprochen werden sollte, zum anderen sprechen sich die beiden mit „tu“, also „Du“ an, wenn sie selbst diktiert, bzw. geschrieben haben. Von den 182 Briefen Francescos hat er nur 48 erkennbar mit eigener Hand geschrieben. Die übrigen Briefe stammen von 18 verschiedenen Händen (insgesamt hat Datini rund 7.000 Briefe geschrieben). Dabei erteilte Datini zahllose Aufträge, tadelte sie und erteilte ihr Anweisungen, diskutierte mit Margherita Projekte – und dennoch wuchs ihr nach und nach die Rolle einer Vertrauten und Beraterin zu. Dies war keineswegs selbstverständlich, denn Datini hatte 1387 einen illegitimen Sohn namens Francesco von seiner Sklavin Ghirigora, ein Kind, das bereits 1388 starb. Wohl schon um 1375 hatte er einen Sohn gezeugt, der aber ebenfalls früh starb, wohl schon nach vier Monaten. Ghirigora wurde eilig, noch während der Schwangerschaft, verheiratet. Margherita war empört, fühlte sich gedemütigt. 1392 wurde darüber hinaus Ginevra geboren, ebenfalls Tochter einer Sklavin. Margheritas Schwester Francesca, die selbst mehrfache Mutter war, empfahl ihr sogar 1393 den Besuch eines Scharlatans, um doch noch ein Kind bekommen zu können. Gleichzeitig litt Margherita offenbar unter sehr starken Blutungen und Regelschmerzen. Margherita akzeptierte das Kind jedoch nach anfänglicher Ablehnung und kümmerte sich bald liebevoll um Ginevra. So sorgte sie für die Auswahl einer Amme, die Ausstattung, Erziehung und Ausbildung, was sich z. B. auf die Beschaffung geeigneter Spielsachen und Musikinstrumente erstreckte. Sie nahm sie beinahe als eigene Tochter an. Die Mutter, Lucia, wurde befreit, und Datini verheiratete sie an einen seiner Mitarbeiter. Sie lebte weiterhin im Haushalt der Margherita und die beiden freundeten sich sogar an. Ginevra wurde am 24. November 1407 ebenfalls an einen Mitarbeiter namens Lionardo, Sohn des Ser Tommaso verheiratet, ihre Spur verliert sich im Laufe der 1420er Jahre. Margherita kümmerte sich zudem um 1398 um eine ansonsten unbekannte Tochter „Chaterina“ des offenbar schwer kranken, aber im einzigen das Kind erwähnenden Brief nicht genannten Vaters. Margherita verbrachte nach dem Tod ihres Mannes viel Zeit bei Ginevra und ihrem Mann Lionardo in Florenz. Francesco, der seine Frau ständig zu kontrollieren und zu dirigieren versuchte – was einen erheblichen Teil der Korrespondenz ausmacht –, unterschätzte lange Zeit seine Frau, die über Jahrzehnte eine riesige Baustelle und eine große Familie führte, und zahlreiche Gäste empfing und bewirtete, z. B. Francesco Gonzaga. Auch ihre Nichten kamen ins Haus und wohnten dort immer wieder über längere Zeit, wie Tina, um deren Ausbildung sich Margherita kümmerte – und sie sollte lesen lernen. Zwar konnte Margherita nur einfache Briefe lesen, aber sie war in der Lage, sehr komplizierte Sachverhalte darzustellen und zu diktieren – eine Fähigkeit, die Francesco erst ab 1386 anerkannte. Margherita selbst versuchte sich im Schreiben – ein erster Brief in unsicherer Schrift stammt von 1387 – und 1396 staunte Ser Lapo Mazzei über ihre Fortschritte. Ab 1399 brachte sie seinem Sohn das Schreiben bei. In diesem Jahr schrieb sie auch die Briefe an Francesco überwiegend selbst. Als sei dies zum Beweis ihrer Fertigkeit genug, schrieb sie von da an nur noch einen einzigen Brief mit eigener Hand. Um diese Zeit lebten Francesco und Margherita noch distanzierter als bisher. Als Francesca, Margheritas Schwester, 1401 verstarb, drängten Francescos Freunde ihn, seiner Frau wenigstens Trost zu spenden. Bankgründung und Spekulation 1399 ging Francesco Datini erneut nach Florenz und wagte sich dort an die Gründung einer Bank, zusammen mit einem Prateser. Solche Bankhäuser hatten zwar mit den einfachen Pfandleihern, den Lombardi, nur noch wenig gemein, aber auch sie verliehen Geld und gerieten damit in Verdacht, Wucher zu betreiben. Datinis Gesellschafter Domenico di Cambio meinte: „Francesco di Marco will seinen Ruf verlieren ... um Geldwechsler zu werden, unter denen doch keiner ist, der nicht Wucher treibt“. Datini wurde am 4. März 1399 Mitglied in der Arte del Cambio, der Wechslerzunft. Dennoch vermied er es, sich in Kreditgeschäfte mit großen kirchlichen und weltlichen Herren hineinziehen zu lassen. In seiner Kindheit waren dadurch viel größere Banken zusammengebrochen, wie die der Florentiner Bankhäuser der Bardi und Peruzzi. Doch Datini war längst – in den Augen der Zeitgenossen – auf viel rufschädigenderes Terrain vorgestoßen. Er hatte Spekulationsgeschäfte begonnen, bei denen er mittels Wechseln (insgesamt 5000) auf Kursschwankungen verschiedener Währungen, vor allem zwischen Flandern, Barcelona und Italien setzte. Domenico di Cambio war hier der Ansicht, er wolle „lieber 12 % an Warengeschäften verdienen, als 18 % an Wechselgeschäften“. Der Aufstieg wurde im Jahre 1400 durch eine Katastrophe beinahe zunichtegemacht. Bei einer weiteren Pestwelle starben fast alle seine Gesellschafter, so dass er seine Firmen in Pisa und Genua schließen musste. Auch die Bank in Florenz wurde geschlossen und die Produktion von Wolle und Seidentüchern in Prato eingestellt. Als Datini nach einem Jahr aus Bologna zurückkehrte, wohin er wegen der Pest geflohen war, klagte er am 20. September 1401 über den Verlust seiner besten Mitarbeiter, wie den Bankspezialisten Bartolomeo Cambioni, Niccolò di Piero, der sich auf die Produktionstechniken verstand, Manno d’Albizzo und Andrea di Bonanno, die die Geschäfte im Raum Pisa bzw. Genua geführt hatten. Datini entschloss sich, die Bank und die beiden Produktionsstätten sowie Pisa und Genua aufzugeben. Datini erholte sich zwar binnen weniger Jahre weitgehend von diesem schweren Schlag, dachte aber immer häufiger – dies äußerte er in Briefen an seinen Freund Ser Lapo Mazzei aus Florenz – über die Gründung einer wohltätigen Stiftung nach. Dies war insofern naheliegend, als sich die Gesellschaften verpflichtet sahen, Gott einen Anteil des Gewinns zukommen zu lassen, ja, ihm ein eigenes Konto, für „Messer Domeneddio“, einzurichten. Es stand für die Armen und wurde bei der Auflösung einer Gesellschaft als erstes ausbezahlt. Dennoch versuchte Datini seinen Geschäftsrahmen weiter auszudehnen, indem er etwa in Nordafrika mit den Hafsiden und den Mariniden von Tunesien und Marokko Geschäfte anzubahnen suchte. In den Handelsmetropolen des östlichen Mittelmeers, etwa in Venedig, hatte er schon deshalb Geschäftspartner, damit er über politische Ereignisse, über Preise, Warenqualitäten und wechselnde Handelsgebräuche, über Piraterie und all das rechtzeitig informiert war, was seine Geschäfte beeinflussen konnte. Aufstieg in die Calimala 1404, im Alter von fast 70 Jahren, gelang ihm die Aufnahme in die bedeutendste Florentiner Gilde, die Tuchveredlergilde (Arte di Calimala). Ihren Mitgliedern war der Handel mit Tüchern höchster Qualität vorbehalten. Handelskontakte verbanden ihn nun mit mehr als vierzig italienischen und mindestens zehn französischen Städten, mit Brügge und einigen anderen Orten im Reich, wie etwa Nürnberg, aber auch mit Marokko, Algerien, Tunesien und der Levante – insgesamt mit 267 Orten. Allein 1634 Briefe von 63 verschiedenen Absendern erreichten ihn z. B. aus Rom. Testament Nach Datinis Tod am 16. August 1410 wurden seine Frau Margherita – sie starb zehn Jahre später – und sein Gesellschafter Luca del Sera als Testamentsvollstrecker eingesetzt. Die beträchtliche Summe von genau abgezählten 72.039 Florin, 9 Soldi und 4 Denaren ging nach Datinis Wunsch an eine fromme Stiftung. Dazu kam Immobilienbesitz in der geschätzten Höhe von 11.245 Florin. Die Florentiner Firma sollte noch fünf Jahre weitergeführt werden, damit ihre Gewinne in die Stiftung einfließen konnten, die insgesamt über ein Vermögen von mehr als 100.000 Florin verfügte. Dass diese Summe ein beträchtliches Vermögen darstellte, verdeutlichen Preisangaben aus dieser Zeit. So kostete ein Schwein 3 Florin, ein gutes Reitpferd 16 bis 20, eine Sklavin 50 bis 60 Florin, ein Purpurgewand, wie es Datini auf einem Gemälde trug, kostete etwa 80 Florin. Datinis Frau veranlasste alles Notwendige, wie die Bestellung eines Grabsteins bei Niccolò di Piero Lamberti (um 1370–1451), der sich noch heute im Dom befindet. Sie selbst beschied sich mit einem geringen Anteil des Vermögens, der ihr aber ein auskömmliches Leben im Haus des Verstorbenen gestattete. Die Stiftung Ceppo de’ poveri – Ceppo wurde ein Stumpf genannt, in den die Kirchenbesucher ihre Spenden für die Armen warfen – feierte im Jahr 2010 ihr sechshundertjähriges Bestehen. Die Kommune Prato ernennt bis heute ein fünfköpfiges Leitungskomitee sowie vier Honoratioren, von denen jeder ein Stadtviertel repräsentiert. Diese Stiftung verwaltet seitdem nicht nur das Vermögen Datinis zugunsten der Armen Pratos, sondern auch sein Haus und seine gesamte Korrespondenz. Schon vor Datinis Gründung gab es seit 1282 einen Ceppo vecchio, den Monte Pugliesi, so dass Datinis Gründung bald Ceppo nuovo hieß. Durch die Plünderung Pratos im Jahr 1512 wurden die Institutionen mit einem Schuldenberg belastet, so dass sie 1537 geschlossen werden mussten. Die beiden Stiftungen wurden jedoch am 13. Juni 1545 von Cosimo I. de’ Medici vereinigt und nahmen ihre Funktion unter dem Namen Casa Pia de’ Ceppi wieder auf. Seitdem kümmert sie sich zum einen um die Armen der Stadt, besonders um Kinder, zum anderen fördert sie Kunst und Kunsterhaltung, besonders in der Kirche San Francesco, die Datini am Herzen lag. Dort wurden 2010 umfangreiche Restaurierungsmaßnahmen durchgeführt. Die Dokumente, die Datini hinterließ, wurden, bevor sie im 17. Jahrhundert in Säcke gepackt und unter einer Treppe eingemauert wurden, im Jahr 1560 durch Alessandro Guardini, einen Gelehrten aus Prato, ein letztes Mal gesichtet und geordnet. Datini hätte diese Stiftung vermutlich nicht eingerichtet, wenn ihn nicht sein Freund Ser Lapo Mazzei davon überzeugt hätte, dessen Denken stark von den Idealen der Franziskaner beeinflusst war. Vermutlich ist dieser Erfolg ebenso Margherita Datini zu verdanken, die auch dafür sorgte, dass sein Werk in diesem Sinne fortgeführt wurde. Außerdem ließ sie an den Außenwänden des Hauses Malereien anbringen, die das Leben des Verstorbenen ins Gedächtnis riefen. Ein Teil der Häuser diente der Stiftung noch lange Zeit als Hospiz. Schon 1399 hatte Francesco an der Wallfahrt der Bianchi (der Weißen) teilgenommen, die barfuß und nur mit weißem Leinen bekleidet von Stadt zu Stadt zogen, beteten und versuchten, die Feinde zu versöhnen. Datini war im Übrigen Besitzer eines Exemplars von Dantes Göttlicher Komödie. Dass er auf seiner Pilgerreise keineswegs darben wollte, schreibt er selbst: „Und damit wir auch alles haben, was wir zum Leben brauchen, führte ich meine zwei Pferde und das Reitmaultier mit mir; und diesen Tieren luden wir ein Paar Satteltruhen auf, in denen viele Schachteln mit allerlei Konfekt waren und eine große Menge Wachs in Form von kleinen Fackeln und Kerzen, und Käse in allen Sorten und frisches Brot und Zwieback und Brezeln, gezuckert und ungezuckert, und noch andere Dinge, die der Mensch zum Leben braucht, so daß die beiden Pferde voll beladen waren mit unseren Lebensmitteln; und außer diesen trugen sie einen großen Sack von warmen Gewändern ...“ Das Handelsimperium Sein Firmensystem erreichte 1399 seine vorläufig größte Ausdehnung. Es umfasste Handelsgesellschaften, Banken und Produktionsbetriebe insbesondere für die Weiterverarbeitung von halbfertigen Tuchprodukten. Zwar tätigte er auch Geschäfte im östlichen Mittelmeerraum, konzentrierte seine Unternehmungen aber wie viele seiner toskanischen Zeitgenossen weitgehend im westlichen. Bei dieser Entscheidung für den Westen spielte die Möglichkeit, bargeldlos Geldmittel zu bewegen, eine entscheidende Rolle. Bei all dem musste ein dichtes Nachrichtennetz über erhebliche Distanzen unterhalten werden. Datini gründete im westlichen Mittelmeerraum sowohl Alleininhaberfirmen als auch Kompanien. Dabei hatte entweder er selbst den Mehrheitsanteil am Kapital der jeweiligen Kompanie wie in Avignon, in beiden Produktionsbetrieben und in der Bank, oder aber die Kompanie in Florenz verfügte über die Kapitalmehrheit wie im Fall der Firmen in Pisa, Genua und Katalonien. Da diese Kompanien nur Teile ihres Kapitals in andere Firmen investierten und nur durch Personalunion miteinander verbunden waren, konnten sie sich nicht mehr gegenseitig in einen Bankrott hineinziehen. Datini leitete diesen Komplex in Form einer Art Holding, in der die Kompanie in Florenz, ohne selbst zu produzieren, in den von ihr geführten Unternehmen einen großen Kapitalanteil innehatte – eine Organisationsform, die die Medici des 15. Jahrhunderts voll entwickelten. Als Maggiore – so wurde Datini genannt – lenkte er persönlich das Gesamtunternehmen, repräsentiert durch sein Händlerzeichen. Mit Unterstützung der Mitarbeiter aus der Florentiner Unternehmung regierte er bis in die unbedeutendsten Personalfragen hinein, traf seine Auswahl, sorgte für Ausbildung und Kontrolle, ließ sich von jedermann berichten und gab selbst unentwegt schriftliche Anweisungen. Dabei griff er im Schnitt täglich fünfzig Mal zur Feder. Der Organisationsform nach führte Datini also zwei Unternehmen allein, nämlich in Florenz und in Prato, dazu Gemeinschaftsfirmen in Avignon, Genua, Barcelona – mit Filialen in Valencia und auf Mallorca –, in Pisa, dazu zwei Firmen in Prato und zwei in Florenz. Dabei handelte es sich um insgesamt sechs Handelsgesellschaften, von denen er eine allein führte, zwei Produktionsfirmen (Compagnia della Lana für Wolle und Compagnia della Tinta für Färberei), eine Bank, dazu das von ihm persönlich geleitete Mischunternehmen in Prato. Allein dies bedingte eine umfangreiche Korrespondenz, zu der sich in zahlreichen Orten weitere Adressaten gesellten. Federigo Melis hat 1962 dieses umfangreiche Korrespondenzwerk den rund 280 in den Briefen vermerkten Orten der Absender und Adressaten zugeordnet. Der ganz überwiegende Teil der Korrespondenz wurde in Toskanisch abgefasst, doch enthält Datinis Archiv auch 2.678 Briefe in Katalanisch, auch Latein kommt gelegentlich vor, aber nie innerhalb des Handelsimperiums, sondern nur in der externen Korrespondenz und fast ausschließlich mit norditalienischen Partnern. Auch erhielt Datini, der nach seinem langen Aufenthalt in Avignon sicherlich Provenzalisch sprach, 86 überlieferte Schreiben in dieser Sprache. In den nicht überlieferten Schreiben aus seiner Avignoneser Zeit dürften sich zahlreiche Schriftstücke in Provenzalisch befunden haben, die jedoch verloren sind. In allen Gesellschaften erledigten die Partner, vor allem aber Datini persönlich, einen Großteil der Arbeiten. Dessen ungeachtet hatte jede seiner Firmen auch noch fest angestellte Faktoren, Notare, Buchhalter oder Kassierer, Boten und Lehrlinge, die im Gegensatz zu den Compagni, den Gesellschaftern, nicht am Gewinn beteiligt waren. Im Datini-Archiv findet sich ein Vertrag mit Berto di Giovanni, einem jungen Mann aus Prato, der drei Jahre lang für Datini arbeiten, im ersten Jahr 15 Florin, im zweiten dann 20 und im dritten 25 erhalten und darüber hinaus alle Spesen ersetzt bekommen sollte. Auch existiert eine Empfangsbestätigung über den Lohn eines jungen Buchhalters, der zwölf Florin im Jahr erhielt. Aus Datinis Besitz sind rund 600 Rechnungsbücher (Libri contabili) von ganz verschiedener Art erhalten. Sie spiegeln die Geschäftspraxis jener Zeit umfassend wider. Es gab die Quadernacci di Ricordanze, die nichts weiter sind als Notizbücher, in denen täglich Einnahmen und Ausgaben so, wie sie gerade anfielen, festgehalten wurden. Dazu kamen allerlei Notizen, sogar stichwortartig die neuesten Nachrichten vom Tage. In den Memoriali wurden dann die Einträge aus den Ricordanze systematisch zusammengestellt. Die Libri grandi schließlich, die jede Gesellschaft führte, und zwar (seit 1382 in der Zentrale und seit 1397 in Avignon) in doppelter Buchführung, waren bei Francesco prachtvoll in Pergament oder in Leder gebunden, trugen seine Handelsmarke und waren fortlaufend mit den Buchstaben des Alphabets versehen. Nach damaligem Brauch war die Vorderseite des ersten Blattes fast immer mit einer religiösen Sentenz überschrieben wie: „Im Namen Gottes und der Heiligen Jungfrau Maria“ oder „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Außerdem wurden noch Ein- und Ausgangsbücher (libri d’entrata e d’uscita) geführt, auch Schuldner- und Kreditgeberbücher (libri dei debitori e creditori) genannt, in denen der Ein- und Ausgang von Bargeld eingetragen wurde, der dann wiederum in den Libri d’Entrata e d’Uscita della Cassa grande zusammengefasst wurde. In Avignon standen im Handelshaus Geldkassetten für das Bargeld, die allabendlich abgerechnet und danach in die Cassa grande entleert wurden, zu der Francesco Datini als einziger den Schlüssel besaß. Dann führte auch noch jedes einzelne Handelshaus seine Bücher, in denen Inventarlisten, Quittungen und Frachtbriefe etc. enthalten waren; die Partner und Faktoren im Ausland führten ebenfalls Buch und außerdem gab es noch Immobilienregister, Lohnlisten, dazu die zwölf Handlungsbücher des Tuchbetriebs in Prato. Schließlich führte Datini auch privat Buch und hielt in den Kontobüchern „di Francesco proprio“ seine persönlichen Ausgaben und die für seinen Haushalt fest, während er Partnerschaftsverträge, Abrechnungen, die über den jeweiligen Kapitalstand eines jeden Firmenmitglieds Aufschluss gaben, sowie Bilanzen vor allem in einem Libro segreto, einem geheimen Buch, niederlegte. Das Recht des Kaufmanns, diese Bücher öffentlicher Prüfung zu verschließen, war so fest verankert, dass ein Freund Datinis, als die Steuerbeamten der Stadtkommune von Florenz 1401 verlangten, sämtliche Bücher einzusehen, dazu schrieb: „Die finanzielle Notlage der Kommune zwingt sie, diese Schamlosigkeit zu begehen.“ Datinis Archiv Datini begann bereits ab 1364 in Avignon, seine Papiere aufzubewahren, doch die meisten Dokumente stammen aus den Jahren 1382 bis 1410, also der zweiten Hälfte seines Kaufmannslebens. Das Datini-Archiv ist mit Abstand das umfangreichste erhaltene Kaufmannsarchiv des Mittelalters. Es umfasst über 152.000 „Stücke“ in 592 Mappen, davon mehr als 125.000 Geschäftsbriefe, rund 11.000 Privatbriefe und weitere 15.802 Dokumente sonstiger Art. Allein die 574 Rechnungsbücher mitsamt der Hauptbücher bilden einen gewaltigen Fundus. Des Weiteren finden sich rund 300 Partnerschaftsverträge, meist Verträge anderer Firmen, die mit Datinis Firma in Geschäftsverbindung standen. Schließlich enthält das Archiv neben einer Vielzahl weiterer Dokumente etwa 5.000 Wechsel. Auch nach seinem Tod gelangte die fortlaufende Korrespondenz in das Archiv, erst 1422 bricht die Überlieferung ab. Alle diese Dokumente befinden sich bis heute im ehemaligen Haus des Francesco und der Margherita Datini in Prato in der Via Lapo Mazzei – ein Name, der für Datini große Bedeutung hatte, denn er war ein enger Freund und vertrauenswürdiger Berater. Das Obergeschoss befindet sich noch weitgehend im ursprünglichen Zustand. Kurz nach 1410 wurden heute stark verblasste Malereien durch die Stiftung angebracht. Die Fenster im Erdgeschoss sind erst im 17. Jahrhundert im Rahmen einer Renovierung verändert worden. Als im 17. Jahrhundert die gesamte Einrichtung aus dem Haus entfernt wurde, um das Haus zu renovieren, riss man auch die „Papiere“ Datinis aus den Schränken und deponierte sie unter einer Treppe des Hauses. Dort blieben sie bis 1870 vergessen. Wissenschaftliche Bedeutung Eigentlicher Wiederentdecker der Papiere war der Prateser Erzdiakon Don Martino Benelli, der 1870 mit Hilfe von Don Livio Livi die in Säcke eingenähten Dokumente sortierte. Zunächst wanderten die Bestände während der Restaurierung des Datini-Hauses in die Bischofsresidenz. Livi machte durch Publikationen das Archiv bekannter, indem er etwa 1903 in der Fachzeitschrift Archivio Storico Italiano veröffentlichte. Zum 500. Todestag im Jahr 1910 erschien eine Schrift zu Datini unter den Auspizien seiner Stiftung. 1915 veröffentlichte Sebastiano Nicastro ein umfangreiches Inventar in einer Reihe über italienische Archive. 1927 wurde das Testament Datinis publiziert. Die Arbeiten über Bankwesen und Wechsel, die etwa Raymond de Roover Ende der 40er Jahre vorlegte, und in denen Dokumente aus Datinis Archiv erschienen, stellten die Bedeutung des Prateser Unternehmers erst auf eine über Italiens Grenzen hinausweisende Ebene. Herausragende populärwissenschaftliche Arbeiten, vor allem die zuerst 1957 von Iris Origo in London herausgegebene Biografie, haben Datini und den Kaufmannsgeist seiner Zeit auch über Fachkreise hinaus bekannt gemacht. Erst 1958 anlässlich einer internationalen Ausstellung unter Beteiligung sowjetischer Wissenschaftler – schließlich hatten Datinis Handelsbeziehungen bis zur Krim gereicht – und unter Vorsitz des früheren Staatspräsidenten Luigi Einaudi, kam man überein, die Bestände wieder an ihren ursprünglichen Ort zurückzubringen. Das Innenministerium, dem in Italien bis 1975 alle Archive unterstanden – heute sind sie dem Ministerium für Kulturgüter und Tourismus zugeordnet –, ordnete an, dass eine Dépendance des Florentiner Staatsarchivs eingerichtet werden sollte, die bald autonom wurde. Im selben Jahr gab Guido Pampaloni ein Inventar heraus. Federigo Melis und Armando Sapori, die sich über die Bedeutung der Datini’schen Holding uneins waren, bewirkten, dass zahlreiche, zunächst vor allem italienische Wissenschaftler, die Archivalien mit Blick auf ihre Forschungsgebiete durchsuchten. So tauchten die Bestände nicht nur in stadtgeschichtlichen Untersuchungen auf, sondern auch in thematisch stärker fokussierten Arbeiten wie Raymond de Roovers Geschichte von Geld, Bank und Kredit. Inzwischen gibt es kaum noch eine Fragestellung zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte, in der nicht Prateser Archivalien eine Rolle spielen. Der Bogen spannt sich dabei von mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen bis zu minutiösen Detailstudien zum internen Funktionieren eines solchen Unternehmens. Doch sind die Fragestellungen inzwischen weit darüber hinausgewachsen und berühren auch nicht unmittelbar wirtschaftsgeschichtliche Arbeitsfelder wie die der Schriftlichkeit, der Geschichte der Geschlechter, des Ordnungsverhaltens, der Medizin usw. Darüber hinaus wurde der Bestand zum Anlass genommen, ein eigenes Forschungsinstitut zu gründen, das Istituto di storia economica „Francesco Datini“, das alljährlich Vortrags- und Diskussionswochen zu wechselnden Themen veranstaltet und Forschungen am Bestand großzügig fördert. Die XLII. Settimana di Studio, eine Forschungs- und Studienwoche, die im Jahr 2010 vom 18. bis 22. April in Prato stattfand, widmete sich der Frage, wohin sich die Wirtschaftsgeschichte entwickelt. Bereits 1979 wurden die Knochen Datinis unter anthropologischen Gesichtspunkten untersucht. Dabei ist das Institut in der Via L. Muzzi 38 nicht nur wissenschaftlich stark verankert, sondern auch in der Stadt Prato selbst. So beging die Stadt am 17. August 2007 in einer großen Feier den 597. Todestag Datinis. Der Gonfalone del Comune legte einen Kranz an seinem Denkmal nieder. So hatte Datini es in seinem Testament bestimmt, dass am Tag nach seinem Ableben eine Messe stattfinden sollte, dazu eine öffentliche Ehrung. Ebenso wird sein Grabstein gepflegt, der in den 1990er Jahren restauriert wurde. Im Jahr 2010, in dem sich der Todestag Datinis zum 600. Mal jährte, wurden umfangreiche Gedenkfeiern durchgeführt. Die italienische Post gab eine Sonderbriefmarke heraus. Der Palast der Datini wurde restauriert. Literatur und Editionen Übergreifende, vorrangig biographische Arbeiten Giampiero Nigro (Hrsg.): Francesco di Marco Datini. The Man, The Merchant, Firenze University Press, Fondazione Istituto Internazionale di Storia Economica „F. Datini“, Florenz 2010. Robert Brun: A Fourteenth-Century Marchant of Italy: Francesco Datini of Prato, in: Journal of Economic Business History (1930) 451–466. Robert Brun: Annales avignonnaises de 1382 à 1410 extraites des archives Datini, in: Mémoires de l'institut historique de Provence 12 (1935) 17–142. Cassandro Michele: Aspects of the Life and Character of Francesco Di Marco Datini, in: Giampiero Nigro (Hrsg.): Francesco di Marco Datini. The Man, The Merchant, Firenze University Press, Fondazione Istituto Internazionale di Storia Economica „F. Datini“, Florenz 2010, S. 3–51. Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts.“ Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance, Francesco di Marco Datini (1335–1410), ins Deutsche übersetzt von Uta-Elisabeth Trott, C. H. Beck, München 1985, ISBN 3-406-30861-9. Joseph Patrik Byrne, Eleanor A. Congdon: Mothering in Casa Datini, in: Journal of Medieval History 25/1 (1999) 35–56. Elena Cecchi: Le lettere di Francesco Datini alla moglie Margherita (1385–1410), Prato 1990. Ann Crabb: Ne pas être mère: l’autodéfense d’une Florentine vers 1400, in: Clio. Histoire, Femmes et Sociétés 21 (2005), publ. im Juni 2007. (Online, aufgesucht am 17. November 2014) Ann Crabb: „If I could write“: Margherita Datini and letter writing, 1385-1410, in: Renaissance Quarterly 60 (2007) 1170–1206. 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Simonetta Cavaciocchi: Il Palazzo Datini. La Dimora, Staatsarchiv Prato Stefan Finsterbusch: Der Schatz auf der Kellertreppe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juli 2015 Anmerkungen Unternehmer (14. Jahrhundert) Unternehmer (15. Jahrhundert) Währungsgeschichte (Italien) Person (Republik Florenz) Person (Prato, Toskana) Person (Avignon) Geboren 1335 Gestorben 1410 Mann Wirtschaftsgeschichte (Italien)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pfeifen
Pfeifen
Pfeifen ist das Erzeugen von Tönen mithilfe von Luft, die schnell durch einen Hohlraum mit kleiner Öffnung strömt und dort Wirbel erzeugt. Der Mensch kann mit verschiedenen Methoden aus seinem Mund Pfeiftöne hervorbringen, die er zur musikalischen Betätigung und in einigen Fällen auch zur Kommunikation nutzt. Auch andere Lebewesen außer dem Menschen setzen das Pfeifen zur Kommunikation ein. Die kurze Lautäußerung mittels Pfeifen wird Pfiff genannt. Ein Pfiff kann auch aus einer künstlichen Pfeife gegeben werden. Als Beispiel diene die Trillerpfeife des Schiedsrichters beim Sport. Andere Beispiele sind Pfiffe aus den Pfeifen von Lokomotiven und Schiffen oder durch Druckluft erzeugte Töne in Maschinen. Menschliche Pfeifmethoden Labiales Pfeifen (Lippenpfeifen) Bei dieser wohl bekanntesten und gebräuchlichsten Pfeifmethode werden die Lippen zu einem kleinen O geformt. Die Zungenspitze wird leicht gerollt und für höhere Töne von hinten gegen die Unterlippe geschoben, für tiefere Töne weiter nach hinten und unten bewegt. Beim Ausstoßen oder Ansaugen von Luft bilden sich in diesem Bereich Luftwirbel. Die Mundhöhle wirkt hierbei als Helmholtz-Resonator. Durch leichte Veränderungen der Positionen der Zunge und des Unterkiefers kann die Frequenz und damit die Höhe des entstehenden Tons reguliert werden, die Lautstärke (Intensität) wird über die Stärke des Saugens bzw. Blasens gesteuert. Die Stimmlippen im Kehlkopf sind an der Schallerzeugung nicht beteiligt. Labiales Pfeifen ist die physikalisch am besten verstandene Methode. Schon John William Strutt, 3. Baron Rayleigh (1842–1919) erkannte in seinem Werk Theory of Sound (1894–1896), dass der Ton nicht durch Vibration der Lippen entstehen kann, indem er sich im Selbstversuch eine nicht zu Vibrationen fähige Holzröhre zwischen die Lippen presste und auch hierdurch zu pfeifen imstande war. Beim Lippenpfeifen lassen sich nur vergleichsweise niedrige Lautstärken erzeugen. Das erreichbare Frequenzspektrum erstreckt sich normalerweise über etwa zwei Oktaven. Labiales Pfeifen unterscheidet sich grundlegend von anderen Pfeifmethoden, da es die einzige Methode ist, die auch mit Ansaugen von Luft funktioniert. Fingerloses, nichtlabiales Pfeifen Beim nichtlabialen Pfeifen entsteht der Pfeifton nicht bei den Lippen, sondern weiter innen im Bereich von Zunge, Zähnen und hartem Gaumen. Die Lippen sind nicht primär beteiligt und müssen deshalb auch nicht zu einem engen O geformt werden. Sie sind verhältnismäßig entspannt geöffnet, so dass das Pfeifen fast „unsichtbar“ ist. Bei einer von mehreren Methoden wird die Zungenspitze gegen die Kante der oberen Schneidezähne gepresst, während die recht weit ausgebreiteten, eng an den Schneidezähnen anliegenden Lippen eine schmale Öffnung freilassen, durch die die Luft ausströmen kann. Man kann auch alternativ die Zunge an den harten Gaumen anlegen und nur eine enge Öffnung (einen Luftkanal) freigeben, durch den der Pfeifton erzeugt wird. Auf diese Art und Weise kann ein sehr lautes Pfeifen erzeugt werden, der Weltrekordhalter mit 117,4 Dezibel laut Guinness World Records ist derzeit der Italiener Calogero Gambino. Eine andere – schwieriger zu erlernende Methode – besteht darin, die Zunge in eine stabile Position zu bringen (ähnlich wie beim Fingerpfeifen) und die Luft stark gepresst auszustoßen. Man erreicht ähnliche Lautstärken wie beim Fingerpfeifen. Ein Vorteil dieser Methoden ist, dass man keine Finger in den Mund stecken muss und die Hände frei behält. Eine hohe Kunstfertigkeit und gutes Training erfordert das zweistimmige Pfeifen (zum Beispiel im Terz-Intervall) nur eines Pfeifers. Die Zunge wird zum Mund herausgestreckt, so dass auf beiden Seiten ein Zwischenraum zwischen Zunge und Mundwinkel bleibt. Der Luftstrom geht durch die Zähne und die Töne werden durch Spannung von Wange und Zunge variiert. Pfeifen auf Fingern Pfiffe lassen sich mit Hilfe von zwei Fingern (Zeige- und Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen) oder durch das paarige Nutzen von je zwei und zwei Fingern (Zeige- und Mittelfinger zusammen, Ring- und kleiner Finger zusammen) nach viel Training erzeugen, indem zusammen mit passender Zungenstellung zwei enge Spalten für die scharf ausgestoßene Atemluft entstehen. Eine Möglichkeit ist es, Daumen und Zeigefinger einer Hand zu einem Ring zu formen, die Zunge bei halbgeöffneten Lippen von unten, nach hinten, oben zu schieben und schließlich kräftig durch die entstandene Öffnung auszuatmen. Dabei muss darauf geachtet werden, dass keine Luft zwischen den Fingern und den Mundwinkeln entweicht. Das Pfeifen mit vier Fingern erfolgt nach dem gleichen Prinzip, wobei die Zunge auf ähnliche Weise mit beiden Zeige- und Mittelfingern verschoben wird. Diese Finger erfüllen damit die gleiche Funktion wie zwei zu einem Ring geformte Finger. Die Methode mit vier Fingern ist jedoch etwas einfacher. Auch mit nur einem Finger lassen sich Pfiffe erzeugen. Hierdurch wird extrem lautes Pfeifen ermöglicht, Töne mit einer Lautstärke von über 100 dB(A) sind problemlos möglich. Physik des Pfeifens Zwei physikalische Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Pfeifton zustande kommen kann: Man benötigt einen schnell strömenden, Wirbel bildenden Luftstrom. Dieser wechselwirkt mit einem Resonatorraum, und es entsteht eine akustische Schwingung, der Pfeifton. Hierbei handelt es sich um eine praktisch reine Sinuswelle. Aus diesem Grund sind Frequenz (Tonhöhe) und Intensität (Lautstärke) die einzigen Parameter, die der Pfeifende beeinflussen kann. Im Gegensatz zum Gebrauch der menschlichen Stimme lässt sich die Klangfarbe beim Pfeifen also nicht variieren, was die Möglichkeit der Informationsübertragung stark einschränkt. Von den menschlichen Pfeifmethoden erforschten Physiker allein das labiale Pfeifen genauer. Gierke verglich 1947 menschliche Pfeiftöne mit denen einer Lochtonanordnung und kam zu dem Ergebnis, dass für beide Phänomene der gleiche Mechanismus verantwortlich ist. An den Lippen bilden sich demnach periodische Wirbel, die den Rachenraum zu Eigenschwingungen anregen. Insbesondere konnte Gierke erklären, dass der Pfeifton höher wird, wenn man durch stärkeres Blasen die Geschwindigkeit des Luftstroms erhöht, während Unterkiefer und Zunge in fester Position verharren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen offenbar unabhängig hiervon Wilson et al. (1970), die ebenfalls feststellten, dass menschliches Pfeifen – abgesehen von Details – analog ist zu den Tönen von Lockgeräten wie dem Rayleighschen Vogelruf bzw. dem Jägerruf, die unter die erwähnten Lochtonanordnungen fallen. Sie betonten die Existenz zweier wirbelbildender Engstellen, deren eine die Lippen und deren andere die an den Gaumen gelegte Zunge bilden. Die übrigen vorgestellten Pfeifmethoden haben bislang nicht das Interesse der Physiker erwecken können. Busnel und Classe stellen in ihrem Werk über gepfiffene Sprachen die Hypothese auf, dass die gemeinsame Erklärung der zahlreichen Pfeifmethoden mit und ohne Finger ist, dass mit Hilfe von Zunge bzw. Fingern ein möglichst komplizierter Kanal gebildet wird, in dem der schnelle Luftstrom Turbulenzen erzeugt. Die Verwirbelungen wechselwirken wie beim Lippenpfeifen mit der als Resonator wirkenden Mundhöhle, um den Pfeifton zu erzeugen. Menschliche Pfeiftöne liegen ungefähr im Bereich von 1300 bis 4000 Hz. Weil die Sensitivität des menschlichen Ohrs in dieser Frequenzspanne am größten ist und die Schallwelle sinusförmig und damit so einfach wie möglich ist, werden Pfeiftöne besser wahrgenommen als andere, zum Beispiel von der Stimme erzeugte Töne. Dies ist der Grund, weshalb Pfeifen dazu verwendet wird, andere zu kommandieren oder ihnen Signale zu geben. Die Weltrekorde von Tonhöhen menschlicher Pfeiftöne liegen laut Guinness-Buch der Rekorde bei 175 Hz für den niedrigsten und 10599 Hz für den höchsten Ton. Geschichte menschlichen Pfeifens Es ist anzunehmen, dass Pfeifen als Mittel nonverbaler Kommunikation so alt ist wie die Menschheit. So werden sich Menschen schon früh mittels Pfeiflauten über längere Strecken verständigt und vor Gefahren gewarnt haben. Eine erste schriftliche Erwähnung findet sich in der Bibel in , wo es heißt: Er wird ein Feldzeichen aufrichten für das Volk in der Ferne und pfeift es herbei vom Ende der Erde. Auch wenn es bei vielen Quellen schwer ist zwischen Zischen und Pfeifen zu unterscheiden (beide Laute wurden in den Sprachen der Antike mit dem gleichen Wort bezeichnet), wird doch oft aus dem Zusammenhang klar, was gemeint ist. So war es schon in der Antike üblich, andere auszupfeifen: Cicero brüstet sich im Jahr 61 v. Chr. in einem Brief an Atticus damit, bei Spielen Ovationen erhalten zu haben, ohne einen Pfiff eingesteckt zu haben (sine ulla pastoricia fistula). Auch wenn in einigen Quellen Hinweise darauf existieren, lässt es sich nicht endgültig sagen, ob es in der Antike gebräuchlich war, Melodien zu pfeifen. Pfeifen hatte immer säkularen Charakter, und so entstand erst in der Renaissance die Tradition des Kunstpfeifens. In einer Zeit, in der sich die meisten Musikinstrumente noch im Entwicklungsstadium befanden, stellte das Pfeifen eine ernsthafte Alternative zum Singen dar. Dies änderte sich jedoch mit der Zeit, und im Hochbarock hatte die Pfeifkunst so viel Bedeutung ans Kammerorchester verloren, dass sie in gesellschaftlichen Veranstaltungen nicht mehr vorkam und bald die Rolle annahm, die sie bis heute ausfüllt. Es ist die Rolle einer Randerscheinung, einer Kuriosität mit leicht exotischem Charakter und nicht die einer Kunst. In vielen Kulturen wurde und wird Pfeifen mit Magie und Aberglauben verbunden. Hierbei sollten Pfeiftöne je nach Situation Dämonen anlocken oder austreiben können. Auch mit dem Teufel wurde Pfeifen in Verbindung gebracht, weshalb es in manchen christlichen und islamischen Gegenden als unrein bezeichnet und untersagt wurde. Der italienische Komponist Arrigo Boito lässt in seiner Oper Mefistofele den Teufel pfeifen statt singen. Besonders für Frauen war es oft ein Tabu, öffentlich zu pfeifen. Noch heute ist das Sprichwort „Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, soll man beizeiten die Hälse umdrehen“ bekannt. Der Glaube in vielen Minen, dass das Pfeifen unter Tage Unglück bringe, hat in seinem Ursprung einen triftigen Grund: Bis zur Erfindung der Sicherheitsgrubenlampe setzte man zum Messen der Atemluftqualität in den Bergwerken über Jahrhunderte Kanarienvögel ein. Einerseits sind sie von ihrer Art her besonders dazu geeignet, ständig Melodien zu pfeifen („singen“), was man ihnen für ihre Aufgabe auch noch zusätzlich antrainierte, andererseits reagieren Vögel grundsätzlich viel empfindlicher auf Sauerstoffmangel als der Mensch. Solange also der Vogel unter Tage pfiff und trällerte, war auch die Luft in Ordnung, wenn er länger damit aufhörte, wurden schon alle aufmerksam, fiel der kleine Kerl flatternd von der Stange, machten sich die Bergleute (mit ihm als Indikator, ab wo die Luft wieder besser wurde) auf den Weg nach Oben, lag der Vogel gar tot im Käfig, war es allerhöchste Zeit, den Schacht schnellstens zu verlassen. So hätte das unüberlegte Liedchen-Pfeifen eines Mannes Allen den Tod bringen können, denn es hätte, zumal beim ständigen Lärm der Hämmer vor Ort, leicht mit dem „Singen“ des Kanarienvogels verwechselt werden können und in der herannahenden Not die Kumpels in der trügerischen Sicherheit gewogen, es sei noch genügend Sauerstoff vorhanden. Es war also zwangsläufig allein dem Vögelchen vorbehalten, pfeifen zu sollen. Auch auf Schiffen, insbesondere den Segelschiffen war – und ist es zum Teil heute noch – grundsätzlich verboten zu pfeifen, denn die Bootsmänner vermitteln gewisse Kommandos nur über das Pfeifen – heimlich versprach man sich wiederum vom Pfeifen in den Wind eine steife Brise. Ein heute noch sehr verbreiteter Aberglaube ist, dass Pfeifen, von wem auch immer, auf Theater-, Opern- oder Konzertbühnen – auch bei Varieté und Zirkus – Unglück bringe. Er entstammt einer Legende nach aus der Zeit, als noch mit Gas- oder Öllampen beleuchtet wurde. Wenn der Brennstoff dieser Lampen zu Ende ging, erzeugten sie – durch das Luftziehen der Dochte – einen ansteigenden pfeifenden Zischlaut, somit wussten die Beleuchter, um welche Lampe sie sich kümmern mussten. Menschliches Pfeifen hätte also zu größerem Chaos im Proben- oder im Vorstellungsablauf (schrecklich bei einem Klassischen Konzert, einem Drama, einer Revue, gar nicht auszudenken mit „fliegenden“ Artisten oder gar mit Tieren) führen können. Dieses Problem existiert zwar schon lange nicht mehr, es ist aber auf den Bühnen in der ganzen Welt nach wie vor verpönt zu pfeifen, denn es gibt in Wirklichkeit zwei Argumente dagegen: Erstens, wer pfeift, ist nicht konzentriert bei seiner Aufgabe und gehört nicht in das „Allerheiligste“, das heißt auf eine Bühne, in einen Bühnenraum (dazu gehören auch Unterbühne und Schnürboden) oder in ein Chapiteau. Zweitens gilt es beim Theater stets als Trauma, das Publikum könnte bei der Premiere das Stück auspfeifen, hier besagt der Aberglaube: „Wenn bei den Proben gepfiffen wird, wird bei der Premiere auch gepfiffen.“ In den Film- und Fernsehstudios, wie auch am Filmset wurde weltweit die „Nicht-Pfeif-Regel“ vom Theater übernommen, in erster Linie wegen des (logischsten) Arguments der fehlenden Konzentration und Motivation bei den Probe- und Dreharbeiten. Das kann tatsächlich bis zum Rauswurf gehen. Das Pfeifen auf Fingern kann Lautstärken erreichen, die für das menschliche Ohr unangenehm sind. Nicht zuletzt deshalb wird Pfeifen in der Öffentlichkeit oft als unhöflich angesehen, eine rühmliche Ausnahme stellen die Pfiffe zum Sportpalastwalzer beim Berliner Sechstagerennen dar, „erfunden“ in den 1920er-Jahren von einem Krücke genannten Berliner Original. Der Walzer wurde deshalb schnell zur Hymne dieser Radsportveranstaltung und der charakteristische vierfache Pfiff mit den Fingern wird bis heute von hunderten Zuschauern an einer bestimmten Stelle des Musikstückes mit großer Freude „aufgeführt“. Wenn Männer Frauen hinterherpfeifen, gilt dies als obszöne Geste. Der Afroamerikaner Emmett Till wurde 1955 sogar, nachdem er einer weißen Frau hinterhergepfiffen hatte, von deren Gatten und dessen Halbbruder ermordet. Der amerikanische Professor Charles G. Shaw befand 1931 in der New York Times, dass Pfeifen ein „unverkennbares Erkennungszeichen des Debilen“ sei und dass kein großer und erfolgreicher Mann jemals pfeife. Dennoch pfeifen die meisten Menschen in vielen Situationen für sich alleine Melodien. Häufig bedeutet dies, dass der Pfeifende in einer fröhlichen bis ausgelassenen Stimmung ist, Pfeifen in der Dunkelheit kann aber auch Mut machen oder das Gefühl der Einsamkeit verdrängen. Besonders in Cartoons pfeifen Figuren, die Arglistiges planen und dabei unschuldig wirken möchten. Gepfiffene Sprachen Aus vielen Gegenden der Welt ist eine Verständigung übers Pfeifen bekannt. Fast alle dieser Gebiete sind bergig, dünn besiedelt und weisen wenig Infrastruktur auf, sodass durch Pfeifen eine Verständigung über Distanzen möglich wird, die sonst nur unter großem Zeitaufwand zu überbrücken wären. Oft sind Hirten die ersten Träger dieser Art der Kommunikation. Pfeifsprachen sind nicht Ersatz für gesprochene Sprachen, sondern ergänzen diese. Dadurch, dass sehr junge (und auch alte) Menschen mangels Zähnen nicht in der Lage sind zu pfeifen, werden gepfiffene Sprachen erst Jahre nach der Muttersprache erlernt. Daher basieren Pfeifsprachen auf dem jeweiligen Idiom der Region. Bekanntestes und besterforschtes Beispiel einer gepfiffenen Verständigung ist El Silbo, das vermutlich einst auf allen Kanarischen Inseln zur Verständigung diente und heute nur noch auf La Gomera gepflegt wird, dort ist es seit Jahren Unterrichtsfach an Schulen. Begünstigt durch die schallreflektierende Wirkung der Bergwände ist hier Verständigung über Distanzen von bis zu 10 Kilometern möglich, die mit Rufen oder Schreien nicht überbrückt werden können. Da El Silbo unterzugehen drohte, unternahmen Interessierte ab den 1980er Jahren große Anstrengungen, diese Kommunikations- und Kunstform nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Meist treten Pfeifsprachen nur örtlich auf und sind auf ein kleines Gebiet begrenzt, teilweise nur auf ein einzelnes Dorf. Wissenschaftlich untersuchte Pfeifsprachen gibt es im französischen Pyrenäendorf Aas, in dem Gebiet um Kuşköy (Türkei), bei den Mazateken in Mexiko und den chinesischen Bai in der Region Yunnan. In Afrika verständigen sich einige Volksgruppen mit gepfiffenen Sprachen, benutzen dazu aber selbstgebaute Pfeifen als Hilfsmittel. Pfeifsprachen existieren sowohl in tonaler als auch in nichttonaler Form. Bei fast allen Beispielen werden Finger als Hilfsmittel eingesetzt, da so größere Lautstärken erzielt und damit auch größere Distanzen überbrückt werden können. Zum normalen Gespräch über kurze Reichweite dient üblicherweise immer noch die Stimme, die Pfeifsprache findet nur dann Anwendung, wenn sie gebraucht wird. Eine Ausnahme bilden die Mazateco-Indianer, die labial pfeifen und die dadurch leiseren Töne auch im normalen Gespräch unter vier Augen benutzen. Mit dem Vormarsch von modernen Telekommunikationstechniken und der infrastrukturellen Erschließung immer abgelegenerer Gebiete wird den Pfeifsprachen die Existenzgrundlage, die Notwendigkeit der Kommunikation über große Distanzen, entzogen. Daher werden viele Pfeifsprachen nicht mehr an die Nachfolgegenerationen weitergegeben und sind vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Pfeifen in der Musik Kunstpfeifen Der Tonumfang des menschlichen Pfeifens ist stärker begrenzt, als er es durch Stimmbandnutzung („Singen“) ist. Außerdem ist die Variabilität durch die Unmöglichkeit, Timbre in die Stimme zu legen, stark beschränkt. Äußerst schwierig ist das konzertante mehrstimmige Pfeifen. Auch Menschen von hoher Musikalität sind in aller Regel beim Pfeifen weniger exakt als beim Singen. Beispiele für konzertantes Pfeifen findet sich im Repertoire der Comedian Harmonists mit dem Lied Kannst du pfeifen, Johanna, jedoch zeigen sich hier auch die Grenzen des mehrstimmigen, konzertanten Pfeifens. Es gibt dennoch, insbesondere im englischsprachigen Raum, eine moderne Tradition professioneller Kunstpfeifer. Im späten 19. Jahrhundert kam Alice Shaw, „Whistling Primadonna“ genannt, mit ihrer Pfeifkunst zu großer Popularität in den USA. Die Beliebtheit von Kunstpfeifsoli machten sich nach Erfindung der Tonaufzeichnung durch Thomas Alva Edison und Emile Berliner ab etwa 1890 auch die ersten Tonträgerhersteller zunutze: menschliches Pfeifen ließ sich technisch wesentlich besser reproduzieren als Gesang; daher finden sich in den ersten Phonographenwalzen- und Schallplattenkatalogen zahlreiche Kunstpfeifvorträge. Einige Interpreten dieser Zeit erlangten vorübergehend internationale Berühmtheit, darunter vor allem der Berliner Varietékünstler Guido Gialdini, dessen Pfeifrepertoire von humoristischen Effekten bis zu klassischer Musik reichte und auf Platten und Walzen zahlreicher Hersteller weltweit vermarktet wurde. Der wohl bekannteste und erfolgreichste Kunstpfeifer des 20. Jahrhunderts ist der Amerikaner Fred Lowery, dessen Platte Indian Love Call sich in den 1940er Jahren eine Million Mal verkaufte. Bekannt für ihr Pfeifen war auch die Schauspielerin Ilse Werner, die oftmals ihre Bühnenauftritte mit umfangreichen Proben ihrer Pfeifkunst bereicherte. 1967 landete Whistling Jack Smith mit I Was Kaiser Bill’s Batman einen Top-Fünf-Hit in Großbritannien und Deutschland. Auch Roger Whittaker hatte mit Pfeifen Erfolge, so mit dem Mexican Whistler. Mit Lips von Lipstrill ist die letzte professionelle Kunstpfeiferin aus Österreich im Jahr 2005 verstorben. Auch der belgische Sänger, Gitarrist, Parodist und Entertainer Bobbejaan war Kunstpfeifer. Nicht zu vergessen sei auch Ennio Morricone, der in den ersten Italo-Western (For a Fistfull of Dollars, For a Few Dollars More) gepfiffene Melodien in seine Filmmusiken einbaute, offenbar in der Auffassung, dass „lonesome Cowboys“ in ihrer Einsamkeit pfeifen. In mehreren Musikstücken wurde das gepfiffene Motiv die Erkennungsmelodie für den jeweiligen Charakter (Cheyennes Theme für Jason Robarts in Once upon a Time in the West, S. Leone). Bekannte Beispiele für Pfeifeinlagen in der jüngeren Popmusik sind auf Wind of Change (Scorpions) oder Always Look on the Bright Side of Life von Monty Python zu hören. Musikinstrumente Auch viele Musikinstrumente basieren physikalisch gesehen auf dem Pfeifen. Klassisches Instrument hierfür ist die Pfeifenorgel, die auch als „Königin der Instrumente“ bezeichnet wird aufgrund der Vielgestalt der vermittels Pfeifen herstellbaren Klangfarben, des Tonumfanges (von fast unhörbar tiefen 16 oder 20 Hertz bis hin zu wiederum von Menschen unhörbaren 20 kHz) und des Raumvolumens, das mit einer Orgel beschallt werden kann. Andere Beispiele der Tonerzeugung sogenannter „Labial-Instrumente“ (mit „Lippen“) sind Querflöte, Klarinette und Oboe: Auch deren Töne sind, genau betrachtet, gepfiffen. Oboe und Klarinette allerdings besitzen mit den Zungen Schwingungskörper. Tin Whistles, Halm-, Rohr- und Hornpfeifen tragen entsprechende Namen. Pfeifen in der Tierwelt Tiere setzen Pfeifen vielfach zur Kommunikation ein. Als nächstliegendes Beispiel hierfür könnte man das Vogelgezwitscher vermuten. Dieses ist jedoch physikalisch gesehen kein Pfeifen. Vögel produzieren ihren Gesang im Stimmkopf (Syrinx), wo sie Töne durch Schwingung elastischer Membranen erzeugen, was vom Erzeugungsmechanismus eher dem der menschlichen Stimmlippen ähnelt. Da hiermit die reinen, sinusähnlichen Schallwellen einiger Vögel nicht befriedigend erklärt werden konnten, stellten Gaunt et al. 1982 die Hypothese auf, dass nicht durch schwingende Membranen, sondern durch schnell strömende, wirbelbildende Luft ein Pfeifton erzeugt würde. Diese Hypothese wurde jedoch durch Experimente (z. B.) nicht bestätigt, nach heutigem Stand der Forschung pfeifen Vögel also nicht. Trotz der unterschiedlichen Erzeugungsweise ist die Tatsache, dass Vogelgesang Pfeiftönen sehr ähnelt, unbestritten. Sie ist Ursache der Benennung der Unterfamilie der Pfeifgänse, der Pfeifente sowie des türkischen Dorfes Kuşköy (Vogeldorf, siehe oben). Ebenfalls keine Pfeiftöne im engeren Sinne sind die Laute, mit denen sich Fledermäuse im Ultraschallbereich orientieren, indem sie den Rücklaufschall mit Sonar auswerten. Andere Tiere, die nach den Pfeiftönen, die sie ausstoßen, benannt sind, sind der Pfeifschwan (Cygnus columbianus), die zu den Eulenfaltern gehörende „Whistling Moth“ (Hecatesia thyridion), die Antillen-Pfeiffrösche (Eleutherodactylus johnstonei) und die Karru-Ratten (englisch auch „Whistling Rats“) (Parotomys). Murmeltiere verständigen sich untereinander mit Pfeiftönen. Pfiffe dienen bei ihnen – ebenso wie bei den Gämsen – der Ankündigung von Gefahr. Auch Wale und andere Meeressäuger nutzen Pfiffe zur Kommunikation. Besonders das Pfeifen der Delfine weckte das Interesse vieler Forscher, weil sie die Möglichkeit in Betracht zogen, dass die Tiere eine natürliche Sprache entwickelt hätten. Ob dem so ist, ist allerdings noch unklar (siehe auch Walgesang). Vereinzelt wurde das Pfeifen auch bei Menschenaffen in Gefangenschaft beobachtet, so etwa bei den Orang-Utans Bonnie im Washingtoner Zoo und Ujian in Heidelberg. Künstliche Pfeifen Pfeiftöne lassen sich ebenfalls künstlich erzeugen. Ein naheliegendes Beispiel ist die Trillerpfeife. In künstlichen Pfeifen (zu denen auch Musikinstrumente zählen, siehe oben) wird der Ton prinzipiell dadurch erzeugt, dass ein Luftstrom durch eine scharfe Kante oder ein ähnliches Hindernis gespalten wird, wodurch Wirbel entstehen, die im Zusammenspiel mit einem Resonatorraum die Schallwelle erzeugen. Viele Menschen kennen die Druckluftpfeifen von Schiffen oder die Dampfpfeifen von Lokomotiven. Sie sind jedoch noch nicht die lautesten Pfeifen. Es gibt Warn-Pfeifen auf Hängen oberhalb von Talsperren, die im Fall einer drohenden Überflutung infolge Staumauer-Bruchs warnen sollen. Eine solche extrem leistungsfähige Druckluftpfeife stand beispielsweise auf der Höhe des Haarstrangs bei Günne oberhalb der Staumauer der Möhnetalsperre. Diese Pfeife sollte angeblich bis nach Unna oder Dortmund gehört werden können, was einer Distanz von über 50 Kilometern entspricht. Sie wurde installiert, um den möglichen Folgen einer Katastrophe vorzubeugen, wie sie 1943 nach der Bombardierung und dem Bruch der Staumauer entstand. Hundepfeifen zum Kommandieren von Hunden gibt es auch als für Menschen unhörbare Ultraschallpfeife, da der Hund über einen weiteren Hörbereich als der Mensch verfügt. Die Bootsmannpfeife wird seit dem 13. Jahrhundert auf englischen Seglern zur Weitergabe von Befehlen an die Mannschaft gebraucht. Siehe auch Handflöte Literatur René-Guy Bussel, André Classe: Whistled Languages. Springer, Berlin 1976, ISBN 3-540-07713-8. M. Carreiras u. a.: Neural processing of a whistled language. In: Nature, London 433.2005, S. 31. Henning von Gierke: Über die mit dem Mund hervorgebrachten Pfeiftöne. In: Pflügers Archiv, Springer, Berlin 249.1947, S. 307–312. T. A. Wilson, G. S. Beavers u. a.: Experiments on the Fluid Mechanics of Whistling. In: Journal of the Acoustical Society of America. Melville 50.1971, 366. A. V. van Stekelenburg: Whistling in Antiquity. In: Akroterion. Stellenbosch 45.2000, S. 65–74. P. F. Ostwald: When people whistle. In: Language and Speech. London 2.1959,3, S. 137–145. J. W. S. Lord Rayleigh: The Theory of Sound. Band 2. Cambridge 1896; 2. Auflage: Dover / New York 1945; 1969 (Repr.) ISBN 0-486-60292-3, S. 224 Weblinks Internationale Philharmonische Gesellschaft für Pfeifkunst (die „gegründet wurde, um die Anwendung des menschlichen Pfeifens in der Musikkunst zu erforschen und künstlerische Standards der Pfeif-Darbietung, der -Schulung und der -Literatur zu etablieren, die mit anderen instrumentellen Traditionen gleichwertig sind.“) Julien Meyer: Bioacoustics of human whistled languages. (Übersicht über Pfeifsprachen mit Bibliografie, englisch) MP3-Archiv mit Aufnahmen von Kunstpfeifern Anmerkungen Akustisches Signal Sprachtyp Gesang Kommunikation (Biologie) Mündliche Kommunikation Wikipedia:Artikel mit Video Akustische Telegrafie
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Seneca
Lucius Annaeus Seneca, genannt Seneca der Jüngere (* etwa im Jahre 1 in Corduba; † 65 n. Chr. in der Nähe Roms), war ein römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Politiker und als Stoiker einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Seine Reden, die ihn bekannt gemacht hatten, sind verloren gegangen. Wenngleich er in seinen philosophischen Schriften Verzicht und Zurückhaltung empfahl, gehörte Seneca zu den reichsten und mächtigsten Männern seiner Zeit. Vom Jahr 49 an war er der maßgebliche Erzieher bzw. Berater des späteren Kaisers Nero. Wohl um diesen auf seine künftigen Aufgaben vorzubereiten, verfasste er eine Denkschrift darüber, warum es weise sei, als Herrscher Milde walten zu lassen (De clementia). Im Jahre 55 bekleidete Seneca ein Suffektkonsulat. Sein Agieren als Politiker stand teils im schroffen Widerspruch zu den von ihm in seinen philosophischen Schriften vertretenen ethischen Grundsätzen, was ihm bereits bei Zeitgenossen Kritik eintrug, da er als raffgieriger Opportunist galt. Senecas Bemühen, Nero in seinem Sinne zu beeinflussen, war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Zuletzt beschuldigte ihn der Kaiser der Beteiligung an der Pisonischen Verschwörung und befahl ihm die Selbsttötung. Diesem Befehl kam Seneca notgedrungen nach. Leben und Werk Ausdrückliche Bezüge Senecas auf die eigene Biographie sind in seinen Werken äußerst selten, obwohl er von der Bedeutung seiner schriftlichen Hinterlassenschaft für die Nachwelt überzeugt war. Senecas autobiographisches Schweigen hat erhebliche Probleme vor allem bezüglich der Datierung seiner Werke zur Folge, sodass insbesondere für die Abfolge seiner Tragödiendichtung kaum Anhaltspunkte gegeben sind. Dennoch legen die neueren einschlägigen Seneca-Biographien eine mehr oder minder enge Verbindung seiner Schriften mit seiner jeweiligen Lebenssituation nahe. Sein Philosophieren bestand nicht in der Schaffung eines neuen gedanklichen Systems, sondern wesentlich in der Anwendung der stoischen Lehre „nach Maßgabe der jeweiligen besonderen Lebenslage und Lebensnotwendigkeit“. In seinen Werken, auch in den Spätschriften, betonte er seine Verwurzelung in der stoischen Philosophie. Dabei lehnte er dogmatische Festlegungen ab. Senecas wechselvoller Lebenslauf hat ihm mehrfach abverlangt, sich auf Schicksalswenden einzustellen; und er konnte sie in stoischer Manier gutheißen: Die Vielfalt der Erfahrungen im politischen Leben und die unterschiedlichen Rollen, die er dabei übernahm, sind in Senecas philosophischen Schriften verarbeitet. Aus ihnen resultieren – und dies war Seneca durchaus bewusst – je nach besonderer persönlicher und politischer Lage unterschiedliche Optionen sittlich verantwortbaren Handelns. Die Annahme, dass Senecas Leben und Werk eine Einheit bildeten, dass sich also Seneca als Politiker und Geschäftsmann nach seinen eigenen philosophischen Lehren richtete, wird seit längerem in der Forschung angezweifelt. So urteilte u. a. der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 1931 angesichts der tiefen Verstrickung des Philosophen in das Regime Neros: „Solange er am höfischen und politischen Leben teilnahm, hatte er auch die Moral, nicht nur die stoische, an den Nagel gehängt oder doch nur mit den Lippen bekannt, und auf dem Totenbett posiert er, wie er es in seinen Schriften immer getan hat.“ Tacitus bezeugt, dass Seneca bereits von seinen Zeitgenossen wegen des Widerspruchs zwischen seinen Lehren und seinem Handeln attackiert wurde. So warf ihm der Senator Publius Suillius Rufus öffentlich vor, seine Machtposition am Hof auszunutzen, um verbrecherisch zu Reichtum zu gelangen: Andere Forscher vertreten allerdings eine Gegenposition und verteidigen die Einheit von Leben und Lehre Senecas. Die Altertumswissenschaftlerin Hildegard Cancik-Lindemaier vertrat 1967 die These, Seneca habe gerade als Philosoph weniger durch seine Dialoge und Traktate wirken wollen als durch die in ihnen dargestellten positiven und negativen Seiten der eigenen Person: „Das Selbstzeugnis als Exemplum gehört in die Mitte des senecanischen Philosophierens; in ihm wird die Einheit von Leben und Lehre unmittelbar bezeugt.“ Der Latinist Niklas Holzberg erklärte 2016 die Existenz der bösartigen Apocolocyntosis, die schlecht mit der stoischen Ethik Senecas vereinbar sei, damit, dass es sich um eine spätere Fälschung handle. Ungewisse Anfänge Senecas Geburtsjahr ist nicht überliefert und auch nicht sicher bestimmbar. Neuere Rekonstruktionsversuche sprechen für das Jahr 1, doch wird auch weiterhin das Jahr 1. v. Chr. genannt. Im spanischen Corduba geboren, gelangte er noch als Kleinkind in der Obhut seiner Tante nach Rom; anscheinend wollte sein Vater Seneca der Ältere als eques seinen Sohn schon von klein auf im Herzen der Weltmacht heranwachsen sehen und den feinen römischen Zungenschlag annehmen lassen. Mit seiner Frau Helvia hatte er noch zwei weitere Söhne. Senecas älterer Bruder Novatus wurde unter seinem Adoptivnamen Gallio 51/52 n. Chr. Prokonsul in der Provinz Achaia und wies u. a. eine Klage der Juden gegen den Apostel Paulus ab; später übernahm er das Amt eines Konsuls. Seneca widmete ihm drei seiner Schriften, darunter De ira (Über den Zorn) und De vita beata (Vom glücklichen Leben). Sein jüngerer Bruder Mela übernahm die Verwaltung des Familienbesitzes in Corduba. Seneca der Ältere betrieb intensiv rhetorische Studien und verfasste darüber ein Werk, in dem er sich sehr kritisch zur gekünstelten zeitgenössischen Rhetorik äußerte. Auf diesem Felde war der gleichnamige Sohn also frühzeitig orientiert. In Verbindung damit dürfte er einen vorzüglichen rechtskundlichen Unterricht erhalten haben, der ihn auf eine anwaltliche Tätigkeit vorbereitete, für die es unerlässlich war, das rhetorische Instrumentarium zu beherrschen. Die rhetorischen Stilübungen waren ihm allerdings weit weniger wichtig als die philosophischen Grundsätze, die ihm seine Lehrer Sotion und Attalos vermittelten. Sotion, der neben stoischen auch pythagoreische Lehren vertrat, beeinflusste Seneca stark und nachhaltig. Er veranlasste ihn zeitweise dazu, gemäß der pythagoreischen Tradition nur fleischfreie Kost zu sich zu nehmen. Die empfohlene harte Matratze für seine Bettstatt behielt Seneca bis ins Alter bei. Vor der Nachtruhe nahm er, wie er es bei Sotion gelernt hatte, täglich eine Rekapitulation des Tages als Selbstprüfung und Gewissensforschung vor: Gesundheitlich war Seneca von Kindesbeinen an und während seines ganzen Lebens durch Asthma-Anfälle und chronische Bronchitis stark eingeschränkt. Atemnöte und Fieberschübe setzten ihm in jungen Jahren derartig zu, dass er davor stand, sich das Leben zu nehmen. Eine gewisse Stabilisierung trat erst ein, als er im Alter von etwa 30 Jahren das ihm bekömmlichere Klima im ägyptischen Alexandria aufsuchte, wo er bei seiner Tante unterkam, die mit dem römischen Präfekten von Ägypten verheiratet war. Sie setzte sich für ihn ein, als er nach seiner Rückkehr nach Rom, wo er sich als Anwalt bei den Gerichten bereits einen Namen gemacht hatte, erfolgreich um die Quästur als Einstieg in die römische Ämterlaufbahn bewarb. In diese Zeit fielen auch die ersten seiner überlieferten philosophischen Schriften in Briefform. In der Trostschrift an Marcia, die Tochter des Historikers Cremutius Cordus, deren Kind verstorben war, betrachtete er die Entwicklung ihrer Trauer und gab Anregungen, ihr über den Verlust des Sohnes hinwegzuhelfen. Noch akzentuierter griff er klassisches stoisches Gedankengut in seinem dreiteiligen Werk De ira auf. Diese Arbeit stammt aus den vierziger Jahren und ist seinem Bruder gewidmet. Das Problem der Affektkontrolle wird hier auf vielfältige Weise lebenspraktisch, historisch-exemplarisch und politisch abgehandelt. Da es sich nach Seneca beim Zorn um eine beherrschbare Regung handelt, hielt er entsprechendes erzieherisches Einwirken für nötig. Dabei kam es ihm besonders auf die genaue Beobachtung der individuellen Entwicklung an, weil z. B. mit dem Mittel des Lobes einerseits das Selbstbewusstsein des Schützlings gestärkt, andererseits aber Überheblichkeit und Jähzorn gefördert werden könnten. Mal müsse eben gebremst, mal angefeuert werden. Sein die Menschenwürde achtender pädagogischer Ansatz zeigt sich, wenn er fortfährt: Trostschriften aus der korsischen Verbannung Hineingeboren in die Ära des Augustus, eben Jugendlicher bei Herrschaftsantritt des Tiberius, arrivierter Anwalt und Senatsmitglied, als Caligula Princeps wurde: So lassen sich Senecas vier erste Lebensjahrzehnte mit der Geschichte des frühen Prinzipats in Beziehung setzen. Ausschlaggebend für seinen weiteren Lebenslauf wurde das julisch-claudische Herrscherhaus allerdings erst im Jahre 41, als Seneca nach der Beseitigung des despotischen Caligula von dessen Nachfolger Claudius in die Verbannung nach Korsika geschickt wurde. Dies geschah auf Betreiben Messalinas, mit der Claudius in dritter Ehe verheiratet war und die Julia Livilla als potentielle Rivalin ausschalten wollte. Deshalb denunzierte sie diese wegen angeblichen Ehebruchs mit Seneca. Nur der Fürsprache Kaiser Claudius’ im Senat war es zu verdanken, dass Seneca statt zum Tode zur Verbannung nach Korsika verurteilt wurde. Weil dies in Form einer Relegatio (nicht der Deportatio) geschah, blieben ihm Eigentum und staatsbürgerliche Rechte erhalten. Acht Jahre währte die Verbannung auf Korsika insgesamt. Erhalten sind aus dieser Zeit vor allem zwei Trostschriften, in denen Seneca einerseits stoischen Schicksalsgehorsam, andererseits aber auch den dringenden Wunsch nach Beendigung des Exils zum Ausdruck brachte. Er zeigte sich, indem er Trost spendete, zugleich als Trost Suchender in auf die Dauer quälender Abgeschiedenheit. In dem Trostschreiben an seine Mutter Helvia, die von seiner Verbannung hart getroffen worden war, versicherte Seneca, er sei nicht unglücklich auf Korsika und könne es auch gar nicht werden. Warum sollte er nicht mit einem Ortswechsel seinen Frieden machen können, wo doch von den Himmelsgestirnen bis zu den Menschenvölkern so vieles ständig in Bewegung sei. Im Schlussabschnitt schrieb er: Eine deutlich weniger optimistische Beschreibung seiner Lage enthält dagegen die Trostschrift für den Freigelassenen Polybius, der bei Hofe das Referat für Bittschriften leitete (a libellis) und dem er sich wohl vor allem mit dem Ziel andiente, er möge bei Kaiser Claudius die Lösung seiner Verbannung erwirken. Dieses Schreiben schloss Seneca, nachdem er seine eigene kraftlose und abgestumpfte geistige Verfassung beklagt hatte, entschuldigend mit den Worten: Der mühsam verbrämte Eigennutz dieser obendrein erfolglosen Trostschrift und das am Ende hervorbrechende Selbstmitleid haben Seneca mancherlei Spott und Kritik eingetragen. Manfred Fuhrmann stellte 1997 dazu fest: „Die Nachwelt hat Seneca diesen Kotau, das Erzeugnis einer Depression, ziemlich übel genommen. Sein Tun habe aufs schärfste seinen philosophischen Lehren widersprochen, schreibt Cassius Dio …“. Ludwig Friedländer attestierte Seneca 1900 eine Überhäufung des Polybios mit unwürdigen Schmeicheleien und wies darauf hin, dass Seneca später aus Scham erfolglos die Vernichtung dieser Schrift betrieben haben soll. Erzieher des Thronfolgers Das Ende der Verbannung kam für Seneca schließlich ohne eigenes Zutun, als Kaiserin Messalina, die Initiatorin des Verfahrens gegen Julia Livilla und Seneca, ihr sexuell und machtpolitisch motiviertes Spiel überzog und eine Abwesenheit des Claudius von Rom dazu nutzte, den designierten Konsul Gaius Silius zu ehelichen, was beide bald danach das Leben kostete. Nun sah Agrippina die Jüngere, die neben Julia Livilla vormals ebenfalls verbannte Nichte des Claudius, gute Chancen, ihrem Sohn Lucius aus erster Ehe, dem späteren Nero, Thronchancen zu verschaffen, indem sie Kaiser Claudius ehelichte. Als Erziehungsbeistand ihres Sohnes aber hatte sie Seneca ausersehen. Diesem Ruf konnte Seneca, den es zunächst nach Athen gezogen haben soll, sich schwerlich versagen. Der machtpolitischen Dynamik im Kaiserhaus entsprechend, konnte Gunst schnell und massiv in Ungunst umschlagen. Im Jahre 50 bekleidete Seneca – zweifellos mit maßgeblicher Unterstützung des Kaiserhauses – die Prätur. Sobald Agrippina Kaiserin geworden war, veranlasste sie Claudius, der mit Britannicus schon einen von Messalina geborenen Thronfolger hatte, ihren Sohn unter dem Namen Nero Claudius Caesar zu adoptieren. Nero konnte als der um drei Jahre Ältere von beiden nun die erste Anwartschaft beanspruchen. Zwar gab es keine verbindlichen Regelungen in der Nachfolgefrage, doch war in der Vergangenheit die Adoption gewohnheitsmäßig zum Mittel der dynastischen Legitimation in der Nachfolge des Prinzipats geworden. Dies war die Konstellation, in der Seneca an Neros Seite trat. Nach acht Jahren Exil wieder in Rom zu sein war für Seneca zweifellos ein scharfer und tief erlebter Kontrast. In diese Zeit fiel seine Schrift „Von der Kürze des Lebens“, in der Seneca die zeitgenössischen städtischen Lebensformen einer exemplarischen Kritik unterzog: Sein spezielles Augenmerk hatte der widersprüchliche Umgang der Menschen mit Besitz und Eigentum einerseits und mit ihrer begrenzten Lebenszeit andererseits: Raubbau an der gegebenen Lebensspanne treibe auch, wer lohnende Vorhaben in ein Alter verschiebe, von dem er gar nicht wissen könne, ob er es überhaupt erreichen werde. Zu leben verstehe hingegen, wer die alltägliche Betriebsamkeit hinter sich lasse und sich der Philosophie zuwende. Damit erschließe sich dem Menschen eine reiche Vergangenheit. Seneca plädiert hier für das Studium unterschiedlicher philosophischer Wege: Es liegt nahe, dass Seneca seine philosophischen Leitvorstellungen auch dem heranwachsenden Nero vermittelt hat, der gemäß Agrippinas Ambitionen aber hauptsächlich auf seine Rolle als künftiger Kaiser vorbereitet werden sollte. Nero selbst neigte eher den schönen Künsten zu, hatte darin auch einiges Talent und einen starken Hang zur Selbstinszenierung. Wenn Seneca möglicherweise zu dieser Zeit begann, Tragödien zu schreiben, könnte er damit seinen Einfluss auf den Thronanwärter, der ihm in der Dichtkunst nacheiferte, noch verstärkt haben. In allen seinen Tragödien griff Seneca den klassischen Stoff der griechischen Mythen im Anschluss an Aischylos, Sophokles und Euripides auf. Sie waren dazu geeignet, seine philosophischen Überzeugungen teils drastisch-grauenvoll ausgemalt, teils spielerisch-unaufdringlich an den Zögling weiterzugeben. Ein Beispiel aus dem Thyestes: Etwa fünf Jahre war Seneca als Erzieher des Prinzen tätig, bis Claudius im Jahr 54 starb – angeblich von seiner Frau vergiftet, die damit Nero zum Kaiser machen und selbst noch mehr Macht erhalten wollte. Mitgestalter von Neros Herrschaftsbeginn Einer von Neros Nachfolgern, der von 98 bis 117 regierende Kaiser Trajan, soll die ersten Regierungsjahre Neros von 54 bis 59 als das glückliche Jahrfünft (Quinquennium) des Römischen Reiches bezeichnet haben. Als erst Sechzehnjähriger gelangte Nero im Herbst 54 zur Herrschaft; und das positive Urteil über die ersten Jahre seines Prinzipats ist vor allem den beiden vorzüglich harmonierenden politischen Vordenkern und Begleitern Neros, dem Gardepräfekten Sextus Afranius Burrus und dem von Nero auch als Gegengewicht gegen die eigene Mutter weiterhin hoch geschätzten und mit umfänglichen Schenkungen bedachten Seneca geschuldet. Über Senecas Einflussnahme auf politische Entscheidungen im Einzelnen schweigen die Quellen. Weder zu seinem kurzen Konsulat 55 noch zu seinem Verhalten im Senat ist Konkretes bekannt. Zu Neros ersten Amtshandlungen gehörte die Leichenrede auf den Adoptivvater Claudius, die Seneca für ihn vorbereitet hatte und die Nero in würdiger Manier vortrug. Als aber an einer Stelle von Claudius’ vorausschauenden Fähigkeiten und von seiner Weisheit die Rede war, verbreitete sich anlasswidrig allgemeine Heiterkeit, denn Claudius galt bei den Senatoren als beschränkt. Seneca verfasste noch im selben Jahr den Ludus de morte Claudii Neronis, das „Spiel über den Tod von Claudius Nero“, das mit einem von Cassius Dio überlieferten Titel zumeist als „Apocolocyntosis“ („Verkürbissung“ im Sinne von Veräppelung) zitiert wird. Es ist die einzige menippeische, das heißt teils in Prosa, teils Hexametern verfasste Satire, die von Seneca überliefert ist. Er macht sich ausgiebig über die angeblichen geistigen, moralischen und körperlichen Unzulänglichkeiten des verstorbenen Kaisers lustig. So legt er dem sterbenden Claudius als letzte Worte in den Mund: „Vae me, puto, concacavi me!“ (auf Deutsch etwa: „O je, ich fürchte, ich habe mich beschissen“) und schildert dann seinen Weg durch das Jenseits, wo Kaiser Claudius, statt als Gott verehrt zu werden, schließlich als Sklave eines Freigelassenen als Gerichtsdiener zu arbeiten hatte. Gregor Maurach mutmaßte, Seneca habe sich später für diese zornige Polemik geschämt, die dem eigenen Ideal philosophischer Gelassenheit so offenkundig widersprach, und habe versucht, ihre weitere Verbreitung zu verhindern. Ganz auf der Linie seiner philosophischen Werke lag dagegen Senecas programmatische Mahnschrift Ad Neronem Caesarem de clementia („An Kaiser Nero über die Milde“), mit der er seinen Schüler zu Beginn von dessen Prinzipat zu Milde gegenüber den ihm untergebenen Mitbürgern und zu einer verantwortungsvollen Amtsführung anhalten wollte. Nach Marion Giebels Auffassung legte Seneca mit dieser primär für die Öffentlichkeit bestimmten Schrift das „längst nötige Fundament für die traditionslose römische Monarchie“. Er bezog sich dabei auf das Wort des Zenon-Schülers und makedonischen Königs Antigonos II. Gonatas, dem zufolge die Herrschaft für den König „eine ehren- und ruhmvolle Knechtschaft“ sei. Die Rolle eines milden Kaisers hat Nero wohl zeitweise angenommen und die Würde des Senats wieder stärker hervorgekehrt; in irgendeiner dienenden Funktion hat er sich allerdings wohl kaum gesehen. Bei Manfred Fuhrmann heißt es dazu: „Die Monarchie ist unkontrollierbar, die hieraus sich ergebenden Defizite können allein durch den Menschen selbst ausgeglichen werden: Diese wohldurchdachte Doktrin Senecas vermochte nur jemanden zu beeindrucken, der zur Selbstreflexion fähig und von der Erfahrung der eigenen, eingeschränkten Subjektivität durchdrungen war.“ Bei der Absicherung seiner Macht verließ sich Nero nicht auf die ihm gegenüber beschworene Milde. Schon im Jahre 55 traten zwischen Agrippina, die ihren Willen mitzuherrschen auch bei offiziellen Anlässen zu erkennen gab, und Nero Spannungen auf, die auch Seneca nur notdürftig zu überspielen vermochte. Als die Mutter dem Sohn mit den nicht erledigten Thronansprüchen seines Stiefbruders Britannicus drohte, arrangierte Nero laut Quellenzeugnissen dessen Vergiftung bei einem Essen in Anwesenheit Agrippinas und ließ dazu verbreiten, Britannicus sei an einem epileptischen Anfall gestorben. Schattenseiten der Machtteilhabe Seneca hatte an dem Essen, das für Britannicus tödlich endete, nicht teilgenommen. Wie er auf den Mord reagierte, ist nicht überliefert. Ausrichten konnte er ohnehin wenig, wenn er seinen Einfluss auf Nero nicht verlieren wollte. Ob und ab wann Seneca den Platz an Neros Seite möglicherweise als problematisch empfunden hat, bleibt offen. Zwar schreibt er in einem der Briefe an Lucilius, er habe den rechten Weg erst spät erkannt, doch führte er andererseits – wie fast immer ohne expliziten Bezug zum eigenen Tun – philosophische Gründe für sein anhaltendes Mitwirken im Zentrum der römischen Macht an. Mit dem Beispiel des Sokrates, der unter der Gewaltherrschaft der Dreißig in Athen 404/403 v. Chr., seinen Mitbürgern ein unangepasst-freies Auftreten vorgelebt habe, unterlegte Seneca die These, dass ein Weiser sich gerade in einer für das Gemeinwesen schwierigen Lage verdient machen könne und dass es den Umständen entsprechend abzuwägen gelte, wann politisches Engagement chancenreich und wann aussichtslos sei. Schon innerhalb des später äußerst positiv gewürdigten Quinquenniums erschwerte Neros Impulsivität und sein Hang zu Ausschweifungen Seneca und Burrus das Geschäft, zumal Poppaea Sabina, die Mätresse und ab 59 Ehefrau des Kaisers, immer mehr Einfluss über ihn gewann. Seneca harrte dennoch, vielleicht um Schlimmeres zu verhüten, auf seinem Posten am Hofe aus. Nach Ansicht anderer Forscher wie Ulrich Gotter, die den Philosophen nicht in Schutz nehmen wollen und seine philosophische Selbstdarstellung für Fassade halten, ging es Seneca dabei allerdings vor allem um seine eigene Machtstellung: Auch durch Zuwendungen Neros war Seneca zu einem der reichsten Männer des Imperium Romanum geworden – laut Tacitus wuchs sein Vermögen allein in den vier Jahren zwischen 54 und 58 um 300 Millionen Sesterzen. In der Provinz Britannien trieb er 40 Millionen Sesterzen aus gekündigten Krediten, die er den Schuldigern vorher aufgedrängt hatte, rücksichtslos ein. Als der frühere Konsul Publius Suillius Rufus, der sich unter Claudius als Ankläger in Majestätsprozessen verhasst gemacht hatte, im Jahr 58 selbst vor Gericht gestellt wurde, griff er Seneca laut Tacitus vor dem Senat als Jugend- und Frauenverführer sowie als Müßiggänger und Geldsack an, der die Provinzen skrupellos ausplündere, kinderlose Römer zwinge, ihn als Erben einzusetzen und „seiner Raffgier auch noch ein philosophisches Mäntelchen der Bedürfnislosigkeit umhänge.“ Seneca, zu diesem Zeitpunkt noch in Neros Gunst stehend, gewann den Prozess, und Suillius wurde in die Verbannung geschickt. Senecas Schrift Vom glücklichen Leben wird häufig als Antwort auf diese Angriffe gedeutet. Darin bestritt er nachdrücklich, dass es einen Widerspruch zwischen der stoischen Lehre und seinem persönlichen Reichtum gäbe. Der Weise müsse allerdings fähig sein, materielle Güter aufzugeben und dürfe sich nicht zu ihrem Sklaven machen. Wie eine Replik auf die im Suillius-Prozess erhobenen Vorwürfe klingt folgende Passage: Seneca-Experten bemängeln, große Teile dieser Arbeit dienten der Rechtfertigung des eigenen Reichtums mithilfe zweckhaft ausgewählter Philosopheme. Richard Mellein spricht in diesem Zusammenhang von Senecas „scheinheiligem Opportunismus“. Ob Seneca zu dieser Zeit noch mit seinen Tragödien befasst war, ist unklar; bekannt ist aber, dass er eine der ihm ursprünglich zugeschriebenen Tragödien, die sich als einzige direkt auf das zeitgenössische Geschehen am Hofe Neros bezog, nicht selbst geschrieben hat. Titelheldin war Neros erste Frau Octavia (wie Britannicus ein Kind des Claudius), die zu ehelichen Neros Thronansprüche untermauert hatte. War Octavia bis dahin schon den Zurücksetzungen durch ihre Schwiegermutter Agrippina ausgesetzt, so wurde sie nun von Poppaea mehr und mehr aus ihrer Stellung gedrängt und musste später, als Seneca sich bereits weitgehend aus dem politischen Leben zurückgezogen hatte, Rom verlassen. Nach erprobtem Muster war sie des Ehebruchs bezichtigt worden, doch wurde das allgemein nicht für bare Münze genommen. Da sie auch als Verbannte im Volk weiterhin sehr beliebt war und Nero wie auch Poppaea, die unterdessen geheiratet hatten, als Bedrohung erschien, wurde sie schließlich 65 umgebracht. Tacitus zufolge war Seneca im Jahr 59 in den vollendeten Muttermord Neros unmittelbar einbezogen. Ein erster Anschlag auf Agrippina, die sich von einem für den Untergang präparierten Schiff noch hatte retten können, war fehlgeschlagen. Daraufhin soll sich Nero Rat bei Seneca und Burrus geholt haben. Die Vollendung des Mordaktes habe dann Neros enger Vertrauter, der griechische Freigelassene Anicetus, besorgt. In einer wie üblich von Seneca verfassten Mitteilung an den Senat hieß es, ein Bote der Agrippina habe Nero ermorden sollen; sie selbst habe sich nach Vereitelung der Untat den Tod gegeben. Rückzug aus der Politik und Spätwerk in Muße Nero hatte nach dem Mord an Agrippina allein die Macht inne und bedurfte Senecas als eines vermittelnden Wahrers seiner Ansprüche gegenüber der Mutter nicht mehr. Dennoch änderte sich an der äußeren Stellung Senecas, des neben Burrus wichtigsten politischen Beraters des Princeps, zunächst nichts. Beide dienten Nero, indem sie politisch Regie führten, während der Kaiser zunehmend seinen Leidenschaften bei Wagenrennen nachging und seine künstlerischen Neigungen als Musiker und Tragödienmime sowie als Stifter und Zentralfigur musischer Festspiele und Wettbewerbe wie der Juvenalia und der Neronia verwirklichte. Nach dem Bericht des Tacitus bat Seneca, als Burrus 62 starb – von dessen Nachfolger Tigellinus eher angefeindet –, um Entlassung aus dem Staatsdienst. Gleichzeitig äußerte er den Wunsch, Nero möge den Großteil seines durch kaiserliche Protektion erworbenen gewaltigen Vermögens zurück in die eigene Verwaltung nehmen. Der Kaiser erwiderte ablehnend, er könne die Vermögensabtretung nicht ohne Schaden für den eigenen Ruf annehmen, immerhin seien unter seinem Vorgänger Claudius sogar freigelassene Sklaven reicher beschenkt worden; jenseits der rhetorischen Anerkennungsfloskeln war Senecas Abschied aus dem Machtzentrum aber dennoch besiegelt. Er entließ das Gefolge, das ihn seiner politischen Bedeutung entsprechend umgeben hatte, und zog sich mehr und mehr ins Privatleben zurück, meist nach Nomentum auf ein Weingut nordöstlich von Rom. Sein Ausscheiden aus dem politischen Leben und aus der Mitverantwortung für das Gemeinwesen der antiken Weltmacht hat Seneca in seiner Schrift Über die Muße philosophisch reflektiert. Er lässt einen unbekannten Gesprächspartner fragen: Die Antwort auf diesen rhetorischen Einwand lautet: Ohnehin sah sich Seneca als Stoiker nicht nur dem staatlichen Gemeinwesen des Römischen Reiches verpflichtet, sondern auch jenem umfassenden „Staatswesen“, als welches er Natur und Kosmos mitsamt allen Menschen und Göttern betrachtete. Diesem mit der Sonne auszumessenden Staatswesen sei aber auch in der Muße mit vielerlei Untersuchungen zu dienen: Er folgerte: In der ihm verbleibenden Zeit nach seinem politisch aktiven Leben hat Seneca von 62 bis 65 neben weiteren themenbezogenen philosophischen Werken wie Über Wohltaten (De beneficiis) noch zwei weitere Großprojekte realisiert: die auf Naturerscheinungen und kosmische Zusammenhänge gerichtete Schrift Naturwissenschaftliche Untersuchungen (Quaestiones naturales), die er schon auf Korsika begonnen hatte, sowie die als praktische philosophisch-ethische Handreichung konzipierte Sammlung der Briefe an Lucilius, von denen 124 überliefert sind. Diese umfangreiche Arbeit stellt sein philosophisches Hauptwerk dar. Otto Apelt wies 1924 darauf hin, dass nach Zitaten aus den Noctes Atticae des Gellius ursprünglich noch weitere Briefe existierten. Todeserwartung auf stoische Weise Senecas Leben endete mit der von Nero befohlenen Selbsttötung. Der politische Hintergrund war die Pisonische Verschwörung gegen Neros zunehmend despotisches Regiment. Fuhrmann sieht Seneca dabei zwar nicht unmittelbar beteiligt, aber doch in der Rolle des geistigen Wegbereiters. Der verbreiteten politischen Unzufriedenheit mit Kaiser Nero, auch im Senatorenstand, gab Seneca in seinem Werk Über Wohltaten Ausdruck. Dort heißt es in Anspielung auf Nero: Der lange geplante und mehrfach verschobene Mordanschlag auf Nero wurde kurz vor seiner Ausführung verraten. Durch Zusicherung von Straflosigkeit für die Kooperationsbereiten gelang es dem Kaiser, eine breite Denunziationswelle auszulösen, zu deren zahlreichen Opfern auch Seneca gehörte. Die Lage, in die er dadurch geriet, traf ihn jedoch nicht unvorbereitet, da die Vorbereitung auf den eigenen Tod ein zentrales Thema der stoischen Lebenskunst darstellt: Senecas fragiler Gesundheitszustand hatte ihn schon in jungen Jahren dem Tod nahe gebracht. Über seine Atemnot äußerte er: „Der Anfall […] aber ist ein Ringen mit dem Tode. Daher nennen die Ärzte das Leiden ‚eine Vorübung auf das Sterben‘.“ Seine stoische philosophische Ausrichtung hatte ihm den Weg damit umzugehen gewiesen: „Lass Dir von mir sagen: ich werde vor dem letzten Augenblick nicht zittern, ich bin schon bereit, ich rechne nie mit einem ganzen Tag, den ich etwa noch zu leben hätte.“ Der Tod und die Bekämpfung der Todesfurcht waren zuletzt zu einem besonders wichtigen und stets wiederkehrenden Thema in den Briefen an Lucilius geworden. Es war wohl die ganz bewusst ins Zentrum gerückte letzte lebenspraktische Bewährung für Seneca: „Vor dem Eintritt ins Greisenalter war es mein Bestreben, in Ehren zu leben, nun, da es da ist, in Ehren zu sterben.“ Schon im 4. Brief an Lucilius hatte Seneca einen rigorosen Standpunkt eingenommen: Nicht das Leben betrachtete er als Gut, sondern nur das sittlich reine Leben. Über den Weisen, der unter anhaltenden schweren Störungen der Gemütsruhe litt, schrieb er: Eingehend setzte Seneca sich im 70. Brief an Lucilius mit diesem Problem auseinander, indem er u. a. jene Philosophen kritisierte, die Suizid zur Sünde erklärten: „Wer so spricht, sieht nicht, dass er der Freiheit den Weg versperrt. Wie hätte das ewige Gesetz besser verfahren können, als uns nur einen Eingang ins Leben zu geben, aber viele Ausgänge?“ Man könne keine allgemein gültige Antwort darauf geben, ob im Einzelfall der Tod erwartet oder selbst herbeigeführt werden sollte: „Denn es gibt viele Gründe, die uns zu einer von beiden möglichen Entscheidungen bewegen können. Wenn die eine Todesart mit Folterqualen verbunden ist, die andere einfach und leicht, warum sollte ich mich nicht an die letztere halten?“ Senecas aus häufiger intensiver Befassung mit Sterben und Tod gewonnene Schlussfolgerung in diesem 70. Brief an Lucilius lautete: Nero inszenierte die Abrechnung mit seinem Mentor als zweistufigen Prozess. Nachdem Seneca denunziert worden war, schickte der Kaiser einen höheren Offizier zu ihm, damit er sich über seine Beziehung zu Piso äußere. Seneca bestätigte den ausgesprochenen Verdacht nicht, bekam aber dennoch wenig später durch einen anderen Boten die Aufforderung zur Selbsttötung zugestellt. Er wollte sich Tafeln bringen lassen, um sein Testament zu verfassen. Dies wurde ihm jedoch verwehrt. Daraufhin vermachte er seinen Freunden als Einziges, aber zugleich Schönstes – wie er es ausdrückte – das „Bild seines Lebens“ (imago vitae). Der Philosoph war sich dessen bewusst, dass der Tod jederzeit und an jedem Ort gegenwärtig ist. Tacitus schildert in seinen Annalen das Sterben Senecas als Tod eines Weisen nach dem Vorbild des Sokrates, dessen Tod in Platons Phaidon ausgemalt wird. Demnach soll Seneca die Selbsttötung erst beim dritten Versuch gelungen sein: Zunächst habe er sich die Pulsadern und weitere Arterien an den Beinen geöffnet, dann soll er wie Sokrates einen Schierlingsbecher getrunken haben und sei schließlich in einem Dampfbad erstickt. Seine Frau Pompeia Paulina, die sich im Fortgang des quälerischen Prozesses auf Senecas Bitte in einen anderen Raum hatte bringen lassen, machte ebenfalls einen Versuch der Selbsttötung. Doch ließ Nero angeblich die bereits geöffneten Pulsadern wieder verbinden, sodass sie ihren Gatten noch einige Jahre überlebte. Der Philosoph Seneca verstand sich als Philosoph, der die Lehren der Stoa weiterführte, auf diesem Boden eigene philosophische Erkenntnisse zeitgemäß formulierte und für lebenslanges Lernen plädierte. Er hatte bei der Niederschrift seiner Werke zumeist konkrete Personen als Empfänger vor Augen, auf deren Verhalten und Leben er einwirken wollte, so z. B. seinen Freund Annaeus Serenus, der unter Lebenszweifeln litt. Aus neuzeitlicher Perspektive ist manchmal in Zweifel gezogen worden, dass Seneca überhaupt als Philosoph anzusehen sei. Aufgrund seiner leichten Lesbarkeit und seiner Konzentration auf alltagsbezogene Fragen der Ethik – die Probleme der Logik behandelte er gar nicht, die Naturphilosophie lediglich in den Naturales quaestiones, ohne dabei an die philosophischen Traditionen anzuknüpfen – wird er häufig als Popularphilosoph bezeichnet. Seneca selbst hat zu seinen Intentionen eine Vielzahl klärender Hinweise in seinem Schrifttum hinterlassen, so z. B. im 64. Brief der Epistulae morales an Lucilius: Bedeutung und Nutzen seines Philosophierens beschrieb Seneca im 90. Brief so: „Die Philosophie“, heißt es im 16. Brief, „ist unsere Pflicht und muss uns schützen, gleich ob das Schicksal uns durch sein unerbittliches Gesetz determiniert, ob ein Gott aus seinem Willen das Weltganze angeordnet hat oder ob der Zufall die Handlungen der Menschen chaotisch in ständige Bewegung setzt.“ Die Betonung liegt bei Seneca häufig auf der praktischen tugendhaften Lebensführung, die nicht jedermann erreichen kann. Vielfach stellt er das Philosophieren in diesem Sinne dem Trachten und Treiben der Masse des Volkes gegenüber und unterstreicht den Wert der eigenen Argumente gerade durch diese Abgrenzung. Dafür ist seine Schrift Von der Kürze des Lebens ein Beispiel. Nicht wohl gesetzte Worte, sondern Taten sind demnach entscheidend: Auch kurz vor seinem Lebensende macht er diese Auffassung noch einmal deutlich: Von ihm stammt auch der Ausspruch Non vitae sed scholae discimus („Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“), der später besonders in seiner Umkehrung berühmt wurde und in Wirklichkeit eine Kritik an der aus seiner Sicht zu wenig lebenspraktischen Orientierung der seinerzeit gelehrten Philosophie vermitteln sollte. Stoiker eigener Art Neben Mark Aurel und Epiktet zählt Seneca zu den wichtigsten Vertretern der jüngeren Stoa. Als Seneca geboren wurde, existierten die Lehren dieser Athener Philosophenschule bereits 300 Jahre. Vom 2. Jahrhundert v. Chr. an hatten sie verstärkt Einzug in führende Kreise der Römischen Republik gehalten, da sie sich als gut verträglich mit deren elitärer Bindung an das Gemeinwohl erwiesen. Daneben hatten aber auch andere philosophische Schulen und die Volksfrömmigkeit ihre Anhänger. Für Einflüsse anderer philosophischer Schulen war Seneca offen und übernahm manches davon in sein Denken, ohne an seiner Grundeinstellung Zweifel zuzulassen. In ausdrücklicher Abgrenzung von anderen philosophischen Richtungen, denen er Weichlichkeit nachsagte, betonte er, den Stoikern komme es nicht darauf an, dass der Weg reizvoll-angenehm sei, „sondern dass er uns möglichst bald befreie und zu einem hohen Gipfel führe, der weit genug aus der Reichweite von Speeren liegt, um dem Schicksal entronnen zu sein.“ Auf dem von Seneca gemeinten Gipfel erlangt der in zäher Entschlossenheit Aufgestiegene den unerschütterlichen Seelenfrieden, der zugleich ein Frieden mit Natur und kosmischer Ordnung ist. „Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele.“ Zur Seelenruhe führen kann nur die Vernunft, die von Seneca als „Teil des göttlichen Geistes, versenkt in den menschlichen Körper“ bezeichnet wird. Nur die Vernunft kann die Affekte kontrollieren, deren Beherrschung der stoischen Lehre gemäß den Weg zum höchsten Gut ebnet. Nur sie kann den Philosophen zu der Erkenntnis führen, dass die Lebenszeit begrenzt ist, dass alle Menschen vor dem Tod gleich sind und dass der Weise seine kurze Zeit in Gelassenheit und Frieden mit der Mehrung des Gemeinwohls und des philosophischen Wissens zubringen soll. Senecas frühe philosophische Auseinandersetzung mit dem als größte emotionale Herausforderung angesehenen Zorn zielt auf diesen Zusammenhang: Ebenso müssen andere Affekte und Leidenschaften wie Lust, Unlust, Begierde und Furcht überwunden werden. Vernunftbedingte Gelassenheit ist folglich die oberste Tugend des Stoikers. Wiederholt bekennt sich Seneca zu der philosophischen Tradition, in der er steht. Deren Lehren an veränderte Umstände anzupassen, begreift er als wichtige Aufgabe. Lehrer individueller Tugend, gemeinnützigen Engagements und weltbürgerlicher Orientierung Wie die späte Stoa überhaupt, befasste sich Seneca vornehmlich mit Fragen der rechten Lebensführung, insbesondere mit der Ethik. Als höchstes Gut galt auch ihm die Tugend, unabdingbare Grundlage und Begleiterscheinung der heiteren Gelassenheit und der Seelenruhe, der stoischen Inbegriffe menschlichen Glücks. Das Glück habe nichts mit Reichtum oder dem Urteil der Menschen zu tun, sondern sei geistiger Natur. Der Glückliche verachte, was allgemein bewundert wird, „kennt keinen, mit dem er tauschen möchte“ und „beurteilt einen Menschen nur nach seinem menschlichen Wert“. Die Menschen sollen ein Leben nach den Gesetzen der Natur führen und dabei unterscheiden zwischen dem, was unabwendbar ist, und den Dingen, auf die der Mensch Einfluss nehmen kann. Außerdem forderte Seneca dazu auf, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen, selbstlos soziale Aufgaben zu übernehmen und Freundschaften zu pflegen: Andererseits betonte er aber auch die Doppelgleisigkeit der menschlichen Anlagen: „Man muß dennoch beides miteinander verbinden und abwechseln – Einsamkeit und Geselligkeit. Jene verursacht in uns Sehnsucht nach Menschen, diese nach uns selber, und es dürfte die eine der anderen Heilmittel sein: den Haß auf die Masse heilt die Einsamkeit, den Verdruß gegenüber der Einsamkeit die Masse.“ Den gesellschaftlichen Statusunterschieden setzte Seneca eine ursprüngliche menschenrechtliche Gleichheitsvorstellung an die Seite: Sich auf Platon berufend, betonte er den Zufall der gesellschaftlichen Position und die Bedeutung der eigenen geistigen Bemühungen. Ein glückliches Leben, meinte Seneca, könne nur derjenige führen, der nicht nur an sich selbst denke und alles seinem Vorteil unterordne. Glück spende die Fähigkeit zur Freundschaft mit sich selbst und anderen. Allerdings tadelte Seneca Freunde wegen Fehlverhaltens und Uneinsichtigkeit auch. So äußerte er in einem Brief an Lucilius über den gemeinsamen Freund Marcellinus: „Er besucht uns nur selten und zwar deshalb, weil er die Wahrheit nicht hören möchte. Diese Gefahr besteht für ihn allerdings nicht mehr. Denn davon reden sollte man nur mit jenen, die auch zuzuhören bereit sind.“ Im selben Brief fährt er fort: „Ich gebe unseren gemeinsamen Freund Marcellinus noch nicht völlig verloren. Er kann noch immer gerettet werden, allerdings nur, wenn man ihm schnell die Hand reicht. Dabei könnte es jedoch passieren, dass er denjenigen, der ihm die Hand reicht, mit sich fortreißt. Er besitzt große Geistesgaben, leider mit einem Hang zum Schlechten verbunden….“ Seneca hebt die Bedeutung der Freigiebigkeit hervor: „Geben wir so, wie wir selbst empfangen möchten: vor allem gern, rasch und ohne jedes Zögern.“ Zwar könne man als Wohltäter bei seinen Mitmenschen an die Falschen geraten, doch treffe es ein andermal die Richtigen: Dabei redete er aber nicht einer Mitleidsethik das Wort, wie sie etwa gleichzeitig die frühen Christen verbreiteten. Mitleid lehnte er als „benachbart dem Leiden“ explizit ab, da es das Ziel seines Philosophierens, die abgeklärte Seelenruhe, nur störe: Der stoische Weise kann nach Seneca durch das Verhalten anderer in seiner souveränen Seelenruhe nicht behindert werden, wird in dieser Hinsicht also gewissermaßen unverletzlich: Im 90. Brief an Lucilius unterscheidet Seneca zwischen einer Art Naturzustand und dem vorgefundenen entwicklungsgeschichtlichen Zustand der Gesellschaft: „Die Verbundenheit unter den Menschen blieb eine Zeit lang unverletzt, bis die Habgier den Bund zerriss und auch denen, die sie bereicherte, zur Ursache ihrer Armut wurde. Denn Menschen besitzen nicht mehr das Ganze, solange sie Teile davon als ihr Eigentum betrachten. Die ersten Menschen und ihre Nachkommen folgten dagegen unverdorben der Natur.“ Die Führungsfunktionen fielen demnach ebenso natürlich den aufgrund ihrer geistigen Bedeutung dafür Geeignetsten zu. Denn unangreifbare Autorität besitze nur der, „welcher seine Macht ganz in den Dienst der Pflicht stellt“. In geschichtlicher Zeit lenkt Seneca den Blick auf das Individuum, indem er bezüglich der vier Kardinaltugenden unterstreicht: „Bei den Menschen der Vorzeit gab es noch nicht Gerechtigkeit, Einsicht, Mäßigung oder Tapferkeit. Ihr noch bildungsloses Leben zeigte gewisse Ähnlichkeiten zu all diesen Tugenden; doch die Tugend selbst wird nur einem unterwiesenen und gelehrten Verstand zuteil, der durch beständige Übung zur höchsten Einsicht gelangt ist.“ Jenes Goldene Zeitalter der Menschheit unter der unangefochtenen Herrschaft der Weisen, das Seneca im 90. Brief teilweise den Vorstellungen des Poseidonios nachgezeichnet hat, mündete dieser Vorstellung nach schließlich in den historischen Prozess der Antike, der Seneca bis zu den Anfängen des Prinzipats geläufig war: „Aber als sich die Laster langsam einschlichen und sich so die Monarchie zur Tyrannis wandelte, wurden erstmals Gesetze notwendig, welche anfänglich noch von den Weisen gegeben wurden.“ In diesem Zusammenhang erwähnt er Athens Gesetzgeber Solon und für Sparta Lykurg. Das Verhältnis des Philosophen zu den politisch Herrschenden betrachtete Seneca als jemand, der dieses Feld sowohl in gestaltender als auch in leidender Rolle kennen gelernt hatte: Die Wohltat des Friedens durch die politische Führung des Herrschers erstreckt sich Seneca zufolge zwar auf alle Menschen, „wird aber tiefer von denen empfunden, die einen lobwürdigen Gebrauch davon machen.“ Die Bürger sollen am politischen Leben teilnehmen, auch wenn sie nur geringen Einfluss auf die Ergebnisse nehmen können. „Der Einsatz eines engagierten Bürgers ist niemals nutzlos: Er ist allein schon nützlich, wenn man ihm zuhört oder ihn auch nur sieht, durch seinen Gesichtsausdruck, seine Gestik, seine stumme Anteilnahme, ja allein durch seinen Auftritt.“ Dabei bezog er sich nicht nur auf das eigene Staatswesen, sondern bezeichnete sich im Sinne der Stoa als Weltbürger mit der Aufgabe, die Tugend weltweit zu verbreiten. Haltung zu Frauen und Sklaven in der römischen Gesellschaft Manches in Senecas philosophischen Schriften passt nach Villy Sørensen zum Horizont der städtischen westlichen Gegenwartszivilisation. Andererseits lassen seine Äußerungen öfters die spezifischen Prägungen der antiken Kultur erkennen, der er angehörte: „Missgeburten löschen wir aus, Kinder auch, wenn sie schwächlich und missgestaltet geboren worden sind, ertränken wir; und nicht Zorn, sondern Vernunft ist es, vom Gesunden Untaugliches zu sondern.“ Die Haltung Senecas gegenüber dem anderen Geschlecht war ambivalent. Der geistigen Hauptströmung seiner Zeit entsprechend bezeichnete Seneca Frauen als minderwertig. Dabei ging er so weit, sie – wenn sie ohne Bildung waren – mit Tieren auf eine Stufe zu stellen. „Manche sind von solchem Irrsinn befallen, dass sie glauben, sie könnten durch eine Frau Herabsetzung erfahren. Was spielt es schon für eine Rolle, wie schön sie ist, wie viele Sänftenträger sie hat, welcher Art ihr Ohrschmuck oder wie bequem ihr Tragsessel ist? Sie ist ein immer gleich unvernünftiges Geschöpf, und wenn sie nicht über Kenntnisse und Bildung verfügt, nichts als ein wildes Tier, seiner Begierden nicht mächtig.“ Von diesem Ansatz her wird auch der Zorn als eine „weibische und kindische Schwäche“ klassifiziert, die aber auch Männer befalle: „Denn auch Männern wohnt kindische und weibische Veranlagung inne.“ Während an dieser Stelle die abwertende Tendenz gegenüber Frauen klar überwiegt, geht Seneca in seinen Trostschriften an ihm vertraute Frauen von gemeinsamen Anlagen beider Geschlechter aus. In diesen Trostschriften, die er für Marcia und für seine Mutter verfasst hat, zeigt er sich deutlich weniger misogyn. So schrieb er an Marcia: Und in der Trostschrift für seine Mutter Helvia nahm er explizit gegen das von seinem Vater vertretene und innerfamiliär durchgesetzte herkömmliche Frauenbild Stellung: Damit erkennt Seneca zwar die Macht seines Vaters als pater familias an, über seine Mutter Entscheidungen zu treffen, bemängelt aber, dass er ihr den Zugang zu Bildung erschwerte und ihr wissenschaftliche Arbeit untersagte. Indirekt unterstützt er damit die Forderung nach Frauenbildung und erweist sich wiederum als Philosoph, der überkommene Denkschablonen verlässt. Wie die nachrangige Stellung der Frauen gehörten auch Sklaverei und Sklavenhaltung zu den charakteristischen Merkmalen der antiken Gesellschaftsordnung. Rechtlich waren Sklaven dem Sachbesitz gleichgestellt, über den der Besitzer nach Gutdünken verfügen konnte. Senecas Einstellung zu diesen auch zu seiner Zeit noch nahezu Rechtlosen war von humaner Zuwendung bestimmt. Mit dieser Auffassung gehörte Seneca zu den wenigen Denkern der Antike, die sich kritisch mit der Sklaverei auseinandergesetzt haben. Diese Einstellung wurde von der römischen Elite wohl nicht geteilt. Vordenker von Weisheit Die ausdrückliche Bejahung der Schicksalsvorgaben und der individuelle Freiheitsanspruch gehen in Senecas Denken auf eigentümliche Weise zusammen. Als ein Übel sieht er jede Art von Abhängigkeit an, die die innere Freiheit bedroht: „Die Freiheit geht zugrunde, wenn wir nicht alles verachten, was uns unter ein Joch beugen will.“ Das Lebensglück ergibt sich hingegen aus einer scheinbar einfachen Formel: Dass die Formel in der Lebenspraxis selten ganz aufgeht und dass der Mensch eine diesbezüglich problematische Konstitution hat, wird an anderen Stellen verdeutlicht: Seneca ringt mit der eigenen Unvollkommenheit: „Bleiben wir also bei der Stange und lassen uns durch nichts von unserem Vorhaben abbringen! Was uns noch zu tun bleibt, ist mehr, als was wir bereits hinter uns haben; doch ein Großteil des Fortschritts beruht darauf, den Willen zum Fortschritt zu haben. Dessen aber bin ich mir gewiss: dass ich will, und zwar mit ganzer Seele.“ Solches Bemühen umfasst auch die Unabhängigkeit des Denkens von der Meinung des Volkes. Er zitiert an dieser Stelle Epikur: „Niemals habe ich dem Volk gefallen wollen. Denn was ich weiß, gilt dem Volk nichts, und was dem Volk etwas gilt, das interessiert mich nicht.“ Darin, betont Seneca, seien sich alle bedeutenden philosophischen Schulen einig, ob Epikureer, Peripatetiker, Anhänger der Akademie, Stoiker oder Kyniker; und er vollzieht eine scharfe Abgrenzung gegenüber jedwedem Populismus: Worauf es Seneca im Verlauf des Lebens schließlich ankommt, ist die Annäherung an das Ziel, die Unschuld des Neugeborenen mit den Mitteln der Vernunft und Einsicht zurückzugewinnen: Gottesbegriff und Todesanschauung Senecas Gottesbegriff ist komplex. Je nach Kontext spricht er von „Göttern“, dem „Göttlichen“ oder dem „Gott“. Hinsichtlich der Entwicklung des Individuums schreibt er: Der Weise schließlich steht für Seneca mit dem Göttlichen in engster Beziehung: Zum Tod, der letztlich doch einen markanten Unterschied setzt zwischen dem Weisen im Sinne Senecas und dem Göttlichen, hat Seneca nach Maßgabe der ihm geläufigen philosophischen Überlieferung Spekulationen angestellt bzw. Raum dafür gelassen: „Der Tod, was ist er? Das Ende oder ein Übergang. Ich fürchte beides nicht.“ Und im 70. Brief an Lucilius betont er wiederum das individuelle Selbstverfügungsrecht in Bezug auf das eigene Leben bis hin zu dessen Beendigung: Der Dramatiker Die Seneca zugeschriebenen Dramen sind die einzigen erhaltenen Tragödien der lateinischen Antike. Dabei handelt es sich im Unterschied zu den klassischen griechischen Tragödien nicht um Handlungsdramen, sondern um psychologische Dramen. Das Bindeglied zu den philosophischen Schriften stellt nach Maurach Senecas übergeordnetes Ziel der „Seelenleitung“ dar, das ihn in den Tragödien zum „Verfolger“ von Lastern, des Wahns und der Selbstüberhebung mit theatralischen Mitteln werden lässt: „Als ein solcher gestaltet er das Grauenvolle, Allvernichtende, will erschüttern und erschrecken vor dem, was der Mensch dem Menschen anzutun fähig ist“. Änne Bäumer schreibt dazu: „Dem Dichterphilosophen eröffnet sich durch das Theater eine Möglichkeit zur Breitenwirkung; der Zuschauer wird durch gut formulierte Sentenzen und durch geschickte Bühnenpsychologie beeinflusst, seine eigenen Affekte zu bekämpfen.“ Der Schwerpunkt lag auf der Bekämpfung des Zorns als seelischer Disposition, die durch Aggressivität in der Natur des Menschen liegt. Als weiteres Hauptthema der Tragödien Senecas wird die Verurteilung des destruktiven Tyrannen angeführt. Relativ sicher zugeschrieben werden ihm die Tragödien Medea, Agamemnon, Phoenissae, Oedipus, Troades, Hercules furens, Phaedra und Thyestes. Bei einzelnen Personen dieser Tragödien – am eindrucksvollsten an Clytaemnestra, der Hauptperson im Agamemnon – lässt sich deutlich beobachten, wie genau Seneca in Entsprechung zu den psychologischen Anschauungen der Stoa die Genese des furor, des durch keine Rationalität mehr beeinflussbaren Entschlusses zum Verbrechen, darstellt. Die meisten Forscher glauben heute, dass Seneca nicht als Autor der Octavia in Frage kommt, die ihm traditionell zugeschrieben wird. Es handelt sich dabei um die einzige vollständig erhaltene Praetexta, eine Variation der griechischen Tragödie in römischem zeitgenössischen Kontext. Die Handlung dreht sich um die Verstoßung von Neros Frau Octavia zugunsten von Poppaea. Es erscheint unmöglich, dass dieser unverkennbar Nero-kritische Text zu Senecas Lebzeiten veröffentlicht werden konnte. Seneca tritt selbst als Rollenfigur auf und wird aus der Perspektive seiner späteren Opposition zu Nero dargestellt. Neben der Octavia wird auch der Hercules Oetaeus als unecht angesehen. Mehrheitlich wird vermutet, dass auch die mythologischen Tragödien auf Ereignisse und besonders auf Intrigen am Kaiserhof, vermutlich zur Nerozeit, anspielen, etwa auf den Muttermord. Ein Zusammenhang zur Philosophie Senecas ist auch darin erkennbar, dass die Einordnung des Todes in die indifferentia (die gleichgültigen Dinge, auf die es nach stoischer Lesart nicht ankommt) ein hervorstechendes Motiv darstellt. Dem gewidmet waren auch zeitgenössische Schriften senatorischer Kreise über heroische Todesdarstellungen. In den Tragödien wird gelehrt, dass die Ablehnung des Freitodes schlimmer zu ertragen sein kann als dieser selbst. So verweigert der Held der Tragödie Hercules Furens nach Raserei und grausamem Verwandtenmord den anschließenden Freitod als eine das Verbrechen nicht hinreichend sühnende Strafe. Da die in der Weltliteratur nahezu beispiellos drastische Darstellung extremer Gewalt teilweise der Beschreibung von Herrschergewalt in Senecas Schrift Über den Zorn ähnelt, ist von einigen Experten eine Datierung in die Verbannungszeit unter Claudius vorgeschlagen worden. Ob die Stücke tatsächlich aufgeführt wurden – der Altphilologe Manfred Fuhrmann hält es für möglich, dass Nero und Seneca vor geladenen Gästen selbst als Darsteller auftraten – oder ob es sich um bloße Lese- und Rezitationsdramen handelte, ist in der Forschung umstritten. Maßgeblichen Einfluss hatten Senecas Schauspiele auf die tragischen Dramen der Renaissance, insbesondere im elisabethanischen England des 16. Jahrhunderts. In der Gegenwart werden Seneca-Tragödien kaum auf der Bühne inszeniert. Die Thyestes-Tragödie, die durch ihre besondere Grausamkeit hervorsticht – in ihrem Mittelpunkt steht Thyestes’ Verspeisen der eigenen Kinder – hat allerdings in jüngster Zeit als Beispiel ästhetischer Tabudurchbrechung verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. 1994 produzierte das Londoner Royal Court Theatre unter der Regie von James Macdonald eine Bühnenfassung in der Übersetzung von Caryl Churchill. Das Stuttgarter Schauspielhaus inszenierte 2002 die Tragödie. In demselben Jahr legte Durs Grünbein eine Nachdichtung vor. Der Schriftsteller als Stilbildner Nicht nur als Erneuerer einer auf die Lebenspraxis gerichteten stoischen Ethik, sondern auch als Sprachstilist hat Seneca Epoche gemacht. Das auffälligste Merkmal des von ihm geprägten neuen Stils, der so genannten Silbernen Latinität, war nach Fuhrmann die auf den Effekt gerichtete Pointe: Kaiser Caligula hat Senecas Redeweise als „Sand ohne Kalk“ kritisiert, weil es ihr an dem für Cicero charakteristischen Periodenbau gefehlt habe. Quintilian nennt seinen Stil „überwiegend schlecht und besonders dadurch höchst bedenklich, dass er von Schwülstigkeit aufgeblasen ist“, attestiert aber deutlich Senecas Bekanntheit und würdigt dessen Gelehrsamkeit. Tacitus wiederum hat Seneca bescheinigt, den Geschmack der Jugend getroffen zu haben. Die Sentenz ist nach Maurach die „stilistische Urzelle“ Senecas und eben nicht wie bei Cicero die Satzperiode. Dies deutet auf ein verändertes Wert- und Lebensgefühl: „Konzentration auf sich selbst, Vereinzelung, Verlust an weitgespannter Einordnung.“ Seneca wende sich sowohl an den Intellekt mit den Mitteln der Darlegung, Klärung und Bewusstmachung als auch an die Emotion, wobei er hier u. a. das Antreiben, Beschämen, Bestätigen oder Korrigieren bis hin zum Begeistern und Hinaufreißen anwende. Seneca selbst hat sich aber zu Cicero keineswegs in scharfem Gegensatz gesehen, sondern ihm ausdrücklich Wertschätzung bekundet: „Lies den Cicero“, empfahl er Lucilius, „sein Stil ist einheitlich und elegant im Satzrhythmus.“ Inhaltsleere Effekthascherei und Manipulation der Massen lehnte er ab: An anderer Stelle kritisiert er die überladene Ausdrucksweise derer, die sich modischer Ausschweifung hingeben, und hebt die Notwendigkeit klarer und einfacher Rede als Ausdruck eines einfachen würdevollen Lebens hervor. Er zitiert ein griechisches Sprichwort, wonach des Menschen Redeweise seinem Leben gleicht, und bezieht es auf den sittlichen Verfall des Gemeinwesens: Senecas stilbildende Wirkung hielt nicht lange vor, obwohl es zu einer bahnbrechenden Neuerung in der Folge gar nicht mehr kam. Vielmehr setzte in der Generation nach Seneca eine Rückbesinnung auf die Klassik nach dem Vorbild Ciceros ein und weitere Jahrzehnte darauf sogar die Wiederbelebung der Vorklassik zwischen 240 und 80 v. Chr. Aulus Gellius, dessen Auseinandersetzung mit Senecas Stil im 2. Jahrhundert n. Chr. die letzte für die Antike überlieferte darstellt, bezeichnete ihn als „albernen und läppischen Menschen“ (Noctes Atticae 12, 2). „Dies sind die letzten Worte“, so Fuhrmann, „die das alte Rom über einen seiner Größten an die Nachwelt hat gelangen lassen.“ Rezeption Im 4. Jahrhundert tauchte ein, wie heute bekannt ist, gefälschter Briefwechsel mit dem Apostel Paulus auf, was Hieronymus dazu brachte, Seneca als einzigen heidnischen Römer in seine Biographiensammlung De viris illustribus aufzunehmen. Auch seine Philosophie wurde in die Nähe des Christentums gerückt, da sie z. B. hinsichtlich Schicksalsgehorsam bzw. Ergebung in den göttlichen Willen als individuelle Prüfung und Bewährung Parallelen aufwies, wie auch bezüglich der Gewissensforschung und der mitmenschlichen Verbundenheit. Nicht erst Hieronymus, sondern bereits die altkirchlichen Schriftsteller Tertullian und Laktanz haben Seneca große Wertschätzung entgegengebracht. Zu Senecas Nachwirken seit der Antike gibt es bisher nur auf spezielle Aspekte oder einzelne Epochen gerichtete Untersuchungen, Zusammenstellungen der verstreuten Literatur oder diesbezügliche summarische Betrachtungen. Im Mittelalter kam er wegen seiner Nähe zu manchen christlichen Lehrsätzen als Moralphilosoph zur Geltung. Dante nannte ihn in der Göttlichen Komödie Seneca morale, da im Mittelalter die Werke Senecas zwei Autoren zugeschrieben wurden, dem Moralphilosophen Seneca und einem Tragödiendichter gleichen Namens. Auch seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen (Quaestiones naturales) wurden studiert, so etwa von Roger Bacon. Außerdem existiert eine mittelalterliche Büste im Chorgestühl des Ulmer Münsters. In der Renaissance waren es vor allem niederländische Humanisten, die sich Seneca intensiv zuwendeten. Erasmus von Rotterdam brachte die erste textkritische Ausgabe von Senecas philosophischen Schriften heraus; Justus Lipsius wurde mit der an Seneca ausgerichteten Schrift De constantia zum Mittelpunkt eines Neustoizismus. Sein Freund Peter Paul Rubens würdigte Seneca u. a. mit dem Bild Der sterbende Seneca. Auch den Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin war Seneca eine Autorität. Montaignes Essais sind von Senecas Briefen an Lucilius wesentlich inspiriert. Auch die Begründer des modernen Völker- und Naturrechts, Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf, bezogen sich auf Senecas Schriften. Besondere Wertschätzung wurde Seneca von jeher in Frankreich entgegengebracht. Aus seinen Tragödien übernahm Corneille das rhetorische Gepräge der Sprache und die Dialektik des Dialogs, Racine fügte aus ihnen gar ganze Szenen in einige seiner Stücke ein. Auch Diderot wurde in seinen späten Jahren zum Lobredner Senecas und meinte, dass er sich selbst viel Kummer hätte ersparen können, wenn er Senecas Grundsätze früher angenommen hätte. Die Vertreter der neuhumanistischen deutschen Klassik mit ihrer Hochschätzung der Griechen auf Kosten der Römer bewerteten zumeist auch Senecas Philosophie als eine bloß abgeleitete. Hegel schließlich fand bei Seneca „mehr Brast und Bombast moralischer Reflexion als wahrhafte Gediegenheit“, während andererseits Schopenhauer Seneca sehr nahestand. Friedrich Nietzsche verachtete Seneca, dem er unterstellte, der philosophische Inhalt sei bei ihm sekundär gegenüber der pointierten Formulierung, weshalb er seine Schriften in der Fröhlichen Wissenschaft als „unausstehlich weises Larifari“ abtat. Nach seiner kritischen Auseinandersetzung mit der neueren Seneca-Rezeption gelangt Sørensen zu dem Schluss, dass Seneca „sich als einer der ersten zum Fürsprecher eines zweckbestimmten humanen Rechts machte, das nicht nur die Untat, sondern die gesamte Situation betrachtet. Das setzt gerade die Erkenntnis voraus, dass der Mensch nicht von Natur aus verderbt ist, und es setzt ebenfalls voraus, dass man selbst souverän ist: kurz, der Affekt kann die Handlungen anderer entschuldigen, man kann sie jedoch nicht entschuldigen, wenn man sich selbst im Affekt befindet. Man kann die Handlungen anderer nur von deren Voraussetzungen her verstehen, versteht man jedoch seine eigenen Handlungen nur von den Verhältnissen her, dann hat man sich aufgegeben.“ Sørensen verweist auf eine Vielzahl von Aspekten in Senecas philosophischen Schriften, die dem Erfahrungs- und Vorstellungshorizont insbesondere eines Stadtbewohners der westlichen Gegenwartszivilisation nahestehen. Im März 2023 kam der deutsche Spielfilm Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben des Regisseurs Robert Schwentke mit John Malkovich in der Titelrolle in die Kinos. Schriften (Auswahl) Apocolocyntosis (andere Titel: Divi Claudii apotheosis oder Iudus de morte Claudii) – die „Verkürbissung“ (Veräppelung) von Kaiser Claudius, Seneca zugeschrieben Naturales quaestiones („Naturwissenschaftliche Untersuchungen“) Dialoge (Zählung traditionell nach der Überlieferung im Codex Ambrosianus C 90, nicht chronologisch) 1: De Providentia („Die Vorsehung“) 2: De Constantia Sapientis („Die Unerschütterlichkeit des Weisen“) 3–5: De Ira (drei Bücher) („Der Zorn“) 6: De Consolatione ad Marciam (auch: Ad Marciam de consolatione) („Trostschrift für Marcia“) 7: De Vita Beata („Vom glücklichen Leben“ / „Das glückliche Leben“) 8: De otio („Die Zurückgezogenheit“) 9: De Tranquillitate Animi („Über die Ausgeglichenheit der Seele“ / „Die Ruhe der Seele“) 10: De Brevitate Vitae („Von der Kürze des Lebens“ / „Die Kürze des Lebens“) – Essay, der ausführt, dass man im Heute und nicht im Morgen leben soll, und dass das Ziel des Lebens mehr Muße, nicht mehr Arbeit ist 11: De Consolatione ad Polybium („Trostschrift für Polybius“) 12: De Consolatione ad Helviam matrem („Trostschrift für Mutter Helvia“) De Clementia („Über die Güte“, an Nero) De Beneficiis („Über Wohltaten“) Epistulae morales ad Lucilium – Sammlung von 124 Briefen an Lucilius über die (spätstoische) Ethik Acht Tragödien Hercules Furens (Der rasende Herkules) Troades (Die Troerinnen) Medea Phoenissae (Die Phönizischen Frauen) Phaedra Agamemnon Thyestes Oedipus Zwei (fälschlich) ihm zugeschriebene Tragödien Hercules Oetaeus (Hercules auf dem Oeta, wahrscheinlich unecht) Octavia (sicher unecht) (Fälschlich) ihm zugeschriebene Epigramme Textausgaben und Übersetzungen L. Annaei Senecae Philosophi Opera Omnia. Ad optimorum librorum fidem accurate edita. Ed. stereotyp. C. Tauchnitiana. 4 Bände. Lipsiae Holtze 1911. Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Dialoge I-VI. Lateinischer Text von A. Bourgery und R. Waltz. Hrsg. von Manfred Rosenbach. Erster Band. Sonderausgabe nach der 5. Aufl. von 1995. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, ISBN 3-534-14165-2. Philosophische Schriften. Hrsg. von Manfred Rosenbach. Zweiter Band. 4. Aufl. Darmstadt 1993 Philosophische Schriften. Erster Band. Dialoge. Dialoge I–VI. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7. Philosophische Schriften. Zweiter Band. Dialoge. Dialoge VII–XII. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7. Philosophische Schriften. Dritter Band. Dialoge. Briefe an Lucilius. Erster Teil: Brief 1–81. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7. Seneca-Brevier. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister. Reclam, Stuttgart 1996, ISBN 3-15-040032-5. Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch. Band 1: Hercules furens, Trojanerinnen, Medea, Phaedra, Octavia. Übersetzt und erläutert von Theodor Thomann. Zürich u. a., 1978 (2.A.) Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch. Band 2: Ödipus, Thyestes, Agamemnon, Herkules auf dem Öta, Phönissen. Übersetzt und erläutert von Theodor Thomann. Zürich u. a., 1969 Schriften zur Ethik: die kleinen Dialoge; Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Gerhard Fink. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2008 (Sammlung Tusculum), ISBN 978-3-538-03509-6. Handbuch des glücklichen Lebens. Übers. und hrsg. von Heinz Berthold, Anaconda, Köln 2005, ISBN 3-938484-44-6. De vita beata. Vom glücklichen Leben. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Fritz-Heiner Mutschler, Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-001849-8. De tranquillitate animi. Über die Ausgeglichenheit der Seele. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Heinz Gunermann, Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-001846-3. Moralische Briefe. Ins Deutsche übersetzt und ausgewählt von Hermann Martin Endres, Goldmann, München 1960 (Goldmanns gelbe Taschenbücher 614). Das glückliche Leben – De vita beata, Lateinisch Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Gerhard Fink, Albatros Verlagsgruppe Mannheim 2010, ISBN 978-3-538-07606-8. Seneca Vom glücklichen Leben. Aus dem Lateinischen von Otto Apelt, Anaconda Verlag GmbH, Köln, 2016, ISBN 978-3-7306-0415-1. Seneca, Glück und Schicksal. Hrsg. von Marion Giebel, Reclam, Stuttgart, 2017, ISBN 978-3-15-011105-5. (Jubiläumsausgabe) L. Annaeus Seneca: Naturales quaestiones – Naturwissenschaftliche Untersuchungen, Lateinisch / Deutsch, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998, ISBN 3-15-009644-8. Literatur Übersichtsdarstellungen: Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. Band 2. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-026525-5, S. 979–1021. Mireille Armisen-Marchetti, Jörn Lang: Seneca (Lucius Annaeus). In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 6, CNRS Éditions, Paris 2016, ISBN 978-2-271-08989-2, S. 177–202. Gregor Maurach: Lucius Annaeus Seneca. In: Maurach: Geschichte der römischen Philosophie. 3. Auflage, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19129-3, S. 105–129. Einführungen und Gesamtdarstellungen: Michael von Albrecht: Seneca. Eine Einführung. Reclam, Ditzingen 2018. Ergänzte Ausgabe der Originalausgabe: Wort und Wandlung. Senecas Lebenskunst (= Mnemosyne Supplementum, 252). Brill, Leiden u. a. 2004. Gregor Damschen, Andreas Heil (Hrsg.): Brill’s Companion to Seneca. Philosopher and Dramatist. Brill, Leiden u. a. 2014, ISBN 978-90-04-15461-2. Manfred Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie. Fest, Berlin 1997, ISBN 3-8286-0012-3. Marion Giebel: Seneca. Rowohlt, Reinbek 1997, ISBN 3-499-50575-4. Gregor Maurach: Seneca. Leben und Werk. 4. Auflage, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-15000-7 (sehr detailliert, bespricht Werk und Leben getrennt). James Romm: Dying Every Day. Seneca at the Court of Nero. Knopf, New York 2014, ISBN 978-0-307-59687-1. Marc Rozelaar: Seneca. Eine Gesamtdarstellung. Hakkert, Amsterdam 1976, ISBN 90-256-0780-2. Villy Sørensen: Seneca. Ein Humanist an Neros Hof. Beck, München 1984 (dänische Originalausgabe: Kopenhagen 1977). Shadi Bartsch, Alessandro Schiesaro (Hrsg.): The Cambridge Companion to Seneca. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2015, ISBN 978-1-107-69421-7. Tragödien: Eckard Lefèvre: Senecas Tragödien. Darmstadt 1972. Philosophie: Gregor Maurach (Hrsg.): Seneca als Philosoph. 2. Auflage, Darmstadt 1987 (Sammlung von Aufsätzen). Paul Veyne: Weisheit und Altruismus. 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Texte in der Bibliotheca Augustana (lat.) digitale Ausgabe von Senecas Opera omnia von 1503 (Venedig) auf E-rara.ch private Seite Lucius Annaeus Seneca – Leben und Werk Seneca-Hörbücher bei LibriVox private Seite Biographischer Steckbrief (Leben, Werk, Literatur) Anmerkungen Konsul (Römische Kaiserzeit) Philosoph (Antike) Römische Philosophie Stoa Autor Literatur der Antike Literatur (Latein) Lyrik Aphorismus Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Geboren im 1. Jahrhundert v. Chr. oder 1. Jahrhundert Gestorben 65 Mann
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John Marshall Harlan
John Marshall Harlan (* 1. Juni 1833 im Boyle County, Kentucky; † 14. Oktober 1911 in Washington, D.C.) war ein amerikanischer Jurist und von 1877 bis zu seinem Tod Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Er wurde in Nachfolge von David Davis zum 44. Richter in der Geschichte des Gerichts berufen und war einer der ersten Verfassungsrichter in den USA, der einen Universitätsabschluss in Rechtswissenschaft erlangt hatte. Seine juristische Bildung beruhte also im Gegensatz zu seinen meisten Vorgängern und Kollegen nicht, wie damals üblich, auf einem bloßen Lehrverhältnis in einer Anwaltskanzlei. Bekannt wurde er vor allem durch die kontroverse Entscheidung des Gerichtshofs im Mai 1896 im Fall Plessy v. Ferguson, mit welcher der Oberste Gerichtshof die Gesetzgebung zur Rassentrennung in den Südstaaten für verfassungsgemäß erklärte. Harlan, selbst ein ehemaliger Sklavenhalter, lehnte die 7-zu-1-Entscheidung als einziger Richter ab. In seiner Minderheitsmeinung sagte er voraus, dass das Urteil als Schande in die Geschichte des Gerichts eingehen würde. Der auf dem Urteil basierende Grundsatz „Separate but equal“, der in den folgenden Jahrzehnten die juristische und soziale Grundlage für die Rassentrennung definierte, wurde 1954 durch die Entscheidung Brown v. Board of Education aufgehoben. Harlans Amtsdauer von 34 Jahren zählt zu den längsten in der Geschichte des Obersten Gerichtshofs. Kennzeichnend für sein Wirken als Richter war, dass er in rund einem Viertel seiner in den Urteilen abgegebenen Stellungnahmen eine andere Position als die Mehrheit seiner Kollegen vertrat. Er zählt damit zu einer Reihe von Richtern in der Geschichte des Gerichts, die auf Grund ihrer oft von der Richtermehrheit abweichenden Meinung als great dissenter („große Abweichler“) bezeichnet werden, und gilt als einer der herausragendsten Verfassungsrichter in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Leben Familie und Ausbildung John Marshall Harlan wurde am 1. Juni 1833 in eine Familie der sogenannten Pflanzer-Aristokratie geboren. Ihre Vorfahren waren 1687 als Quäker in Delaware angekommen. Die Harlans besaßen umfangreiche Ländereien und rund ein halbes Dutzend Sklaven für Arbeiten im Haushalt und zur Pflege der umliegenden Gartenanlagen. Eine Reihe von Familienangehörigen hatte im Laufe der Familiengeschichte einflussreiche Positionen in der Politik der Kolonien und späteren US-Staaten eingenommen. Sein Vater James Harlan war Anwalt und zwei Wahlperioden lang Abgeordneter des US-Kongresses. Später war er in Kentucky als Politiker in verschiedenen Ämtern tätig, unter anderem als Justizminister (Attorney General). Seine Mutter Eliza Shannon Davenport entstammte einer ortsansässigen Farmerfamilie. 1822 hatten seine Eltern geheiratet. Sie benannten ihr sechstes von insgesamt neun Kindern nach John Marshall, einem prominenten ehemaligen Vorsitzenden Richter am Obersten Gerichtshof. Harlan besuchte zunächst eine Privatakademie in Frankfort, Kentucky, da es zur damaligen Zeit noch keine staatlichen Schulen in seinem Heimatstaat gab. Anschließend studierte er bis 1850 am Centre College in Danville. Nebenbei beschäftigte er sich in der Anwaltspraxis seines Vaters mit juristischer Literatur. Seinen Abschluss in Rechtswissenschaft an der Transylvania University in Lexington erwarb er 1852. Zur damaligen Zeit war eine universitäre Ausbildung keine Voraussetzung für eine Tätigkeit als Anwalt oder Richter, da die als Law Schools bezeichneten juristischen Fakultäten erst im Entstehen waren. Die Ausbildung von Juristen erfolgte vielmehr in der Regel durch ein Lehrverhältnis in der Kanzlei eines bereits praktizierenden Rechtsanwalts. Ein Jahr nach seinem Examen erwarb Harlan seine Anwaltszulassung. Von 1854 bis 1856 war er als Anwalt in der Praxis seines Vaters in Frankfort tätig. 1856 heiratete er Malvina French Shanklin, zusammen hatten sie drei Söhne und drei Töchter. Berufliche und politische Karriere Wie sein Vater war er anfangs Mitglied der Whig Party. Die Ansichten der Whigs hinsichtlich einer starken Zentralregierung prägten auch seine späteren juristischen Positionen. Nach der Auflösung der Partei war er in mehreren anderen Parteien aktiv, unter anderem den Know-nothings (einer rassistischen Geheimgesellschaft, die sich vor allem den Kampf gegen weitere (nicht-protestantische) Einwanderung verschrieben hatte). Trotz dieser mehrfachen Wechsel war seine Haltung zur Sklaverei zu dieser Zeit eindeutig: Er unterstützte sie vorbehaltlos und sah eine mögliche Abschaffung als Verletzung privater Eigentumsrechte. Im Jahr 1858 wurde er im Franklin County in Kentucky zum Richter gewählt und war in diesem Amt bis 1861 tätig. 1859 kandidierte er für einen Sitz im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten, verlor die Wahl jedoch knapp. Zwei Jahre später zog er nach Louisville und gründete dort mit einem Partner eine Anwaltspraxis. Mit dem Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 1861 meldete er sich zum Dienst in der Armee der Union und stieg während des Krieges bis zum Brevet-Rang eines Colonel auf. Auf der einen Seite unterstützte er zwar weiterhin vorbehaltlos die Sklaverei, setzte sich aber durch seinen Dienst für den Norden vor allem für den Erhalt der Union ein. Im Konflikt zwischen diesen beiden Positionen waren wahrscheinlich vor allem zwei Gründe entscheidend für seine Unterstützung der Nordstaaten. Zum einen sah er den Erhalt der Union in der bestehenden Form als essentiell für die Zukunft seines Heimatstaates Kentucky und die der anderen Bundesstaaten an. Zum anderen ging er zumindest zu Beginn des Krieges noch vom Fortbestehen der Sklaverei auch über den Krieg hinaus aus. Er hatte zunächst seinen Rückzug angekündigt für den Fall, dass Präsident Abraham Lincoln die Erklärung zur Abschaffung der Sklaverei unterzeichnen würde. Nach Bekanntgabe der Proklamation im September 1863 blieb er jedoch zunächst im Dienst, obwohl er die Erklärung als „verfassungswidrig und null und nichtig“ bezeichnete. Er verließ die Armee erst mehrere Monate später, um sich nach dem Tod seines Vaters um seine Familie zu kümmern. Dabei übernahm er für kurze Zeit die Kanzlei seines Vaters in Frankfort. In der Folgezeit widmete er sich wieder seiner Karriere und war von 1863 bis 1867 Justizminister des Staates Kentucky. 1866 veranlasste er in dieser Funktion eine Anklage wegen Verletzung des Kentucky Slave Code gegen John M. Palmer, der als General der Nordstaaten-Truppen männliche Sklaven rekrutiert hatte, um diesen mit ihren Familien die Freiheit zu ermöglichen. Nach dem Ende seiner Amtszeit zog er erneut nach Louisville, um dort als Anwalt zu praktizieren. Ab 1870 war hier unter anderem sein Freund Benjamin H. Bristow, der wahrscheinlich großen Einfluss auf Harlans spätere Ablehnung der Sklaverei hatte, für kurze Zeit sein Kanzleipartner. Nach dem Inkrafttreten des 13. Verfassungszusatzes, mit dem 1865 die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde, entließ er im Dezember 1865 die Sklaven in seinem eigenen Haushalt in die Freiheit. Gleichwohl lehnte er den 13. Verfassungszusatz und die Abschaffung der Sklaverei weiterhin ab. Nachdem Einfluss und Bedeutung der Whigs ab etwa 1860 deutlich gesunken waren und Harlan 1867 die Wiederwahl zum Justizminister Kentuckys verloren hatte, stand er für seine weitere politische Laufbahn vor der Entscheidung zwischen den Demokraten und den Republikanern. Da die Demokraten zur damaligen Zeit, entgegen Harlans eigenen Ansichten, eine Stärkung der Kompetenzen der Einzelstaaten forderten, trat er 1868 der Republikanischen Partei bei und blieb bis zu seinem Tod deren Mitglied. Entsprechend der Haltung seiner Partei wurde er in den folgenden Jahren ein erbitterter Gegner der Sklaverei und nannte sie 1871 die „höchste Form der Willkürherrschaft, die jemals auf dieser Erde existierte“, den Ku-Klux-Klan bezeichnete er als „Feinde aller Ordnung“. Er kommentierte dabei den grundlegenden Wandel in seinen Ansichten mit den Worten In den Jahren 1871 und 1875 kandidierte er für seine Partei als Gouverneur seines Heimatstaates, verlor jedoch in beiden Fällen die Wahl. Berufung zum Richter am Obersten Gerichtshof Am 29. November 1877 wurde er vom Senat als Nachfolger von David Davis als Richter am Obersten Gerichtshof bestätigt und am 10. Dezember des gleichen Jahres vereidigt. Davis war zuvor auf Grund seiner Wahl in den Senat von seinem Richteramt zurückgetreten. Bei den Vorwahlen in der Republikanischen Partei zu den Präsidentschaftswahlen ein Jahr zuvor hatte Harlan zunächst die Nominierung seines Freundes Benjamin Bristow, eines Vertreters des Reformflügels der Partei, unterstützt. Als sich Bristow in den ersten vier Wahlgängen nicht durchsetzen konnte, überzeugte Harlan nahezu alle Unterstützer Bristows unter den Delegierten, für Rutherford B. Hayes zu stimmen. Dieser gewann daraufhin die Vorwahlen im siebten Wahlgang mit einem Ergebnis von 384 zu 351 Stimmen gegen seinen Konkurrenten James G. Blaine vom moderaten Flügel. Neben den Stimmen der Unterstützer Bristows waren dabei auch die Anhänger von Oliver Morton, Senator aus dem wichtigen Staat Indiana und radikaler Anhänger der als Reconstruction bezeichneten Wiedereingliederung der Südstaaten in die Union, wahlentscheidend. Ihnen wurde im Gegenzug für die Wahl von Hayes ein hohes juristisches Amt für Harlan in Aussicht gestellt. Als der kurze Zeit später zum Präsidenten gewählte Hayes im Frühjahr 1877 einen Richterposten am Obersten Gerichtshof zu besetzen hatte, erwies sich Bristow bereits in der eigenen Partei als zu kontrovers für eine Nominierung. Hayes erinnerte sich daraufhin an die Verdienste Harlans bei seiner eigenen Wahl sowie an die Absprache mit den Unterstützern Mortons ein Jahr zuvor. Darüber hinaus stammte Harlan aus dem Süden der Vereinigten Staaten und galt damit als geeigneter Kandidat, um die Südstaaten-Flügel sowohl der Republikaner als auch der Demokraten zufriedenzustellen. Hayes hatte außerdem auch Interesse daran, seine eigene Reputation als Reformer innerhalb der Republikanischen Partei zu erhalten. All dies bewog ihn, am 16. Oktober 1877 Harlan als Kandidaten für das Amt vorzuschlagen. Anfängliche Zweifel im Senat konzentrierten sich auf mehrere Aspekte. Zum einen gab es Widerstand von einigen Senatoren, die am Gerichtshof eine Überrepräsentation des bereits mit zwei Richtern vertretenen Gerichtsbezirkes befürchteten, zu dem Kentucky gehörte. Eine Reihe von republikanischen Senatoren sah darüber hinaus unabhängig von der Person Harlans eine Gelegenheit, Präsident Hayes eine Niederlage zuzufügen. Hinzu kamen Zweifel hinsichtlich der Motivation und Aufrichtigkeit seines Sinneswandels bezüglich der Sklaverei sowie seines frühen Rückzugs aus der Nordstaatenarmee während des Bürgerkrieges. Harlan ging auf diese Kritikpunkte im Rahmen von mehreren Briefen an den Senat ein und wurde schließlich in einer gemeinsamen Abstimmung über insgesamt 17 Kandidaten, die für verschiedene Ämter nominiert waren, bestätigt. Im Laufe seiner Amtszeit erlebte er drei verschiedene Vorsitzende Richter am Obersten Gerichtshof. Von 1874 bis 1888 stand Morrison Remick Waite dem Gericht vor. Entgegen den Auffassungen Harlans war Waite im Allgemeinen für eine Einschränkung der Befugnisse der Bundesregierung, insbesondere auch in Entscheidungen zu den Verfassungszusätzen aus der Zeit der Reconstruction. Von 1888 bis 1910 wirkte Melville Weston Fuller als Vorsitzender Richter. Unter seiner Führung setzten sich die Tendenzen zur faktischen Rücknahme der gesetzlichen Regelungen zur Gleichberechtigung und zur Gleichstellung fort, die mit dem Ende der Reconstruction begonnen hatte. Das letzte Jahr in der Amtszeit Harlans fällt in die Zeit des Gerichts unter der Führung von Edward Douglass White, Vorsitzender Richter von 1910 bis 1921. Wie Harlan war White ein ehemaliger Sklavenhalter, er hatte sich jedoch im Gegensatz zu Harlan während des Bürgerkrieges in der Armee der Südstaaten verpflichtet. Zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Richter am Obersten Gerichtshof unterrichtete Harlan Verfassungsrecht an einer Abendschule für Rechtswissenschaften, die später ein Teil der George Washington University wurde, an deren Juristischer Fakultät er ab 1889 auch als Professor tätig war. Harlans Entscheidungen in verschiedenen Bereichen Harlans Entscheidungen in den relevanten juristischen Themenfeldern seiner Zeit lassen sich keiner bestimmten politischen oder juristischen Philosophie zuordnen. Er betrachtete den Obersten Gerichtshof als Hüter der Verfassung und verehrte James Madison, US-Präsident von 1809 bis 1817, sowie den ehemaligen Vorsitzenden Richter John Marshall, dessen Entscheidungen für ihn maßgeblich waren. Dem Konzept der Stare decisis, der strengen Bindung des Gerichts an vorherige Urteile, maß er große Bedeutung bei. Hinsichtlich seiner verfassungsrechtlichen Ansichten galt er als Föderalist sowie als strict constructionist, also als Vertreter einer engen und wortgetreuen Auslegung der Verfassung, und machte sich vor allem durch von der Gerichtsmehrheit abweichende Meinungen einen Namen. Obwohl er im Allgemeinen gute Beziehungen zu seinen Richterkollegen pflegte, zeigte er wenig Interesse an Kompromissen bei der Urteilsfindung, sofern ein Fall seine moralischen oder politischen Überzeugungen berührte. Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen nach seiner Berufung an den Gerichtshof, Strauder v. West Virginia im Jahr 1880, ging es um die Gleichstellung der Schwarzen. Harlan stimmte hier mit der Gerichtsmehrheit, die auf der Basis des Gleichbehandlungsgrundsatzes ein Gesetz des Staates West Virginia für verfassungswidrig erklärte, das Schwarze von einer Berufung zu Geschworenen in Gerichtsprozessen ausschloss. In Bürgerrechtsfragen nahm der Oberste Gerichtshof in den Jahren nach dem Ende der Reconstruction jedoch mehr und mehr Abstand davon, die nach dem Bürgerkrieg beschlossenen Verfassungszusätze 13 (1865), 14 (1868) und 15 (1870) zugunsten des Schutzes der afroamerikanischen Minderheit auszulegen. Harlan wandte sich gegen diese Entscheidungen und schrieb mehrere wortgewandte Minderheitsmeinungen, in denen er sich für die Gleichberechtigung und Gleichstellung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen aussprach. Als der Oberste Gerichtshof schließlich 1883 in einer gemeinsamen Entscheidung zu fünf Fällen zu Fragen der Bürgerrechte den Civil Rights Act von 1875 außer Kraft setzte, war Harlan erneut der einzige Abweichler. Er argumentierte unter anderem, dass die Diskriminierung von Schwarzen ein Kennzeichen der Sklaverei sei und der Kongress diese Diskriminierung ebenso gesetzmäßig, auch für Privatpersonen, unterbinden dürfe. Er berief sich dabei auf Stellen im 13. und 14. Zusatzartikel zur Verfassung. Darüber hinaus warf er der Gerichtsmehrheit insbesondere vor, die Verfassungszusätze aus der Zeit der Reconstruction zu untergraben. Auch in seinen späteren Jahren stimmte er in entsprechenden Fällen in der Regel gegen die Mehrheit des Gerichts, so beispielsweise 1908 in der Entscheidung Berea College v. Commonwealth of Kentucky. In dem Urteil zu diesem Fall erklärte der Oberste Gerichtshof ein Gesetz des Staates Kentucky für verfassungsgemäß, das privaten Schulen und Hochschulen explizit verbot, weiße und schwarze Schüler beziehungsweise Studenten in gemischten Klassen zu unterrichten. Obwohl seine Entscheidungen zu Bürgerrechtsfällen und Fragen der Gleichstellung im Allgemeinen konsistent waren, gibt es einige erwähnenswerte Ausnahmen. In der einstimmigen Entscheidung zum Fall Pace v. Alabama im Jahr 1883 stimmte er beispielsweise zusammen mit der Gerichtsmehrheit. Er lehnte damit das Argument ab, dass ein Gesetz in Alabama, durch das außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Weißen und Schwarzen härter bestraft wurde als in nicht-gemischten Beziehungen, gegen den 14. Verfassungszusatz verstoßen würde. In Cumming v. Richmond County Board of Education im Jahr 1899 verfasste er die Mehrheitsmeinung. In dieser Entscheidung wurde eine in Richmond County, Alabama, erhobene Steuer für rechtmäßig erklärt, die ausschließlich zur Finanzierung von Schulen für weiße Kinder verwendet wurde. Obwohl das Gericht vordergründig wirtschaftliche Gründe für diese Entscheidung vorbrachte und eine eigene Zuständigkeit auf der Basis von verfassungsrechtlichen Prinzipien ablehnte, stellte dieser Fall eine De-facto-Legalisierung der Rassentrennung in öffentlichen Schulen dar. In Fällen aus den Bereichen Steuergesetzgebung sowie Arbeits- und Wirtschaftsrecht, weiteren zentralen Fragestellungen dieser Periode in der Geschichte der Vereinigten Staaten, entschied er sowohl zugunsten der Steuerzahler beziehungsweise Arbeitnehmer als auch zum Vorteil von großen Firmen. Ein ihm manchmal nachgesagter Ruf als „Richter der einfachen Menschen“ entspricht deshalb nur zum Teil dem tatsächlichen Profil seiner Entscheidungen. Im Fall Pollock v. Farmers’ Loan & Trust Co. im Jahr 1895, dessen Streitpunkt die Bemessungsgrundlage der von der Bundesregierung erhobenen Einkommensteuer war, widersprach Harlan der Gerichtsmehrheit, deren Entscheidung von den meisten Amerikanern als einseitige Begünstigung großer Firmen angesehen wurde. Auch die Entscheidung United States v. E. C. Knight Co., die im gleichen Jahr zu einer Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung gegenüber Wirtschaftsmonopolen führte, lehnte er als einziger Richter ab. Im Fall Lochner v. New York im Jahr 1905 widersprach er der Entscheidung der Gerichtsmehrheit, die ein Gesetz des Staates New York für unzulässig erklärte, durch das die Arbeitszeit von Arbeitern in Bäckereien aus gesundheitlichen Gründen beschränkt wurde. Andererseits verfasste er 1908 die Mehrheitsmeinung im Fall Adair v. United States, in der das Gericht ein Bundesgesetz als verfassungswidrig beurteilte, das Firmen die Entlassung von Mitarbeitern allein auf der Basis eines Beitritts zu einer Gewerkschaft verbot. Die Mehrheit der Richter sah in diesem Gesetz eine unzulässige Einschränkung der Freiheitsrechte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Harlan war im Rahmen der Entscheidung Hurtado v. California im Jahr 1884 der erste Richter, welcher der Meinung war, dass der 14. Verfassungszusatz die Bill of Rights mit einschließt. Entsprechend dieser Auffassung besteht eine Verpflichtung für die Bundesstaaten, die in der Bill of Rights formulierten Grundrechte allen unter ihrer Rechtsprechung stehenden Menschen zu gewähren. Diese Rechtsauffassung setzte sich erst in einer Reihe von Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in den 1940er und 1950er Jahren durch. In der heutigen Rechtsprechung unterstehen nahezu alle in der Bill of Rights und den Verfassungszusätzen aus der Zeit des Bürgerkrieges formulierten Bürgerrechte dem 14. Verfassungszusatz, wenn auch aus rechtstheoretischer Sicht nicht auf der Basis der Argumentation von Harlan. Plessy v. Ferguson Im Mai 1896 fällte der Oberste Gerichtshof mit seinem Urteil im Fall Plessy v. Ferguson eine der kontroversesten Entscheidungen seiner Geschichte. Gegenstand des Falls war die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Staates Louisiana, das in Eisenbahnzügen eine Trennung zwischen Schwarzen und Weißen in verschiedenen Abteilen vorschrieb. Mit der Entscheidung des Gerichts wurde nicht nur dieses spezielle Gesetz, sondern auch die Rassentrennung in den Südstaaten im Allgemeinen für verfassungsgemäß erklärt und damit die Doktrin „Separate but equal“, also „getrennt aber gleich“, etabliert. Die Mehrheit des Gerichtshofes unter Führung des Richters Henry Billings Brown entschied dabei, dass die getrennte Bereitstellung von Einrichtungen für Schwarze und Weiße keine Ungleichbehandlung darstellen würde und dass jedes daraus abgeleitete Gefühl der Unterlegenheit der Schwarzen nicht der sozialen und gesellschaftlichen Realität entsprechen würde. Harlan war in dieser 7-zu-1-Entscheidung erneut der einzige Abweichler. In seiner Minderheitsmeinung, die den Bürgerrechtsaktivisten der folgenden Generationen als Inspiration diente, erklärte er unter anderem: Harlan argumentierte in seinen weiteren Ausführungen, dass dieses Gesetz ein „Kennzeichen der Knechtschaft“ (badge of servitude) sei und Schwarze herabwürdigen würde. Er sagte voraus, dass das Urteil des Gerichts in der Zukunft als eine ähnliche Schande angesehen werden würde wie die Entscheidung Dred Scott v. Sandford: Durch dieses Urteil war 1857 die Sklaverei manifestiert und die Rechtsauffassung zum Vorteil der Sklavenhalter verschoben worden. Die „Separate but equal“-Doktrin wurde schließlich 1954, und damit 58 Jahre nach Plessy v. Ferguson, mit dem Urteil im Fall Brown v. Board of Education aufgehoben. Auch die 1899 von Harlan mit unterstützte Entscheidung Cumming v. Richmond County Board of Education wurde damit außer Kraft gesetzt. Harlans Plessy-Votum im Kontext weiterer Entscheidungen Harlans Meinung in Plessy v. Ferguson machte zwar auf der einen Seite deutlich, dass er strikt die Auffassung vertrat, dass das Gesetz keine Rassentrennung erlauben würde und dass alle Menschen im Grundsatz gleich wären. Gleichwohl maß er andererseits der kulturellen Identität der weißen und schwarzen „Rassen“ sowie ihrer Aufrechterhaltung große Bedeutung bei, was auch in einigen seiner Aussagen in Plessy v. Ferguson zum Ausdruck kam: Die Gleichstellung und Gleichberechtigung zwischen Weißen und Schwarzen war somit für ihn mehr eine juristische Frage, deren Antwort er in der Verfassung suchte, als eine persönliche Überzeugung. Eine „Vermischung“ zwischen Weißen und Schwarzen in Lebensgemeinschaften und sozialen Aktivitäten lehnte er zwar nicht ab, stand ihr jedoch auch nicht so aufgeschlossen gegenüber, wie es die meisten seiner Minderheitsmeinungen möglicherweise vermuten lassen. In diesem Sinne sind neben seinen Ausführungen zur Überlegenheit der weißen „Rasse“ in Plessy v. Ferguson beispielsweise auch seine Entscheidungen in Pace v. Alabama und Cumming v. Richmond County Board of Education zu verstehen. Gleiches gilt für seine Aussagen in Plessy v. Ferguson zur Stellung der Chinesen in der amerikanischen Gesellschaft, die zusammen mit seiner Entscheidung im Fall United States v. Wong Kim Ark und einigen anderen Fällen zur rechtlichen Situation chinesischer Einwanderer in den Vereinigten Staaten wahrscheinlich ebenfalls aus dem Glauben an eine soziale und gesellschaftliche Überlegenheit der weißen „Rasse“ resultierten. In United States v. Wong Kim Ark hatte er 1898 zusammen mit Melville Fuller gegen die Gerichtsmehrheit gestimmt. Diese hatte in einer 6-zu-2-Entscheidung im Fall des in San Francisco als Sohn chinesischer Einwanderer geborenen Wong Kim Ark entschieden, dass Nachkommen von Ausländern, die sich zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes rechtmäßig in den Vereinigten Staaten aufgehalten hatten, Anspruch auf die amerikanische Staatsbürgerschaft hätten. Harlan unterstützte dabei die Meinung von Fuller, in der dieser die der Entscheidung zugrundeliegende Auslegung des 14. Verfassungszusatzes ablehnte. Fuller argumentierte, dass das amerikanische Staatsbürgerschaftsrecht nicht mehr dem aus der Tradition des englischen Rechts resultierenden Territorialprinzip folgte, sondern dass sich in der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten vielmehr das Abstammungsprinzip durchgesetzt hätte. Teil der Begründung waren starke kulturelle Unterschiede, die nach Ansicht von Fuller und Harlan eine vollständige Assimilation chinesischstämmiger Einwanderer in die amerikanische Gesellschaft verhindern würden. Tod und Nachfolger Harlan besaß bis ins hohe Alter eine robuste gesundheitliche Konstitution und war in seiner Freizeit langjährig sportlich aktiv. Es ist überliefert, dass er noch im Alter von 75 Jahren an einem Baseballspiel zwischen Richtern und Anwälten teilnahm. Darüber hinaus gilt er als erster Richter in der Geschichte des Gerichts, der leidenschaftlich Golf spielte, wann und wo immer sich die Gelegenheit dazu ergab. Während der Sitzungsphasen des Gerichtshofs war er nahezu täglich im Chevy Chase Club in Bethesda, Maryland aktiv, darüber hinaus pflegte er unter anderem seine Freundschaft mit dem späteren amerikanischen Präsidenten William Howard Taft während zahlreicher Golfrunden. Anekdoten über sein Golfspiel, wie beispielsweise eine 75er Runde an seinem 75. Geburtstag, gehörten zu seinem Bild in der öffentlichen Wahrnehmung und waren bis an sein Lebensende regelmäßig Teil der landesweiten Berichterstattung über sein Wirken. Nach 34 Jahren als Richter am Obersten Gerichtshof starb er, unerwartet und wahrscheinlich an einer Lungenentzündung, am 14. Oktober 1911. Er erreichte damit die fünftlängste Amtszeit in der Geschichte des Gerichts und war bis fünf Tage vor seinem Tod noch am Gericht aktiv. Die vorwiegend von Schwarzen besuchte Metropolitan African Methodist Episcopalian Church in Washington D.C., in der er als einer von wenigen Weißen 1895 an der Beisetzung des schwarzen Schriftstellers Frederick Douglass teilgenommen hatte, veranstaltete ihm zu Ehren einen Gedenkgottesdienst. Dieser begann musikalisch mit dem Trauermarsch „Marcia funebre sulla morte d’un Eroe“ (auf den Tod eines Helden), dem dritten Satz der Klaviersonate Nr. 12 von Ludwig van Beethoven. Sein Grab befindet sich auf dem Rock Creek Cemetery in Washington. Als Harlans Nachfolger wurde am 18. März 1912 Mahlon Pitney ins Amt eingeführt. Im Jahr 2002 erschienen unter dem Titel „Some Memories of a long Life, 1854–1911“ die Memoiren seiner Ehefrau, mit der er mehr als 50 Jahre lang verheiratet war. Das Manuskript, das sie vier Jahre nach seinem Tod verfasst hatte, wurde jahrzehntelang unveröffentlicht in der Library of Congress verwahrt und durch Recherchen von Ruth Bader Ginsburg, von 1993 bis 2020 Richterin am Obersten Gerichtshof, entdeckt. Harlan selbst hatte auf Wunsch seiner Kinder kurz vor seinem Tod eine Reihe biographischer Essays verfasst, die insbesondere Erinnerungen an seine Erfahrungen während des Bürgerkrieges und an sein politisches Wirken umfassten. Rezeption und Nachwirkung Mögliche Gründe für seinen Sinneswandel Zu den Ursachen für die grundlegende Änderung von Harlans Meinung hinsichtlich der Sklaverei gibt es mehrere Vermutungen. Zum einen ist es möglich, dass er den Wechsel zu den Republikanern und deren Ansichten als zweckmäßig für seine weitere politische Karriere ansah. Auf der anderen Seite erscheint es aber auch wahrscheinlich, dass seine vorherige öffentlich vertretene Unterstützung der Sklaverei ebenfalls mehr einem politischen Kalkül auf Grund der Stimmung in seinem Heimatstaat Kentucky als seiner tatsächlichen Haltung entsprach. Es gibt mehrere Indizien, die dafür sprechen, dass seine private Meinung deutlich liberaler war. Bereits sein Vater, selbst Sklavenhalter, hatte hinsichtlich der Behandlung von Sklaven eine paternalistische Haltung vertreten und den Sklavenhandel sowie einen brutalen Umgang mit Sklaven verabscheut. Auch Harlans Lehrer am Centre College und an der Transylvania University beeinflussten wahrscheinlich seine Meinung zugunsten einer liberaleren Haltung, ebenso seine Frau, die auf Grund ihrer Erziehung in einem liberalen Elternhaus die Sklaverei ablehnte. Ein weiterer, wenn auch spekulativer Aspekt war sein möglicher Halbbruder Robert James Harlan, der als Sklave nahezu wie ein vollwertiges Mitglied der Familie behandelt worden war. DNA-Tests, die 2001 mit Nachkommen von Robert James Harlan und John Marshall Harlan durchgeführt wurden, ergaben zwar nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für einen gemeinsamen Vater. Andere überlieferte Indizien wie die sehr helle Hautfarbe von Robert James Harlan sowie die privilegierte Behandlung auf dem Anwesen der Familie John Marshall Harlans, einschließlich einer entsprechenden Erziehung und Ausbildung, sprechen allerdings für eine mögliche Verwandtschaft. Harlan war entsetzt von der Gewalt, die vom Ku-Klux-Klan nach dem Bürgerkrieg ausging. Darüber hinaus verband ihn eine enge und langjährige Freundschaft mit Benjamin Bristow. Dieser war bereits vor Harlans Sinneswandel ein aktives Mitglied der Republikanischen Partei gewesen und hatte sich unter anderem für das Inkrafttreten des 13. Verfassungszusatzes eingesetzt. Als Staatsanwalt von Mai 1866 bis zum Ende des Jahres 1869 verfolgte Bristow mit leidenschaftlichem Einsatz rassistisch motivierte Täter. Er hatte damit wahrscheinlich ebenfalls Einfluss auf die Änderung von Harlans Einstellung. Es wird auch vermutet, dass die Haltung Harlans zu den Bürgerrechten durch die sozialen Prinzipien der Presbyterianer, bei denen er das Amt eines Ältesten innehatte, mit beeinflusst wurde. Während seiner Tätigkeit als Richter unterrichtete er unter anderem eine Sonntagsschulklasse an einer Presbyterianer-Kirche in Washington. Lebenswerk und Bewertung Harlan ging durch sein häufiges Minderheitsvotum, mit dem er seine für die damalige Zeit liberalen Auffassungen gegen eine konservative Mehrheit am Gericht zum Ausdruck brachte, als einer der bekanntesten Abweichler in die Geschichte des Obersten Gerichtshofs ein. In den 1.161 Stellungnahmen, die er im Verlauf seiner Karriere in den Entscheidungen des Gerichts abgab, wich er in 316 und damit rund jeder vierten von der Mehrheitsmeinung ab. Die Zahl seiner Mindermeinungen wurde zum damaligen Zeitpunkt nur durch Peter Vivian Daniel übertroffen, der dem Gericht von 1841 bis 1860 angehört hatte. In 745 Urteilen verfasste Harlan selbst die Meinung der Gerichtsmehrheit und in 100 weiteren einen der Mehrheit zustimmenden Kommentar. Er war damit an mehr als der Hälfte aller Entscheidungen in der Zeit von der Gründung des Gerichtshofs bis zu seinem Tod beteiligt und gilt als einer der aktivsten, wortgewandtesten, fachlich fähigsten und unabhängigsten Richter in der Geschichte des Gerichts. Das Centre College als seine Alma Mater sowie das Bowdoin College, die Princeton University und die University of Pennsylvania verliehen ihm die Ehrendoktorwürde. Auch sein Enkel John Marshall Harlan II, der von 1955 bis 1971 ebenfalls als Verfassungsrichter wirkte, wurde als great dissenter bekannt. Im Gegensatz zu Harlan war jedoch sein Enkel ein konservativer Abweichler am liberal geprägten Gerichtshof unter dem Vorsitzenden Richter Earl Warren. Hinsichtlich der Einbeziehung der Bill of Rights in die Bestimmungen des 14. Verfassungszusatzes entsprach beispielsweise die Auffassung seines Enkels dem Gegenteil von Harlans Meinung. Durch sein Votum zu den Entscheidungen McLaughlin v. Florida (1964) und Loving v. Virginia (1967) war sein Enkel darüber hinaus an der Aufhebung des von Harlan unterstützten Urteils im Fall Pace v. Alabama beteiligt. Nachdem er schon zu seinen Lebzeiten von vielen seiner Mitmenschen als eigenwillig und schwer vorhersagbar angesehen wurde, galt Harlan nach seinem Tod bis zum Ende der 1940er Jahre auf Grund seiner Entscheidungen als „exzentrische Ausnahmeerscheinung“ in der Geschichte des Gerichts. Obwohl ihm nachgesagt wurde, dass er „mit der Bibel in der einen und der Verfassung in der anderen Hand, seine Golfschläger unter seinem Kissen, zu Bett gehen würde“ und dass er der Ehrfurcht vor der Verfassung religiöse Bedeutung beimaß, wurde er im Allgemeinen mehr als ein ideologisch motivierter Aktivist und weniger als Jurist wahrgenommen und nach seinem Tod rund vier Jahrzehnte lang in der Geschichtsschreibung nahezu völlig ignoriert. Beginnend mit einem 1949 erschienenen Artikel änderte sich jedoch seine Wahrnehmung und Bewertung unter amerikanischen Juristen und Historikern dahingehend, dass er heute als einer der herausragendsten, umstrittensten und visionärsten Verfassungsrichter in der Geschichte der Vereinigten Staaten angesehen wird. In einer Umfrage mit dem Titel „Rating Supreme Court Justices“, die von den Juraprofessoren Albert P. Blaustein von der Rutgers University und Roy M. Mersky von der University of Texas im Jahr 1970 durchgeführt wurde, zählte John Marshall Harlan zu den zwölf Supreme-Court-Richtern, die von den beteiligten 65 Hochschullehrern für Rechts- beziehungsweise Politikwissenschaften sowie Geschichte mit der höchsten von fünf möglichen Kategorien („great“) bewertet wurden. Eine Reihe der Positionen, die er in seinen Mindermeinungen zum Ausdruck brachte, wurden durch spätere Gerichtsentscheidungen oder infolge von Gesetzgebung Teil der Rechtspraxis in den Vereinigten Staaten. Sein Minderheitsvotum in Plessy v. Ferguson gilt als die wichtigste Entscheidung seiner Karriere und als eine von wenigen Minderheitsmeinungen in der Geschichte des Gerichtshofes mit einer weitreichenden historischen Bedeutung. Von Thurgood Marshall, einem prominenten Anwalt der Bürgerrechtsbewegung und später von 1967 bis 1991 der erste Richter afroamerikanischer Abstammung am Obersten Gerichtshof, ist überliefert, dass er sich während der Verhandlung zum Fall Brown v. Board of Education durch das laute Vorlesen einiger Passagen aus Harlans Votum zu Plessy v. Ferguson motivierte. Harlans Aussage “Our constitution is color-blind” – „Unsere Verfassung ist blind gegenüber der Hautfarbe“ – wurde Thurgood Marshall zum Leitmotiv seines Einsatzes für die Bürgerrechte. Einzelnachweise Literatur Linda Przybyszewski: The Republic According to John Marshall Harlan. University of North Carolina Press, Chapel Hill 1999, ISBN 0-8078-4789-5. Loren P. Beth: John Marshall Harlan: The Last Whig Justice. University Press of Kentucky, Lexington 1992, ISBN 0-8131-1778-X. Malvina Shanklin Harlan: Some Memories of a long Life, 1854–1911. Modern Library, New York 2002, ISBN 0-679-64262-5. John Marshall Harlan. In: D. Grier Stephenson: The Waite Court: Justices, Rulings, and Legacy. ABC-CLIO, Santa Barbara 2003, ISBN 1-57607-829-9, S. 110–117. John Marshall Harlan. In: James W. Ely: The Fuller Court: Justices, Rulings, and Legacy. ABC-CLIO, Santa Barbara 2003, ISBN 1-57607-714-4, S. 43–46. John Marshall Harlan (1833–1911). In: Rebecca S. Shoemaker: The White Court: Justices, Rulings, and Legacy. ABC-CLIO, Santa Barbara 2004, ISBN 1-57607-973-2, S. 35–40. Peter S. Canellos: The Great Dissenter. The Story of John Marshall Harlan, America's Judicial Hero. Simon & Schuster, New York 2022, ISBN 978-1-5011-8821-3. Weblinks The Oyez Project – John M. Harlan (englisch) University of Louisville, Louis D. Brandeis School of Law Library – The John Marshall Harlan Collection Sammlung der Unterlagen von John M. Harlan (englisch) History of the Sixth Circuit – John Marshall Harlan Bibliography Sammlung von Veröffentlichungen zu Harlan (englisch) Landmark Supreme Court Cases – Plessy v. Ferguson Informationen zum Fall Plessy v. Ferguson (englisch) Richter (Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten) Rechtsanwalt (Vereinigte Staaten) Militärperson (Nordstaaten) Attorney General (Kentucky) Mitglied der United States Whig Party Mitglied der Know-Nothing Party Mitglied der Republikanischen Partei Ehrendoktor der Princeton University Korporierter (Miami Triad) Ehrendoktor der University of Pennsylvania US-Amerikaner Geboren 1833 Gestorben 1911 Mann
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Stochastische Analysis
Die stochastische Analysis ist ein Teilgebiet der Mathematik, genauer der Wahrscheinlichkeitstheorie. Sie beschäftigt sich mit der Verallgemeinerung von Begriffsbildungen, Aussagen und Modellen der Analysis auf stochastische Prozesse, also auf Funktionen, deren Werte zufällig sind. Im Zentrum der stochastischen Analysis stehen die Formulierung und die Untersuchung von stochastischen Integralen und, darauf aufbauend, von stochastischen Differentialgleichungen. Historisch geht das Fachgebiet auf Arbeiten des japanischen Mathematikers Kiyoshi Itō ab 1944 zurück. Der wesentliche Impuls dafür war die mathematische Beschreibung des physikalischen Phänomens der brownschen Bewegung durch Albert Einstein und Norbert Wiener. Dieses Modell, der Wiener-Prozess, bildet mit seinen zahlreichen bemerkenswerten Eigenschaften und Verallgemeinerungen einen Startpunkt der stochastischen Analysis. Anwendungen des Fachgebiets finden sich unter anderem in der Biologie, in der Physik und in den Ingenieurwissenschaften, vor allem aber in der Finanzmathematik. Einen ersten Höhepunkt bildete hier das 1973 veröffentlichte bahnbrechende Black-Scholes-Modell zur Bewertung von Optionen auf eine Aktie, deren Kursentwicklung durch eine stochastische Differentialgleichung beschrieben wird. Einführung Besonders elementar und klar treten die Begrifflichkeiten der stochastischen Analysis bei ihrem Hauptanwendungsgebiet, der Finanzmathematik, zu Tage. Dazu werden im Folgenden die Vorgänge beim Handel mit einem Finanzinstrument beschrieben, das der Einfachheit halber Aktie genannt wird und einige idealisierte Annahmen erfüllt. Insbesondere soll es möglich sein, das Finanzinstrument jederzeit in beliebigen Mengen zu kaufen und zu verkaufen. Vom Kursgewinn beim Aktienhandel zum stochastischen Integral Der Gewinn (oder Verlust) beim Besitz von Aktienanteilen innerhalb eines bestimmten Zeitraums hängt auf offensichtliche Weise davon ab, wie viele Anteile man von der Aktie besitzt und wie sich ihr Preis, der Börsenkurs, in diesem Zeitraum ändert. Besitzt man beispielsweise Anteile einer Aktie mit Anfangskurs und steigt der Kurs, etwa innerhalb eines Tages, auf , so beträgt der Kursgewinn gerundet . Nach diesem Tag könnten weitere Anteile der Aktie gekauft oder verkauft werden, sodass man nun Anteile besitzt, also zum Beispiel , wenn man noch eine ganze Aktie hinzukauft. Fällt daraufhin der Aktienkurs bis zum folgenden Tag auf , lässt sich der Gesamtgewinn innerhalb der zwei Tage durch bestimmen. Es ist somit im betrachteten Zeitraum ein negativer Gewinn, also ein Verlust eingetreten. Allgemein ist der Gesamtgewinn nach Zeitabschnitten die Summe der Teilgewinne jedes einzelnen Abschnitts: . Dabei bezeichnet die Kursänderung im -ten Zeitabschnitt und gibt an, wie viele Anteile der Aktie der Aktionär in diesem Zeitraum besitzt. Die Analysis kommt bei diesen elementaren Überlegungen ins Spiel, wenn nicht mehr nur eine Folge diskreter Handelszeitpunkte, sondern alle Zeitpunkte aus einem Zeitintervall betrachtet werden. Eine Aktie hat zu jedem Zeitpunkt einen Kurs , der sich im Allgemeinen „ständig ändert“. Auch die gehaltenen Anteile können in idealisierter Weise als ein sich kontinuierlich ändernder Prozess, der sogenannte Portfolioprozess, angesehen werden. Der Gesamtgewinn während des Zeitintervalls kann dann allerdings nicht mehr durch die oben dargestellte einfache Summierung endlich vieler Teilgewinne bestimmt werden. Er ergibt sich stattdessen durch Integration des Portfolioprozesses gewichtet mit den Änderungen des Aktienkurses, als Formel geschrieben. Eine Grundaufgabe der stochastischen Analysis ist es, solche stochastischen Integrale für möglichst allgemeine Integranden und Integratoren mathematisch zu definieren und ihre Eigenschaften zu untersuchen. Von einem Modell für den Aktienkurs zu stochastischen Differentialgleichungen Die Überlegungen, die zu obiger Darstellung des Gewinns als ein stochastisches Integral führen, sind so allgemein, dass sie sinngemäß für beliebige zeitlich veränderliche Größen durchgeführt werden können. Im konkreten Beispiel des Aktienhandels stellt sich daher die Frage, wie ein mathematisches Modell für die zeitliche Entwicklung des Kurses aussehen könnte. Reale Kursverläufe scheinen sich „zufällig“ auf und ab zu bewegen. Aus Sicht der Mathematik ist es also naheliegend, jedes als eine Zufallsvariable zu modellieren, also als eine Funktion, die jedem Ergebnis eines (abstrakten) Zufallsexperiments den Wert zuordnet. Der Aktienkurs hängt dann sowohl vom Zeitpunkt als auch von dem Zufallsergebnis ab: Er ist ein stochastischer Prozess. In der Realität erscheinen Aktienkurse zwar zufällig, sind aber nicht völlig regellos. Über längere Zeiträume „ungestörte“ Kursverläufe weisen häufig als Grundtendenz ein exponentielles Wachstum auf, steigen also beispielsweise von Jahr zu Jahr um einige Prozent. Das zeigt sich normalerweise noch deutlicher bei Aktienindizes, bei denen über eine Anzahl von Einzelkursen gemittelt wird, wie etwa – in besonders ausgeprägter Weise – in der nebenstehenden Grafik des australischen Aktienindex All Ordinaries. Ein völlig ungestörtes exponentielles Wachstum von würde bedeuten, dass die Änderung in einem kurzen Zeitraum proportional zu und zu ist: mit einer Wachstumsrate . Bei einem Sparguthaben entspräche dies dem exponentiellen Wachstum durch Zinseszins. Bei Aktien wird dieses Wachstumsgesetz hingegen in der Realität offenbar durch eine komplizierte Zufallsbewegung überlagert. Die Statistik und die Wahrscheinlichkeitstheorie legen es nahe, bei zufälligen Störungen, die sich aus vielen kleinen Einzeländerungen zusammensetzen, von einer Normalverteilung als einfachstem Modell auszugehen. Außerdem zeigt sich, dass die Varianz der Störungen proportional zum betrachteten Zeitraum ist. Der Wiener-Prozess besitzt alle diese gewünschten Eigenschaften, eignet sich also als ein Modell für die zeitliche Entwicklung der Zufallskomponente des Aktienkurses. Insgesamt führen diese Überlegungen zu folgender Modellgleichung für die Änderung in einem Zeitintervall : . Dabei bezeichnen die Änderung des Wiener-Prozesses im betrachteten Zeitraum und eine Proportionalitätskonstante, die modelliert, wie stark sich die Zufallskomponente auf die Kursänderung auswirkt, die sogenannte Volatilität. Das weitere Vorgehen der klassischen Analysis wäre nun, das Zeitintervall gegen null konvergieren zu lassen und so eine gewöhnliche Differentialgleichung für die gesuchte Funktion zu gewinnen. Das ist hier auf diese Weise nicht möglich, denn wie sich herausstellt sind weder die Pfade des Wiener-Prozesses noch die des gesuchten Aktienkursprozesses differenzierbar, lassen sich also nicht durch klassische Differentialrechnung untersuchen. Stattdessen erhält man eine stochastische Differentialgleichung, die meist in der Form geschrieben wird. Die dabei verwendeten Differentiale sind ein reiner Notationsbestandteil und es ist Aufgabe der stochastischen Analysis, solchen Gleichungen erst einen mathematischen Sinn zu geben. Das gelingt durch die Beobachtung, dass wegen des Fundamentalsatzes der Analysis Beziehungen zwischen einer differenzierbaren Funktion und ihrer Ableitung auch mithilfe ihres Integrals geschrieben werden können. Entsprechend ist eine stochastische Differentialgleichung nur eine intuitive Schreibweise einer Integralgleichung mit einem stochastischen Integral. Die stochastische Analysis beschäftigt sich unter anderem mit den Fragen, unter welchen Voraussetzungen stochastische Differentialgleichungen eindeutig lösbar sind und welche analytischen und wahrscheinlichkeitstheoretischen Eigenschaften die Lösungen haben. Für einige einfache Typen stochastischer Differentialgleichungen gibt es Methoden, um die Lösungen explizit zu berechnen. So hat zum Beispiel die oben hergeleitete Gleichung für den Aktienkurs als Lösung die sogenannte geometrische brownsche Bewegung. Wie es aber auch schon bei gewöhnlichen Differentialgleichungen der Fall ist, können bei vielen stochastischen Differentialgleichungen die Lösungen nur numerisch berechnet werden. Geschichte Die Anfänge: Mathematische Modelle für die brownsche Bewegung Als brownsche Bewegung wird das physikalische Phänomen bezeichnet, dass kleine Partikel, die in einer Flüssigkeit oder in einem Gas schweben, sich auf eine unregelmäßig und zufällig erscheinende Art „zitternd“ bewegen. Sie ist nach dem Botaniker Robert Brown benannt, der sie 1827 zuerst bei der mikroskopischen Untersuchung von Pollenkörnern in einem Wassertropfen beobachtete und beschrieb. In der Folgezeit zeigten Experimente, dass die physikalische Ursache der brownschen Bewegung in der Wärmebewegung der Flüssigkeitsmoleküle liegt. Diese stoßen ständig gegen die viel größeren Partikel und versetzen sie dadurch selbst in eine unregelmäßige Bewegung. Eine zu ihrer Zeit wissenschaftlich nur wenig beachtete frühe Anwendung der brownschen Bewegung in der Finanzmathematik untersuchte der französische Mathematiker Louis Bachelier, der im Jahr 1900 mit der Hilfe von Zufallsbewegungen versuchte, die Aktienkurse an der Pariser Börse zu modellieren und damit Preisformeln für Optionsscheine herzuleiten. Er nahm damit zahlreiche Ideen aus dem erst 73 Jahre später vorgestellten berühmten Black-Scholes-Modell vorweg. Die brownsche Bewegung gelangte wieder in das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, als Albert Einstein 1905, also in seinem annus mirabilis, ein mathematisches Modell für das physikalische Phänomen vorstellte. Er nahm darin an, dass die brownsche Bewegung, in moderner Sprechweise, ein stochastischer Prozess mit stetigen Pfaden und unabhängigen normalverteilten Zuwächsen ist, also grundlegende und aus physikalischer Sicht sinnvolle Bedingungen erfüllt. Andere, physikalisch ebenso notwendige Bedingungen setzte er jedoch nicht voraus, vor allem nicht, dass ein Teilchen in einem festen Zeitraum nur eine endliche Wegstrecke zurücklegen kann, die sogenannte Rektifizierbarkeit der Pfade. Da 1905 die maßtheoretische Fundierung der Wahrscheinlichkeitstheorie durch Émile Borel und Henri Lebesgue gerade erst begonnen hatte, konnte Einstein allerdings nicht beweisen, dass sein Modell als ein mathematisches Objekt tatsächlich existiert. Eine mathematische Konstruktion von Einsteins Modell gelang erst 1923 dem US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener. Er verwendete dazu einen 1913 von Percy John Daniell entwickelten Zugang zur Maßtheorie sowie die Theorie der Fourierreihen. Bei der Untersuchung der Eigenschaften dieses, ihm zu Ehren auch Wiener-Prozess genannten, Modells zeigte sich, dass dessen Pfade nicht rektifizierbar sind. So stellte sich im Nachhinein heraus, dass Einstein genau die „richtigen“ Eigenschaften in seinem Modell ausgewählt hatte; mit der zusätzlichen Annahme der Rektifizierbarkeit hätte es mathematisch gar nicht existiert. Im Jahr 1931 fand der sowjetische Mathematiker Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow eine Möglichkeit, stochastische Prozesse mithilfe der Analysis zu untersuchen. Er betrachtete Verallgemeinerungen des Wiener-Prozesses, die sogenannten Markow-Prozesse, und entwickelte eine Theorie zu ihrer Beschreibung. Er zeigte, dass sich diese Prozesse in einen nichtzufälligen Drift-Term und in einen rein stochastischen Anteil zerlegen lassen. Damit stellte Kolmogorow einen Zusammenhang zwischen ihren Wahrscheinlichkeitsverteilungen und bestimmten partiellen Differentialgleichungen, den Kolmogorow-Gleichungen, dar. Er verwendete dabei Methoden der klassischen Analysis; eine Verallgemeinerung von Integral- und Differentialrechnung hin zu einer „stochastischen Analysis“ fand sich bei ihm noch nicht. Der Ansatz von Itō und die weitere Entwicklung Am Beginn der stochastischen Analysis steht eine Arbeit des japanischen Mathematikers Kiyoshi Itō (1915–2008) aus dem Jahr 1944 mit dem schlichten Titel Stochastic Integral. Itō, der damit als der Begründer des Fachgebiets gilt, konstruierte darin eine allgemeine stochastische Differentialgleichung zur Untersuchung von Markow-Prozessen. Den dabei auftretenden stochastischen Differentialen gab er einen Sinn durch die Konstruktion eines neuen Integralbegriffs für stochastische Prozesse, des Itō-Integrals. In seinen folgenden Arbeiten stellte er zudem eine Verbindung zu Kolmogorows Ergebnissen her, indem er bewies, dass die Lösungen seiner stochastischen Differentialgleichung die Kolmogorow-Gleichungen erfüllen. Dazu veröffentlichte er 1951 eines der grundlegendsten Ergebnisse der stochastischen Analysis, die Itō-Formel. Diese verallgemeinert die Kettenregel, die Produktregel, die Substitutionsregel und die partielle Integration der klassischen Analysis auf stochastische Differentiale bzw. Integrale von sogenannten Itō-Prozessen. Itōs Arbeiten stellten damit den Startpunkt einer raschen Entwicklung des Fachgebiets dar, die auch heute noch anhält. Wie sich allerdings im Jahr 2000 herausstellte, hatte der deutsch-französische Mathematiker Wolfgang Döblin bereits 1940 zahlreiche von Itōs Ideen vorweggenommen. Weil Döblin, der für Frankreich im Zweiten Weltkrieg kämpfte, seine Arbeit in einem versiegelten Umschlag an die Pariser Académie des sciences schickte, seine Notizen verbrannte und anschließend Suizid beging, um der Gefangennahme durch die deutsche Wehrmacht zu entgehen, wusste jedoch 60 Jahre lang niemand von Döblins Resultaten. In der Folgezeit von Itōs Arbeiten lag der Schwerpunkt der mathematischen Forschung auf Verallgemeinerungen seiner Ergebnisse. Joseph L. Doob erweiterte 1953 in seinem einflussreichen Buch über stochastische Prozesse Itōs Integral vom Wiener-Prozess auf Prozesse mit unkorrelierten Zuwächsen. Doob beschäftigte sich zudem mit der Fragestellung, wie sein Zerlegungssatz für diskrete Prozesse auf den zeitkontinuierlichen Fall verallgemeinert werden kann. Dieses Problem wurde 1962 von Paul-André Meyer gelöst. Meyer zeigte, dass eine solche Zerlegung, die Doob-Meyer-Zerlegung, nur unter einer Zusatzbedingung, die er „Klasse (D)“ nannte, möglich ist. Im Jahr 1970 verallgemeinerten Catherine Doléans-Dade und Meyer das Itō-Integral auf sogenannte Semimartingale als Integratoren, also auf stochastische Prozesse, die sich aus einem lokalen Martingal und einem Prozess mit lokal endlicher Variation zusammensetzen. Semimartingale sind in gewisser Weise die allgemeinste Klasse von stochastischen Prozessen, für die sich ein sinnvoller Integralbegriff definieren lässt. Aus Sicht der Anwendungen der stochastischen Analysis ist das historisch bedeutsamste Ergebnis das nach Vorarbeiten des Wirtschaftswissenschaftlers Paul A. Samuelson und des Mathematikers Henry McKean von Fischer Black, Myron S. Scholes und Robert C. Merton 1973 veröffentlichte Black-Scholes-Modell zur Bewertung von Finanzoptionen. Darin ist der Kurs der zugrunde liegenden Aktie durch die im Einführungsabschnitt dieses Artikels hergeleitete stochastische Differentialgleichung gegeben. Die Itō-Formel, angewendet auf den Preis einer Option als Funktion von Zeit und Aktienkurs, führt dann zusammen mit einer ökonomischen Argumentation mittels eines Hedgegeschäfts auf eine bestimmte partielle Differentialgleichung, die Black-Scholes-Gleichung. Diese lässt sich explizit lösen und ergibt somit Formeln für den Wert von Kauf- und Verkaufsoptionen auf die Aktie. Scholes und Merton erhielten 1997 für ihre Leistungen den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften („Wirtschaftsnobelpreis“); Black war bereits zwei Jahre zuvor verstorben. Weitere Entwicklungen der stochastischen Analysis sind beispielsweise die Theorie der rauen Pfade, die stochastische Differentialgeometrie, die sich mit stochastischen Prozessen auf Mannigfaltigkeiten beschäftigt, und der Malliavin-Kalkül (nach Paul Malliavin), eine Verallgemeinerung der Variationsrechnung auf Funktionale stochastischer Prozesse. Ein anderes aktuelles Forschungsthema sind Theorie und Anwendungen stochastischer partieller Differentialgleichungen. Grundlegende Begriffe, Aussagen und Methoden Der Wiener-Prozess und seine analytischen Eigenschaften Der Wiener-Prozess steht nicht nur historisch als Modell für die brownsche Bewegung am Anfang der stochastischen Analysis; wegen seiner zahlreichen mathematisch interessanten Eigenschaften ist er als „Grundtyp“ eines Zufallsprozesses ein zentrales Untersuchungsobjekt des Fachgebiets. Der Wiener-Prozess lässt sich definieren als stochastischer Prozess mit unabhängigen, stationären und normalverteilten Zuwächsen, der fast sicher stetige Pfade hat und auf normiert ist. Aus der Definition ergeben sich zahlreiche wichtige Eigenschaften, die sich in natürlicher Weise auf allgemeinere Klassen stochastischer Prozesse verallgemeinern lassen. So ist der Wiener-Prozess ein typischer Vertreter der Gauß-Prozesse, der Markow-Prozesse und der Lévy-Prozesse. Der Wiener-Prozess ist zudem ein sogenanntes Martingal. Der Zuwachs hat also, gegeben den aktuellen Wert , den bedingten Erwartungswert null. Vereinfacht und anschaulich ausgedrückt: Er verhält sich wie der Gewinn eines Spielers, der an einem fairen Glücksspiel teilnimmt, also an einem Spiel, bei dem sich Gewinne und Verluste im Mittel ausgleichen. Der Martingalbegriff ist ein zentrales Konzept der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie, denn einerseits führen stochastische Modelle häufig auf ein Martingal oder können in ein solches transformiert werden, andererseits lassen sich für diese Prozessklasse zahlreiche Sätze beweisen, wie beispielsweise die Doobsche Maximalungleichung, das Optional Sampling Theorem oder die Martingalkonvergenzsätze. Die Pfade des Wiener-Prozesses sind fast sicher an keiner Stelle differenzierbar, sind also anschaulich auf allen Zeitskalen so stark „gezackt“, dass nirgends eine Tangente angelegt werden kann. Damit entziehen sie sich der Differentialrechnung im klassischen Sinne. Sie sind allerdings nach Definition stetig, sodass sie problemlos als Integrand eines klassischen Integrals auftreten können. Die Pfade des Wiener-Prozesses sind außerdem von unendlicher Variation, die Gesamtsummen ihrer Änderungen auf einem endlichen Zeitintervall sind also unbeschränkt. Das hat zur Folge, dass ein Integral mit dem Wiener-Prozess als Integrator nicht pfadweise als ein klassisches Stieltjesintegral aufgefasst werden kann; hierzu ist daher ein neuer „stochastischer“ Integralbegriff nötig. Stochastische Integrale Es existieren verschiedene stochastische Integral-Begriffe. Der bekannteste und wichtigste Begriff ist der des Itō-Integrals. Im Einführungsabschnitt dieses Artikels wurde dargestellt, wie ein stochastisches Integral als ein Grenzwert von Summen aufgefasst werden kann, bei denen eine Zeitschrittweite gegen null konvergiert. Diese Überlegung lässt sich mathematisch präzisieren und führt auf diese Weise zu einer möglichen Definition eines Integrals mit dem Wiener-Prozess als Integrator, dem Itō-Integral. In modernen Lehrbüchern wird jedoch meist eine etwas abstraktere Konstruktion verwendet, die mehr dem üblichen Vorgehen bei der Definition des Lebesgue-Integrals ähnelt: Zunächst wird ein Integral für elementare Prozesse, also für stückweise konstante Prozesse, als Integranden definiert. Dieser Integralbegriff wird dann mithilfe von Dichtheitsargumenten schrittweise auf allgemeinere Integranden fortgesetzt. In dieser allgemeinen Form sind dann stochastische Integrale für Semimartingale als Integratoren und adaptierte stochastische Prozesse mit càglàd-Pfaden möglich. Beide Prozesse können also auch Sprungstellen besitzen. Analog zum Begriff der Integralfunktion in der klassischen Analysis betrachtet man auch in der stochastischen Analysis das Integral als Funktion der oberen Integrationsgrenze und erhält so wieder einen stochastischen Prozess oder in Differentialschreibweise . Es lässt sich zeigen, dass ebenfalls ein Semimartingal ist. Wenn der Integrator sogar ein Martingal ist, also zum Beispiel der Wiener-Prozess, und der Integrand gewissen Beschränktheitsbedingungen genügt, dann ist ebenfalls ein Martingal. Das stochastische Integral lässt sich in diesem Fall also als eine zeitkontinuierliche Martingaltransformation auffassen. Die Itō-Formel Für das Itō-Integral und seine Verallgemeinerungen gelten einige der üblichen Rechenregeln der Analysis nur in modifizierter Form. Das liegt anschaulich daran, dass wegen der unendlichen Variation des Wiener-Prozesses bei kleinen Zeitänderungen nicht nur die zugehörigen Änderungen berücksichtigt werden müssen, sondern auch deren Quadrate , die selbst in der Größenordnung von liegen. Die sich dadurch ergebenden „neuen“ Rechenregeln werden in der Itō-Formel zusammengefasst. Bereits in ihrer einfachsten Form wird deutlich, wie die Kettenregel für den Wiener-Prozess abgeändert werden muss: Ist eine zweimal stetig differenzierbare Funktion, dann gilt für den Prozess in Differentialschreibweise . Im Vergleich zur klassischen Kettenregel erhält man also einen zusätzlichen Term, der die zweite Ableitung von enthält. Die Itō-Formel lässt sich auf vektorwertige Semimartingale verallgemeinern. Die Zusatzterme dieses Itō-Kalküls machen konkrete Rechnungen mitunter aufwändig und unübersichtlich. Deshalb bietet sich für manche Anwendungsaufgaben ein anderer stochastischer Integralbegriff an, das Stratonowitsch-Integral (nach Ruslan Stratonowitsch). Sein Hauptvorteil gegenüber dem Itō-Integral ist es, dass die Rechenregeln im Wesentlichen denen der klassischen Analysis entsprechen. Insbesondere in physikalischen Problemstellungen ist daher eine Formulierung mit dem Stratonowitsch-Integral häufig natürlicher. Es besitzt jedoch einige wichtige mathematische Eigenschaften des Itō-Integrals nicht; insbesondere ist der Integralprozess kein Martingal. Allerdings lässt sich jede Aussage für Stratonowitsch-Integrale mit Itō-Integralen formulieren und umgekehrt. Beide Begriffe sind also lediglich zwei Darstellungen desselben Sachverhalts. Stochastische Differentialgleichungen Eine allgemeine Form einer stochastischen Differentialgleichung ist mit dem Wiener-Prozess und gegebenen Funktionen und ; der stochastische Prozess ist gesucht. Diese Differentialnotation ist dabei wie stets nur eine Kurzschreibweise für stochastische Integrale: Ein Prozess ist eine Lösung, wenn er die Integralgleichung erfüllt. Am Anfang der theoretischen Untersuchung dieser Gleichungen steht die Frage nach Existenz und Eindeutigkeit der Lösungen. Die Bedingungen dafür ergeben sich in ähnlicher Weise wie in der klassischen Analysis gewöhnlicher Differentialgleichungen. Analog zum Satz von Picard-Lindelöf besitzt eine stochastische Differentialgleichung eine eindeutig bestimmte Lösung , die für alle existiert, wenn die Koeffizientenfunktionen und Lipschitz-stetig und linear beschränkt sind. Für einige einfache Typen stochastischer Differentialgleichungen lässt sich die Lösung explizit angeben. Insbesondere lineare Gleichungen lassen sich analog zu den klassischen Methoden – modifiziert in Hinblick auf Itō-Formel – durch einen Exponentialansatz (mit einem stochastischen Exponential) und Variation der Konstanten lösen. Analytische und stochastische Eigenschaften der Lösung lassen sich allerdings häufig bereits aus der Differentialgleichung selbst herleiten. Ein theoretisch wichtiges allgemeines Ergebnis hierzu ist, dass Lösungen stochastischer Differentialgleichungen stets Markow-Prozesse sind. Weiterhin besteht die Möglichkeit, Gleichungen numerisch zu lösen und damit gesuchte Größen durch eine Monte-Carlo-Simulation zu bestimmen. Das einfachste und praktisch wichtigste numerische Verfahren zur Lösung stochastischer Differentialgleichungen, das Euler-Maruyama-Verfahren, ist eine direkte Verallgemeinerung des expliziten Euler-Verfahrens. Dabei werden wie bei der Herleitung der Gleichung kurze Zeitschritte betrachtet und das Differential des Wiener-Prozesses durch den Zuwachs , also durch eine normalverteilte Zufallsvariable mit Erwartungswert null und Varianz , ersetzt. Wie in der Numerik gewöhnlicher Differentialgleichungen existieren zahlreiche Weiterentwicklungen des Euler-Maruyama-Verfahrens, die eine höhere Konvergenzordnung aufweisen, also bei gegebener Schrittweite genauere Näherungen der Lösung liefern. Ein einfaches Beispiel ist das Milstein-Verfahren. Im Gegensatz zu dem Fall gewöhnlicher Differentialgleichungen ist die Bedeutung von Verfahren mit hoher Konvergenzordnung für die meisten praktischen Anwendungen eher gering. Das liegt zum einen daran, dass solche Verfahren numerisch sehr aufwändig und damit rechenintensiv sind. Andererseits erfordern die meisten Anwendungen die schnelle Berechnung sehr vieler Einzelpfade einer Simulation; die Genauigkeit, mit der ein einzelner Pfad berechnet wird, spielt dann keine wesentliche Rolle, weil das Endergebnis durch den Fehler der Monte-Carlo-Simulation dominiert wird. Anwendungen Finanzmathematik Die Anwendung von wahrscheinlichkeitstheoretischen Methoden auf Probleme der Finanzmathematik führte in den letzten Jahrzehnten zu einem fruchtbaren Zusammenspiel von Mathematik und Wirtschaftswissenschaften. Modelle, die zeitliche Entwicklungen ökonomischer Größen zu diskreten Zeitpunkten beschreiben, wie beispielsweise das bekannte Binomialmodell von Cox, Ross und Rubinstein, lassen sich bereits mit elementarer Wahrscheinlichkeitsrechnung aufstellen und untersuchen. Für Fragestellungen mit einem kontinuierlich variierenden Zeitparameter werden jedoch Begriffe und Sätze der stochastischen Analysis benötigt. Die Entwicklung finanzmathematischer Größen wie Aktienkurse, Preise von Derivaten, Wechselkurse oder Zinssätzen wird durch zeitstetige stochastische Prozesse modelliert, deren Änderungen durch geeignete stochastische Differentialgleichungen gegeben sind. Bewertung von Derivaten Von einer mathematischen Beschreibung eines Aktienkurses könnte man vielleicht zuerst „naiv“ erwarten, dass ihre Hauptaufgabe die Prognose der weiteren Kursentwicklung sei. Das ist bei der Modellierung durch eine stochastische Differentialgleichung jedoch nicht der Fall, denn dabei geht man wie gesehen davon aus, dass die Kursänderungen zufällig sind, und beschreibt „nur“ diese Zufälligkeit aller möglichen Entwicklungen wahrscheinlichkeitstheoretisch. Eine korrekt gestellte und zentrale Frage ist es hingegen, wie in einem solchen Zufallsmodell der Preis eines Derivats, beispielsweise einer Kaufoption auf eine Aktie, berechnet werden kann. Ein Derivat ist allgemein ein Finanzinstrument, das eine in der Zukunft liegende Auszahlung ergibt. Die Höhe dieser Auszahlung hängt dabei von einer anderen ökonomischen Größe, wie beispielsweise einem Aktienkurs, ab. Da sich diese bis zum Auszahlungszeitpunkt zufällig ändert, ist auch die Auszahlung des Derivats zufällig. Die wesentliche Frage ist dabei, wie der Preis für ein solches Derivat ermittelt werden kann. Eine naheliegende, aber falsche Idee ist es, dazu alle möglichen Auszahlungen mit ihren jeweiligen Wahrscheinlichkeiten zu mitteln, also den Erwartungswert der Auszahlung zu bilden. Das ist unter anderem deshalb falsch, da bei einem solchen Vorgehen alle Finanzinstrumente mit identischem Erwartungswert den gleichen "fairen" Preis erhalten, auch wenn sich die Risiken bzw. die Volatilität zwischen ihnen unterscheiden. In der Realität erheben Marktteilnehmer für die Übernahme höherer Risiken allerdings auch eine höhere Risikoprämie, wodurch sich die gehandelten Preise unterscheiden würden. Ökonomische Überlegungen zeigen tatsächlich die zunächst paradox erscheinende Tatsache, dass der Preis einer Kaufoption auf eine Aktie gar nicht davon abhängt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Aktie steigt oder fällt (für ein elementares Beispiel hierzu siehe auch Risikoneutrale Bewertung#Beispiel). Korrekte Herangehensweisen zur Bewertung von Derivaten sind hingegen das Hedging und die risikoneutrale Bewertung. Die Grundidee des Hedgings ist folgende: Wenn es eine selbstfinanzierende Handelsstrategie gibt, die das Derivat nicht verwendet, aber in allen Fällen die gleiche Auszahlung liefert wie das Derivat, dann muss der Preis des Derivats der gleiche sein wie der Preis der Handelsstrategie. Die risikoneutrale Bewertung beruht hingegen auf dem Prinzip der sogenannten Arbitragefreiheit, vereinfacht gesagt: Das Derivat hat genau dann den richtigen Preis, wenn man beim Handel mit dem Derivat und den übrigen Finanzinstrumenten keinen risikolosen Gewinn erzielen kann. Wäre es zum Beispiel möglich, durch den Kauf des Derivats stets einen positiven Gewinn zu erzielen, dann wäre sein Preis zu niedrig. In der Realität würde der Preis des Derivats steigen, bis ein Marktgleichgewicht eintritt. Diese ökonomischen Überlegungen lassen sich alle mathematisch formalisieren, wozu im zeitkontinuierlichen Fall die Methoden der stochastischen Analysis benötigt werden. Unter gewissen technischen Voraussetzungen an das Marktmodell lässt sich beweisen, dass sowohl der Ansatz über das Hedging als auch die Ermittlung des arbitragefreien Preises eindeutig durchführbar sind und die gleichen Ergebnisse liefern. Ein recht allgemeiner mathematischer Zugang stellt den arbitragefreien Preis eines Derivats zu einem bestimmten Zeitpunkt durch einen bedingten Erwartungswert dar. Wie oben bemerkt, kann dazu aber nicht das reale Wahrscheinlichkeitsmaß, das die Entwicklung des Aktienkurses bestimmt, verwendet werden. Stattdessen wird ein Maßwechsel auf das risikoneutrale Wahrscheinlichkeitsmaß betrachtet. Unter diesem auch äquivalentes Martingalmaß genannten Maß ist der diskontierte Aktienkurs ein Martingal, verhält sich also vereinfacht gesagt wie der Gewinn eines Spielers, der an einem fairen Glücksspiel teilnimmt. Die Umrechnungsformeln für die Lösungen der stochastischen Differentialgleichungen werden dabei durch den Satz von Girsanow bereitgestellt. Das Problem, den arbitragefreien Preis als bedingten Erwartungswert abhängig von der Zeit und dem Anfangswert zu bestimmen, kann zudem mithilfe des Satzes von Feynman-Kac auf das Lösen einer (nicht stochastischen) partiellen Differentialgleichung zurückgeführt werden. Zinsmodelle Bei allen ökonomischen Betrachtungen, die Preise zu verschiedenen Zeitpunkten enthalten, muss der Zeitwert des Geldes berücksichtigt werden, dessen Hauptursachen die Verzinsung und die Inflation sind. Im einfachsten Fall, so auch im Black-Scholes-Modell, wird dazu ein festverzinsliches Wertpapier mit einem risikolosen zeitlich konstanten Zinssatz betrachtet. Alle zukünftigen Auszahlungen, wie etwa bei einem Derivat auf eine Aktie, müssen dann nur noch gemäß der stetigen Verzinsung durch einen Exponentialfaktor dividiert werden, um ihren momentanen Wert zu erhalten. In der Realität fluktuieren Zinsraten jedoch ähnlich wie Aktienkurse, was nahelegt, sie ebenfalls im Sinne der stochastischen Analysis als stochastische Prozesse zu modellieren. Mit den sogenannten Short-Rate-Modellen existieren zahlreiche Ansätze, um die zeitliche Entwicklung eines Momentanzinses („Short-Rate“) durch stochastische Differentialgleichungen zu beschreiben. Mit dem so modellierten Momentanzins lassen sich dann die Preise verzinslicher Wertpapiere, wie Nullkuponanleihen oder Floater, darstellen. Durch risikoneutrale Bewertung erhält man zudem wie im Aktienfall Preisformeln für Zinsderivate wie Caps, Swaps und Swaptions. Beispiele für einfache Modelle sind das Ho-Lee-Modell, das als einen skalierten Wiener-Prozess annimmt, und das Dothan-Modell, das dafür eine geometrische brownsche Bewegung verwendet. Solche Ansätze führen zwar zu mathematisch einfachen Herleitungen, beschreiben aber aus verschiedenen Gründen die Realität nur schlecht. So lässt sich etwa für das Dothan-Modell mathematisch zeigen, dass es damit möglich wäre, in einem endlichen Zeitraum unendlich viel Geld zu verdienen. Reale Zinsraten zeigen überwiegend ein dem sogenannten Mean-Reversion-Effekt entsprechendes Verhalten, kehren also trotz ihrer scheinbar zufälligen Schwankungen immer wieder zu einem mittleren Wert zurück. Zwei wichtige Grundtypen von Differentialgleichungsmodellen, die diesen Effekt nachbilden, sind das Vasicek-Modell sowie das verbreitete Cox-Ingersoll-Ross-Modell. Einen anderen Zugang zur Modellierung von Zinsen verwendet die Gruppe der HJM-Modelle, die nicht den Momentanzins, sondern den Terminzins („Forward-Rate“) beschreiben. Physik, Chemie und Ingenieurwissenschaften Die Bewegung physikalischer Körper wird durch die newtonschen Gesetze beschrieben: Eine Kraft, die auf einen Körper wirkt, bewirkt bei konstanter Masse eine Änderung seiner Geschwindigkeit. Hängt die Kraft in gegebener Weise vom Ort und von der Geschwindigkeit des Körpers ab, ergibt sich eine Gleichung, die die Beschleunigung, die Geschwindigkeit und den Ort des Körpers zueinander in Beziehung setzt. Da die Beschleunigung die Ableitung der Geschwindigkeit und die Geschwindigkeit die Ableitung des Ortes ist, handelt es sich dabei um eine gewöhnliche Differentialgleichung. Hat die Kraft zusätzlich eine Zufallskomponente, wird daraus eine stochastische Differentialgleichung. Die physikalische Beschreibung von Partikeln, die der brownschen Bewegung unterliegen, lässt sich stark verfeinern und verallgemeinern. So ergibt sich beispielsweise für Partikel, auf die zusätzlich eine zur Geschwindigkeit proportionale Reibungskraft (Gesetz von Stokes) und gegebenenfalls noch eine konstante Kraft wirken, dass die Geschwindigkeit eine Lösung der Ornstein-Uhlenbeck-Gleichung ist, einer stochastischen Differentialgleichung, die explizit gelöst werden kann. Die Physik verwendet für diesen Gleichungstyp üblicherweise eine andere Darstellungsweise, die auf Paul Langevin zurückgeht und als Langevin-Gleichung bezeichnet wird. Dabei wird die Differentialgleichung mit einem sogenannten weißen Rauschen notiert, das als formale Ableitung des nichtdifferenzierbaren Wiener-Prozesses interpretiert werden kann. Solche Bewegungsgleichungen können noch weiter verallgemeinert werden, zum Beispiel auf Schwingungen mit zufälligen Störungen. Hier ist die Beschleunigung abhängig von der Auslenkung, von der Geschwindigkeit und zusätzlich von einer zufälligen normalverteilten Kraft, deren Standardabweichung ebenfalls von Ort und Geschwindigkeit abhängen kann. Zusammen mit der Tatsache, dass die Geschwindigkeit die Ableitung des Ortes ist, ergibt sich somit ein System aus zwei stochastischen Differentialgleichungen. Im Allgemeinen ist man bei physikalischen Fragestellungen nicht so sehr an den Bewegungspfaden einzelner Partikel interessiert als vielmehr am gemittelten Verhalten sehr vieler Partikel, das sich als Diffusion bemerkbar macht. Die zeitliche Entwicklung der zugehörigen Dichtefunktion erfüllt eine (nicht stochastische) partielle Differentialgleichung, die nach Adriaan Daniël Fokker und Max Planck benannte Fokker-Planck-Gleichung. Weitere Verallgemeinerungen der Diffusion ergeben Anwendungen in der theoretischen Chemie: Berücksichtigt man zusätzlich zu den physikalischen Zufallsbewegungen von Teilchen auch die Möglichkeit chemischer Reaktionen zwischen ihnen, ergeben sich anstelle der linearen Fokker-Planck-Gleichungen nichtlineare Reaktionsdiffusionsgleichungen. Mit ihrer Hilfe lassen sich zahlreiche interessante Phänomene der Musterbildung, wie oszillierende Reaktionen, chemische Wellen oder Morphogenese, studieren. Viele Anwendungen in den Ingenieurwissenschaften und in der Technik lassen sich auf die Problemstellung des stochastischen Filterns zurückführen. Dabei wird ein dynamisches System, dessen zeitliche Entwicklung durch eine Differentialgleichung beschrieben wird, beobachtet. Im Allgemeinen ist es dabei nicht möglich, alle Variablen des Systems direkt zu beobachten; außerdem unterliegen sowohl die Systemgleichung als auch die Beobachtungsgleichung zufälligen Störungen: Es ergibt sich ein System stochastischer Differentialgleichungen und es besteht die Aufgabe, aus den Beobachtungen auf die Entwicklung des Systems zu schließen. Im zeitdiskreten Fall, also wenn nur endlich viele Beobachtungen zu bestimmten Zeitpunkten vorliegen, existiert hierfür eine wichtige Schätzmethode, das Kalman-Filter. Dieses lässt sich im zeitkontinuierlichen Fall zum sogenannten Kalman-Bucy-Filter verallgemeinern. Noch einen Schritt weiter geht die stochastische Kontrolltheorie: Hier hängt die Differentialgleichung, die das System beschreibt, zusätzlich von einer, gegebenenfalls bis auf Nebenbedingungen, frei wählbaren Steuerungsfunktion ab. Gesucht ist eine optimale Steuerung des Systems. Zentral für die Theorie solcher Aufgaben ist die Hamilton-Jacobi-Bellman-Gleichung, eine partielle Differentialgleichung, die sich aus dem Optimalitätsprinzip von Bellman durch Übergang zu kontinuierlicher Zeit ergibt. Mit der Itō-Formel lässt sich die Hamilton-Jacobi-Bellman-Gleichung auf stochastische Differentialgleichungen übertragen. Biologie Zahlreiche Modelle in der Biologie verwenden Begriffe und Methoden der stochastischen Analysis. Einfache diskrete stochastische Modelle für das Wachstum einer Population sind die sogenannten Verzweigungsprozesse wie der Galton-Watson-Prozess: Jedes Individuum bekommt unabhängig von den anderen in einer Generation eine zufällige Anzahl von Nachkommen und stirbt anschließend. William Feller stellte 1951 mit dem Branching-Diffusion-Modell eine zeitkontinuierliche Version eines Verzweigungsprozesses vor, in der die Größe der Population durch eine stochastische Differentialgleichung gegeben ist. Mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Standardmethoden lassen sich Formeln für das exponentielle Wachstum des Erwartungswerts der Populationsgröße und für die Aussterbewahrscheinlichkeit herleiten. Ein anderer Typ von stochastischen Modellen für die Entwicklung von Populationen sind Geburts- und Todesprozesse, bei denen sich nach zufälligen Zeitintervallen die Größe der Population um jeweils ein Individuum vergrößert oder verringert. Im einfachsten Fall sind die Zeitintervalle exponentialverteilt mit konstanten Raten. Die Populationsgröße ist nun ein unstetiger Sprungprozess, der eine stochastische Integralgleichung mit einem lokalen Martingal als Zufallskomponente erfüllt. Komplizierter und interessanter als der Fall des konstanten, „ungebremsten“ Wachstums ist dabei das sogenannte langsame Wachstum, bei dem die Wachstumsrate für wachsende Populationsgrößen gegen null konvergiert. Hier lassen sich Fälle von aussterbenden, linear wachsenden und schneller als linear wachsenden Populationen unterscheiden. Es ergeben sich wieder Formeln für die Aussterbewahrscheinlichkeit sowie für die Erwartungswerte verschiedener Stoppzeiten – beispielsweise für die Zeit, bis die Population eine bestimmte Maximalgröße erreicht. Ein zeitkontinuierliches Modell für die Gendrift, also für die zeitliche Entwicklung der Häufigkeiten bestimmter Gene oder Allele in einer Population, ist die Fisher-Wright-Diffusion. Im einfachsten Fall werden dabei zwei Typen von Individuen in einer Population betrachtet, deren Anteile zufällig fluktuieren und mit gegebenen Raten ineinander mutieren. Aus der zugehörigen stochastischen Differentialgleichung lassen sich Bedingungen herleiten, ob sich mit der Zeit eine stationäre Verteilung einstellt oder ob ein Typ ausstirbt. Im zweiten Fall ergibt sich eine explizite Formel für die erwartete Zeit bis zum Aussterben. Ein anderes Modell für die Gendrift ist das Moran-Modell. Hier ist die Grundidee, dass sich die Population entwickelt, indem jeweils ein zufällig ausgewähltes Individuum stirbt und ein anderes sich fortpflanzt. Beim Übergang zu kontinuierlicher Zeit ergibt sich wieder eine stochastische Integralgleichung. Verfeinerungen des Modells berücksichtigen auch Mutationen und Selektionsvorteile. Es existieren zahlreiche biologische Modelle, die speziell die Entstehung und Entwicklung von Krebs beschreiben. Ein einfacher Zugang sind Onkogen-Modelle, die das Moran-Modell auf mutierte und nichtmutierte Zellen anwenden. Verallgemeinerungen hiervon beruhen auf der Knudsonhypothese, nach der die Ursache der Krebsentstehung unabhängige Mehrfachmutationen sind. So verwendet das Two-Hit-Modell Zellen mit keiner, einer oder zwei Mutationen. Mathematisch lässt sich die Entwicklung von mehreren Zellarten als Geburts- und Todesprozess in mehreren Dimensionen auffassen. Ein weiterer Ansatz ist das kinetische Modell von Garay und Lefever aus dem Jahr 1978, das auf eine gewöhnliche Differentialgleichung für die Konzentration maligner Zellen in einem Organismus führt. Dazu existieren verschiedene Ansätze, die zusätzliche zufällige Fluktuationen der Konzentration mitberücksichtigen und somit in bekannter Weise auf unterschiedliche stochastische Differentialgleichungen führen. Die Biologie beschäftigt sich auch mit Modellen für die zeitliche Entwicklung mehrerer Populationen, die sich gegenseitig beeinflussen. Ein bekannter einfacher Ansatz dazu, das Lotka-Volterra-Modell, betrachtet eine „Räuber“- und eine „Beute“-Population. Die beiden Populationen erfüllen ein System aus zwei gewöhnlichen Differentialgleichungen, bei denen die Wachstumsraten von der jeweils anderen Population abhängen. Ein Nachteil dieser einfachen Modellierung ist es, dass dabei kein Aussterben einer Population dargestellt werden kann, denn wie sich mathematisch beweisen lässt, sind die Lösungen der Lotka-Volterra-Gleichungen periodisch und für alle Zeiten positiv. Das ändert sich, wenn man zusätzlich geeignete stochastische Komponenten einführt. Für das dabei erhaltene stochastische Differentialgleichungssystem lässt sich nun die erwartete Zeit bis zum Aussterben der Beutepopulation bestimmen. Literatur Allgemeine Lehrbücher Lehrbücher mit Schwerpunkt Finanzmathematik Weblinks Einzelnachweise Stochastischer Prozess Analysis Teilgebiet der Mathematik Wikipedia:Artikel mit Video
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Buenaventura River
Der Buenaventura River ist ein fiktiver Fluss im Westen Nordamerikas, der über fünfzig Jahre lang in Landkarten eingetragen wurde und dessen Nichtexistenz erst 1844 durch eine Vermessungsexpedition festgestellt werden konnte. Er sollte von den Rocky Mountains nach Westen zur Küste Kaliforniens verlaufen und in der Region um San Francisco in den Pazifischen Ozean münden. Suche nach einem transkontinentalen Wasserweg Bis weit in das 18. Jahrhundert richtete sich das Interesse insbesondere der Briten an der Erkundung des Westens Nordamerikas noch nicht auf Siedlungsräume, sondern auf einen Handelsweg zwischen den Zentren im Nordosten des Kontinents und Indien. Die einzige für sie nutzbare Verbindung führte um Kap Hoorn an der Spitze Südamerikas und bedeutete eine Reisedauer von fast einem Jahr. Die Erkundung der Nordwestpassage im Norden des Kontinents scheiterte im arktischen Eis. Ein schiffbarer Wasserweg in der Mitte Nordamerikas wäre ideal. Gäbe es ihn nicht, sollte der Landweg zwischen nutzbaren Flüssen möglichst kurz sein. Die Spanier hatten schon 1531 durch Hernán Cortés eine Verbindung zwischen Veracruz am Golf von Mexiko über Mexiko-Stadt in das damals Zacatula genannte Acapulco am Pazifik gefunden und nicht zuletzt darauf ihre Vormachtstellung im Pazifischen Ozean begründet. Ende des 17. Jahrhunderts stießen französische und britische Pelzhändler über die Großen Seen und den Ohio River Richtung Westen in den Kontinent vor. Sie fanden das große Flusssystem aus Mississippi und Missouri River sowie die Rocky Mountains, von deren Ostflanke die Flüsse große Wassermengen bezogen. Die Struktur dieses Gebirges und das Land im Westen der Berge war als „Weißer Fleck“ nur Gegenstand von Vermutungen. Erst die Küste Kaliforniens war wieder erforscht. Zumeist wurde angenommen, dass es auch im Westen große Flusssysteme geben müsse, die direkt zum Pazifischen Ozean fließen würden. Die ersten Expeditionen zu den Bergen scheiterten. 1793 erreichte Alexander MacKenzie im Auftrag der britischen Hudson’s Bay Company als erster Weißer den Pazifik auf einem nördlichen Landweg durch das spätere Kanada. Thomas Jefferson, der dritte Präsident der jungen Vereinigten Staaten, kannte die Berichte der britischen Entdecker und wollte ihre Erkenntnisse für sein Land nutzbar machen. Als die USA im Jahre 1803 im Louisiana Purchase die französische Kolonie Louisiana westlich des Mississippi Rivers kauften, entsandte er 1804–1806 die Lewis-und-Clark-Expedition über die Rocky Mountains. Sie stießen über den Missouri River vor, überquerten die Berge auf einer nördlichen Route am Lolo Pass, erreichten den Columbia River und an ihm entlang den Pazifischen Ozean. Sie berichteten bei ihrer Rückkehr, dass die Rocky Mountains in dieser Region beinahe unpassierbar wären: Nur zu Fuß und ohne größere Lasten könnten sie überwunden werden. Das Interesse richtete sich ab jetzt auf die südlichen und zentralen Teile der Rocky Mountains. Der Buenaventura River Dort wirkte sich eine Verwechslung aus: Die Dominguez-Escalante-Expedition von zwei spanischen Franziskaner-Priestern, Francisco Antanasio Domínguez und Silvestre Vélez de Escalante, hatte im Jahr 1776 versucht, eine Verbindung von Santa Fe im spanischen Nuevo México nach Monterey im ebenfalls spanischen California zu finden. Sie stießen als erste Weiße in den Nordwesten von Neu-Mexiko vor und entdeckten den Green River, den sie San Buenaventura benannten, nach dem heiligen Bonaventura von Bagnoregio. Weiter westlich trafen sie auf den nach Südwesten fließenden Sevier River und waren verwundert, dass Ute-Indianer ihn mit demselben Namen wie den Buenaventura bezeichneten. Im Tagebuch nannten Dominguez und Escalante ihn Rio San Ysabel und vermerkten ihre Zweifel an der Identität der Flüsse. Weiter nach Westen kamen sie nicht mehr, ihren Auftrag bis Kalifornien vorzustoßen konnten sie nicht erfüllen. Der pensionierte Offizier Bernardo Miera y Pacheco begleitete sie als Kartograph und verließ sich im Jahr 1778 beim Zeichnen der Karte für den Expeditionsbericht auf die Angaben der Indianer. Er trug irrtümlich den Buenaventura nicht als Zufluss des Colorado Rivers in südlicher Richtung in seine Karte ein, sondern orientierte ihn nach Südwesten und ließ ihn in einen unbescheiden nach ihm selbst Laguna de Miera genannten See münden, der später als Lago Salago (Salzsee) bezeichnet wurde und mit dem heute ausgetrockneten Sevier Lake identifiziert wird. Dieser lag ganz am Rand seiner Karte. Ebenfalls am Rand der Karte verzeichnete er Gebiete, die die Expedition nicht selbst gesehen hatte, sondern nur aus Berichten von Indianern kannte. Darunter ist die erste Darstellung des Großen Salzsees, den Miera irrtümlich mit dem Utah Lake verbunden darstellte und unter dem Namen Laguna de los Timpanogos vermerkte. Von diesem zeichnete er einen als schiffbar ausgewiesenen Fluss nach Westen, wo er bald am Kartenrand endete. In einem Begleitschreiben zur Karte an den spanischen König Karl III. empfahl Miera die Anlage mehrerer spanischer Missionen in diesem Gebiet. Als wichtigsten Standort schlug er den Großen Salzsee vor und erwähnte nebenbei, dass von dort ein Wasserweg zur Küste möglich wäre, entweder über den Rio Timpanogos oder den Rio Buenaventura. Die spanischen Kartographen Kaliforniens, Francisco Garcés und Pedro Font, hatten nur vom Küstengebirge und den zentralen Tälern fundierte Erkenntnisse. Die Struktur der Sierra Nevada, der Bergkette, die Kalifornien nach Osten begrenzt, war nicht näher erkundet. So identifizierten sie Flüsse aus der Sierra Nevada mit Mieras Darstellungen und als 1784 Manuel Augustin Mascaro und Miguel Constanso eine Karte des gesamten Vizekönigreiches Neuspanien anfertigten, übernahmen sie die Beschreibungen ihrer Kollegen. Spanien und das ab 1821 selbständige Mexiko führten keine Expeditionen in den unerschlossenen Norden ihrer Gebiete mehr durch – die Irrtümer wurden nicht aufgeklärt. Da bislang keine verlässliche Bestimmung von Längengraden im Westen des Kontinents stattgefunden hatte, fiel auch nicht auf, dass zwischen den Rocky Mountains und der Sierra Nevada rund 500 km liegen, die auf den frühen Karten ausgelassen oder stark verkürzt wurden. Auch die ersten Kartographen Nordamerikas aus den neuen Vereinigten Staaten von Amerika stützten sich bei ihren Darstellungen des Westens des Kontinents auf die spanischen Karten. Alexander von Humboldt hatte sie bei seinem Aufenthalt 1803/04 in Mexiko-Stadt in den Archiven gefunden und in seiner Carte du Mexique et des pays limitrophes situés au nord et à lest von 1810/11 verarbeitet. William Clark 1814 und Zebulon Pike in seinem Buch aus dem Jahr 1810 über den Westen verbanden jeweils unterschiedliche, teils von ihnen selbst gesehene Flüsse wie den Sacramento River oder den Salinas River mit dem Buenaventura, den sie aus den spanischen Karten zu kennen glaubten. Albert Finley und viele Kartographen zogen diese weit verbreiteten Werke als Grundlagen ihrer Karten heran. Henry S. Tanner trug 1822 in seinen Atlas der Vereinigten Staaten sogar mehrere Flüsse direkt aus den Rocky Mountains zur Küste ein: der Timpanogos River sollte den Großen Salzsee, der Buenaventura River den Sevier Lake mit dem Ozean verbinden. Andere waren skeptisch und markierten den Buenaventura als spekulativ wie Sidney E. Morse im Jahr 1823. Albert Gallatin trug 1836 in seine Karte des Westens keinen Fluss im Gebiet des Buenaventuras mehr ein. John Charles Frémont Der Trapper und Entdecker Jedediah Smith zog 1823/24 am South Pass über den Kamm der Rocky Mountains und erkundete mit seinen Kollegen als erste Amerikaner die Flüsse der westlichen Flanke. 1827 durchquerte er als erster Weißer die Sierra Nevada und die Wüste des Großen Beckens, deren Lage einen Fluss von den Rockies nach Westen unwahrscheinlich machte. In den Jahren 1827/28 zog er entlang des gesamten Kalifornischen Längstals nach Norden durch das Gebiet, in dem der Buenaventura River vermutet wurde, und fand ihn nicht. Als John Bidwell und Thomas Fitzpatrick 1841 eine erste kleine Siedlergruppe über den South Pass nach Kalifornien führten, wurde Bidwell empfohlen, Material für einen Bootsbau mitzunehmen, damit er ab dem Großen Salzsee auf dem Buenaventura fahren könne. Bidwell fand den von Peter Skene Ogden erstmals beschriebenen kleinen Humboldt River am Rand des Großen Beckens und zog an ihm entlang einen Teil der Route, die sich als California Trail etablierte. Einen schiffbaren Fluss durch die Sierra Nevada konnte er nicht finden. Erst 1844 bestätigte die geografische Vermessungsexpedition John Charles Frémonts die Nichtexistenz des Flusses. Er stellte von Mai bis Oktober 1842 in Begleitung von Thomas Fitzpatrick und Kit Carson die genaue Lage zentraler Punkte der Rocky Mountains fest und ging von dort nach Westen. 1843/44 vermaß er den Columbia River sowie die Sierra Nevada und Teile Kaliforniens. Durch einen Messfehler am Walker River in der kalifornischen Sierra Nevada glaubte er am 27. Januar 1844 kurzzeitig den Buenaventura River gefunden zu haben, erkannte aber schon am 29. Januar seinen Irrtum. Auf der Reise stellte er erstmals die geografischen Zusammenhänge her und konnte einen Fluss zwischen den Rocky Mountains und Zentralkalifornien ausschließen. Als feststand, dass es keinen durchgehenden Wasserweg geben würde, richteten Frémont und sein Schwiegervater und politischer Förderer, Senator Thomas Hart Benton ihr Interesse nunmehr auf eine transkontinentale Eisenbahnverbindung von der Ost- zur Westküste, die schließlich 1869 vollendet wurde. Geographie des Westens Erst Frémont erkannte, dass die Niederschläge der zentralen Rocky Mountains überwiegend nach Osten zum Missouri und Mississippi abfließen und im Westen die abflusslose Wüste des Großen Beckens liegt. Fast alle Flüsse der Westflanke fließen in den Süden über den Green River zum Colorado oder nach Nordwesten über den Snake River zum Columbia River, und nur kleine Flussläufe münden direkt nach Westen in den abflusslosen Großen Salzsee. Westlich schließt sich an das Große Becken die in Nord-Süd-Richtung gestreckte Bergkette der Sierra Nevada an, deren Wasserläufe nach Westen in die beiden Flüsse des großen Nord-Süd-Tales Kaliforniens, den San Joaquin River und den Sacramento River fließen. Beide münden in der Bucht von San Francisco und dem Golden Gate in den Pazifik. Literatur C. Gregory Crampton: The San Buenaventura – Mythical River of the West. In: Pacific Historical Review. Berkeley Cal 25.1956,2 (Mai), S. 163–171. John Charles Frémont: The Exploring Expedition to the Rocky Mountains, Oregon and California in the years 1843-44 – To which is Added a Description of the Physical Geography of California, with Recent Notices of the Gold Region from the Latest and Most Authentic Sources. Blair and Rives Publishers, Washington D.C. 1845 (auch im Volltext zum Download bei Project Gutenberg: Exploring Expedition). Weblinks Frémont and the Buenaventura River – über die Expedition John Charles Frémonts 1844 und den Buenaventura River, mit vielen Zitaten aus Frémonts Journal und zeitgenössischen Kartenausschnitten. Diario y Derrotero der Expedition von Francisco Atanasio Domínguez und Francisco Silvestre Vélez de Escalante (Digitalisat, Spanische Transkription, Englische Übersetzung) Einzelnachweise Geschichte der Vereinigten Staaten (1789–1849) Fiktiver Ort Geschichte der Geographie
1808499
https://de.wikipedia.org/wiki/Kettenschifffahrt%20auf%20dem%20Neckar
Kettenschifffahrt auf dem Neckar
Die Kettenschifffahrt auf dem Neckar war eine spezielle Art der Schleppschiffahrt, bei der sich Kettendampfer mit mehreren angehängten Schleppkähnen entlang einer im Fluss verlegten Kette zogen. Sie wurde ab 1878 zwischen Mannheim und Heilbronn, ab 1884 bis Lauffen eingesetzt. Die Kettenschifffahrt reduzierte die Transportkosten der Schiffer gegenüber dem bis dahin üblichen Treideln mit Pferden erheblich und machte den Schiffstransport gegenüber der Eisenbahn wieder konkurrenzfähig. Durch fortschreitende Kanalisierung des Neckars und die dafür erforderlichen Staustufen wurde der Kettenschleppbetrieb erschwert und unwirtschaftlich. Er wurde zunehmend durch Schlepper mit Schiffsschraube ersetzt und mit dem vollständigen Ausbau des Neckars 1935 eingestellt. Die Situation vor der Kettenschifffahrt Der Fluss Die Stromverhältnisse des Neckars variierten entlang des Flusslaufs deutlich. Auf der etwa 113 km langen Flussstrecke vom Hafen in Heilbronn bis zur Mündung in den Rhein wechselten Flussabschnitte mit einem starken Gefälle von 1:350 und seichte Abschnitte mit einem Gefälle von nur 1:10.000. Bezeichnet man Stellen mit einem Gefälle von mehr als 1:700 als Stromschnellen, so betraf dies rund 7 % der Strecke, also etwa 7840 m. Zu den Schwierigkeiten der Gefällevariation kamen starke Krümmungen im Flussverlauf. Die Flusssohle bestand meist aus Geschieben von Muschelkalk und Buntsandstein; an einigen Stellen des Flusslaufes waren jedoch Felsschwellen vorhanden. Die Wasserstände des Neckars wechselten je nach Jahreszeit und Niederschlagsmenge stark. Die höchsten Wasserstände lagen je nach Flussabschnitt zwischen 6,6 und 14,6 m, während der Neckar bei Niedrigwasser im Sommer auf unter 0,56 m fiel. In dem sehr trockenen Jahr 1865 wurden an 210 Tagen Wasserstände unter 0,56 m gemessen, wohingegen dieser Tiefstand im Jahr 1869 nur an einem Tag erreicht wurde. Die niedrigen Wasserstände behinderten die Schifffahrt signifikant. Zusätzlich kam im Winter eine Behinderung durch Frost mit einer durchschnittlichen Dauer von drei Wochen hinzu. Die Fließgeschwindigkeit des Wassers lag abhängig vom Gefälle und vom Wasserstand im Stromschnellenbereich zwischen einem und drei Metern pro Sekunde. Die Flussverhältnisse waren damit für die damaligen Verhältnisse nicht besonders günstig, aber auch nicht übermäßig hinderlich. Der Schiffstransport Traditionell erfolgte der Schiffstransport auf dem Neckar bis zum 18. Jahrhundert durch Menschen, die ihre Boote vom Land aus auf Leinpfaden bergwärts zogen. Talwärts ließen die Schiffer ihre Boote mit der Strömung treiben. Mit dem Ausbau der Transportkapazitäten wurden die Schiffe immer größer und die Schifffahrt war auf das Treideln mit Pferden angewiesen. Ein typischer Schiffszug bestand aus einem Hauptschiff mit Mast, einem Ankernachen und einem Rudernachen. Die auf die drei Boote verteilte Ladung betrug dabei typischerweise etwa 120–150 t. Die Besatzung bestand aus Schiffseigner, zwei Matrosen und einem Schiffsjungen. Hinzu kamen sechs bis zehn hintereinander gespannte Zugpferde, die von vier bis fünf Leinreitern geritten wurden. Täglich konnten so etwa 20 km in 5 Stunden zurückgelegt werden, daher wurden für die Strecke Mannheim bis Heilbronn etwa 5,5 Tage gebraucht. Dabei mussten die Pferde an fünf Stellen von einem Ufer auf das andere übergesetzt werden, und an einzelnen Stellen waren zusätzliche weitere Vorspannpferde nötig. Der Lohn für die Reiter wurde individuell mit dem Schiffseigner ausgehandelt und variierte in Abhängigkeit von Wasserstand und Nachfrage. Die Betriebskosten waren somit kaum planbar. Erst ab 1863 wurden Verträge mit einer Laufzeit von jeweils einem Jahr geschlossen. Diese konnten einen stetigen Anstieg der Kosten jedoch nicht verhindern. Größtenteils deckten die Erlöse für die Fracht kaum die Transportkosten. Teilweise war die Bergfahrt defizitär und konnte durch die Talfahrt nur bedingt ausgeglichen werden. Die wesentlichen Transportgüter zu Berg waren Kohle und Kolonialwaren, und zu Tal bestand die Ladung in erster Linie aus Koch- und Steinsalz aus den Salzwerken Friedrichshall und Wimpfen, Bau- und Nutzholz, Steinen aus den Odenwaldbrüchen, sowie Getreide. Die Gesamttransportmenge auf dem Neckar erhöhte sich in Heilbronn deutlich von 25600 t (1836) über 79600 t (1854) auf etwa 115000 t (1872). Gleichzeitig entwickelte sich durch die Eisenbahn eine immer deutlichere Konkurrenz für die Schiffer. Der Ausbau der Eisenbahnrouten erfolgte vor allem auf den Strecken Mannheim–Heidelberg (1840), Heidelberg–Neckargemünd–Meckesheim–Neckarelz–Mosbach (1862), Meckesheim–Rappenau (1868) und Rappenau–Jagstfeld (1869). Die Bahn bot günstige Preise und hohe Geschwindigkeit. Für die Schiffer standen somit geringeren Einnahmen immer höhere Kosten gegenüber, so dass befürchtet wurde, die Schifffahrt könnte in wenigen Jahren vollständig zum Erliegen kommen. Erste Versuche, die Schifffahrt auf Dampfbetrieb umzustellen, gab es bereits 1841 mit einem Raddampfer. Diese scheiterten jedoch an den schwierigen Verhältnissen des Neckars. Der geringe Wasserstand, die engen Krümmungen und die starke Strömung im Bereich der zahlreichen Stromschnellen machten einen Einsatz je nach Wasserstand unmöglich oder zumindest unrentabel. Kettenschifffahrt Planung und Konzession Durch die zunehmende Konkurrenz der Eisenbahn sahen die Heilbronner Kaufleute die Bedeutung ihrer Stadt als wichtigen Warenumschlagplatz am Endpunkt des schiffbaren Neckars gefährdet und suchten nach einem wirtschaftlichen Transportmittel auf dem Wasserweg. Ohne die Schifffahrt als einzigen Konkurrenten der Eisenbahn wären Preiserhöhungen absehbar gewesen. Außerdem hatte sich die Gefahr eines Eisenbahn-Verkehrsmonopols während des Deutsch-Französischen Krieges (1870–1872) gezeigt. Durch die militärisch beanspruchte Eisenbahn kam der zivile Gütertransport auf dem Landweg zum Erliegen und konnte nur durch die Schifffahrt aufrechterhalten werden. Daraufhin gründete der Heilbronner Handelsvorstand 1872 ein provisorisches Komitee zur Einführung der Kettenschifffahrt auf dem Neckar. Zur Untersuchung der Situation am Neckar griff das Komitee auf die Hilfe des Direktors der Kettenschleppschiffahrt der Oberelbe, Ingenieur Ewald Bellingrath, des Straßen- und Wasserbauinspektors Baurat von Martens aus Stuttgart und Max Honsell als Mitglied der badischen Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaus zurück. Alle drei kamen zu dem Ergebnis, dass allein die Kettenschifffahrt, wie sie bereits seit 1866 auf der Elbe praktiziert wurde, aus technischer und finanzieller Sicht auf dem Neckar vorteilhaft wäre. Bei dieser Technik ziehen sich Kettendampfer zusammen mit einem angehängten Schleppzug entlang einer im Fluss versenkten Stahlkette. Die Seilschifffahrt sei hingegen aufgrund der geringen Wassertiefe und der engen Kurven ungeeignet. Das Komitee beantragte am 2. Oktober 1872 die Konzession für die Kettenschifffahrt bei der württembergischen Regierung, die daraufhin offizielle Verhandlungen mit den Regierungen der beiden anderen Uferstaaten Baden und Hessen aufnahm. Als die Konzession Ende 1873 in sicherer Aussicht stand, gab es jedoch Probleme, das notwendige Aktienkapital aufzubringen. Durch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung der letzten beiden Jahre war viel freies Kapital in Unternehmen gebunden und die Bereitschaft, in neue Projekte zu investieren, war gering. Aus diesem Grunde bat das Komitee um einen Zuschuss oder zumindest um die Übernahme einer Staatsgarantie seitens des württembergischen Königshauses. In dem entsprechenden Schreiben des Heilbronner Schultheißes Karl Wüst hob dieser im Mai 1874 hervor, dass die Zukunft Heilbronns vom Erhalt der Schifffahrt abhänge und der Staat Württemberg auch als Eigentümer von Salinen und Forst ein deutliches Interesse an einer konkurrenzfähigen Neckarschifffahrt haben sollte. Das daraufhin am 1. Juli 1876 beschlossene Garantiegesetz sah die Übernahme einer Staatsgarantie für eine Aktiengesellschaft zur Errichtung einer Ketten- und Kabelschifffahrt auf dem Neckar durch den württembergischen Staat vor. Der Staat garantierte für die Dauer von 20 Jahren einen Jahreszuschuss von bis zu 5 % des einbezahlten Aktienkapitals zu gewähren, sofern die Jahreserträge der Gesellschaft nicht ausreichen sollten, die Betriebskosten sowie eine fünfprozentige Dividende für die Aktionäre zu decken. Gleichzeitig verpflichtete sich die Aktiengesellschaft, bei einem Reingewinn größer 6 % früher geleistete Zuschüsse zurückzuzahlen. Sofern frühere Zuschüsse nicht zu erstatten seien, sei der Staat zu 50 % am Überschuss zu beteiligen. Im Sommer 1877 konnte eine Subskription von fünfprozentigen Aktien festgesetzt werden. Von den 6000 angebotenen Aktien mit einem Nennwert von jeweils 300 Reichsmark erwarb die Stadt Heilbronn 500 Stück. Nach der Sicherung des Grundkapitals wurde auf der konstituierenden Versammlung der Schleppschifffahrt auf dem Neckar AG der Vorstand der Aktiengesellschaft mit Leitung des Kaufmanns Louis Link und dem inzwischen zum Oberbürgermeister ernannten Karl Wüst gewählt. Noch im selben Jahr erhielt die Gesellschaft die auf 34 Jahre festgesetzte Konzession von Hessen (27. August), Baden (22. September) und Württemberg (1. November). Inhalt der gleichlautenden Konzessionen war insbesondere das Bestreben, einer einseitigen Bevorzugung einzelner Schiffe vorzubeugen. So seien alle für den Schleppbetrieb tauglichen Fahrzeuge in der Reihenfolge ihrer Anmeldung zu befördern. Der Tarif für den Transport war in Absprache mit dem Ministerium festzulegen. Dieser war aufgeteilt in eine Gebühr zum Schleppen des leeren Kahns und einen gewichtsabhängigen Teil für die Ladung. Betrieb Am 23. Mai 1878 stand bei Wimpfen ein reich beflaggter Schleppzug, das Kettenschiff Nr. I mit einem Zug leerer Neckarfahrzeuge für die wohl über 500 geladenen Gäste, bereit zur Festfahrt. Unter den Gästen befanden sich Staatsminister von Sick sowie weitere hohe Beamte und Abgeordnete der Anliegerstaaten. Am Folgetag fuhr der Kettendampfer nach Mannheim. Von dort startete er mit neun Kähnen im Anhang (Gesamtzuladung 360 t) seine erste richtige Schleppfahrt und erreichte Heilbronn am 27. Mai. Die Fahrzeit verkürzte sich gegenüber dem Pferdezug auf etwa die Hälfte. Gleichzeitig reduzierten sich die Kosten deutlich. Die Schifffahrt wurde wieder konkurrenzfähig. Am 15. Juni 1878 besichtigte König Karl I. die Einrichtung und fuhr von Neckarsulm nach Heilbronn mit. In den darauffolgenden Monaten wurde bis September je ein neuer Kettendampfer in Dienst gestellt. Der fünfte Kettendampfer kam 1880 dazu. Die Schiffer nahmen den neuen Kettenschleppdienst schnell an. In den Jahren 1878 bis 1883 stieg die Zahl der geschleppten Fahrzeuge und die transportierte Ladung stetig. Mitte der 1880er Jahre konnte der Bergverkehr auf dem Neckar gegenüber der Mitte der 70er Jahre etwa verdoppelt werden, obwohl die neuen, parallel zum Fluss verlaufenden Eisenbahnstrecken Neckargemünd-Eberbach-Neckarelz-Jagstfeld (1879) und Jagstfeld-Heilbronn (1882) in Betrieb gingen. Die an die Aktionäre ausgezahlten Renditen lagen bei steigenden Einnahmen der Gesellschaft zwischen 5,5 und 6,6 %. Im Jahre 1884 kam es zu einem leichten Einbruch im Schiffsverkehr. Aufgrund einer langanhaltenden, extremen Trockenheit war der Wasserspiegel das ganze Jahr über sehr niedrig und erreichte zweimal den niedrigsten Stand von nur 45 cm. Nicht nur der geringe Niederschlag, sondern auch die Wasserentnahme durch Landwirte und das Aufstauen der Wasserwerke in der Nachtzeit sorgten dafür, dass die Kettenschlepper ihre Fahrt wegen Wassermangels immer wieder unterbrechen mussten. Kohle und Trossen der Kettendampfer wurden so weit als möglich auf Tenderschiffe ausgelagert, um den Tiefgang zu reduzieren. So konnte der Schifffahrtsbetrieb bis zu einer minimalen Wassertiefe von 50 cm aufrechterhalten werden. Die Schleppschifffahrtsgesellschaft achtete mit ihrer Preisgestaltung unter Wahrung ihrer eigenen Rentabilität zu aller Zeit darauf, dass die Schiffer ihre Dienste zu konkurrenzfähigen Preisen gegenüber der Eisenbahn anbieten konnten und gleichzeitig ein vernünftiges Auskommen hatten. So gewährte sie den Schiffern zum Beispiel Rabatte bei niedrigen Wasserständen. Der Staat Württemberg selbst hatte ein eigenes Interesse, den Neckarhandel voranzutreiben. Die Einnahmen vom Handel in Heilbronn wie auch die Einnahmen aus dem Kettenschleppdienst kamen dem Staat Württemberg direkt zugute. Das führte dazu, dass bei gleichen Kosten die Schifffahrt bevorzugt wurde und so die württembergische Staatseisenbahn angewiesen wurde, ihre Kohle per Schiff bis Heilbronn zu transportieren. Dafür wurden von der Schleppschifffahrtsgesellschaft in Heilbronn eigens drei Dampfkräne zum Entladen der Schiffe gebaut. Nachdem eine Kammer der 1821 errichteten Wilhelm-Kanal-Schleuse im Jahr 1884 für die Durchfahrt eines Kettendampfers auf 48 m Länge und 7 m Breite vergrößert worden war, wurde auf Anregung des Aufsichtsrates des Zementwerks in Lauffen die Kettenschifffahrt bis 12 km oberhalb Heilbronns erweitert. Technisch gesehen waren die Bedingungen für diese zusätzliche Strecke einfacher als für einzelne, bereits für die Kettenschifffahrt genutzten Flussabschnitte. Finanziell erhoffte sich die Gesellschaft zusätzliche Einnahmen durch den in Aussicht gestellten Transport von Kalksteinen, Kohle und Koks nicht nur für die neue Strecke, sondern auch auf bestehenden Streckenabschnitten. Die Investitionskosten für Betriebsmittel waren hingegen sehr gering. Die benötigte Kettenlänge stand noch als Lagerbestand zur Verfügung. Durch die Abnutzung der Kettenglieder an deren Berührungsflächen kam es zu einer Längung der Kette, die pro Kettenglied gering, über die Gesamtlänge der Kette jedoch beträchtlich war. Daher wurden innerhalb der Jahre immer wieder Kettenstücke herausgetrennt und gelagert. Zusätzlich unterlag die Kette in Flussabschnitten mit sehr hoher Strömung und engen Kurven einer erhöhten Belastung und Abnutzung. Da gleichzeitig ein Kettenbruch in jenen Flussabschnitten wesentlich größere Folgen hätte, musste die Kette dort früher ausgetauscht werden. Diese Kettenabschnitte waren jedoch für die neue Strecke mit einer geringeren Zahl von geschleppten Schiffen noch gut zu gebrauchen. Somit rentierte sich die Erweiterung der Strecke bis Lauffen ohne neuerliche Staatsgarantie und wurde 1890 nach einer Erweiterung der Konzession umgesetzt. Im Jahre 1890 machte die Kohle bei der Bergladung etwa zwei Drittel der Ladung aus (inklusive der Lieferungen nach Lauffen). Die Talladung bestand zu etwa drei Vierteln aus Salztransporten, davon etwa die Hälfte aus der Saline Friedrichshall in Jagstfeld. In den Jahren 1892/93 bereitete die anhaltende Trockenheit der Neckarschifffahrt besondere Probleme. Im ersten Jahr musste die Schifffahrt wegen Niedrigwasser teilweise eingestellt werden. Da der Rhein nicht betroffen war, wurde die Ladung in Mannheim direkt auf die Eisenbahn verladen. 1893 war die Situation noch deutlich schlimmer. Regenmangel und die Bewässerung mit Flusswasser ließen den Pegel des Neckars weiter sinken. Der niedrige Wasserstand wurde außerdem für umfangreiche Räumungsarbeiten und Flussbauten genutzt, so dass die Schleppschifffahrt nur etwa 60 % der Arbeitstage ausnutzen konnte. Das führte dazu, dass die Schleppschifffahrtsgesellschaft das erste Mal die Staatsgarantie in Anspruch nehmen musste. Einen ähnlichen Rückschlag verzeichnete die Neckarschifffahrt im Jahr 1895. Auf einen lang anhaltenden, strengen Winter folgte starkes Hochwasser, so dass der Schleppbetrieb erst im April aufgenommen werden konnte. Der trockene Sommer bedingte wiederum eine zeitweise Einstellung des Schleppbetriebs durch Niedrigwasser. Hinzu kam, dass niedrige Wasserstände am Rhein den Nachschub an Gütern teilweise ins Stocken geraten ließen. Die Schleppschifffahrt konnte erneut nur etwa 60 % der Arbeitstage nutzen und musste ein zweites Mal die Staatsgarantie in Anspruch nehmen. Über die Jahre gesehen waren diese Zuwendungen durch den Staat Württemberg jedoch erheblich geringer als die Gewinne, die in anderen Jahren an den Staat abgeführt wurden. Während der Zeit der Kettenschifffahrt hat sich der durchschnittliche Laderaum der gezogenen Schiffe deutlich erhöht. Betrug die maximale Tragfähigkeit pro Schiff 1878 im Mittel noch 55 t, steigerte sich diese bis 1892/93 auf etwa 100 t. Die 130-t-Grenze wurde um 1900 überschritten. Wegen der engen Flussbiegungen und der jahreszeitlich stark schwankenden Wasserführung des Neckars blieben die meisten Schiffe jedoch unter 200 t Tragfähigkeit. Technische Beschreibung Die gesamten technischen Angelegenheiten übernahm der bis dahin als Berater des provisorischen Komitees eingesetzte Ingenieur Ewald Bellingrath. Er erarbeitete Pläne, beschaffte die Betriebsmittel und überwachte die technische Ausführung. Er ließ Neckarschiffer auf seinen Kettenschiffen auf der Elbe ausbilden. Die Kette Die 115 km lange Schleppkette bestand aus 26 mm starken und 110 mm langen, ovalen Kettengliedern und war auf eine Bruchfestigkeit entsprechend 2,5 t geprüft. 70 km Kette lieferten zwei englische Werke, 35 km kamen aus Frankreich und 7,5 km aus einem deutschen Werk. Hinzu kamen 2 km gebrauchte Kette von der Elbe. Die Kette hatte ein Gesamtgewicht von 1760 t und kostete inklusive Verlegung 592.000 Reichsmark. Die Verlegung begann am 23. März 1878 in Heilbronn. Das Ende der Kette wurde oberhalb der Eisenbahnbrücke im Neckar verankert. Die Kette war durch Reibung und die Zugbelastung einer ständigen Abnutzung ausgesetzt. Die Kette besaß etwa alle 500 m ein Kettenschloss in Form eines Schäkels, an dem sie getrennt werden konnte, ohne einzelne Kettenglieder zu zerstören. Je nach Strömungsverhältnissen des jeweiligen Flussabschnitts musste die Kette nach 10 bis 15 Jahren ausgetauscht werden. Während des Schleppbetriebs zieht sich die Kette im Bereich starker Flussbiegungen leicht Richtung Innenseite der Flusskrümmung. Der talfahrende Kettenschlepper kann die Lage der Kette im Flussbett jedoch korrigieren. Die Kettendampfer Eine allgemeine Beschreibung von Kettenschleppdampfern befindet sich im Hauptartikel Kettenschleppschiff. Der Auftrag für den Bau der ersten vier Kettendampfer ging an die Sächsische Dampfschiffahrt- und Maschinenbaugesellschaft in Dresden zu je 69800 Reichsmark. Diese lieferte jedoch nur Kesselanlagen und Maschinen an den Neckar, während die Neckarwerft in Neckarsulm die Schiffskörper fertigte. Gleiches galt auch für den baugleichen fünften Kettendampfer, der 1880 fertiggestellt wurde. Die Neckarwerft wurde 1879 von der Schleppschifffahrt auf dem Neckar AG für Instandhaltungsarbeiten des eigenen Betriebsmaterials gekauft. Der sechste und siebte Kettendampfer (1884/85) wurden auf der Werft in Neckarsulm geplant und gebaut. Beide Schiffe enthielten eine Kessel- und Maschinenanlage der Maschinenfabrik J. Wolf & Co in Heilbronn. Die Kettendampfer wurden weitgehend nach dem Vorbild der Kettendampfer auf der Elbe konstruiert. Die Kette wurde am Bug über bewegliche Ausleger aus dem Wasser gezogen, über zahlreiche Leitrollen zum eigentlichen Antrieb geführt und am Heck des Schiffes über einen weiteren Ausleger wieder im Wasser abgelegt. Die Schiffskörper waren mit einer Länge von 42 bis 45 m und einer Breite von höchstens 6,5 m jedoch deutlich kleiner als auf der Elbe, um den engen Flusskrümmungen des Neckars besser folgen zu können. Auch der Tiefgang von nur 47 cm war auf die niedrigeren Wasserstände des Neckars angepasst. Der Schiffskörper war nur zum Teil aus Eisen. Das Schiffsdeck und der ebene Boden des Schiffes waren aus Holz gefertigt, da dieses bei Havarien als standhafter galt. Der Kettendampfer war durch zwei wasserdichte Schottwände im Inneren in drei Teile unterteilt, die jeweils nur von oben zugänglich waren. Im mittleren Teil befanden sich nebeneinander zwei Dampfkessel mit den dazugehörigen Kohlenbunkern. Die Kessel versorgten die liegend angeordnete Zwillingsdampfmaschine mit Dampf. Die Dampfmaschine mit einer Leistung von 81 kW (110 PS) war wiederum über ein Wechselgetriebe mit dem über Deck befindlichen Kettenwindwerk aus zwei hintereinander angeordneten Trommeln verbunden. Die Kette folgte abwechselnd jeweils dem halben Umfang einer Trommel und dem halben Umfang der anderen Trommel. Insgesamt war die Kette sechs halbe Umfänge um das Windwerk gewickelt. Die Trommeln hatten einen Durchmesser von 1,3 m und waren mit je vier Laufrillen ausgestattet. Über das Wechselgetriebe waren zwei verschiedene Geschwindigkeiten einstellbar. Zu Berg betrug die Geschwindigkeit 4,5–5 Kilometer pro Stunde und zu Tal 10–11 Kilometer pro Stunde. Die anderen beiden Bereiche am Bug und Heck des Schiffs enthielten die Betriebs- und Aufenthaltsräume für die Besatzung. Die 7-köpfige Besatzung bestand aus Kapitän, Steuermann, Maschinist, zwei Heizern und zwei Bootsleuten. An Deck befand sich der überdachte Steuerstand mit zwei Steuerrädern von dem aus die beiden großen Steuerruder an den beiden Bootsenden vorne und hinten bedient wurden. Im Gegensatz zu Kettendampfern auf anderen Flüssen konnten sich die Boote vom Neckar nur an der Kette fortbewegen und besaßen keinen zusätzlichen, von der Kette unabhängigen Antrieb wie Schraube, Seitenräder oder Wasserstrahlantrieb. Während sie bergwärts Schiffe schleppten, korrigierten sie während der Talfahrt ohne Anhang die Lage der Kette im Flussbett. Begegneten sich zwei Kettenschiffe, so war ein kompliziertes Ausweichmanöver notwendig, wobei der zu Tal fahrende Kettendampfer aus der Kette ging und den zu Berg fahrenden Kettendampfer passieren ließ. Dieses Manöver bedeutete für den Schleppverband auf Bergfahrt eine Verzögerung von mindestens 20 Minuten, während das talfahrende Schiff einen Zeitverlust von etwa 45 Minuten erlitt. Das Ende der Kettenschifffahrt Durch die geringe Wassertiefe und die engen Krümmungen blieb die Größe der meisten Schiffe auf eine Tragfähigkeit von etwa 200 t beschränkt. Nachhaltigen Erfolg durch Einsatz größerer Schiffe bis 600 t Tragfähigkeit konnte nur eine Kanalisierung des Flusses ermöglichen. Die interessierten Handelskammern und Gemeinden gründeten daher 1897 das „Komitee für die Hebung der Neckarschifffahrt“. Dieses plante nicht nur die Kanalisierung, sondern dachte auch über eine Großschifffahrtsverbindung zwischen Rhein und Donau nach, die über die Flüsse Neckar, Rems, Kocher und Brenz verlaufen sollte. Die bis 1911 ausgestellte Konzession der Kettenschifffahrt wurde daraufhin nur um weitere 10 Jahre verlängert, aber um zusätzliche Bestimmungen erweitert. Die Kettenschleppschifffahrtsgesellschaft erhielt Entschädigungen für die Behinderungen durch die Bauarbeiten und die Schleusen. Gleichzeitig erhielten sie das Recht des alleinigen Schleppbetriebs auf den fertiggestellten Stauhaltungen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs begann die Reichswasserstraßenverwaltung mit dem Ausbau des Neckars für Schiffe von 80 m Länge, 10,35 m Breite und 2,3 m Tiefgang, was einer Tragfähigkeit von etwa 1200 t entsprach. Mit der fortschreitenden Inbetriebnahme der einzelnen Staustufen reduzierte sich die Fließgeschwindigkeit und erhöhte sich die Wassertiefe. Beides ließ die Kettendampfer gegenüber anderen Schleppern unrentabel werden. Als Ersatz für zwei Kettendampfer setzte die „Schleppschifffahrt auf dem Neckar AG“ ab 1925 zunächst zwei Schraubendampfschlepper auf den aufgestauten Teilstrecken ein. Diese zogen die Binnenschiffe nicht nur bergwärts, sondern auch talwärts. Im Zuge des weiteren Ausbaus des Neckars folgten bis 1929 drei Motorschlepper. Gleichzeitig wurde die Zahl der Kettendampfer weiter reduziert. Mit der Fertigstellung der Großwasserstraße am 28. Juli 1935 war nach insgesamt 57 Jahren das Ende der letzten Kettendampfer auf der letzten Strecke zwischen Neckargerach und Kochendorf gekommen. Kuriosa Eine humorvolle historische Dokumentation findet sich bei Mark Twain, dem berühmten Neckarreisenden: „Es war ein Schlepper, und zwar einer von sehr merkwürdigem Bau und Aussehen. Ich hatte ihn oft vom Hotel aus beobachtet und mich gefragt, wie er wohl angetrieben werde, denn offenbar besaß er keine Schraube oder Schaufeln. Jetzt kam er dahergeschäumt, machte eine Menge Lärm verschiedener Art und steigerte ihn ab und zu noch dadurch, dass er ein heiseres Pfeifen ertönen ließ.“ Der Transport schwerer Lasten und das laute Pfeifen brachte den Kettendampfern auf dem Neckar bei der Bevölkerung den Spitznamen „Neckaresel“ ein. Als Handschuhsheim noch ein reines Bauerndorf war, erzählte man sich diese Geschichte: Die Bauern hörten eines Tages auf ihren Feldern ein bedrohliches Geräusch, das wie das Brüllen eines Löwen klang. Die Bauern rückten, mit Dreschflegeln und Sensen bewaffnet, aus, um den Löwen zu fangen. Doch das vermeintliche Löwengebrüll entpuppte sich als das Signal des ersten Dampfschleppers (1878) auf dem Neckar, der mit seinem Schiffshorn die staunenden Anwohner grüßte. Die Handschuhsheimer tragen seither auch den Namen „Die Löwen“. Museen mit Ausstellungen zur Kettenschifffahrt auf dem Neckar Das Haus der Stadtgeschichte und die Städtischen Museen Heilbronn widmen sich in ihrer Ausstellung Heilbronn historisch! Entwicklung einer Stadt am Fluss mit diversen Exponaten, darunter einem Teil der originalen Kette, der Kettenschifffahrt auf dem Neckar. Das Technoseum (Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim) und die Städtischen Museen Heilbronn besitzen Modelle von Neckar-Kettenschiffen. Im Schifffahrtsmuseum des „Schifferverein Germania Hassmersheim 1912 e.V.“ steht ein etwa 4,5 m langes Diorama, das einen Kettenschleppverband darstellt. Dieses stand ursprünglich im Schifffahrtsmuseum der Stadt Heilbronn. Literatur Willi Zimmermann: Heilbronn – der Neckar: Schicksalsfluß der Stadt. Verlag Heilbronner Stimme, Heilbronn 1985 (Reihe über Heilbronn, 10), ISBN 3-921923-02-6. Helmut Betz: Historisches vom Strom Band. V: Die Neckarschiffahrt vom Treidelkahn zum Groß-Motorschiff, Krüpfganz, Duisburg 1989, ISBN 3-924999-04-X Einzelnachweise Schleppschifffahrt Schleppschifffahrt Kettenschifffahrt Neckarschifffahrt Verkehrsgeschichte (Baden-Württemberg) Binnenschifffahrtsgeschichte (Deutschland) Geschichte (Neckar)
2003622
https://de.wikipedia.org/wiki/Lelantischer%20Krieg
Lelantischer Krieg
Als Lelantischer Krieg wird ein Konflikt zwischen den griechischen Stadtstaaten Chalkis und Eretria bezeichnet, der sich in frühgriechischer Zeit – etwa 710 bis 650 v. Chr. – ereignete. Namengebender Kriegsgrund war der Überlieferung zufolge der Streit um die fruchtbare Lelantische Ebene auf der Insel Euböa. Aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung der beiden kriegführenden Poleis dehnte sich der Konflikt weit aus; zahlreiche weitere griechische Stadtstaaten schlossen sich jeweils einer der beiden Parteien an, sodass große Teile Griechenlands untereinander in Konflikt standen. Vom Geschichtsschreiber Thukydides wird der Lelantische Krieg daher als der umfassendste griechische Konflikt im Zeitraum zwischen der mythischen Eroberung Trojas und den Perserkriegen genannt. Die Bezeichnung Lelantischer Krieg ist jedoch nicht zeitgenössisch, sondern modern. Antike Autoren sprachen in der Regel vom Krieg zwischen den Chalkidiern und Eretriern (griechisch ). Da der Konflikt zu einem sehr frühen Zeitpunkt der griechischen Geschichte stattfand, als sich insbesondere die Geschichtsschreibung noch nicht entwickelt hatte, gibt es kaum schriftliche Zeugnisse zum Lelantischen Krieg. Anhand der wenigen Quellen und mit Hilfe der wesentlich umfangreicheren archäologischen Funde lässt sich jedoch zumindest schemenhaft ein Bild vom Lelantischen Krieg entwerfen. Die Uneindeutigkeit der wenigen vorhandenen schriftlichen Quellen führte jedoch dazu, dass Zeitpunkt und Ausmaß des Lelantischen Krieges in den Altertumswissenschaften umstritten sind. Einige Forscher gingen sogar soweit, den Lelantischen Krieg als Mythos oder gar Fiktion zu bezeichnen. Schriftliche Überlieferung Zum Lelantischen Krieg ist kein umfassendes Geschichtswerk eines zeitgenössischen Autors – wie etwa durch Thukydides zum Peloponnesischen Krieg – verfasst worden, da sich die griechische Geschichtsschreibung erst knapp 200 Jahre später, beginnend mit Hekataios von Milet, entwickelte. Im späten 8. Jahrhundert v. Chr. begann überhaupt erst die griechische Literaturtradition mit Homer, daher sind die einzigen zeitgenössischen Zeugnisse zum Lelantischen Krieg von den frühgriechischen Dichtern Hesiod und Archilochos überliefert. Die ersten Erwähnungen des Krieges durch Geschichtsschreiber stammen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., also gut zwei Jahrhunderte nach den Ereignissen, und sind dementsprechend vage und knapp gehalten. In der Einleitung zu seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg behandelt Thukydides (~460–Anfang 4. Jh. v. Chr.) kurz die griechische Vorzeit und stellt dabei fest, dass es zwischen dem Trojanischen Krieg und den Perserkriegen keine größeren gemeinsamen Unternehmungen der Griechen gegeben habe. Eine Ausnahme sei allerdings der Krieg zwischen den Chalkidiern und den Eretriern gewesen, in dem auch das übrige Hellas für eine der beiden Poleis Partei ergriffen habe: Von Herodot (484–425 v. Chr.) wird dieser Krieg als Grund dafür genannt, dass Eretria dem 494 v. Chr. infolge des Ionischen Aufstands von den Persern bedrohten Milet militärische Unterstützung sandte. Denn Milet habe einst Eretria im Krieg gegen Chalkis unterstützt, so wie Samos die Chalkidier unterstützte: Ein noch späterer Autor, Plutarch (~45 bis ~125), erwähnt den Lelantischen Krieg mehrfach. In den Moralia schreibt er, dass die Chalkidier im Krieg gegen die Eretrier sich deren Fußtruppen zwar gewachsen fühlten, der Reiterei aber unterlegen. Daher hätten sie den Thessalier Kleomachos von Pharsalos zu Hilfe gerufen, der mit seinen Reitern die Schlacht zu Gunsten Chalkis' entschied. Kleomachos selbst sei im Kampf jedoch gefallen, von den dankbaren Chalkidier aber würdig bestattet und mit einer Ehrensäule auf der Agora bedacht worden. An anderer Stelle erwähnt Plutarch einen Dichterwettstreit zwischen Homer und Hesiod bei den Leichenspielen eines chalkidischen Adligen namens Amphidamas. Dieser sei im Krieg um die Lelantische Ebene gefallen, nachdem er im Kampf gegen die Eretrier zahlreiche Heldentaten vollbracht hätte. Von diesem musischen Wettbewerb zu Ehren des Amphidamas spricht auch Hesiod (8./7. Jahrhundert v. Chr.) selbst – obgleich er Homer nicht erwähnt. Dies ist zugleich das älteste schriftliche Zeugnis vom Lelantischen Krieg, und eine der zwei zu Anfang erwähnten zeitgenössischen Nachrichten des Krieges. Dass die beiden Poleis Chalkis und Eretria einst befreundet waren, berichtet Strabon (~63 v. Chr.–~23 n. Chr.) in seinen Geōgraphika. Diese einstige Freundschaft habe dazu geführt, dass sich die beiden Konfliktparteien vor der Schlacht auf vertraglich festgehaltene Bedingungen einigten. Demnach einigte man sich darauf, im Kampf keine Fernwaffen zu verwenden. Von einer derartigen Abmachung berichtet indirekt auch Archilochos (680–645 v. Chr.), der zweite Zeitgenosse des Lelantischen Krieges. Er erzählt, wie die „kriegerischen Herren Euböas“ in einer (noch bevorstehenden) Schlacht nicht Bogen und Schleuder, sondern Schwerter gebrauchen werden. Ausgehend von diesen literarischen Zeugnissen, und unter Zuhilfenahme diverser archäologischer Befunde, wurde von der modernen Wissenschaft ein schemenhaftes Bild des Lelantischen Krieges konstruiert. Hintergrund Chalkis und Eretria sind Hafenstädte an der Westküste Euböäs. Beide Städte beanspruchten die Lelantische Ebene, wobei der Fluss Lelas, der die Ebene von Norden nach Süden durchschneidet, eine natürliche Grenze dargestellt haben könnte. Zwar liegt Eretria genau genommen außerhalb der Lelantischen Ebene, dennoch hatte die Stadt einen historischen Anspruch auf das Gebiet. Der Grund dafür war, dass Eretria ursprünglich wahrscheinlich als Hafen einer westlich liegenden Mutterstadt diente. Diese befand sich nahe der Mündung des Lelas, bei der heutigen Ortschaft Lefkandi. Der antike Name der Mutterstadt ist nicht bekannt, sie wird im Folgenden „Lefkandi“ genannt. Um 825 v. Chr. wurde Lefkandi schwer zerstört, woraufhin ein Großteil der Bewohner die Stadt vermutlich in Richtung Eretria verließ. Im 8. Jahrhundert v. Chr. zählte Euböä zu den wirtschaftlich stärksten Regionen Griechenlands. Die beiden führenden Mächte der Insel, Chalkis und Eretria, gehörten zu den treibenden Kräften der Griechischen Kolonisation des Mittelmeeres, wobei sie jedoch lange Zeit nicht in Konkurrenz, sondern gemeinschaftlich auftraten. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. gründeten sie in Al Mina eine Kolonie zum Handel mit dem östlichen Mittelmeerraum. Etwa zeitgleich erfolgte die Expansion nach Westen. Mit Kerkyra sicherte sich Eretria den Zugang zum westlichen Mittelmeer. Seit dem zweiten Viertel des 8. Jahrhunderts v. Chr. waren euböische Händler auf der Insel Pithekussai vor der kampanischen Küste präsent, um Handel mit den Etruskern zu treiben. Wenige Jahrzehnte später wurde mit Kyme die erste Kolonie auf dem italienischen Festland gegründet. Um 735 v. Chr. gründete Chalkis die erste griechische Kolonie in Sizilien, laut Thukydides der eigentliche Beginn der griechischen Kolonisation. Wenig später wurden Rhegion und Zankle beiderseits der strategisch wichtigen Straße von Messina gegründet. Kriegsgrund Grund für den Ausbruch des Krieges war der Überlieferung zufolge der Streit um die Lelantische Ebene. In dieser sehr fruchtbaren Landschaft wurden seit alter Zeit Ackerbau betrieben und auch Wein angebaut. Kriege um agrarisch nutzbare Landstriche wurden in Griechenland, wo es nur sehr wenig fruchtbares Land gibt, des Öfteren geführt, insbesondere auch in archaischer Zeit, etwa zwischen Megara und Athen. Warum aber Chalkis und Eretria plötzlich um die Lelantische Ebene stritten, nachdem sie zuvor über deren Nutzung in Einvernehmen lagen, ist unklar. Möglicherweise lag der Ursprung dieses Konflikts in einer Naturkatastrophe. Am Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. kam es in Attika, Euböa und den nahen Inseln zu einer schweren Dürre. In deren Folge wurde vermutlich auch der eretrische Außenposten Zagora auf der Insel Andros aufgegeben. Diese Dürre und die mit ihr einhergehende Hungersnot könnte bewirkt haben, dass sowohl Chalkis als auch Eretria Anspruch auf die gesamte Lelantische Ebene erhoben. Kriegsverlauf Wohl um 710 v. Chr. begann der Krieg zwischen Chalkis und Eretria. Obwohl beide Städte sicherlich über große Flotten verfügten, wurde er zu Lande geführt. Da der Krieg vor Einführung der Hoplitentaktik stattfand, gleichzeitig aber auch Schleudern und Bögen in gegenseitigem Einvernehmen untersagt waren, trafen wohl in erster Linie leichtgepanzerte Schwertkämpfer aufeinander. Einer anderen Forschermeinung zufolge kämpften jedoch hauptsächlich Reiterheere gegeneinander. Auf Grund des Archilochos-Zitates ist davon auszugehen, dass der Krieg noch zu Lebzeiten des Dichters († ca. 645 v. Chr.) im Gange war. Möglich und durchaus wahrscheinlich ist jedoch, dass der Konflikt in mehrere Phasen der kriegerischen Auseinandersetzung und des Waffenstillstands unterteilt war, wie etwa der Peloponnesische Krieg oder die Messenischen Kriege. Durch archäologische Untersuchungen ließ sich feststellen, dass etwa 710–705 v. Chr. in Eretria die ersten Bestattungen von Kriegshelden auf dem Gelände des späteren Heroons erfolgten. Die letzte dieser Beisetzungen fand um 690 v. Chr. statt. In Chalkis, das kaum archäologisch untersucht ist, lassen sich zumindest anhand der schriftlichen Quellen ähnliche Leichenfeiern von Kriegshelden, namentlich des Amphidamas, nachweisen. Um 680 v. Chr. wurde in Eretria schließlich ein dreieckiges Gebäude über den Kriegergräbern errichtet, in welchem die Eretrier den gefallenen Kriegshelden Opfer darbrachten. Dies mag in Zusammenhang mit einem erneuten Aufflammen des Konflikts stehen, für das die Eretrier Hilfe von den toten Heroen erhalten wollten. Die Ausweitung des Konflikts auf andere Regionen und die Zahl der Verbündeten sind umstritten. Direkt bezeugt sind neben Chalkis und Eretria nur drei weitere Kriegsteilnehmer: Milet auf Seiten Eretrias, sowie Samos und Thessalien auf Seiten Chalkis'. Daneben lassen sich aber auch durch die aus der Archaik bekannten Feindschaften und Bündnisse verschiedene Poleis der einen oder der anderen Kriegspartei zuordnen, sodass einige Forscher bis zu 40 Kriegsteilnehmer annehmen. Dies würde jedoch weitreichende politische Bündnissysteme voraussetzen, die die Mehrheit der Forschung im 8. Jahrhundert v. Chr. nicht für gegeben hält. Daher nehmen die meisten Historiker (neben den direkt genannten) nur Aigina, Korinth und Megara, teilweise auch noch Chios und Erythrai an. Die Insel Aigina war vor allem im Ägyptenhandel tätig, wo Samos ihr stärkster Konkurrent war. Samos war Verbündeter Chalkis', weswegen Aigina zu den Verbündeten Eretrias gezählt wird. Korinth und Megara standen praktisch die gesamte Archaik hindurch in Feindschaft wegen der korinthischen Eroberung der Halbinsel Perachora, die ursprünglich zu Megara gehörte. Das Agieren von Chalkis und Korinth in der griechischen Westkolonisation könnte auf ein älteres Bündnis oder zumindest eine Freundschaft zwischen den beiden Poleis hinweisen. Die chalkidische Kolonie Leontinoi vertrieb ca. 730 v. Chr. megarische Siedler, die zunächst dort Aufnahme gefunden hatten,; kurz zuvor hatten Korinther eretrische Siedler aus Kerkyra vertrieben. Analog dazu wird eine Freundschaft zwischen Megara und Eretria angenommen. Über Chios berichtet Herodot, dass es Milet im Ionischen Aufstand unterstützte, weil Milet den Chiern einst gegen Erythrai geholfen hätte. Über Milet lässt sich somit ein Bündnisverhältnis von Chios und Eretria sowie von Erythrai und Chalkis konstruieren. In der aktuellen Forschung ist man überwiegend der Meinung, dass es im 8. Jahrhundert v. Chr. überhaupt keine derart weitreichenden Bündnisse gegeben haben könne. Vielmehr hätten die einzig bündnisähnlichen Strukturen auf persönlichen Beziehung unter Adligen beruht, so dass außer Eretria und Chalkis nur der thessalische Adlige Kleomachos von Pharsalos mit einem Aufgebot am Krieg teilgenommen hätte. Detlev Fehling glaubt, dass der gesamte Lelantische Krieg eine Erfindung späterer Jahrhunderte wäre, die das Produkt einer „Kette von Pseudo-Nachrichten“ sei. Diese Meinungen werden jedoch weitgehend abgelehnt. Um 700 v. Chr. wurde die eretrische Mutterstadt Lefkandi endgültig zerstört, vermutlich durch Chalkis. Damit erlosch Eretrias Verbindung zur Lelantischen Ebene. Der eretrische Verbündete Milet verwüstete etwa zur gleichen Zeit Karystos im Süden Euböas. Milet stieg in dieser Phase zur Vormacht im Osten des Ägäischen Meeres auf. Der Krieg dauerte (möglicherweise durch "Ruhephasen" unterbrochen) bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. an. Den Ausschlag zugunsten von Chalkis gab schließlich ein thessalisches Reiterheer unter Führung von Kleomachos von Pharsalos. Folgen Nach dem langen Krieg war Euböa, die einstmals führende Region Griechenlands, zu einem rückständigen Gebiet geworden. Nicht nur Eretria, sondern auch der Sieger des Konfliktes, Chalkis, hatte seine einstige wirtschaftliche und politische Bedeutung verloren. Statt euböischer beherrschte nun korinthische Vasenmalerei den mediterranen Markt für Keramik. Die Vorreiterrolle in der griechischen Kolonisation übernahmen kleinasiatische Poleis wie Milet (Osten) und Phokaia (Westen). Chalkis blieb bis 506 v. Chr. im Besitz der Lelantischen Ebene, als die Athener eine Kleruchie in der Ebene ansiedelten. Literatur Oswyn Murray: Das frühe Griechenland. München 1982, S. 101–105, ISBN 3-423-04400-4 Victor Parker: Untersuchungen zum Lelantischen Krieg und verwandten Problemen der frühgriechischen Geschichte (= Historia Einzelschriften 109). Stuttgart 1997, ISBN 3-515-06970-4 Einzelnachweise Euböa Kriege des antiken Griechenland 8. Jahrhundert v. Chr. 7. Jahrhundert v. Chr.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Landing%20Vehicle%20Tracked
Landing Vehicle Tracked
Das Landing Vehicle Tracked (LVT; aus der weiteren Zusatzbezeichnung amphibious tractor entstanden die weitläufig bekannten Namen amphtrack, amtrac oder amtrak) war ein von Donald Roebling entworfenes kettenbetriebenes Amphibienfahrzeug, das hauptsächlich von der US Navy und dem US Marine Corps, sowie in geringeren Stückzahlen auch von der US Army und den Alliierten während des Zweiten Weltkrieges eingesetzt wurde. Die überwiegende Mehrheit dieser Schwimmpanzer wurde im Pazifikkrieg verwendet. Dort konnten sie über die unter Wasser befindlichen Korallenriffe fahren, die herkömmliche Boote gestoppt hätten. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz wurde selten auf diese Fahrzeuge zurückgegriffen (z. B. Operation Varsity). Die LVTs wurden nach Ende des Zweiten Weltkrieges mehrmals umgerüstet und kamen auch während des Koreakrieges zum Einsatz. Die von 1942 bis 1945 laufende Produktion brachte insgesamt 18.621 dieser Fahrzeuge in den unterschiedlichsten Varianten hervor. Die amtracs wurden von Major General Roy S. Geiger, Befehlshaber des III. Amphibious Corps, während der Schlacht um Okinawa als „work horses of the Marine Corps“ (dt.: „Arbeitspferde des Marine Corps“) bezeichnet. Lieutenant General Holland M. Smith formulierte die Bedeutung dieses Fahrzeuges 1949 folgendermaßen: Ab 1953 wurden sie durch die von Grund auf neu entwickelte LVT-5-Familie ersetzt. Die aktuell im Dienst befindliche 3. Generation, die auf dem Landing Vehicle Tracked beruht, ist das AAV7. Entwicklungsgeschichte Okeechobee-Hurrikan Als Auslöser zur Entwicklung des LVT gilt der Okeechobee-Hurrikan, der am 16. September 1928 auf das nordamerikanische Festland traf. Zuvor hatte er in der Karibik eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. So starben 600 Menschen auf Guadeloupe und 300 weitere auf Puerto Rico, wo er zusätzlich 200.000 Obdachlose hinterließ. Unter anderem verwüstete er verschiedene Boomtowns in den Everglades, die vornehmlich von wohlhabenden Nordstaatlern bewohnt waren. Einer der Betroffenen war John August Roebling II., ein bekannter Geschäftsmann und Philanthrop sowie Enkelsohn von John Augustus Roebling, dem Konstrukteur der New Yorker Brooklyn Bridge. Seine in Lake Placid, 56 km nordwestlich vom Lake Okeechobee, gelegene Winterresidenz wurde zu dieser Zeit gerade umgebaut. Die am Umbau beteiligten Arbeiter wurden von Roebling in die Katastrophenregion beordert, um Hilfe zu leisten. Als sie einige Tage später zurückkehrten, konnten sie nur über die schwierigen Bedingungen berichten, mit denen sie – letztlich erfolglos – kämpften, denn die Rettungsmannschaften kamen mit ihren Booten und Räderfahrzeugen nur schleppend auf den matschigen und überfluteten Straßen voran. Einer der Arbeiter bemerkte Roebling gegenüber, dass man mit einem Fahrzeug, welches sowohl Straßen als auch Sumpf und tiefe Wasserpassagen hätte überwinden können, viele Menschenleben hätte retten können. Interesse beim Militär John A. Roebling erkannte den lukrativen und dazu noch unerschlossenen Markt für ein solches Rettungsfahrzeug und beauftragte im Jahre 1932 seinen damals 23-jährigen Sohn Donald Roebling mit der Umsetzung seiner Vision, der zu diesem Zeitpunkt mit dem Bau seiner Villa in Clearwater, unweit des Lake Okeechobee, beschäftigt war. Die Entwicklungs- und Produktionskosten wollte bis zur Marktreife dieses Fahrzeuges Roebling senior übernehmen. Die nächsten zwei Jahre verbrachten Donald Roebling und ein kleiner Mitarbeiterstab auf seinem Anwesen. In der dort errichteten Werkstatt bauten sie den ersten Prototypen namens Alligator I und führten im hauseigenen Swimmingpool die ersten Schwimmversuche durch. Dieser erste Entwurf entsprach in Aussehen und Fahrleistung allerdings noch keineswegs einem Rettungsfahrzeug. Nach weiteren Arbeiten konnte sein Alligator IV alle Erwartungen erfüllen. Am 4. Oktober 1937 erschien ein zweiseitiger Artikel mit der Überschrift „Roebling's Alligator for Florida Rescues“ in der Wissenschafts- und Wirtschaftssektion des Life Magazine. Rear Admiral Edward Kalbfus, Kommandant des Schlachtschiffgeschwaders der US-Pazifikflotte, wurde auf den reich illustrierten Bericht aufmerksam und sandte diesen an den Kommandanten des US Marine Corps General Thomas Holcomb in Washington D.C. Das US Marine Corps untersuchte zu dieser Zeit die Studien von Colonel Earl Ellis, der zwei Jahrzehnte zuvor die Grundlagen der modernen amphibischen Kriegführung entwickelt hatte. Da dieses Gefährt für die Umsetzung dieser Theorien ideal erschien, leitete Holcomb den Artikel an die Ausrüstungsbehörde der Marines in Quantico weiter, deren Chef, Brigadegeneral Frederick Bradman brieflich bei Roebling um nähere Informationen bat. Andere Büros reagierten skeptischer: Das „Komitee für Transport und Panzer“ teilte mit, dass der Alligator als „nicht passend für die Verwendungszwecke an Land“ erschien und von seiner Anschaffung abgeraten werde. Ähnlich sah es auch der „Ausschuss für Boote“; lediglich eine geringe Anzahl dieser Fahrzeuge könnte für Sicherungsaufgaben zu Wasser herangezogen werden. Beide Gremien waren sich einig, dass die zu schwache Panzerung und das unzulängliche Fahrwerk Probleme verursachen würden. Roebling antwortete der Ausrüstungsbehörde, indem er einen sehr detaillierten Bericht seiner Konstruktion beifügte und darauf hinwies, dass der Alligator jederzeit besichtigt werden könne. Erste Tests in unterschiedlichem Gelände folgten, eine Finanzierungsanfrage an den Chief of Naval Operations wurde allerdings abschlägig beschieden. Admiral William Leahy waren die wertvollen Eigenschaften des Alligators zwar bewusst, doch die geforderten Gelder aus dem Budget für Landungsfahrzeuge waren bereits für die Entwicklung moderner Landungsboote der Marine verplant. Trotz dieser Enttäuschung setzte Donald Roebling den Umbau seines Alligators fort, um bei der nächsten Visite der Militärs den Vorstellungen entsprechen zu können. Im Januar 1939 sandte er Fotos und Zeichnungen über den Fortschritt der Umbauarbeiten an die Zuständigen des Marine Corps. Der Nachfolger Bradmans, General E. P. Moses, gab sich sehr beeindruckt, einem erneuten Finanzierungsgesuch wurde stattgegeben; Roebling erhielt 1940 den ersten Auftrag für einen militärischen Prototypen. Der Prototyp Am 18. Oktober beorderte der Marinestaatssekretär eine „Inspektions- und Testabteilung“ unter der Leitung von General Moses nach Florida, um den fertiggestellten Alligator V ausgiebig zu testen. Nach Abschluss der Inspektion wurde das Fahrzeug nach Quantico verfrachtet, wo es regelmäßig den Potomac River und Chopawamsic Creek befuhr. Auch eine Präsentation vor Journalisten, Kongressabgeordneten und hohen Militärs aus Army, Marine Corps und Navy verlief erfolgreich. Nach weiteren Leistungsüberprüfungen konnte das Marine Corps am 4. November 1940 seinen ersten wirklichen Amphibienpanzer in Dienst stellen. Im Dezember 1940 wurde der Alligator zur 1. US-Marineinfanteriebrigade nach Culebra beordert, wo er an der Fleet Exercise Number 7 (FLEX No. 7) teilnahm, der letzten Flottenübung dieser Art vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg. Brigadekommandeur Holland M. Smith betraute Captain Victor Krulak (Vater des 31. Kommandeurs des US Marine Corps Charles C. Krulak) und seine Crew (Sergeant Clarence H. Raper und Corporal Walter L. Gibson) mit der Aufgabe, sich mit dem vielversprechenden Fahrzeug zu beschäftigen. Dies taten sie sehr ausführlich bei jeder Wetterlage und höchsten Wellengängen, sodass der Alligator den Praxistauglichkeitstest erfolgreich abschloss. Beginn der Serienproduktion Die Truppenerprobung des Alligators wurde als großer Erfolg gewertet, und das Marineministerium bestellte am 22. Februar 1941 ein Baulos von 200 dieser Fahrzeuge im Wert von 3.300.000 Dollar. Dabei handelte es sich jedoch nicht um die aktuelle Version V des Alligators. Die Marine hatte zwei grundlegende Forderungen: Zum einen sollte es sich um eine reine Stahlkonstruktion handeln, da dies einen erheblich besseren Schutz vor feindlichem Beschuss sowie vor Korallenriffen böte, zum anderen sollte der Motor durch einen 146 PS starken Hercules WXLC-3 ausgetauscht werden. Mit diesem Auftrag stand Roebling mit seinem Team vor der schweren Aufgabe, den Alligator so umzubauen, dass er den Anforderungen der Navy entsprach. Um die geforderte Anzahl von Fahrzeugen fertigen zu können, bedurfte es einer größeren Fabrik. Aus diesem Grund kontaktierte Roebling die im nahen Ort Dunedin beheimatete Food Machinery Corporation (FMC), einen Produzenten von Insektizid-Sprühpumpen. Der Kontakt zu dieser Firma bestand schon einige Jahre, da diese bereits etliche Teile der ursprünglichen „Alligatoren“ gefertigt hatte. In den kommenden Monaten arbeitete Roeblings Team eng mit den FMC-Ingenieuren rund um James M. Hait zusammen, um die Neukonstruktion in Stahlbauweise und die termingerechte Lieferung der 200 bestellten Exemplare zu garantieren. Mit einmonatiger Verspätung verließ im August 1941 der erste LVT-1 (Landing Vehicle Tracked, Model 1), so die neue Bezeichnung, die Montagehalle der FMC. Da die Lieferungen beträchtlich im Verzug und die Kapazitäten in Dunedin begrenzt waren, finanzierte das Department of the Navy weitere Fertigungsstraßen in Lakeland, Riverside und San José. Den lukrativen Bauauftrag für die Produktionsstätte in Lakeland erhielt eine von Donald Roeblings Baufirmen. Als die ersten LVTs fertiggestellt wurden, hatte sich das Marine Corps bereits in Dunedin eingerichtet. Bereits am 2. Mai wurde die erste Amphibian Tractor School vor Ort errichtet. Dessen erstem Kommandeur, Major William W. Davies, unterstanden zu dieser Zeit bereits vier weitere Offiziere und 33 Marines. Im September lief die Fertigung auf vollen Touren, woraufhin das 1st Amphibian Tractor Battalion aufgestellt wurde. Mit dem US-amerikanischen Kriegseintritt in den Zweiten Weltkrieg bestellte das Department of the Navy mehr LVTs, so dass das Bataillon auf sechs Kompanien anwuchs: vier Einsatz-Kompanien mit insgesamt 400 LVT-1 sowie eine Stabs- und eine Wartungskompanie. Am 16. Februar 1942 wurde dieses Bataillon gemeinsam mit der aus der 1. Marinebrigade entstandenen 1. US-Marineinfanteriedivision in die Südsee verlegt, wo es im August die alliierte Offensive eröffnete. Zu diesem Zeitpunkt wurde in Camp Pendleton, Kalifornien, das 2nd Amphibian Tractor Battalion aufgestellt. Weiterentwicklung Ursprünglich als reiner Transporter vorgesehen, stieß dieser erste amtrac in schwierigem Gelände aufgrund zu schwacher Panzerung sowie unzuverlässiger Federung und Panzerketten bald an seine Grenzen. Trotzdem erkannten die Marines das Potential von Roeblings Erfindung als Angriffsfahrzeug. Im Verlauf des Krieges wurden stark gepanzerte Versionen eingeführt, genauso wie amtanks genannte Abarten, die zur Kampfunterstützung mit Geschützen ausgerüstet wurden. Weitere entscheidende Neuerungen für die LVTs waren leistungsstärkere Motoren und eine verbesserte Federung, die zum größten Teil vom M3 Stuart übernommen wurde. Nach dem Krieg entstandene Prototypen gelangten nicht mehr in die Serienfertigung. Produktionsumfang Insgesamt wurden 18.621 LVTs in den unterschiedlichsten Varianten produziert. Neben den Fabriken der Food Machinery Corp. in Dunedin und Lakeland, Riverside und San José waren später auch andere Unternehmen an der Produktion der LVTs beteiligt: BorgWarner Corporation in Kalamazoo, Michigan Ford Motor Company in Detroit, Michigan Graham-Paige Motors Corporation in Detroit, Michigan St. Louis Car Company in St. Louis, Missouri Varianten Roeblings Alligator Beim 1933 erfolgten Start des Projektes konzentrierten sich Donald Roebling und sein Entwicklungsstab auf zwei Hauptprobleme, die der Realisierung eines vielseitigen und widerstandsfähigen amphibischen Rettungsfahrzeuges im Wege standen: Das Gewicht des Fahrzeuges sollte gering gehalten werden, um im Wasser möglichst wenig Auftrieb zu verlieren. Jedoch sollte die Konstruktion robust genug sein, um in rauem Gelände bestehen zu können. Der Antrieb musste so ausgelegt werden, dass der „Rettungsauftrag“ nicht gefährdet wurde. Das heißt, er sollte einfach aufgebaut sein und wenig Platz in Anspruch nehmen. Das Gewichtsproblem lösten die Entwickler mit Aluminium, einem für die damalige Zeit revolutionären Werkstoff. Dieses leichte und für die Aufgabe geeignet erscheinende Material war zwar schon seit fast 40 Jahren im Gebrauch, jedoch war die Verwendung im Fahrzeugbau eine technische Neuheit und somit ein Wagnis. Der Antrieb zu Wasser und zu Land stellte eine größere Herausforderung dar. Roebling wollte von Anfang an einen Doppelantrieb vermeiden, also Propeller für die Wasserfahrt und einen Rad- oder Kettenantrieb für die Landfahrt. Die Anforderung, einen einfach aufgebauten Antrieb zu bauen, der in beiden vorgesehenen Umgebungen funktioniert, stellte sich als großes Hindernis heraus. Die Lösung schaute sich Roebling vom Antrieb der alten Raddampfer auf dem Mississippi ab, der fast hundert Jahre vorher die Schifffahrt revolutioniert hatte: auf den beiden Gleisketten des Kettenantriebes montierte Winkelbleche (Paddelbleche; engl.: „paddle cleats“) arbeiteten im Wasser wie die Schaufelräder eines Raddampfers und an Land wie die Ketten eines herkömmlichen Raupenfahrzeugs. Nachdem das Problem des Mischantriebes gelöst war, stellte sich die Frage, wie Aluminium am besten verarbeitet werden sollte. Die damals erhältlichen Metallwerkzeuge und Werkzeugmaschinen waren für die weichen Aluminiumbleche ungeeignet, ebenso die von der Stahlverarbeitung bekannten Schweiß- und Nietmethoden. Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, dass holzverarbeitende Maschinen für die Aluminiumverarbeitung besser geeignet waren als jene für Metall. So leisteten Roeblings Mitarbeiter Pionierarbeit im Umgang mit Aluminium. Alligator I, II und III Der erste Prototyp, der Alligator I, war 7,3 m lang und 6,5 t schwer. Der Fahrer des Fahrzeuges saß in einem am Bug angebrachten einfachen Führerhaus, während die hinteren Sektionen flach gehalten waren. Der 92 PS starke Benzinmotor von Chrysler war im Heck eingebaut, wo auch das Antriebsrad der Gleiskette saß. Mit der ersten Probefahrt des Alligator I im Frühjahr 1935 stellten sich einige Mängel an der Konstruktion heraus: der Prototyp erbrachte zwar an Land eine Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h, jedoch nur 3,7 km/h im Wasser. Neben der Geschwindigkeit war auch die Manövrierfähigkeit zu Wasser mangelhaft, was unter anderem auf die senkrecht zur Laufrichtung der Kette angebrachten Winkelbleche zurückzuführen war. Die Paddelbleche und die Gleisketten brachen bereits nach wenigen Kilometern auf rauerem Terrain, weil sie zu dünn und aus zu schwachem Material gefertigt waren. Obwohl der Alligator I aufgrund seiner Leistungen eine Enttäuschung war, bot Roebling ihn der Küstenwache der Vereinigten Staaten und dem US-amerikanischen Roten Kreuz zum Kauf an, doch wie zu erwarten war, blieben die Aufträge aus. Im April 1936 wurde auf den bisherigen Erfahrungen aufbauend der Alligator II fertiggestellt. Das knapp 6 t schwere Gefährt wurde mit einem 85 PS starken V8-Motor aus einem Ford-Automobil angetrieben. Die diagonal angeordneten Paddelbleche und der schwächere Motor reduzierten zwar die Landgeschwindigkeit auf 29 km/h, erhöhten aber die Fahrgeschwindigkeit im Wasser auf 8,8 km/h. Die verdrehten Bleche verbesserten auch die Stabilität und die Steuerung im Wasser. Der im September 1936 getestete Alligator III war um 140 kg leichter als sein Vorgänger. Dennoch veränderten sich die Fahrleistungen des 5,8 t wiegenden Fahrzeuges geringer als erwartet. Gründe dafür vermutete Roebling in der ineffizienten Federung und der nur geringfügig verbesserten Antriebskette, die bei hohen Belastungen immer noch brach. Alligator IV 1937 vollendeten Roebling und sein Team den Alligator IV, der den Vorstellungen mehr entsprach als seine Vorgänger. Die bedeutendste Änderung wurde an der Fahrwerksaufhängung durchgeführt. Bisher wurde ein elastisches Federungssystem in die Alligatoren eingebaut, wie es bei kettengetriebenen Panzerfahrzeugen eingesetzt wurde. Die Ingenieure sahen im davon hervorgerufenen Strömungswiderstand einen Grund für die niedrige Fahrgeschwindigkeit im Wasser. Stattdessen wurde die Kette nun in einem Führungskanal verlegt, so dass sie nur am vorne angebrachten Führungsrad und am hinten liegenden Antriebsrad außerhalb des Kanals verlief. Das Führungsrad übernahm die Funktion des Kettenspanners und konnte durch den Fahrer über einen Hydraulikzylinder verstellt werden, der zwecks Schockabsorption mit Schraubenfedern versehen war. Die Gleiskette wurde mit wasser- und staubdichten Wälzlagern versehen. Das Kettenmaterial hatte eine Dehngrenze von 36 t. Um eine höhere Festigkeit zu erhalten, wurden die Paddelbleche aus Alcoa 24ST durch eine T-förmige Matrize stranggepresst. Die so hergestellten 10 cm breiten und hohen Profilstangen wurde auf einen Radius von 30 cm gebogen und mittels vier Bolzen oder Nieten auf die Gleiskette montiert. Dieses Antriebsprinzip für Kettenfahrzeuge im Wasser mittels gekurvter Winkelbleche, die diagonal auf der Kette montiert werden, ließ sich Donald Roebling 1938 patentieren. Wenige Jahre später, während des Zweiten Weltkrieges, überschrieb er sein Patent (No. ) aus patriotischen Motiven der Regierung der Vereinigten Staaten. Der strömungsgünstige Fahrzeugrumpf wurde hauptsächlich aus Duraluminium-Blechplatten zusammengenietet. Nur die Bodenplatte wurde zur leichteren Wartung verschraubt. Das an der Fahrzeugfront angebrachte Führerhaus war 1,9 m breit sowie 1,7 m lang und hoch und bot Platz für drei Personen inklusive Fahrer. Die drei festen Frontfenster und die beiden schiebbaren Seitenfenster bestanden aus Plexiglas. Die rückwärts befindliche Tür schloss die Kabine wasserdicht zum Laderaum ab. Das Fahrzeug wurde mit zwei Handhebeln gesteuert, die auf die Bremsen der beiden Ketten wirkten und durch zwei Pedale für Kupplung und Gas. Zur Richtungssteuerung wurde mit einem der Hebel eine Kette abgebremst, durch synchrone Betätigung beider Hebel konnte gebremst werden. Am Armaturenbrett des Fahrers befanden sich Tachometer, Kompass, Thermometer, Öldruck- und Batterieanzeige sowie Schalter für Zündung, Anlasser, Choke und die beiden Scheinwerfer. Der hinter der Kabine befindliche Fracht- und Passagierraum maß 2,74×1,93×1 m³ und war für eine Nutzlast von 3,15 t ausgelegt. In dem 30 cm hohen Zwischenraum zwischen dem Boden des Frachtabteils und der Bodenplatte befanden sich zwei je 152 l fassenden Benzintanks, sowie die Steuergestänge und Kabelstränge für die Fahrzeugsteuerung. Der im Heck befindliche Maschinenraum maß 1,67×1,35×1,93 m³ und beherbergte den flüssigkeitsgekühlten Mercury V-8 Benzinmotor, der bei einer Drehzahl von 3600 min−1 eine Leistung von 95 PS erzeugte. Das 3-Gang-Schaltgetriebe mit zwei Vorwärtsgängen und einem Rückwärtsgang, ein Kegelradgetriebe mit Spiralverzahnung (Übersetzungsverhältnis 1:1), zwei Stirnradgetriebe mit Pfeilverzahnung (Übersetzung 7:1) und die dafür nötigen Kupplungen sorgten für die Kraftübertragung auf die Kettenantriebsräder. Die Getriebegehäuse wurden aus Gewichtsgründen aus Aluminium gegossen. Die beiden Trommelbremsen der Marke Packard 8 wurden hydraulisch betätigt. Das Leergewicht des Alligator IV betrug 3,95 t, wodurch er um 2,5 t leichter als der Alligator I von 1935 war. Diese Gewichtsersparnis und der revolutionäre Antrieb ermöglichten eine Höchstgeschwindigkeit von 13,8 km/h auf dem Wasser und 29 km/h zu Lande. Alligator V Der im Oktober 1940 an das US Marine Corps gelieferte Alligator V war ein auf Major Kalufs Anregung hin verbesserter Alligator IV. Er gilt als die erste militärische Variante der bisherigen Alligator-Familie. Anstatt des Mercury-Motors wurde ein 120 PS starker Lincoln-Zephyr mit einem Standardgetriebe von Ford eingebaut. Das Gesamtgewicht wurde nochmals um 450 kg auf 3,4 t reduziert. Mit der gleichen Frachtkapazität, demselben Fahrwerk und der gleichen Gleiskette erreichte der Alligator V eine Höchstgeschwindigkeit von 47 km/h an Land und 16 km/h im Wasser. In einer zeitgenössischen Informationsbroschüre hieß es sogar: LVT-1 Alligator Der erste LVT-1 wurde im August 1941 von der Food Machinery Corp. fertiggestellt und erlebte 13 Monate später seine Feuertaufe in der Schlacht um Guadalcanal. Er war während des Kampfes um die Salomonen-Insel, sowie bei der Befreiung des Tarawa- und Makin-Atolls im Zuge der Operation Galvanic im Einsatz. Bis 1943 wurden insgesamt 1225 Fahrzeuge dieses Typs gebaut. Hauptabnehmer waren das US Marine Corps mit 540 Stück und die US Army mit 485 Stück. Die restlichen 200 LVT-1 gingen im Zuge des Leih- und Pachtgesetzes an die Alliierten. Technische Details: Chassis: Der aus den drei Sektionen Führerkabine, Fracht- und Motorabteil bestehende Rumpf war aus Stahlplatten mit Stärken zwischen 2 mm und 5 mm aufgebaut, die durch Lichtbogenschweißen verbunden wurden. Die vom Heck- zum Frontstoßdämpfer verlaufende Bodenplatte hatte eine Blechdicke von 4,7 mm, die Seitenwände 4 mm und der Führerstand 3 mm. Federung: Die vom Alligator IV her bekannte steife Fahrwerkskonstruktion wurde beibehalten. Zusätzlich zu den auf jeder Gleiskette (Breite: ~260 mm, Gewicht: 295 kg) montierten Wälzlagern wurden Laufrollen angebracht, um die Kettenführung sicherer zu gestalten. Manövrierbarkeit: Das Kettenfahrzeug konnte schwimmend auf der Stelle wenden, indem die Umlaufrichtungen der beiden Ketten entgegengesetzt geschaltet wurden. Aufgrund des hohen Gewichtes versank dieser LVT ungefähr 10 cm in sandigen Untergrund, wobei der dadurch entstehende Bodendruck durchschnittlich 7,8 psi betrug. Obwohl er hervorragende Fahreigenschaften im Wasser und am Strand hatte, war der LVT-1 für weite Transportfahrten in das Landesinnere ungeeignet. Hinzu kam die äußerst aufwändige Wartung, die oft sogar täglich erfolgen musste. LVT-2 Water Buffalo I Der Einsatz des LVT-1 wurde zum vollen Erfolg, obwohl Ingenieure von BorgWarner schon im Oktober 1941 erhebliche Mängel an Roeblings Konstruktion feststellten. Diese waren einerseits die starre Federung und andererseits die Kette selbst. Weitere Missstände des Fahrzeuges stellte auch die US Army während einer vom 30. April bis 20. Juli 1942 laufenden Testphase am Aberdeen Proving Ground im US-Bundesstaat Maryland fest. In deren Untersuchungsbericht bemängelte man hauptsächlich die schlechten Fahrleistungen. So sei ein propellergetriebenes Wasserfahrzeug mit einem stromlinienförmigen Rumpf (→Higgin's Boat) mit derselben Verdrängung und Antriebsleistung um mehr als die Hälfte schneller als der LVT. Gründe dafür sah die Army im zu hohen Strömungswiderstand des Rumpfes und in der schwachen Antriebsleistung. All diese Probleme bezog man ungeachtet der Verbesserungen auf Roeblings Alligator IV, von dem der LVT-1 abstammte. So beauftragte die US Navy neben der Food Machinery Corp., die bisher für die Fertigung des amtracs verantwortlich war, auch die Borg-Warner Corp. damit, einen leistungsfähigeren Nachfolger des LVT-1 zu entwickeln. Des Weiteren sah die Order auch eine stärker gepanzerte und bewaffnete Variante des LVT vor. Die von der Marine vorgegebenen Kriterien sahen eine Mindestgeschwindigkeit von 24 km/h an Land und 13 km/h im Wasser sowie ein Höchstgewicht von 12.250 kg vor. BorgWarner verzichtete auf die Entwicklung eines reinen Transporters und konzentrierte seine Kräfte auf den Bau eines kampffähigen Schwimmpanzers (amtank), während sich FMC beides zum Ziel setzte. BorgWarner komplettierte sein Model A samt abgeschlossener Testphase nach nur sechs Monaten und schuf somit mit dem LVT(A)-1 den weltweit ersten modernen kampffähigen Schwimmpanzer. FMC arbeitete eng mit Spezialisten der University of California und dem California Institute of Technology zusammen und konnte zu Jahresbeginn 1942 die ersten Entwürfe für den Transportpanzer vorlegen. Bei diesem Entwurf wurde im Gegensatz zum LVT-1 die Fahrerkabine näher zum Bug verlegt und mit zwei aus Plexiglas gefertigten Fenstern ausgerüstet. Die kritisierte Kinderkrankheiten des ersten amtracs wurden ebenfalls erheblich überarbeitet: Federung: Die bisher verwendete starre Fahrwerksfederung verursachte die im Vergleich zu anderen Kettenfahrzeugen langsamere Fahrtgeschwindigkeit und die begrenzte Geländetauglichkeit des Schwimmpanzers. Die auf dem Fahrwerk des Stuart-Panzers basierende Neuerung bestand aus elf auf Gummifedern montierten Fahrwerkswellen pro Seite mit aufvulkanisiertem Gummi. Ergänzend wurden zwischen dem Motor und der Federung vier Kardangelenke eingefügt, um das Fahrwerk vom Motor zu entkoppeln. Als Verbindung des Antriebszahnrades mit der Federung kamen flexible Kupplungen zum Einsatz, die ein geringes Maß an Rumpfdeformationen zuließen, ohne dass dabei die Fahrleistung oder die Kraftübertragungselemente beeinträchtigt wurden. Diese Neuerungen ermöglichten neben einer weicheren und stabileren Fahrt auch die Verbesserung der bemängelten Fahreigenschaften. Kette: Die Stahlgliederkette wurde auf 362 mm verbreitert und besaß eine Teilung von 203 mm. Die Verbindungsbolzen der einzelnen Glieder besaßen eine Dauerschmierung und waren hermetisch abgedichtet, sodass weder Wasser noch Sand eindringen konnte, wodurch ein mögliches Blockieren ausgeschlossen werden konnte. Die Grundkontaktlänge belief sich auf 3,2 m. Eine erhöhte Kettenführung verhinderte den Auswurf der Kette bei hohen Geschwindigkeiten und bei Wendemanövern auf festen Untergrund. Einen größeren Vortrieb und eine weitaus bessere Geländegängigkeit erzielte man mit 73 W-förmigen Paddelblechen, die mit verstärkten Winkelblechen auf die Gleiskette genietet wurden. Der durch das Fahrzeuggewicht verursachte Bodendruck belief sich auf 8,6 psi. Die daraus resultierenden Fahreigenschaften bescheinigten ihm ein gutes Zeugnis. So hatte er eine Steigfähigkeit von max. 60 % und konnte 91 cm hohe Hindernisse sowie 1,5 m breite Gräben überwinden. Der LVT-2 besaß einen Wenderadius von 9 m an Land und 14,6 m zu Wasser und konnte selbst in bis zu 30 % geneigtem Gelände operieren, ohne die Balance zu verlieren. Diese Modifikationen erfüllten die von der Navy gestellten Forderungen, wodurch der LVT-2 Water Buffalo I zum offiziellen Nachfolger des LVT-1 wurde. Der Water Buffalo I wurde erstmals in der Schlacht um die Gilbert-Inseln eingesetzt, wo er das erste und einzige Mal gemeinsam mit seinem Vorgänger, dem LVT-1, operierte. Die von 1942 bis 1943 laufende Produktion brachte insgesamt 2963 solcher Fahrzeuge hervor. Die Fertigungsstätten waren neben den Fabriken der FMC auch jene der Graham-Paige Motors Corporation, Borg-Warner Corporation und der St. Louis Car Company. Das Marine Corps erhielt 1355, die Army 1408 und die Alliierten 200 Exemplare (britische Bezeichnung Buffalo II). LVT(A)-1 Dieser Vorschlag der Food Machine Corp. lag dem LVT-2 sehr nahe. Ihm war lediglich eine verstärkte Panzerung und eine auf mehreren Maschinengewehren basierende Bewaffnung hinzugefügt worden. Der von der BorgWarner Corp. konzipierte Model A war eine umfassende Überarbeitung von Roeblings Alligator V und des LVT-1: Die einzige Gemeinsamkeit zum LVT-1 waren die Paddelbleche. Die Laufrollen der Ketten wurden im Durchmesser vergrößert und im Boden der Seitenverkleidung eingebaut. Deren Lagerung erfolgte durch Timken-Rollenlager mit doppelten Neopren- und Lederdichtungen, die auf verchromten Wellen liefen. Größere Leerlaufrollen und Antriebszahnräder, die mit einer vollautomatischen Federung verbunden waren, erlaubten einen reibungslosen Übergang des Fahrzeugantriebes von Wasser auf festen Untergrund. Der Rumpf bestand aus überwiegend hoch zugfesten und korrosionsbeständigen Stahlblechen, die in gewellter Form höchsten Belastungen widerstehen konnten und aufgrund der dadurch entstandenen Gewichtsreduktion positiv zum Gesamtwerk beitrugen. Als herausragende Eigenschaft des Model A galt seine Umwandlungsfähigkeit: Das Basisfahrzeug, ein 7,7 t schwerer und mit bis zu 2,3 t beladbarer Transportpanzer, konnte ohne weiteren Konstruktionsaufwand in einen ungefähr 10 t schweren Kampfpanzer umgebaut werden. Dabei galt die Verwendung des beim M3 Stuart eingesetzten Geschützturms als die eigentliche Innovation, die den Fertigungsaufwand reduzierte und dem Model A eine weitaus höhere Feuerkraft als dem FMC-Modell verlieh. Zusätzlich wurde vom Stuart die Gyrostabilisation der 37-mm-Kanone übernommen, die den Kreiseleffekt nutzt, um den Lauf in der vom Richtschützen angegebenen Position zu stabilisieren. Der Gyrostabilisator kompensierte die Bewegungen des Fahrzeugs, wodurch eine hohe Schussgenauigkeit auch bei voller Fahrt erzielt werden konnte. Angetrieben wurde der Model A von einem Acht-Zylinder-Verbrennungsmotor, der eine Leistung von 141 PS erbrachte. Im näheren Vergleich zwischen den Prototypen von BorgWarner und FMC stellte sich der Model A als zu schwach heraus. Das Fahrwerk brachte nicht den gewünschten harmonischen Lauf und auch die Kette verursachte die gleichen Probleme wie beim LVT-1. Die Fahrgeschwindigkeiten waren im Wasser nahezu gleich, während der Model A mit seinen 27 km/h an Land nicht überragen konnte. Die Transporter-Variante von Borg-Warner konnte nur 2,3 t Fracht transportieren, die von FMC bis zu 7,7 t. Dagegen konnte Model A mit seiner Feuerkraft punkten. Die Marine prüfte schließlich den Einbau der Model-A-Bewaffnung in den FMC-amtrac. Die Primärwaffe des LVT(A)-1 bestand aus einem um 360° drehbaren Geschützturm, der mit einer 37-mm-Kanone und einem koaxial angebrachten Maschinengewehr Kaliber 7,62 mm mit einem Höheneinstellbereich von +25° bis −10° bewaffnet war. Der Turm mit einem maximalen Außendurchmesser von 1,19 m besaß eine Drehgeschwindigkeit von 24° pro Sekunde und eine 51 mm dicke Frontpanzerung aus gewalztem Stahlblech. Die Seitenwände und die Rückwand des Turmes hatten eine Stärke von 12,7 mm, die Kappe 6,4 mm. Das Führerhaus wurde aus 6,4 und 12,7 mm, die Seitenwände aus 6,4 mm starken Stahlplatten zusammengeschweißt, während der Rumpfboden aus einer 5 mm dicken Baustahlplatte bestand. Die Fahreigenschaften dieser Variante unterschieden sich nur geringfügig von denen des LVT-2. Dieser LVT(A)-1 („A“ für armored – „gepanzert“) genannte Schwimmpanzer ging im April 1943 in Produktion und wurde erstmals auf Kwajalein eingesetzt. Die bis 1944 laufende Fertigung brachte 510 Einheiten hervor, die ausschließlich von der Food Machine Corp. gebaut wurden. Das US Marine Corps erhielt 182 und die US Army 238 solcher amtanks. LVT(A)-2 Die Schlacht um Tarawa stellte nicht nur für die Kriegsstrategen, sondern auch für die LVT-Entwicklung einen Wendepunkt dar. Das die 2. US-Marinedivision bei der Landung unterstützende „2. Amphibian Tractor Battalion“ verzeichnete am Ende des Kampfes nur 19 von anfangs 75 einsatzbereiten LVT-1 sowie 16 von ehemals 50 LVT-2. Die Verluste an Personal betrugen 323 gefallene, verwundete und vermisste Soldaten von ehemals 500, darunter auch deren Kommandeur. Anfänglich ging man davon aus, dass eine Vielzahl der materiellen Verluste aufgrund von Maschinenschäden zustande gekommen waren, wie sie vor allem beim LVT-1 häufig auftraten. Nähere Untersuchungen bestätigten diese These nicht, denn lediglich je vier LVT-1 und LVT-2 gingen aufgrund dieses Umstandes verloren, während die restlichen amtracs Artilleriebeschuss, Land- und Seemine oder dem Korallenriff zum Opfer gefallen waren. Außerdem waren die meisten LVTs vor der Schlacht bereits bis zu 400 Stunden in Betrieb gewesen – bei einer vom Hersteller angegebenen durchschnittlichen Lebensdauer von 200 Stunden. Die größte Schwäche aller auf Tarawa eingesetzten amtracs war die kaum vorhandene Panzerung des Rumpfes und der Fahrerkabine. Die zwei neben dem Motor angebrachten Benzintanks explodierten bereits nach längerem Beschuss mit einem schweren Maschinengewehr oder durch ein Stück Schrapnell, das sich durch die Seitenwände gebohrt hatte. So war eben die Forderung nach mehr Sicherheit durch eine verstärkte Panzerung das Hauptaugenmerk für den zukünftigen LVT(A)-2. Im Gegensatz zum ersten gepanzerten Amphibienfahrzeug LVT(A)-1 besaß diese Version keine Primärbewaffnung in Form eines Geschützturmes. Die Karosserie, Motorisierung und Bewaffnung wurde vom LVT-2 übernommen, sodass der (A)-2 dem Water Buffalo auf den ersten Blick sehr ähnlich sah. Einzig die Fahrerkabine stellte neben der zusätzlichen Panzerung den Unterschied dar. Anstatt der verwendeten Plexiglasfenster wurden Stahltüren eingebaut, die der Fahrer bei Beschuss schließen konnte. Um die Einsatzfähigkeit nicht zu beeinträchtigen, wurden zwei um 360° drehbare Periskope installiert. Die Panzerung bestand aus 6,4 mm (Rumpf, Rückseite der Fahrerkabine) und 12,7 mm (Front) starken Panzerstahlplatten, die zusätzlich aufgeschweißt oder durch Bolzen befestigt wurden. Dadurch wurde die Transportkapazität um bis zu 1,1 t reduziert. Die ersten Kampfeinsätze auf Neubritannien zeigten jedoch, dass die dadurch beeinträchtigte Frachtkapazität zu klein war, um effektiv eingesetzt zu werden. So wurde entschieden, die Panzerplatten nur bei Bedarf auf den Rumpf zu schrauben. Dies geschah hauptsächlich zu Kampfbeginn, wenn die ersten Sturmtruppen an den Strand gebracht wurden. Wenn der Strand nicht mehr unter feindlichem Beschuss stand, konnte der Selbstschutz entfernt werden, wodurch sich die Transportkapazität auf die des LVT-2 erhöhte. Dieses System der abnehmbaren Panzerung sollte neben dem Periskop auch bei allen zukünftigen amtrac- und amtank-Varianten eingesetzt werden. Der Einbau eines selbstabdichtenden Treibstofftanks der Goodrich Corporation stellte eine weitere wichtige Änderung dar, die auch bei allen anderen LVTs Verwendung fand. Mit dem Beginn der Serienproduktion des LVT(A)-2 schuf der damalige SecNav Frank Knox am 30. Oktober 1943 das „Continued Board for the Development of the Landing Vehicle Tracked“. Dieser Ausschuss des Bureau of Ships befasste sich mit der Überwachung des gesamten LVT-Programmes. Als offizielle Beschwerdekommission war es somit für die „sinnvolle“ Weiterentwicklung dieser Amphibienfahrzeuge verantwortlich. Der in den Jahren 1943 und 1944 produzierte Amphibienpanzer wurde insgesamt 450-mal gebaut, wovon 250 Stück vom US Marine Corps und 200 von der US Army betrieben wurden. Gefertigt wurde dieser amtank von der Food Machinery Corp. und der Ford Motor Company aus Detroit, US-Bundesstaat Michigan. LVT-4 Water Buffalo II Der ausschließlich von der FMC konstruierte LVT-4 stellte eine Verbesserung des LVT-2 dar. Im Gegensatz zu diesem wurde der Motor hinter der Fahrerkabine installiert, wodurch der Frachtraum vergrößert und der Einbau einer dringlichst geforderten Heckrampe ermöglicht wurde. Die Laderampe wog samt den nötigen Verstärkungen des hinteren Rumpfes und der manuell bedienten Seilwinde zum Öffnen und Schließen der Rampe etwa 1,18 t. Dadurch sank die Fahrgeschwindigkeit des LVT-4 im Vergleich zu seinem Vorgänger auf festem Untergrund, während die Höchstgeschwindigkeit im Wasser annähernd gleich blieb. Trotz dieser zusätzlichen Belastung der Gesamtkonstruktion, die sich auf die gestiegene Gesamtmasse negativ niederschlug, konnte um bis zu 1,14 t mehr Ladegut transportiert werden. Der 2,4 × 3,8 m² (LVT-2: 2,4 × 3,3 m²) messende Frachtraumboden ermöglichte erstmals den Transport von kleinen Fahrzeugen wie des Willys Jeep und sogar einer 105-mm-Haubitze mit maximal erhöhter Mündung. Zusätzlich konnten auf Kosten der Transportkapazität separate Panzerungen angebaut werden. So reduzierte sich die Nutzlast um bis zu 1,36 t, wenn die Panzerfront mit 13 mm und die beiden Seiten mit 6,4 mm starken Stahlplatten nachgerüstet wurden. Die Fahrerkabine besaß zwei Glasfenster und zwei Dachluken, die mit Periskopen versehen waren. Deren Panzerung wurde hauptsächlich durch 13 mm starke Panzerstahlplatten gewährleistet. Die Produktion begann im Dezember 1943, wodurch der LVT-4 zu spät für die Marshall-Insel-Kampagne kam, aber rechtzeitig für Operation Forager einsatzbereit wurde. Bis zum Ende der Fertigung noch vor dem Kriegsende 1945 verließen insgesamt 8351 LVT-4 die Werkshallen der Food Machinery Corp., Graham-Paige Motors Corp. und der St. Louis Car Company. Die US Army war mit 6083 Stück der Hauptabnehmer, gefolgt vom Marine Corps (1765) und den britischen Streitkräften (503). Der Buffalo IV genannte britische LVT-4 wurde anstatt des 12,7-mm-Maschinengewehrs mit einer Polsten-20-mm-Schnellfeuerkanone von Oerlikon ausgerüstet und kam vor allem bei der Schlacht an der Scheldemündung, Operation Plunder und an der Überquerung des italienischen Flusses Po zum Einsatz. Auf dem italienischen Kriegsschauplatz trug der LVT-4 zur Irreführung der Deutschen den Decknamen Fantail. LVT-3 Bushmaster Zeitgleich zu FMC entwickelte auch die Borg-Warner Corp. einen Schwimmpanzer mit Heckrampe. Nach der Niederlage des Model A machte man sich verstärkt daran, einen leistungsfähigeren amphibischen Kettenpanzer zu entwickeln, der denen der konkurrierenden Food Machine Corp. überlegen sein sollte. Der in Anspielung an das Model A Model B genannte Prototyp wurde noch vor dem LVT-4 fertiggestellt und getestet. Das Model B sollte sich von all seinen FMC-Vorgängern durch ein einziges Detail unterscheiden: die Motorisierung. Borg-Warner trieb seine zwei 300 mm breiten, mit einer 140-mm-Teilung versehenen Gleisketten mit je einem Motor an. Die zwei V8-Motoren aus dem Hause Cadillac wurden in den seitlichen Rumpfwänden eingebaut und entsprachen der Antriebsanordnung des M5-Panzers, dem verbesserten Nachfolger des M3 Stuart. Durch diese Innovation konnte der Frachtraum auf 5,1 m verlängert werden, musste jedoch auf eine Breite von 1,9 m verkleinert werden. Da jedoch die Fahrerkabine näher am Bug angeordnet wurde, konnte der Laderaum ab dem letzten Drittel auf 2,5 m verbreitert werden. Somit besaß Model B den größten Frachtraum aller bis zu diesem Zeitpunkt gebauten amtracs. Trotz dieses Vorteils maß der Bushmaster nur 7,5 m in der Länge, aber 3,4 m in der Breite und 3 m in die Höhe. Eine erhebliche Erleichterung für den Fahrer stellte das eingebaute Automatikgetriebe dar. Dieses ebenfalls vom M5 stammende Getriebe zeichnete sich durch seine Zuverlässigkeit aus sowie durch das automatische Schalten eines niedrigeren Ganges beim Übergang von Wasser auf festen sandigen Grund, wo herkömmliche Schaltgetriebe oft aufgrund von Bedienungsfehlern versagten. Die Federung entsprach dem auf der Federung der Stuart-Panzer basierenden und mittlerweile erfolgreich im Kampf erprobten Prinzip. Der Vortrieb wurde durch 103 Paddelbleche im bewährten W-Design gewährleistet. Trotzdem konnte Model B die Landgeschwindigkeit seines unmittelbaren Konkurrenten, des LVT-4, nicht erreichen, was der später eingebauten 9,5-mm-Panzerung (Rumpf, Fahrerkabine, Motor und Tank) zuzuschreiben war, wodurch sich die mögliche Frachtkapazität um 1,3 t auf 4,1 t reduzierte. Das Continuing Board for the Development of Landing Vehicle, Tracked gab im April 1944 seine Zustimmung für die Produktion des nunmehr LVT-3 genannten Modells. Der Bushmaster galt als erster LVT mit einer Heckrampe, die das Be- und vor allem das Entladen erheblich erleichtern sollte. Aufgrund von Fertigungsverzögerungen und langwährenden Schulungen der Panzerbesatzungen und -mechaniker konnte der LVT-3 erst im April 1945 – also erst ein Jahr nach Produktionsbeginn – an den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges teilnehmen. Während der Schlacht um Okinawa bewährte sich dieser derart, dass er noch lange nach Kriegsende zusammen mit dem LVT(A)-4 das Rückgrat des US Marine Corps bildete. Insgesamt verließen zwischen 1943 und 1945 2.964 Bushmaster die Werkshallen der Borg-Warner Corporation und der Graham-Paige Motors Corporation. Das Marine Corps war mit 2262 Exemplaren Hauptnutzer des LVT-3, während die Army lediglich zwei Stück zu Testzwecken erhielt. LVT(A)-3 Der dritte amtank basierte sehr stark auf den LVT-4. Die Hauptbewaffnung sollte aus einer schweren Kanone größeren Kalibers bestehen, die jedoch nicht in einem drehbaren Geschützturm eingebaut werden sollte. Der (A)-3 kam nie über das Projektstadium hinaus. LVT(A)-4 Der LVT(A)-4 ähnelte in seiner Form wieder mehr dem LVT(A)-1, hatte jedoch seinem neuen Auftrag entsprechend statt der 37-mm-Kanone den Turm und die 75-mm-Haubitze des M8 Scott. Dies hatte zwei Gründe: einerseits hatte sich die Panzerung der LVT(A) als zu schwach für den direkten Kampf an vorderster Front erwiesen, andererseits war die 37-mm-Kanone zwar gut zur Bekämpfung gepanzerter Fahrzeuge und nur leicht befestigter Stellungen geeignet, aber gegen die schweren japanischen Bunkeranlagen waren ihre Projektile nahezu wirkungslos. Sie entwickelten weder die nötige Durchschlagskraft noch genug Explosivwirkung, um die vor allem gegen Frontalbeschuss gut gepanzerten Bunker zu beschädigen. Die Marines hatten jedoch in den Kämpfen um Tarawa, Roi-Namur und Eniwetok gute Erfahrungen mit 75-mm-Haubitzen gemacht. Die Haubitzen-Geschosse hatten zwar eine geringere Mündungsgeschwindigkeit, dafür aber eine hohe Sprengwirkung und trafen ihr Ziel wegen ihrer hohen bogenförmigen Flugbahn von oben, wo die Bunker schwächer gepanzert waren. Zusätzlich konnte man wegen der hohen Flugbahn über die eigenen Truppen hinweg- und auch auf Ziele außerhalb der direkten Sichtlinie schießen. Lediglich die um etwa 3 km geringere Geschossreichweite der Haubitze war als Nachteil zu werten. Ein weiterer Unterschied zum Vorgänger (A)-1 war der Verzicht auf einen Kanonen-Stabilisator. Aufgrund der parabelförmigen Geschossflugbahn und des möglichen Höheneinstellbereiches von +40° bis −20° war der LVT(A)-4 wie die Selbstfahrlafette M8 zur Fernunterstützung vorgesehen, wodurch eine Stabilisation während voller Fahrt unnötig erschien. Die Panzerung des LVT(A)-4 war der des (A)-1 ähnlich. Der Rumpf wurde hauptsächlich mit 12,7 mm (Führerkabine, Front), 6,3 mm (Rumpfseiten und -heck) und 5 mm (Bodenplatte) starken Stahlplatten verstärkt. Der Turm hatte einen maximalen Außendurchmesser von 1,38 m und eine Frontpanzerung von 38 mm. Rück- und Seitenwände wurden mit 25,4 mm starken Stahlplatten gesichert, während das Turmdach wie beim M8 und ähnlichen selbstfahrenden Artilleriehaubitzen offen blieb. Die ursprüngliche Sekundärbewaffnung aus einem am Turm platzierten 12,7-mm-MG wurde durch drei 7,7-mm-MGs ersetzt. Der in den Jahren 1944 und 1945 ausschließlich bei FMC produzierte LVT(A)-4 erreichte eine Gesamtstückzahl von 1890 Einheiten. Die US Army erhielt 1307 und das US Marine Corps 533 Exemplare, während 50 im Zuge des Leih- und Pachtgesetzes an die anderen Alliierten gingen. Seine Feuertaufe erlebte der LVT(A)-4 gemeinsam mit dem LVT(A)-1 im Juni 1944 auf der Marianen-Insel Saipan. Spätere Einsätze erfolgten auf Tinian, Peleliu, Iwo Jima und Okinawa. Das Marine Corps ersetzte die Haubitze in geringen Stückzahlen auch durch Flammenwerfer oder Raketenwerfer. Zusammenfassung der technischen Daten Landing Vehicle Tracked Landing Vehicle Tracked (Armored) Nachkriegsentwicklung Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Produktion und die Entwicklung der Landing Vehicle Tracked eingestellt. Die US-Streitkräfte vereinheitlichten ihre amtrac- und amtank-Flotte, sodass lediglich der LVT-3 Bushmaster und der zum LVT(A)-5 verbesserte LVT(A)-4 das Rückgrat der amphibischen Landungsstreitmacht des US Marine Corps bildete. Alle anderen Versionen wurden verkauft oder im Zuge der Aufbauhilfe an die Streitkräfte befreundeter Staaten verschenkt und verrichteten daraufhin noch teilweise Jahrzehnte ihren Dienst bei den Streitkräften Großbritanniens (auch als Ersatz für Terrapin Mk I), Spaniens, Brasiliens, der Niederlande und Frankreichs. Frankreich setzte seine LVT-4 und (A)-4 noch im Indochinakrieg und während der Sueskrise von 1956 ein. Bis zur Indienststellung der LVT-5-Familie im Jahre 1953, die die erste Neukonstruktion der LVT-Familie darstellte, blieb der LVT-3C neben dem (A)-5 in den Arsenalen des US Marine Corps. LVT-3C Ab 1949 wurden etwa 1200 LVT-3 des Marine Corps am Long Beach Naval Shipyard auf den neuen LVT-3C-Standard („C“ steht für covered; deutsch: „überdacht“) gebracht. Dabei wurde ein aufklappbares und mit Ausstiegsluken versehenes Aluminium-„Dach“ über dem Frachtraum eingezogen, das Schutz vor brechenden Wellen und Granatsplittern bot. Die Bewaffnung bestand aus Maschinengewehren des Typs Browning M1919, die in einem gepanzerten und um 360° drehbaren Turm sowie neben dem Fahrer installiert wurden. Zusätzlich wurde die Panzerung verstärkt. Zur Steigerung des Auftriebs im Wasser musste der Bug erweitert werden, da diese Umbauten mit zusätzlichen 2,7 t negativ ins Gewicht fielen. Der LVT-3C wurde erfolgreich im Koreakrieg eingesetzt, wobei er hauptsächlich an Land eingesetzt wurde, da sich die amphibischen Landungsoperationen lediglich auf die Landung bei Incheon beschränkten. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger erlitt der Großteil der LVT-3C-Flotte keine größeren Motorschäden, da die Maschinenwartungen innerhalb der vorgeschriebenen Intervalle durchgeführt werden konnten. LVT(A)-5 Der einzige Unterschied zu seinem Vorgänger stellte der Einbau einer Gyrostabilisation für das Geschütz dar, welche eine hohe Schussgenauigkeit während der Wasser- und Landfahrt erlaubte. Die Food Machinery Corp. baute ab April 1945 lediglich 292 Stück dieses Panzers, die jedoch im Pazifikkrieg nicht mehr zum Einsatz kamen. Nach der japanischen Kapitulation wurden die vom Kriegsschauplatz heimkehrenden LVT(A)-4 auf diesen neuen Standard umgerüstet oder an andere Staaten abgegeben. Folgegenerationen Mit dem absehbaren Ende des Koreakrieges suchte das US Marine Corps nach einem vollständigen Ersatz ihrer LVT-Flotte, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf den LVT-3C und LVT(A)-5 vereinheitlicht worden war. Schon 1951 wurde mit der Entwicklung der LVT-5-Generation begonnen. Neben den bisher bekannten Verwendungsarten als Truppentransport- oder Feuerunterstützungsfahrzeug wurden ab 1956 auch spezielle Kommando-, Pionier- und Flugabwehrmodelle in Dienst gestellt. Von dieser Familie wurden 1124 Exemplare gebaut, die hauptsächlich während des Vietnamkrieges zum Einsatz kamen. Mit dem Ende des Vietnamkrieges wurde die zweite durch eine neuere Generation von amphibischen Landungsfahrzeugen ersetzt. Der LVT-7 wurde 1987 in Assault Amphibious Vehicle umbenannt, um den geänderten Anforderungen gerecht zu werden. Dieser ist nach mehreren Modernisierungsprogrammen noch heute im Dienst des US Marine Corps und wird hauptsächlich von den amphibischen Angriffsschiffen der Tarawa- und Wasp-Klasse aus eingesetzt. Aufgrund zahlreicher Verluste im Irakkrieg wurde als deren Nachfolger das Expeditionary Fighting Vehicle festgelegt. Fahrzeuge dieses Typs sollten ab 2015 offiziell in Dienst gestellt werden. Anfang Januar 2011 kündigte das US-Verteidigungsministerium an, das Projekt EFV aus Kostengründen zu streichen. Im Gegenzug sollen die bestehenden AAV7-Fahrzeuge modernisiert werden und in einem noch nicht festgelegten Zeitpunkt in Zukunft eine günstigere Alternative angeschafft werden. Trotz aller Veränderungen im Einsatzspektrum, der Namensgebung und am Landing Vehicle Tracked selbst tragen diese Fahrzeuge noch heute den Beinamen amtrac. Siehe auch US-amerikanische Militärfahrzeuge des Zweiten Weltkrieges Land-Wasser-Schlepper Literatur Weblinks Übersicht der LVTs (englisch) (englisch) LVTs nach ibiblio.org (englisch) Geschichte des LVT (englisch) Wissenswertes über den LVT-1 (englisch) Einzelnachweise Transportpanzer Schwimmpanzer Schützenpanzer US-amerikanisches Militärfahrzeug United States Marine Corps Historic Mechanical Engineering Landmark
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https://de.wikipedia.org/wiki/Versauerung%20der%20Meere
Versauerung der Meere
Als Versauerung der Meere wird die Abnahme des pH-Wertes des Meerwassers bezeichnet. Verursacht wird sie durch die Aufnahme von Kohlenstoffdioxid (CO2) aus der Erdatmosphäre. Der Vorgang zählt neben der globalen Erwärmung zu den Hauptfolgen der menschlichen Emissionen von Kohlenstoffdioxid. Während Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre physikalisch zu steigenden Temperaturen auf der Erde führt, wirkt es im Meerwasser chemisch, indem aus CO2 und Wasser Kohlensäure gebildet wird. Das Meerwasser ist leicht basisch. Durch die „Versauerung“ wird es nicht sauer, sondern weniger basisch. Die Folgen dieser sog. „Versauerung“ betreffen zunächst kalkskelettbildende Lebewesen, deren Fähigkeit, Exo- bzw. Endoskelette zu bilden, bei sinkendem pH-Wert nachlässt. Weil diese Arten oft die Basis der Nahrungsketten in den Ozeanen bilden, können sich daraus weitere schwerwiegende Konsequenzen für die zahlreichen von ihnen abhängigen Meeresbewohner und in der Folge auch für die auf diese Tiere angewiesenen Menschen ergeben. pH-Wert des Ozeans Der pH-Wert ist für ideal verdünnte Lösungen definiert und daher auf das salzhaltige Meereswasser nicht direkt anwendbar. Um Durchschnittswerte für Meereswasser angeben zu können, müssen darüber hinaus Modelle angewendet werden, um ein chemisches Gleichgewicht des Ozeans zu simulieren. Hierzu werden derzeit drei verschiedene Modelle mit daraus folgenden Skalen angewendet, die um bis zu 0,12 Einheiten auseinander liegen. Durchschnittswerte können daher nur im Rahmen des zugrundeliegenden Modells verglichen werden. Das Meerwasser ist mit einem pH-Wert um 8 leicht basisch. Nach einer Zusammenfassung der britischen Royal Society weist das Oberflächenwasser der Meere heute bis in eine Tiefe von 50 m typischerweise pH-Werte zwischen 7,9 und 8,25 auf, mit einem Durchschnittswert von 8,08. Die wichtigsten Ursachen für die Schwankungen innerhalb dieses Bereichs sind die Temperatur des Wassers, der lokale Auftrieb von kohlenstoffdioxidreichem Tiefenwasser, sowie die biologische Produktivität, die dort, wo sie hoch ist, in Form von Meereslebewesen viel Kohlenstoffdioxid bindet und in tiefere Wasserschichten transportiert. Eine Möglichkeit, frühere pH-Werte zu rekonstruieren, bietet die Analyse von Sedimenten. Aus der isotopischen Zusammensetzung von Borhydroxiden lässt sich bestimmen, dass der pH-Wert an der Meeresoberfläche vor etwa 21 Millionen Jahren etwa 7,4 ± 0,2 betrug, bis er vor ungefähr 7,5 Millionen Jahren auf den Wert von 8,2 ± 0,2 stieg. Da der pH-Wert der Meere über den Henry-Koeffizienten direkt mit der Kohlenstoffdioxidkonzentration der Atmosphäre gekoppelt ist, lassen sich so auch Paläo-CO2-Konzentrationen bestimmen. Bis zum Beginn der ozeanischen Versauerung infolge der einsetzenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert und des steigenden Kohlenstoffdioxidausstoßes blieb dieser Wert in etwa konstant. Infolge des menschlichen Kohlenstoffdioxidausstoßes, der zu etwa einem Viertel von den Weltmeeren aufgenommen wird, stieg der Säuregrad der Ozeane seit Beginn der Industrialisierung um knapp 30 % an (Stand 2016). Ohne Reduzierung der gegenwärtigen CO2-Emissionen würde sich der Säuregehalt der Weltmeere bis 2100 mehr als verdoppeln. Die Versauerung verläuft nach dem Fünften Sachstandsbericht des IPCC schneller als alle ähnlichen Versauerungen der vergangenen 65 Mio. Jahre, eventuell der vergangenen 300 Mio. Jahre. Einer 2005 erschienenen Studie der Stanford University zufolge, die einen vorindustriellen pH-Wert des oberflächennahen Meerwassers von durchschnittlich 8,25 annimmt, verringerte sich der pH-Wert durch die Aufnahme von Kohlenstoffdioxid auf den damaligen Wert von durchschnittlich 8,14. Eine gemeinsame Übersicht aus den USA von der National Science Foundation (NSF), der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) und dem United States Geological Survey (USGS) kommt zu dem Schluss, dass vor der Industrialisierung der durchschnittliche pH-Wert bei 8,16 lag, während er heute 8,05 beträgt. In beiden Fällen wird die Versauerung auf die menschlichen Emissionen von Kohlenstoffdioxid zurückgeführt und mit 0,11 pH-Einheiten beziffert. Eine Versauerung erfolgt auch in Küsten- oder Schiffsnähe durch Säureeinträge verursacht durch Schwefeloxide und Stickoxide (siehe Saurer Regen). Diese stammen vor allem aus der Nutzung fossiler Brennstoffe und aus der Landwirtschaft. Global tragen diese Einträge kaum zur Versauerung der Meere bei. Ozeane als Kohlenstoffsenke Die Ozeane spielen im Kohlenstoffkreislauf der Erde als Kohlenstoffsenke eine wichtige Rolle, da 70 Prozent der Erdoberfläche von Wasser bedeckt sind. In der gesamten Hydrosphäre sind schätzungsweise 38.000 Gigatonnen (Gt) Kohlenstoff gespeichert. Das Kohlenstoffdioxid gelangt aufgrund der Differenz im CO2-Partialdruck in den Ozean. Ein Gas strömt immer vom Bereich des höheren Partialdrucks (Atmosphäre) in den Bereich des niedrigeren Drucks (Ozean). Kohlenstoffdioxid wird so lange im Meer gelöst, bis der Partialdruck in der Atmosphäre und im Meer gleich ist. Umgekehrt entweicht es auch wieder, wenn der Druck in der Atmosphäre geringer als im Meer ist. Die Temperatur eines Meeres beeinflusst ebenfalls die Aufnahme von Kohlenstoffdioxid, da Wasser bei steigender Temperatur weniger Kohlenstoffdioxid aufnehmen kann. Der aus der Atmosphäre aufgenommene Kohlenstoff verteilt sich im Ozean innerhalb einiger weniger Jahre in der von der Sonne durchleuchteten Schicht des Meeres. Zwei Mechanismen sorgen dafür, dass es in noch größere Tiefen gelangt. Am wichtigsten ist die sogenannte physikalische Kohlenstoffpumpe: Kohlenstoffreiches Oberflächenwasser kühlt sich in der Arktis ab, wird schwerer und sinkt ab, dann wird das kohlenstoffreiche Wasser über die kalte Tiefenströmung des globalen Förderbandes weiträumig in den Tiefen der Ozeane verteilt. Weniger wichtig, aber dennoch nicht unbedeutend ist die sogenannte biologische Kohlenstoffpumpe, bei der Kohlenstoff als Meeresschnee (biogener Teilchenregen) in tiefere Regionen absinkt. Es dauert hunderte bis tausende von Jahren, bis das aus der Atmosphäre aufgenommene anthropogene CO2 von den Ozeanen in die tiefsten Wasserschichten vorgedrungen und verteilt ist. Heute ist es bis in eine Wassertiefe von durchschnittlich 1000 m nachweisbar. Bei Seamounts, an den Kontinentalhängen und in Flachmeeren (zum Beispiel in Teilen des Weddell-Meeres) kann das anthropogene CO2 bereits bis zum Meeresboden gelangen. Die gestiegene Menge von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre hat in den vergangenen 200 Jahren dazu geführt, dass 118 ± 19 Gt Kohlenstoff oder 27 % bis 34 % der anthropogenen CO2-Emissionen von den Ozeanen aufgenommen wurden. Im Jahr 2006 gelangten weltweit 36,3 Gt von Menschen zusätzlich produziertes CO2 oder ca. 9,9 Gt Kohlenstoff in die Atmosphäre. Inklusive der natürlichen Quellen nimmt die Hydrosphäre gegenwärtig ungefähr 92 Gt des atmosphärischen Kohlenstoffs pro Jahr auf. Etwa 90 Gt davon werden von den Weltmeeren wieder abgegeben und 2 ± 1 Gt werden gespeichert. Eine im Jahr 2003 erschienene Studie schätzt die Aufnahme von Kohlenstoff etwas genauer im Zeitraum 1980–1989 auf 1,6 ± 0,4 Gt und zwischen 1990 und 1999 auf 2,0 ± 0,4 Gt pro Jahr. Chemischer Prozess der Versauerung Kohlenstoffdioxid aus der Luft kann sich im Meerwasser lösen und liegt dann größtenteils in Form verschiedener anorganischer Verbindungen vor, deren relatives Verhältnis den pH-Wert der Ozeane reflektiert. Anorganischer Kohlenstoff findet sich im Ozean zu ca. 1 % in Kohlensäure und Kohlenstoffdioxid, zu ca. 91 % in Hydrogencarbonat-Ionen (HCO3−) und zu ca. 8 % in Carbonat-Ionen (CO32−). Im Wasser gelöstes Kohlenstoffdioxid steht über die folgenden Reaktionsgleichungen mit Hydrogencarbonat, Carbonat und Oxoniumionen (Hydroniumionen) im Gleichgewicht: Die in diesem Prozess entstehenden Oxoniumionen (H3O+) bewirken den sinkenden pH-Wert, der als negativer dekadischer Logarithmus der Stoffmengenkonzentration (genauer: der Aktivität) von Oxoniumionen definiert ist. Der Versauerung durch gelöstes CO2 wirkt die Anwesenheit von Calciumcarbonat (CaCO3) entgegen, das mit Hydrogencarbonat- und Carbonat-Ionen als chemisches Puffersystem (→ Pufferlösung) wirkt und so Protonen bindet: Wie alle Carbonate der Erdalkalimetalle ist Calciumcarbonat in Wasser nur schwer löslich. Das Calciumcarbonat im Meerwasser stammt im Wesentlichen aus zwei Quellen, nämlich Sedimenten am Meeresboden und dem Eintrag durch Zufluss von Süßwasser. In Letzteres gelangt Carbonat durch Verwitterung kalkhaltiger Gesteine. Damit das Sediment zur Neutralisierung der Versauerung beitragen kann, muss das darin enthaltene Calciumcarbonat aufgelöst und durch Zirkulation vom Meeresboden in höhere Wasserschichten getragen werden. Wird in Modellrechnungen der verwitterungsbedingte Eintrag als konstant (mit 0,145 Gt pro Jahr Kohlenstoff in Form von Carbonat) angenommen, so würde die Versauerung der Meere innerhalb einiger hundert Jahre zu einer Umkehr der Sedimentbildungsrate führen. Erst in einem Zeitraum von ca. 8000 Jahren könnte der verwitterungsbedingte Eintrag von Calciumcarbonat diesen Effekt wieder ausgleichen. Bedeutende Mengen von Calciumcarbonat im Sediment entstehen durch Calcit-bildendes Plankton, besonders von Globigerinen (eine Gruppe der Foraminiferen), Coccolithophoriden (eine Gruppe der Kalkalgen) und Pteropoden. Kleinere Mengen werden beispielsweise in Korallenriffen gebildet. Plankton kann sich am Grunde des Meeres in Form eines carbonatreichen, biogenen Sediments (Kalkschlamm) ablagern, wenn die Wassertiefe nicht zu groß ist. Werden hingegen die Calcit- und Aragonit-Kompensationstiefen für die Calciumcarbonate Calcit und Aragonit überschritten, dann lösen sie sich vollständig auf. Diese Kompensationstiefen wandern im Zuge der Versauerung nach oben, und so gehen große Mengen von Kalkstein am Meeresgrund in Lösung. Für Aragonit konnte im Atlantik bereits ein Anstieg seit der Industrialisierung um 400 m auf heute 2500 m ermittelt werden. Bis 2050 wird eine weitergehende Erhöhung um dann 700 m erwartet. 300 bis 800 m oberhalb der Calcit-Kompensationstiefe befindet sich die Lysokline, der Bereich, in dem der Auflösungsprozess beginnt. Auch in weniger tiefen Gebieten können folglich feste Carbonate wie in Calciumcarbonat zusätzlich gelöst werden, bis die Lösung wieder mit Carbonat-Ionen gesättigt ist. Die Reaktionsgleichung für die Kalklösung lautet: Folgen für Meereslebewesen und das Ökosystem Ozean Bei marinen Lebewesen, die dem Meerwasser mit erhöhtem CO2-Gehalt ausgesetzt sind, spielt sich ein Prozess ab, der der Lösung von CO2 im Ozean sehr ähnlich ist. CO2 kann als Gas ungehindert durch Zellmembranen wandern und verändert so den pH-Wert der Körperzellen und des Blutes bzw. der Hämolymphe. Die Veränderung des natürlichen Säure-Base-Haushalts muss vom Organismus kompensiert werden, was manchen Tierarten besser und anderen schlechter gelingt. Eine dauerhafte Verschiebung der Säure-Base-Parameter innerhalb eines Organismus kann das Wachstum oder die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen und so im schlimmsten Fall das Überleben einer Art gefährden. In der erdgeschichtlichen Vergangenheit führten Versauerungsereignisse, die weniger stark ausgeprägt waren als die heutige menschengemachte Versauerung, mehrfach zu schweren Rückgängen der biologischen Vielfalt bzw. Massenaussterben. Schäden an Korallen Die Lösung von Kohlenstoffdioxid bremst zwar die Erderwärmung, die daraus folgende langsame Versauerung der Ozeane kann aber schwerwiegende Folgen unter anderem für Tiere mit einem Schutzmantel aus Calciumcarbonat (Kalk) nach sich ziehen. Wie oben beschrieben, verschiebt sich das chemische Gleichgewicht der Ozeane zu Lasten der Carbonat-Ionen. Deren Verbindung mit Calcium im Meerwasser zu Calciumcarbonat ist jedoch von vitaler Bedeutung für Kalkschalen bildende Meereslebewesen. Ein saurer werdender Ozean behindert die Biomineralisation von Korallen sowie von Kleinstlebewesen wie winzigen Meeresschnecken und Zooplankton, obwohl einige dieser Lebewesen den pH-Wert des Wassers gezielt erhöhen, indem sie die gelöste Menge an Kohlenstoffdioxid bei der Erzeugung der Kalkkristalle in den eigenen Zellen verringern. Korallen produzieren mit Aragonit die neben Calcit am häufigsten vorkommende Kalkform im Meer. Aragonit ist eine besonders leicht durch Kohlensäure lösbare Form von Kalk, was das Risiko für die Korallen durch saurer werdende Ozeane erhöht. Bei einem Experiment an der israelischen Bar-Ilan-Universität wurden Korallen künstlich angesäuertem Wasser mit einem pH-Wert von 7,3 bis 7,6 ausgesetzt. Dies sind Werte, die von einigen Wissenschaftlern als in wenigen Jahrhunderten möglich angesehen werden, vorausgesetzt, dass sich der atmosphärische Gehalt von CO2 etwa verfünffacht. Nach einem Monat in dem saureren Wasser begannen sich die Kalkschalen von den Korallen abzulösen, und in der Folge verschwanden sie vollständig. Überraschend für die Forscher war, dass die Polypen der Korallen überlebten. Als nach 12 Monaten der pH-Wert wieder auf 8,0–8,3 angehoben wurde, begannen die Polypen erneut mit der Kalkbildung. Dieses Ergebnis könnte erklären, warum die Korallen trotz früherer Epochen mit einem für sie ungünstigeren pH-Wert des Meerwassers überleben konnten. Trotz dieses Befundes sprechen die Forscher lediglich von einem möglichen „Refugium“ der Korallen und betonen die schwerwiegenden Folgen der Entkalkung auf die betroffenen Ökosysteme. Ein negativer Effekt der Versauerung auf das Wachstum wurde auch für Steinkorallen der Gattung Lophelia pertusa nachgewiesen, die in der freien Natur in Tiefen von 60 m bis 2100 m vorkommen. In einem Experiment verringerte sich die Kalzifizierungsrate dieser Kaltwasserkorallen bei einem um 0,15 und 0,3 Einheiten reduzierten pH-Wert um 30 % beziehungsweise 56 %. Auch weitere für die Riffbildung bedeutende Lebewesen dürften unter der Versauerung leiden. In einem siebenwöchigen Experiment wurden Rotalgen aus der Familie der Corallinaceae, die eine wichtige Rolle beim Aufbau von Korallenriffen spielen, künstlich angesäuertem Meerwasser ausgesetzt. Gegenüber der Vergleichsgruppe sank bei den Algen im saureren Wasser die Reproduktionsrate und das Wachstum stark. Unter den Bedingungen eines weiter sinkenden pH-Wertes in den Ozeanen bedeutet dies wahrscheinlich erhebliche Folgen für betroffene Korallenriffe. Weitere Meereslebewesen Die Zwischenstaatliche Sachverständigengruppe über Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) gibt 2007 im Vierten Sachstandsbericht eine wissenschaftliche „mittlere Sicherheit“ für negative Konsequenzen aus den saurer werdenden Weltmeeren für Kalkschalen bildende Organismen und von ihnen abhängige Spezies an. In einer an der Kyoto University durchgeführten Untersuchung wuchsen Seeigel in künstlich angesäuertem Wasser deutlich langsamer, im Vergleich zu einer unter normalen Bedingungen gehaltenen Kontrollgruppe, oder verloren an Gewicht. Sie waren weniger fruchtbar und ihre Embryonen nahmen deutlich langsamer an Größe und Gewicht zu. Bei Seeigeln der Art Heliocidaris erythrogramma, die in den Gewässern Südaustraliens heimisch sind, führte ein experimentell um 0,4 Einheiten auf 7,7 gesenkter pH-Wert zu einer vermutlich reduzierten Fortpflanzungsfähigkeit, festgestellt an der deutlich verminderten Geschwindigkeit und Beweglichkeit der Spermien. Dies könnte die Zahl von Nachkommen um ein Viertel senken. Die Kalzifizierungsrate von Miesmuscheln könnte bis Ende des 21. Jahrhunderts um 25 % und die der Pazifischen Felsenauster um 10 % abnehmen. Auf diese Werte kamen Wissenschaftler, indem sie einem bestimmten Szenario des IPCC folgten, das bis 2100 eine atmosphärische CO2-Konzentration von ca. 740 ppm vorsieht. Oberhalb eines Grenzwertes von 1.800 ppm beginnt sich die Muschelschale sogar aufzulösen, wodurch die Artenvielfalt an Küsten allgemein gefährdet ist und auch erhebliche wirtschaftliche Schäden drohen. Die ozeanische Nahrungskette basiert auf Plankton. Besonders Kalkalgen (so genannten Haptophyta) sind auf die Bildung einer Kalkschale angewiesen, um zu überleben. Wenn dies durch die Versauerung nicht mehr möglich ist, wären damit möglicherweise weitreichende Konsequenzen für die Nahrungskette der Ozeane verbunden. Eine 2004 erschienene Studie des ehemaligen Leibniz-Institut für Meereswissenschaften weist auf die zahlreichen komplexen Effekte hin, die ein niedrigerer pH-Wert auf Plankton haben kann, darunter auf die schlechtere Ausgangslage für kalkbildende tierische Organismen verglichen mit Phytoplankton (Schwebalgen). Zugleich wird der unsichere Forschungsstand betont, der momentan keine weitreichenden Vorhersagen über die Entwicklung ganzer Ökosysteme zulässt. Eine abnehmende Kalzifierungsrate konnte bei Foraminiferen der Ordnung Globigerinida im südlichen Ozean festgestellt werden. Die einzelligen Foraminiferen sind für ein Viertel bis die Hälfte des gesamten ozeanischen Kohlenstoffflusses verantwortlich. In den Untersuchungen wurde für die Foraminifere Globigerina bulloides ein um 30 bis 35 % verringertes Gewicht der Kalkschale im Vergleich zu abgestorbenen, aus Sedimenten geborgenen Exemplaren festgestellt. Die Folgen eines weiter abnehmenden pH-Wertes gelten als ungewiss. Nicht für alle Meereslebewesen bedeutet die Versauerung eine Einschränkung ihres Lebensraumes. Zunächst führt die gestiegene Menge von Kohlenstoffdioxid im Meer unter anderem zu einer besseren Kohlenstoffdioxid-Düngung der Meerespflanzen. Da der Effekt sich bei verschiedenen Pflanzen unterschiedlich auswirkt und mit der steigenden Wassertemperatur sowie dem abnehmenden pH-Wert verbunden ist, kann sich wiederum die Artenzusammensetzung ändern. Bei einigen Spezies wurden überraschende Reaktionen auf die abnehmende Alkalität der Meere festgestellt. Für die Kalkalgenart Emiliania huxleyi zeigte eine Studie paradoxerweise eine mögliche Verdoppelung ihrer Kalzifizierungs- und Photosynthese-Rate, gemessen an pH-Werten wie sie bei einem atmosphärischen CO2-Gehalt von 750 ppm in den Ozeanen erwartet werden. Gleichzeitig wird eine deutlich abnehmende Wachstumsrate erwartet. E. huxleyi hält einen Anteil von beinahe 50 Prozent an der biologischen Kohlenstoffpumpe der Meere und leistet ein Drittel der meeresgebundenen Produktion von Calciumcarbonat, ist also eine Schlüsselspezies im Ökosystem. Infolge des bereits um 0,1 Einheiten gefallenen pH-Wertes an der Meeresoberfläche habe das durchschnittliche Gewicht dieser Kalkalgen im Verlauf der vergangenen 220 Jahre um 40 % zugenommen. Eine weitere Untersuchung ergab für Schlangensterne der Art Amphiura filiformis eine erhöhte Kalzifizierungsrate unter saureren Wasserverhältnissen, mittels derer die Schlangensterne die widrigeren Bedingungen kompensieren. Diese Anpassung geht allerdings mit abnehmender Muskelmasse einher, eine auf lange Sicht wahrscheinlich nicht nachhaltige Strategie. Studien zum Einfluss eines niedrigeren pH-Wertes auf größere Meerestiere ergaben, dass beispielsweise der Laich und die Larven geschädigt werden können. Die Versuche wurden bei sehr viel niedrigeren pH-Werten unternommen, als in naher Zukunft zu erwarten ist, so dass sie nur eine begrenzte Aussagekraft aufweisen. Auswirkungen auf Fische Eine Auswirkung von erhöhtem CO2 auf Verhaltensmuster von Fischen konnte wissenschaftlich bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. In einer Studie an Puffotter-Katzenhaien konnte nachgewiesen werden, dass sich die zunehmende Versauerung der Meere negativ auf die Schuppenstrukturen von Haien auswirken könnte. Aktuelle und zukünftige Entwicklung Aufgrund der je nach Temperatur unterschiedlichen Löslichkeit ist die Versauerung der Meere in den Polregionen am höchsten, da kaltes Wasser mehr Kohlenstoffdioxid lösen kann als warmes Wasser (siehe hierzu: Temperaturabhängigkeit der Henry-Konstante). Auch regional und saisonal kann der pH-Wert Schwankungen unterliegen, zum Beispiel durch Änderungen von Meeresströmungen oder biogeochemische Prozesse. Diese Einflüsse müssen von dem durch Treibhausgas­emissionen verursachten Trend einzelner Messreihen getrennt werden. Bei einer detaillierten, über acht Jahre laufenden Untersuchung vor der US-amerikanischen Tatoosh Island, nahe der Olympic-Halbinsel im Staat Washington gelegen, schwankte der örtliche pH-Wert im Tages- wie auch im Jahresverlauf deutlich stärker, als zuvor angenommen, und zwar um bis zu einer pH-Einheit innerhalb eines Jahres sowie um 1,5 Einheiten im Untersuchungszeitraum 2000–2007. Parallel nahm der pH-Wert insgesamt signifikant ab, und zwar mit durchschnittlich −0,045 Einheiten pro Jahr deutlich schneller als von Modellen berechnet. Auf die Biologie vor Ort hatte diese Reduktionen einen erkennbaren Effekt. Die Kalifornische Muschel, Miesmuscheln und Entenmuscheln nahmen in der Folge ab, während verschiedene Seepocken sowie einige Algenarten zunahmen. Ohne den Senkeneffekt der Meere läge die atmosphärische Konzentration von Kohlenstoffdioxid heute um 55 ppm höher, also bei wenigstens 466 ppm statt bei aktuell 411 ppm. Über den Zeitraum von Jahrhunderten gerechnet sollen die Ozeane in der Lage sein, zwischen 65 und 92 % der anthropogenen CO2-Emissionen aufzunehmen. Phänomene wie ein zunehmender Revelle-Faktor sorgen jedoch dafür, dass mit steigenden Temperaturen und wachsendem atmosphärischem CO2-Anteil die Aufnahmefähigkeit der Meere für Kohlenstoff sinkt. Bis 2100 dürfte sich entsprechend die Aufnahmekapazität des Wassers für CO2 um etwa 7–10 % verringern. Die Erwärmung des Meerwassers führt ebenfalls zu einer verringerten Kohlenstoffdioxid-Aufnahme, bis Ende des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich um 9–14 %. Insgesamt dürfte die Senkenfähigkeit der Meere Modellrechnungen zufolge bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um ca. 5–16 % abnehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass dieser Prozess möglicherweise bereits eingesetzt hat. Relativ zur theoretisch erwarteten Aufnahme hat der Südliche Ozean zwischen 1981 und 2004 anscheinend 0,08 Gt Kohlenstoff pro Jahr zu wenig aufgenommen. Dies ist besonders bedeutend, da die Meere südlich von 30° S (der Südliche Ozean liegt südlich von 60° S) zwischen einem Drittel und der Hälfte des von Ozeanen weltweit gebundenen Kohlenstoffdioxids aufnehmen. Im Nordatlantik schwächte sich die Aufnahmekapazität nicht nur theoretisch ab, sondern sie reduzierte sich faktisch zwischen 1994–1995 und 2002–2005 um über 50 % oder um ungefähr 0,24 Gt Kohlenstoff. Dies deutet auf eine deutlich gesunkene Pufferkapazität des Meeres für atmosphärisches Kohlenstoffdioxid hin. In beiden Fällen sind vermutlich veränderte Winde beziehungsweise abnehmende Durchmischung von Oberflächen- und Tiefenwasser mit ursächlich für den Rückgang. Bei einer Verdoppelung der atmosphärischen CO2-Konzentration im Vergleich zum vorindustriellen Level von 280 ppm (parts per million, Teile pro Million) wird mit einer weiteren Absenkung des pH-Wertes auf 7,91 gerechnet, bei einer Verdreifachung auf 7,76 oder um ungefähr 0,5 Punkte. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wird damit ein so niedriger pH-Wert in den Ozeanen erwartet, wie er seit wenigstens 650.000 Jahren nicht mehr vorgekommen ist. Wird der Zeitraum der Schätzung um einige Jahrhunderte in die Zukunft erweitert, scheint eine Absenkung des pH-Werts um bis zu 0,7 Punkte möglich. Dieses Worst-Case-Szenario setzt voraus, dass der größte Teil der noch vorhandenen fossilen Brennstoffe verbraucht wird einschließlich der nicht wirtschaftlich nutzbaren Streuvorkommen. Dies wäre wahrscheinlich eine stärkere Versauerung als jemals zuvor in den vergangenen 300 Millionen Jahren, mit der möglichen Ausnahme seltener und extremer Katastrophenereignisse. Ein solcher hypothetischer Zustand wäre im Rahmen menschlicher Zeitskalen kaum reversibel; es würde wenigstens mehrere zehntausend Jahre dauern, bis auf natürlichem Weg der vorindustrielle pH-Wert wieder erreicht würde, wenn überhaupt. Ozeanversauerung und Massenaussterbe-Ereignisse in der Erdgeschichte Drei der fünf großen Massenaussterben im Phanerozoikum waren mit einem schnellen Anstieg der atmosphärischen Kohlenstoffdioxid-Konzentration verbunden, die wahrscheinlich auf dem intensiven Vulkanismus Magmatischer Großprovinzen in Kombination mit der thermischen Dissoziation von Methanhydrat beruhten. Die geowissenschaftliche Forschung konzentrierte sich zunächst auf die Folgen von möglichen klimatischen Auswirkungen auf die Biodiversität, bis eine Studie im Jahr 2004 auf den Zusammenhang des Massenaussterbens am Ende der Trias mit einer reduzierten Kalksättigung in den Ozeanen als Folge stark erhöhter vulkanogener CO2-Konzentrationen hinwies. Das Massenaussterben an der Trias-Jura-Grenze gilt als gut dokumentiertes Beispiel eines marinen Aussterbe-Ereignisses aufgrund von Ozeanversauerung, da vulkanische Aktivitäten, Änderungen im Kohlenstoff-Isotopenverhältnis, Abnahme von Karbonatsedimentation und marines Artensterben in der stratigraphischen Abfolge präzise zusammenfallen und zudem die erwartete Selektivität im Aussterbemuster auftrat, das vor allem Arten mit dicken aragonitischen Skeletten betraf. Neben dem endtriassischen Massenaussterben wird Ozeanversauerung auch als Ursache des marinen Aussterbens am Ende des Perm und an der Kreide-Paläogen-Grenze diskutiert. Weiterführende Artikel United Nations Environment Programme-Global Resource Information Database (UNEP/GRID) (Netzwerk des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, globale Karten und Graphiken zu Treibhausgasen und Klima) BIOACID deutscher Forschungsverbund zum Thema Ozeanversauerung Publikationen Bundesministerium für Bildung und Forschung: Ozeanversauerung: Das andere Kohlendioxidproblem, Juni 2016 Weblinks FONA-Podcast Ozeanversauerung - eine Bedrohung für das Leben im Meer, mit Ulf Riebesell (GEOMAR) und Thorsten Dittmar (Universität Oldenburg), Juli 2016 Bundesministerium für Bildung und Forschung, bmbf.de: Wissenschaftsjahr 2016*17 – Meere und Ozeane Ozean der Zukunft: Ozeanversauerung: Fakten BIOACID-Programm des Bundesforschungsministeriums/GEOMAR I Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel: Häufig gestellte Fragen: Die wichtigsten Fakten zur Ozeanversauerung. 2010. Max-Planck-Gesellschaft/Tim Schröder: Luft gibt dem Ozean Saures. (PDF; 2,6 MB) MaxPlanckForschung 2/2013, S. 18–23 Englisch: David Archer: The Acid Ocean – the Other Problem with CO2 Emission. auf: RealClimate.org vom 2. Juli 2005. The Ocean Acidification Network The Ocean in a High CO2 World., Website der Intergovernmental Oceanographic Commission (IOC) der UNESCO European Project of Ocean Acidification (EPOCA) Woods Hole Oceanographic Institution: Ocean Acidification. Einzelnachweise Klimatologie Treibhausgasemission Ozeanografie Umweltschutz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Megalithik%20in%20den%20Niederlanden
Megalithik in den Niederlanden
Die Megalithik trat in den heutigen Niederlanden während der Jungsteinzeit vor allem im Nordosten auf. Megalithanlagen, also Bauwerke aus großen aufgerichteten Steinen, kommen in verschiedenen Formen und Funktionen vor, hauptsächlich als Grabanlagen, als Tempel oder als Menhire (einzeln oder in Formation stehende Steine). Aus den Niederlanden sind ausschließlich Grabanlagen bekannt. Diese Großsteingräber () sind zwischen 3470 und 3250 v. Chr. von Angehörigen der Westgruppe der Trichterbecherkultur (TBK) errichtet und bis etwa 2760 v. Chr. genutzt worden. Eine Nachnutzung der Anlagen erfolgte nach dem Ende der Trichterbecherkultur im Spätneolithikum durch die Einzelgrabkultur und die Glockenbecherkultur, während der darauf folgenden Frühen Bronzezeit und in geringem Umfang noch bis ins Mittelalter. Von den ursprünglich wohl über 100 Großsteingräbern der Niederlande sind heute noch 54 erhalten. Von diesen liegen 52 in der Provinz Drenthe. Zwei weitere liegen in der Provinz Groningen, davon wurde eines in ein Museum umgesetzt. Hinzu kommt eine Anlage in der Provinz Utrecht, deren Einordnung als Großsteingrab unsicher ist. Zerstörte Großsteingräber sind zudem aus der Provinz Overijssel bekannt. Die Mehrzahl der erhaltenen Gräber konzentriert sich auf dem Höhenzug Hondsrug zwischen den Städten Groningen und Emmen. Die Gräber erweckten bereits früh das Interesse von Forschern. Die erste Abhandlung wurde 1547 publiziert. Große Verbreitung fand ein 1660 veröffentlichtes Buch von Johan Picardt, der die Gräber für Bauten von Riesen hielt. Titia Brongersma führte 1685 die erste bekannte Ausgrabung an einem niederländischen Großsteingrab durch. 1734 wurde ein erstes Gesetz zum Schutz der Gräber erlassen; diesem folgten im 18. und 19. Jahrhundert weitere. Leonhardt Johannes Friedrich Janssen legte 1846 erstmals ein annähernd vollständiges Verzeichnis der Gräber vor. William Collings Lukis und Henry Dryden fertigten 1878 von zahlreichen Gräbern die bis dahin genauesten Pläne an. Die moderne archäologische Erforschung der Großsteingräber wurde 1912 durch Jan Hendrik Holwerda eingeleitet, der zwei Anlagen vollständig ausgrub. Kurz darauf begann Albert Egges van Giffen mit weiteren Forschungen. Er vermaß sämtliche Anlagen, führte zahlreiche weitere Grabungen durch und ließ bis in die 1950er Jahre fast alle Gräber restaurieren. Van Giffen entwickelte für die Großsteingräber auch ein bis heute verwendetes Nummerierungssystem mit einem Großbuchstaben für die Provinz und einer von Norden nach Süden aufsteigenden Nummer (sowie einem Kleinbuchstaben bei zerstörten Anlagen). Seit 1967 gibt es in Borger ein Museum, das ausschließlich den Großsteingräbern und ihren Erbauern gewidmet ist. Die Kammern der Gräber wurden aus Granit-Findlingen erbaut, die während der Eiszeit in den Niederlanden abgelagert wurden. Die Lücken zwischen den Steinen wurden mit Trockenmauerwerk aus kleinen Steinplatten verfüllt. Anschließend wurden die Kammern mit Erde überhügelt. Einige der Hügelschüttungen weisen zudem eine steinerne Umfassung auf. Abhängig davon, ob der Zugang zur Kammer an einer Schmal- oder einer Langseite liegt, werden die Gräber als Dolmen oder Ganggräber bezeichnet. Fast alle Anlagen in den Niederlanden sind Ganggräber, nur bei einer handelt es sich um einen Dolmen. Die Gräber ähneln einander in ihrem Grundaufbau, variieren aber in ihrer Größe sehr stark. Die Kammerlänge reicht von 2,5 m bis zu 20 m. Kleine Kammern wurden in allen Errichtungsphasen gebaut, größere traten erst in späteren Phasen hinzu. Aufgrund ungünstiger Erhaltungsbedingungen konnten aus den Gräbern nur geringe Reste menschlicher Knochen geborgen werden. Hauptsächlich handelt es sich hierbei um Leichenbrand. Zum Sterbealter und zum Geschlecht der Toten sind nur sehr begrenzte Aussagen möglich. Sehr reichhaltig sind hingegen die Beigaben. In einigen Gräbern wurden tausende von Keramikscherben gefunden, die sich häufig zu hunderten Gefäßen rekonstruieren ließen. Weitere Beigaben waren Steingeräte, Schmuck in Form von Perlen und Anhängern, Tierknochen und in seltenen Fällen Gegenstände aus Bronze. Das reiche Formen- und Verzierungsspektrum der Gefäße erlaubte die Unterscheidung mehrerer typologischer Stufen, die Rückschlüsse auf die Bau- und Nutzungsgeschichte der Gräber zulassen. Forschungsgeschichte Frühe Forschungen (16.–18. Jahrhundert) Die moderne Beschäftigung mit den niederländischen Großsteingräbern begann 1547 mit Anthonius Schonhovius Batavus (Antony van Schoonhove), Kanoniker der Sint-Donaaskathedraal in Brügge. Er bezog sich in einem Manuskript auf eine Textpassage in der Germania des Tacitus, in der „Säulen des Herakles“ im Land der Friesen erwähnt werden. Schonhovius setzte diese mit einem der Gräber bei Rolde gleich und vermengte den Text des Tacitus mit lokalen Sagen. Er nahm an, dass das Baumaterial von Dämonen herbeigeschafft wurde, die unter dem Namen Herakles verehrt wurden. Weiterhin hielt er die Gräber für Altäre, auf denen Menschenopfer durchgeführt wurden. Sein Text wurde in den folgenden Jahrzehnten von zahlreichen weiteren Gelehrten aufgegriffen und die Säulen des Herakles bzw. die „Duvels Kut“ („Teufelsfotze“, ein weiterer Name, der laut Schonhovius für das Grab bei Rolde verwendet wurde), wurden zwischen 1568 und 1636 auf mehreren Landkarten verzeichnet. Es dauerte noch über hundert Jahre, bis jemand über die niederländischen Großsteingräber schrieb, der sie auch persönlich in Augenschein genommen hatte. Der aus Bentheim stammende Johan Picardt war unter anderem in Rolde und Coevorden als Pastor tätig und verantwortete zudem die Moorkolonisierung im Grenzgebiet zwischen Bentheim und Drenthe. 1660 veröffentlichte er ein dreiteiliges Werk über die Altertümer der Niederlande und im Besonderen der Provinz Drenthe und der Stadt Coevorden. Picardts Ansichten waren stark von biblischen Geschichten beeinflusst. So vertrat er die Hypothese, dass die Großsteingräber von Riesen gebaut worden seien, die aus dem Heiligen Land über Skandinavien schließlich nach Drenthe eingewandert seien. Diese Ansicht fand nicht zuletzt durch eindrückliche Illustrationen in Picardts Buch große Verbreitung. Zugleich gab es aber auch schon vor und während Picards Lebzeiten andere (vor allem deutsche) Forscher, die diese Idee ablehnten und die Errichtung der Gräber gewöhnlichen Menschen zuschrieben. Weiterhin lieferte Picardt erstmals ausführliche Beschreibungen vom Aufbau der Gräber und erwähnte zudem Keramikgefäße als Beigaben. Auch der Jurist und Historiker Simon van Leeuwen besuchte einige Jahre nach Picardt die Großsteingräber der Provinz Drenthe und widmete ihnen einen Abschnitt in seinem 1685 posthum erschienenen Werk Batavia Illustrata. Auch van Leeuwen hielt Riesen als Erbauer für denkbar, dachte dabei aber eher an hochgewachsene Kimbern und Kelten. Die aus Dokkum stammende Dichterin Titia Brongersma führte 1685 die erste bekannte Ausgrabung an einem Großsteingrab in den Niederlanden durch. Gemeinsam mit ihrem Cousin Jan Laurens Lentinck, dem Schultheiß von Borger, organisierte sie die Untersuchung des Großsteingrabs Borger (D27). Brongersma selbst veröffentlichte hierüber nur zwei Gedichte, aus denen hervorgeht, dass sie das Grab für einen Tempel hielt, welcher der Natur gewidmet war. Sie tauschte sich hierüber aber intensiv mit ihrem Freund, dem aus Groningen stammenden Arzt und Dichter Ludolph Smids, aus. Smids verfasste zunächst seinerseits ein Gedicht über die Grabung. In seinem Werk Poëzije veröffentlichte er 1694 diese Gedichte und fügte zudem eine nähere Beschreibung der Funde und Befunde aus dem Grab hinzu. Smids Publikation der Grabung in Borger sowie sein Briefwechsel mit Christian Schlegel führten dazu, dass die Vorstellung von Riesen als Erbauer der Großsteingräber nun zunehmend abgelehnt wurde. Smids selbst revidierte seine Ansichten aber nach seiner Konversion vom Katholizismus zum Calvinismus wieder und griff in seinem 1711 erschienenen Werk Schatkamer der Nederlandse oudheden erneut die Ansichten Picardts auf. 1706 führten Johannes Hofstede und Abraham Rudolph Kymmel eine weitere Ausgrabung an einem Großsteingrab in Rolde (D17) durch. Hofstede beschrieb in seinem Bericht erstmals die verschiedenen Schichten innerhalb der Anlage sowie die stratigraphische Lage der gefundenen Keramik. Unglücklicherweise hatte der Bericht keinerlei Einfluss auf Hofstedes Zeitgenossen, da er erst 1848 publiziert wurde. In den 1730er Jahren entstanden in großen Teilen der Niederlande und Nordwestdeutschlands neue Deiche, da die alten auf Holzkonstruktionen basierten, die durch eingeschleppte Schiffsbohrwürmer zerfressen worden waren. Die neuen Deiche bestanden aus steingedeckten Erdhügeln, weswegen Findlinge jetzt zu einem gefragten Baumaterial wurden. Die völlig unregulierte Suche nach Findlingen führte auch dazu, dass Grenzsteine entfernt wurden. Dies veranlasste die Regierung von Drenthe am 21. Juli 1734 eine Resolution zu erlassen, die solche Handlungen verbot. Gleichzeitig wurden mit dieser Resolution die Großsteingräber unter Schutz gestellt. Nach zwei königlichen Erlässen in Dänemark (1620) und Schweden (1630) war dies europaweit das dritte Gesetz zum Schutz von Altertümern. 1732 unternahm der wohlhabende Amsterdamer Textilhändler Andries Schoemaker gemeinsam mit dem Zeichner Cornelis Pronk und dessen Schüler Abraham de Haen eine Reise nach Drenthe. Dabei entstanden die ersten realistischen Zeichnungen der beiden Großsteingräber bei Havelte (D53 und D54). Schoemaker fertigte zudem eine ausführliche Beschreibung der Anlagen an. Beide Zeichner kehrten später noch einmal nach Drenthe zurück. Von de Haen ist noch eine Zeichnung des Großsteingrabs D53 aus dem Jahr 1737 überliefert und von Pronk eine des Großsteingrabs Midlaren (D3) aus dem Jahr 1754. 1756 wurde Joannes van Lier mit der Restaurierung des Großsteingrabs Eext (D13) beauftragt. Diese in den Boden eingetiefte Anlage war rund 20 Jahre zuvor von einem Steinsucher entdeckt worden und wurde 1756 ebenfalls von Steinsuchern wiederentdeckt. Dabei aufgefundene Gefäße und Äxte wurden an Sammler verkauft. Außerdem wurden zwei Decksteine entfernt. Van Lier führte eine ausführliche Untersuchung der Anlage durch und versetzte die Grabkammer so gut es ging in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Nur zwei Tage später veröffentlichte er einen Zeitungsartikel über seine Arbeit. Kurz darauf fertigte Cornelis van Noorde eine Zeichnung des Grabes an. Henrik Cannegieter, Rektor der Lateinschule in Arnhem, schrieb auf Grundlage des Zeitungsartikels eine Abhandlung über das Grab, ohne es selbst je in Augenschein genommen oder mit van Lier Kontakt aufgenommen zu haben. Auf Anregung seines Freundes Arnout Vosmaer setzte van Lier sich in fünf langen Briefen mit dieser Abhandlung kritisch auseinander. Aus diesen Briefen entstand schließlich die erste monographische Abhandlung über ein niederländisches Großsteingrab. Sie wurde 1760 von Vosmaer herausgegeben. Petrus Camper fertigte zwischen 1768 und 1781 Zeichnungen von acht Großsteingräbern an, darunter das im 19. Jahrhundert zerstörte Großsteingrab Steenwijkerwold (O1). 1774 gab Theodorus van Brussel eine Neuauflage von Ludolf Smids’ Schatkamer der Nederlandse oudheden heraus und versah sie mit umfangreichen eigenen Anmerkungen. Van Brussel vertrat darin (offensichtlich in Unkenntnis der Arbeiten van Liers) die Ansicht, die Großsteingräber seien natürliche Gebilde, die sich auf dem Meeresgrund gebildet hätten und nachdem das Land trockengefallen war, hätten sie durch Erosion ihr heutiges Aussehen erhalten. 1790 veröffentlichte Engelbertus Matthias Engelberts den dritten Band seines an ein breites Publikum gerichteten Geschichtswerks De Aloude Staat En Geschiedenissen Der Vereenigde Nederlanden. Er widmete sich darin ausführlich den Großsteingräbern und fasste den damaligen Forschungsstand recht vollständig zusammen. Er fügte seinem Text außerdem zwei (recht ungenaue) Zeichnungen des Großsteingrabs Tynaarlo (D6) bei. Erwähnenswert ist seine Beobachtung, dass bei den Gräbern die flache Seite der Decksteine stets nach unten zeigt. Er verwarf daher die Idee, die Anlagen hätten als Altäre gedient. 1790 wurde die Resolution zum Schutz der Großsteingräber erneuert. 1809 verbot der Landdrost von Drenthe, Petrus Hofstede, erneut das Entfernen von Steinen aus den Gräbern sowie das Graben in Hügeln. 1818/19 wurden die lokalen Behörden verpflichtet, die Einhaltung dieses Gesetzes genau zu überwachen und jährlich Berichte hierüber zu verfassen. 19. Jahrhundert 1808 rief die Koninklijke Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen auf Initiative von Adriaan Giles Camper, dem Sohn Petrus Campers, einen Wettbewerb ins Leben, der zum Ziel hatte, die ethnische Identität der Erbauer der Großsteingräber zu klären. Im April 1809 wurde das bis dahin vollständig überhügelte Großsteingrab Emmen-Noord (D41) freigelegt und untersucht. Johannes Hofstede, der Bruder von Petrus Hofstede, verfasste hierüber einen ausführlichen Bericht. Sein Bruder erwirkte daraufhin, dass Johannes Hofstede das alleinige Recht zugestanden wurde, in der Provinz Drenthe Ausgrabungen durchzuführen. Im weiteren Verlauf des Jahres untersuchte er noch vier weitere Großsteingräber. Diese Grabungen wurden aber nicht genauer dokumentiert. Weitere wichtige Forschungsbeiträge lieferte Nicolaus Westendorp zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 1811 besuchte er die Großsteingräber in Drenthe sowie sieben weitere in Deutschland. Er verfasste eine umfangreiche Abhandlung, mit der er schließlich den 1808 ausgeschriebenen Wettbewerb gewann. Westendorp beschrieb ein Verbreitungsgebiet von megalithischen Anlagen, das von Portugal bis Skandinavien reichte. Für all diese Anlagen nahm er einen gemeinsamen Ursprung an. Er griff die durch van Lier gemachte Beobachtung auf, dass die Großsteingräber nur Steingeräte enthielten. Westendorp argumentierte auf dieser Grundlage für ein Zweiperiodensystem bestehend aus einer Steinzeit und einer darauf folgenden Metallzeit. Der dänische Forscher Christian Jürgensen Thomsen wurde von seiner Arbeit bei der Entwicklung seines Dreiperiodensystems stark beeinflusst. Westendorp verglich die Inventare der Großsteingräber mit den materiellen Hinterlassenschaften mehrerer antiker Völker und schloss die meisten aufgrund ihres Gebrauchs von Metallwerkzeugen aus. Da für ihn die Zuweisung an ein bislang unbekanntes Volk nicht in Frage kam, plädierte er für frühe Kelten als Erbauer. Seine Thesen veröffentlichte er zunächst 1815 als Aufsatz und 1822 als Monographie. Westendorps Werk fand viel Beachtung, erntete aber auch Kritik. Beispielsweise wurde seine Kelten-Hypothese in Frage gestellt, da Großsteingräber in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas fehlen, obwohl diese von Kelten bewohnt waren. In den 1840er Jahren sollte gemeinschaftlich genutztes Land parzelliert werden. Für die Großsteingräber bestand daher wieder die Gefahr der Zerstörung, weshalb 1841 Johan Samuel Magnin, Provinzarchivar von Drenthe eine Petition an König Wilhelm II. richtete, in der er forderte, vorzeitliche Gräber von der Privatisierung des Landes auszunehmen. Die Petition blieb aber erfolglos. Auch ein 1842 erschienener Zeitungsartikel des Arztes Levy Ali Cohen erbrachte keine Gesetzesänderung. Weiterhin erschienen in den 1840er Jahren zwei zu dieser Zeit recht populäre, an ein breites Publikum gerichtete Geschichtsbücher, in denen den Großsteingräbern ein breiter Raum gewidmet wurde. 1840 veröffentlichte Johannes Pieter Arend den ersten Band seiner Algemeene Geschiedenis des Vaterlands. Er stützte sich dabei vor allem auf die Arbeiten von Engelberts und Westendorp und sah die frühen Kelten als Erbauer der Gräber an. Grozewinus Acker Stratingh hingegen vertrat 1849 die damals neue These, die Gräber wären von namentlich nicht bekannten Vorfahren der Kelten und Germanen errichtet worden. Der bedeutendste Forscher in der Mitte des 19. Jahrhunderts war Leonhardt Johannes Friedrich Janssen (1806–1869), Kurator der Sammlung niederländischer Altertümer im Rijksmuseum van Oudheden in Leiden. Seine Beschäftigung mit den Großsteingräbern begann 1843, als er mehrere Modelle des Großsteingrabs Tynaarlo (D6) für verschiedene Museen anfertigen ließ. 1846 grub er die Steinkiste von Exloo-Zuiderveld (D31a) und das Großsteingrab Zaalhof (D44a) aus. 1847 studierte er die niederländischen Großsteingräber vor Ort und publizierte im folgenden Jahr eine Arbeit hierüber. Janssen legte damit erstmals eine annähernd vollständige beschreibende Übersicht der noch erhaltenen Großsteingräber in den Niederlanden vor. 1849 führte er eine weitere Ausgrabung an den Resten der Steinkiste im Rijsterbos (F1) durch. Später widmete er sich Fragestellungen zu den Konstruktionsmethoden der Gräber und zur Lebensweise ihrer Erbauer. Janssens größter Irrtum war die viel zu junge Datierung der Anlagen. Er bezeichnete die Keramikfunde als „germanisch“ und hielt die jüngsten Gräber für römerzeitlich. 1853 fiel er auf den Hilversumer Arbeiter Dirk Westbroek herein, der mehrere vermeintlich steinzeitliche Herdstellen gefälscht hatte. In einer davon war eine bearbeitete Sandsteinplatte aus dem Mittelalter oder der Neuzeit verbaut, die Janssen aber römerzeitlich datierte und als Bestätigung dafür ansah, dass die Steinzeit in den Niederlanden erst mit den Römern endete. Dieser Irrtum Janssens prägte die Vorgeschichtsforschung in Leiden noch für viele Jahrzehnte. Erst 1932 wurden die Herdstellen in Hilversum als Fälschung entlarvt. Der Schriftsteller Willem Hofdijk wurde stark von Janssens Arbeit beeinflusst und verfasste zwischen 1856 und 1859 mehrere Werke, in denen er ein lebendiges Bild der niederländischen Vorzeit entwarf. Ein erstaunliches Kuriosum ist seine Datierung der Großsteingräber, die er in seinem Werk Ons Voorgeslacht (Unsere Vorfahren) in die Zeit um 3000 v. Chr. verortete. Allgemein wurden sie zu dieser Zeit als deutlich jünger angesehen, doch Hofdijk nahm hier, wohl eher zufällig, eine Datierung an, die in etwa den heutigen Erkenntnissen entspricht. 1861 und 1867 kam es durch illegale Grabungen zu stärkeren Zerstörungen am Großsteingrab De Papeloze Kerk (D49). Um weitere Zerstörungen zu verhindern, gingen um 1870 schließlich alle Gräber bis auf eines ins Eigentum des Staates bzw. der Provinz Drenthe über. Auf Anregung des Amateurarchäologen Lucas Oldenhuis Gratama wurden anschließend mehrere Anlagen restauriert, was allerdings unfachmännisch geschah. Gratama übernahm eine irrtümliche Annahme Westendorps, dass die Gräber ursprünglich keine Hügelschüttungen besessen hätten und ließ diese daher als vermeintliche Windverwehungen ohne Dokumentation entfernen. Augustus Wollaston Franks, Kurator am British Museum, besuchte 1871 Drenthe und war über die unprofessionellen Restaurierungen der Großsteingräber sehr enttäuscht. Auf seine Anregung hin unternahmen 1878 William Collings Lukis (1817–1892) und Henry Dryden (1818–1899) eine Forschungsreise nach Drenthe. Beide hatten zuvor bereits Megalithanlagen im Vereinigten Königreich und in der Bretagne untersucht und fertigten nun sehr genaue Grundriss- und Schnittzeichnungen von 40 Großsteingräbern der Niederlande sowie mehrere Aquarelle von Keramikfunden an. Willem Pleyte, Janssens Nachfolger als Kurator am Rijksmuseum van Oudheden, publizierte ab 1877 ein umfangreiches Verzeichnis der damals bekannten archäologischen Fundplätze in den Niederlanden. Er bediente sich dabei auch erstmals umfangreich des Mittels der Fotografie. Die ersten bekannten Bilder von niederländischen Großsteingräbern wurden 1870 angefertigt. 1874 unternahm Pleyte zusammen mit dem Fotografen Jan Goedeljee eine Reise durch Drenthe und ließ dort alle Großsteingräber ablichten. Die Fotos dienten ihm als Vorlage für Lithografien. Offenbar unabhängig von Pleytes Arbeit unternahm 1877 Conrad Leemans, der Direktor des Rijksmuseums, eine Reise nach Drenthe. Jan Ernst Henric Hooft van Iddekinge, der zuvor schon mit Pleyte dort gewesen war, fertigte für Leemans Pläne der Großsteingräber an, die aber qualitativ nicht an die Arbeiten von Lukis und Dryden heranreichten. Die Erkenntnis, dass die niederländischen Großsteingräber Teil einer steinzeitlichen Kultur waren, die große Teile Nord- und Mitteleuropas umspannte, setzte sich allmählich ab Ende des 19. Jahrhunderts durch. Bereits Nicolaus Westendorp war 1815 die große Ähnlichkeit zu den Gräbern in Nordwestdeutschland aufgefallen. Augustus Wollaston Franks bemerkte 1872, dass nicht nur die Gräber, sondern auch die gefundenen Beigaben denen aus Deutschland und Dänemark sehr ähnlich waren. 1890 stellte der Königsberger Prähistoriker Otto Tischler erstmals die Existenz verschiedener Regionalgruppen innerhalb der Trichterbecherkultur fest und grenzte das Verbreitungsgebiet der Westgruppe genauer ein. Anfang des 20. Jahrhunderts unterschied Gustaf Kossinna anhand der Keramik vier regionale Gruppen: Eine Nord-, West-, Ost- und Südgruppe. Konrad Jażdżewski konnte in den 1930er Jahren einen noch genaueren Überblick vorlegen und Kossinnas Ostgruppe zudem in eine Ost- und Südostgruppe unterteilen. 20. und 21. Jahrhundert Zu Beginn des 20. Jahrhunderts leistete der Mediziner Willem Johannes de Wilde wichtige Forschungsbeiträge. In den Jahren 1904–1906 suchte er alle noch erhaltenen Großsteingräber der Niederlande auf, erstellte Pläne, fertigte Fotos an und entwickelte einen umfangreichen Fragenkatalog zur Architektur der einzelnen Anlagen. Unglücklicherweise sind seine Aufzeichnungen nur unvollständig erhalten geblieben. Eine neue Phase der Megalithforschung in den Niederlanden begann 1912, als der Leidener Archäologe Jan Hendrik Holwerda die beiden Großsteingräber bei Drouwen (D19 und D20) vollständig ausgrub. Im folgenden Jahr untersuchte er das Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43). Kurz nach Holwerda führte der Groninger Archäologe Albert Egges van Giffen weitere Grabungen durch. Seine Arbeit sollte die Megalithforschung der Niederlande für mehrere Jahrzehnte prägen. Er grub 1918 das Großsteingrab Havelte 1 (D53), ein Großsteingrab bei Emmerveld (D40), das Großsteingrab Exloo-Noord (D30) und zwei Großsteingräber bei Bronneger (D21 und D22) vollständig aus und machte Probegrabungen am Großsteingrab Drouwenerveld (D26), dem Großsteingrab Balloo (D16) und einem weiteren Großsteingrab bei Emmerveld (D39). Weiterhin untersuchte er zwischen 1918 und 1925 die Reste von drei zerstörten Anlagen: Das Großsteingrab Steenwijkerwold (O1), die Steinkiste im Rijsterbos (F1) und das Großsteingrab Weerdinge (D37a). Zudem vermaß er erneut alle noch erhaltenen Anlagen in den Niederlanden und publizierte 1925–27 sein aus zwei Textbänden und einem Atlasband bestehendes Werk De Hunebedden in Nederland. Hierfür entwickelte er für die Gräber auch das noch heute verwendete Nummerierungssystem mit einem Großbuchstaben für die Provinz gefolgt von einer von Norden nach Süden aufsteigenden Nummer (sowie einem angehängten Kleinbuchstaben bei zerstörten Anlagen). 1927 grub van Giffen noch zwei weitere Gräber aus: Das Großsteingrab Buinen-Noord (D28) und das Großsteingrab Eexterhalte (D14). In den 1940er Jahren untersuchte er die Reste mehrerer zerstörter Anlagen. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Steine des Großsteingrabs Havelte 1 (D53) vergraben und an seinem Standort eine Landebahn errichtet. Der Flugplatz wurde 1944 und 1945 bombardiert. Nach dem Krieg wurde die Anlage an der ursprünglichen Stelle wieder aufgebaut. In den 1950er Jahren widmete sich van Giffen vor allem der Restaurierung der Gräber. Dabei machte er fehlende Wandsteine dadurch kenntlich, dass er ihre Standlöcher mit Beton ausgießen ließ. 1952 führte er noch eine Grabung am Großsteingrab Annen (D9) sowie 1957 gemeinsam mit Jan Albert Bakker am Großsteingrab Noordlaren (G1) und 1968–1970 mit Jan Albert Bakker und Willem Glasbergen am Großsteingrab Drouwenerveld (D26) durch. Die Idee für ein Museum, das eigens den Großsteingräbern und ihren Erbauern gewidmet sein sollte, kam van Giffen bereits 1959. Die von Diderik van der Waals und Wiek Röhling entwickelte Ausstellung wurde ab 1967 in einem restaurierten Bauernhaus in Borger präsentiert. Unglücklicherweise brannte das Haus zwei Mal nieder und das Museum wurde schließlich in das ehemalige Armenhaus in die Nähe des Großsteingrabs Borger (D27) verlegt. 2005 wurde an dieser Stelle unter dem Namen Hunebedcentrum ein neu errichtetes Besucherzentrum mit Freilichtanlagen eröffnet. Weitere Grabungen führte Jan N. Lanting zwischen 1969 und 1993 durch. Er untersuchte die Reste mehrerer zerstörter Anlagen, die größtenteils durch den Amateurarchäologen Jan Evert Musch entdeckt worden waren. Weiterhin untersuchte Lanting das erst 1982 entdeckte Großsteingrab Heveskesklooster, das 1987 in ein Museum umgesetzt wurde. Jan Albert Bakker legte in den 1970er Jahren mit seiner Dissertation ein bis heute maßgebliches Überblickswerk über die Westgruppe der Trichterbecherkultur vor. Einen wesentlichen Teil seiner Datengrundlage machten die damals bekannten Grabinventare der niederländischen Großsteingräber aus. 1992 veröffentlichte er eine Monographie zur Architektur der Gräber und 2010 eine weitere zur Forschungsgeschichte. Anna L. Brindley konnte anhand der umfangreichen Keramikfunde aus den Großsteingräbern in den 1980er Jahren ein siebenstufiges inneres Chronologiesystem für die Trichterbecherwestgruppe entwickeln. Die wenigen aus den niederländischen Gräbern bekannten Knochenreste wurden lange Zeit nicht systematisch untersucht. Dies änderte sich erst in den Jahren zwischen 2012 und 2015, als Liesbeth Smits und Nynke de Vries die in den Großsteingräbern gefundenen Brandbestattungen auswerteten. Im Jahr 2017 wurden alle Großsteingräber in den Niederlanden mittels Photogrammetrie in einem 3D-Atlas erfasst. Die Daten wurden aus einer Zusammenarbeit der Provinz Drente und der Reichsuniversität Groningen von der Stiftung Gratama gewonnen. Bestand und Verbreitung Wie viele Großsteingräber es in den Niederlanden ursprünglich gegeben hat, ist unbekannt. Ihre Zahl dürfte vermutlich bei über 100 gelegen haben. Erhalten sind heute noch 53 Gräber. Hinzu kommt noch eines, das in ein Museum umgesetzt wurde sowie eine steinerne Anlage, bei der fraglich ist, ob es sich um Reste eines Großsteingrabs handelt. Weiterhin sind 23 zerstörte Gräber bekannt, über die gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Jan Albert Bakker führt außerdem neun mögliche Anlagen auf, über die nur vage Angaben aus älterer Literatur vorliegen und deren Einordnung als Großsteingräber unsicher ist (Angaben zu 19 weiteren Anlagen hält er für nicht zuverlässig). Bert Huiskes konnte zudem für die Provinz Drenthe 96 Flurnamen identifizieren, die auf mögliche zerstörte Großsteingräber hindeuten. Die Großsteingräber der Niederlande wurden von Angehörigen der Trichterbecherkultur errichtet. Bei dieser handelt es sich um einen jungsteinzeitlichen Kulturenkomplex, der sich um 4100 v. Chr. von Dänemark aus über große Teile Europas verbreitete und bis 2800 v. Chr. Bestand hatte. Die Trichterbecherkultur gliederte sich in mehrere Regionalgruppen, die von Mittelschweden im Norden bis nach Tschechien im Süden und von den Niederlanden im Westen bis in die Ukraine im Osten verbreitet waren. Megalithische Grabbauten waren nicht im gesamten Verbreitungsgebiet üblich, sondern auf Skandinavien, Dänemark, Nord- und Mitteldeutschland, das nordwestliche Polen und die Niederlande beschränkt. Die niederländischen Großsteingräber werden zusammen mit den Anlagen des westlichen Niedersachsen zur Westgruppe der Trichterbecherkultur gerechnet. Der ursprüngliche Gesamtbestand der Gräber ist schwierig abzuschätzen. Es sind etwa 20.000 Anlagen bekannt, die noch erhalten sind oder über die gesicherte Erkenntnisse vorliegen (davon über 11.600 in Deutschland, 7.000 in Dänemark und 650 in Schweden). Die Gesamtzahl aller jemals errichteten Großsteingräber der Trichterbecherkultur dürfte bei mindestens 75.000 gelegen haben, vielleicht betrug sie sogar bis zu 500.000. Die niederländischen Gräber bilden also eine vergleichsweise kleine Gruppe am äußersten westlichen Rand der Trichterbecherkultur. Die erhaltenen Gräber liegen alle in den Provinzen Drenthe und Groningen. Der größte Teil konzentriert sich auf einem von Nordnordwest nach Südsüdost verlaufendem Streifen auf dem Höhenzug Hondsrug zwischen den Städten Groningen und Emmen. Diese Gräber sind fast alle über die Landstraße N34 erreichbar. Drei Anlagen befinden sich in einiger Entfernung westlich der Hauptgruppe bei Diever und Havelte. Zwischen ihnen und der Hauptgruppe befinden sich in lockerer Streuung die Standorte mehrerer zerstörter Anlagen. Im Norden der Provinz Groningen, nahe der Küste, wurde 1983 in der heutigen Gemeinde Eemsdelta unter einer Warft das Großsteingrab Heveskesklooster (G5) entdeckt und ins Muzeeaquarium Delfzijl umgesetzt. Aus der Provinz Overijssel sind zwei zerstörte Großsteingräber bekannt. Das Großsteingrab Steenwijkerwold (O1) lag ganz im Norden der Provinz, etwa 8 km von den beiden Großsteingräbern bei Havelte (D53 und D54) entfernt. Im Osten der Provinz, nahe der deutschen Grenze befand sich das Großsteingrab Mander (O2). Einige Kilometer nördlich lagen die Großsteingräber bei Uelsen im niedersächsischen Landkreis Grafschaft Bentheim. Weit abseits der anderen Anlagen liegt im Norden der Provinz Utrecht der Stein von Lage Vuursche (U1). Falls es sich bei diesem um die Reste eines Großsteingrabs handeln sollte, wäre es das südlichste und westlichste in den Niederlanden sowie die westlichste megalithische Grabanlage im Verbreitungsgebiet der Trichterbecherkultur. Bakker hält es auch für möglich, dass es in der Provinz Gelderland ursprünglich Großsteingräber gegeben haben könnte, da auch aus der östlich benachbarten Region, dem nördlichen Nordrhein-Westfalen, megalithische Grabanlagen bekannt sind. Grabarchitektur Grabtypen Die Großsteingräber der Trichterbecherkultur weisen aus Findlingen errichtete überhügelte Grabkammern auf und werden anhand verschiedener Merkmale in mehrere Typen unterteilt. Als Hauptmerkmal gilt die Position des Zugangs zur Grabkammer. Befindet er sich an einer Langseite, spricht man von einem Ganggrab. Das Gegenstück zu diesem bildet der Dolmen, der einen Zugang an einer Schmalseite besitzt oder bei sehr kleinen Anlagen (den Urdolmen) gar keinen Zugang aufweist. Als weitere Klassifizierungsmerkmale werden die Anzahl der Gangsteine sowie die Form der Hügelschüttung und das Vorhandensein oder Fehlen einer steinernen Umfassung herangezogen. Von den 54 erhaltenen Anlagen in den Niederlanden sind 52 sicher oder mit hoher Wahrscheinlichkeit als Ganggräber anzusprechen (ein weiteres ist für eine sichere Klassifizierung zu stark zerstört). Albert Egges van Giffen unterschied hier noch einmal vier Untertypen: Das „ganggraf“ (Ganggrab): Als solche bezeichnete van Giffen nur diejenigen Gräber mit einer steinernen Umfassung und einem dem Zugang vorgelagerten abgedeckten Gang. Das „portaalgraf“ (Portalgrab): Hierunter verstand van Giffen diejenigen Gräber, deren Zugang ein Paar Gangsteine ohne Deckstein vorgelagert sind. Das „trapgraf“ (Treppengrab): Damit sind in den Boden eingetiefte Anlagen gemeint, deren Grabkammern nicht durch einen horizontalen Gang, sondern durch eine steinerne Treppe zugänglich sind. Das einzige Exemplar dieses Typs in den Niederlanden ist das Großsteingrab Eext (D13). Auch im restlichen Verbreitungsgebiet der Trichterbecherkultur sind Gräber mit einer solchen Zugangskonstruktion selten. Lediglich von vier Exemplaren aus Niedersachsen (das Großsteingrab Deinste 1, das Großsteingrab Krelingen, das Großsteingrab Sieben Steinhäuser C und das zerstörte Großsteingrab Meckelstedt 2) ist vergleichbares bekannt. Das „langgraf“ (Langgrab): Damit ist eine Anlage mit einem langen Hünenbett gemeint, welches mehrere Grabkammern umschließt. Das einzige Exemplar dieses Typs in den Niederlanden ist das Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43). Auch für diesen Typ sind ähnliche Anlagen aus Niedersachsen bekannt, etwa das Hünenbett A von Daudieck, das Großsteingrab Kleinenkneten II oder das Großsteingrab Tannenhausen. In neuerer Literatur (etwa bei Bakker) werden diese Bezeichnungen van Giffens nicht mehr verwendet und all diese Anlagen werden stattdessen nur als Ganggräber bezeichnet. In Niedersachsen wurde für eine Unterform des Ganggrabs, die für die Westgruppe der Trichterbecherkultur typisch ist, die Bezeichnung Emsländische Kammer geprägt. Auch ein großer Teil der niederländischen Ganggräber entspricht diesem Typ. Gekennzeichnet ist die Emsländische Kammer durch eine vergleichsweise lange, meist ungefähr ost-westlich orientierte Grabkammer mit einem Zugang an der südlichen Langseite, die in einem geringen Abstand von einer steinernen Umfassung umschlossen ist. Die große Ausnahme unter den niederländischen Anlagen stellt das umgesetzte Großsteingrab Heveskesklooster (G5) dar, bei dem es sich um den einzigen bekannten Dolmen (genauer einen Großdolmen) des Landes handelt. Es besteht aus drei Wandsteinpaaren an den Langseiten, einem Abschlussstein an der nördlichen Schmalseite und drei Decksteinen. Der Zugang befindet sich an der offenen südlichen Schmalseite. Kleinere Grabanlagen, deren Kammern zumeist in den Boden eingetieft sind und aus kleinformatigen Steinplatten errichtet wurden, werden als Steinkisten bezeichnet. Auch hiervon sind aus den Niederlanden einige trichterbecherzeitliche Exemplare bekannt. Diese Anlagen werden allgemein aber nicht zu den Großsteingräbern gerechnet. Hügelschüttung und Umfassung Alle Gräber wiesen ursprünglich eine Hügelschüttung auf. Diese war bei kleineren Anlagen rund und bei den größeren oval. Lediglich das Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43) weist eine andere Form auf. Hier liegen die beiden Grabkammern in einem leicht trapezförmigen Langbett mit abgerundeten Schmalseiten und einer steinernen Umfassung. Bei acht oder neun weiteren Anlagen wurde ebenfalls eine Umfassung festgestellt. Es handelt sich stets um größere Anlagen mit einer Kammerlänge von 8 m und mehr. Grabkammer Orientierung Bei den meisten Ganggräbern sind die Grabkammern ungefähr in Ost-West-Richtung orientiert und der Zugang zeigt nach Süden. Es gibt hierbei große Streuungen von Nordost-Südwest nach Südost-Nordwest, aber bei fast allen Kammern liegen die Enden innerhalb der Extrempunkte des Auf- und Untergangs von Sonne und Mond. Sechs Kammern weichen allerdings hiervon ab und weisen eine Orientierung zwischen Südsüdost-Nordnordwest und Südsüdwest-Nordnordost auf. Kammergröße und Anzahl der Steine Die Größe der Kammern variiert sehr stark. Die kürzeste Kammer mit einer inneren Länge von 2,5 m weist der Großdolmen von Heveskesklooster (G5) auf. Das kleinste Ganggrab war das zerstörte Großsteingrab Glimmen-Zuid (G3) mit einer inneren Kammerlänge von 2,7 m und einer äußeren Länge von 3,2 m. Die größte Grabkammer besitzt das Großsteingrab Borger (D27). Sie hat eine innere Länge von 20 m sowie eine äußere Länge von 22,6 m und eine Breite von 4,1 m. Die Zahl der Wandsteinpaare an den Langseiten liegt zwischen zwei und zehn, die Zahl der Decksteine zwischen zwei und neun. Kammerform Die Grabkammern der Ganggräber haben zumeist einen leicht trapezförmigen Grundriss und sind auf der vom Zugang aus gesehen linken Seite etwas breiter als auf der rechten. Albert Egges van Giffen konnte 36 Kammern diesbezüglich vermessen und stellte bei 29 eine entsprechende Form fest. Der Breitenunterschied variiert recht stark. Bei den meisten Gräbern beträgt er zwischen 7 cm und 50 cm, drei Kammern weisen allerdings einen deutlich höheren Breitenunterschied von 87 cm, 88 cm bzw. 106 cm auf. Von den restlichen sieben vermessenen Kammern sind fünf am rechten Ende breiter als am linken. Hier beträgt der Breitenunterschied aber nur zwischen 9 cm und 21 cm. Bei zwei Kammern sind beide Enden genau gleich breit. Der Zugang Der Zugang zu den Kammern befindet sich bei den Ganggräbern in fast allen Fällen in der Mitte der südlichen bzw. östlichen Langseite. Bei den Gräbern mit drei bis fünf Wandsteinpaaren sind die Zugänge meist leicht nach rechts versetzt. Seltener liegen sie exakt in der Mitte und in zwei Fällen sind sie leicht nach links versetzt. Von den sieben Gräbern mit sieben Wandsteinpaaren haben vier einen Zugang mehr oder weniger genau in der Mitte, bei einem ist er nach links und bei einem nach rechts versetzt. Bei den Gräbern mit neun oder zehn Wandsteinpaaren befinden sich die Zugänge ebenfalls in der Mitte oder leicht nach rechts versetzt. Eine auffällige Abweichung von dieser Bauweise lässt sich lediglich beim Großsteingrab Emmen-Noord (D41) feststellen. Dieses besitzt vier Wandsteinpaare und der Zugang liegt hier am westlichen Ende der südlichen Langseite zwischen dem ersten und dem zweiten Wandstein. Der Zugang zur Kammer besteht entweder aus einer einfachen Öffnung zwischen zwei Wandsteinen oder ihm ist ein Gang vorgelagert, der typischerweise ein oder zwei Wandsteinpaare aufweist. Nur bei einem Grab ist ein Gang mit drei Wandsteinpaaren nachgewiesen. Längere Gänge, wie sie etwa für die Großsteingräber der Trichterbecher-Nordgruppe typisch sind, kommen in den Niederlanden nicht vor. Beim Großsteingrab Eext (D13) führt statt eines Gangs eine Treppe zum Zugang. Diese bestand gemäß van Liers Untersuchung im Jahr 1756 aus vier Stufen, die jeweils aus einer oder zwei flachen Steinplatten bestanden und von zwei Mauern aus Rollsteinen eingefasst waren. Am unteren Ende der Treppe lag direkt im Zugang zur Kammer ein Schwellenstein. Albert Egges van Giffen fand 1927 nur noch Reste dieser Treppenkonstruktion vor. Der Kammerboden Der Boden der Grabkammern besteht zumeist aus mehreren Lagen von verschiedenen Steinen. Die oberste Schicht besteht aus gebranntem Granit-Grus. Darunter folgten Sandstein-Platten oder Geröll von runder oder flacher Form. Bei einigen Gräbern scheint hierunter noch eine weitere Schicht aus Steinen gelegen zu haben. Die Böden sind meist nicht eben, sondern senken sich zur Mitte hin leicht. Die Höhenunterschiede betragen bis zu 50 cm. In der Trichterbecher-Nordgruppe sind die Grabkammern häufig durch senkrecht in den Boden eingelassene Steinplatten in mehrere Quartiere unterteilt. In der Westgruppe ist dies seltener der Fall und für die Niederlande ist dies nur von einem Grab bekannt. Im nördlichen Großsteingrab bei Drouwen (D19) fand Jan Hendrik Holwerda am nordwestlichen Kammerende eine Reihe aus drei 70 cm langen und 30 cm hohen Platten, die einen kleinen Raum von 2 m Breite und 1 m Länge abtrennten. Trockenmauerwerk Die Lücken zwischen den Wandsteinen der Kammern waren ursprünglich von außen durch Trockenmauerwerk aus waagerecht verlegten behauenen Steinplatten verfüllt worden. Hiervon sind heute nur noch Reste erhalten. Die maximal erhaltene Höhe des Mauerwerks betrug 1,4 m beim Großsteingrab Bronneger 1 (D21). Bei einigen sehr langen Kammern wurden größere Lücken zudem nicht vollständig mit Trockenmauerwerk verfüllt, sondern es wurden zusätzlich kleinere aufrechte Findlinge eingebaut, die keinen Deckstein trugen. Bestattungen Im Gegensatz zu vielen anderen Gegenden mit megalithischen Grabanlagen haben sich in den niederländischen Großsteingräbern kaum organische Materialien erhalten. Dies gilt auch für die Knochen der hier Bestatteten. Jan Hendrik Holwerda konnte bei seiner Untersuchung der beiden Anlagen in Drouwen in Grab D19 noch schlecht erhaltene Reste von menschlichen Skeletten feststellen. Hauptsächlich handelte es sich um Zähne und Reste von Kieferknochen. In 26 Gräbern wurden Reste von Leichenbrand gefunden. Teilweise waren nur wenige Gramm erhalten, aus den beiden Großsteingräbern von Havelte (D53 und D54) und dem zerstörten Großsteingrab Glimmen 1 (G2) konnten hingegen jeweils mehr als 1 kg geborgen werden. Das Gesamtgewicht des geborgenen Leichenbrands aus allen niederländischen Großsteingräbern beträgt knapp 8 kg. Zumeist ließen sich die Knochenfragmente nur einzelnen Individuen zuordnen, in zwei Gräbern konnten aber auch fünf Individuen unterschieden werden. Insgesamt konnten 48 Individuen identifiziert werden. Knochen aus mehreren Gräbern wurden mittels Radiokarbonmethode datiert, wodurch bestätigt werden konnte, dass sie aus trichterbecherzeitlichen Bestattungen stammen. Zum Geschlecht und zum Sterbealter der Bestatteten lassen sich nur begrenzte Aussagen machen, da beides bei der Mehrzahl der Individuen nicht oder nur ungenau bestimmt werden konnte. Nach der Auswertung von Nynke de Vries dürfte ein leichter Männerüberschuss unter den Toten vorliegen. Die meisten Individuen waren im Erwachsenenalter verstorben. Bestattungen von Kindern und Jugendlichen machen nur einen kleinen Teil aus. Beigaben Keramik Den mit Abstand größten Teil der trichterbecherzeitlichen Grabbeigaben machen Keramikgefäße aus. Die größte Anzahl stammt aus dem Großsteingrab Havelte 1 (D53). Die hier gefundenen Scherben ließen sich zu 649 Gefäßen rekonstruieren. Das zerstörte Großsteingrab Glimmen 1 (G2) enthielt etwa 360 Gefäße und das Großsteingrab Drouwenerveld (D26) 157. Das Formenspektrum der Keramik ist recht vielfältig. Namensgebend für die Kultur der Großsteingraberbauer ist der Trichterbecher, ein bauchiges Gefäß mit einem langen trichterförmigem Hals. Ähnliche Gefäße mit Ösen am Hals-Schulter-Umbruch werden als Ösen- oder Prunkbecher bezeichnet. Kragenflaschen sind kleine bauchige Flaschen mit einer Verbreiterung unterhalb der Mündung. Amphoren sind bauchige Gefäße mit einem kurzen zylindrischen Rand. Die Ösen- oder Dolmenflasche weist einen trichterförmigen Hals auf, der bei einigen Exemplaren sehr lang sein kann. Am Hals-Schulter-Umbruch befinden sich ein oder zwei Ösenpaare. Eine ähnliche Gefäßform ist der Ösenkranzbecher, bei dem sich die Ösen nahe dem Boden befinden. Krüge sind dreigliedrig und weisen einen trichterförmigen Rand sowie ein oder zwei Henkel auf. Schultertassen haben den gleichen Aufbau wie Krüge, sind aber breiter als hoch. Steilwandige Becher besitzen eine gerade, sich nach oben etwas erweiternde Wandung. Auch Schalen mit geraden oder konvexen Wandungen sowie Kümpfe treten auf. Frucht- oder Fußschalen bestehen aus einem konvexen oder trichterförmigen Hals und einem ebensolchen Standfuß. Beide können durch ein oder zwei Henkel verbunden sein. Halsrillengefäße sind zweigliedrige flache Schalen mit konusförmigem Rand. Sie treten erst in der Spätphase der Trichterbecherkultur auf. Tüllennäpfchen bestehen aus einer Schale und einer angesetzten hohlen Tülle. Löffel weisen statt der Tülle einen massiven Griff auf. Beide Formen sind (gerade im zerscherbten Zustand) nicht immer leicht zu unterscheiden. Weiterhin kommen flache Keramikscheiben, Backteller genannt, vor. Nur einmal belegte Formen sind ein spindelartiger Gegenstand und ein Modell eines Schemels oder Throns. Steingeräte Weitere häufige Beigaben sind Geräte aus Feuerstein. Hierzu gehören Beile, querschneidige Pfeilspitzen, Schaber, Klingen und Abschläge. Die Querschneider stellen hierbei die zahlmäßig größte Gruppe dar. Beile, Äxte und Hämmer aus Felsgestein sind selten. Nur einmal belegt ist ein Keulenkopf. Schmuck Bei den aufgefundenen Schmuckgegenständen sind Perlen aus Bernstein am häufigsten. Vereinzelt treten auch Perlen aus Gagat und Quarz sowie Anhänger aus durchlochten Fossilien auf. Metall Eine seltene Objektgruppe sind Metallfunde. Im Großsteingrab Drouwen 1 (D19) wurden Streifen, im Großsteingrab Buinen 1 (D28) Spiralen und im Großsteingrab Wapse (D52a) ein Blech aus Kupfer bzw. Arsenbronze gefunden. Es handelt sich hierbei um die ältesten Metallfunde in den Niederlanden. Tierknochen In 20 Großsteingräbern wurden geringe Reste von zumeist verbrannten Tierknochen gefunden. Vertreten waren Knochen vom Hausschwein, Hausrind, Schaf/Ziege, Pferd, Caniden, Bär, Rothirsch und eventuell vom Reh. Sie waren wahrscheinlich größtenteils als Werkzeuge genutzt worden, wenigstens ein Knochen scheint aber von einem Speiseopfer zu stammen. Da vom Bären ausschließlich Krallen gefunden wurden, könnte es sich um Reste eines Bärenfells handeln, mit dem eine Person vor der Verbrennung eingewickelt worden war. Niederlegungen vor den Gräbern Vor den Zugängen mehrerer Großsteingräber wurden Niederlegungen von trichterbecherzeitlichen Keramikgefäßen und Steingeräten aufgefunden, so beim Großsteingrab Drouwenerveld (D26) und beim Großsteingrab Eexterhalte (D14). Auch bei der Abtragung der Hügelschüttungen der beiden Großsteingräber bei Midlaren (D3 und D4) um 1870 dürften wohl entsprechende Ritualgruben aufgedeckt aber nicht als solche erkannt worden sein. Die Keramik ähnelt derjenigen, die in den Grabkammern gefunden wurde qualitativ und stilistisch sehr stark und datiert auch in die gleiche Zeit. Vorratsgefäße und Backteller sowie Feuerstein-Kratzer fehlen allerdings in den Niederlegungen. Datierung der trichterbecherzeitlichen Nutzungsphasen Anhand des Formen- und Verzierungsspektrums der aufgefundenen Keramikgefäße lassen sich mehrere typologische Stufen innerhalb der Trichterbecher-Westgruppe unterscheiden, die zugleich unterschiedliche Nutzungsphasen der Großsteingräber anzeigen. Wichtige ältere Arbeiten hierzu stammen von Heinz Knöll und Jan Albert Bakker. Das bis heute maßgebliche typologische System wurde in den 1980er Jahren von Anna L. Brindley entwickelt. Durch den Abgleich mit einer großen Menge an 14C-Daten konnte Moritz Mennenga 2017 die bis dahin genaueste absolutchronologische Datierung dieser Stufen vorlegen. Keramik der Stufe 1 wurde als ältestes Fundmaterial in fünf Gräbern gefunden. Es handelt sich ausschließlich um kleine Anlagen mit 2–5 Wandsteinpaaren, Kammerlängen zwischen 2,7 m und 6,1 m, runden oder ovalen Hügelschüttungen ohne Umfassung und einem Zugang mit einem Gangsteinpaar oder ohne Gangsteine. Die Errichtung von sieben oder acht weiteren Gräbern erfolgte während Stufe 2. Auch diese besaßen teilweise kleine Kammern, es entstanden nun aber auch größere Kammern mit bis zu sieben Wandsteinpaaren und Längen bis zu 12,4 m. Beim Großsteingrab Drouwenerveld (D26) und dem Großsteingrab Emmen-Schimmeres (D43) mit seinen zwei Grabkammern ist erstmals eine steinerne Umfassung feststellbar. Alle anderen Gräber dieser Stufe weisen noch eine Hügelschüttung ohne Umfassung auf. Die Hochzeit der Errichtung der Großsteingräber fällt in Stufe 3. In 13 Gräbern stellt die entsprechende Keramik das älteste Fundmaterial dar. Weiterhin wurden sowohl kleine als auch große Anlagen errichtet. Die Kammern wiesen nun bis zu zehn Wandsteinpaare und Längen bis zu 17 m auf. Hügelschüttungen wurden mit oder ohne Umfassung errichtet und die Zugänge besaßen null bis zwei Wandsteinpaare. Nach Stufe 3 scheinen keine neuen Großsteingräber mehr errichtet worden zu sein. Große Mengen an Keramik belegen aber eine kontinuierliche Weiternutzung fast aller Anlagen bis Stufe 5. Danach wurden viele Gräber aufgegeben. Keramik der Stufen 6 und 7 wurde nur in wenigen Anlagen gefunden. Für einige Gräber ist auch eine Unterbrechung der Nutzung nachweisbar. So wurde etwa das zerstörte Großsteingrab Glimmen 1 (G2) während der Stufen 3–5 genutzt, in Stufe 6 aufgegeben und in Stufe 7 erneut genutzt. Nachnutzung der Gräber Spätneolithikum und Frühe Bronzezeit Bestattungen In den meisten niederländischen Großsteingräbern wurden neben den trichterbecherzeitlichen Beigaben auch Gefäße und Steingeräte der Einzelgrabkultur und der Glockenbecherkultur (beide spätneolithisch) und der frühbronzezeitlichen Wickelschnurkeramik gefunden. Diese Funde werden allgemein als Beigaben aus Nachbestattungen betrachtet. Auffällig ist allerdings, dass neben der üblichen Grabkeramik dieser Zeit auch große Amphoren und Vorratsgefäße gefunden wurden, die sonst nur aus Siedlungen bekannt sind, in Einzelgräbern hingegen fast völlig fehlen. Die Großsteingräber scheinen daher wohl für besondere Bestattungen genutzt worden zu sein. Schalensteine An mehreren Großsteingräbern in den Niederlanden wurden in vorgeschichtlicher Zeit kleine kreisrunde Schälchen angebracht. Mette van de Merwe identifizierte bei einer Untersuchung im Jahr 2018 sieben Anlagen, bei denen solche Bearbeitungen vorhanden sind. In fünf Fällen befinden sich die Schälchen auf Decksteinen, in einem Fall auf einem Wandstein und in einem weiteren Fall auf einem Umfassungsstein. Der genaue Zweck dieser Schälchen ist unbekannt. Auch für ihre Zeitstellung gibt es bei den niederländischen Gräbern keine konkreten Anhaltspunkte. Es ist daher ein Vergleich mit anderen Regionen nötig. Ewald Schuldt fand bei seinen Untersuchungen der Großsteingräber in Mecklenburg-Vorpommern keine Hinweise, dass die dortigen Schälchen von Angehörigen der Trichterbecherkultur angebracht worden waren. Sie scheinen eher jünger zu sein, da sie in mehreren Fällen an Stellen entdeckt wurden, die wohl erst nach einer gewissen Zeit des Verfalls der Grabkammern wieder zugänglich waren. Aus Schleswig-Holstein hingegen sind mehrere Großsteingräber mit Schälchen bekannt, die im Spätneolithikum und der Bronzezeit erneut überhügelt und für neue Bestattungen genutzt wurden. Für Jan Albert Bakker spricht all dies dafür, dass die Schälchen wohl ins Spätneolithikum und die frühe Bronzezeit zu datieren sind. Mittlere Bronzezeit bis Mittelalter Nach der frühen Bronzezeit scheinen die Großsteingräber kaum noch genutzt worden zu sein, denn Funde aus jüngerer Zeit sind sehr selten. In dem zerstörten Großsteingrab Spier (D54a) wurde eine kerbschnitt-verzierte bronzezeitliche Urne gefunden. Aus dem Großsteingrab Westenesch-Noord (D42) stammt ein mittelbronzezeitliches Rasiermesser und aus dem Großsteingrab Drouwenerveld (D26) ein Gefäß der eisenzeitlichen Harpstedter Gruppe. 1750 soll im Großsteingrab Eexterhalte (D14) eine römische Silbermünze gefunden worden sein. Um 1800 wurde im Großsteingrab Loon (D15) ein Bootsmodell gefunden, das wohl ins Frühmittelalter datiert. Zwei ähnliche Exemplare sind unbekannter Herkunft. Auch einige früh- bis hochmittelalterliche Gefäße dürften aus Großsteingräbern stammen. Literatur Gesamtüberblick Theo ten Anscher: Een inventarisatie van de documentatie betreffende de Nederlandse hunebedden (= R.A.A.P.-Rapport. Band 16). Stichting R.A.A.P., Amsterdam 1988 (Online). Jan Albert Bakker: The TRB West Group. Studies in the Chronology and Geography of the Makers of Hunebeds and Tiefstich Pottery (= Cingula. Band 5). Universiteit van Amsterdam, Amsterdam 1979, ISBN 978-90-70319-05-2 (Online). 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https://de.wikipedia.org/wiki/Faustrecht%20der%20Pr%C3%A4rie
Faustrecht der Prärie
Faustrecht der Prärie (Originaltitel My Darling Clementine, deutsche Alternativtitel Tombstone und Mein Liebling Clementine) ist ein US-amerikanischer Spielfilm von John Ford aus dem Jahr 1946. Der Western basiert auf der 1931 veröffentlichten Biografie Wyatt Earp, Frontier Marshal von Stuart N. Lake. Henry Fonda spielt darin den Marshal, der gegen die Clanton-Familie antritt, um den Tod seines Bruders zu rächen. Nachdem Fords Ringo 1939 die Renaissance des modernen Westerns eingeleitet hatte, war Faustrecht der Prärie ein weiterer Schritt des Regisseurs in seiner Entwicklung hin zu ernsthaften, „erwachsenen“ Themen im Western, die mit Der Schwarze Falke (1956) ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Der Film, dessen Hauptthema die Gründung einer zivilisierten Gesellschaft im Grenzgebiet des Wilden Westens ist, gilt als Klassiker des Genres. Handlung Arizona im Jahr 1882: Die Brüder Wyatt, Virgil, Morgan und James Earp treiben eine Rinderherde durch das Land. In der Nähe der Stadt Tombstone rasten sie. Die drei älteren Brüder reiten in die Stadt und lassen den jüngsten Bruder James bei der Herde zurück. Tombstone wird von Gesetzlosigkeit und Chaos beherrscht. Als Wyatt einen betrunkenen und randalierenden Indianer bändigt, wird ihm das Amt des Marshals angetragen. Wyatt lehnt zunächst ab, doch als die Brüder feststellen müssen, dass James ermordet und die Herde gestohlen wurde, nimmt er das Amt an, um die Mörder seines Bruders zu finden. Nach anfänglichem Misstrauen fasst der tuberkulosekranke Arzt und Spieler Doc Holliday, der mächtigste Mann von Tombstone, Vertrauen zu dem neuen Marshal. Auch Wyatt ist von dem innerlich zerrissenen Trinker Holliday beeindruckt, als dieser bei einer Theateraufführung vor dem johlenden Publikum Tombstones die Worte des Hamlet-Monologs, die dem betrunkenen Schauspieler entfallen sind, in bewegender Weise zu Ende spricht. Wyatt Earp, frisch rasiert und vornehm gekleidet, findet sich schnell in seinem neuen Amt zurecht und demonstriert der Stadt seine Autorität. Aus dem Osten der Vereinigten Staaten reist die Krankenschwester Clementine Carter an, um ihren ehemaligen Verlobten Holliday zurückzuholen. Holliday, inzwischen mit der Bardame Chihuahua liiert, weist sie zurück und fordert sie auf, wieder abzureisen. Am Sonntagmorgen läuten in Tombstone erstmals die Kirchenglocken der noch unvollendeten Kirche. Die rechtschaffenen Bürger Tombstones feiern das Ereignis mit einer Tanzveranstaltung auf dem Kirchenboden, zu der Wyatt Clementine ausführt. Auf der Suche nach den Mördern geraten zunächst die Clantons, der despotische Old Man Clanton und seine vier Söhne, ins Visier der Earps, doch Wyatt findet eine Medaille, die im Besitz von James war, bei Chihuahua. Als Wyatt Doc Holliday als mutmaßlichen Mörder seines Bruders festnehmen will, gesteht Chihuahua, dass sie die Medaille von Billy Clanton bekommen hat. Während dieses Geständnisses schießt Billy Clanton auf Chihuahua. Der flüchtige Billy wird von Virgil Earp verfolgt, doch Old Man Clanton erschießt den Verfolger. Doc Holliday versucht mit einer Notoperation die schwerverletzte Chihuahua zu retten, doch sie stirbt an den Folgen ihrer Verletzung. Wyatt und Morgan Earp werden von den Clantons, die sich nun endgültig als Mörder des Bruders entpuppt haben, herausgefordert, sich im Morgengrauen am O. K. Corral zu einem Duell einzufinden. Doc Holliday, vom Tod Chihuahuas schwer gezeichnet, gesellt sich zu den Earps, um sich den Clantons zum Showdown zu stellen. Alle Clantons sterben bei der Schießerei und auch Doc Holliday, von einem Hustenanfall geschüttelt, findet den Tod durch gegnerische Kugeln. Clementine beschließt, als Schullehrerin und Krankenschwester in Tombstone zu bleiben. Wyatt, der mit Morgan abreist, um ihren Vater zu besuchen, verabschiedet sich mit einem Kuss von ihr und verspricht ihr, zurückzukommen. Synchronisation Die Deutsche Fassung entstand bei der Motion Export Association in München. Das Dialogbuch schrieb Bruno Hartwig, der auch die Synchronregie übernahm. Entstehungsgeschichte Drehbuch und Vorproduktion 1931 wurde von Stuart N. Lake das Buch Wyatt Earp, Frontier Marshal veröffentlicht, das Earps Lebensgeschichte nach dessen eigenen Vorgaben beschönigend und verherrlichend darstellte. Nachdem es sich schnell zum Bestseller entwickelt hatte, wurde es zweimal von der 20th Century Fox verfilmt: 1934 mit George O’Brien als Earp und 1939 nach einem Drehbuch von Sam Hellman unter der Regie von Allan Dwan mit Randolph Scott als Earp und Cesar Romero als Doc Holliday. Im November 1945 wählte Darryl F. Zanuck den Stoff als Vorlage für den Film aus, den John Ford der Fox im Rahmen seines Vertrages über insgesamt zehn Filme noch schuldete, und ließ von Winston Miller ein Drehbuch erstellen. Ford, eben aus dem Kriegsdienst zurückgekehrt, willigte in das Projekt ein, nachdem ihm in Aussicht gestellt worden war, dass Henry Fonda und Tyrone Power die Hauptrollen übernehmen könnten. Die bereits vor dem Krieg festgelegte Gage von 85.000 US-Dollar für Fords Regiearbeit wurde auf 150.000 US-Dollar aufgestockt. Obwohl Ford später behauptete, den Dwan-Film nie gesehen zu haben, zeigt Faustrecht der Prärie sowohl inhaltliche als auch inszenatorische Ähnlichkeiten zu Dwans Version des Stoffes auf. Der Filmauftakt mit dem randalierenden Indianer in Tombstone etwa ist eine fast identische Übernahme aus Hellmans Drehbuch aus dem Jahr 1939; sogar der Darsteller des Indianers ist der gleiche. Hellman erhielt aufgrund dieser Ähnlichkeiten in Faustrecht der Prärie einen screen credit als Autor der dem Film zugrunde liegenden Geschichte. Ford bearbeitete Millers Drehbuch nach, brachte einige humoristische Aspekte in das Skript ein und strich einige in seinen Augen überflüssige Dialoge, um einen größeren Schwerpunkt auf die visuelle Wirkung des Films zu legen. Da Tyrone Power für die Rolle des Doc Holliday doch nicht zur Verfügung stand und die Ideen, Douglas Fairbanks junior, Vincent Price oder James Stewart die Rolle darstellen zu lassen, verworfen wurden, wurde schließlich Victor Mature engagiert, wobei den Verantwortlichen Sorge bereitete, ob das muskulöse Kraftpaket Mature den todkranken, tuberkulösen Holliday in geeigneter Weise darstellen konnte. Er war wie Ford und Fonda eben erst aus dem Kriegsdienst zurückgekehrt und spielte in Faustrecht der Prärie seine erste Nachkriegsrolle. Für die Hauptrolle der Clementine wurde zunächst Jeanne Crain in Betracht gezogen, doch Ford war der Meinung, dass die unbekannte Downs die bessere Wahl für die Rolle als die etablierte Crain sei. Produktion und Nachproduktion Die Dreharbeiten zu Faustrecht der Prärie fanden vom Mai bis zum Juni 1946 in Kayenta, Arizona und im angrenzenden Monument Valley statt. Das Budget betrug zwei Millionen Dollar, wobei allein die Kulissen für die Stadt Tombstone mit 250.000 Dollar zu Buche schlugen. Zanuck war mit dem Rohschnitt des gedrehten Materials nicht zufrieden. Nach einer Probevorführung eröffnete er Ford in einem Memo vom 25. Juni 1946, dass er umfangreiche Kürzungen vorzunehmen gedenke. Zanucks, so McBride, „Ungeduld mit Fords lässigem Stil, seiner Betonung von Stimmungen und Verzierungen“ führte dazu, dass er persönlich etwa zehn Minuten Material aus dem Film entfernte, um die Geschichte in seinen Augen stringenter und weniger auf komische und stimmungsvolle Momente bedacht zu machen. Zudem ordnete Zanuck an, in einigen Szenen den von Ford karg und einfach konzipierten und hauptsächlich diegetisch ausgelegten Soundtrack durch üppiger und dramatischer orchestrierte Musiksequenzen zu ersetzen. Im Juli 1946 drehte der Hausregisseur der Fox Lloyd Bacon einige Szenen für den Film nach, unter anderem einige Einstellungen von Earp am Grab seines Bruders und die Szene, als Doc Clementine auf einer nächtlichen Veranda auffordert, die Stadt zu verlassen. Die wichtigste nachträglich gedrehte Einstellung war der Kuss, den Earp Clementine in der Abschiedsszene gibt. Ford wollte eigentlich die Beziehung der beiden zum Ende des Films ambivalenter und offener darstellen. Die Eingriffe in seinen Film seitens der produzierenden Filmgesellschaft ließen Ford in den kommenden Jahren vermehrt nach künstlerischer und produktionstechnischer Freiheit streben. Ein Angebot Zanucks, für 600.000 Dollar Jahresgehalt fest angestellt als Regisseur bei Fox zu bleiben, lehnte Ford ab. Rezeption Faustrecht der Prärie kam am 7. November 1946 in die US-amerikanischen Kinos. Verleihstart in Westdeutschland war der 1. November 1949. Der Film spielte in seiner ersten Auswertungsrunde in den Vereinigten Staaten 2.800.000 US-Dollar ein. Weltweit betrugen die Einnahmen aus der Kinoauswertung 4.500.000 US-Dollar. Der Film spielte somit seine für die damalige Zeit hohen Kosten wieder ein, galt aber nicht als sonderlicher Kassenschlager. Am 28. April 1947 wurde eine Hörspielfassung des Films im Rahmen des Lux Radio Theatre unter anderem von Henry Fonda, Cathy Downs und Richard Conte eingesprochen und über Hörfunk ausgestrahlt. Zeitgenössische Kritik Die Filmkritik nahm Fords Werk überwiegend wohlwollend zur Kenntnis, doch enthusiastische Reaktionen waren eher selten. Time schrieb am 11. November 1946, der Film sei „eine Pferdeoper für gehobene Ansprüche“. Ford habe „mehr geschaffen als nur eine intelligente Nacherzählung einer modernen Sage“. Ray Lanning vom Motion Picture Herald empfand in seiner Rezension vom 12. Oktober 1946 den Film als „ruhig, lässig, fast ohne jede Handlung“ Er sei jedoch „bemerkenswert aufgrund seiner ideenreichen Handhabung des rohen, manchmal brutalen Materials, um daraus einen stimmungsvollen, fast poetischen Film zu erschaffen“. Richard Griffith äußerte sich im Magazin New Movies im Januar 1947 begeisterter. Faustrecht der Prärie sei „nicht nur ein herausragender Western, sondern auch ein […] vielschichtiges Werk der Vorstellungskraft“ Er porträtiere den Westen so, „wie ihn die Amerikaner tief im Inneren verspüren.“ Henry Fonda sei „der selbstbewusste Deuter einer heute verschwundenen Stimmung, als ob er ein Historiker oder Psychologe wäre“. Bosley Crowther resümierte in der New York Times vom 29. Dezember 1946, der Film sei „ein wenig zu beladen mit den Konventionen des Westerns, um [mit Stagecoach] gleichzuziehen.“ Die Abgrenzung zwischen Helden und Bösewichtern sei zu offensichtlich. Variety stellte am 9. Oktober 1946 in einer ansonsten positiven Kritik fest, der Film gerate „manchmal […] ins Stocken, um Ford einer gekünstelten Effekthascherei nachgehen zu lassen“. Manny Farber schrieb am 16. Dezember 1946 im The New Republic, Faustrecht der Prärie sei „ein leuchtendes Beispiel, wie man die wundervolle Geschichte des Westens durch pompöse Filmemacherei ruinieren kann.“ Der Film konzentriere sich „auf Bürgerbewusstsein, Späße und Folklore anstatt auf beinharte Action“. Filmkritik urteilte in ihrer Ausgabe 4/65, Faustrecht der Prärie werde „mit Recht […] als einer der schönsten und poetischsten Western gefeiert“. Er sei auf jeden Fall „der geschlossenste Film Fords […], ein echtes Melodram, mit der Poesie, dem Lyrismus und dem überhöhten Realitätsgehalts eines Exemplums.“ Festgestellt wurde „eine straffe Dreiteilung in Ouvertüre, Mittelsatz und Coda“, wobei besonders im Mittelteil der „Fordsche Rassismus“ zum Tragen komme, und „die bis zur Vergötzung reichende Zelebrierung der Landschaft.“ Die Sonntagmorgenszene gehöre „zum klassischen Bestand des Westerns“. Weniger enthusiastisch fiel das Urteil im Handbuch V der katholischen Filmkritik, 6000 Filme (1963), aus, das den Film als etwas über dem Durchschnitt einstufte. Auszeichnungen Faustrecht der Prärie gewann 1948 den Preis des Sindacato Nazionale Giornalisti Cinematografici Italiani für den besten fremdsprachigen Film. 1991 wurde der Film in das National Film Registry aufgenommen Nachwirkung Faustrecht der Prärie ist einer der Entwicklungspunkte zwischen den ersten nicht nur von Kindern und Jugendlichen konsumierbaren Western zu Beginn der 1940er-Jahre (Stagecoach (1939), Der Westerner (1940), Überfall der Ogalalla (1941) und andere) und den „psychologischen“ beziehungsweise Edelwestern zu Beginn der 1950er-Jahre mit ihren konfliktbeladenen Helden (Red River (1948), Verfolgt (1947), Winchester ’73 (1950) und andere). Hanisch merkt an, Faustrecht der Prärie sei „ein Film der Reife“, der nur noch wenig mit den Pferdeopern vergangener Tage gemeinsam habe. Mit Faustrecht der Prärie habe der Western „endgültig seine Unschuld verloren“ und sei „jetzt auch in breitem Maße für ein erwachsenes Publikum unterhaltsam geworden“. Es folgten eine Reihe weiterer Verfilmungen der Legende um Earp und Holliday (Zwei rechnen ab (1957), Die fünf Geächteten (1967), Doc (1971), Tombstone (1993), Wyatt Earp – Das Leben einer Legende (1994) und andere) die jedoch in ihrer Grundaussage alle deutlich dunkler und pessimistischer ausfielen als Faustrecht der Prärie. Filmwissenschaftliche Beurteilung Faustrecht der Prärie zählt heute mit seiner überwiegend optimistischen Grundstimmung zu den Klassikern des Genres; ein Film, der „aus ganzem Herzen die Ankunft von Recht, Gesetz und Zivilisation im Westen durch die Figur von Fondas Earp“ feiere, wie Hardy feststellt. Für Jeier ist der Film eine „Huldigung des Pioniergeists“, dem Ford „in wehmütigen Bildern“ nachtrauere und in Ritualen wie etwa den gezeigten Tänzen beschwöre. Hembus stellt fest, Fords Werk sei „der größte mythopoetische Western“, die Geschichte „von einem Mann, dessen Familiensinn zum Gemeinschaftssinn wird und der so seine Mission findet, Gesetz und Ordnung in den Westen zu bringen“. Loew bezeichnet den Film als „Quintessenz des Westernfilms“, der sowohl Naivität als auch Sentimentalität in sich vereine, „getragen von bildhafter Magie“. Baxter konstatiert, Faustrecht der Prärie sei „einer von Fords komplettesten und bewegendsten Filmen“, der Fords „Dauerinteresse am Einfluss der Zivilisation auf die Wertvorstellungen der Grenze widerspiegle“. Für Clapham liegen die Qualitäten des Films besonders in Fords markanten Stimmungsbildern: „Die Action ist flott, schön fotografiert, und die Geschichte ist gut erzählt. Aber wir werden uns an Faustrecht der Prärie immer wegen seiner anderen Qualitäten erinnern – wegen der gemächlichen Einlullungen und den Auszeiten, die genommen werden. Hier ist Ford nachlässig mit sich selbst […], aber die Nachlässigkeiten glücken alle und sind wie verzaubert.“ Auch Seeßlen stellt die ruhigen Sequenzen heraus und bezeichnet den Film als „Fords poetische Vision vom Leben in der Gemeinschaft an der Grenze, deren utopische Momente vor allem in Augenblicken der Ruhe zum Tragen kommen“. Kitses bezeichnet Faustrecht der Prärie als „ein absolutes Juwel […], eines der Meisterwerke des klassischen amerikanischen Films“ und „eine liebevolle Hymne auf die Zivilisation“. „Mit der sich entfaltenden Strategie der betörenden Pausen, Abschweifungen und Lustbarkeiten“ führe Faustrecht der Prärie „in eine charakteristische Welt, die hartnäckig auf ihrer eigenen Wahrhaftigkeit besteht“. Hanisch nennt den Film „einen der schönsten Western aus der Geschichte dieses Genres“, der „in außerordentlich eindrucksvollen Bildern“ erzähle. Faustrecht der Prärie sei „der Western eines Westerners“, urteilt Eyman. Der Film sei „wortkarg, schnörkellos, aufgeschlossen und zeitlos modern in seiner nachdenklichen Stimmung und seinen düsteren Untertönen“. Filmanalyse Inszenierung Visueller Stil Von den ersten Sequenzen an macht Ford deutlich, dass er einen Mythos des Westens und seine legendären Protagonisten abbilden will. In halbnahen Einstellungen mit tiefstehender Kamera zeigt er die Earp-Brüder, einen nach dem anderen, wie sie auf ihren Pferden reitend ruhig und bedächtig ihrer Arbeit in freier Natur nachgehen. Kitses merkt an, sie wirkten in ihrer Erhabenheit „wie sich bewegende Statuen“. Ford nutzt, so Place, die Vorkenntnis des Zuschauers der Legende um Earp, „um den Mythos, den er erschafft, zu erhöhen“, und verwendet dafür einen „sparsamen, expressionistischen visuellen Stil.“ Mit meistens statischer Kamera erschafft der Regisseur tableauartige Kompositionen im Stil früher Fotografien. Jeier merkt dazu an, die Geschichte werde erzählt „in ruhigen lyrischen Bildern, welche die Stadt und ihre Menschen immer wieder gegen den weiten Himmel und die gigantischen Felsen des Monument Valley stellen.“ Der Himmel „a la El Greco“, wie Eyman anmerkt, ist auch in den Szenen, die in der Stadt spielen, immer präsent. Die umgebende Landschaft zwischen den weit auseinanderstehenden Häusern bleibt stets im Blickfeld; Tombstone entwickelt sich zum städtischen Gemeinwesen, aber die Wildnis ist noch nicht zurückgedrängt. Ford bedient sich dabei aber nicht realistischer Darstellungsweisen, sondern setzt seine Vorstellung vom Wilden Westen, die laut Place vor allem auf „moralische, mythische und poetische Wahrheit“ abzielt, in Bildern filmischer Imagination um: Die Stadt Tombstone liegt in Wirklichkeit nicht im Monument Valley und auch die großen Saguaro-Kakteen, die immer dann prominent in Szene gesetzt werden, wenn die Beziehung zwischen Wyatt und Clementine thematisiert wird, wachsen dort nicht. Fords lyrisch-naiver visueller Stil findet seinen Höhepunkt in der Sequenz, die den gemeinsamen Gang von Wyatt und Clementine zum Tanz in der unvollendeten Kirche zeigt. „In einem der schönsten Spaziergänge der Filmgeschichte“, so Prinzler, feiert Ford „den Westen und Amerika als vervollkommnungsfähige Gemeinschaft“, so Coyne. Die Tanzgesellschaft unter wehenden amerikanischen Fahnen wird mit Bildausschnitten präsentiert, die „perfekt gewählt wie die Komposition eines Malers“ sind, wie Loew anmerkt. Er fügt hinzu: „Jede Szene könnte ein Gemälde abgeben“. Auch Konfliktsituationen werden zuvorderst visuell umgesetzt. Die Mise en Scène wird beispielsweise in den Saloon-Szenen in die Tiefe des Raums gestaffelt und mit großer Schärfentiefe umgesetzt, die dazu dient, „die Figuren in ihre Umgebung einzupflanzen“, so Kitses. Die Weite der Wildnis und die dort herrschenden Konflikte werden so in die langgezogenen, niedrigen und auch im Raumhintergrund stark beleuchteten Räume des Saloons getragen. Den sich dort anbahnenden Konflikt zwischen Wyatt und Doc betont Ford durch das Mittel eines Achsensprungs zwischen den Closeups der beiden Darsteller. Dramaturgie Ford verstärkt laut Hanisch die Wirksamkeit seiner Geschichte, indem er sie innerhalb nur weniger Tage, an einem einzigen Wochenende, spielen lässt. Er nutze „eine Dramaturgie der Einheit von Zeit und Ort“. Durch die Schauplatzwahl sei die Story „sofort isoliert (in Zeit, Geschichte und Örtlichkeit)“, so Place. Dies schaffe „eine geschlossene Welt […], in der sich die Story entfalten kann“. Den großen Handlungsrahmen hierfür gibt die bekannte Geschichte ab, die mit der Schießerei am O. K. Corral endet. Clapham erläutert: „Es gibt Abweichungen, ein Rachemotiv bei Fonda und die eifersüchtige Einmischung einer Tänzerin […], aber der Weg führt zielsicher zu diesem Zusammentreffen am Corral.“ Dieser stringente Handlungsverlauf wird jedoch immer wieder angehalten und verzögert durch die stimmungsvollen „Auszeiten“. Clapham resümiert: „Es ist ein Film der berührenden Einstellungen – Fonda, wie er dasitzt und seine Stiefel und sein Gleichgewicht nachrichtet, während die Welt an ihm vorüberzieht; Fonda, der Friedensstifter, rechtschaffen in der Kirche; Fonda mit einer althergebrachten Vorstellung des Grenzlandes, wie er höflich seine Dame zum Tanz im Freien geleitet“. Hanisch erläutert, in solchen Szenen werde „die ganze Poesie dieses Regisseurs offenbar.“ Sie seien „nicht selten viel eindrucksvoller als die turbulenten Action-Szenen“. Dazu ist sicher auch die Szene zu zählen, als Wyatt Earp in nachdenklicher Stimmung den Barbesitzer fragt: „Hast du schon mal eine Frau geliebt?“ und dieser antwortet: „Ich war immer nur Gastwirt“. Ford lässt sich dabei von der Darstellung Fondas leiten. Eyman merkt an, der Regisseur passe „den gesamten Film Fondas entschlossenem, eleganten Rhythmus an.“ Place bestätigt, „Fondas spezifische Persönlichkeit“, sein „zurückhaltend-steifer Charakterzug“, sei durch Fords elegische Regie „vielleicht am besten überhaupt eingesetzt worden.“. Fondas Earp ist, so Hanisch, „der integre, aufrechte Held, ein Mann starker Ruhe“. Seine, so Loew, „entspannte, virile Kraft, Lässigkeit, Einsilbigkeit und Männlichkeit“ werden filmisch etwa in der berühmten Szene umgesetzt, in der Fonda entspannt auf einer Veranda sitzend und auf dem Stuhl balancierend sein „inneres Gleichgewicht“ demonstriert. Den dramaturgischen Gegensatz zwischen Doc Holliday und Chihuahua auf der einen Seite und Wyatt Earp und Clementine auf der anderen Seite betont Ford, indem er dem ersten Paar die Nachtszenen und dem zweiten die Tagszenen zuweist. Die Nacht, inszeniert als kontraststarker Kampf zwischen Dunkelheit und Licht mit expressiven Schattenwürfen, ist die zu Ende gehende wilde und gesetzlose Zeit, für die Doc und Chihuahua stehen. Mit Earp und Clementine wird, so Jeier, „die zivilisierte Phase in der Geschichte von Tombstone eingeleitet“. Für diese stehen die Tagszenen mit ihrem offenen, unverbauten Blick und dem „optimistischen“ Wetter. Ton und Musik Der Musikeinsatz in Faustrecht der Prärie unter der musikalischen Leitung von Alfred Newman ist weitestgehend diegetisch. Aus der Handlung heraus gibt die Musik „Kommentare zur Handlung oder zur Beziehung zwischen den Protagonisten“ ab, so Loew. Ford nutzt dazu die Melodien von Folksongs wie dem titelgebenden My Darling Clementine oder Kirchenliedern wie Shall We Gather at the River?. Im finalen Höhepunkt der Schießerei setzt Ford allerdings keine Musik ein. Zu hören sind nur die Geräusche des Windes und der Stiefel und die Schüsse. Eyman urteilt dazu: „Wenn Stille ohrenbetäubend sein kann, dann ist sie es hier.“ Themen und Motive Historische Authentizität Ford behauptete, er hätte Wyatt Earp kurz vor dessen Tod in den 1920er-Jahren selbst kennengelernt. Trotz Fords selbsterklärtem Anspruch, Earps Geschichte authentisch wiedergeben zu wollen, weist der Film eine Reihe historischer Ungenauigkeiten und Fehlinterpretationen auf. Die Geschehnisse am O. K. Corral fanden bereits 1881 und nicht erst 1882 statt. Doc Holliday, der Zahnarzt und kein Chirurg war, kam nicht am O. K. Corral um, sondern starb sechs Jahre später an Tuberkulose in einem Sanatorium. Auch der alte Clanton war kein Todesopfer der Schießerei, sondern bereits vorher tot. Wyatt Earp war nicht Marshal von Tombstone, sondern sein Bruder Virgil. In Wirklichkeit war Virgil der ältere Bruder von Wyatt und nicht Morgan. Zudem fand die Verfolgung von Billy Clanton durch Virgil Earp (im Film dramaturgischer Anlass zum Shoot Out am O. K. Corral) nie statt: Billy Clanton kam erst bei der Schießerei am O. K. Corral um, sein Verfolger Virgil fiel nicht einem Rückenschuss durch Billys Vater zum Opfer, sondern einer Lungenentzündung im Jahr 1905. Es war hingegen Morgan, der 1882, also erst nach dem Kampf am O. K. Corral, bei einem Racheakt vermutlicher Clanton-Sympathisanten sein Leben ließ. Der vermeintlich jüngste Earp-Bruder James „Cooksey“ Earp war nicht Jahrgang 1864, sondern 1841. Damit war er nicht der jüngste Earp-Bruder, sondern im Gegenteil der älteste. Auch starb er nicht 18-jährig durch Clanton-Hand, sondern mit 84 Jahren im Jahr 1926. Wyatt Earp war nicht der Muster-Gesetzeshüter, zu dem er sich selbst hochstilisierte, sondern ein Spieler und Geschäftsmann im Rotlichtmilieu. Der historische Streit mit den Clantons entbrannte beim Kampf um Marktanteile bei Glücksspiel, Prostitution und Rinderdiebstahl in Tombstone. Faustrecht der Prärie ist also keine historisch genaue, sondern eine „poetische, bewusst mythische Nacherzählung der Legende von Wyatt Earp.“ French urteilt über den Wahrheitsgehalt des Films: „Faustrecht der Prärie sah nach den maßgeblichen Kriterien von 1946 recht realistisch aus, obwohl er in jeder Weise eine totale Fehlinterpretation der Geschehnisse war, die zum Schusswechsel am O. K. Corral führten, doch […] keine [der nachfolgenden Verfilmungen der Earp-Legende] erreicht die Qualität an Wahrheit wie bei Ford, obschon es bei ihm nur ein erdichteter Mythos war“. Gründung der Zivilgesellschaft Ford porträtiert in Faustrecht der Prärie, so Jeier, „das Ende einer wilden Zeit und ihrer Protagonisten“. Earp kommt nach Tombstone, um den Tod seines Bruders zu rächen, doch „nach und nach wird […] aus dem persönlichen Motiv der Rache […] eine Verpflichtung auch der Gemeinschaft gegenüber“, so Seeßlen. Er wird nicht nur äußerlich durch seine Besuche beim Barbier zum Träger der Zivilisation, sondern auch in seiner inneren Einstellung. Lenihan erläutert: „Fords Faustrecht der Prärie ordnete […] Earps Kampf gegen Gesetzlosigkeit dem weitergefassten Schema des Pioniers zu, der in einem neuen, ungezähmten Land Gesetz und Anstand durchsetzt. Während Earp eine Familienangelegenheit mit den Clantons zu regeln hat, werden seine Taten durchgehend mit Szenen einer blühenden neuen Gesellschaft durchwoben, um den Helden eindeutig mit sozialem Fortschritt zu identifizieren“. Sinnbild dieser Gesellschaftsgründung ist der Tanz in der Kirche am Sonntagmorgen; ein, wie Kitses anmerkt, „magischer Moment des Kinos“. Die Wertesysteme des amerikanischen Ostens und Westens vereinigen sich zu einer „symbolischen Hochzeit von Ost und West“. Earp und Clementine sind in diesem Moment „die perfekte (obwohl zuvorderst asexuelle) Vereinigung zwischen den besten Elementen des Westens und des Ostens; die coole, kontrollierte Männlichkeit des Gesetzeshüters ergänzt das feinfühlige und trotzdem beherzte Wesen der Lady aus Boston“, so Coyne. Ford zollt mit dieser „Schilderung der nationalen Mythenbildung“ Befindlichkeiten in der amerikanischen Gesellschaft Tribut, die sich nach den Entbehrungen und persönlichen Opfern des Zweiten Weltkriegs nach solcher Wertorientierung sehnte. McBride analysiert: „Ford zog sich […] in die amerikanische Vergangenheit zurück, um historische oder mythische Antworten auf die Probleme zu finden, die ihn in der Gegenwart belasteten. […] er suchte nach dem, was er für das Herz des amerikanischen Wertesystems hielt.“ Kitses ergänzt: „Ford ist an dem Punkt seiner Karriere, an dem seine Vision von Amerika eine transzendente ist, eher eine vom blühenden Garten, der kommen wird, als eine von der Wildnis, die besteht“. Optimismus und Pessimismus Die Figur des Wyatt Earp, laut Place „einer der charmantesten und humansten Charaktere Fords“, steht in ihrer optimistischen Sicht für Fords naive Vision einer mustergültigen Gesellschaft. Place betont, Earp bewege sich „zwischen den besten Werten des Ostens und des Westens ohne Problem, aber er ist der letzte Fordsche Held, der dies tut“. Ab Faustrecht der Prärie werden Fords Hauptfiguren zunehmend verbitterter und einsamer, gipfelnd in der Figur des Ethan Edwards in Der schwarze Falke (1956) und der des Ransom Stoddard in Der Mann, der Liberty Valance erschoß (1962). Besonders deutlich wird dies in dem Kontrast, wie Ford die Earpsche Legende in Faustrecht der Prärie und 18 Jahre später in Cheyenne behandelt. Dort ist Fords Blick auf Earp nur noch distanziert-ironisch; Earp erscheint als „Prahlhans und Glücksritter“, wie Hanisch anmerkt, er und Holliday sind darin laut Place „nur noch Clowns“. In der Figur des Doc Holliday kündigt sich bereits in Faustrecht der Prärie „das Ende des Fordschen Optimismus an“, wie Hembus anmerkt. Holliday ist geprägt von der, so Place, „Unfähigkeit, mit sich selbst und den verschiedenen Aspekten seines Lebens klarzukommen“; eine Figur, die „die Zeichen der Zeit erkennt und der nahenden Zivilisation durch Selbstzerstörung entgehen will“, so Jeier. Die zwei Seiten seiner Persönlichkeit, einerseits Arzt und andererseits Spieler und Trinker zu sein, sind im Film „überlebensgroß wie beim klassischen tragischen Helden“, wie Place anmerkt, filmisch umgesetzt in der Großaufnahme seines Arztdiploms an der Wand, unter dem eine Whiskyflasche steht. Holliday wirft im Film mit einem Glas auf das Diplom und zerschmettert damit den Rahmen. Im Zusammenhang mit dieser tragischen Figurendisposition sieht Kitses den Bezug auch den Monolog aus Hamlet, den Holliday an Stelle des betrunkenen Schauspielers zu Ende spricht. Doc Holliday sei wie Hamlet „eine entzweite Seele, die ihre Vergangenheit leugnet, […] verflucht und selbstzerstörerisch“. Sein Gegenpart sei Clementine, die wie Ophelia all das repräsentiert, was er verleugnet. Dass Holliday sich schließlich für die Sache der Gemeinschaft opfert, macht ihn in Baxters Augen zum „wahren Fordschen Helden“, zum Märtyrer, dem der „recht direkte Ehrgeiz“ Earps abgehe. Eine exotische Einzelmeinung vertritt Baxter in seiner Beurteilung der Beziehung zwischen Earp und Holliday. Er unterstellt ihr eine homosexuelle Komponente und nennt Faustrecht der Prärie Fords „sexuell […]komplettesten Film“. Als Indizien hierfür führt er an, dass Earp Holliday einmal im Film als „gutaussehend“ bezeichnet, sich wegen dessen Krankheit Sorgen macht und in der „Übernahme“ von dessen Braut, einer Art Übersprunghandlung, sein Interesse an der femininen Komponente in Hollidays Persönlichkeit bekunde. Familie, Moral und Abstammung Der handlungsbestimmende Konflikt in Faustrecht der Prärie ist ein Kampf zwischen zwei Familien, den Earps und den Clantons. Beide Familien sind sich ähnlich, indem sie vom übermächtigen Vater (der bei den Earps allerdings nicht im Film erscheint und diese Position nur in den Dialogen der Söhne zugewiesen bekommt) bestimmt werden. Place stellt fest: „Die Clantons sind eine Spiegelung der Earps, allerdings eine unnatürliche“. Ford betont mit der, so Baxter, „fast magischen Bedeutung (…), die er den Vätern gab“ den hohen Stellenwert, den er einem funktionierenden, patriarchalisch ausgerichteten Familienverbund zumisst. Baxter führt aus: „Er war besorgt, die Familie als eine positive Macht zu zeigen, eine soziale Waffe, die verwendet werden soll, um die Welt in Ordnung zu bringen.“ Mit seiner eindeutigen Stellungnahme zugunsten der Earps gibt Ford somit ein moralisches Statement ab. McBride merkt an, in seiner „idealistischen Weltsicht“ enthalte „der epische Kampf zwischen Gut (die Earps) und Böse (die Clantons) keine moralischen Mehrdeutigkeiten“. Auch die Frage, warum Holliday und Chihuahua im Film sterben müssen, kann unter Gesichtspunkten der von Ford vertretenen Moral behandelt werden. Coynes Standpunkt ist, sie müssten deshalb sterben, weil sie es in Fords Vorstellungswelt „moralisch nicht wert sind, an der idealen Grenzlandgemeinde, die Ford […] entwirft, teilzuhaben.“ Fords Film sei hier „nicht nur mythisch, sondern zutiefst moralistisch“; Hollidays und Chihuahuas wahre Sünde sei „die sexuelle Überschreitung der ethnischen Grenzen“. Noch dazu hat sie sich heimlich mit einem der Clantons eingelassen. Ford baut seine weiblichen Hauptrollen komplett gegensätzlich auf: Der temperamentvollen, dunkelhaarigen, geheimnisvollen und provozierenden Chihuahua steht Clementine entgegen, ein, wie Hanisch anmerkt, „unantastbares Wesen, eine verehrungswürdige Muttergestalt“. Chihuahua, anscheinend teilweise indianischer und teilweise mexikanischer Abstammung, sieht sich konstant den, so Weidinger, „rassistischen Verbalattacken“ Earps ausgesetzt. Ihre „dunkle Sexualität“ sei gefährlich, solange sie am Leben ist. Überleben darf folgerichtig bei Ford nur die „weiße“, angelsächsische Clementine. Chihuahua ist, wie Kitses anmerkt, „ein unglückliches Beispiel für die ethnische Vorverurteilung, die sich durch weite Strecken von Fords Werk zieht“. Anders als die Hure Dallas in Stagecoach, die sich als wahre Trägerin des Anstands entpuppt, wird Chihuahua in Faustrecht der Prärie durch die moralische Instanz Wyatt Earp von Beginn an vorverurteilt. Coyne merkt an, Earps Sinn für Moral enthalte „Elemente einer Vorstellung von Rassenreinheit, die der Film gutzuheißen scheint, indem er sich eines Tadels enthält“. Wyatt Earp sei „auf seine ruhige Art“ ebenso ein Rassist wie Hatfield in Stagecoach und Ethan Edwards in Der schwarze Falke. Zeitgeschichtliche Deutungen Dass einige der Hauptbeteiligten gerade erst aus dem Kriegsdienst zurückgekehrt waren, wird für McBride im Film spürbar. Neben der Behandlung von Themen, die das Publikum auch im realen Leben der Nachkriegszeit unmittelbar betrafen (wie etwa die Zerstörung von Familienverbänden), sieht McBride besonders in der Figur des Wyatt Earp einen militärischen Hintergrund. Dieser ist für ihn ein „scharfsinniger, ernsthafter Kommandeur“, der primär militärische Tugenden verkörpere. Laut Loew führt dies zu einer Grundstimmung im Film, die er als „konservativ und paternalistisch-autoritär“ bezeichnet. Loew nennt in diesem Zusammenhang auch zeitimmanente Deutungen des Films, die ihn als politisches Gleichnis sehen. Tag Gallagher etwa setze Wyatt Earp mit den Vereinigten Staaten gleich, die aus dem Ersten Weltkrieg (Dodge City) gekommen seien, nun auch den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten (Sieg über die Clantons), aber jetzt wieder in die Wildnis zurückkehren müssten, um sich neu zu orientieren; in dieser Deutung also ein Appell für isolationistische Tendenzen in der amerikanischen Nachkriegspolitik. Peter Biskind habe laut Loew einen ähnlichen Ansatz: Für ihn stünde Wyatt für die GIs, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren, ihre Waffen niederlegen wollen, dann aber sehen, dass sie, um auch zukünftig für die Sicherheit der Gemeinschaft sorgen zu können, wieder zur Waffe greifen müssen. In dieser Deutung setze sich der Film für die Notwendigkeit einer Remilitarisierung der Vereinigten Staaten ein. Loew relativiert aber, dass Ford wahrscheinlich beide Deutungen als abwegig und unzutreffend abgelehnt hätte. Literatur Stuart N. Lake: Wyatt Earp, Frontier Marshal. Pocket Books, New York 1994, ISBN 0-671-88537-5 (bislang existiert keine deutschsprachige Übersetzung) John Baxter: John Ford: Seine Filme – sein Leben. Wilhelm Heyne Verlag, München 1980, ISBN 3-453-86019-5. Michael Coyne: The Crowded Prairie: American National Identity in the Hollywood Western. I. B. Tauris Publishers. London/ New York 1998, ISBN 1-86064-259-4. Scott Eyman, Paul Duncan: John Ford – Sämtliche Filme. Taschen Verlag, Köln 2004, ISBN 3-8228-3090-9. Michael Hanisch: Western – Die Entwicklung eines Filmgenres. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin (DDR) 1984. Thomas Jeier: Der Western-Film. Wilhelm Heyne Verlag, München 1987, ISBN 3-453-86104-3. Jim Kitses: Horizons West – Directing the Western from John Ford to Clint Eastwood. Neuausgabe. British Film Institute, London 2004, ISBN 1-84457-050-9. Dirk C. Loew: Versuch über John Ford – Die Westernfilme 1939–1964. Verlag Books on Demand, Norderstedt 2005, ISBN 3-8334-2124-X. Joseph McBride: Searching for John Ford – A Life. Faber & Faber, London 2004, ISBN 0-571-22500-4. J. A. Place, Christa Bandmann (Hrsg.): Die Western von John Ford. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1984, ISBN 3-442-10221-9. Hans Helmut Prinzler: Faustrecht der Prärie / Tombstone. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Filmgenres – Western. Reclam junior, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-018402-9, S. 109–115. Trivia Das Lied Oh my Darling Clementine ist ein US-amerikanisches Traditional, siehe etwa die Titelliste des Albums Americana oder Country Roads. Weblinks Essay von David Jenkins für The Criterion Collection (englisch) Essay von Grant Tracey in Images (englisch) Einzelnachweise Filmtitel 1946 US-amerikanischer Film Schwarzweißfilm Western John Ford Wyatt Earp
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https://de.wikipedia.org/wiki/Markthalle%20IV
Markthalle IV
Die 1886 eröffnete Markthalle IV an der Dorotheenstraße 29 (heute 84) und dem Reichstagufer 12–14 in der Berliner Dorotheenstadt entstand in der ersten Phase des kommunalen Bauprogramms für die Berliner Markthallen. Dieses von 1883 bis 1892 dauernde Programm sollte die ausreichende Versorgung der ständig wachsenden Bevölkerung Berlins mit günstigen Lebensmitteln sicherstellen und die Straßen und Plätze von den zunehmend als unhygienisch und als Verkehrshindernis empfundenen Wochenmärkten befreien. Die Markthalle IV schloss der Berliner Magistrat 1913 wegen Unrentabilität und verkaufte das Grundstück an die Reichspost, die Teile der ehemaligen Markthalle in den Neubau des Berliner Postscheckamtes integrierte. Über das Postscheckamt, noch verschiedentlich erweitert und umgebaut, lief ein bedeutender Teil des Postscheckverkehrs des Deutschen Reiches und später der DDR. 1996 endete die Nutzung durch die Post, und seit einer Gesamterneuerung Ende der 1990er Jahre dient der unter Denkmalschutz stehende Gebäudekomplex als Berliner Sitz des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Überblick Die heute verschwundene Markthalle IV lag im Parzelleninneren der Grundstücke Dorotheenstraße 84 (nach der bis 1911 gültigen Nummerierung Dorotheenstraße 29, dann bis nach 1945 Dorotheenstraße 23) und Reichstagufer 12–14 in der Dorotheenstadt. Das ehemalige Vorderhaus an der Dorotheenstraße 84 steht unter Denkmalschutz, und am Spreeufer hat sich mit dem zugemauerten Versorgungstunnel der ehemaligen Markthalle ein weiteres Baudenkmal erhalten, das die Markthalle IV vor den anderen Kleinmarkthallen Berlins auszeichnete. Der Markthallenkomplex gehörte zum Bauprogramm der insgesamt 14 Berliner Kleinmarkthallen, die zwischen 1883 und 1892 in drei Bauphasen entstanden. Stadtbaurat Hermann Blankenstein und sein Büro zeichneten wie für die anderen Hallen die Pläne für die von 1884 bis 1886 in der ersten Phase errichtete Markthalle. Der Wandel der Dorotheenstadt und der Friedrich-Wilhelm-Stadt vom Wohn- zum Geschäftsviertel und die damit verbundene Abnahme der Wohnbevölkerung ließ den Betrieb der Markthalle nach der Jahrhundertwende zusehends unrentabel werden. So schloss der Berliner Magistrat die Markthalle 1913 und verkaufte das Grundstück gewinnbringend an die Reichspost für den Bau des Berliner Postscheckamtes. Regierungsbaumeister Alfred Lempp integrierte das Vordergebäude an der Dorotheenstraße und den in solider Bauweise errichteten Keller in den von 1913 bis 1917 errichteten Neubau des Postscheckamtes, den die Reichspost anstelle der abgetragenen Markthalle errichten ließ. Ein ebenfalls nach Plänen von Alfred Lempp zwischen 1920 und 1923 ausgeführter Erweiterungsbau trug dem stetig wachsenden Postscheckverkehr Rechnung. Das Berliner Postscheckamt führte 1917 mit 34.400 von insgesamt 181.300 Konten rund ein Fünftel der Postscheckkonten im Deutschen Reich. 1934 führte die Reichspost bereits über eine Million Konten, davon 169.000 im Postscheckamt Berlin – der Zentrale des deutschen Postscheckverkehrs. Nach den Kriegsbeschädigungen im Zweiten Weltkrieg vereinfacht wieder aufgebaut und purifiziert, nutzte die Deutsche Post der DDR das Postscheckamt weiter, zuletzt umgebaut zum Rechenzentrum. Im Westteil der Stadt übernahm der Neubau des Postscheckamt Berlin West diese Funktion ab 1971. Die nach der politischen Wende mit der Deutschen Post der DDR zusammengeführte Deutsche Bundespost verlagerte den Postscheckverkehr von dem Gebäude in der Dorotheenstraße auf andere Zentren und so endete 1996 nach beinahe achtzig Jahren die Nutzung durch die Post. Seit einer im Jahr 2000 abgeschlossenen Gesamterneuerung mit Rekonstruktion der nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlagenen Fassade des Vorderhauses und ergänzenden Neubauten dient der Komplex heute als Berliner Sitz des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Bauphase und Eröffnung Die für die Dorotheenstadt geplante Markthalle sollte neben der Dorotheenstadt auch die am gegenüberliegenden Ufer der Spree gelegene Friedrich-Wilhelm-Stadt versorgen. Allerdings mussten ihre Bewohner in den ersten Jahren nach der Eröffnung 1886 einen Umweg über die Weidendammer Brücke oder die Marschallbrücke nehmen, bis der 1890 eröffnete Schlütersteg eine direkte Fußgängerverbindung zur Markthalle ermöglichte. Die Stadtverordnetenversammlung genehmigte in ihrer Sitzung vom 17. Januar 1884 den Erwerb der Grundstücke Dorotheenstraße 28–30 und Reichstagufer 12–14 für 1,25 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro). Nach der Zustimmung der Stadtverordneten am 21. Mai 1884 zu den vom Magistrat vorgelegten Plänen für die Kleinmarkthallen der ersten Phase des Bauprogramms, darunter der Markthalle IV, begannen die Bauarbeiten bereits am 1. Juli 1884. Im Oktober 1884 gerieten die Arbeiten durch einen Konflikt zwischen dem Magistrat und dem königlichen Polizeipräsidium ins Stocken. Das Präsidium forderte für alle Markthallen die Einteilung der Holzbedachung durch vier Meter breite, unbrennbare Streifen in Segmente von maximal 1600 Quadratmeter Größe und die Verbreiterung der Durchfahrten durch die Vorgebäude und Portale auf neun Meter. Die am 20. Oktober 1884 eingestellten Arbeiten ruhten bis zum Entscheid des Ministers des Innern am 22. April 1885, der in der Mehrzahl der Streitpunkte zugunsten des Magistrats ausfiel. Die Markthalle IV eröffnete am 3. Mai 1886 mit der Zentralmarkthalle I am Alexanderplatz und den anderen zwei Kleinmarkthallen der ersten Bauphase, der Markthalle II und der Markthalle III. Gleichzeitig schlossen die durch die Markthalle IV ersetzten Wochenmärkte auf dem Karlplatz und auf dem Platz vor dem Oranienburger Tor. Die Bau- und Einrichtungskosten für die Markthalle und die Vorderhäuser an der Dorotheenstraße und am Reichstagufer summierten sich auf 782.259 Mark. Bauparzelle Das angekaufte Grundstück an der Dorotheenstraße bildete mit den später abgetrennten und weiterverkauften Parzellen ein Trapez mit einer 51,91 Meter langen Front an der Dorotheenstraße und seitlichen Grenzlinien von 111,86 und 135,52 Metern Länge. Die hintere Grundstücksbegrenzung im Norden bildete zum Zeitpunkt des Kaufs die Spree. Die Uferstraße Reichstagufer war jedoch bereits geplant und zum Zeitpunkt der Eröffnung der Markthalle zwischenzeitlich angelegt. Um die hohen Grundstückskosten von 1,25 Millionen Mark zu reduzieren, legte Hermann Blankenstein die Markthalle ins Innere des Grundstücks und beschränkte die Vorderhäuser an der Dorotheenstraße und am Reichstagufer auf ein Minimum. Die sich ergebenden Restgrundstücke versuchte der Magistrat weiterzuveräußern – an der Dorotheenstraße mit Erfolg. Die beiden Parzellen am Reichstagufer blieben jedoch bis 1917 unbebaut. Der Magistrat vermietete diese Grundstücke mit einfacher Infrastruktur – Klinkerpflasterung und je drei Kandelaber als Beleuchtung – „sehr günstig“ dem Verein der Obstzüchter aus Werder als Verkaufsplätze für Obst. Die unmittelbare Lage an der Spree ermöglichte den direkten Transport des Obstes von den Obstplantagen in Kähnen zur Markthalle. An den drei Ladebühnen an der Ufermauer konnten die Obsttienen bequem und schnell entladen und durch den die Uferstraße unterquerenden Versorgungstunnel direkt in den Keller der Markthalle gebracht werden. Die Markthalle IV übernahm mit dieser für die Kleinmarkthallen einmaligen Einrichtung einen Teil des Großhandels für Obst und entlastete damit die Zentralmarkthalle am Alexanderplatz. Die Anbindung an eine Wasserstraße findet sich erst wieder in den Projekten für eine neue Großmarkthalle aus der Vor- und Zwischenkriegszeit, die auf einem Gelände zwischen dem Bahnhof Beusselstraße und dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal entstehen sollte. Markthallenkomplex Der Markthallenkomplex zeigte mit der Markthalle im Grundstücksinnern und den beiden Vorderhäusern mit ihren Durchfahrten die typischen Elemente der Hallen des kommunalen Bauprogramms, die nicht wie die Markthalle V oder die Markthalle X als freistehende Hallen errichtet wurden. Hermann Blankenstein plante die Vorderhäuser jeweils als gemischte Wohn- und Geschäftshäuser mit Ladengeschäften im Erdgeschoss und Wohnungen in den oberen Etagen. Vordergebäude an der Dorotheenstraße Die 18 Meter breite Front des erhaltenen Vordergebäudes an der Dorotheenstraße liegt genau in der Achse der dort einmündenden Schadowstraße und verlängerte diese gewissermaßen durch das Portal bis in die Markthalle hinein. Das 14,87 Meter tiefe Vorderhaus war als Mietshaus angelegt und umschloss ursprünglich mit zwei 9 Meter langen und 5,25 Meter tiefen Seitenflügeln einen 7,5 Meter breiten, unterkellerten Hof, in den die Durchfahrt von der Dorotheenstraße her mündete. In den sechs Läden im Vorderhaus und den Seitenflügeln etablierten sich eine Butterhandlung, zwei Delikatesswarenhandlungen und ein Kaffeegeschäft. Zwei einfachere Wohnungen, darunter die Wohnung des Markthalleninspektors, befanden sich im durch die Höhe der Durchfahrt bedingten Halbgeschoss. Die herrschaftlichen Wohnungen im ersten und zweiten Geschoss nahmen die gesamte Etage ein. Die spätklassizistische Fassade steht in der Tradition der Schinkelschule. Das Portal der Durchfahrt und die Fenstereinfassungen ließ Hermann Blankenstein in Sandstein ausführen und die Flächen mit gelbroten Klinkern verblenden. Als Hoheitszeichen verweist das Wappen Berlins in den Bogenzwickeln des Portals der Durchfahrt auf die Bauherrin. Die Füllungen zwischen den Fenstern im ersten und zweiten Geschoss sowie den Fries unter dem Hauptgesims bedecken sgraffitoartig in rot und hellgrau ausgeführte Rankenmuster und Ornamente in Renaissanceformen. Im ersten Stock illustrieren darin eingelassene Terrakotta-Medaillons das Marktangebot – Geflügel links, Gemüse und Obst in der Mitte und Fische und Krebse rechts. In der ursprünglichen Gestaltung verwies auch die Inschrift Markthalle IV über dem ehemals mit einem schmiedeeisernen Gittertor verschließbaren Portal auf den Zweck des Gebäudes als Markthalle. Vor dem Umbau zum Postscheckamt 1917 überdeckten Kreuzrippen- und Tonnengewölbe, wie sie sich beim Vorderhaus der Markthalle III erhalten haben, die 4,5 Meter breite und 7,3 Meter hohe Durchfahrt. Die mit gelblichen Klinkern und Formsteinen ausgeführten Pfeiler, Gurte und Kreuzrippen gliederten Wand- und Gewölbeflächen. Die Hoffassade erhielt nur eine einfache Verblendung aus gelblichen Klinkern. Fahrrinnen aus Granit in der Durchfahrt und im angrenzenden Hof lenkten den Verkehr der Marktwagen. Bei Dunkelheit beleuchtete eine Bogenlampe von 9 Ampere die Durchfahrt. Vordergebäude am Reichstagufer Das beim Umbau zum Postscheckamt abgebrochene Vordergebäude am Reichstagufer war mit 12 Meter Breite beschränkt auf das Portal der 4,5 Meter breiten Durchfahrt, begleitet von zwei Durchgängen für Fußgänger – alle verschließbar durch schmiedeeiserne Gitter. Diese an einen römischen Triumphbogen erinnernde Gestaltung betonte die öffentliche Bedeutung des Gebäudes und hätte den schmalen Eingang zur Markthalle auch nach (der nie stattgefundenen) Bebauung der Nachbargrundstücke in der Straßenflucht hervorgehoben. Auf den Terrakottareliefs über den Fußgänger-Durchgängen zeigten Putti das Angebot der Markthallen und die Inschrift Markthalle IV über dem Mittelportal nannte nochmals die Funktion des Baus. Fünf gereihte Rundbogenfenster im ersten Geschoss erhellten das Wartezimmer des fotografischen Ateliers, das Blankenstein in den oberen Geschossen des dreigeschossigen Vorderhauses vorgesehen hatte. Ihm erschien „bei der Lage der Gebäudefront gegen Norden die Anlage eines photographischen Ateliers besonders geeignet.“ Über der Fensterzone folgte das von Konsolen getragene vorkragende Gesims mit einem Rundbogenfries. Das Dach war gegen das Reichstagufer wegen des fotografischen Ateliers im Dachgeschoss vollständig verglast. Offenbar fand sich aber nur mit Schwierigkeiten ein Fotograf als Mieter für das Atelier, denn erst das Berliner Adressbuch von 1897 verzeichnet das Photographische Atelier R. Gentsch als Mieter. Ob wegen der schlechten Vermietbarkeit oder aus anderen Gründen: Das Atelier im Vorderhaus der Markthalle IV blieb ein Einzelfall unter den Nutzungen der Markthallen-Vorderhäuser. Wie an der Dorotheenstraße überwölbten Kreuzrippengewölbe die Durchfahrt und ein von einem Sterngewölbe überdeckter siebeneckiger Raum vermittelte zwischen der Achse Markthalle – immer noch in der Verlängerung der Schadowstraße – und der sie schräg schneidenden Achse der Ausfahrt nach dem Reichstagufer. Auch die übrige Gestaltung – Gliederung der Wände und Gewölbe mit Pfeilern, Gurten und Kreuzrippen aus Formsteinen, Verblendung der Wand- und Gewölbeflächen mit gelblichen Klinkern – orientierte sich am anderen Vorderhaus. Links und rechts der Durchfahrt lagen fünf kleinere Läden, in denen sich eine Obstwarenhandlung und andere, nicht direkt mit der Lebensmittelversorgung, aber mit der Haushaltsführung verbundene Geschäfte wie eine Küchengerätehandlung, eine Porzellanwarenhandlung und eine Seifenhandlung ansiedelten. Im mittleren Gewölbe befand sich der Eingang zur Speisewirtschaft für die Zeiten, in denen die Markthalle geschlossen und damit der übliche Zugang von der Halle her nicht möglich war. Der Wagenverkehr rollte wiederum auf Granitfahrrinnen und die Einfahrt ließ sich durch eine 9-Ampere-Bogenlampe erhellen. Markthalle Der Grundriss der Markthalle bildete ein beinahe quadratisches Rechteck von 55,02 mal 54,34 Metern. Das Mittelschiff lag in der Achse der Schadowstraße und richtete die Halle nach Norden aus. Mit 13 Metern war es etwas breiter als bei den anderen Kleinmarkthallen der ersten Bauphase, aber, bedingt durch eine flachere Dachneigung, nur unwesentlich höher. Acht 6,77 Meter hohe gusseiserne Säulen im Abstand von 6 Metern trugen auf beiden Seiten das Mittelschiff. Auf ihnen wurden viereckige, 5,7 Meter hohe Eisenpfosten eingesetzt, zwischen denen die schmiedeeisernen Bogenbinder des Mittelschiffes eingespannt waren. Ihre Obergurte folgten der flachen Neigung des Satteldachs, während die Untergurte als Rundbögen ausgebildet waren. Ein großer Versteifungsring von 1,7 Metern und zwei kleinere von 85 Zentimetern Durchmesser in den Bogenzwickeln dienten der statischen Aussteifung dieser Trägerkonstruktion. Als Pfetten zwischen diesen Bogenbindern befestigte I-Profil-Eisen trugen die Holzsparren des Satteldaches. In Höhe der Bogenbinder trat das Mittelschiff nach außen als ungefähr drei Meter hohe Fensterwand in Erscheinung. Kippflügel, gelochte Bleche und Glasjalousien dienten der Lüftung. Je drei 6,2 Meter breite Seitenschiffe begleiteten links und rechts das Mittelschiff, das sie um fünf Meter überragte. 6,77 Meter hohe Gusseisensäulen sowie an der linken Längswand 2,29 Meter und an der rechten Längswand 1,84 Meter lange Zungenmauern an den Außenmauern trugen die für die Beleuchtung und Belüftung günstigen Sheddächer mit ihren nach Norden ausgerichteten Fensterflächen. Auf der Seite der Speisewirtschaft am rechten nördlichen Ende der Halle ersetzten drei 2 Meter breite und 4 Meter lange Oberlichter das Sheddach. Die fensterlosen Längswände der Markthalle gestaltete Blankenstein wiederum mit dem bereits von den Durchfahrten bekannten Wechsel von hellgelben und hellroten Klinkern sowie glasierten Ziegeln. Über einem 31 Zentimeter hohen Granitsockel folgten im unteren Viertel der Wand hellrote Verblendersteine. Darüber schloss ein mit hellroten Formsteinen ausgeführtes Gesims die Sockelzone ab und leitete zu den oberen, hellgelb verblendeten Wandflächen über. Mit farbig glasierten Ziegeln abgesetzte Rechtecke gliederten diese Fläche im Rhythmus der Säulen. Ein Rosettenfries mit einem einfachen Gesims korrespondierte mit den Kapitellen der Gusseisensäulen und bildete den oberen Wandabschluss. Die Querwände dominierten die durch eine Eisen-Glas-Konstruktion verschlossenen Rundbogenportale des Mittelschiffes. Das Portal zum Hof an der Dorotheenstraße war etwas größer und besaß neben dem Tor für die Wagen in der Mitte links und rechts separate Türen für die Fußgänger. Das schmalere Portal am Reichstagufer, nur mit einer gemeinsamen Öffnung für Wagen und Fußgänger, begleiteten zwei Blendbögen. Eine in die Eisen-Glas-Konstruktion eingelassene Uhr zeigte den Marktbesuchern an beiden Enden des Mittelschiffes die Zeit. Die obere Wandzone, abgetrennt durch ein Gesims ungefähr auf der Höhe der Seitenschiffe, belebten drei gekoppelte Rundbogenfenster in der Mittelachse und je ein kleineres Rundbogenfenster links und rechts davon. Die Wandflächen an den Enden der Seitenschiffe erhielten neben der bereits von den Längswänden bekannten Gliederung mit verschiedenfarbigen Ziegeln zwei gekoppelte Rundbogenöffnungen. Je nach Bedarf wurden sie als Fenster oder Türen ausgebildet und führten dann zu Nebenräumen der Markthalle wie beispielsweise den Aborten. Speziell ausgezeichnet war der Zugang zur Speisewirtschaft – diese Wandfläche erhielt als einzige ein Rundbogenportal anstelle der gekoppelten Rundbogenöffnungen und war so im Marktgewimmel für die Besucher leichter zu finden. Das Mittelschiff verengte sich im Bereich der Durchfahrt auf neun Meter durch hineingezogene Marktstände und war mit sechs Zentimeter starken Eisenklinkern gepflastert. Die Gänge und Inseln mit den Marktständen bedeckten rutschfeste, gerippte Sinzinger Fliesen. Zwanzig elektrische Bogenlampen von je 6 Ampere in den Seitenhallen und zwei von 15 Ampere in der Mittelhalle beleuchteten die Markthalle in den frühen Morgenstunden. Nutzung der Standflächen in den 1890er Jahren Betraten die Besucher in den 1890er Jahren die Markthalle von der Dorotheenstraße aus, fanden sie zur Rechten sechs Stände für Seefische und zur Linken 24 Verkaufsstände für Flussfische und Krebse. Den Rest der Verkaufsfläche auf der rechten Seite nahmen hauptsächlich die 140 Stände für Butter, Käse, Delikatessen, Obst und Grünkram ein. Gegen das Speiserestaurant am Ende der Halle folgte eine Verkaufsfläche ohne feste Standeinrichtungen für Holz und an der nördlichen Hallenwand boten die Marktfrauen Vögel und Blumen an. In den Gängen auf der linken Hallenseite fanden die Marktbesucher an 110 Ständen ein reiches Angebot an Fleisch und Wild. Die 22 Verkaufsstände der letzten Standinsel verkauften Brot, Mehl und Vorkost (Vorspeisen) und an der Hallenwand standen wiederum Vögel und Blumen im Angebot. Keller und Verbindungstunnel Der gesamte Markthallenkomplex mit Ausnahme der Flächen unter der Durchfahrt an der Dorotheenstraße und der Lichthöfe war unterkellert. Die nahe Spree verursachte einen hohen Grundwasserstand, weshalb sich die Kellersohle nur 94 Zentimeter unter dem höchsten beobachteten Grundwasserspiegel absenken ließ. Die Kellergewölbe waren als Folge mit 2,10 Metern unter dem Mittelschiff und 2,26 Metern unter den Seitenschiffen eher niedrig. Zudem war eine aufwändige Grundwasserabdichtung erforderlich. Dazu wurden die Fundamente der Säulen und Pfeiler, welche die Kellerdecke stützen, durch 0,5 Meter starke Mauern aus gestampftem Zementbeton verbunden. Diese Mauern dienten als Widerlager für umgekehrte Tonnengewölbe, durch eine 2 Zentimeter dicke Zementschicht gegen das Grundwasser abgedichtet. Der gesamte Keller erhielt bis auf die Höhe des maximalen Grundwasserspiegels einen wasserdichten Zementputz. Der Keller diente hauptsächlich als Warenlager für die Händler. Vier Treppen in den Ecken und zwei in der Mitte des Hauptschiffes der Markthallen sowie zwei Aufzüge verbanden das Lager mit der Halle. Eine weitere Treppe führte zum westlicheren Verkaufsplatz der Obsthändler am Reichstagufer. Zwei Eiskeller erlaubten die Lagerung von besonders verderblichen Lebensmitteln und für konfiszierte Waren standen der Marktpolizei eigene, vom Lager der Markthalle durch Mauern getrennte Räumlichkeiten, zur Verfügung. Eher etwas düster war wohl der bei dieser Markthalle in den Keller verlegte Aufenthaltsraum für die Markthallenarbeiter, der aber zumindest einen direkten Zugang zum Lichthof im Erdgeschoss besaß. Im Maschinenraum in der südwestlichen Ecke produzierte ein mit Gas betriebener Generator anfangs die Elektrizität für die Beleuchtung der Markthalle und der Ladengeschäfte. Nach Anschluss an das öffentliche Stromnetz wurde er abgebaut. Um die auf dem Wasserweg angelieferten Waren direkt einlagern zu können, war der Keller durch einen Tunnel unter der Straße am Reichstagufer mit den Ladebühnen an der Spree verbunden. An der Ufermauer der Spree war der Tunnel durch eine 2,5 Meter breite, zweiflügelige Tür aus schmiedeeisernen Flachschienen abgeschlossen, die gleichzeitig die Lüftung des Markthallenkellers sicherstellte. Ein engmaschiges Drahtnetz verhinderte das Eindringen von Ratten. Da der Hochwasserstand höher lag als die Kellersohle, war hinter der Tür ein 13 Zentimeter breiter und 13 Zentimeter tiefer Falz angebracht, in dem sich bei Bedarf Dammbalken als Stütze einer wasserdichten Schüttung einbringen ließen. Der zugemauerte ehemalige Versorgungstunnel der Markthalle ist noch heute gut erkennbar in der Ufermauer des Reichstagufers und steht unter Denkmalschutz. Nebengebäude Zwischen der südlichen Außenmauer der Markthalle und der Grundstücksgrenze zu den ausgeschiedenen Bauplätzen an der Dorotheenstraße lagen sechs Meter breite Lichthöfe. Daran stießen als niedrige Markthallenanbauten die Aborte für Männer und Frauen sowie die Räumlichkeiten für die Marktpolizei. An der Nordmauer der Halle lagen gegen Westen mit dem Raum für den Halleninspektor, den Marktaufseher und den Fleischbeschauer weitere Verwaltungsräume, getrennt durch einen Lichthof. Die Nordmauer gegen Osten nahm der zweigeschossige Bau der Speisewirtschaft ein, die einen eigenen, vom Verkaufsplatz der Obstzüchter durch eine Mauer getrennten Wirtschaftshof mit anliegender Küche und Spülküche besaß. Das Obergeschoss der Speisewirtschaft nahm die Wohnung des Wirtes auf. Unrentabilität und Verkauf an die Reichspost Zum 1. Januar 1909 hatte das Deutsche Reich den Postscheckverkehr eingeführt. Für Berlin übernahm zunächst das 1906 erbaute Postamt NW 7 an der Dorotheenstraße 23–24, in der seit 1912 gültigen Nummerierung Dorotheenstraße 62–66, die Abwicklung des Postscheckverkehrs. Das neue Zahlungssystem war beliebt und die rasch anwachsende Zahl von Teilnehmern erforderte eine bauliche Erweiterung, die sich nicht mehr am bisherigen Standort verwirklichen ließ. Die Reichspost suchte daher dringend ein Grundstück in zentraler Lage und fand im Berliner Magistrat einen Verkäufer, der eine Lösung für die unrentabel gewordene Markthalle IV suchte. Seit dem Bau der Markthalle hatte sich die Dorotheenstadt wegen der zentralen Lage vom Wohn- zum Geschäftsviertel entwickelt. Moderne Geschäftsbauten verdrängten zunehmend die Wohnhäuser und der damit verbundene Verlust an Wohnbevölkerung ließ die Kunden der Markthalle und damit auch die Händler ausbleiben. Die Besetzung der Verkaufsstände sank nach der Jahrhundertwende von 53,1 Prozent im Jahr 1901 auf 32,7 Prozent im Jahr 1911. So verkaufte der Magistrat die Markthalle IV gewinnbringend für 3.811.740 Mark an die Reichspost zum Neubau des Postscheckamtes. Im Verkaufsvertrag verpflichtete sich die Stadtverwaltung, die Markthalle bis zum 31. März 1913 zu schließen. Die beiden Verkaufsplätze der Werderschen Obstzüchter sollten nicht vor dem 1. Juli 1915 geschlossen werden, verblieben dann aber wegen Verzögerungen der Bauarbeiten infolge des Beginns des Ersten Weltkriegs bis in den Dezember 1917. Berliner Postscheckamt Die Planungen für den Um- und Neubau führte der Regierungsbaumeister Alfred Lempp durch. Mit dem Vorgängerbau übernahm er dessen eingebaute Lage im Inneren der Parzelle, die zumindest an der Dorotheenstraße wenig Raum für eine repräsentative Fassade bot. Wohl auch deshalb blieben das Vorderhaus an der Dorotheenstraße und die Keller der Markthallen erhalten, während die eigentliche Markthalle und das Vorderhaus am Reichstagufer 1913 abgebrochen wurden. Der viergeschossige Neubau des Postscheckamtes, teilweise mit ausgebautem Dachgeschoss, entstand im Grundstücksinnern über den Grundmauern der abgetragenen Markthalle. Neubau des Postscheckamtes Mit seinen schmalen Seitenflügeln an den Grundstücksgrenzen und einem breiteren Trakt ungefähr in der Mitte des Grundstücks umschloss das neue Postscheckamt einen Hof, den Lempp größtenteils mit der repräsentativen Kassenhalle überbaute. Die Verkürzung der Seitenflügel des Vorderhauses schuf Platz für einen kleinen Vorplatz vor dem Neubau. Die Durchfahrt, nun Durchgang zum Haupteingang des Postscheckamtes, erhielt eine heute noch erhaltene neue Wandgestaltung mit neuer Decke. Anstelle von Blankensteins wechselnden Kreuz- und Tonnengewölben trat ein schlichtes Tonnengewölbe, dessen Fläche sich kreuzende Rippen aus Stuck in Kassetten gliedern. Der Bildhauer Hermann Feuerhahn gestaltete unterstützt von der Firma Christoph Hasselwander die Werksteineinfassungen der Fenster der neuen Hinterfassade und weitere Bauplastik in neoklassizistischen Formen mit Jugendstilanklängen. Die Wandflächen erhielten einen schlichten Edelputz und über dem Schlussstein des Durchgangs thronte neu eine Merkurstatue. Zwei Kugelleuchten in Bronzewandhalterungen an der Hinterfassade sowie zwei Leuchter im Durchgang beleuchteten Durchfahrt und Hof. Eine Streifenquaderung bis auf die Höhe des Kämpfers des Durchfahrtbogens setzte sich an den Querwänden des Hofes fort und fand ihre Entsprechung in der Fassade des Postscheckamtes. Zwei Treppen mit flachen Stufen leiteten die Kunden durch den Vorhof zum Haupteingang des Postscheckamtes. Die Restflächen des Hofes links und rechts waren mit Rasen bepflanzt. Zwei dorische Doppelsäulen fassten den als einstöckigen Vorbau vor die geschwungene Fassade des Mittelbaues tretenden Haupteingang. Dahinter gelangten die Besucher in die über drei Geschosse reichende Eingangshalle mit einer doppelläufigen Treppenanlage links und rechts. Die repräsentative Treppenanlage mit den Pfeilerarkaden und den kunstvoll geschmiedeten Brüstungen der Firma Eduard Puls, die massiven Holztüren mit ihren reich profilierten Rahmen, die mit farbigen Gläsern eingesetzten Fenster, die ovale, mit Stuckaturen und Malereien verzierte Decke mit dem großen Leuchter zeugten vom Selbstbewusstsein des größten der 13 Postscheckämter des Deutschen Reiches. Sie stand nicht hinter der Pracht der Geschäftsräume der Banken zurück, die im Gegensatz zu den Postscheckämtern nur ausgewählte, kapitalkräftige Kunden bedienten. Das Herz des Gebäudes, die anschließende Kassenhalle, war ein quadratischer Raum vom 18 Metern Seitenlänge, den eine mit farbigen Gläsern eingelegte Glaskuppel mit einem großen Reichsadler zierte. Die Glaserarbeiten führte die Firma Moerike & Reich in Groß-Lichterfelde aus, die Kunstschmiedearbeiten erledigte wie im Treppenhaus die Firma Eduard Puls in Berlin-Tempelhof. Schwere Eichenholzmöbel vermittelten den Kunden, die an 20 Zahlstellen und zwei Scheckannahmestellen am Ende der Schalterhalle bedient wurden, das Gefühl von Solidität und Vertrauen. Im dahinterliegenden Raum des Mitteltraktes – nicht mehr für die Kunden zugänglich – befand sich die Geldannahme mit dem Tresorraum. Das Erdgeschoss im östlichen Seitenflügel nahm die Schriftwechselstelle ein, während im westlichen Trakt die Druckerei und die Drucksachenverwaltung untergebracht waren. Der Warenverkehr erfolgte über den kleinen Hof, der über eine Durchfahrt im Erdgeschoss des Mitteltraktes mit dem Reichstagufer verbunden war. In den oberen Geschossen reihten sich entlang der Gänge in den Seitentrakten die Büros für den Postdirektor, die Postinspektoren, den Personaldienst und verschiedene Räume für die Kanzlei, während die Scheckstelle als großer Saal die gesamte Fläche des Mittelbaues bedeckte. Im zweiten Obergeschoss arbeiteten die Angestellten der Kontostelle in großen Arbeitssälen. Die am Ende der Seitentrakte nach dem Mittelbau angesetzten Treppenhäuser markierten bereits die angedachte und später auch durchgeführte Erweiterung des Gebäudes zu einer Doppelhofanlage bis zum Reichstagufer. Die Bauarbeiten für das Postscheckamt begannen am 17. Juli 1913, dreieinhalb Monate nach Schließung der Markthalle. Am 29. Januar 1917 öffnete das Postscheckamt Dorotheenstraße nach vierjähriger Bauzeit seine Tore für die Kundschaft. Hausrohrpostanlage Die seinerzeit modernste Technik unterstützte die Scheckverarbeitung. Von den beiden Annahmestellen in der Kassenhalle gelangten die Schecks über einen Bandaufzug, eine Art vertikales Förderband, in die direkt darüber liegende Scheckstelle. Nach Eintrag in einem Merkbuch beförderte die Hausrohrpostanlage die Schecks innerhalb des Geschosses von der Kontrollstelle auf Verteilstellen, wo sie Büroboten zu den Arbeitsplätzen der Angestellten brachten. Nach Prüfung des Schecks gelangten diese über den gleichen Weg wieder zurück zur Kontrollstelle. Ein weiterer Bandaufzug beförderte sie nun ins zweite Obergeschoss zur Verbuchung durch die Kontostelle – auch hier übernahm die Rohrpost die Feinverteilung innerhalb des Stockwerks. In Stößen gebündelt gelangten die Schecks schließlich wieder in Fallschächten ins Erdgeschoss und über Rohrpost an die 20 Zahlstellen. Jede Zahlstelle verfügte über einen eigenen Rohrpostanschluss, aber während in den oberen Geschossen die Rohre der Rohrpost offen unter der Decke geführt wurden, verlegte die Reichspost die Rohre aus Rücksicht auf die architektonische Gestaltung der Halle an die Decke des darunterliegenden Kellergeschosses. Erweiterungsbau am Reichstagufer Die Bebauung des restlichen Grundstücks am Reichstagufer verzögerte sich durch den weitgehenden Baustopp während des Ersten Weltkriegs. In der Zeitschrift Berliner Architekturwelt veröffentlichte Lempp 1918 zusammen mit dem Bericht über den Neubau bereits einen Grundriss für den Erweiterungsbau, der erst später und verändert zur Ausführung kam. Die Bauarbeiten begannen Ende 1920 und kamen im Oktober 1923 zum Abschluss. Der Erweiterungsbau aus einem fünf-, im Mittelteil sechsgeschossigen Gebäudetrakt entlang der Spree verbindet sich mit seinen zwei Seitentrakten entlang der Grundstücksgrenzen mit dem Bau von 1917 und umschließt den mit einer Durchfahrt erschlossenen Hof. Auch bei dieser Erweiterung nutzte die Reichspost den Keller der ehemaligen Markthalle und erweiterte ihn unter die ehemaligen Verkaufsflächen der Obsthändler. Der Erweiterungsbau umfasste keine Räume für den Publikumsverkehr. Die Geschosse, auch die beiden ausgebauten Dachgeschosse, erhielten keine weiteren Unterteilungen durch Trennwände, sondern wurden als große Arbeitssäle eingerichtet. Die Fassade des Neubaus von 1917 war mit 18 Metern recht schmal und versteckte sich im engen Innenhof hinter dem Vorderhaus der ehemaligen Markthalle an der Dorotheenstraße. Mit der 57 Meter langen Fassade am Reichstagufer konnte das Postscheckamt nun auch nach außen würdig in Erscheinung treten. Der Mittelteil mit sieben Fensterachsen enthält im Erdgeschoss in den mittleren drei Achsen die Durchfahrten zum Hof. Er tritt neben den beiden dreiachsigen Seitenfassaden leicht vor. Die Streifenquaderung verleiht dem Erdgeschoss die notwendige Schwere als „Sockel“ für die darüberliegenden Geschosse. Acht Säulen mit ionischen Kapitellen verklammern die vier Obergeschosse des Mittelteils und tragen das Hauptgesims. Darüber wechselt im fünften Obergeschoss des Mittelteils die rechteckige Form der Fenster zu Rundbogenfenstern. Beim Bau der Erweiterung erhielt auch der Mittelflügel des Postscheckamtes ein fünftes Geschoss, und 1925 integrierte die Reichspost das ehemalige Hotel Prinz-Heinrich an der Dorotheenstraße 22, das sie bereits 1915/1916 zusammen mit dem Gebäude Dorotheenstraße 25 erworben hatte. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit Im Zweiten Weltkrieg beschädigten Bomben im Januar 1944 das Dach des ehemaligen Vordergebäudes an der Dorotheenstraße und zerstörten die Glaskuppel der Halle. Die Schäden am Postscheckamt waren aber nicht schwer, sodass der am Ende des Krieges völlig zusammengebrochene Postscheckverkehr bereits am 25. Juli 1945 wieder aufgenommen werden konnte. Durch die Währungsreform am 20. Juni 1948 mit der Einführung der Deutschen Mark in den westlichen Sektoren und der anschließenden Berlin-Blockade verlor das Postscheckamt seine Bedeutung für Gesamt-Berlin. Die Wochenschau Welt im Film der britischen und amerikanischen Besatzungsmächte berichtete am 20. August 1948 von der Eröffnung eines eigenen Postscheckamtes für West-Berlin. Anlässlich der 1951 in Ost-Berlin stattfindenden Weltfestspiele der Jugend und Studenten erhielt das Postscheckamt eine zeitgemäße Modernisierung des äußeren Erscheinungsbildes. Beim Vorderhaus an der Dorotheenstraße wurden die Terrakotten, Formsteine, Sandsteingliederungen und Sgraffito-Felder für eine einfache Kratzputzfassade abgeschlagen, einzig belebt durch den großen Schriftzug „POSTSCHECKAMT“ über dem Portal und die Ladenschilder der HO-Filiale, die ins Vorderhaus gezogen war. In der Schalterhalle verschwand der letzte Stuck, der nach den Zerstörungen des Krieges verblieben war. Seit Anbeginn begleitete die Automatisierung den Postscheckverkehr als Voraussetzung zur Bewältigung der stetig wachsenden Aufträge. Ab Beginn der 1970er Jahre verdrängten elektronische Buchungsverfahren die bisherigen mechanischen und elektromechanischen Rechen- und Buchungsmaschinen. Die Deutsche Post der DDR ließ in der ehemaligen Schalterhalle ihr Rechenzentrum mit Anlagen zur elektronischen Datenverarbeitung installieren. Diese Umbauten waren mit dem Verlust letzter Überreste der historischen Schalterhalle von 1917 verbunden und führten zu schwerwiegenden Eingriffen in der Eingangshalle und im Treppenhaus. Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 vereinigten sich auch die Deutsche Post der DDR und die Deutsche Bundespost. Das Rechenzentrum wurde nicht mehr benötigt und so endete die Nutzung des Gebäudes durch die Post nach beinahe 80 Jahren 1996. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Nach dem Umzug von Bonn nach Berlin sollte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung möglichst nahe der Regierungszentrale Platz finden. Ein Beschluss des Bundeskabinetts bestimmte dafür den Straßenblock zwischen Dorotheenstraße und Reichstagufer: insgesamt acht Parzellen mit Bebauung vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zu Plattenbauten aus DDR-Zeiten, darunter das Vorderhaus der Markthalle und die Gebäude des Postscheckamtes. Die Entwurfsaufgabe des 1995 ausgeschriebenen Wettbewerbs forderte neben Büros für die rund 550 Mitarbeiter Infrastrukturen für Pressekonferenzen und andere Veranstaltungen sowie Räume für die Bibliothek und das Archiv mit acht Millionen Zeitungsausschnitten und 1,5 Millionen Fotografien. Die Realisierung des Siegerprojektes des Architekturbüros KSP Engel und Zimmermann zerfiel in drei Bauabschnitte, die im Oktober 1997, Oktober 1998 und August 2000 vollendet wurden. Im dritten Bauabschnitt befreiten die Architekten die ehemalige Kassenhalle des Postscheckamtes von späteren Einbauten und ersetzten die im Zweiten Weltkrieg verlorene Glaskuppel durch eine moderne Stahl-Glas-Konstruktion. Der runde, repräsentative Saal, benannt nach dem Widerstandskämpfer Theodor Haubach, dient Pressegesprächen und weiteren besonderen Veranstaltungen des Presse- und Informationsamtes. Ein überraschend aufgefundener Katalog der Firma Ernst March mit Fotografien der Terrakottaplatten und Formsteine sowie historisches Bildmaterial erlaubte die Rekonstruktion der Fassade an der Dorotheenstraße in der ursprünglichen, von Blankenstein entworfenen Gestalt. Nur die Jahreszahlen im zweiten Obergeschoss wurden verändert – mit 1886 dem Jahr der Eröffnung der Markthalle, 1917 dem Jahr der Eröffnung des Postscheckamtes und 1999 dem Jahr der Generalsanierung nennen sie die prägenden Eckdaten in der Geschichte des Gebäudekomplexes. Siehe auch Liste Kulturdenkmale in Berlin-Mitte Literatur Jochen Boberg (Hrsg.): Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert (= Industriekultur deutscher Städte und Regionen. Berlin. Band 1). C. H. Beck, München 1984, ISBN 3-406-30201-7, S. 106–113 und 166–168. Thorsten Knoll: Berliner Markthallen (= Berlinische Reminiszenzen, 69). Haude und Spener, Berlin 1994, ISBN 3-7759-0392-5. August Lindemann: Die Markthallen Berlins. Ihre baulichen Anlagen und Betriebseinrichtungen im Auftrage des Magistrats. Springer, Berlin 1899, S. 41–43 sowie Tafeln 17 und 18. ub.tu-berlin.de Weblinks Einträge in der Berliner Landesdenkmalliste: , und Bild des Inneren der Markthalle 1886. In: Architekturmuseum der TU Berlin. Innenansicht der Markthalle, Foto von Hermann Rückwardt. In: Architekturmuseum der TU Berlin. Bild des Vorderhauses Dorotheenstraße nach der Umnutzung zum Postscheckamt, um 1930/40 Nachkriegsbild des Vorderhauses Dorotheenstraße aus den 1950er Jahren mit der vereinfachten Fassade restaurierung-am-oberbaum.de Liste denkmalgeschützter Gebäude des Post- und Fernmeldewesens Einzelnachweise Markthalle 04 Markthalle 04 Berlin Markthalle 04 Markthalle 04 Postgebäude in Berlin Berliner Postgeschichte Behörde (Deutschland) Dorotheenstraße (Berlin)
3783852
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdlicher%20Felsenpython
Südlicher Felsenpython
Der Südliche Felsenpython (Python natalensis) ist eine Schlangenart aus der Familie der Pythons (Pythonidae) und wird dort in die Unterfamilie der Pythons gestellt. Er wurde lange als Unterart des Nördlichen Felsenpythons (Python sebae) betrachtet und erst 1999 als eigene Art anerkannt. Mit gesicherten Längen über fünf Meter gehört der Südliche Felsenpython zu den größten Schlangen der Welt. Sein Verbreitungsgebiet umfasst tropische und subtropische Teile von Zentral- bis Südafrika. Die Art bewohnt überwiegend offene Savannenlandschaften in nicht zu großer Entfernung von Gewässern. Als Kulturflüchter meidet er menschliche Siedlungen und wird nur gelegentlich auf mäßig intensiv bewirtschafteten Plantagen angetroffen. Die Nahrung besteht je nach Größe der Pythons aus kleinen bis mittelgroßen, sehr selten auch großen Wirbeltieren. Erwachsene Tiere fressen häufig kleine Antilopen. In Extremfällen werden auch über 25 Kilogramm schwere Beutetiere wie halbwüchsige Impalas, Wasserbock-Kitze und kleinere Geparde erbeutet. Der Python tötet seine Beute durch Erwürgen. Südliche Felsenpythons sind wie alle Arten der Gattung Python eierlegend (ovipar) und zählen zu den Arten, bei denen die Weibchen die Bebrütungstemperatur nicht durch Muskelzittern, sondern durch tägliches Sonnen aufrechterhalten. Aufgrund direkter Verfolgung und Habitatzerstörung ist die Art in vielen Bereichen ihres Verbreitungsgebietes zurückgegangen, gilt laut IUCN aber noch als ungefährdet. Beschreibung Juvenile Tiere sind recht schlank gebaut, adulte Südliche Felsenpythons haben jedoch einen sehr kräftigen Körper. Der breite, große Kopf ist deutlich vom Hals abgesetzt. Die Schnauze ist gegen die Spitze hin abgerundet. Hier sitzen die Nasenlöcher schräg zwischen Kopfoberseite und Kopfseite auf. Der Greifschwanz macht bei Weibchen etwa 11 % und bei Männchen bis über 13 % der Gesamtlänge aus. Aftersporne sind bei Männchen größer ausgebildet als bei Weibchen. Beschuppung Dem großen Paar Internasalia (Zwischennasenschilde) folgen zwei große Paare Präfrontalia (Vorstirnschilde). Die übrige Kopfoberseite ist charakteristischerweise mit kleinen, unregelmäßigen Schuppen bedeckt. So sind die Frontalia (Stirnschilde), im Gegensatz zum Nördlichen Felsenpython, in viele Einzelschuppen geteilt und nicht mehr als solche erkennbar. Auf der Seite des Kopfes finden sich viele kleine Lorealia (Zügelschilde). Ihre Anzahl ist geringer als beim Nördlichen Felsenpython. Um das Auge liegt ein Ring aus 8 bis 13 Circumorbitalia (augenumfassende Schilde). Davon sind die Supraocularia (Überaugenschilde) im Unterschied zur anderen Art in zwei bis drei Einzelschilde geteilt. Es sind ein oberes großes und ein bis zwei kleinere untere Präocularia (Voraugenschilde) ausgebildet, drei bis vier Postocularia (Hinteraugenschilde) und meist drei Infraocularia. Das auch von oben sichtbare Rostrale (Schnauzenschild) trägt zwei tiefe Labialgruben. Von den 10 bis 16 Supralabialia (Oberlippenschilde) besitzen die zwei vordersten eine Labialgrube. Es gibt 17 bis 24 Infralabialia (Unterlippenschilde), wovon die ersten 4 bis 6 schwach erkennbare Labialgruben tragen. Die Anzahl der Ventralia (Bauchschilde) variiert je nach Herkunft der Individuen zwischen 260 und 291, die Anzahl der dorsalen Schuppenreihen in der Körpermitte zwischen 78 und 99. Von der Kloake bis zur Schwanzspitze finden sich 63 bis 84 paarige Subcaudalia (Schwanzunterseitenschilde). Färbung Die Grundfarbe reicht von hellbraun, orange, olivgrün bis gräulich. Die Körpermusterung ist sehr variabel. Im vorderen Körperdrittel sind große, tendenziell rechteckförmige, dunkelbraune, schwarzgerandete Sattelflecken vorhanden, die im weiteren Verlauf Richtung Schwanz fusionieren und ein durchgehendes dunkles Rückenband ausbilden. Auf diesem dunklen Band verlaufen am Rande zu den Flanken hin und entlang der Wirbelsäule helle Flecken. Letztere verschmelzen auf der hinteren Körperhälfte zu langgezogenen Streifen. Die dunkle Rückenmusterung wird ringsum durch eine dünne, eher undeutliche helle Aussparung von der Grundfarbe abgegrenzt. Entlang der Flanken befinden sich große, schmale dunkelbraune Flecken mit teilweise aufgehellten Zentren. In der hinteren Körperhälfte verschmelzen die Flankenflecken häufig untereinander und mit der Rückenmusterung. Bei etwa 25 % der Tiere bleibt zwischen der dunklen Musterung der Schwanzoberseite zentral ein langer, hellbraun-streifenförmiger Bereich frei. Bei 50 % ist dieser Bereich unterbrochen und bei 25 % fehlt er komplett. Am weißlichen Bauch finden sich vereinzelt schwarze Flecken, auf der Schwanzunterseite werden sie zahlreicher. Der Kopf des Südlichen Felsenpythons ist generell weniger kontrastreich gefärbt und die Musterung spärlicher ausgebildet als beim Nördlichen Felsenpython. Die hellbraune bis blassrosa gefärbte Kopfoberseite trägt ein pfeilspitzenförmiges dunkelbraunes Muster, das von der Nase über die Augen bis zum Nacken zieht und in seiner Mitte einen hellen Punkt einschließt. Auf der Seite des Kopfes zieht ein dünner dunkler Streifen hinter dem Nasenloch zum Auge hin. Auf der Oberlippe unterhalb des Auges liegt ein kleines dunkles Dreieck. Es ist typischerweise reduziert oder in wenige kleine Flecken zerstückelt. Hinter dem Auge läuft ein dunkles, in der Breite nur etwa dem Augendurchmesser entsprechendes Band bis zum hinteren Maulrand. Dieses Band kann in seinem Zentrum deutlich aufgehellt sein. Die weiße Kopfunterseite ist auf der Unterlippe und auf der Kehle mit wenigen kleinen Flecken gemustert. Auch die übrige Kopfunterseite trägt gewöhnlich einige dunkle Flecken. Die Iris ist dunkelbraun und von der schwarzen Pupille kaum abgrenzbar. Länge Südliche Felsenpythons erreichen durchschnittlich eine Gesamtlänge zwischen 2,8 und 4 Meter. Tiere mit einer Gesamtlänge von über 4,6 Meter sind bereits sehr selten. Hinsichtlich Körperlänge und -gewicht ist bei dieser Art ein Geschlechtsdimorphismus vorhanden: Weibchen sind im Mittel deutlich größer und schwerer als Männchen. Von 75 in Südafrika untersuchten Tieren hatte das längste Weibchen eine Gesamtlänge von 4,34 Meter und wog 53,4 Kilogramm. Das größte Männchen maß gesamthaft 4,23 Meter und wog 31,1 Kilogramm. In der Vergangenheit wurden wiederholt massiv überdehnte Häute für Längenrekorde benutzt. Gut belegt ist nur ein Lebendexemplar mit 5,56 Meter Gesamtlänge. Es wurde im ehemaligen Königreich Zululand gefangen, von FitzSimons (1930) vermessen und im Schlangenpark von Port Elizabeth ausgestellt. Der bisher offenbar längste seriös vermessene Südliche Felsenpython stammt aus dem ehemaligen Transvaal und hatte laut Branch & Haacke (1980) eine Gesamtlänge von 5,8 Meter. Verbreitungsgebiet Das Verbreitungsgebiet des Südlichen Felsenpythons reicht auf dem afrikanischen Kontinent vom Äquator südlich bis nach Südafrika. In Zentralafrika ist die Art in Süd-Angola, im südöstlichen- und östlichen Teil der Demokratischen Republik Kongo und in Sambia vertreten. In Ostafrika findet man diesen Python in Kenia, Süd-Tansania, Burundi, Malawi, Mosambik und Simbabwe. Im südlichen Afrika erstreckt sich sein Vorkommen von Nord-Namibia über Botswana, Eswatini bis in den südöstlichen Teil von Südafrika. In der Provinz Ostkap in Südafrika lebt die südlichste Population. Sie ist vollständig isoliert und rund 350 Kilometer von anderen Populationen entfernt. Eine weitere offenbar isolierte Population findet sich im Kalahari-Gemsbok-Nationalpark des südafrikanischen ZF-Mgcawu-Distrikts, welche möglicherweise Verbindungen zu einer vermutlich ebenfalls isolierten Population in Süd-Namibia besitzt. Die Art fehlt in den ariden Gebieten im Westen und Süden von Namibia und Botswana und in der westlichen Hälfte von Südafrika. Es wird vermutet, dass sich der Südliche Felsenpython einst nordwärts entlang des westlichen und östlichen Tales des Großen Afrikanischen Grabenbruchs in vom Nördlichen Felsenpython dominierte Areale ausgebreitet hat. In Kenia existiert 40 Kilometer nordwestlich von Mwingi heute immer noch ein Gebiet der Überschneidung der Art mit einer Population des Südlichen Felsenpythons. Auch in Burundi und im Osten der Kivu-Provinz der Demokratischen Republik Kongo sind Reliktpopulationen vorhanden. In Tansania überlappen sich die Verbreitungsgebiete der beiden Arten auf etwa 900 Kilometer extensiv. In Angola weisen bisherige Untersuchungen auf eine vollständige räumliche Trennung der beiden Arten hin. Lebensraum Der Südliche Felsenpython bewohnt überwiegend offene Savannen. Daneben lebt er auch im Dickicht entlang von Küsten, auf Grasland, in offenen Waldgebieten, in felsigem Hügelland und teilweise sogar in Halbwüsten. Dabei ist er besonders häufig in der Nähe von permanenten Gewässern wie Flüssen und Seen anzutreffen. In der Provinz Haut-Katanga der Demokratischen Republik Kongo wird er auf dem Kundelungu-Plateau auf 1750 Meter über Meer gefunden. Im Nyanga-Distrikt von Simbabwe und möglicherweise auch in Kenia und Tansania erreicht er Höhenlagen von 2000 Meter über Meer. In Kenia und Nord-Tansania, wo sich die Verbreitung des Südlichen- und Nördlichen Felsenpythons überschneiden, ist die südliche Art primär in höheren Lagen präsent. Als weitgehender Kulturflüchter meidet der Südliche Felsenpython menschliche Siedlungen und intensiv landwirtschaftlich genutzte Flächen. Auf mäßig intensiv genutzten Plantagen macht er jedoch immer wieder Jagd auf Nagetiere. Zudem wird er gelegentlich durch Viehgeruch auf Farmen gelockt. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Verbreitungsgebiet dieses Pythons unter anderem durch zu kühle Umgebung beschränkt wird, da zu niedrige Temperaturen den Bruterfolg erheblich limitieren. So könnten Südliche Felsenpythons in kühleren Regionen zwar theoretisch überleben, sich jedoch nicht erfolgreich fortpflanzen. In vielen eher kargeren und klimatischen Schwankungen unterworfenen Gebieten ist das Vorkommen dieses Pythons zudem oft an die Präsenz von Erdferkeln, Warzenschweinen und Stachelschweinen gebunden, da deren Erdhöhlen ein optimales Mikrohabitat für die Art bilden. Verhalten Der Südliche Felsenpython ist eine vorwiegend bodenbewohnende Schlange, die sich auf dem Untergrund gemächlich bis zügig und in gerader Linie fortbewegt. Er gilt generell als sehr bewegungsfreudig. In Südafrika konnte mittels Peilsender nachgewiesen werden, dass adulte Individuen in wenigen Tagen Strecken von fünf Kilometern zurücklegen können und über ein ganzes Jahr hinweg ein Areal von mehr als 500 Hektar nutzen. Als exzellenter Kletterer hält er sich oft auch im Geäst von Büschen und Bäumen auf, um zu ruhen oder Beute aufzulauern. Für Letzteres verharrt er teilweise über Stunden von einem Ast hängend in angespannter Lauerhaltung, bis unter ihm ein Beutetier vorbeiläuft. Südliche Felsenpythons sind zudem gute Schwimmer, die sich teilweise über längere Perioden im Wasser aufhalten. Dabei tauchen sie gelegentlich über zwei Meter tief und können für mindestens 15 Minuten ohne Luft auskommen. Oft liegen sie auch an seichten Stellen am Ufer, wobei nur ihre Nasenlöcher und Augen über die Wasseroberfläche ragen. Aus dieser gut getarnten Position lauern sie häufig Beute auf, die sich zum Trinken ans Wasser begibt. Zumindest in Südafrika bewohnen die Südlichen Felsenpythons zwar Gebiete mit Gewässernähe, die Neigung zum Schwimmen ist unter den einzelnen Individuen aber unterschiedlich stark ausgeprägt. Nur durchschnittlich 3 % der Tage eines Jahres wurden von 24 untersuchten Tieren im Wasser verbracht. Das Baden unterlag dabei keinem saisonalen Trend. Um den durch das Wasser im Mittel auf 20 °C abgekühlten Körper zu wärmen, wurden von den Pythons über diese Zeit praktisch täglich sonnenexponierte Stellen an Land aufgesucht. Juvenile Tiere leben aufgrund zahlreicher Raubfeinde vordergründig im Verborgenen, während adulte Tiere sich oft täglich über viele Stunden an exponierten Stellen aufhalten. Als Versteck- und Ruheplätze wählt die Art unter anderem Baumkronen, Gebüsch, hohes Gras, hohle Baumstämme, verlassene Höhlen von Erdferkeln, Warzenschweinen und Stachelschweinen, tiefe Felsspalten, unbewohnte Termitenhügel und Ufervegetation. Südliche Felsenpythons sind sowohl tag- als auch nachtaktiv, wobei sie nachts meist die intensiveren Aktivitätsmuster zeigen. Die tageszeitliche Aktivität hängt allerdings eng mit der Umgebungstemperatur zusammen. In Südafrika, wo deutliche jahreszeitliche Temperaturunterschiede auftreten, ist die Art im Frühling sowohl am Tag als auch in der Nacht aktiv. Diese günstigen Temperaturen fördern ihre Bewegungsfreudigkeit und den Paarungstrieb. Mit zunehmender Hitze im Sommer beschränkt sich ihre Aktivität zunehmend auf die mildere Nacht; der Tag wird in schattigen, kühlenden Verstecken verbracht. Gegen Herbst werden die Temperaturen wiederum für tägliche und nächtliche Aktivitäten günstig. Um über die kühlen Wintermonate fasten zu können, intensivieren sie in dieser Zeit die Futtersuche. Im kühlen Winter ziehen sich die Pythons in klimatisch günstigere Höhlen zurück und verlassen sie meist nur um die warme Mittagszeit, um sich an der Sonne für etwa zwei Stunden zu wärmen. Teilweise verharren sie auch, bei stark eingeschränkter Aktivität, bis zu eine Woche durchgehend im Untergrund. In Südafrika werden an mehr als der Hälfte der klimatisch günstigen Tage im Jahr, davon insbesondere im Herbst und Winter, aktiv Plätze zum Sonnen aufgesucht. Hierzu legen sich die Pythons morgens an die Sonne und streben meist eine bemerkenswert einheitliche, geschlechtsunabhängige und nur gering saisonspezifische Ziel-Körpertemperatur von rund 32 °C an. Um nicht zu überhitzen, wechseln sie dann in eine schattige Position ins Gras oder unter sonstige Vegetation und nehmen manchmal eine Lauerposition ein. Je nach Sonneneinstrahlungsdauer pendeln sie dann teilweise mehr als fünfmal und über eine Periode von mehr als vier Stunden zwischen Sonnen- und Schattenplätzen und erhalten so ihre Körpertemperatur aufrecht. Ausnahmen bilden jedoch beuteverdauende Pythons wie auch trächtige und brütende Weibchen, die sich noch länger am Stück der Sonne aussetzen und hierdurch eine signifikant höhere Ziel-Körpertemperatur von zirka 35 °C erreichen. Generell heizen Südliche Felsenpythons zweimal so schnell auf, wie sie abkühlen. Kleine Pythons mit einer Gesamtlänge von einem Meter erwärmen sich ungefähr zweimal so schnell wie sehr große Tiere mit Gesamtlängen von 4 Metern. Dennoch ist die Aufheizperiode für große Tiere immer noch hinreichend kurz, dass nur ein kleiner Teil des Tages mit Sonnen verbracht werden muss. So benötigen adulte Tiere auch im Winter weniger als zwei Stunden, um ihren teilweise deutlich unter 15 °C kalten Körper auf die angestrebten 32 °C zu erwärmen. Ernährung Die Nahrung des Südlichen Felsenpythons besteht hauptsächlich aus gleichwarmen Tieren. Junge Individuen erbeuten häufig kleine Vögel und Mäuse, selten auch Eidechsen und Frösche. Zu den häufigsten Beutetieren subadulter und adulter Südlicher Felsenpythons gehören afrikanische Klippschliefer, Echte Hasen, Springhasen, Rohrratten und andere Nagetiere, Jungtiere von Vertretern Echter Schweine, Katzen, Schakale, kleine Affen wie Südliche Grünmeerkatzen, bodenbewohnende Vögel und kleine Antilopen wie Kronenducker, Blauducker, Sharpe-Greisböcke und Impala-Kitze. Gelegentlich werden zudem schwierig zu erbeutende Stachelschweine konsumiert. In seltenen Fällen werden auch Fische wie Buntbarsche, Warane, kleine Nilkrokodile, Enteneier und sogar Aas verschlungen. Individuen mit einer Gesamtlänge von 4 Meter sind in der Lage, Beute von 25 Kilogramm zu verschlingen. Von sehr großen Südlichen Felsenpythons werden daher in seltenen Fällen auch junge Sitatunga, junge Buntböcke, junge Nyala, kleine Riedböcke, Wasserbock-Kitze, Afrikanische Wildhunde und kleinere Geparde gefressen. Ausnahmsweise werden auch sehr große Beutetiere gefressen. So hat ein Südliches Felsenpythonweibchen mit einer Gesamtlänge von 4,7 Meter und einem Gewicht von 37 Kilogramm einen beinahe gleich schweren, halbwüchsigen Impala-Bock von 35 Kilogramm verschlungen. Es ist auch ein Fall belegt, wo ein Individuum mit einer Gesamtlänge von 4,88 Meter eine 59 Kilogramm schwere Impala erbeutet hat. Für die Futtersuche wandern auch adulte Südliche Felsenpythons oft umher. Noch häufiger legen sie sich aber auf die Lauer und passen ihre Beute im Geäst, am Ufer von Gewässern oder versteckt am Rande eines Wildpfades ab. Wie alle Riesenschlangen verbeißt sich der Südliche Felsenpython dann in die Beute und erstickt diese durch Umschlingen. Für proportional kleine Beute werden dazu eine, für größere zwei und für sehr große bis zu 5 Umwicklungen gemacht, wobei im letzten Fall der gesamte Körper einbezogen wird. Danach wird die Beute meist Kopf voran verschlungen, was teilweise mehr als 1,5 Stunden in Anspruch nimmt. Das Verschlingen von Stachelschweinen und gehörnten Antilopen führt nicht selten zu Wunden. So wurden schon mehrere Individuen beobachtet, denen Hörner die Speiseröhre, den Rippenbogen und die Haut durchstachen. Diese großen Wunden heilten jedoch in den meisten Fällen komplett und ohne Folgen. Fortpflanzung In Zentralafrika werden Paarung und Eiablage über das ganze Jahr hinweg beobachtet. Weiter südlich wird die Reproduktion zunehmend saisonabhängig. In Südafrika liegt die Paarungszeit anschließend an den kühlen Winter von Ende Juni bis Anfang September. Empfängliche Weibchen verhalten sich in dieser Zeit sehr aktiv und legen weite Strecken zurück. Männchen lokalisieren empfängliche Weibchen, indem sie ihren Pheromonspuren auf dem Boden folgen. Bis zu 12 Männchen wurden schon gleichzeitig beim Verfolgen eines Weibchens gesichtet. Dabei zeigten die Konkurrenten untereinander keinerlei Aggressionen. Gefangenschaftsbeobachtungen zufolge kriecht das dominierende Männchen während der Annäherungsperiode wiederholt von hinten über die Partnerin. Dabei drückt es sich an ihren Körper, versucht sie im Nackenbereich sanft mit der Schnauze zu stupsen und schmiegt seinen Schwanz seitlich an den ihrigen. Sofern das Weibchen paarungswillig ist, hebt es seinen Schwanz an und öffnet die Kloake. Dann folgt die 54 bis 173 Minuten dauernde Kopulation. Trächtige Südliche Felsenpythonweibchen wärmen sich im Vergleich zu nichtreproduktiven Tieren viel häufiger an der Sonne und streben dabei deutlich höhere Ziel-Körpertemperaturen von zirka 35 °C an. In Südafrika sucht sich das Weibchen nach einer Tragzeit von zirka zwei Monaten am Anfang der feuchten und heißen Jahreszeit von September bis Dezember einen Eiablageplatz. Hierzu dienen unter anderem leere Bauten von Erdferkeln, Warzenschweinen oder Stachelschweinen, verlassene Termitenhügel und tiefe Felsspalten. Bei der Eiablage von 14 Weibchen wurden zwischen 17 und 74 Eier, im Mittel 30 Eier, gezählt. Die Anzahl der Eier ist von Größe und Verfassung des Weibchens abhängig und kann selten auch bis gegen 100 Eier betragen. Diese 62–92 × 53–64 Millimeter messenden und 114 bis 149 Gramm wiegenden, klebrigen, weißlichen Eier werden sodann vom Weibchen umringelt und zu einem Turm von 45 bis 60 Zentimeter Durchmesser und einer Höhe von bis zu 30 Zentimeter geformt. Bruterfolg und Brutdauer hängen stark von einer relativ konstanten Inkubationstemperatur über 28 °C ab. Da die Bruthöhlentemperatur zumindest in Südafrika auch tagsüber meist unter dem Sollwert liegt, muss die Inkubationstemperatur aktiv erhöht werden. Im Gegensatz zu einigen weiteren Vertretern der Gattung Python können Südliche Felsenpython-Weibchen die Bruttemperatur nicht durch Muskelzittern erhöhen. Stattdessen verlassen sie in der Regel zweimal am Tag das Gelege, um ihren Körper an der Sonne auf zirka 35 °C – gelegentlich sogar bis unter die Letalitätsschwelle bei über 40 °C – aufzuheizen. Sofort kehren sie dann wieder zu ihrer Brut zurück, um die gewonnene Körpertemperatur an die Eier und die Brutkammer abzugeben. Weil die Körperfarbe aus hormonellen Gründen bei brütenden Weibchen nahezu schwarz wird, funktioniert die Wärmeaufnahme in dieser Periode noch effizienter. Vereinzelt wurde auch schon beobachtet, wie Weibchen das Wasser aufsuchten, mit nassem Körper zum Nistplatz zurückkehrten und so aktiv ein feuchtes Klima in der Brutkammer unterhielten. Generell verhalten sich die exponierten Weibchen unverhältnismäßig scheu und kehren schon bei geringer Störung schützend zum Gelege zurück. In Gefangenschaft schlüpfen die Jungtiere nach einer inkubationstemperaturabhängigen Periode von 79 bis 110 Tagen. Die 48 bis 63 Zentimeter langen und 66 bis 77 Gramm schweren Jungschlangen sind heller und deutlicher gemustert als die adulten Tiere. Beobachtungen in Südafrika zufolge verbleiben Mutter und Jungtiere noch etwa zwei Wochen beim Nest. Tagsüber verlassen sie meist die Bruthöhle, um sich vor deren Eingang zu sonnen. Abends kehrt die Mutter zum Nest zurück und ringelt sich um die leeren Eierschalen. Die Jungtiere klettern alsdann in die Schlingen der Mutter und nutzen sie als Wärmespender. Es wird vermutet, dass diese Wärme zur besseren Verdauung des noch im Magen gespeicherten Eidotters hilft. Eine Schutzfunktion scheint die Mutter während des gemeinsamen Zusammenseins nicht mehr zu erfüllen; sie ist sogar ziemlich furchtsam und sucht bei Störung als erste die Höhle auf. Nach zirka 12 Tagen häuten sich die Jungtiere das erste Mal, ein, zwei Tage später verlassen sie das Nest dann endgültig. Die Geschlechtsreife wird in Gefangenschaft mit 2,2 bis 6 Jahren bei einer Gesamtlänge um 2,5 Meter erreicht. In freier Wildbahn benötigt die Art wegen ungünstigerer Bedingungen teilweise vermutlich über 10 Jahre, bis sie geschlechtsreif wird. Die Eiablage und die anschließende Brutzeit ist für Weibchen mit einem sehr hohen Energieaufwand verbunden. Bis zum Ende der Inkubationsperiode magern sie auf durchschnittlich 60 % ihrer ursprünglichen Masse ab. Die Reproduktion stellt folglich ein erhöhtes Mortalitätsrisiko dar. Ein schon vor der Reproduktion geschwächtes, gesamthaft 4,37 Meter langes und 42 Kilogramm schweres Weibchen wog nach dem Brüten nur noch 12 Kilogramm und starb wenige Zeit später. Um die ursprüngliche Körpermasse wieder zu erreichen, dauert es einige Monate. Aus diesem Grund legen Weibchen in der Natur oft nur jedes zweite oder dritte Jahr Eier. Alter und Lebenserwartung Angaben zum Durchschnitts- und Maximalalter freilebender Individuen sind unbekannt. In Gefangenschaft werden Südliche Felsenpythons in der Regel 20 bis 25 Jahre alt. Fressfeinde und Parasiten Zu den zahlreichen Nesträubern zählen Ratten, Mangusten, Schakale und Warane. Des Weiteren hat der Südliche Felsenpython besonders in seiner Jugend viele Feinde. Darunter beispielsweise Krokodile, Leoparden, Honigdachse, wiederum Mangusten und ophiophage Schlangen wie die Kap-Feilennatter (Mehelya capenis). Im vollgefressenen Zustand sind auch größere Pythons in ihrer Fortbewegung und Verteidigung limitiert und können unter anderem zur Beute von Hyänen und Afrikanischen Wildhunden werden. Gelegentlich werden diese Pythons auch von Wildschweinen und insbesondere Warzenschweinen attackiert, die ihre Jungen verteidigen wollen. Dabei sind schon Südliche Felsenpythons von 4 Meter Gesamtlänge getötet worden. Ansonsten scheinen große Tiere weitgehend gegen Prädatoren immun zu sein. Wie die meisten anderen Schlangen werden Südliche Felsenpythons von einer Reihe Parasiten besiedelt. Zu den bisher beschriebenen Ektoparasiten zählen verschiedene Zecken und Milben. Unter den Endoparasiten wurden bislang in Eingeweiden und Blut diverse Protozoenarten, im Verdauungstrakt Bandwürmer (Cestoda) und Fadenwürmer (Nematoda) und im Lungengewebe Zungenwürmer (Pentastomida) der Art Armillifer nachgewiesen. Gefährdung Einst noch zahlreich und weit verbreitet, ist der Südliche Felsenpython inzwischen an vielen Orten seines Verbreitungsgebietes seltener geworden. Seit Jahrzehnten wird dieser Python in zahlreichen Ländern seines Verbreitungsgebietes für die Lederindustrie gefangen und getötet, allerdings in geringerem Umfang als einige Pythonarten in Südostasien. Auch essen viele afrikanische Stämme sein offenbar nahrhaftes Fleisch und nutzen das Fett für ihre traditionelle Medizin. Vielen Bauern ist inzwischen zwar bewusst, dass Südliche Felsenpythons durch das Vertilgen von Schädlingen wie Rohrratten, Klippschliefer und Schakalen auf landwirtschaftlichen Anbauflächen eine bedeutende Funktion erfüllen, trotzdem werden diese Schlangen immer noch häufig aus Angst vor Nutztierverlusten getötet. Manchmal werden sie auch aus Furcht oder in Angst um kleine Kinder getötet. Zudem neigt dieser Python als tendenzieller Kulturflüchter dazu, aus vom Menschen immer dichter besiedelten Gebieten zu verschwinden und intensiv genutzte landwirtschaftliche Anbauflächen zu meiden. So hat beispielsweise das starke und abrupte Kahlschlagen für die Expansion von Zuckerrohrplantagen in Südafrika zu lokalen Ausrottungen geführt. In neuerer Zeit fällt im südlichen Afrika auch die Anzahl auf Straßen überfahrener Pythons immer mehr ins Gewicht. Zudem nimmt der großflächige Einsatz von Elektrozäunen für Weiden zu, wodurch immer mehr Todesfälle durch Stromschlag zu verzeichnen sind. Dieser anhaltende Trend wird als zukünftige Bedrohung für einzelne Populationen gesehen. Die am Ostkap Südafrikas ansässige Population wurde als Folge intensiver Bejagung und Lebensraumzerstörungen bereits 1927 als ausgestorben befunden. In den folgenden Jahren wurden in diesem Gebiet zwar noch vereinzelt Individuen gesichtet, eine Erholung dieser angeschlagenen Population war jedoch nicht absehbar. Dank eines Wiederansiedlungsprojektes, durch welches zwischen 1980 und 1987 im Andries Vosloo Kudu Reservat 34 Südliche Felsenpythons ausgesetzt wurden, ist die Kap-Population inzwischen wieder wachsend. Seit die Art in ganz Südafrika 1988 gesetzlich unter Schutz gestellt wurde, haben hier zudem zahlreiche weitere Wiederansiedlungsbemühungen stattgefunden. Auch in zuvor noch nie von diesen Pythons bewohnten Arealen wurden teilweise erfolgreiche Auswilderungsversuche unternommen. In Namibia steht dieser Python sogar bereits seit 1975 präventiv unter Schutz, wodurch sich hier nie ein bedeutender Leder- und Lebendtierhandel etablieren konnte. Obwohl der Südliche Felsenpython in ländlichen Regionen Namibias auch heute noch relativ oft illegal getötet wird, sind seine Bestände in menschenfernen Arealen noch relativ hoch und sein großes Verbreitungsgebiet weitgehend erhalten geblieben. Trotz des über das gesamte Verbreitungsgebiet gesehenen sichtbaren Rückgangs gilt der Südliche Felsenpython immer noch als weit verbreitet und besonders in einigen Wildtierreservaten als ziemlich häufig. Aus diesem Grund wird er von der IUCN als ungefährdet betrachtet und nicht geführt. Im Washingtoner Artenschutzübereinkommen gilt dieser Python jedoch als gefährdet, ist im Anhang II gelistet und unterliegt Handelsbeschränkungen. Systematik Smith beschrieb die Art 1840 anhand südafrikanischer Exemplare aus der Nähe der Hafenstadt Durban, ehemals Port Natal. Der Südliche Felsenpython erhielt seinen wissenschaftlichen Namen Python natalensis aufgrund dieser Lokalität. Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den großen afrikanischen Pythons: Python sebae (Gmelin 1789), Python natalensis (Smith 1840) und Python saxuloides (Miller&Smith 1979) waren lange Zeit ungeklärt. Es mangelte an Belegexemplaren für die einzelnen Arten, insbesondere von Orten, wo sie in Sympatrie oder Parapatrie vorkommen. Daher wurden diese Pythons im 20. Jahrhundert größtenteils nur als eine monotypische Art anerkannt und unter dem Namen Python sebae geführt. Anhand einer großen Datensammlung grenzte Broadley 1984 Felsenpythons mit nördlicherem und südlicherem Verbreitungsgebiet voneinander ab, primär auf Basis der Fragmentierungsstärke der Kopfoberseitenschilder und auf Grund der Musterung der Kopfseite. Wegen allfälliger Hybridisierungen in Überschneidungsgebieten wies er den beiden Gruppen nur Unterartstatus zu und benannte die nördliche Form mit Python sebae sebae und die südliche Form mit Python sebae natalensis. Python saxuloides stellte sich als eine etwas abweichende kenianische Population von Python sebae natalensis heraus und wurde mit letzterer gleichgesetzt. 1999 wies Broadley den beiden Unterarten Artstatus zu, da neue präzisere Daten aus Gebieten mit extensiver Sympatrie in Burundi, Kenia und Tansania auf keinerlei Hybridisierungen hinwiesen. 2002 wurde jedoch von Mischformen in der Nähe der tansanischen Stadt Morogoro berichtet. Dennoch gilt die Einteilung in zwei separate Arten auf Grund der momentanen Datenlage noch als zutreffend. Es müssten weitere Belege für Hybridisierungen folgen oder eine genetische Analyse negativ ausfallen, um den Artstatus rückgängig zu machen. Unter den Eigentlichen Pythons sind der Nördliche und der Südliche Felsenpython am nächsten verwandt mit dem in Süd- und Südostasien beheimateten Tigerpython. Dies geht aus einer neueren molekulargenetischen Untersuchung hervor, die den Nördlichen Felsenpython und den Tigerpython einschließt. Südlicher Felsenpython und Mensch Verhalten gegenüber Menschen Wildlebende Südliche Felsenpythons sind normalerweise wenig aggressiv. Werden sie aufgeschreckt oder gestört, versuchen sie meist schnellstmöglich zu flüchten. Erst bei starker Bedrängnis verteidigen sie sich durch Abwehrbisse. Mit ihren scharfen, nach hinten gebogenen Zähnen können sie tiefe, infektiöse Wunden reißen. Durch in der Wildnis lebende Südliche Felsenpythons kommt es praktisch nie zu Unfällen. Trotzdem wurde ihnen wiederholt nachgesagt, Menschen attackiert oder gar getötet zu haben. Die meisten dieser Behauptungen haben sich bei genauer Nachforschung jedoch als grobe Übertreibungen und oft sogar als Angriffe vom Menschen auf den Python herausgestellt. Einzig ein Todesfall konnte bisher seriös belegt werden. Es handelt sich dabei um einen 13-jährigen, 1,3 Meter großen und 45 Kilogramm schweren Jungen, der 1978 im südafrikanischen Waterberg Distrikt beim Viehhüten von einem Südlichen Felsenpython mit einer Gesamtlänge von zirka 4,5 Meter attackiert und erstickt wurde. Es wird vermutet, dass der Geruch des weidenden Viehs und das plötzliche Erscheinen des Knaben zu einer Fehleinschätzung geführt und damit das Beutefangverhalten des Pythons ausgelöst haben. Kulturelles Wegen ihrer Größe und ihrer als geheimnisvoll geltenden Lebensweise existieren unter Eingeborenenstämmen unterschiedliche Legenden und mancher Aberglaube über diese Pythons. Sie sind die Lieblingstiere zahlreicher Medizinmänner und werden von manchen Stämmen als Inkorporation der Seelen Verstorbener gesehen. Daher werden sie in vielen Teilen Afrikas weder gestört noch getötet. Auf der anderen Seite werden Südliche Felsenpythons von gewissen Volksstämmen sehr gerne und in großen Mengen gegessen. In der Demokratischen Republik Kongo werden sie mit Speeren gejagt oder am Eingang ihrer Verstecke mit Schlingfallen gefangen. Besonders beliebt ist dabei auf Kohle gegrilltes Pythonsteak. Es gilt als dem Dorschfleisch ähnlich und als sehr schmackhaft, zart und aromatisch. Zudem wird das Pythonfett von vielen Eingeborenenstämmen äußerlich als Salbe gegen Rheuma und Brustbeschwerden verwendet und innerlich als Trank gegen verschiedenste Leiden eingenommen. Quellen Einzelnachweise Literatur G. J. Alexander: Thermal Biology of the Southern African Python (Python natalensis): Does temperature limit its distribution? In: R. W. Henderson and R. Powell (Hrsg.): Biology of the Boas and Pythons. Eagle Mountain Publishing Company, Eagle Mountain 2007, ISBN 978-0-9720154-3-1: S. 51–75. G. J. Alexander, J. Marais: A Guide to the Reptiles of Southern Africa. Struik Publishers, Cape Town 2007, ISBN 978-1-77007-386-9, S. 61–65. D. G. Broadley: A review of geographical variation in the African Python, Python sebae (Gemelin). British Journal of Herpetology 6, 1984, S. 359–367. D. G. Broadley: FitzSimons’ Snakes of Southern Africa. Delta Books 1983, ISBN 0-908387-04-0, S. 63–69. S. Spawls, K. Howell, R. Drewes, J. Ashe: A Field Guide to the Reptiles of East Africa. Academic Press 2002, ISBN 0-12-656470-1, S. 305–310. Weblinks Pythons
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ceratopsidae
Ceratopsidae
Die Ceratopsidae (auch Ceratopidae) sind eine Gruppe von Dinosauriern innerhalb der Ceratopsia. Es waren große, quadrupede (sich auf allen vieren fortbewegende) Tiere, die durch ihre Hörner auf der Nase und über den Augen sowie durch ihren Nackenschild charakterisiert waren. Diese dienten nach heutigem Kenntnisstand vermutlich der Identifikation und Auseinandersetzung mit Artgenossen und weniger der Feindabwehr. Mit ihren Zahnbatterien (reihenförmig angeordnete Zähne, die bei Abnutzung durch den nachfolgenden Zahn ersetzt wurden) waren diese Dinosaurier gut an eine pflanzliche Ernährung angepasst. Die Ceratopsidae sind fast nur aus der späten Oberkreide (vor rund 83 bis 66 Millionen Jahren) aus dem westlichen Nordamerika bekannt, wo sie in erdgeschichtlich kurzer Zeit eine große Artenvielfalt erreichten. Die einzige bekannte Ausnahme stellt der erst 2010 beschriebene Sinoceratops dar, der im heutigen China gefunden wurde. Beim Massenaussterben am Ende der Kreidezeit sind sie, wie alle Nichtvogel-Dinosaurier, ausgestorben. Es werden zwei Unterfamilien unterschieden, die Centrosaurinae und die Chasmosaurinae. Merkmale Allgemeines Die Ceratopsidae waren die größten Vertreter der Ceratopsia. Sie erreichten Längen von vier bis acht Metern und ein Gewicht von mehreren Tonnen. Es waren stämmig gebaute Tiere mit kräftigen Gliedmaßen, wobei die Hinterbeine deutlich länger als die Vorderbeine waren. Zwar sind einige Gattungen nur durch Einzelfunde bekannt, von vielen Taxa gibt es jedoch zahlreiche Funde des Schädels und des Rumpfskeletts. Fossile Überreste des Rumpfskeletts sind seltener, von einigen Gattungen wie Arrhinoceratops und Diceratus ist nur der Schädel bekannt. Schädel Der Schädel der Ceratopsidae war wie bei allen Neoceratopsia sehr groß und wuchtig. Einschließlich des Nackenschildes erreichte er bei Pentaceratops und Torosaurus über zwei Meter, was den längsten bekannten Schädel aller landbewohnenden Tiere darstellt. Von oben betrachtet war er annähernd dreieckig, wobei die zugespitzte Schnauze und die weit ausladende Wangenregion formgebend waren. Die Schnauzenspitze war wie bei allen Ceratopsia aus dem Rostralknochen (vor dem Oberkiefer) und dem Praedentale (vor dem Unterkiefer) gebildet. Die runzelige Oberfläche des Rostralknochens könnte darauf hinweisen, dass er von einer Keratinschicht umgeben gewesen sein könnte. Bei den Centrosaurinae war der Rostralknochen lateral (seitlich betrachtet) annähernd dreieckig, bei den Chasmosaurinae hingegen war er deutlich langgestreckter und nach unten gebogen. Das Praedentale war vorne nach oben gebogen und endete in einem spitzen Punkt, der am Rostralknochen anliegt. Die Schneidekante des Praedentales war bei den Chasmosaurinae flach und bei den Centrosaurinae seitlich gebogen. Das hinter dem Rostralknochen gelegene Zwischenkieferbein (Praemaxillare) war sehr hoch und eines der prägendsten Elemente des Gesichtsschädels. Die Nasenlöcher waren deutlich vergrößert und annähernd rund. Bei den Chasmosaurinae befand sich im Zwischenkieferbein ein vermutlich luftgefüllter Hohlraum, der bei den Centrosaurinae fehlte. Das Tränenbein (Lacrimale) war bei den Ceratopsidae verkleinert, ebenso die Fenestra antorbitalis (das Schädelfenster vor der Augenhöhle). Das Nasenbein trug einen knöchernen Höcker, der oft zu einem Nasenhorn verlängert war und vermutlich mit Keratin überzogen war. Bei vielen Centrosaurinae war das Nasenhorn lang, es erreichte bis zu 50 Zentimeter bei Styracosaurus. Bei Einiosaurus war es auffällig nach vorne gebogen, bei manchen Centrosaurinae wie Achelousaurus und Pachyrhinosaurus war es zu einem verdickten Höcker umgebildet. Die Nasenhörner der Chasmosaurinae sind einheitlich kurz. Die Überaugenhörner waren Auswüchse des Postorbitale, das auch den hinteren Rand der Augenhöhle und einen Teil der Wange bildete. Bei den Centrosaurinae waren die Überaugenhörner klein und erreichten maximal 15 Zentimeter Länge, manchmal waren sie zu Einbuchtungen oder kleinen Knochenhöckern umgebildet. Bei den Chasmosaurinae waren sie außer bei Chasmosaurus gut entwickelt und konnten bei den größeren Vertretern über einen Meter lang werden. Die ausladende Wangenregion war stark modifiziert. Jugale, Quadratojugale und Quadratum sind ineinandergeschoben, die Fenestra infratemporalis (das untere Schädelfenster der Schläfenregion) war nach unten verschoben und stark verkleinert. Ein weiterer Knochen, das Epijugale, bildete bei manchen Arten wie Pentaceratops auffällige Wangenhörner, bei anderen ist es unauffällig. Die Fenestra supratemporalis (das obere Schädelfenster der Schläfengegend) wurde aus dem Postorbitale, dem Scheitelbein (Parietale) und dem Schuppenbein (Squamosum) gebildet. Ein nur bei den Ceratopsidae vorhandenes Merkmal ist ein hinter der Schädelhöhle gelegener Hohlraum, der sich durch eine Fontanelle auf den Hinterkopf öffnet. Dieser Hohlraum fehlt bei Jungtieren und ist bei ausgewachsenen Tieren sehr variabel. Die Funktion dieses Hohlraums ist bis heute ungeklärt. Das neben den Hörnern auffälligste Merkmal der Ceratopsidae ist der Nackenschild, der aus dem Scheitel- und dem Schuppenbein gebildet wurde. Seine Länge betrug rund 60 bis 100 % der Länge des eigentlichen Schädels. Generell sind die Nackenschilde der Centrosaurinae kurz und die der Chasmosaurinae mit Ausnahme von Triceratops lang. Bei nahezu allen Arten fanden sich paarige Fenster im Schild, am größten waren sie bei Chasmosaurus und Pentaceratops, bei Triceratops waren sie hingegen geschlossen. Der äußere Rand des Schilds war mit wellenförmigen Verknöcherungen bedeckt, die Epoccipitalia genannt werden. Bei manchen Arten, insbesondere bei den Centrosaurinae, entwickelten sich die Epoccipitalia zu stachelähnlichen Strukturen, die auch nach vorne gerichtet sein konnten. Zähne Die Bezahnung der Ceratopsidae bestand aus Zahnbatterien, das sind reihenförmig angeordnete Zähne, die bei Abnutzung durch den nachfolgenden Zahn ersetzt wurden. Diese Form hat sich konvergent zu der der Hadrosauridae entwickelt. Die einzelnen Zähne standen in dicht gepackten Zahnreihen, jede Zahnposition verfügte über drei bis fünf Ersatzzähne. Die Anzahl der Zahnpositionen korreliert ungefähr mit der Schädelgröße: 28 bis 31 bei Centrosaurus und 36 bis 40 bei Triceratops. Die Okklusionsflächen des Gebisses standen annähernd senkrecht, was dafür spricht, dass die Zähne vorwiegend für eine schneidende Tätigkeit eingesetzt wurden. Rumpfskelett Die ersten Halswirbel der Ceratopsidae waren wie bei allen Coronosauria zum Syncervical verschmolzen, wobei umstritten ist, ob dieses aus den ersten drei oder vier Halswirbeln gebildet wurde. Die dahinterliegenden sechs Halswirbel waren kurz und breit. Danach befanden sich 12 freie Rückenwirbel, bis zu drei weitere Rückenwirbel waren mit den vier Kreuzbeinwirbeln und den ersten drei Schwanzwirbeln zum Kreuzbein (Sacrum) verwachsen. Der Schwanz der Ceratopsidae war lang, die genaue Anzahl der Schwanzwirbel ist aber nur in wenigen Fällen bekannt. So waren es bei Anchiceratops 38 oder 39, bei Styracosaurus hingegen 46, bei Pentaceratops sind 28 erhalten, wobei der letzte so klein ist, dass kaum mehr als fünf weitere vorhanden sein konnten. Der Schwanz wurde durch Chevronknochen (Y-förmige Fortsätze an der Unterseite der Schwanzwirbel) versteift. Die Gliedmaßen der Ceratopsidae waren robust gebaut, die Vordergliedmaßen waren wie bei fast allen Dinosauriern kürzer als die Hintergliedmaßen und erreichten nur rund 70 % von deren Länge. Bei den größeren Arten wiesen die Röhrenknochen stark vergrößerte Enden mit rauer Oberfläche auf und ähnelten so denen der Sauropoden. Dies könnte ein Anzeichen für dickes Knorpelgewebe darstellen. Bei den kleineren Arten sind die Enden der Röhrenknochen weniger ausgeprägt und die Oberfläche ist glatt. Im Schultergürtel der Ceratopsidae ist das relativ große Rabenbein (Coracoid) auffällig, das bei ausgewachsenen Tieren mit dem Schulterblatt verschmolz. Schlüsselbeine wurden nie gefunden. Der Oberarmknochen war länger als die Speiche. Der Vorderfuß war immer kleiner als der Hinterfuß und kurz und breit gebaut. Er endete in fünf Zehen, von denen die ersten drei in stumpfen Hufen und die letzten beiden in knöchernen Noppen endeten. Im Becken der Ceratopsidae war das Darmbein (Ilium) lang und tief, das Präpubis ragte ebenso weit nach vorne wie das Darmbein. Das Schambein (Pubis) war sehr kurz und das Sitzbein (Ischium) ist robust und gebogen, insbesondere bei den Chasmosaurinae. Der Oberschenkelknochen war stets länger als das Schienbein. Der Hinterfuß war kurz und kräftig und endete in vier Zehen mit stumpfen Hufen. Integument (Haut) Bei mehreren Funden von Ceratopsidae lassen sich Reste des Integuments (Haut) erkennen. Bei Chasmosaurus ist ein Teil der Beckenregion bekannt, hier war die Haut mit großen, rundlichen Platten mit bis zu 55 Millimeter Durchmesser bedeckt. Die Platten verliefen in unregelmäßigen Reihen und wurden zum Bauch hin kleiner. Die großen Platten waren rund 50 bis 100 Millimeter voneinander getrennt, die Räume dazwischen waren mit kleinen, unregelmäßig geformten Plättchen bedeckt. Ein weiterer Fund der Haut am Oberschenkel von Centrosaurus zeigt ein ähnliches Muster, nur waren hier die großen Platten weiter voneinander entfernt. Varianz und Geschlechtsdimorphismus Da von vielen Gattungen zahlreiche fossile Überreste vorhanden sind, lässt sich die Varianz innerhalb eines Taxons besser vergleichen als bei anderen, weniger bekannten Dinosauriern. So gibt es von Triceratops rund 50 vollständig oder teilweise erhaltene Schädel, die sich zum Teil leicht voneinander unterscheiden. Diese Unterschiede haben dazu geführt, dass 16 Arten der Gattung Triceratops beschrieben wurden. Die heutige Sichtweise geht eher davon aus, dass es sich dabei um innerartliche Variationen handelt, und fasst alle Funde zu einer oder höchstens zwei Arten zusammen. Damit zusammenhängend und auch verbunden mit der Suche nach der Funktion der Hörner und Nackenschilde ist die Frage eines Geschlechtsdimorphismus bei den Ceratopsidae, das heißt, ob es Unterschiede im Körperbau zwischen Männchen und Weibchen gab. Ein solcher Geschlechtsdimorphismus wurde bei mehreren Dinosauriern festgestellt, unter anderem auch bei Protoceratops, einem urtümlichen Vorfahren der Ceratopsidae. Auch bei den Ceratopsidae sind verschiedentlich geringe Geschlechtsdimorphismen postuliert worden, vorwiegend im Bereich der Hörner und des Nackenschildes. Auch wenn innerhalb eines Taxons zwei Morphen unterscheidbar sind, lässt sich nicht eindeutig sagen, ob dies auf Geschlechtsdimorphismus, auf mehrere Arten oder auf eine innerartliche Variation zurückzuführen ist. Dementsprechend gibt es keinen unzweifelhaften Beleg für einen Geschlechtsdimorphismus bei den Ceratopsidae – weder in der Körpergröße noch im Bau des Kopfschmuckes. Paläobiologie Sozialverhalten und Lebensraum Fossile Überreste von Ceratopsidae stammen meist von Einzeltieren, es gibt aber auch zahlreiche bone beds („Knochenlager“), bei denen die häufig zerstückelten Knochen von dutzenden, manchmal sogar tausenden Individuen gefunden wurden. Solche bone beds sind beispielsweise von Anchiceratops, Centrosaurus, Chasmosaurus, Einiosaurus, Pachyrhinosaurus und Styracosaurus bekannt, nicht aber von Triceratops, einem der häufigsten Ceratopsidae. Nahezu immer enthalten diese bone beds die Überreste einer einzigen Art und setzen sich aus Überresten von Jungtieren, subadulten (halbwüchsigen) und ausgewachsenen Tieren zusammen, während Einzelfunde meist von ausgewachsenen Tieren stammen. Funde von Überresten mehrerer Tiere an einem Ort müssen nicht zwangsläufig auf ein Gruppenleben hindeuten, sondern können auch ablagerungstechnisch bedingt sein. Es ist auch denkbar, dass in Dürreperioden viele ansonsten einzelgängerische Tiere bei Wasserstellen zusammengekommen sind und dort aufgrund des Versiegens der Quelle den Tod fanden. Tatsächlich deuten Gesteinsuntersuchungen aus dem Zeitraum der Ceratopsidae auf ein trockenes, jahreszeitlich stark schwankendes Klima hin. Aussagen über das Sozialverhalten der Ceratopsidae sind dementsprechend schwierig und es kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Arten in Gruppen lebten. Die Untersuchungen der Massenablagerungen lassen aber den Schluss zu, dass einige Arten zumindest einen Teil des Jahres Verbände mit Artgenossen bildeten. Auch über den bevorzugten Lebensraum gibt es noch Unklarheiten. Generell dürften sie aber eher offene Habitate bewohnt haben. Einige Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass diese Tiere in Küstengebieten häufiger als im Landesinneren waren. D. Brinkmann et al. halten ein Wanderverhalten für denkbar. Demzufolge könnten sie allein oder in kleinen Gruppen in Küstengebieten gelebt und sich dann zu großen Herden zusammengeschlossen haben, möglicherweise im Zusammenhang mit der Fortpflanzung. Funktion der Hörner und Nackenschilde Zur Funktion der Hörner und Nackenschilde sind mehrere Hypothesen aufgestellt worden. Die gängigste geht davon aus, dass sie der Verteidigung gegenüber Fressfeinden dienten. Die Hörner seien Stoßwaffen und die Schilde schützten den Nacken gegenüber Bissen. Hauptfressfeinde in diesem Szenario sind die Tyrannosauridae, insbesondere das „Late Cretaceous All-Star Game“ zwischen Tyrannosaurus und Triceratops ist ein beliebtes Motiv der populären Dinosaurierdarstellung. Diese Hypothese hat aber einige Schwachpunkte: Wenn Verteidigung das Hauptmotiv für die Entwicklung dieser Kopfauswüchse wäre, hätte nicht jede Ceratopsidae-Gattung ihre eigene Form der Hörner und Schilde entwickelt, von denen einige nutzlos oder sogar kontraproduktiv wären, wie die Rückbildung der Überaugenhörner bei vielen Centrosaurinae oder die hakenförmig nach vorn gebogenen Stacheln am Schildrand von Centrosaurus. Darüber hinaus waren die Schilde sehr dünn, sie maßen oft unter 2 Millimeter. Daneben waren sie mit Fenstern ausgestattet und mit zahlreichen Blutgefäßen versehen und daher kaum als Schutz vor Nackenbissen geeignet. Eine andere Hypothese sieht den Nackenschild als Ansatzstelle für eine stark vergrößerte Kaumuskulatur. Morphologische Gründe sprechen dagegen: So ist die Fenestra supratemporalis (das obere Schädelfenster der Schläfengegend) relativ klein, und eine glatte Stelle daneben wurde bereits als Ansatzpunkt der Kaumuskulatur ausgemacht, außerdem spricht auch der Bau der Oberfläche der Schilde dagegen. Schließlich ist zu bezweifeln, ob ein über einen Meter langer Kaumuskel tatsächlich einen evolutiven Vorteil gebracht hätte, da eine Verlängerung eines Muskels nicht im gleichen Ausmaß eine Kräftigung mit sich bringt. Eine dritte Hypothese, die erstmals von Wheeler 1978 formuliert wurde, sieht die Hörner und Schilde als Werkzeuge zur Thermoregulation. Diese Sichtweise stützt sich auf die Anzeichen von zahlreichen Blutgefäßen in diesen Strukturen verbunden mit dem Oberflächenzuwachs – der Nackenschild konnte mehr als einen Quadratmeter ausmachen. Zwar ist die Thermoregulationshypothese nicht unplausibel, sie erklärt aber nicht die starken morphologischen Unterschiede bei den einzelnen Gattungen. Eine vierte, erstmals 1961 von L. Davitashvili formulierte Hypothese besagt, dass die Hörner und Nackenschilde der Kommunikation und der Auseinandersetzung um Reviere oder Paarungspartner gedient hätten. Für diese Sichtweise spricht, dass sich die einzelnen Taxa oft nur im Bau der Hörner und Schilde unterschieden. Demzufolge könnten die Merkmale eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, wie sich die einzelnen Arten untereinander erkannt haben. Ein weiterer Punkt ist – wie Funde von Jungtieren zeigen –, dass diese Merkmale erst nach dem Erreichen der Erwachsenengröße voll ausgebildet waren, also erst zu dem Zeitpunkt, wo der Kampf um Reviere oder Paarungspartner einsetzt. Einige Stichwunden in der Wangenregion und den Schilden ließen sich auf Kämpfe mit Artgenossen zurückführen. In Zusammenhang mit der vermuteten zumindest zeitweiligen Bildung von größeren Herden lässt sich ein Szenario erahnen, in dem die Zurschaustellung der Kopfauswüchse, Drohgebärden oder Kämpfe zwischen Artgenossen eine Rolle spielten, bei denen es um Wettstreite um Territorien, das Paarungsvorrecht oder die Bildung von Rangordnungen ging. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2009 fand viele Verletzungen in den Schilden von Triceratops, verglichen mit wenigen Wunden bei Centrosaurus. Dieser Befund spricht dafür, dass Triceratops seine Hörner bei Kämpfen mit Artgenossen einsetzte, während bei Centrosaurus eher die Zurschaustellung die Hauptfunktion gewesen sein könnte (oder die Stöße gegen andere Körperteile gerichtet waren). Es ist durchaus denkbar, dass die Hörner und Nackenschilde mehreren Zwecken dienten, und außer der Ansatzstelle für eine überproportionale Kaumuskulatur könnten alle oben vorgestellten Hypothesen zutreffen. Auch in Analogie zu heute lebenden Tierarten gilt die Hypothese der Identifikation und Auseinandersetzung mit Artgenossen nach heutigem Kenntnisstand als am plausibelsten. Haltung und Fortbewegung Die Frage nach der Körperhaltung und Fortbewegung der Ceratopsidae hat sich als nicht leicht zu beantworten herausgestellt. Viele alte Zeichnungen ebenso wie die ersten Skelett-Aufbauten (Triceratops 1904 und Chasmosaurus 1923) zeigten die Tiere mit aufgerichteten, senkrechten Hinterbeinen und weit auseinandergespreizten, abgeknickten Vorderbeinen, bei denen die Oberarmknochen nahezu waagrecht gehalten wurden. Die Gründe dafür lagen wohl im Bau des Kopfes des Oberarmknochens und des Rabenbeins. Spätere Untersuchungen, etwa von Robert Bakker, sind hingegen zu dem Schluss gekommen, die Ceratopsidae hätten die Vorderbeine senkrecht und säulenartig gehalten. Anatomische Untersuchungen widersprachen dem und plädierten für eine halbaufgerichtete Haltung der Vorderbeine mit leicht nach außen gebogenen Ellbogen. Neben anatomischen Untersuchungen wurden auch Ichnofossilien (versteinerte Fußabdrücke) herangezogen. So kamen Paul und Christiansen zu dem Ergebnis, diese Tiere hätten ihre Vorderbeine annähernd gerade, also parallel zur Körperlängsebene (parasagittal), und mit nur leicht abgewinkelten Ellbogen gehalten. Ebenso umstritten ist die Frage, auf welche Weise und mit welcher Geschwindigkeit sich diese Tiere fortbewegen konnten. Aufgrund ihres vermuteten hohen Gewichts und ihrer massiven, eher kurzen Gliedmaßen gelten sie eher als schwerfällige, langsame Tiere. Nach den Berechnungen von R. A. Thulborn konnten sie eine Geschwindigkeit von 25 km/h erreichen. Paul und Christiansen kommen zu der Vermutung, dass sie zu einer dem Galopp ähnlichen Fortbewegung fähig waren und eine Geschwindigkeit ähnlich der der Nashörner (über 40 km/h) erreichen konnten. Nahrung Der Bau der Kiefer der Ceratopsidae mit den Zahnbatterien mit senkrechter Okklusionsfläche ist einzigartig unter den Wirbeltieren. Diese Spezialisation ist bei allen Ceratopsidae gleich und hat sich in der Entwicklungsgeschichte dieser Dinosaurier nicht mehr verändert. Die Zähne waren für eine schneidende, nicht aber mahlende Bewegung ausgerichtet. Das Kiefergelenk saß tiefer als die Zahnreihe und der Muskelfortsatz (Processus coronoideus) am Unterkieferast war vergrößert und bot den Ansatzpunkt für eine vermutlich sehr kräftige Kaumuskulatur, all das deutet auf eine hohe Beißkraft dieser Tiere hin. Die schmale, zugespitzte Schnauze, die die Ceratopsidae mit allen Ceratopsia gemeinsam hatten, gilt gemeinhin als Anzeichen für eine selektive Nahrungsaufnahme. Sie dürfte eher zum Zupacken und Ausrupfen, nicht aber zum Abbeißen geeignet gewesen sein. Möglicherweise hatten sie einen vergrößerten Verdauungstrakt mit symbiotischen Mikroorganismen, zur besseren Verwertung der schwer verdaulichen Pflanzennahrung. Denkbar sind beispielsweise ein mehrkammeriger Magen (wie bei den Wiederkäuern) oder ein vergrößerter Darmtrakt (wie bei den Unpaarhufern). Da der Kopf nahe beim Boden gehalten wurde, haben sie vermutlich vorwiegend krautige Pflanzen gefressen. Es ist auch denkbar, dass sie mit ihren Hörnern und Schnäbeln höhere Pflanzen heruntergebogen oder abgebrochen haben. Welche Pflanzen sie genau gefressen haben, ist allerdings nicht geklärt. Aufgrund ihrer großen Ausmaße, ihrer Zahnbatterien und ihrer möglichen Tendenz, größere Herden zu bilden, haben sie vermutlich minderwertige, stark faserhaltige Pflanzen verzehrt. Häufig werden Palmfarne und Palmen als Hauptnahrung angenommen. Fossile Überreste dieser Pflanzen finden sich jedoch kaum in den Gesteinsschichten, aus denen die Ceratopsidae bekannt sind. Es ist darum denkbar, dass Farne eine wichtige Rolle bei der Ernährung der Ceratopsidae gespielt haben. Coe et al. halten es für möglich, dass es regelrechte Farnprärien gab, die diese Tiere ernährten. Fortpflanzung und Entwicklung Über die Fortpflanzung und die Individualentwicklung der Ceratopsidae ist verglichen mit anderen Dinosauriern relativ wenig bekannt. Wie alle Dinosaurier haben sie Eier gelegt, eindeutig den Ceratopsidae zuordenbare Eierfunde gibt es jedoch bislang nicht. Ebenso wenig sind bislang Nester oder Schlüpflinge zutage gefördert worden. Anhand der Funde in den Massenablagerungen konnten von Sampson et al. drei Altersabstufungen identifiziert werden: juvenil (jugendlich), subadult (halbwüchsig) und adult (ausgewachsen). Dabei zeigt sich, dass die Unterscheidungsmerkmale im Bereich der Hörner und Nackenschilde sich erst bei den ausgewachsenen Tieren herausbildeten. Dementsprechend ist es sehr schwierig, die Jungtiere verschiedener Gattungen voneinander zu unterscheiden – zumindest der Centrosaurinae, der untersuchten Gruppe. Sampson et al. plädieren daher dafür, Taxa, die nur anhand von Fossilfunden von jugendlichen Tieren beschrieben wurden (Brachyceratops und Monoclonius), als Nomina dubia zu führen. Systematik Äußere Systematik und Entwicklungsgeschichte Die Ceratopsidae werden innerhalb der Ceratopsia in die Neoceratopsia eingegliedert und hier wiederum in die Coronosauria. Ihre Schwestergruppe ist Zuniceratops, mit dem sie die Ceratopsoidea bilden, entfernter sind sie mit den Protoceratopsidae und Leptoceratopsidae verwandt. Das kommt in einem vereinfachten Kladogramm der Ceratopsia zum Ausdruck: Ob die vorrangig aus Nordamerika bekannten Leptoceratopsidae oder die asiatischen Protoceratopsidae näher mit den Ceratopsoidea verwandt sind, ist umstritten. Im Gegensatz zum hier dargestellten Standpunkt geht eine Reihe von Untersuchungen davon aus, dass die Protoceratopsidae die Schwestergruppe der Ceratopsoidea seien. Die Ceratopsidae kamen fast ausschließlich im westlichen Nordamerika vor, Funde sind vom heutigen Alaska bis nach Mexiko bekannt. Da auch ein nächster Verwandter, Zuniceratops, dort lebte, dürfte die Gruppe sich auch auf diesem Kontinent entwickelt haben. Die einzige bekannte Ausnahme stellt der erst 2010 beschriebene Sinoceratops dar, der im heutigen China gefunden wurde. Die Ceratopsidae sind nur aus einem erdgeschichtlich relativ kurzen Zeitraum, vom Campanium bis zum Maastrichtium, aus der Oberkreide bekannt und damit rund 83 bis 66 Millionen Jahre alt. Innere Systematik Die Ceratopsidae lassen sich gut in zwei Unterfamilien einteilen, die Centrosaurinae und die Chasmosaurinae. Die Centrosaurinae besaßen in der Regel ein längeres Nasenhorn, kürzere oder fehlende Überaugenhörner und einen kürzeren Nackenschild. Bei den Chasmosaurinae war meistens das Nasenhorn kurz, die Überaugenhörner und der Nackenschild hingegen verlängert. (Näheres siehe unter Merkmale.) Die nachfolgende Gattungsliste folgt P. Dodson et al. (2004), schließt aber seither beschriebene Gattungen mit ein. Centrosaurinae Achelousaurus Albertaceratops Avaceratops Brachyceratops ? Centrosaurus Diabloceratops Einiosaurus Monoclonius ? Nasutoceratops Pachyrhinosaurus Rubeosaurus Sinoceratops Spinops Styracosaurus Wendiceratops Chasmosaurinae Agujaceratops Anchiceratops Arrhinoceratops Chasmosaurus Coahuilaceratops Diceratus (früher Diceratops) Eotriceratops Kosmoceratops Medusaceratops Mercuriceratops Mojoceratops Ojoceratops Pentaceratops Tatankaceratops Titanoceratops Torosaurus (wahrscheinlich synonym mit Triceratops) Triceratops Utahceratops Vagaceratops Nomina dubia Agathaumas Ceratops Dysganus Notoceratops Polyonax Ugrosaurus Mehrere Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass sowohl die Ceratopsidae als auch die beiden Unterfamilien mit großer Wahrscheinlichkeit monophyletisch sind. Die größte Unsicherheit ergab sich bei der Stellung von Einiosaurus innerhalb der Centrosaurinae, der entweder die Schwestergruppe aller übrigen Centrosaurinae, der Achelousaurus-Pachyrhinosaurus-Klade oder der Styracosaurus-Centrosaurus-Klade ist. Die übrigen Abstammungslinien sind stabil und sind in nachfolgendem Kladogramm dargestellt. Der 2007 erstbeschriebene Albertaceratops wird von seinen Erforschern innerhalb der Centrosaurinae als Schwestertaxon der übrigen Vertreter dieser Gruppe eingeordnet. Ceratopsidae und Menschen Entdeckungs- und Forschungsgeschichte Die ersten bekannten Ceratopsidae waren 1872 Agathaumas, 1874 Polyonax und 1876 Dysganus, alle beschrieben von Cope. Die rudimentären Funde ließen zunächst kaum Rückschlüsse auf die Tiere zu, was auch daran deutlich wird, dass Marsh 1887 einen Fund Bison alticornis nannte, ihn also für einen langhörnigen Bison hielt. Erst mit den Funden von Triceratops 1889 und Torosaurus 1891 (beide ebenfalls von Marsh beschrieben) ließ sich erstmals das tatsächliche Aussehen der Ceratopsidae erahnen. Den Namen Ceratopsidae prägte Marsh 1890, namensgebend war Ceratops, ein schlecht erhaltener Fund aus dem Jahr 1888. Obwohl die Formen „Ceratopia“ und „Ceratopidae“ (jeweils ohne s) grammatikalisch richtig wären, verwenden viele Fachwerke dennoch weiterhin die inkorrekten, von Marsh geprägten Bezeichnungen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden mit Centrosaurus und Diceratus weitere Vertreter dieser Gruppe entdeckt, und 1904 wurde das erste montierte Skelett im National Museum of Natural History in Washington errichtet. 1907 erschien mit The Ceratopsia die erste umfassende Monographie zu diesen Tieren, die von Lull basierend auf den Studien der kurz zuvor verstorbenen Marsh und Hatcher verfasst wurde. In den 1910er- und 1920er-Jahren war Kanada Fundstätte zahlreicher Gattungen wie Anchiceratops, Chasmosaurus und Styracosaurus. 1933 verfasste Lull seine revidierten Studien, in denen er eine Gruppe mit kurzem Nackenschild und eine Gruppe mit langem Nackenschild unterschied. Bis auf die Zugehörigkeit von Triceratops, der trotz eines kurzen Nackenschilds zu den langschildigen Chasmosaurinae gerechnet wird, entsprach diese Einteilung bereits den heute anerkannten Unterfamilien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit Pachyrhinosaurus (1950) zunächst nur eine einzige neue Gattung entdeckt, zunehmend rückten paläobiologische und -ökologische Studien in den Vordergrund. Über 30 Jahre nach Pachyrhinosaurus wurde 1986 mit Avaceratops der nächste Vertreter der Ceratopsidae beschrieben. In den 1990er-Jahren traten Achelousaurus und Einiosaurus ans Tageslicht. Seit dieser Zeit wird auch die Systematik dieser Familie mit kladistischen Methoden untersucht, unter anderem von Thomas Lehman und Peter Dodson. Auch im 21. Jahrhundert wurden neue Gattungen beschrieben, Agujaceratops, Albertaceratops und Eotriceratops in den Jahren 2006 und 2007. Die offen gebliebenen Fragen lassen auch intensive zukünftige Forschungen erwarten. In der Populärkultur Einige Vertreter der Ceratopsidae, insbesondere Triceratops, zählen zu den bekanntesten Dinosauriern und haben einen Fixplatz in populären Werken über Dinosaurier. Schon im Film Die verlorene Welt aus dem Jahr 1925 waren Triceratops und Agathaumas zu sehen. In Jurassic Park erscheinen sie ebenso wie im Zeichentrickfilm In einem Land vor unserer Zeit. Auch Dokumentarfilme beschäftigen sich mit diesen Tieren, so beispielsweise Dinosaurier – Im Reich der Giganten (Walking with Dinosaurs) oder Kampf der Dinosaurier (The Truth About Killer Dinosaurs), wo der Kampf zwischen Triceratops und Tyrannosaurus thematisiert wird. Literatur Peter Dodson, Catherine A. Forster, Scott D. Sampson: Ceratopsidae. In: David B. Weishampel, Peter Dodson, Halszka Osmólska (Hrsg.): The Dinosauria. 2. Ausgabe. University of California Press, Berkeley CA u. a. 2004, ISBN 0-520-24209-2, S. 494–513. David E. Fastovsky, David B. Weishampel: The Evolution and Extinction of the Dinosaurs. 2. Ausgabe. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2005, ISBN 0-521-81172-4. Einzelnachweise Weblinks Ceratopsia Ceratopsier
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Tell el-Maschuta
Tell el-Maschuta () – das altägyptische Per Tem/Pi-Tem – liegt in der Region des Wadi Tumilat im östlichen Nildelta etwa 16 Kilometer westlich von Ismailia sowie etwa 18 Kilometer östlich von Tell er-Retaba entfernt. Die Nutzung des Ortes unterlag ständigen Wandlungen. Ursprünglich im 16. Jahrhundert v. Chr. als etwa zwei bis drei Hektar große Siedlung gegründet, war Tell el-Maschuta ab Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. als Handelsort und Kultstätte der Gottheit Atum (Tem) eine Neugründung, mit der unter dem altägyptischen Pharao Necho II. die Namensgebung Per Tem (Atum) in Tjeku verbunden war. Herodot erwähnte im Zusammenhang des von Necho II. begonnenen Kanalausbaues die in dieser Region gelegene „arabische Stadt Patumos“. Im Hellenismus trug Per Tem wahrscheinlich den Namen Heroonpolis; dies ist allerdings nicht gesichert. Die aus römischer Zeit stammende Bezeichnung Ero ist die Kurzform von Heroonpolis. Frühere Ergebnisse der archäologischen Forschungen ließen zunächst die Vermutung aufkommen, dass es sich bei Tell el-Maschuta um das biblische Pitom handele. So wurde beispielsweise auf der geborgenen Statue des Anch-chered-nefer ebenfalls Per Tem erwähnt, woraus zahlreiche Historiker eine Verbindung zum Kult der Gottheit Atum in Heliopolis, dem biblischen On, schlossen. Der aus ptolemäischer Zeit stammenden Pitom-Stele ist zu entnehmen, dass noch einige Jahrhunderte nach Necho II. die alte Bezeichnung Per Tem als Ortsbezeichnung für Tell el-Maschuta in Gebrauch war. Mit Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. änderte sich erneut die Funktion von Tell el-Maschuta, das nun als römischer Friedhof diente. Seit Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. ist Tell el-Maschuta nur noch ein Ruinenhügel. Ab 1977 wurde er mehrmals bei Grabungskampagnen archäologisch untersucht. Etymologie und Forschungsgeschichte In früheren Zeiten hieß der Ort Ahou Kachah oder Abou Keycheyd. Dort wurde ein Monolith gefunden, auf dem Ramses II. zwischen zwei Sonnengottheiten abgebildet ist. Die Archäologen vermuteten deshalb am Fundort eine altägyptische Stadt mit dem versandeten Monolithen als typisches Erkennungsmerkmal. Archäologische Teams identifizierten den Ort aufgrund des Ramses-Monolithen als Pi-Ramesse, den „Ort der Israeliten während ihrer Unterdrückung“. Die vermeintliche Entdeckung veranlasste um 1860 zahlreiche Archäologen zur Intensivierung der Forschungen und Ausgrabungen in „Pi-Ramesse“. Weitere Untersuchungen führten jedoch zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um Pi-Ramesse handelte. Etwa zeitgleich wurden die Arbeiten am Bubastis-Kanal beendet. Nach dem Abzug der Arbeiter und Archäologen erlahmte zunächst das Interesse am Hügel des Denkmals, für den auch die moderne Übersetzung Hügel der Verdammten/Helden verwendet wird. 1883 unternahm Édouard Naville im Auftrag der Egypt Exploration Society eine erneute Kampagne in dieser Region und entdeckte die Ruinen von Tell el-Maschuta. Er untersuchte die vorhandenen Denkmäler, Statuen, Inschriften und Gebäudereste und fertigte einen Grundriss des antiken Tell el-Maschuta. Die zahlreichen Keramikscherben und andere Kleinstfunde in den Straten (horizontalen Grabungsschichten) begutachtete Naville jedoch nicht. In seinem Abschlussbericht kam er zu dem Ergebnis, dass es sich um das biblische Pithom handeln müsse, da sich unter den ausgegrabenen Gegenständen auch mehrere Denkmäler aus der Zeit von Ramses II. befanden. Der französische Ägyptologe Jean Cledat führte zwischen 1900 und 1910 weitere Untersuchungen in der Region des Wadi Tumilat durch und konnte zusätzliche Funde bergen. John S. Holladay veranlasste mit seinem Team im Rahmen des von der kanadischen University of Toronto ins Leben gerufenen Wadi-Tumilat-Projektes umfangreiche Ausgrabungen. Von 1978 bis 1985 fanden fünf Grabungskampagnen statt. Die von der ägyptischen Altertümerverwaltung beauftragten Forschungen brachten in jüngerer Zeit weitere Aufschlüsse über Tell el-Maschuta. Archäologische Studien Erste Besiedlungsphase Die Ausgrabungen belegen, dass Tell el-Maschuta im 16. Jahrhundert v. Chr. am Ende der Zweiten Zwischenzeit (1600 bis 1550 v. Chr.) von den Hyksos (Einwanderern aus Vorderasien) gegründet wurde. Der damalige Ortsname konnte bislang nicht ermittelt werden. Die kleine Ortschaft hatte den Charakter eines Außenpostens, da keine speziellen Befestigungsanlagen vorhanden waren. Charakteristisch ist die in dieser Zeit verwendete Form von geschwungenen Stadtmauern. Während der Aufbauphase von Tell el-Maschuta ist eine kontinuierliche Zunahme von Bestattungen und die Errichtung von oberirdischen Rundsilos zu erkennen. Die Gräber wiesen markante Unterschiede hinsichtlich des Standes der beerdigten Personen auf. Kriegerbestattungen enthielten die für diese Zeit typischen Waffenbeigaben asiatischen Stils wie beispielsweise Dolche und meißelförmige Äxte. Die übrigen Lehmziegelgräber enthielten zahlreiche wertvolle Grabbeigaben wie Stirnbänder aus Gold oder Silber sowie silberverzierte Armbänder, Ohr- und Haarringe, goldene und silberne Skarabäen, Werkzeuge und Halbedelsteine, dazu Amulette und Speisen. Kindergräber und Bestattungen in den stillgelegten Rundsilos enthielten dagegen nur vereinzelt Grabbeigaben. Aufgrund der paläobotanischen Fundauswertungen zog das Archäologenteam des Wadi-Tumilat-Projektes den Schluss, dass Tell el-Maschuta zwar alle Kriterien einer urbanen Siedlung erfüllte, jedoch nur saisonal vom Beginn der Aussaat im Herbst bis zum Ende der Sommerweizenernte im Frühjahr bewohnt war. Tell el-Maschuta hatte aufgrund dieser Merkmale den Charakter einer Karawanenstation, die für den Fernhandel eingerichtet war. Während der heißen Sommermonate blieb Tell el-Maschuta unbewohnt. Die Einwohner siedelten in dieser Zeit vermutlich in der Nähe von Tell er-Retaba, wo in der Mittleren Bronzezeit Wohnlager existierten. Die für den Bau von Tell el-Maschuta verwendeten Materialien weisen Parallelen zu den Funden in den Straten E1 bis D3 von Auaris auf. Wohnhäuser wurden in immer engeren Abständen zueinander gebaut. Der Umfang der Landwirtschaft, vornehmlich Weizen- und Gersteanbau zur Versorgung der Bewohner nahm stark zu. Daneben wurden Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine gehalten. Auch die Pferdezucht war schon bekannt. Weitere Aktivitäten der Bewohner bestanden in der Jagd auf verschiedene Vogelarten, Kuhantilopen und Gazellen. Die in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter wurden zusätzlich für andere Tätigkeiten herangezogen, beispielsweise im Handwerk mit der Töpferei und zur Herstellung von Bronzewerkzeugen. Daneben wurden Webstühle benutzt, Kleidung hergestellt und Sicheln mit vorgefertigten Klingen verwendet. Der genaue Verwendungszweck der bei den Grabungen gefundenen Hochtemperaturöfen ist unklar. In einem industrieähnlichen Verfahren waren ockerfarbene Pfähle in den Boden getrieben worden. Möglicherweise wurden die Öfen für die Herstellung von Leder mit Metallbeschlägen sowie Ambossen oder Schleifgeräten benötigt. Die abschließende Untersuchung der gefundenen Keramik ergab, dass nach Vertreibung der Hyksos durch Kamose und Ahmose I. die Siedlung verfiel und mindestens für den Zeitraum vom Neuen Reich bis zum Ende der Dritten Zwischenzeit (1550 bis 652 v. Chr.) unbewohnt blieb. Zweite Besiedlungsphase Saiten-Dynastie ab Necho II. (610–525 v. Chr.) Tell el-Maschuta wurde erst wieder im ausgehenden 7. Jahrhundert v. Chr. unweit von Tell er-Retaba neu gegründet. In dieser Zeit ließ Necho II. zwischen 610 und 605 v. Chr. den Bubastis-Kanal anlegen, um den pelusischen Nilarm mit dem Roten Meer zu verbinden. Der neue Kanal führte durch das Wadi Tumilat und Ägypten versprach sich von ihm strategische und landwirtschaftliche Vorteile. Der dabei neu angelegte Ort Tell el-Maschuta diente zunächst als Lager für die am Kanalausbau beschäftigten Arbeiter. Kurze Zeit später wurden dort Apis-Stiere geopfert und Einrichtungen für den späteren Tempel Haus des Atum gebaut. Nördlich des Tempels wurden Häuser, Scheunen und Backöfen errichtet. Inmitten dieser Aufbauphase sind plötzliche Veränderungen erkennbar, die wahrscheinlich auf Nechos’ Karkemisch-Niederlage 605 v. Chr. und den Verlust seiner Hoheitsgebiete in Retjenu zurückzuführen sind. Um Tell el-Maschuta wurde kurz danach eine etwa neun Meter breite Befestigungsmauer errichtet, die eine Fläche von 200 m × 200 m umschloss. Die Besiedlung kam dennoch ins Stocken, da die geschützte Fläche während der saitischen Dynastie nicht zum weiteren Bau von Häusern genutzt wurde. Das Gemeinwesen auf einer vier Hektar großen Fläche wurde 601 v. Chr. und 15 Jahre später das zweite Mal zerstört. Zuvor war der Versuch des ägyptischen Pharaos Apries im Verbund mit Zedekia gescheitert, die Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar II. zu verhindern. Die Verwüstungen können somit dem babylonischen König zugeschrieben werden. In Tell el-Maschuta wurden zwei jüdische Keramikstücke aus dem Jahr 568 v. Chr. gefunden, die eine Anwesenheit von jüdischen Flüchtlingen um 582 v. Chr. in Tell el-Maschuta bezeugen. Größere Mengen ähnlicher Keramikware tauchten in Tahpanhes, das etwa 22 km entfernt von der Mündung des pelusischen Nilarms liegt, und an einem Ort im westlichen Sinaigebiet, der vorläufig als Migdol identifiziert wurde, auf. Nach den Zerstörungen und dem Wiederaufbau entwickelte sich Tell el-Maschuta während der Saiten-Dynastie unter den Pharaonen Apries, Amasis und Psammetich III. zu einem stark frequentierten Handelsort. Der Grund dafür dürften die zentrale Lage zwischen dem Mittel- und dem Roten Meer sowie die Handelsverbindung zum Indischen Ozean gewesen sein, zumal Tell-el Maschuta auch etwa auf halber Wegstrecke zwischen Sues und Bubastis lag. Die archäologisch nachgewiesene großen Mengen phönizischer Handelsware decken sich mit der Angabe von Herodot, dass in der Regierungszeit von Apries zahlreiche Phönizier in einem „phönizischen Lager bei Memphis“ siedelten: Der phönizische Handel, der durch die Nutzung des Bubastis-Kanals immer größere Ausmaße annahm, ist durch zahlreiche Funde von phönizischen Amphoren in Tell el-Maschuta belegt. Die Amphoren dienten als Vorratsbehältnisse für die Handelsware. Als weiterer Beleg gilt eine in den Ruinen eines Kalkstein-Schreins geborgene Terrakotta-Statue, die als sitzende Göttin wahrscheinlich Tanit oder Aschera verkörpert. In geringerer Anzahl waren griechische Amphoren vertreten, zumeist aus Thasos oder Chios. Daneben fanden sich auch importierte dickwandige Mörser sowie die dazugehörenden Stößel, die wahrscheinlich anatolischen Ursprungs sind. Erste persische Dynastie ab Kambyses (525–404 v. Chr.) Mit der Eroberung Ägyptens 525 v. Chr. durch Kambyses II. ging bei der Schlacht bei Pelusion eine erneute Zerstörung von Tell el-Maschuta einher. In der Folgezeit sind die Aufbauarbeiten des Ortes gut bezeugt. Der schon während der Saiten-Dynastie erweiterte Siedlungsraum wurde während der persischen Zeit mit einer Ausweitung im südwestlichen Bereich für Neubauten genutzt. Im nördlichen Teil von Tell el-Maschuta wurde ein Bereich freigelegt, der in der persischen Zeit vom Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. bis etwa 404 v. Chr. am Bubastis-Kanal als Nekropole südlich des Tempelbezirkes diente. Darius I. erweiterte nach seinem Herrschaftsantritt den Bubastis-Kanal auf eine Gesamtlänge von 84 Kilometer. Auf vier großen Stelen, von denen sich die erste in Tell el-Maschuta befand, ließ Darius I. in den Sprachen Ägyptisch, Altpersisch, Elamisch und Akkadisch seine Leistungen niederschreiben. Im Zuge der 487 v. Chr. begonnenen ägyptischen Rebellion gegen die Perser wurde außerhalb der Stadtmauer von Tell el-Maschuta ein weiterer Steinwall angelegt, der mit Schutt, Keramik und anderen Materialien gefüllt war. Der archäologische Befund belegt die mit der Rebellion verbundenen Kämpfe um Tell el-Maschuta. In der Folgezeit wurden im gesamten Ortsbereich erneut Lagerhäuser errichtet. Nachdem 404 v. Chr. die Perser aus Ägypten vertrieben worden waren, waren die Straten bis etwa 379 v. Chr. unbewohnt. Die letzte eigenständige altägyptische Dynastie (379–341 v. Chr.) Bruchstücke von Denkmälern der 30. Dynastie bezeugen das gewaltige Bauprogramm der Pharaonen Nektanebos I. und Nektanebos II., die ergänzend durch Förderung der altägyptischen Religion eine kurzfristige „Renaissance“ auch für Tell el-Maschuta bewirkten. Mit der wiedereinsetzenden Besiedlung stieg der Handel und die Einfuhr von Waren während der 30. Dynastie sprunghaft an, obwohl der Bubastis-Kanal langsam versandete. Der durch die Phönizier wiederbelebte Handel konzentrierte sich hauptsächlich auf Wein, Olivenöl, Fischsoßen und andere haltbare Nahrungsmittel. Auch weiter entfernte Regionen wie Thasos sowie Chios und Anatolien beteiligten sich am Güteraustausch ebenso wie insbesondere Arabien und Athen. Der Tempelkult des ägyptischen Gottes Atum erlebte eine erneute Blütezeit, wie die angefertigten quaderförmigen Altäre mit südarabischem Einfluss beweisen. Die vorhandenen Tinteninschriften auf Glasbruchstücken waren zumeist in demotischer Schrift verfasst. Im Rahmen der Opferhandlungen für den Atum-Tempel ist die Verwendung von Weihrauch belegt, der ebenfalls aus dem südlichen Arabien importiert wurde. Besonderes Aufsehen verursachte die zufällige Entdeckung eines Lagers, in welchem sich Tausende von Athener Tetradrachmen befanden. Die außergewöhnlich hohe Summe verweist auf Zuwendungen als Geschenkgaben an den Atum-Tempel. Ergänzend wurden vier Schalen entdeckt, deren Stil und Ausführung einen persischen Ursprung nahelegen und wohl über das südliche Arabien nach Tell el-Maschuta gelangten. Alle vier Schalen trugen ähnliche Inschriften, wobei auf einer der Schalen der aramäische Eintrag „Das, was Qaynu, Sohn des Gaschmu, König von Qedar, für Han-’Ilat darbrachte“ zu lesen ist. Möglicherweise ist dieser Gaschmu. identisch mit der gleichnamigen Figur im Buch Nehemia des Alten Testaments. Die Inschriften auf den Schalen und zusätzlich gefundene Silbermünzen, die auf ihrer Rückseite die Eule der Athene zeigen, werden auf den Übergang vom fünften zum 4. Jahrhundert v. Chr. datiert. Das Ende der 31. Dynastie, die durch Alexanders Ägypteneroberung abgelöst wurde, bewirkte eine Abwanderung der Einwohner von Tell el-Maschuta, der ein Zeitraum ohne Besiedlung bis etwa 285 v. Chr. folgte. Neuaufbau des Atum-Tempels und Bau von Handelshäusern (285 v. Chr. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) Pharao Ptolemaios II. (285 bis 246 v. Chr.) begann nach Antritt seiner Herrschaft mit der Entsandung und Erneuerung des Bubastis-Kanals, womit ein Modernisierungsprogramm für Tell el-Maschuta verbunden war. Der Ort entwickelte sich durch die umfangreiche Baumaßnahmen im Verlauf erneut zu einer wichtigen Handelsstation. Auf einer Stele, die Ptolemaios II. in Tell el-Maschuta errichtete, ließ der Pharao sein Projekt einschreiben und feiern. Für den Neuaufbau des Atum-Tempels wurden zahlreiche größere Kalksteinblöcke aus anderen Orten Ägyptens nach Tell el-Maschuta transportiert. Ein aus der persischen Periode bereits zerfallenes zweiräumiges Gebäude diente nach Wiederaufbau als Töpferei. Hinzu kamen wahrscheinlich gegen Ende der Regentschaft von Ptolemaios II. bis zu sechsräumige Getreidespeicher beziehungsweise mehrräumige Lagerhäuser an den Ufern des Bubastis-Kanals, an die mehrere Schmelzöfen zur Herstellung von Bronzewaren für den Atum-Tempel und den Export angeschlossen waren. Die von Édouard Naville entdeckten und den „Kindern von Israel“ zugeordneten Handels- und Lagerhäuser stammen wahrscheinlich aus der Anfangszeit des Aufbauprogramms unter Ptolemaios II., da sich nur diese in direkter Nähe zu den Schmelzöfen am Ufer des Bubastis-Kanals befanden. Ptolemaios III. (246 bis 222 v. Chr.) und seine Nachfolger müssen weitere umfangreiche Baumaßnahmen von Handelshäusern und Werkstätten veranlasst haben, da das Wadi-Tumilat-Projekt in seinen Kampagnen nur eine kleine Anzahl der zahlreichen und teilweise bis zu 75 m langen Handelshäuser ausgraben konnte. Die bislang erforschten Handelshäuser konnten auf den Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. bis etwa 125 v. Chr. datiert werden. Nach dem Ende der Ptolemäer-Herrschaft erfuhr Tell el-Maschuta einen Niedergang, so dass der Ort Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. seine tragende Funktion als Handelsstation verlor und daher erneut von den Bewohnern verlassen wurde. Tell el-Maschuta als römische Nekropole Nachdem die Bewohner Tell el-Maschuta Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. verlassen hatten, verfielen die Anlagen. Der Ort blieb bis zum Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. ungenutzt. Als Trajan nach seinem Regierungsantritt den Bubastis-Kanal erneut ausbaute, fungierte die Region von Tell el-Maschuta als römische Nekropole und erfuhr flächenmäßig die größte Ausdehnung seit der Gründung unter den Hyksos. Eine Neubesiedlung fand dagegen nicht statt, da auf den Ruinen des früheren Handelsortes zahlreiche Grabanlagen errichtet wurden. Frühere kleinere Ausgrabungskampagnen hatten den römischen Friedhof teilweise bereits freigelegt, weshalb das Archäologen-Team aus Toronto keine weiteren intensiven Untersuchungen an dieser Stelle durchführte, jedoch die großen Mengen von Keramikfunden in der obersten Strate bestätigen konnte. Der Befund ergab, dass die Nekropole mehrheitlich zumeist für „privilegierte römische Bürger“ aus quadratischen unterirdischen Gräbern angelegt wurde und mit gewölbten Überbauungen versehen war. Diese aus Lehmziegeln errichteten Grabanlagen besaßen ergänzend jeweils einen Zugangsweg oder ummauerten Dromos, der auf östlicher Seite der Gräber das Betreten der Grabräume ermöglichte. Die gewölbten Grabeingänge, die nur einen einfachen Zugangsweg besaßen, wurden nach jeder erfolgten Bestattung zugemauert. Dagegen füllten die Angehörigen des Grabinhabers den mit einem Dromos versehenen Grabgang mit Sand auf. Als Grabbeigaben dienten goldbeschichtete Götterfiguren, Ohrringe, Glasgefäße und aus Knochen gefertigte Haarnadeln. Bereits während der aktiven Nutzung als Nekropole wurden die wertvollen Beigaben in den Gräbern teilweise geplündert. Daneben gab es auch einfache Begräbnisse, die ohne besondere Beigaben von Götterstatuetten in den freien Raum zwischen den Lehmziegel-Gräbern eingebettet waren. Die Mehrzahl der Bestattungen wies die charakteristischen Formen römischen Stils auf, der auch an der symbolischen Ausrichtung der Gräber sichtbar ist. Die Nekropole verfügte zudem über einen Bestattungsbereich für Kinder. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein christliches Kinderbegräbnis. Im oberen Bereich einer aus Gaza stammenden Amphore befand sich eine koptische Inschrift, die mit zwei „Chi-Rho-Symbolen“ als Christusmonogramm versehen war, das seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. die Christen verwendeten, um ihren Glauben darzustellen und um sich untereinander zu erkennen. Diese Bestattungsform war jedoch nur bei sehr wenigen Grabbeigaben festzustellen. Im frühen 4. Jahrhundert n. Chr. wurde Tell el-Maschuta als römische Nekropole aufgegeben, was durch das Fehlen der verzierten Grabbeleuchtungen belegt ist. Um 381 n. Chr. ist die Existenz einer in der Region von Tell el-Maschuta stationierten römischen „Garnison der Helden“ bezeugt, die sich jedoch zu diesem Zeitpunkt aufgrund einer Verlegung im nur etwa zwei Kilometer entfernten Abu Suwerr befand, die ihre militärische Funktion bewahrte und so heute einen Militärflugplatz beherbergt. Identifikationen mit dem biblischen Pitom oder Sukkot Seit längerer Zeit werden kontroverse Diskussionen über die Frage geführt, ob Tell el-Maschuta mit dem alttestamentlichen Pitom oder Sukkot zu identifizieren sei. Édouard Naville sah durch seine Ausgrabungsbefunde seine Vermutung bestätigt, dass es die „Kinder Israels“ waren, die in Tell el-Maschuta die „Handelshäuser“ errichteten. Kenneth Anderson Kitchen hält dagegen Tell el-Maschuta für das biblische Sukkot, an welchem die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten lagerten. Kitchen steht nach wie vor zu seiner Hypothese, dass sowohl Tell er-Retaba als auch Tell el-Maschuta im Neuen Reich zeitgleich als Siedlungen nebeneinander existierten, ohne jedoch die Keramikbefunde des Archäologenteams von John S. Holladay zu berücksichtigen. Donald B. Redford schloss sich dagegen Holladays Ergebnissen an und sieht Tell el-Maschuta als das biblische Pitom, das jedoch erst 600 Jahre nach dem Auszug aus Ägypten aufgebaut wurde. Die Hinweise auf Sukkot im Pentateuch (, ) bleiben unklar und lassen offen, ob es sich dabei um eine Stadt, ein Dorf, ein Fort oder eine Region handelt. Auch der in erwähnte „Bau der Stadt Pitom“ lässt sich nur schwerlich mit der Vergangenheit von Tell el-Maschuta vereinbaren. Vor dem Hintergrund der Ausgrabungen sahen sich deshalb jene Historiker bestärkt, die die Geschichte des Auszugs aus Ägypten als Fiktion bewerteten oder als anachronistischen Zusatzbericht sahen, der erst um das 6. Jahrhundert v. Chr. in die Schriften aufgenommen wurde. Literatur Hans Bonnet: Pithom. In: Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. Nikol, Hamburg 2000, ISBN 3-937872-08-6, S. 596. William J. Dumbrell: The Tell-el-Maskhuta Bowls and the „Kingdom“ of Qedar in the Persian Period. In: Bulletin of the American Schools of Oriental Research (BASOR). Nr. 203. American Schools of Oriental Research, Baltimore 1971, S. 33–44. James K. Hoffmeier: Ancient Israel in Sinai. The Evidence for the Authenticity of the Wilderness Tradition. Oxford University Press, New York 2005, ISBN 0-19-515546-7. John S. Holladay: Pithom. In: Donald B. Redford: The Oxford encyclopedia of ancient Egypt. Band 3: P–Z. Oxford University Press, Oxford 2001, ISBN 0-19-513823-6, S. 50–53. John S. Holladay: Tell el-Maskhuta. In: Kathryn A. Bard, Steven Blake Shubert: Encyclopedia of the archaeology of ancient Egypt. Routledge, London 1999, ISBN 0-415-18589-0, S. 786–789. John S. Holladay: Tell el-Maskhuta: Preliminary report on the Wadi Tumilat Project 1978–1979. 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Weblinks Granit-Statue des Anch-chered-nefer aus Tell el-Maschuta wibilex: Fachartikel „Pitom“ von Karl Jansen-Winkeln Einzelnachweise Antike ägyptische Stadt Ort in der Bibel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Star%20Wars%3A%20The%20Force%20Unleashed
Star Wars: The Force Unleashed
Star Wars: The Force Unleashed ( für Die Macht entfesselt) ist ein Computerspiel aus dem Genre der Actionspiele, das unter Federführung von LucasArts durch mehrere Studios entwickelt und veröffentlicht wurde. Das Spiel handelt in der Zeit zwischen den Star-Wars-Episoden III und IV und erzählt die Geschichte von Galen Marek, einem Schüler Darth Vaders. The Force Unleashed erschien am 16. September 2008 in Nordamerika und an den folgenden Tagen in Europa, Australien und Japan für zahlreiche Plattformen. LucasArts erstellte die Fassungen für PlayStation 3 und die Xbox 360. Die Umsetzungen für Wii, PlayStation 2, PlayStation Portable, Nintendo DS, Apple iOS, N-Gage sowie für weitere Mobiltelefone wurden von anderen Studios entwickelt. Im November 2009 wurde The Force Unleashed in einer erweiterten Version unter dem Titel Ultimate Sith Edition erneut für die PlayStation 3, Xbox 360 sowie erstmals für Windows und MacOS veröffentlicht. Im April 2022 wurde das Spiel erneut für die Nintendo Switch überarbeitet und veröffentlicht. Die Rezeption des Spiels fiel gemischt aus. Einige Kritiker lobten das Spiel für seine Handlung und seine fortschrittliche Technik. Andere kritisierten es für sein zu einfaches und zu wenig durchdachtes Spielprinzip. Dennoch wurde der Titel in mehrere Bestenlisten aufgenommen. Außerdem erhielt er einen Preis der Writers Guild of America. Mit über sieben Millionen verkauften Exemplaren zählt das Spiel zu den meistverkauften Star-Wars-Titeln. LucasFilm, die Muttergesellschaft von LucasArts, bezeichnete es als das sich am schnellsten verkaufende Spiel. The Force Unleashed ist Mittelpunkt eines Multimedia-Projekts von Lucasfilm, das neben dem Spiel auch ein Buch, einen Comic und weitere Veröffentlichungen umfasst, die mit dem Spiel und dessen Handlung verknüpft sind. Handlung Star-Wars-Hintergrund Die Handlung spielt zwischen den Star-Wars-Episoden Die Rache der Sith und Eine neue Hoffnung. Im erstgenannten Film wandelte Kanzler Palpatine im Rahmen eines Staatsstreichs die Galaktische Republik in eine Diktatur um und ernannte sich zum Imperator. Er wählte den Sith Darth Vader als rechte Hand und beauftragte ihn mit der Jagd auf die Jedi, die den autokratischen Bestrebungen des Kanzlers kritisch gegenüberstanden. Als Palpatine das Imperium ausrief, wurden die Jedi zu Staatsfeinden erklärt und verfolgt. Spielhandlung Das Spiel setzt zu einer Zeit ein, in der das Imperium die meisten Jedi eliminiert hat. Im Rahmen seiner Suche nach den letzten Mitgliedern des Jedi-Ordens reist Darth Vader zum Planeten Kashyyyk. Dort stellt und tötet er den Jedi Kento Marek. Im Anschluss entdeckt Vader Mareks Sohn Galen und bemerkt dessen Machtbegabung. Er beschließt, ihn im Verborgenen zum Schüler auszubilden. Er plant, gemeinsam mit Marek Imperator Palpatine zu stürzen und selbst dessen Stelle einzunehmen. Zunächst setzt Vader ihn jedoch auf überlebende Jedi an. Zur Unterstützung stellt er seinem Schüler, dem er den Namen Starkiller gab, den Trainingsdroiden Proxy, das Schiff Rogue Shadow und die Pilotin Juno Eclipse zur Verfügung. Nachdem Marek die drei Jedi Rahm Kota, Kazdan Paratus und Shaak Ti ausfindig gemacht und besiegt hat, trifft er sich mit Vader an Bord dessen Schiffs, der Executor. Bei seinem Flug zur Executor wird er allerdings von Spionen des Imperators verfolgt. Dieser reist daraufhin zu Vaders Schiff und fordert ihn auf, seinen Schüler zu töten. Vader kommt dieser Aufforderung zur Überraschung Mareks unmittelbar nach und schleudert Marek aus dem Schiff in den Weltraum. Diesem gelingt es jedoch, den Angriff zu überleben. Er wird von Sanitätsdroiden Vaders gerettet und auf das Forschungsschiff Empirical gebracht. Vader erklärt, dass der Imperator vom Tod Mareks ausgeht und beide deswegen noch gegen Palpatine vorgehen können. Er beauftragt seinen Schüler jedoch mit einer anderen Vorgehensweise: Marek soll die Gegner des Imperators zu einer Rebellenallianz vereinen, um Palpatine abzulenken und dadurch für ein Attentat verwundbar zu machen. Marek führt daraufhin Anschläge auf imperiale Ziele aus, um Gegner des Imperiums dazu zu bewegen, sich zusammenzuschließen und offenen Widerstand zu üben. Dabei wird er von dem Jedi-Meister Kota unterstützt, der Mareks Attentat überlebt hat. In der Annahme, dass sich Marek von Vader abgewandt hat, unterstützt Kota ihn bei seinen Angriffen auf das Imperium. Ebenfalls baut er Kontakte zu zahlreichen gegen das Imperium gerichteten Widerstandsgruppen auf, um diese zur Zusammenarbeit zu bewegen. Nachdem Marek eine imperiale Werft über dem Planeten Raxus Prime zerstört hat, organisiert er gemeinsam mit Kota eine Versammlung dreier führender Politiker, Mon Mothma, Garm bel Iblis und Bail Organa, um über die Gründung einer Rebellenallianz zu verhandeln. Dieses Treffen wird durch imperiale Truppen unter der Führung Vaders unterbrochen. Vader schleudert Marek mithilfe der Macht aus dem Saal und lässt die Rebellen verhaften. Nachdem Marek erkannt hat, dass Vader dem Imperator gegenüber loyal ist und er seinen Schüler allein dazu nutzte, ihm die Rebellen auszuliefern, setzt Vader dazu an, ihn zu töten. Mareks Übungsdroide Proxy sorgt jedoch für ein Ablenkungsmanöver, das Marek erlaubt, mithilfe der Rogue Shadow zu fliehen. Vader hat die Verhafteten inzwischen zum Todesstern, einer imperialen Kampfstation, gebracht, um sie dem Imperator vorzuführen. Marek entschließt sich, sie zu befreien. Dazu reist er zum Todesstern und dringt dort in den Thronraum Palpatines ein. Dort zwingt zunächst Vader seinen ehemaligen Schüler zum Duell. In diesem Zweikampf besiegt Marek Vader. Daraufhin fordert Palpatine ihn auf, Vader zu töten und dessen Platz einzunehmen. An dieser Stelle kann er sich für eine von zwei Optionen, das Spiel zu beenden, entscheiden. Lehnt Marek die Aufforderung ab, greift er den Imperator an, um den Rebellen die Flucht zu ermöglichen. Nachdem Marek Palpatine besiegt hat, setzt er dazu an, diesen zu töten. Kota hält ihn jedoch davon ab. Dies nutzt Palpatine, um einen letzten Angriff auf die Rebellen auszuführen. Marek wehrt diesen erfolgreich ab, was ihn sein Leben kostet. Die Rebellen, die inzwischen von der Station fliehen konnten, entschließen sich, eine Allianz zu gründen. Sie wählen dabei das Familiensymbol Mareks als Wappen. Alternativ tötet er zunächst Darth Vader. Als der Imperator ihn nun auffordert, Kota zu töten, weigert er sich und greift Palpatine an. Dieser überwältigt Marek und erschlägt ihn daraufhin mit seinem Schiff, der Rogue Shadow. Jedoch findet sich Marek später in einer lebenserhaltenden Rüstung wieder. Der Imperator erklärt ihm daraufhin, dass er wie früher Vader nun ihm dienen werde. Zusätzliche Missionen der PS2-, PSP- und Wii-Fassungen Die von den Krome Studios entwickelten Versionen für die PlayStation 2, die Wii und die PlayStation Portable beinhalten im Wesentlichen die gleiche Handlung. Sie erweitern diese aber um zusätzliche Missionen. Dreimal schickt Vader seinen Schüler zu Ausbildungszwecken in den Tempel der Jedi auf Coruscant, jeweils nach seinem Sieg über Kota, Paratus und nach seiner Flucht von der Empirical. Dort wird er von den Geistern der Sith Darth Desolous und Darth Phobos sowie dem Geist seines Vaters angegriffen, die er besiegt. Nach der Sabotage der Werften über der Welt Raxus Prime begibt sich Marek auf die Suche nach dem Senator Garm Bel Iblis, um ihm für die Rebellion zu gewinnen. Bel Iblis befindet sich zu dieser Zeit in Bedrängnis durch eine Verbrecherorganisation. Marek schaltet den Anführer dieser Organisation aus und verhandelt daraufhin erfolgreich mit Bel Iblis über dessen Beitritt zur Rebellenallianz. Spielprinzip Allgemein Das Kernelement von The Force Unleashed ist die Einzelspieler-Kampagne, die aus einer aufeinanderfolgenden Reihe von kampforientierten Missionen besteht. Diese finden in linear aufgebauten Leveln statt und folgen regelmäßig dem gleichen Ablauf. Mit Ausnahme der Einführungsmission auf Kashyyyk, in der der Spieler die Figur des Darth Vader steuert, übernimmt der Spieler die Rolle von Vaders Schüler Galen Marek. In jedem Level wird dem Spieler ein Hauptziel vorgegeben, das meist im Ausschalten einer bestimmten Person besteht. Daneben erhält er drei Nebenziele. Zwei davon, das Erreichen eines bestimmten Punktestands und das Sammeln von Holocrons, finden sich in allen Missionen. Diese Holocrons, von denen bis zu 15 in den einzelnen Leveln versteckt sind, stellen Relikte der Jedi dar. Sie enthalten Boni, etwa Aufrüstungsmöglichkeiten für das Lichtschwert der Spielfigur. Das dritte Nebenziel ist ein missionsspezifisches und umfasst meist die Zerstörung bestimmter Objekte. Der Schwerpunkt von The Force Unleashed liegt auf dem Kampf. Während der Spieler die Level durchquert, stellen sich ihm zahlreiche Gegner in den Weg. Um diese zu besiegen, stehen dem Spieler zwei Waffen zur Verfügung: Sein Lichtschwert und seine Machtbegabung. Das Lichtschwert fungiert als Nahkampfwaffe. Die Machtbegabung der Spielfigur gibt dem Spieler Zugriff auf besondere Kampffertigkeiten. Sie ermöglicht beispielsweise das Greifen von Gegnern oder das Gebrauchen von Objekten als Wurfgeschossen. Machtfähigkeiten kann der Spieler durch Erfahrungspunkte, die er für das Ausschalten von Gegnern oder das Sammeln von Holocrons erhält, kontinuierlich verbessern. Von diesen Fähigkeiten kann er Gebrauch machen, sofern er über genügend Machtpunkte verfügt. Diese werden im Spielverlauf automatisch generiert. In allen Leveln sind Sith-Holocrons versteckt, die der eigenen Spielfigur temporäre Kampfboni verleihen. Weiterhin erlernt die Spielfigur im Laufe der Kampagne Kombinationsmöglichkeiten einzelner Angriffe. Mit diesen als Combos bezeichneten Manövern kann der Spieler besonders effektive Angriffe ausführen. Spielmodi In den meisten Fassungen des Spiels ist der einzige Spielmodus die Einzelspieler-Kampagne. Die PSP-Version verfügt zusätzlich über drei weitere Spielmodi, Force Duel, Order 66 und Historic Mission. Im erstgenannten Modus kann der Spieler berühmte Kämpfe aus den Star-Wars-Filmen mit bereits freigespielten Charakteren nachspielen. In Order 66 bekämpft er Angriffswellen von Klonkriegern sowie ausgewählte Endgegner aus The Force Unleashed. Der letztgenannte Modus umfasst mehrere Level, die bestimmten Ereignissen aus den Star-Wars-Filmen nachempfunden sind. Außerdem bietet diese Fassung einen Mehrspieler-Modus, in dem sich bis zu vier Spieler duellieren können. Ein solcher Modus ist auch in der Umsetzung für die Wii enthalten. Die Nintendo-DS-Fassung enthält ebenfalls eine Mehrspielerkomponente, die Duelle zwischen zwei Spielern sowie einen Deathmatch-Modus bietet. Benutzeroberfläche Das Spiel wird überwiegend aus der Dritten Person gespielt. Die Kamera folgt automatisch der Spielfigur und wird durch deren Bewegung geführt. In finalen Kämpfen der Level nimmt die Kamera eine annähernd starre Vogelperspektive ein, die das gesamte Schlachtfeld zeigt. Wenn der Spieler einen Gegner oder ein Objekt anvisiert, wird dieser beziehungsweise dieses markiert. Anschließend kann er dieses Ziel greifen und durch leichtes Bewegen des Eingabegeräts entweder als Wurfgeschoss gegen andere Gegner verwenden oder hinfortschleudern. Die Benutzeroberfläche zeigt in den meisten Spielsituationen eine Anzeige mit den aktuellen Trefferpunkten und den Machtpunkten des Spielers sowie eine Karte mit einem Ausschnitt der Spielumgebung, auf der das aktuelle Ziel des Spielers markiert ist. Die Steuerung der Fassungen für die PlayStation 2 und 3 sowie für die Xbox 360 erfolgt über die jeweiligen Gamepads der Konsolen. Die später erschienene Windows-Umsetzung wird mittels Maus und Tastatur oder Gamepad bedient. In der Nintendo-DS-Fassung wird die Spielfigur im oberen Bildschirm dargestellt. Im unteren Bildschirm kann der Spieler mithilfe des Touchscreens seiner Spielfigur Angriffsbefehle erteilen. In dieser Version des Spiels ist die Beweglichkeit mit der Macht gegriffener Objekte eingeschränkt. Die Wii-Fassung wird mittels Fernbedienung und Nunchuk gesteuert. Auf der Nintendo Switch kann die von der Wii bekannte Bewegungssteuerung über die Joy-Con genutzt werden. Es ist auch möglich die Joy-Con als normale Controller oder einen Nintendo Switch Pro Controller zu verwenden. Bei den Fassungen für N-Gage, iOS und für andere Mobiltelefone entfällt die eigenständige Steuerung der Spielfigur, da sich diese selbständig von Szene zu Szene bewegt. Der Spieler steuert lediglich die Kampfaktionen seiner Figur. Bei der iOS-Plattform geschieht dies über kurze Fingerbewegungen auf dem Bildschirm, bei den anderen Plattformen durch die Eingabe von Ziffernfolgen auf der Tastatur. Die Kamera zeigt einzelne Levelausschnitte aus einer starren Position. Sie bewegt sich selbstständig zum nächsten Level weiter, sobald der Spieler im aktuellen Ausschnitt alle Gegner besiegt hat. Entwicklungsgeschichte Konzept Die Entwicklung von The Force Unleashed begann im Sommer 2004. Jim Ward, damaliger Vorsitzender von LucasArts, versuchte das mit finanziellen Problemen kämpfende Unternehmen durch neue Projekte wieder zu stabilisieren. Dies wollte er durch die Produktion hochwertiger Spiele erreichen. Die Produktion von The Force Unleashed wurde von Haden Blackman und Peter Hirschmann geleitet. Blackman war Autor mehrerer Star-Wars-Publikationen und Hirschman zeichnete unter anderem für mehrere Medal-of-Honor-Titel verantwortlich. Das Entwicklerteam bestand zunächst aus zehn Personen. Ihr Ziel war es, ein Spiel zu kreieren, das eine eigene Geschichte erzählt und wie ein vollwertiger Teil der Star-Wars-Saga wirkt. Als Zielplattformen peilten die Entwickler zunächst die modernen und leistungsstarken Konsolen Xbox 360 und PlayStation 3 an. Blackman erarbeitete zunächst verschiedene Handlungs- und Spielkonzepte. Diese variierten zum Teil erheblich voneinander. Einer seiner früheren Pläne sah ein reines Kampfspiel vor, in dem der Spieler einen marodierenden Wookie spielen würde. George Lucas, der sich eine Genehmigung des Spiels vorbehalten hat, wies diese Idee jedoch zurück. Sie widersprach den eigenen Zielvorgaben, da das angestrebte Spiel eine schlüssige Handlung und gute Dialoge bieten müsse. Andere Pläne ließen den Spieler die Rolle eines Kopfgeldjägers oder die des Sith Darth Maul übernehmen. Insgesamt wurden rund 100 Entwürfe konzipiert. Diese engte das Entwicklungsteam auf 20 bis 25 ein, die schließlich im Rahmen von Kundenbefragungen vorgestellt und auf sieben Pläne reduziert wurden. Diese sieben Konzepte, von denen jedes Elemente enthielt, die sich im fertigen Spiel wiederfinden, stellte Blackman Lucas vor, der die Planungen am Spiel fortsetzen ließ. Im Anschluss erarbeiteten die Entwickler einige Konzeptzeichnungen. Blackman bezeichnete die Bedeutung dieser Zeichnungen für den kreativen Prozess als außergewöhnlich groß. Die Zeichner entwarfen Charaktere und Spielsituationen, die die Entwickler versuchten, in das Spielkonzept zu integrieren. In Anlehnung an diese Entwürfe produzierte das Team ein einminütiges Vorschauvideo, das insbesondere die durch fortschrittliche Technologien umgesetzten Machtfertigkeiten der Spielfigur zeigte. Mit diesem Video überzeugten sie Lucas, den Entwurf in Auftrag zu geben. Ihnen wurde dafür ein Budget von rund 20 Millionen US-Dollar zugesichert. Anschließend erarbeitete Blackman gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe innerhalb von sechs Monaten ein detailliertes Skript für die Handlung. Diese wurde in der Zeit zwischen den Episoden III und IV angesetzt und sollte sich näher mit der Geschichte von Darth Vader befassen. Blackman lehnte es dabei ab, eine bekannte Figur wie Vader selbst als Spielfigur zu verwenden, da der Spieler sich mit einer neuen, unbeschriebenen Figur besser identifizieren könne. Die Wahl der Epoche ging auf George Lucas zurück, der zwischen beiden Filmen das größte Potential für eine Spielhandlung sah. Lucas plante, mit dem Spiel eine Brücke zwischen beiden Trilogien zu schlagen und so ein großes Publikum anzusprechen. Entwicklung Im Sommer 2006 stellte LucasArts auf der Spielemesse E3 in Los Angeles ein kurzes Video vor, in dem einzelne Sequenzen von The Force Unleashed vorgeführt wurden, die einige der im Projekt verwendeten Technologien demonstrierten. Mitte Februar 2007 gab das Unternehmen als voraussichtliches Erscheinungsdatum den November desselben Jahres an. Zeitweise wirkten bis zu 300 Personen am Spiel mit. Schwierigkeiten bereitete Blackmans Team die Umsetzung des Spiels für zwei Plattformen. Es begann mit der Arbeit an der Version für die Xbox 360, da ihm nur für diese Konsole die nötigen Entwicklungsumgebungen zur Verfügung standen. Software-Unterstützung für die Arbeit an PlayStation 3 erhielt LucasArts erst im Frühjahr 2006. Bis dahin war die Xbox-Version allerdings deutlich vorangeschritten, sodass sie portiert werden musste, was aufgrund der unterschiedlichen Architektur beider Konsolen teilweise mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Das Spiel wurde für weitere Plattformen als die PlayStation 3 und die Xbox 360 entwickelt. Diese Umsetzungen stellte LucasArts jedoch nicht selbst her. Stattdessen wurden verschiedene Studios beauftragt, die Portierungen unter der Aufsicht von LucasArts zu erarbeiten. Das australische Unternehmen Krome Studios produzierte die Fassungen für Wii, PlayStation 2 und PlayStation Portable. Der amerikanische Entwickler N-Space konzipierte die Nintendo-DS-Umsetzung. Das finnische Studio Universomo entwickelte die Fassungen für Apple iOS, N-Gage sowie für weitere Mobiltelefone. Die Hauptfigur erhielt den Namen Starkiller. Damit spielten die Entwickler auf einen frühen Filmentwurf von George Lucas an, in dem Luke Skywalker, die Hauptfigur der Episoden IV, V und VI, noch Luke Starkiller hieß. Technik Da das Spiel für verschiedene Plattformen realisiert wurde, weisen die einzelnen Umsetzungen von The Force Unleashed teilweise große Unterschiede in der zu Grunde liegenden Technik und in ihrer Bedienung auf. Die Fassungen für Xbox 360 und PlayStation 3 nutzen die von LucasArts neu entwickelte Ronin-Engine. Für die Physiksimulation verwendet The Force Unleashed die Havok-Software. Eine weitere Technologie, die in The Force Unleashed zum Einsatz kommt, ist die Digital-Molecular-Matter-Technik des Softwarestudios Pixelux. Mithilfe dieser Technologie können beliebige Gegenstände mit ihren physikalischen Eigenschaften simuliert werden. Im Spiel wirkt sich dies bei äußeren Einwirkungen auf eine Sache aus. Sollten beispielsweise gläserne oder hölzerne Objekte beschädigt werden, splittern diese, während sich metallene Gegenstände verformen. Die Besonderheit der DMM-Technik ist, dass sie die Simulation des physikalisch korrekten Verhaltens des Objekts weitgehend automatisiert und dadurch den Entwicklungsprozess erleichtert. Ohne diese Technik wäre es erforderlich, jedem Objekt diese Simulationseigenschaften manuell zuzuweisen. Ebenfalls nutzt das Spiel die Euphoria-Engine der Firma NaturalMotion, die beispielsweise auch in Grand Theft Auto IV verwendet wurde. Euphoria simuliert bei Figuren Muskeln und ein Nervensystem. Dies soll eine realistische Bewegung von Gegnern ermöglichen, nachdem diese beispielsweise verwundet wurden. Außerdem beinhaltet sie eine künstliche Intelligenz, die das Bewegungsverhalten von Figuren im Kampf steuert. Dazu zählen beispielsweise die Fähigkeit, Wurfobjekten auszuweichen oder sich im freien Fall an geeigneten Objekten, etwa Brückengeländern, festzuklammern. Schwierigkeiten bereitete den Entwicklern das Herstellen der Kompatibilität zwischen den einzelnen fremdentwickelten Techniken sowie das Finden einer Balance zwischen Realismus und Unterhaltung. LucasArts strebte eine Einstufung als jugendgerecht an, daher vereinfachten sie einige zu real wirkende Effekte wie die Einwirkung von Kräften auf Figuren. LucasArts arbeitete für die Entwicklung des Spiels mit Industrial Light & Magic zusammen, einem auf Filmeffekte spezialisierten Unternehmen von George Lucas. Techniken von ILM nutzten die Entwickler beispielsweise bei der Simulation von Wasser oder von Stoffen. Im Gegenzug erhielt ILM Zugriff auf ihre Engine, die es für die Filmarbeit nutzte. Für die Aufnahmen der Sequenzen zwischen den Missionen der Kampagne wurde die Motion-Capture-Technik genutzt, die das Studio ebenfalls durch ILM erhielt. Mithilfe dieses Verfahrens wurden Mimik und Gestik der Schauspieler erfasst und vom Computer auf die Spielfiguren übertragen. Krome Studios konnte nicht auf die von LucasArts verwendeten Technologien zurückgreifen, da diese die Leistungsgrenzen ihrer Zielplattform überschreiten würden. Anstelle von Euphoria nutzten sie das Ragdoll-Verfahren oder vorberechnete Animationen. Auch verzichten sie auf Havok und die Ronin-Engine und nutzen stattdessen die eigenständig entwickelte Merkury3-Engine. Für die Zwischensequenzen griffen die Entwickler nicht auf die Aufnahmen von LucasArts zurück, stattdessen renderten sie sie mithilfe der Spielgrafik. Für die anderen Umsetzungen war ebenfalls eine weniger anspruchsvolle Technik notwendig. Die von Universomo konzipierten Portierungen für mobile Plattformen verwenden die Cell-Weaver-Technologie, die für die eingeschränkten Steuerungsmöglichkeiten der Zielplattformen optimiert ist. Fachmagazine spekulierten auch über eine Windows-Umsetzung. Jedoch lehnte LucasArts eine Portierung ab, da das Spiel die Leistungsfähigkeit dieser Plattform überschreiten würde. Diese Entscheidung wurde vielfach kritisiert. Cameron Suey, Produzent der Xbox-360-Fassung, begründete die Ablehnung damit, dass eine Anpassung des Spiels an die Leistungsfähigkeit durchschnittlicher PCs das Spielerlebnis zu sehr beeinträchtigen würde. Ton und Synchronisation Als Komponist der Spielmusik fungierte Mark Griskey, der bereits an der Vertonung des Star-Wars-Spiels Knights of the Old Republic II mitgewirkt hatte. Jesse Harlin, der selbst das Titellied komponierte, leitete die Tonproduktion. Er war in jener Rolle bereits vorher in mehreren Star-Wars-Titeln involviert, so etwa in Republic Commando oder Battlefront II. Griskey und Harlin griffen auf die Originalstücke der Filme zurück, die von John Williams verfasst worden waren. Insbesondere nutzten sie dabei die Stücke der Star-Wars-Episoden III und IV. Allerdings wurden für das Spiel auch zahlreiche eigenständige Stücke komponiert. Blackman hielt dies für notwendig, da das Spiel weitgehend auf Orte und Figuren aus den Filmen verzichtet. Die Spieldauer der Musikstücke des Spiels beträgt rund 90 Minuten. Sie wurden mit 80 Musikern des Skywalker Symphony Orchestra aufgenommen und im Studio Skywalker Sound in Lucas Valley gemischt. Diese Arbeiten dauerten knapp eine Woche. Zusätzlich nahmen die Musiker zahlreiche kurze Sequenzen einzelner Instrumente auf. Diese werden im Spiel von einer von LucasArts und ILM entwickelten Engine anhand von Parametern der aktuellen Spielsituation, etwa durch Bewegungstempo oder durch die Umgebung, ausgewählt, eigenständig kombiniert und im Hintergrund abgespielt. Für die Vertonung der Charaktere wurden mehrere Schauspieler verpflichtet. Die Hauptrolle synchronisierte der aus mehrere Fernsehserien bekannte Sam Witwer. Laut Blackman fiel die Wahl auf Witwer, da es ihm gelungen sei, trotz kurzer Dialoge die Eindrücke der Figur überzeugend darzustellen. Weitere zentrale Rollen wurden von Matt Sloan und Nathalie Cox vertont. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Sprecher der Hauptrollen und deren Funktion im Spiel: Veröffentlichung Markteinführung und Erweiterungen In Nordamerika erschien The Force Unleashed für alle Plattformen am 16. September 2008. Auf dem australischen Markt wurde das Spiel einen Tag und auf dem europäischen drei Tage später veröffentlicht. Am 9. Oktober erschien The Force Unleashed auch auf dem japanischen Markt. Vermarktet wurde das Spiel von LucasArts auf allen Märkten mit Ausnahme des japanischen. Dort fungierte Activision Blizzard als Publisher. Nach der Veröffentlichung von The Force Unleashed gab LucasArts mehrere Erweiterungspakete heraus, die die Spieler per Download kostenpflichtig erwerben konnten. Bereits Ende September 2008 kündigte die Firma an, dass zwei Erweiterungen für die Fassungen für Xbox 360 und PlayStation 3 in Entwicklung seien, die das Spiel um neue Kostüme und eine Mission ergänzen. Die erste Erweiterung erschien am 14. November 2008 und konnte über Xbox Live und das PlayStation Network heruntergeladen werden. Der zweite Zusatzinhalt wurde knapp drei Wochen später am 4. Dezember herausgegeben. Es fügte einen Level hinzu, der auf Coruscant spielt. Dieser Level basiert auf den drei Jedi-Tempel-Missionen, die in den von Krome entwickelten Fassungen enthalten sind. Der Level war anfänglich auch für die Verkaufsversionen der anderen Fassungen geplant, wurde aber später annulliert. Am selben Tag gab LucasArts eine dritte Erweiterung heraus, die weitere alternative Modelle für den Hauptcharakter hinzufügte. Im Juli 2009 kündigte das Unternehmen auf der San Diego Comic-Con einen weiteren Zusatzlevel an. Dieser Level knüpft an das Ende der Handlung von The Force Unleashed an, in der Starkiller Vader tötet und fortan dem Imperator dient. Er wird zur Zeit von Krieg der Sterne, der IV. Star-Wars-Episode auf Tatooine entsandt, um die Droiden R2-D2 und C-3PO, die über die Baupläne des Todessterns verfügen, zu finden. Hierzu begibt er sich zum Palast von Jabba the Hutt sowie nach Mos Eisley und konfrontiert Boba Fett und Obi-Wan Kenobi. Außerdem plante LucasArts die Veröffentlichung einer umfangreichen Erweiterung für The Force Unleashed. Diese erschien im November desselben Jahres unter dem Titel Ultimate Sith Edition, allerdings zunächst nur in Nordamerika. In Europa erschien die Erweiterung am 17. Dezember desselben Jahres. In Australien verzögerte sich die Veröffentlichung bis zum 16. April 2010. Die Ultimate Sith Edition umfasst das Grundspiel, alle bisher erschienenen Erweiterungspakete, eine weitere zusätzliche Spielumgebung sowie eine Portierung für Windows und MacOS. Der neue Level spielt zur Zeit von Das Imperium schlägt zurück. Starkiller nimmt dabei an der Stürmung der Rebellenbasis auf Hoth teil. Im April 2022, fast 10 Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung des Spiels veröffentlichte der Publisher Aspyr das Spiel für die Nintendo Switch erneut. Aspyr Media trat bereits für die Windows und Mac Versionen als Publisher auf. Die Portierung für die Nintendo Switch basiert auf der Fassung für die Wii. Dabei wurden neben der Anpassung an die neue Konsole und deren Eingabegeräte nur unwesentliche Änderungen vorgenommen. Verkaufszahlen In der ersten Verkaufswoche wurden von The Force Unleashed über eine Million Kopien verkauft. Im Februar 2009 bezeichnete LucasFilm den Titel als das sich am schnellsten verkaufende Star-Wars-Videospiel aller Zeiten. Der Großteil der verkauften Kopien entfiel auf den US-amerikanischen Markt. Dort wurden bis Ende September gemäß einer Erhebung der NPD Group 1,417 Millionen Exemplare verkauft. Davon entfielen 610.000 Stück auf die Xbox-360-Version. Es folgten die PlayStation-3-Umsetzung mit 325.000 und die Wii-Fassung mit 223.000 Einheiten. Mit diesen Fassungen war The Force Unleashed dreimal in den plattformübergreifenden Top 10 der meistverkauften Software des Monats September in den USA vertreten. In Großbritannien wurden bis Ende September rund 320.000 Einheiten abgesetzt. Damit belegte das Spiel für mindestens zwei Wochen den ersten Platz in den britischen All-Formats-Verkaufscharts. In Australien erreichte The Force Unleashed laut einer Statistik der Gesellschaft für Konsumforschung ebenfalls die Spitze der plattformübergreifenden Verkaufscharts. In den plattformspezifischen Rangfolgen belegten die Fassungen für Xbox 360, PlayStation 3, PlayStation 2 und PlayStation Portable jeweils den ersten Platz. Die Umsetzung für die Wii erreichte den zweiten, die für den Nintendo DS den achten Rang. Im Februar 2009 meldete LucasFilm, dass die Zahl der verkauften Exemplare auf 5,7 Millionen gestiegen ist. Bis Mitte 2009 wurden von dem Spiel sechs Millionen Einheiten verkauft. Im Februar 2010 meldete LucasArts, dass von The Force Unleashed bislang über sieben Millionen Exemplare abgesetzt wurden. Schätzungen zufolge wurden bis zum 1. August 2015 2,7 Millionen Exemplare der Xbox-Fassung abgesetzt. Es folgten die Umsetzung für die PlayStation 3 mit rund 2,16 Millionen. Von der Wii-Fassung wurden circa 1,85 Millionen verkauft. Auf die PlayStation-2-Portierung entfielen 1,25 Millionen. Von der PlayStation-Portable-Fassung wurden 1,07 Millionen Kopien verkauft. Die Version für den Nintendo DS wurde etwa 870.000 Mal verkauft. Rezeption Vorschauberichte Über The Force Unleashed wurde bereits vor der Veröffentlichung ausführlich berichtet. Im Vordergrund stand dabei neben Spekulationen über die Handlung die von LucasArts oft beworbene, zugrundeliegende Technologie. Jeremy Dunham vom Online-Magazin IGN beschrieb die im Rahmen einer Technik-Vorführung gezeigten Sequenzen als eindrucksvoll und vielversprechend. Die in den Fassungen für Xbox 360 und PlayStation 3 verwendeten Euphoria Engine und Digital Molecular Matter seien in der Lage, ein spektakuläres Spielerlebnis zu bieten. Auch Jason Ocampo von GameSpot bewertete die Technik, die hinter The Force Unleashed steht, als überzeugend. In Kombination mit detailliert ausgearbeiteten Spielumgebungen entfalten diese ihr Potential und bieten dem Spieler außergewöhnlich viel Abwechslung. Bei der Vorführung des Spiels auf der E3 2008 bezeichnete IGN The Force Unleashed als einen der vielversprechendsten Titel der Spielemesse. Rezensionen The Force Unleashed erhielt von der Fachpresse durchschnittliche Wertungen. Die Online-Datenbank Metacritic, die Testberichte sammelt und auswertet, errechnete Durchschnittswertungen für die einzelnen Versionen zwischen 65 % und 73 %. Etwa gleich schnitten die Fassungen für die PlayStation 3, die Xbox 360, die Wii und die PlayStation Portable mit 70 bis 73 erreichten Punkten ab. Schwächere Wertungen erhielten die Umsetzungen für die PlayStation 2 und für Windows mit 65 und 68 Punkten. Die schwächsten Wertungen erhielt im Schnitt die Nintendo-DS-Version, für die Metacritic eine Metawertung von 61 Punkten errechnete. Spielkonzept Chris Roper von IGN lobte, dass das Spiel unter den bisherigen Star-Wars-Titeln deutlich heraussteche. The Force Unleashed sei einer der besten Titel seit langem. Das Spielkonzept sei zwar einfach aufgebaut, die Kampfkraft der Spielfigur sorge jedoch für ein unterhaltsames und abwechslungsreiches Spielerlebnis. Dabei schade es auch nicht, dass die Balance des Spiels aufgrund der regelmäßig deutlich überlegenen Figur des Spielers nicht stimmig ist. Johnny Minkley von Eurogamer kritisierte dagegen den häufigen Gebrauch von Quick-Time-Events. Dies sind kurze Tastenfolgen, die die Darstellung einer aufwendig animierten Szene, in der die Spielfigur einen stärkeren Gegner niederstreckt, auslösen. Dies passe nicht zu den ansonsten sehr flexiblen Kampfmechaniken des Spiels. Seth Schiesel von der New York Times bezeichnete das Spielprinzip insgesamt als mäßig. Es biete zu wenig Abwechslung und Anspruch, da die Level meist nach dem gleichen, linearen Muster ablaufen. Laut dem Spiegel habe das Spiel seine besten Szenen am Anfang, auf Dauer werde es jedoch schnell eintönig. Kalle Hofmann von Gamereactor beklagte, dass sich diese Monotonie auch in der Gestaltung der Spielumgebungen widerspiegle. Giancarlo Varanini von 1Up.com schrieb, dass das Konzept inkonsequent umgesetzt sei. Dem Spieler stehen zwar vielfältige Machtfertigkeiten für Kämpfe zur Verfügung, gegen viele Gegner sind diese allerdings wirkungslos. Daher falle das Spiel zu oft auf das Niveau eines simplen Nahkampfspiels zurück. Sterling McGarvey von GameSpy bemängelte, dass wichtige Spielfunktionen unzureichend dokumentiert seien. Enttäuschend sei die Spielmechanik der Fassung für Mobiltelefone. Indem die Herausforderung für den Spieler darauf reduziert wird, Angriffsbefehle zu erteilen, werde das Spiel schnell eintönig. Handlung Roper lobte, dass die Handlung mithilfe von Zwischensequenzen anschaulich präsentiert wird. Da sie aber den Hauptteil des Spiels ausmache, sei sie deutlich zu kurz. So lasse sich das Spiel in acht bis zehn Stunden durchspielen. Brian Crecente von Kotaku beschrieb sie als zentralen Motivationsfaktor des Spiels. Kautz sprach von einer herausragenden Inszenierung der Handlung und der Charaktere. Benjamin Jakobs von Eurogamer bezeichnete die Handlung als insbesondere für Kenner der Star-Wars-Filme wertvoll, sie sei ein spannender Brückenschlag zwischen den Episoden III und IV. Auch Minkley lobte die Handlung als mitreißend, lebhaft und überraschend. Sie warte auch mit gut geschrieben und einprägsamen Figuren auf. Laut Joseph Szadkowski von der Washington Post übertreffe die Qualität der Erzählung die Star-Wars-Episoden I bis III. Jesse Schedeen von IGN zählte die Hauptfigur Starkiller zu einer der besten Kampfspiel-Figuren. Er lobte, dass die Entwickler mit ihm eine Figur kreiert hatten, die im Laufe des Spiels einen inneren Wandel durchläuft. Laut David Meikleham von Gamesradar sei die Figur allerdings uninspiriert gestaltet worden. Die Figur steche optisch und charakterlich nicht aus den übrigen Star-Wars-Charakteren heraus. Locke Webster von UGO Networks lobte Witwers Sprecherleistung. Technik Lob erhielten die Entwickler für das Nutzen aufwändiger Techniken wie Euphoria oder Digital Molecular Matter. Roper schrieb, dass deren Einbindung für das Spiel vorteilhaft sei. Jedoch seien beide Technologien stellenweise spürbar zu selten eingesetzt worden. Insbesondere DMM komme nur bei ausgewählten Objekten zum Einsatz, was dem durch die Technologie ermöglichten Realismus wieder einschränke. Störend seien auch die Menüs, zu deren Darstellung zu lange Ladezeiten erforderlich sind. Kevin VanOrd von GameSpot lobte die leistungsfähige Physik-Engine von The Force Unleashed. In Verbindung mit den relativ offen gestalteten Leveln erlaube sie dem Spieler, seine Gegner auf vielfältige und optisch spektakuläre Art mithilfe zahlreicher Gegenstände der Spielumgebung zu bekämpfen. Die dazu erforderliche Zielmechanik wurde jedoch vielfach als ungenau und unpräzise kritisiert. Paul Kautz von 4Players schrieb, dass sich Objekte nur sehr umständlich als Geschosse nutzen lassen. Häufig ergreife man falsche Gegenstände oder schleudere sie auf falsche Ziele. Gelungen sei die Zielerfassung allerdings auf der Wii-Portierung. Mark Bozon von IGN lobte, dass Krome die Spielmechaniken in überzeugender Weise an die Eingabegeräte der Wii angepasst hat. An der Fassung für den Nintendo DS bemängelte Matt Casamassina von IGN, dass sie sich nur mit dem Stylus wirklich präzise bedienen lasse. Phil Theobald von GameSpy bezeichnete die Steuerung in dieser Umsetzung als enttäuschend. Ähnlich wie die Zielmechanik wurde die Kameraführung als misslungen kritisiert. Dies betreffe alle Fassungen des Spiels. Insbesondere in engen Gebieten bewege sich die Kamera ungeschickt, wodurch Übersicht verloren gehe. McGarvey bemängelte dieses Problem auch bei den Kämpfen gegen Endgegner. Die Bewertung der Grafikleistung des Spiels variierte zwischen den einzelnen Plattformen. Überzeugend sei sie bei der Fassung für die Xbox 360. Jakobs lobte die beeindruckenden Lichtverhältnisse: Hier bemerke man beim Spielen die Kooperation zwischen LucasArts und ILM. Die PlayStation-3-Version sei zwar technisch annähernd gleichwertig, allerdings weise sie einige Grafikfehler auf. Auf den von Krome entwickelten Fassungen für PlayStation 2, PlayStation Portable und Wii wirke der Titel dagegen grafisch allenfalls durchschnittlich. Auf dem Nintendo DS leide das Spiel an vielen Stellen unter Grafikrucklern. Auch die künstliche Intelligenz leide unter einigen Fehlern. Kautz bemängelte den zu geringen Schwierigkeitsgrad, den die Gegner bieten. Er verglich ihre Kampffertigkeiten mit Moorhühnern. Hofmann bezeichnete die künstliche Intelligenz als stumpf. Die Vertonung des Spiels wurde durchgehend als sehr gut bewertet. Sowohl die Originalstücke von Williams als auch die für das Spiel komponierten Stücke zeuge von hoher Qualität. Szadkowski bezeichnete die Spielmusik als einen Höhepunkt des Spiels. Kautz lobte die Toneffekte als passend. Ebenso gut sei die Synchronisation gelungen, insbesondere in der englischen Originalfassung. Auf dem Nintendo DS sei jedoch die hohe Kompression der Musikstücke wahrnehmbar. An der Telefonfassung enttäusche, dass die Sprachaufnahmen durch reine Textmeldungen ersetzt wurden. Dadurch verliere das Spiel viel an Atmosphäre. Ultimate Sith Edition Die Erweiterung wurde häufig dafür kritisiert, zu wenig Neuerungen zu bieten. So lobte Roper zwar, dass die neuen Level gelungen seien, mit drei Leveln und einigen neuen Kostümen sei die Erweiterung jedoch recht knapp geraten. Die PC-Fassungen wurden überwiegend als nicht ausgereift aufgefasst. Jakobs kritisierte, dass die Entwickler die Steuerung nur unzureichend angepasst hätten. So sei es noch mühsamer als bei den Konsolenfassungen, mithilfe der Machtfähigkeiten Objekte als Geschosse zu nutzen, da die Kombination aus Tastatur und Maus mehr als unpräzise sei. Auch VanOrd bemängelte, dass die Umsetzung eine mäßige Qualität habe. Sie kämpfe mit einbrechenden Bildwiederholungsraten und anderen technischen Problemen. Mangelnde Einstellungsmöglichkeiten und eine umständliche Menüführung zeigen deutlich den Ursprung als Konsolenspiel. Auch die Grafik wirke im Vergleich mit anderen PC-Titeln rückständig. Die Zeitschrift PC Games bezeichnete die Umsetzung als lieblos verwirklicht. Auszeichnungen Die Time bewertete The Force Unleashed als einen der Höhepunkte des Jahres 2008. Darüber hinaus erhielt es von der Writers Guild of America 2009 eine Auszeichnung für seine Handlung. Ebenfalls wurde das Spiel für eine Auszeichnung der International Film Music Critics Association in der Kategorie der besten Spielmusik nominiert. Diese Auszeichnung verlor der Titel jedoch an Age of Conan. Allerdings wurde das Spiel auch auf einigen Negativlisten prämiert. Entertainment Weekly listete es als einen der schlechtesten Titel des Jahres 2008. Bei GameTrailers gewann der Titel die Auszeichnung des enttäuschendsten Spiels des Jahres. Begleitmedien Der australische Schriftsteller Sean Williams verfasste zum Spiel einen gleichnamigen Roman, der der Spielhandlung folgt und sie in etwas ausführlicherer Weise wiedergibt. Dieser erschien im Juli 2008 auf Deutsch beim Panini-Verlag. Die englische Ausgabe, die von Del Rey herausgegeben wurde, folgte einen Monat später. In den USA verkaufte sich der Roman über 100.000 Mal und wurde in den Bestseller-Liste von Publishers Weekly und der New York Times geführt. Ebenfalls erschien Mitte August 2008 ein Comic zum Spiel, der dessen Handlung nacherzählt. Er wurde von Haden Blackman geschrieben und von Brian Ching und David Ross gezeichnet. Zu dem Star-Wars-Rollenspiel von Wizards of the Coast erschien eine Ergänzung, die auf der Handlung von The Force Unleashed aufbaut. Daneben wurden ein Lego-Modell der Rogue Shadow sowie eine Figurenserie von Hasbro auf den Markt gebracht. Nachfolger Am 12. Dezember 2009 gab LucasArts im Rahmen der Video Game Awards die Entwicklung des Nachfolgers Star Wars: The Force Unleashed II bekannt. Dieser ist am 26. Oktober 2010 in Nordamerika und am 28. Oktober in Deutschland erschienen. Der Spieler übernimmt die Rolle eines Klons von Vaders ehemaligem Schüler Starkiller. Nach Starkillers Tod im Vorgänger wurde er von Vader geklont, damit dieser ihm erneut als Attentäter dient. Dazu trainiert Vader den Klon auf dem Planeten Kamino. Während einer Prüfung Vaders weigert er sich jedoch, ein Abbild von Mareks Geliebten Juno zu töten. Bevor Vader ihn wegen seines Versagens töten kann, flüchtet er aus der Kloneinrichtung und begibt sich auf die Suche nach General Kota, der ihn zu Juno führen soll. In spielerischer Hinsicht ergeben sich nur geringe Unterschiede zum Vorgänger. Eine Neuerung ist der Herausforderungsmodus, der dem Spieler neben der Kampagne verschiedene Wett- und Geschicklichkeitsläufe gegen die Zeit bietet. Die Wii-Version verfügt im Gegensatz zu den anderen Versionen zusätzlich über einen Mehrspieler-Modus. Kritiker bemängelten, dass sich The Force Unleashed II innerhalb weniger Stunden durchspielen lasse. Es sei zu kurz und zu einfach. Auch die Handlung sei nicht überzeugend. Im Vergleich mit anderen Actionspielen sei der Titel daher enttäuschend. Gelobt wurde dagegen die Optik der Spielumgebungen. Weblinks Offizielle Website zum Spiel (englisch) Star Wars: The Force Unleashed in der Jedipedia.net Einzelnachweise Actionspiel Computerspiel 2008 IOS-Spiel Mac-OS-Spiel N-Gage-Spiel Nintendo-DS-Spiel PlayStation-2-Spiel PlayStation-3-Spiel PlayStation-Portable-Spiel Force Unleashed #The Wii-Spiel Windows-Spiel Xbox-360-Spiel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pferdebahn%20Timi%C8%99oara
Pferdebahn Timișoara
|} Die Pferdebahn Timișoara wurde 1869 eröffnet und bildete den Grundstein der, seit 1899 elektrifizierten, Straßenbahn Timișoara. Die normalspurige Pferdestraßenbahn im heute zu Rumänien gehörenden Timișoara – ungarisch Temesvár und damals Teil des Königreiches Ungarn – wurde von der Aktiengesellschaft Temesvári Közúti Vaspálya Társaság – abgekürzt TKVT, deutsch: Temesvarer Straßen-Eisenbahn-Gesellschaft – betrieben. Diese hieß ab 1897 Temesvári Villamos Városi Vasút Részvénytársaság (TVVV), heute firmiert sie – wiederum als Aktiengesellschaft – unter der Bezeichnung Societatea de Transport Public Timișoara, abgekürzt S.T.P.T. Geschichte Vorgeschichte Bereits am 15. November 1857, noch zur österreichischen Zeit, erhielt das damalige Temeswar einen Anschluss an das Eisenbahnnetz der privaten Österreichisch-ungarischen Staatseisenbahngesellschaft. Damals erreichte eine neue Strecke von Szeged her die Hauptstadt des Banats. Jedoch lag der neue Temeswarer Bahnhof – der heutige Gara de Nord – im Stadtbezirk Josefstadt und damit weit außerhalb des Stadtzentrums. Zwischen der Inneren Stadt und dem Josefstädter Bahnhof (später Józsefvárosi pályaudvar) lag das damals noch unbebaute Festungsvorland. Vom zentralen Paradeplatz (später Jenő Herceg tér, heute Piața Libertății) aus waren beispielsweise rund zweieinhalb Kilometer Fußweg zum Bahnhof zurückzulegen. Schon am 20. Juli 1858 ging die Erweiterung der Bahnstrecke nach Karasjeszenö in Betrieb, heute Jasenovo in Serbien. Diese führte fortan nur wenige hundert Meter südlich der massiven Festungsmauern an der Inneren Stadt vorbei, dennoch wurde dort aus militärstrategischen Gründen keine Station eingerichtet. Die Verlängerung änderte somit nichts an der mangelhaften Erreichbarkeit der Eisenbahn. Außerdem machte sich im Zuge der beginnenden Industrialisierung das Fehlen einer Verkehrsverbindung zwischen der Inneren Stadt und der ebenfalls peripher gelegenen Fabrikstadt immer stärker bemerkbar. Unabhängig von den zahlreichen Industriebetrieben dort war die Fabrikstadt seinerzeit außerdem der größte Temesvárer Stadtteil; 1850 lebten dort 70 Prozent der Einwohner. Konzessionserteilung und Baubeginn Zur Verbesserung der städtischen Verkehrsverhältnisse gründete sich daher am 3. November 1867 – wenige Monate nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich – die spätere Pferdebahn-Betreibergesellschaft. Am 11. Dezember 1867 erhielt das neue Unternehmen die Baugenehmigung Nummer 11.981 für die Errichtung der Anlage. Am 12. Februar 1868 reichte es die Baupläne ein, am 20. Februar 1868 folgte auch die ursprünglich für eine Dauer von 50 Jahren ausgestellte Konzession. Erfolglos blieb hingegen das konkurrierende Angebot der beiden Unternehmer J. Krammer und A. Herzberg aus der damaligen ungarischen Hauptstadt Pest. Zwar erkannte der Stadtrat im März 1868 an, dass deren Offerte günstiger sei. Da die Genehmigung jedoch zuvor schon dem lokalen Unternehmen erteilt wurde, wurde der neue Antrag abgelehnt. Im Gegenzug kam dieses der Stadt in mehreren Punkten entgegen; so akzeptierte die Gesellschaft beispielsweise die nachträgliche Verkürzung der Konzessionsdauer von 50 auf 40 Jahre. Diese erfolgte durch das zuständige Bauministerium in Pest am 15. Juli 1868 per Dekret Nummer 6530. Am 29. Oktober 1868 begannen schließlich die Bauarbeiten für die Bahn, ungarisch als lóvasút für Pferdeeisenbahn bezeichnet. Im April 1869 wurde der Ingenieur Heinrich Baader mit der weiteren Leitung der Bauarbeiten beauftragt und kurz darauf am 1. Juli 1869 zum Direktor des Unternehmens ernannt. Im Mai 1869 schloss die Gesellschaft mit der Stadt einen Landnutzungsvertrag. Dieser enthielt zusätzlich zu den üblichen Klauseln eine Vereinbarung, nach welcher die Pferdebahngesellschaft ein Viertel der Kosten für den Bau und die Instandhaltung der von ihr benutzten Brücken bezahlen musste. Eröffnung (Juli 1869) Am Donnerstag, dem 8. Juli 1869 erfolgte schließlich die Aufnahme des Pferdebahnbetriebs, zunächst jedoch nur zwischen der Inneren Stadt und der Fabrikstadt. Nach New York (1832), Montbrison (1839), Paris (1855), Boston (1856), Mexiko-Stadt (1857), Havanna und Santiago de Chile (1858), Rio de Janeiro (1859), Birkenhead (1860), London, Sydney und Toronto (1861), Genf (1862), Buenos Aires, Alexandria, Kapstadt, Kopenhagen, Sankt Petersburg und Valparaíso (1863), Berlin und Wien (1865), Hamburg und Pest (1866), Buda und Stuttgart (1868) sowie Brüssel (Mai 1869) war Temesvár mit seinen damals 32.725 Einwohnern unter den ersten Städten weltweit, die eine Pferdestraßenbahn eröffneten. Wie in nahezu allen anderen Städten entschieden sich auch die Planer in Timișoara für die Normalspur, lediglich Santiago de Chile, Rio de Janeiro und Valparaíso (alle Kolonialspur von 1676 Millimetern) sowie Sankt Petersburg (Russische Breitspur von 1524 Millimetern) hatten damals andere Spurweiten. Die Endstelle in der Inneren Stadt befand sich auf der verkehrsgünstig gelegenen heutigen Piața Sfântu Gheorghe, damals Szent György tér beziehungsweise Sankt-Georgs-Platz genannt. Der Platz liegt nur etwa 100 Meter östlich der zentralen Piața Libertății und 200 Meter südlich der Piața Unirii, dem zweiten zentralen Platz der Inneren Stadt. In der Fabrikstadt war die Endstation auf der heutigen Piaţa Romanilor, ehemals Piaţa Coronini beziehungsweise ungarisch Coronini tér. Diese Bezeichnung kam jedoch erst in den 1880er Jahren auf, weshalb in den meisten Quellen der Gasthof Zur Königin von England – ungarisch Angol Királynő – als erste Endstation der Pferdebahn angegeben wird. Hierbei handelte es sich um das Eckhaus an der nordöstlichen Seite des Platzes, heute Piaţa Romanilor Nummer 1. Diese erste Strecke war 1896 Meter lang und wich an zwei Stellen von der heutigen Linienführung der Straßenbahn ab. In diesen beiden Abschnitten verkehrte die Pferdebahn südlich der heutigen Trassierung: Vom Ausgangspunkt aus führte die Strecke zunächst in südöstliche Richtung durch die Strada Enrico Caruso bis zum Haupttor der ehemaligen Siebenbürger Kaserne, von dort aus wieder in nordöstliche Richtung durch die – in den 1960er Jahren teilweise durch das Kaufhaus bega überbaute – Strada Carol Telbisz zur heutigen Trasse. Diese wurde an der Einmündung der Strada Martin Luther in den Bulevardul Revoluţiei din 1989 erreicht, das heißt vor dem heutigen Hotel Continental. Zwischen dem früheren Siebenbürger Tor (Erdélyi kapu, beim heutigen Hotel Continental gelegen) und dem Eingang zum Parcul Poporului (Stadtpark, Városliget) in der Fabrikstadt verlief die Verbindungsstraße und somit auch die Straßenbahntrasse ursprünglich weiter südlich als heute. Sie folgte – quer über das damals noch unbebaute Postpalais-Gelände hinweg – den heutigen Straßen Ludwig van Beethoven und Martir Leontina Bânciu. Die Bega verlief damals – vor ihrer Kanalisierung – noch etwas weiter südlich und musste von der Pferdebahn nicht überwunden werden. Stattdessen querten Straße und Straßenbahn circa 100 Meter südlich der – erst 1909 fertiggestellten – Decebal-Brücke den sogenannten Holzschwemmkanal, einen ehemaligen Seitenarm der Bega. Erst beim Neptunbad erreichte die Pferdebahn die gegenwärtige Straßenbahnstrecke. Den Festungsgraben überquerte die Bahn auf einer Holzbrücke; die Stadtmauer selbst wurde mittels eines zweiflügeligen Bahnfestungstors passiert. Im Belagerungsfall hätte die Straßenbahngesellschaft, gemäß einem am 7. September 1868 unterzeichneten Vertrag, auf Ersuchen des Militärs innerhalb von maximal 24 Stunden die Brücke demontieren und die Mauer in ihren ursprünglichen Zustand versetzen müssen. Im Bereich des Festungsvorlands verliefen die Schienen über mehr als einen Kilometer ähnlich einer Überlandstraßenbahn durch weitgehend unbebautes Gebiet. An Personal und Betriebsmitteln standen anfangs zunächst 1 Inspektor, 6 Schaffner, 7 Kutscher, 3 Streckenwärter, 5 Personenwagen und 15 Paar Pferde zur Verfügung, wovon 1 Wagen und 3 Paar Pferde als Reserve dienten. Das heißt, jedem Kurs waren 3 Pferde zugeordnet, von denen jedoch nur 2 gleichzeitig zum Ziehen des Wagens benötigt wurden, während das dritte an der Endstelle pausierte. Als Besonderheit verfügten die Fahrzeuge der Pferdebahn anfangs über zwei Wagenklassen, wie es damals vor allem bei der Eisenbahn üblich war. Der Fahrgastraum war in der Mitte geteilt, der Durchgang zwischen den beiden Abteilen war jedoch offen. Bereits am 16. August 1869 ereignete sich nahe der Festungsmauer ein tödlicher Verkehrsunfall; der letzte Kurs in Richtung Fabrikstadt überfuhr gegen 21:00 Uhr eine mutmaßlich angetrunkene Person. Erweiterung in die Josefstadt (Oktober 1869) Dreieinhalb Monate nach der Eröffnung – am Montag, dem 25. Oktober 1869 – erhielt schließlich auch die Josefstadt ihren Anschluss an die neue Pferdebahn. Es verkehrte fortan eine zweite Linie zwischen der Piața Sfântul Gheorghe und dem Gasthaus Wilder Mann (ungarisch Vad-ember) am nördlichen Ende der heutigen Strada Iancu Văcărescu, das heißt an der Einmündung in das heutige Splaiul Tudor Vladimirescu. Die dortige T-Kreuzung am linken Bega-Ufer fungierte als provisorische Endstelle, weil die zum Anschluss des Josefstädter Bahnhofs erforderliche Brücke über die Bega, die spätere Bem-híd und heutige Podul Eroilor, nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte. Die neue Linie war circa 2,9 Kilometer lang, in der Inneren Stadt benutzte sie auf den ersten 100 Metern die bereits bestehende Infrastruktur in Richtung Fabrikstadt. Erst vor dem Haupttor der damaligen Siebenbürger Kaserne teilten sich die beiden Strecken. Von dort aus führten sie über die Piața Iancu Huniade und die Piața Victoriei, bevor sie bei der heutigen Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen auf die heutige Straßenbahntrasse trafen. Die Festungsanlage beim Peterwardeiner Tor (Péterváradi kapu) wurde wiederum mittels einer rasch demontierbaren Holzbrücke und eines eigenen Tores passiert. Anschließend verlief auch die Strecke in die Josefstadt auf circa einem Kilometer Länge als Überlandstraßenbahn über freies Feld. Eine betriebliche Besonderheit des neuen Abschnitts war die niveaugleiche Kreuzung mit der seit 1858 bestehenden Eisenbahnstrecke nach Karasjeszenö. Die beiden Verkehrsmittel kreuzten sich exakt auf Höhe der heutigen Kathedrale. Zur besseren Erschließung der Josefstadt nahm die Pferdebahnstrecke ab der Piața Alexandru Mocioni einen Umweg über die Kreuzung des Bulevardul 16 Decembrie 1989 mit der Strada Iancu Văcărescu. In der Inneren Stadt musste zwischen den beiden Radiallinien in die Fabrikstadt und in die Josefstadt umgestiegen werden. Verlängerung in der Fabrikstadt (Oktober 1869) Am 26. Oktober 1869 erfolgte schließlich die Verlängerung der bereits bestehenden Fabrikstädter Strecke. Die Erweiterung war circa 650 Meter lang und führte bis zur großen Kreuzung bei der heutigen Haltestelle Prințul Turcesc (Türkischer Prinz), früher Împăratul Turcesc beziehungsweise zu Pferdebahnzeiten ungarisch Török Császár respektive deutsch Türkischer Kaiser genannt. Die Endstelle lag noch in der heutigen Strada Titu Maiorescu. Auch diese Trasse entsprach nicht der heutigen Straßenbahnstrecke, sondern verlief südlich davon. Sie nahm demnach nicht den direkten Weg über die Piața Traian, sondern führte diagonal über die Piața Romanilor und erreichte anschließend über ein circa 60 Meter langes Privatgrundstück der Pferdebahngesellschaft die Strada Ștefan cel Mare. Diesen – nach Einstellung der Pferdebahn wieder überbauten – Hausplatz mit der Konskriptionsnummer 15, heute Strada Ștefan cel Mare Nummer 22, hatte das Unternehmen eigens zu diesem Zweck bereits 1868 dem vormaligen Besitzer Krausz für 7500 Gulden abgekauft. Beim ehemaligen Gasthaus Zum Schwarzen Bären kreuzte die Bahn – ab hier wieder auf öffentlichem Grund – etwas nördlich der Brauerei die gegenwärtige Straßenbahntrasse im rechten Winkel. Anschließend überquerte die Pferdebahn auf der langgestreckten Piața Aurel Vlaicu – damals Rózsa tér beziehungsweise Rosenplatz – ein weiteres Mal den Mühlkanal und folgte schließlich der heutigen Strada Titu Maiorescu bis zur Endstelle. Verlängerung in der Josefstadt (1871) Nach Fertigstellung der aufwändig konstruierten Bem-híd – seinerzeit die erste Stahlbrücke über die Bega – wurde die Josefstädter Linie am Freitag, den 29. September 1871 um circa 700 Meter verlängert. Damit erhielt der Josefstädter Bahnhof einen direkten Anschluss an die Pferdebahn. Die Erweiterung war dringend notwendig, da die Station mit der am 6. April 1871 erfolgten Eröffnung der Strecke nach Arad vom einfachen Durchgangsbahnhof zum Eisenbahnknoten aufgewertet wurde. Nördlich der neuen Brücke führte die Straßenbahn an der Tabakfabrik vorbei auf direktem Weg zum Bahnhof, das heißt durch die Strada Dimitrie Bolintineanu und im Anschluss daran durch das heutige Werksgelände des Unternehmens ELBA. Anschließend bog sie beim Güterbahnhof nach rechts in die Strada Gării ab und endete direkt vor dem Haupteingang des Empfangsgebäudes. Damit war die Pferdebahn – bezogen auf den Personenverkehr – vollendet. Nicht ausgeführte Planungen Weitere Streckenabschnitte waren zwar in Planung, gingen aber nicht mehr in Betrieb beziehungsweise konnten erst im Zuge der Elektrifizierung 1899 verwirklicht werden. So forderte die Stadt die Pferdebahngesellschaft wiederholt auf, die Fabrikstädter Linie um circa 500 Meter zum Malom-tér, der heutigen Piața Sarmisegetuza, zu verlängern. Dieser erschien das Vorhaben jedoch nicht profitabel. Des Weiteren führte das Unternehmen auch eine etwa 200 Meter lange Verlängerung von der Piața Sfântul Gheorghe zur Piața Unirii nicht aus. Abgesehen davon bemühte sich auch die Gesellschaft selbst um einen Ausbau. Sie erhielt im Herbst 1873 die Genehmigung für zwei Zweigstrecken von der Piața Aurel Vlaicu zur Podul Dacilor einerseits und zur Kreuzung der Strada Ștefan cel Mare mit der Calea Ioan Vidrighiu und der Strada Petre Cermena andererseits. Beide Routen konnten aber angesichts der wirtschaftlichen Krise in der die Temesvári Közúti Vaspálya mittlerweile steckte, nicht mehr realisiert werden. Außerdem äußerten viele Bürger der Fabrikstadt ihren Protest gegen diese Strecken. Sie fürchteten die engen Gassen und Brücken in diesem Bereich wären für den Pferdebahnbetrieb nicht geeignet. Aufnahme des Güterverkehrs (1872) Die im Laufe des Jahres 1871 erfolgte Fertigstellung der stählernen Losonczy híd, die eine ältere baufällige Holzbrücke ersetzte, ermöglichte im Mai 1872 die Aufnahme des Güterverkehrs mit der Pferdebahn. Hierzu lag bereits von Beginn an die nötige Konzession vor, die in den ersten Betriebsjahren allerdings ungenutzt blieb. Mit dem direkten Anschluss des Bahnhofs an die Pferdebahnstrecke im Jahr zuvor stieg die Nachfrage nach Gütertransporten mit der Pferdebahn enorm an. Vorher wurden hingegen nur Gepäckstücke befördert. Wichtigster Güterkunde war die heutige Timișoreana-Brauerei in der Fabrikstadt, die das Pferdebahnprojekt von Beginn an unterstützte und sich daran auch finanziell beteiligte. Eigens für den Güterverkehr existierte vor der Siebenbürger Kaserne ein Gleisdreieck, womit durchgehende Fahrten von der Fabrikstadt in die Josefstadt und umgekehrt ohne Fahrtrichtungswechsel möglich waren. Aufhebung des Zwei-Klassen-Systems (1875) Ebenfalls im Jahr 1872 beantragte die Pferdebahn-Gesellschaft bei den zuständigen Behörden die Aufhebung des Zwei-Klassen-Systems zugunsten eines Einheitstarifs. Statt der beiden Wagenklassen wollte man den Fahrgästen fortan ein Raucher- und ein Nichtraucherabteil anbieten. Doch wurde dieses Gesuch erst am 10. Juli 1875 beantwortet. Während der Einheitstarif und damit die Abschaffung der getrennten Wagenklassen am 21. Juli 1875 in Kraft treten konnte, wurden die Raucherabteile von der Verwaltung nicht genehmigt. Das Rauchen in den Wagen blieb somit weiterhin verboten. Damit behandelten die ungarischen Behörden durch Gesetz alle Fahrzeuge gleich, unabhängig davon ob sie, wie die zweiklassigen Pferdebahnwagen, im Innenraum aufgeteilt waren oder nicht. Dafür wurden den Wagen später in den Sommermonaten in jeweils einer Hälfte die Fensterscheiben entfernt und durch Vorhänge ersetzt, ähnlich einem Sommerwagen. Drei weitere niveaugleiche Kreuzungen mit der Eisenbahn Am 23. Oktober 1876 ging die neue Eisenbahnstrecke von Temesvár nach Karánsebes in Betrieb; dadurch entstanden zwei weitere niveaugleiche Kreuzungen mit der Österreichisch-ungarischen Staatseisenbahngesellschaft. Die eine von ihnen lag nur wenige Meter nördlich der bestehenden mit der Strecke nach Karasjeszenö, das heißt ebenfalls bei der heutigen Kathedrale. Die zweite befand sich zwischen der Inneren Stadt und der Fabrikstadt, an der heutigen Kreuzung des Bulevardul Constantin Diaconovici Loga mit der Strada Ludwig van Beethoven. Dort liegen heute gar keine Schienen mehr, beide Verkehrsmittel wurden im Laufe der Jahre verlegt – die Eisenbahn 1902 und die spätere elektrische Straßenbahn 1909. Die neue Bahnstrecke verschärfte insbesondere die Situation bei der heutigen Kathedrale, wo fortan deutlich mehr Züge Straßenbahn und Straßenverkehr behinderten. Für zusätzlichen Verkehr sorgten einige Jahre später außerdem die von der ungarischen Staatsbahn Magyar Államvasutak (MÁV) eröffneten Strecken nach Buziaș (ab 1896) und nach Radna (ab 1897). Die Häufung der Zugfahrten – zeitweise waren bei der heutigen Kathedrale auf beiden Strecken zusammen bis zu 40 täglich abzuwickeln – verursachte lange Schließzeiten. In den 1880er Jahren kam außerdem auf dem Bahnhofsvorplatz eine vierte Gleiskreuzung mit der Eisenbahn hinzu. Dort querte fortan das Anschlussgleis zur Pannonischen Dampfmühle, die gegenüber dem Empfangsgebäude auf der anderen Straßenseite lag, die Trasse der Pferdebahn im rechten Winkel. Weltausstellung (1891) Vom 19. Juni bis zum 30. September 1891 fand in Temesvár eine Weltausstellung statt, die Universalausstellung für Industrie und Landwirtschaft. Der eigens anlässlich dieser Veranstaltung angelegte Franz-Joseph-Park wurde von der Pferdebahnstrecke in die Fabrikstadt tangiert, der Haupteingang befand sich an der Kreuzung des Buleverdul Constantin Diaconovici Loga mit der Strada Ludwig van Beethoven, was der Straßenbahn ein entsprechendes Fahrgastaufkommen bescherte. Um die Besuchermassen bewältigen zu können, beschaffte die Gesellschaft im Vorfeld der Veranstaltung weitere fünf Personenwagen. Damit konnten die vier Umläufe der Fabrikstädter Linie fortan bei Bedarf dreifach geführt werden, der fünfte Wagen diente als zusätzlicher Reservewagen. Die Expo führte letztlich zu einem Fahrgastrekord; so beförderte die Pferdebahn im gesamten Jahr 1891 964.264 Fahrgäste – diesen Wert erreichte sie bis zur Elektrifizierung nicht mehr. Konkurrenz durch Pferdeomnibusse (1894) Um auch den 1890 nach Temeswar eingemeindeten Stadtbezirk Alte Mayerhöfe – seit 1896 Elisabethstadt genannt – an das städtische Verkehrsnetz anzubinden, erlaubte die Stadt einem weiteren Privatunternehmer die Einführung von Pferdeomnibussen in Konkurrenz zur Straßenbahn. Dessen Unternehmen Temesvár–Majoroki Társaskocsi Részvénytársaság mit einem Kernkapital von 12.000 Kronen bediente ab dem 24. Oktober 1894 die Strecke zwischen der Inneren Stadt und der heutigen Piața Nicolae Bălcescu. Dieser Platz war damals wie heute das Zentrum der Elisabethstadt, während die Pferdebahn den neuen Stadtteil nur an dessen nordwestlicher Seite tangierte. Am 27. Mai 1895 erhielt die Omnibusgesellschaft schließlich die Genehmigung zur Einführung zweier weiterer Linien, die zwischen der Inneren Stadt und dem Josefstädter Bahnhof einerseits und dem Fabrikstädter Bahnhof andererseits verlaufen sollten. Der peripher gelegene 1876 eröffnete Fabrikstädter Bahnhof hatte damals noch gar keinen Verkehrsanschluss, er lag in damals noch unbebautem Gelände nördlich des Fabrikstädter Zentrums, von der zentral gelegenen Piața Traian über einen Kilometer entfernt. Im Gegensatz dazu stellte die Direktverbindung zum wichtigeren Bahnhof in der Josefstadt eine ernsthafte Konkurrenz für die Straßenbahngesellschaft dar, mussten deren Wagen doch weiterhin den Umweg durch die südliche Josefstadt nehmen. Letztlich erhob die Temesvári Közúti Vaspálya erfolgreich Einspruch gegen die Ausweitung des neuen Verkehrsmittels, weil dieses den Ausbau des Straßenbahnnetzes erschwere. Schon im Juni 1895 zog der Stadtrat seine Genehmigung daher weitgehend zurück. Infolgedessen verkehrte die zweite Omnibuslinie – im Anschluss an die Pferdebahn – nur auf der kurzen Strecke Piaţa Romanilor – Gara de Est, die dritte kam gar nicht mehr zustande. Letztlich konnte sich das neue Unternehmen mit diesem Rumpfbetrieb wirtschaftlich nicht durchsetzen, weshalb die Temesvári Közúti Vaspálya Ende 1896 die Omnibusgesellschaft aufkaufte. Anschließend bediente die Straßenbahngesellschaft die kürzere Linie in der Fabrikstadt selbst, während die längere Verbindung in die Elisabethstadt damals gänzlich entfiel. Trassenkorrekturen in der Fabrikstadt (1896) und der Josefstadt (1897) Der Neubau der Millenniumskirche, die zwischen 1896 und 1901 auf der zuvor unbebauten Piața Romanilor entstand, erforderte drei Jahre vor der Elektrifizierung noch eine Trassenkorrektur in der Fabrikstadt. Um das Baufeld zu räumen, umrundete die Pferdebahn den Platz zuletzt an dessen nördlicher und östlicher Seite, anstatt ihn wie zuvor diagonal zu queren. Dadurch verlängerte sich die Wegstrecke geringfügig, außerdem musste die dortige Ausweiche ebenfalls an die Ostflanke des Platzes verlegt werden. Der zwischen 1897 und 1899 erfolgte Neubau des Josefstädter Bahnhofsgebäudes führte außerdem zu einer weiteren Trassenkorrektur auf dem Bahnhofsvorplatz. Dabei entfiel die ursprüngliche – direkt an das Stationsgebäude anschließende – Endstelle von 1871, die sich nördlich der heutigen Strada Gării befand und über eine kleine Brücke über den früher dort verlaufenden Kanal erreicht wurde. Die neue – letztlich nur zwei Jahre genutzte – Endstelle befand sich hingegen mitten auf dem Vorplatz, in direkter Verlängerung der Strecke aus Richtung Innenstadt. Damit entfielen sowohl die frühere S-Kurve als auch die Kanalbrücke. Vor der Elektrifizierung (1897) Nach langwierigen Verhandlungen zwischen Stadt und Straßenbahngesellschaft erteilte das Ministerium in Budapest am 5. Juni 1897 die Lizenz zur Elektrifizierung, woraufhin sich das Unternehmen zum 21. Juli gleichen Jahres in Temesvári Villamos Városi Vasút Részvénytársaság, zu deutsch Temeswarer Elektrische-Straßenbahn-Aktiengesellschaft, umbenannte. Die Gesellschaft hatte die Auflage – neben dem Umbau der bestehenden Strecken – vor allem die Erweiterung des Netzes voranzutreiben. Insbesondere die Bewohner der Elisabethstadt, die seit der 1896 erfolgten Einstellung der Pferdeomnibuslinie dorthin wieder ohne Verkehrsanschluss waren, forderten seit längerem ebenfalls an das Straßenbahnnetz angeschlossen zu werden. Ebenso dringlich war die Anbindung des Fabrikstädter Bahnhofs, der mit dem Pferdeomnibus nur unzureichend erschlossen war. Auch war das Verkehrsbedürfnis im Laufe der Jahre stark gestiegen und konnte mit der Pferdebahn nur noch bedingt befriedigt werden. So hatte sich die Einwohnerzahl Temesvárs während der Betriebszeit der Pferdebahn nahezu verdoppelt, 1900 wohnten bereits 59.229 Menschen in der Stadt. Ferner galt eine pferdebetriebene Straßenbahn gegen Ende des 19. Jahrhunderts als nicht mehr zeitgemäß. In der Hauptstadt Budapest gab es beispielsweise bereits seit 1887 elektrische Straßenbahnen, in Wien, der anderen Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, seit 1897. Aufnahme des elektrischen Betriebs (1899) → siehe Hauptartikel Umstellung auf elektrischen Betrieb Im Juli 1898 begannen die Bauarbeiten für das neue Liniennetz. Dabei wurde das Netz von zuletzt 6,636 beziehungsweise 6,672 auf 10,315 Kilometer erweitert. Am Donnerstag, dem 27. Juli 1899, wurde der elektrische Betrieb aufgenommen. Statt der beiden Pferdebahnlinien – die keine Liniennummern trugen – verkehrten fortan die fünf elektrisch betriebenen Linien I, II, III, IV und V. Nur die beiden Streckenteile Piața Romanilor–Piața Balaș und Oper–Piața Alexandru Mocioni wurden direkt umgestellt, das heißt etwa 2,4 Kilometer. Diese beiden Abschnitte wurden im Vorfeld der Elektrifizierung zweigleisig ausgebaut. Der Großteil des ab 1899 betriebenen Netzes waren hingegen komplett neu errichtete Trassen. Mit der Umstellung war außerdem eine massive Steigerung der Verkehrsleistung verbunden. Beförderte die Pferdebahn 1898 noch 874.901 Fahrgäste, so waren es bei der elektrischen Straßenbahn 1900 bereits 2.397.492, das heißt mehr als zweieinhalb mal so viele. Die beiden ehemaligen Pferdebahnstrecken sind – abgesehen von den Trassenkorrekturen im Laufe der Jahre – bis heute die Hauptachse der Straßenbahn Timișoara geblieben. Die Route Fabrikstadt – Innere Stadt – Josefstadt wird heute im Wesentlichen von den Linien 1 und 2 bedient. Insbesondere gilt dies für die Hauptlinie 1, sie bedient beide Endpunkte der ehemaligen Pferdebahn. Als Besonderheit verkehrte jedoch der Nachtkurs zum Josefstädter Bahnhof und zurück noch bis 1904 als Pferdebahn, weil das anfänglich vorhandene betriebseigene Kraftwerk nachts nicht arbeitete. Erst die im gleichen Jahr erfolgte Kommunalisierung der Straßenbahn und der damit verbundene Anschluss an das städtische Elektrizitätswerk beendete den Pferdebahnbetrieb in Timișoara endgültig. Betrieb und Infrastruktur Die gesamte Gleislänge der Pferdebahn, das heißt inklusive aller Ausweichen, Depotgleise sowie der für den Güterverkehr benötigten Nebengleise, betrug nach Vollendung aller Abschnitte 7584 Meter. Für den Gleisbau verwendete die Gesellschaft überwiegend Loubat-Rillenschienen mit einer Masse von 23 Kilogramm je Meter, die auf Eichenschwellen montiert waren. Lediglich auf zwei kürzeren Teilstücken der Überlandabschnitte zwischen der Inneren Stadt und den beiden Vorstädten kamen auf einem Schotterbett verlegte Vignolschienen mit einer Masse von 16 Kilogramm je Meter zum Einsatz, deren Zwischenraum mit Sand aufgefüllt war: circa 400 Meter zwischen dem Siebenbürger Tor und der heutigen Kreuzung des Bulevardul Constantin Diaconovici Loga mit der Strada Ludwig van Beethoven circa 300 Meter zwischen dem Peterwardeiner Tor und dem ehemaligen Bahnübergang bei der heutigen Kathedrale Hersteller der Schienen war das Stahlwerk in Reșița, sie kosteten 18 Forint je Kubikmeter. Beide Strecken der Pferdebahn waren durchgehend eingleisig; von der Inneren Stadt aus betrachtet lag das Gleis in Fahrtrichtung Fabrikstadt auf der rechten Straßenseite, in Fahrtrichtung Josefstadt auf der linken. Der etwa 100 Meter lange und von beiden Linien bediente Abschnitt durch die Strada Enrico Caruso war als gemeinsam genutzte Ausweiche ausgeführt. Diese Ausweiche wiederum mündete in eine viergleisige Umsteigestation auf der Piața Sfântul Gheorghe, wo auch die Pferde gewechselt wurden. Die beiden Linien benutzten die Ausweiche in der Inneren Stadt zeitversetzt; das heißt zunächst fand die überschlagende Wende der Fabrikstädter Linie statt, 6 Minuten später dann die überschlagende Wende der Josefstädter Linie. Dadurch ergab sich in beiden Fahrtrichtungen eine Übergangszeit von jeweils 6 Minuten. Insgesamt betrug die Reisezeit über die Gesamtstrecke der Pferdebahn somit – inklusive Umstieg – 45 Minuten je Richtung. Zusätzlich zur gemeinsam genutzten Ausweiche in der Strada Enrico Caruso standen den beiden Pferdebahnlinien sechs weitere Begegnungsmöglichkeiten zur Verfügung: Die Ausweichen hatten einen mittleren Abstand von circa 950 Metern zueinander und waren jeweils etwa 70 Meter lang; das heißt sie ermöglichten fliegende Kreuzungen. Nach vollendetem Ausbau wurden die beiden Linien mit zusammen zehn Kursen jeweils alle zehn bis zwölf Minuten bedient, die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit betrug etwa neuneinhalb Kilometer in der Stunde. Auf der Josefstädter Linie waren sechs Umläufe eingeplant beziehungsweise bis zur Verlängerung im Jahr 1871 nur fünf. Auf der Fabrikstädter Linie waren es von Beginn an vier. Betriebsbeginn war um 6:00 Uhr morgens, um 22:00 Uhr verkehrte der letzte Kurs ab Fabrikstadt. Dieser wiederum hatte in der Inneren Stadt Anschluss an den letzten Wagen des Tages in die Josefstadt. Zusätzlich verkehrte außerdem täglich gegen 3:30 Uhr ein spezieller Nachtkurs zum Josefstädter Bahnhof, der von dort um 4:00 Uhr wieder zurück fuhr. Er bot Anschluss an einen um diese Zeit nach Budapest fahrenden und einen weiteren von dort kommenden Zug. Obwohl gemäß Konzessionsvertrag mit der Stadt auch in Timișoara fest definierte Haltestellen ausgewiesen waren, konnten die Fahrgäste – wie damals bei vielen Pferdebahnen üblich – jederzeit auf Zuruf vom Wageninneren beziehungsweise mittels Zuwinken vom Straßenrand aus das Anhalten nach Bedarf verlangen. Diese Praxis endete erst mit der Elektrifizierung. Bei großem Fahrgastandrang standen für beide Linien je drei Zusatzwagen bereit, die – so zum Beispiel als sogenannte Theaterwagen nach Theatervorstellungen – spontan die regulären Kurse verstärkten und ebenfalls auf der Piața Sfântul Gheorghe bereitgehalten wurden. So konnten bei Bedarf auf der Josefstädter Linie im Schnitt jeder zweite, auf der Fabrikstädter Linie sogar drei von vier Kursen doppelt geführt werden. Die Zusatzwagen verkehrten im Folgezugbetrieb direkt hinter dem Regelzug, entgegenkommende Kurse mussten also in den Ausweichen stets beide Wagen vorbeilassen. In den Hauptverkehrszeiten war es mit den zusammen 21 Wagen sogar möglich, alle Kurse doppelt zu führen und zusätzlich einen Wagen in Reserve vorzuhalten. Eine Taktverdichtung wäre auf der durchgehend eingleisigen Infrastruktur ohne den Bau zweigleisiger Abschnitte oder weiterer Ausweichen nicht möglich gewesen. Mit der Beschaffung fünf weiterer Wagen zur Weltausstellung von 1891 konnten schließlich bei entsprechender Nachfrage die Kurse der Fabrikstädter Linie sogar dreifach geführt werden. Betriebsgebäude Erstes Depot von 1869 Zur Betriebsaufnahme im Sommer 1869 überließ die Stadt der Pferdebahngesellschaft ein kostenloses Depot-Areal auf der Südseite der Piața Romanilor, dem heutigen Grundstück Piața Romanilor Nummer 11. Seinerzeit befand sich dort der westliche Bebauungsrand der Fabrikstadt, das Depot selbst befand sich bereits auf der sogenannten Seilerwiese, das heißt auf dem damals noch unbebauten Gelände zwischen der Verbindungsstraße von der Inneren Stadt in die Fabrikstadt (heute Bulevardul 3 August 1919) im Norden, der heutigen Piaţa Romanilor im Osten, der Bega (heute Strada Joseph Nischbach) im Süden und dem Holzschwemmkanal (heute Strada Episcop Joseph Lonovici) im Westen. An Stelle des vormaligen kaiserlich-königlichen Bettenlagers, errichtete das Unternehmen dort bis Ende des Jahres 1869 eine hölzerne Wagenhalle, die 27 Klafter (51,2 Meter) lang und elf Klafter (20,8 Meter) breit war. Die dreigleisige Remise war über eine Drehscheibe erreichbar und bot allen 24 damals vorhandenen Wagen Platz. Die Stallungen für die Pferde waren anfangs – räumlich vom Depot getrennt – im benachbarten Haus mit der Fabrikstädter Konskriptionsnummer 16 untergebracht, heute Piața Romanilor Nummer 10 bzw. Strada Ștefan cel Mare Nummer 20. Dieses hatte die Gesellschaft am 6. März 1869 für 18.500 Gulden dem Vorbesitzer Carol Schiller abgekauft und bis 1870 entsprechend ihren Zwecken umgebaut. Die Verwaltung wiederum hatte sich im Haus des Lloyd’s of London in der Inneren Stadt eingemietet. Der erste Betriebshof besaß jedoch nur einen provisorischen Charakter, die Straßenbahngesellschaft hatte die Auflage sich ein eigenes Depotgrundstück zu suchen und das ihr überlassene Areal gegebenenfalls innerhalb von sechs Wochen wieder zu räumen. Diese Kündigung erfolgte am 4. November 1871, jedoch sah sich die Gesellschaft nicht in der Lage ihr nachzukommen. Sie trat in Verhandlungen darüber, der Stadt das 468 Quadratklafter große Areal abzukaufen, was diese jedoch ablehnte. Letztlich zwang erst ein Gerichtsbeschluss im Herbst 1873 die Gesellschaft ihr vorläufiges Depot auf der Seilerwiese zu liquidieren, bevor die Stadt schließlich 1884 – anlässlich der Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung – dort ihr erstes Elektrizitätswerk errichtete. Zweites Depot von 1874 Als Ersatz für das erste Depot kaufte die Straßenbahngesellschaft am 31. Dezember 1873 einer Isabela Schmidt für 22.000 Gulden das Haus mit der Fabrikstädter Konskriptionsnummer 400 ab. Dieses Gebäude – heute Piața Aurel Vlaicu Nummer 4 – befand sich auf der Nordseite der genannten Platzes, zwischen den Anlagen der Ersten Kunstmühl Gesellschaft auf der linken und dem Hotel Rosen auf der rechten Seite. Das neu erworbene Gebäude selbst diente der Gesellschaft ab 1874 als neuer Verwaltungssitz, in seinem Hinterhof errichtete sie im gleichen Jahr eine fünfgleisige Remise. Hierzu erhielt das ehemalige Schmidt’sche Haus ein breites Durchfahrtstor, die Depotzufahrt war wiederum über eine Drehscheibe an das Streckengleis angeschlossen. Im Innenhof befand sich eine zweite Drehscheibe zur Anbindung der einzelnen Abstellgleise. Das neue Depot beherbergte auch eine ebenfalls 1874 fertiggestellte Hufschmiede, während die Pferdeställe erst im Februar 1876 endgültig fertig wurden. Nichtsdestotrotz hatte die Straßenbahngesellschaft ihr erstes Stallgebäude auf dem Grundstück mit der Konskriptionsnummer 16 schon am 13. Oktober 1875 für nur 10.000 Gulden wieder verkauft; das heißt, sie machte damit innerhalb von sechs Jahren einen Verlust von 8500 Gulden. Das Betriebsgelände an der Piața Aurel Vlaicu wurde mit der Elektrifizierung 1899 aufgegeben, sowohl Depot als auch Verwaltung bezogen damals das bis heute genutzte Areal südlich des Bulevardul Take Ionescu. Das Gebäude selbst blieb jedoch erhalten – erhielt aber schon vor 1928 einen neuen Eingang, der das alte große Durchfahrtstor für die Pferdebahnwagen ersetzte. Tarif Eine Einzelfahrkarte zwischen der Fabrikstadt und der Inneren Stadt oder der Inneren Stadt und der Josefstadt kostete 10 Kreuzer, das heißt ein Sechserl, in der ersten und 8 Kreuzer in der zweiten Klasse. Für die Gesamtstrecke war jeweils das Doppelte zu bezahlen. Nach Einführung der Einheitsklasse im Jahr 1875 war grundsätzlich der bisherige höhere Tarif der ersten Klasse zu entrichten; gleichzeitig wurden Fahrkarten für Kinder unter zehn Jahren zum halben Preis eingeführt, ebenso Schülerfahrkarten. Ab 1878 erhielten dann auch Studenten eine Ermäßigung, sofern sie entsprechende Bescheinigungen vorweisen konnten. 1879 führte die Gesellschaft außerdem für eine Fahrt mit beiden Linien ermäßigte Umsteigefahrscheine zu 15 Kreuzern ein. Stammfahrgästen und Pendlern wurden Sammelkarten für 50 Fahrten angeboten. Diese gab es anfangs ebenso wie die Einzelfahrscheine für beide Wagenklassen, später für die Einheitsklasse. Sie war um 20 Prozent günstiger als der Preis für eine Einzelfahrt, musste jedoch innerhalb eines Monats verbraucht werden. Dieses Abonnement bestand aus einem perforierten Papier, ähnlich einem Briefmarkenbogen. Von diesem Bogen löste der Schaffner bei jeder Fahrt jeweils einen Abschnitt ab. 1895 wurden außerdem stark ermäßigte Rückfahrkarten eingeführt. Sie kosteten nur 12 Kreuzer und waren eine Reaktion der Pferdebahngesellschaft auf die im Vorjahr eingeführten Pferdeomnibusse, die ebenfalls nur 6 Kreuzer je Fahrt kosteten. Fahrgastzahlen Die Verkehrsleistung der Pferdebahn ist wie folgt überliefert, für die übrigen Jahre liegen keine Daten vor: Fahrzeuge Personenwagen Im Eröffnungsjahr der Pferdebahn lieferte die K.k. landesbefugte Maschinenfabrik und Wagenbauanstalt Johann Spiering aus Wien insgesamt 21 Pferdebahn-Personenwagen nach Temesvár. 5 dieser Spiering-Wagen standen bereits zur Betriebseröffnung zur Verfügung, die restlichen folgten im Laufe des Jahres 1869. Jedem Wagen wurden zwei Pferde vorgespannt, bei Schneefall waren es drei. 10 der 21 Spiering-Personenwagen wurden noch bis 1919 als Beiwagen der elektrischen Straßenbahn weiterverwendet. Für die fünf 1891 anlässlich der Weltausstellung nachgelieferten Wagen bekam abermals ein neues Unternehmen den Produktionszuschlag, diesmal die Wagen- und Waggonfabrik, Eisen- und Metallgießerei Joh. Weitzer aus Graz. Diese Fahrzeuge waren etwas leichter als diejenigen der Erstlieferung und konnten daher von nur jeweils einem Pferd gezogen werden. Sie wurden anlässlich der Elektrifizierung ausgemustert; von ihnen blieb keiner erhalten. Gepäckwagen Außer den Personenwagen lieferte Spiering im Eröffnungsjahr zusätzlich drei reine Gepäckwagen, darunter zwei geschlossene (poggyaszkocsi) zu 820 Forint je Stück und ein offener (poggyaszkocsialváz, wörtlich übersetzt Gepäckwagenuntergestell) zu 520 Forint. Wie lange sie im Einsatz waren, ist nicht überliefert; auch von ihnen blieb keiner erhalten. Güterwagen Anlässlich der Aufnahme des Güterverkehrs im Mai 1872 beschaffte die Gesellschaft sieben kleine offene Flachwagen für die Pferdebahn, die von der Maschinen- und Waggon-Fabriks-Aktiengesellschaft Simmering stammten und bis zur Elektrifizierung von 1899 im Dienst standen. Personal Insgesamt beschäftigte die Pferdebahngesellschaft 39 Personen, darunter neben dem Direktor 2 Inspektoren, 10 Schaffner, 20 Kutscher, 1 Wagenmeister, 1 Tierarzt, 2 Stallmeister und 2 Rangierer. Täglich waren acht Schaffner im Einsatz, während zwei frei hatten. Es kam dabei auf jeder Linie jeweils ein Schaffner weniger zum Einsatz, als Wagen unterwegs waren. Das heißt, die Schaffner mussten an den Endstellen sofort mit dem dort wartenden Gegenkurs zurückfahren, während die Kutscher samt Pferden jeweils eine Pause von zehn bis zwölf Minuten hatten. Dies hatte zur Folge, dass der jeweils erste morgendliche Kurs einer Linie nur mit einem Kutscher besetzt war. Pferde Insgesamt standen der Gesellschaft 70 Pferde zur Verfügung, die jeden Tag um die Mittagszeit auf dem Sankt-Georgs-Platz gewechselt wurden. Literatur Weblinks A temesvári lóvasút és villamos (ungarisch) Tramvaiul cu cai din Timișoara (PDF-Dokument, rumänisch) (970 kB) Einzelnachweise Pferdestraßenbahn Ehemaliger Straßenbahnbetrieb Schienenverkehr (Ungarn) Straßenbahn Timișoara
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amoklauf%20an%20der%20Columbine%20High%20School
Amoklauf an der Columbine High School
Der Amoklauf an der Columbine High School, auch als Schulmassaker von Littleton bekannt, ereignete sich am 20. April 1999 an der Columbine High School in Columbine, einem nahe Littleton gelegenen Vorort von Denver im US-Bundesstaat Colorado. Bei dem Amoklauf erschossen zwei Abschlussklässler innerhalb einer Stunde zwölf Schüler im Alter von 14 bis 18 Jahren, einen Lehrer und sich selbst. Weitere 24 Menschen wurden verletzt. Viele der Überlebenden berichteten anlässlich des 20. Jahrestages im Jahr 2019, noch immer an den Folgen des Ereignisses zu leiden. Die Täter – der 18-jährige Eric Harris und der 17-jährige Dylan Klebold – hatten den Massenmord monatelang vorbereitet, und nicht als Amoklauf, sondern als Bombenanschlag auf ihre Schule geplant, bei dem mehrere hundert Menschen sterben sollten. Aufgrund eines technischen Fehlers explodierten die von ihnen zu diesem Zweck in der Schulcafeteria platzierten Bomben jedoch nicht, weshalb sie ihren Plan spontan änderten und begannen, auf ihre Mitschüler zu schießen. Ihre Motive konnten nicht mit Gewissheit geklärt werden. Während der Amoklauf in den Medien häufig als Racheakt für erlittenes Mobbing in der Schule eingestuft wurde, gingen die Ermittlungsbehörden nach Auswertung der von den Tätern hinterlassenen Tagebuch- und Videoaufzeichnungen davon aus, dass es ihnen in erster Linie darum ging, berühmt zu werden. Einzelne Experten vermuten auch eine politische oder ideologische Motivation. Bei beiden Tätern wurden post mortem schwere psychische Störungen diagnostiziert. Es war nicht der erste Amoklauf an einer Schule in den Vereinigten Staaten, aufgrund der enormen Medienberichterstattung erregte der Fall jedoch erstmals weltweites Aufsehen. Die Tat entfachte zahlreiche öffentliche Debatten über mögliche Ursachen und Mitschuldige, wobei vor allem Mobbing, Psychopharmaka, die Verantwortung von Eltern und Lehrkräften, der Einfluss der Musikindustrie und von fiktionaler Gewalt auf Jugendliche, Subkulturen sowie das vielfach als zu liberal kritisierte Waffenrecht der USA diskutiert wurden. Als Reaktion auf den Vorfall erhöhten viele Schulen ihre Sicherheitsvorkehrungen und die US-Polizei änderte ihre Taktik beim Einschreiten in Amoklagen. Die Tat gilt wegen ihrer weitreichenden Folgen als Wendepunkt in der Kultur der Vereinigten Staaten und wird insbesondere von den Generationen X und Y zu den bedeutendsten historischen Ereignissen der 1990er Jahre gezählt. Der Amoklauf an der Columbine High School ist zum Archetyp des School Shootings geworden und hat Einzug in die Populärkultur gehalten. Der nach der Tat weltweit zu verzeichnende Anstieg an Schulschießereien wird oft als „Columbine-Effekt“ bezeichnet, weil viele der späteren Amokläufer das Schulmassaker von Littleton als Inspiration für ihre eigene Tat nannten. In den USA werden Schüler, die nach dem 20. April 1999 geboren wurden, als „Generation Columbine“ bezeichnet, die nie eine Welt ohne School Shootings erlebt hat. Vorgeschichte Biografien der Täter Kindheit und familiärer Hintergrund Eric David Harris wurde am 9. April 1981 als der jüngere von zwei Söhnen des aus Colorado stammenden Ehepaars Wayne und Katherine Harris in Wichita, Kansas, geboren. Bedingt durch den Beruf des Vaters, der Transportpilot bei der U.S. Air Force war, zog die Familie mehrmals innerhalb der USA um und lebte unter anderem in Beavercreek, Ohio, und Oscoda, Michigan, sowie in Plattsburgh im Bundesstaat New York. Harris empfand die häufigen Umzüge und die damit verbundenen Schulwechsel als belastend, da er sich jedes Mal einen neuen Freundeskreis aufbauen musste. 1993 ließ sich die Familie schließlich dauerhaft in Littleton nieder, wo Wayne Harris nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst für ein Flugsicherheitsunternehmen arbeitete und Katherine Harris Anstellung bei einer Catering-Firma fand. Als Kind spielte Harris Fußball und Baseball in der Little League. Im Alter von 12 Jahren wurde er operiert, um eine angeborene Thoraxdeformität zu korrigieren. Kindheitsfreunde beschrieben ihn rückblickend als schlauen, schüchternen, respektvollen und normalen Jungen, der „nicht so zu sein schien, wie die Medien ihn [nach dem Amoklauf] porträtierten.“ Dylan Bennet Klebold kam am 11. September 1981 in Lakewood, Colorado, zur Welt, wuchs in Littleton auf und hatte wie Harris einen drei Jahre älteren Bruder. Sein Vater Thomas Klebold, ein Geophysiker, betätigte sich als Berater für Ölfirmen und selbstständiger Hypothekenverwalter. Seine Mutter Sue Klebold entstammt einer jüdischen Familie aus Columbus, Ohio, und unterstützte als Angestellte am Colorado Community College Menschen mit Behinderung bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Die Familie gehörte der lutherischen Kirche an, pflegte aber auch jüdische Traditionen. Klebold galt als hochintelligent, zeigte eine außergewöhnliche Begabung für Mathematik und wurde ein Jahr vorzeitig eingeschult. In der Elementary School nahm er an einem Programm für besonders talentierte Kinder teil. Er spielte ebenfalls Fußball und war Pitcher in der Little League. Seine Eltern duldeten keine Waffen in ihrem Haushalt. Zeitgenossen beschrieben ihn als sehr schüchternen, sanftmütigen Jungen mit geringem Selbstwertgefühl, der sich leicht gedemütigt fühlte und schlecht verlieren konnte. Jugend und gemeinsame Schulzeit Harris und Klebold lernten sich 1993 auf der Ken Caryl Middle School kennen und wurden enge Freunde. In ihrer Freizeit beschäftigten sie sich häufig mit Computern, dem Internet und Videospielen. Ab 1995 besuchten sie die Columbine High School im Schulbezirk des Jefferson County. In der sozialen Hierarchie der Schule standen sie auf der untersten Stufe, entgegen ursprünglichen Medienberichten waren sie jedoch keine Einzelgänger, sondern hatten einen vergleichsweise großen Freundeskreis, der vor allem aus Nerds und Computerfreaks bestand. Beide Täter hatten keine feste Freundin und äußerten sich in ihren Aufzeichnungen frustriert über ihre nicht erwiderten Gefühle für verschiedene Mädchen. Während Klebold zu schüchtern war, um Mädchen anzusprechen, wurde Harris häufig abgewiesen. Laut mehreren Zeugen wurden beide Täter oft von den sozial erfolgreicheren Schülern – sogenannten Jocks – gemobbt, wobei sie sowohl verbal als auch physisch attackiert wurden. Beispielsweise berichteten Mitschüler über mehrere Vorfälle, bei denen Harris und Klebold mit Glasflaschen oder Lebensmitteln beworfen oder als „Schwuchteln“ beschimpft worden waren. Gegenüber seinem Vater äußerte Klebold, dass er mit seiner Körpergröße von über 1,90 m nicht herumgeschubst werde, aber dass Harris häufig Schikanen ausgesetzt sei. Nach anderen Zeugenaussagen hätten beide Täter aber auch selbst andere Schüler eingeschüchtert und mit aggressivem oder provokantem Verhalten Konflikte heraufbeschworen. Im Dezember 1998 drehten Harris und Klebold im Rahmen ihres Videokurses einen fiktionalen Kurzfilm mit dem Titel Hitmen for Hire, in dem sie Auftragskiller spielen, die den Peiniger eines Mobbingopfers erschießen und eine Schule in die Luft sprengen. Auszüge des Videos wurden nach dem Amoklauf vom US-Sender Fox News landesweit ausgestrahlt. Neben dem Unterricht engagierten sich beide Täter für den Schülersender und assistierten bei der Betreuung des Computernetzwerks der Schule; Klebold kümmerte sich zudem um die Tontechnik bei Aufführungen der Theatergruppe. Während Harris bis zuletzt als guter Schüler galt, ließen Klebolds schulische Leistungen im Laufe der Zeit nach und seine Lehrer bemerkten, dass er häufiger im Unterricht schlief. Im Dezember 1997 schrieb Harris einen Schulaufsatz zum Thema „Waffen in Schulen“, in dem er sich auf mehrere Schulschießereien bezog, die sich in den Wochen zuvor in den USA ereignet hatten. Als Problemlösung schlug er Metalldetektoren und erhöhte Polizeipräsenz vor. Klebold reichte im Februar 1999 einen Aufsatz ein, der von einem ihm ähnelnden Mann handelte, der „Jocks“ erschießt. Seine Lehrerin zeigte sich von der gewalthaltigen Erzählung verstört, weshalb sie das Gespräch mit seinen Eltern suchte. Sie vereinbarten die Konsultation eines Schulberaters, der Klebold ermahnte, darüber hinaus aber keine Konsequenzen zog. Der Amoklauf fand nur wenige Tage vor ihrem anstehenden Schulabschluss statt. Beide Täter hatten sich bereits zu Zukunftsplänen geäußert. Klebold war für ein Informatikstudium an der University of Arizona akzeptiert worden und hatte sich Ende März 1999 mit seinen Eltern den Campus angesehen; Harris hatte sich bei den Marines beworben und bereits den schriftlichen Aufnahmetest mit überdurchschnittlichem Ergebnis bestanden. Seine Bewerbung wurde jedoch kurz vor dem Amoklauf abgelehnt, nachdem der Rekrutierer erfahren hatte, dass Harris ein Antidepressivum zur Behandlung einer Depression einnahm. Auf die Ablehnung soll Harris enttäuscht, aber nicht niedergeschlagen reagiert haben. Am 17. April 1999 – drei Tage vor dem Amoklauf – ging Klebold mit mehreren Freunden zur Prom, wo sie ihn gutgelaunt erlebten und er darauf bestand, nach dem Schulabschluss in Kontakt zu bleiben. Harris gesellte sich zur After-Prom-Party dazu, auf der sie bis in die frühen Morgenstunden mit ihren Mitschülern feierten. Erste Straffälligkeiten Ab Januar 1997 begaben Harris und Klebold sich auf mehrere nächtliche Streifzüge, bei denen sie an Häusern und sonstigem Eigentum von Leuten, die sie nicht mochten, Vandalismus betrieben. Sie wurden dabei weder erwischt noch bemerkten ihre Eltern, wenn sie nachts für Stunden aus dem Haus schlichen. Im September 1997 ergatterten Harris, Klebold und ein Freund der beiden durch einen Hack in das Computersystem der Columbine High School eine Liste mit den Zahlenschlosskombinationen der Schüler-Spinde. Nachdem sie einige Spinde geöffnet hatten, kam ihnen die Schulleitung auf die Schliche und sie wurden für mehrere Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Einige Monate später wurde Klebold ein weiteres Mal vorübergehend suspendiert, weil er vorsätzlich den Spind eines Mitschülers beschädigt hatte. Der ihn bestrafende Lehrer erinnerte sich später daran, dass Klebold wütend auf seine erneute Suspendierung reagiert und sich über das Schulsystem und die ungleiche Behandlung von Schülern geärgert habe. Harris betrieb eine Blog-ähnliche AOL-Website, auf der er ab Anfang 1997 über seinen zunehmenden Hass auf seine Mitmenschen und die Gesellschaft schrieb, von seinen ersten Erfolgen beim Bauen von Sprengsätzen berichtete und Morddrohungen gegen Mitschüler aussprach. Zu den bedrohten Personen gehörte Brooks Brown, ein Freund beider Täter, mit dem Harris sich vorübergehend überworfen hatte. Im Februar 1998 wurde in Harris’ Nachbarschaft eine selbstgebaute Rohrbombe gefunden, deren Hersteller die Polizei nicht ermitteln konnte. Im folgenden Monat wurde Brown von Klebold auf Harris’ Website hingewiesen, woraufhin Browns Eltern die Polizei verständigten. Diese überprüfte die Website und erarbeitete – auch vor dem Hintergrund des Bombenfunds – einen Antrag auf Erlass eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses für Harris’ Elternhaus. Der Antrag geriet jedoch in Vergessenheit, da der sachbearbeitende Beamte andere Aufgaben zugewiesen bekam, sodass Harris unbehelligt blieb. Nach dem Amoklauf entschieden hochrangige Beamte des Jefferson County Sheriff’s Office in einem geheimgehaltenen Treffen mit dem District Attorney, die Existenz des Antrags zu verschweigen. Im April 2001 wurde seine Veröffentlichung aber schließlich gerichtlich angeordnet, nachdem investigative Journalisten von der Anzeige der Browns erfahren und gemeinsam mit Opferangehörigen auf Akteneinsicht geklagt hatten. Die unterlassene Weiterverfolgung und das Verschweigen des Antrags zogen keine rechtlichen Konsequenzen für die Beamten nach sich. Harris’ Interneteinträge waren bereits kurz nach dem Amoklauf von AOL entfernt und dem FBI übergeben worden. Am 30. Januar 1998 brachen Harris und Klebold einen Van auf, aus dem sie Elektrogeräte stahlen. Sie wurden noch in Tatortnähe mit dem Diebesgut von einer Polizeistreife aufgegriffen und festgenommen. Im Gegenzug für ihr Schuldbekenntnis wurde auf die Verhängung einer Haftstrafe verzichtet. Stattdessen wurden sie am 25. März 1998 zur Teilnahme an einem zwölfmonatigen Programm für jugendliche Ersttäter (Diversion Program) verpflichtet, während dessen sie gemeinnützige Arbeit leisten, an Beratungssitzungen teilnehmen und ein Anti-Aggressivitäts-Training durchlaufen mussten. Sie zeigten sich einsichtig und kooperativ, sodass sie das Programm aufgrund guter Prognose Anfang Februar 1999 vorzeitig beenden durften. Im Abschlussbericht wurde Klebold „sehr großes Potenzial“ bescheinigt, und über Harris hieß es: „Eric ist ein sehr intelligenter junger Mann, der wahrscheinlich Erfolg im Leben haben wird.“ Im Anschluss an das Programm traten sie eine einjährige Bewährungszeit an. Planung und Vorbereitung der Tat Ursprungsplan Aus den hinterlassenen Aufzeichnungen der Täter geht hervor, dass sie die Tat über ein Jahr lang geplant hatten. Klebold, der seit März 1997 eine Art Tagebuch geführt hatte, äußerte darin erstmals im November 1997 den Gedanken, sich eine Waffe zu besorgen und Amok zu laufen. Im Februar 1998 erwähnte er in seinen Notizen als Erster den geplanten Anschlag. Harris schrieb in seinem ab April 1998 geführten Tagebuch zunehmend konkret über ihr Vorhaben, das ursprünglich aus mehreren Akten bestand: Zunächst planten sie, zwei selbst gebaute Propan­gasbomben mithilfe von Zeitzündern in der Schulcafeteria explodieren zu lassen. Danach wollten sie möglichst viele Überlebende der Explosion bei deren Flucht aus dem Schulgebäude erschießen. Schließlich sollten weitere Zeitbomben in ihren Autos auf dem Schulparkplatz detonieren und die eintreffenden Polizisten, Rettungskräfte und Reporter töten. Sie beabsichtigten die Ermordung von mehreren hundert Menschen und nahmen selbst den Tod ihrer eigenen Freunde in Kauf. Später von den Ermittlern durchgeführte Computersimulationen ergaben, dass eine Explosion der Bomben in der Cafeteria mit hoher Wahrscheinlichkeit die Decke zum Einsturz gebracht und zu einer derartig hohen Opferzahl geführt hätte. Für den Fall, dass sie die ersten drei Akte ihres Plans überleben würden, spielte Harris – zwei Jahre vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – in seinem Tagebuch mit dem Gedanken, ein Flugzeug zu entführen und es über New York City abstürzen zu lassen. Sie studierten die Abläufe und Gewohnheiten an ihrer Schule, legten Handzeichen fest, mit denen sie während des Angriffs untereinander kommunizieren wollten, und visierten den Monat April 1999 für die Tatbegehung an. Waffenarsenal Während des Amoklaufs schoss Harris mit einer abgesägten Pumpgun und einer halbautomatischen Schusswaffe vom Typ Hi-Point Carbine. Klebold verwendete eine halbautomatische TEC-9 und eine abgesägte doppelläufige Schrotflinte. Insgesamt feuerten sie am Tattag 188 Schüsse ab. Neben den Schusswaffen und selbst gebauten Propangasbomben bestand ihr angehäuftes Waffenarsenal zudem aus mehreren Messern sowie insgesamt fast 100 selbst hergestellten Molotowcocktails, Kohlenstoffdioxid- und Rohrbomben, die sie in diversen Verstecken in ihren Zimmern lagerten und am Tattag in Rucksäcken, Sporttaschen sowie an Gurtgeschirren befestigt an ihren Körpern mit sich führten. Später fanden die Ermittler auch Hinweise, dass die Täter daran gearbeitet hatten, Napalm herzustellen, das sie am Tattag aber nicht einsetzten. Die Schusswaffen und die passende Munition hatten sie sich mithilfe ihrer volljährigen Freunde Robyn Anderson, Mark Manes und Philip Duran besorgt, die nicht wussten, wofür die Waffen verwendet werden sollten. Die 18-jährige Anderson hatte die drei Gewehre im November 1998 auf einer Waffenausstellung von Privatleuten für die noch minderjährigen Täter gekauft. Die TEC-9 erwarb Klebold im Januar 1999 für 500 US-Dollar von Manes; der Kontakt war von Duran hergestellt worden. Das Geld für den Waffenkauf verdienten Harris und Klebold als Aushilfen bei einer Pizzalieferantenkette. Am 6. März 1999 fuhren sie mit Manes, dessen Freundin und Duran in ein Waldgebiet, um Schießen zu üben, wobei sie sich von Duran filmen ließen. Die Aufnahmen wurden nach der Tat veröffentlicht und unter dem Titel Rampart Range bekannt. Manes begleitete die Täter kurz vor dem Amoklauf zu zwei weiteren Schießübungen. Ihr Vorhaben blieb bis zuletzt unbemerkt. Zwar wussten ihre engsten Freunde, dass die beiden Bomben bauten und sich Waffen besorgt hatten, sie sahen darin jedoch keine ernste Bedrohung. Auch einige Äußerungen der Täter, die ihre Freunde rückblickend als mögliche Andeutungen der Tat interpretierten, wurden im Vorfeld nicht als solche erkannt oder ernst genommen. Dennoch standen Harris und Klebold einige Male kurz davor, bei ihren Vorbereitungen entdeckt zu werden. So soll Harris einem Freund erzählt haben, dass sein Vater im Februar 1998 eine seiner Rohrbomben gefunden habe. Wayne Harris habe die Bombe daraufhin zunächst im Elternschlafzimmer aufbewahrt und sie später im Freien explodieren lassen. (Da es sich lediglich um eine Zeugenaussage vom Hörensagen handelte, Wayne Harris den Vorfall bestritt und es keine weiteren Beweise dafür gab, dass er sich tatsächlich ereignet hatte, wurde Harris’ Vater strafrechtlich nicht belangt.) Im Dezember 1998 rief ein Mitarbeiter des Waffenladens, bei dem Harris Munition bestellt hatte, im Haus seiner Eltern an, um mitzuteilen, dass die Ware eingetroffen sei. Harris’ Vater, der den Anruf entgegengenommen hatte, hielt die Bestellung für einen Irrtum und stellte keine weiteren Fragen. Selbstinszenierung Harris und Klebold waren die ersten School Shooter, die sich selbst medienwirksam als Antihelden inszenierten und eine eigene „Marke“ kreierten, indem sie ihr Gedankengut über das Internet verbreiteten, kulturelle Bezüge zu Musik, Filmen sowie Videospielen herstellten und der Nachwelt zahlreiche Aufzeichnungen sowie Skizzen hinterließen, die Aufschluss über ihre Absichten, Vorgehensweise und Motivation geben sollten. Der Autor André Grzeszyk schrieb über ihre Selbstdarstellung: „[Sie] verwalteten im Bewusstsein dessen, was passieren würde, durch ihre Aufzeichnungen schon vor ihrem Tod ihr Erbe – das eigene Bild, wie sie es später medial rekonstruiert sehen wollten. Dass ihre Tagebücher von der Polizei veröffentlicht wurden […] tat ein Übriges, um sie weltweit bekannt zu machen.“ Laut dem Journalisten Joachim Gaertner hätten Harris und Klebold die Tat in ihren Aufzeichnungen in einer Art literarischen Fantasie ausgemalt, und es werde deutlich, „[…] wie sich die beiden immer mehr an ihren eigenen Fantasien berauschten, wie sie Hass und Aggression geradezu aufsaugten, wie sie ihre eigenen Texte als Verheißung des ultimativen und dann realen Kicks nahmen“. Das Monströse ihrer Tat und ihrer Fantasien stehe im auffallenden Gegensatz zu ihren alltäglichen, gewöhnlichen Lebenszeugnissen und man erahne, dass diese beiden Teenager keine Monstren, sondern überraschend normal gewesen seien. Ab dem 15. März 1999 drehten die beiden mehrere Videos, die sie für die Öffentlichkeit vorgesehen hatten. Auf den Bändern präsentierten sie sich als ihre selbst ausgedachten Alter Egos „Reb“ (Harris) und „VoDkA“ (Klebold) und sprachen über ihren Anschlagsplan sowie ihre Beweggründe. Die Videos wurden als Basement Tapes bekannt, weil sie überwiegend im Keller des Hauses der Familie Harris gedreht wurden. Die Aufnahmen wurden den Eltern der Täter, Opferangehörigen sowie einem ausgewählten Kreis an Journalisten gezeigt, aber aus Sorge vor Nachahmungstätern nie veröffentlicht und im Jahr 2011 vernichtet. Eine Zusammenfassung ihres Inhalts sowie Zitate der Täter wurden dennoch von der Presse publiziert und mit dem offiziellen Polizeibericht bekannt gegeben. Die Selbstinszenierung der beiden Täter zeigte sich auch anhand ihrer Kleidung: In ihren selbst gedrehten Videos zeigten sie sich häufig mit umgedrehten Baseballcaps, Sonnenbrillen und in langen schwarzen, Trenchcoat-ähnlichen Mänteln. Am Tattag verbargen sie unter diesen Mänteln ihre Waffen und trugen Combat-Hosen, Kampfstiefel sowie selbstdesignte T-Shirts. Auf Harris’ Shirt befand sich die Aufschrift Natural Selection (natürliche Selektion), und auf Klebolds Shirt stand Wrath (Zorn) geschrieben. Außerdem teilten sie sich ein Paar schwarze, fingerlose Handschuhe, wobei Harris den rechten und Klebold den linken Handschuh anzog. Die Ästhetik, die sie mit ihren Outfits schufen, wurde später von mehreren Nachahmungstätern kopiert. Tathergang Ereignisse kurz vor dem Amoklauf Am Morgen des 20. April 1999, einem Dienstag, verließen die Täter vor Sonnenaufgang (6:15 Uhr) ihre Elternhäuser. Anstelle ihres Bowling-Unterrichts suchten sie ein Geschäft auf, in dem sie die Propangasflaschen für ihre Bomben besorgten. Danach fuhren sie zum Haus der Familie Harris, wo sie die Bomben fertig bauten, ihre Autos beluden und ein kurzes Abschiedsvideo – den letzten Teil der Basement Tapes – drehten. Anschließend fuhren sie getrennt zu einem nahegelegenen Park, wo sie eine Bombe platzierten, deren Zeitzünder sie auf 11:14 Uhr einstellten. Die Explosion dieser Bombe sollte die Polizei zunächst vom eigentlichen Tatort ablenken, verursachte aber nur ein von den Einsatzkräften nicht weiter beachtetes Grasfeuer. Nach Behördenangaben erreichten die Täter gegen 11:10 Uhr den Südparkplatz der Columbine High School, auf deren Gelände sich an diesem Tag schätzungsweise rund 2.000 Schüler und 140 Angestellte befanden. Klebold parkte sein Auto vor der Schulcafeteria, Harris parkte knapp 100 Meter entfernt in der Nähe des Schülereingangs. Brooks Brown sah Harris ankommen, ging auf ihn zu und fragte ihn, warum er an diesem Morgen nicht zum Unterricht erschienen sei. Laut Brown habe Harris darauf geantwortet, dass dies keine Rolle mehr spiele, und ihn aufgefordert, das Schulgelände zu verlassen. Brown kam der Aufforderung nach. Laut Polizeibericht betraten die Täter um kurz nach 11:14 Uhr die von vier Videokameras überwachte Cafeteria, in der sich zu diesem Zeitpunkt rund 500 Menschen aufhielten. Sie legten unbemerkt zwei Sporttaschen ab, in denen sich je eine Propangasbombe befand, deren Zeitzünder auf 11:17 Uhr eingestellt waren. Aufgrund eines Videobandwechsels wurde die Zeit zwischen 11:14 Uhr und 11:22 Uhr nicht von den Überwachungskameras aufgezeichnet, weshalb die Platzierung der Bomben nach offiziellen Angaben nicht gefilmt wurde. Später ließ eine von Amateuren durchgeführte Auswertung der veröffentlichten Videoaufnahmen jedoch Zweifel an der fehlenden Aufzeichnung und am offiziellen zeitlichen Ablauf der Tat aufkommen. Nach der Amateurauswertung sei Harris bereits um 10:58 Uhr beim Hereintragen einer der beiden Sporttaschen auf dem Videoband zu erkennen; wenige Sekunden später erscheine Klebold mit der anderen Sporttasche in der Hand im Bild der Überwachungskamera. Von Behördenseite wurde die Amateurauswertung nicht kommentiert und darauf verwiesen, dass die Ermittlungen des Falls abgeschlossen seien. 11:19 Uhr: Beginn des Amoklaufs Nachdem die Täter die Bomben in der Cafeteria platziert hatten, kehrten sie zu ihren Autos zurück, wo sie sich bewaffneten und auf die Explosion warteten. Da diese aufgrund eines technischen Fehlers ausblieb, änderten sie spontan ihren Plan und eröffneten um 11:19 Uhr am oberen Ende der Treppe zum Westeingang der Schule das Feuer auf in der Nähe befindliche Schüler. Außerdem zündeten sie Rohrbomben und warfen sie die Treppe hinunter sowie auf das Dach des Schulgebäudes. Das erste Todesopfer war die 17-jährige Rachel Scott, die ihre Mittagspause mit dem gleichaltrigen Richard Castaldo auf dem Rasen vor dem Westeingang verbracht hatte und von Harris erschossen wurde. Castaldo erlitt mehrere Schussverletzungen und trug eine dauerhafte Querschnittslähmung ab der Taille davon. Daniel Rohrbough, Sean Graves und Lance Kirklin wurden von mehreren Schüssen getroffen, als sie die Treppe hochkamen. Der 15-jährige Rohrbough erlag seinen Verletzungen noch vor Ort. Als Nächstes schossen die Täter auf eine Gruppe von fünf Schülern, die sich auf einem Hügel neben der Treppe befand. Michael Johnson und Mark Taylor wurden dabei schwer verletzt, die drei anderen Schüler entkamen körperlich unversehrt. Während Harris weiter um sich schoss, ging Klebold die Treppe hinunter zum Seiteneingang der Cafeteria, um – wie die Ermittler später vermuteten – nachzusehen, warum die Bomben nicht explodiert waren. Auf dem Weg dorthin schoss er erneut auf den bereits tödlich verletzten Rohrbough und aus nächster Nähe auf den ebenfalls verletzt am Boden liegenden Kirklin. Dieser überlebte, musste sich später jedoch mehreren chirurgischen Eingriffen unterziehen. Der durch seine erlittenen Schussverletzungen von der Taille abwärts gelähmte Graves hatte es auf der Suche nach Deckung bis zum Seiteneingang der Cafeteria geschafft, wo er liegen blieb und sich tot stellte, als Klebold beim Betreten der Cafeteria über ihn hinwegschritt. Zu Beginn des Amoklaufs hatten die Schüler in der Cafeteria die von draußen zu hörende Schießerei noch für einen Streich des Abschlussjahrgangs oder eine Filmproduktion für Harris’ und Klebolds Videokurs gehalten. Der Lehrer William David „Dave“ Sanders hatte die Gefahr hingegen früh erkannt und die Schüler aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen, woraufhin diese aus der Cafeteria geflüchtet waren oder sich unter Tischen und in der Küche versteckt hatten. Klebold blickte sich kurz in der Cafeteria um, ohne zu schießen oder sich den Bomben zu nähern, und kehrte anschließend zu Harris auf die Treppe zurück, von wo aus sie weiter auf fliehende Schüler schossen. Anne Marie Hochhalter wurde dabei von Harris’ Schüssen getroffen und erlitt eine bleibende Querschnittslähmung ab der Taille. Die Lehrerin Patricia Nielson, die im Inneren des Gebäudes Pausenaufsicht hielt, glaubte an einen Videodreh mit Spielzeugpistolen, als sie Harris mit seiner Waffe durch die Glasscheiben der Eingangstür erblickte, und machte sich auf den Weg nach draußen, um das Ganze zu unterbinden. Erst als Harris die Glastür zerschoss, sie durch einen Streifschuss an der Schulter verwundete und der neben ihr befindliche Schüler Brian Anderson von umherfliegenden Metall- und Glassplittern verletzt wurde, realisierte Nielson den Ernst der Lage. Sie und Anderson machten kehrt und rannten in die Bibliothek, wo Nielson die anwesenden Schüler aufforderte, sich unter den Tischen in Deckung zu begeben. Circa um 11:22 Uhr wurde der Jefferson-County-Hilfssheriff Neil Gardner, der die Columbine High School regelmäßig patrouillierte, per Funk von einem Hausmeister zum Südparkplatz der Schule gerufen. Als Gardner gegen 11:24 Uhr mit seinem Streifenwagen dort eintraf, wurde er beim Aussteigen von Harris beschossen. Gardner begab sich hinter seinem Auto in Deckung und erwiderte das Feuer, verfehlte jedoch beide Täter, die sich sodann ins Schulgebäude begaben, wo sie durch die Flure schossen und Rohrbomben warfen. Dabei wurde die Schülerin Stephanie Munson verletzt und Dave Sanders angeschossen, der noch immer damit beschäftigt gewesen war, Schüler zu warnen und sie in Sicherheit zu bringen. Mit der Hilfe eines Kollegen konnte er schwerverletzt in einen Klassenraum gebracht werden, wo Schüler sich mit ihm verbarrikadierten, erste Hilfe leisteten und mehrmals den Notruf verständigten. Er verstarb einige Stunden später aufgrund seines hohen Blutverlustes, bevor Rettungskräfte ihn in ein Krankenhaus bringen konnten. Gegen 11:26 Uhr erschien Harris erneut im Westeingang und lieferte sich einen weiteren Schusswechsel mit Gardner, ehe er sich wieder ins Gebäude zurückzog. 11:29 Uhr bis 11:35 Uhr: Geschehnisse in der Bibliothek Die Täter betraten um 11:29 Uhr die Bibliothek, wo sich zu diesem Zeitpunkt Nielson, drei weitere Angestellte und über 50 Schüler unter den Tischen sowie in angrenzenden Räumen versteckt hielten. Da Nielson gegen 11:25 Uhr den Notruf gewählt und die Telefonverbindung gehalten hatte, wurden die folgenden Ereignisse – Schüsse, Explosionen und Wortwechsel – vom Notrufmitschnitt aufgezeichnet. Die ersten vier der insgesamt 26 Minuten dauernden Aufzeichnung wurden später veröffentlicht. Nachdem die Täter die in der Bibliothek anwesenden „Jocks“ vergeblich aufgefordert hatten, aus ihren Verstecken hervorzukommen, nahmen sie die einzelnen Tische unter Beschuss. Laut Augenzeugen gaben sie sich dabei gegenseitig Rückendeckung und ihre Handlungen wirkten koordiniert. Nachdem der 15-jährige Evan Todd durch umherfliegende Holzsplitter verletzt worden war, wurde der 16-jährige Kyle Velasquez von Klebolds Schüssen tödlich getroffen. Danach schossen die Täter durch die Bibliotheksfenster auf die inzwischen vor dem Schulgebäude eingetroffenen Polizeikräfte, richteten dabei aber nur Sachschäden an. Die Polizei erwiderte das Feuer, woraufhin sich die Täter von den Fenstern zurückzogen und damit fortfuhren, unter die Tische zu schießen und Sprengsätze zu werfen. Währenddessen verhöhnten und schikanierten sie lachend und grölend die unter den Tischen kauernden Schüler. Klebold verletzte mit seinen Schüssen Daniel Steepleton, Makai Hall und Patrick Ireland, die sich unter demselben Tisch befanden. (Ireland erlitt durch seine Schussverletzungen eine vorübergehende halbseitige Lähmung und verlor in den kommenden Stunden mehrmals das Bewusstsein, bevor er es aus eigener Kraft zu einem der Bibliotheksfenster schaffte, durch das er sich um 14:38 Uhr vom ersten Stock in die Arme von Rettungskräften fallen ließ.) Harris tötete den 14-jährigen Steven Curnow und verletzte Kacey Ruegsegger schwer. Danach erschoss er die 17-jährige Cassie Bernall aus kurzer Distanz, wobei ihm der Rückstoß seiner Waffe die Nase brach. Zeugen berichteten später, dass er ab diesem Zeitpunkt benommen wirkte. Inzwischen hatte Klebold den 18-jährigen Afroamerikaner Isaiah Shoels unter einem Tisch entdeckt und mit rassistischen Äußerungen beschimpft. Nachdem er vergeblich versucht hatte, Shoels unter dem Tisch hervorzuziehen, wurde dieser von Harris erschossen. Klebold tötete den neben Shoels befindlichen 16-jährigen Matthew Kechter. Danach warf Harris eine Bombe unter den Tisch, unter dem sich Steepleton, Hall und Ireland befanden. Hall gelang es, die Bombe wegzuwerfen, bevor sie in der Luft explodierte. Nachdem Klebold Mark Kintgen angeschossen hatte, feuerte er unter einen Tisch nahe dem Eingang, unter dem sich mehrere Mädchen in Deckung gebracht hatten. Dabei verletzte er Lisa Kreutz sowie Valeen Schnurr und tötete die 18-jährige Lauren Townsend. Harris schoss unter einen weiteren Tisch, wobei er John Tomlin und Nicole Nowlen verletzte. Als der 16-jährige Tomlin versuchte, sich aus Harris’ Schusslinie zu bewegen, wurde er von Klebold erschossen. Anschließend tötete Harris die 16-jährige Kelly Fleming. Seine Schüsse verletzten außerdem Jeanna Park und die bereits von Klebold angeschossene Lisa Kreutz. Die Täter gestatteten lediglich einem einzigen Schüler, die Bibliothek zu verlassen: Als Harris fragte, wer sich unter einem der Tische befinde, hatte sich John Savage zu erkennen gegeben, den beide Täter kannten. Auf Savages Frage, ob sie ihn töten würden, zögerte Klebold kurz und sagte ihm dann, dass er gehen solle, woraufhin Savage davonrannte. Der 15-jährige Daniel Mauser, der sich am Nachbartisch von Savage befunden hatte, war der einzige Schüler, der sich zur Wehr setzte, indem er einen Stuhl gegen Harris stieß. Daraufhin wurde er von Harris erschossen. Der 17-jährige Corey DePooter war das letzte Todesopfer in der Bibliothek. Er starb, als die Täter um 11:35 Uhr mehrere Schüsse auf ihn abgaben und dabei auch Jennifer Doyle und Austin Eubanks verletzten. Obwohl die Täter genug Munition hatten, um auch die restlichen Schüler in der Bibliothek zu töten, feuerten sie keine weiteren Schüsse auf sie ab. Der Columbine-Autor Dave Cullen glaubt, dass Harris zu diesem Zeitpunkt das Interesse am Töten verloren habe und Klebold alles gleichgültig gewesen sei. 11:36 Uhr bis 12:08 Uhr: Endphase und Suizid der Täter Um 11:36 Uhr verließen die Täter die Bibliothek. Sie streiften anscheinend ziellos durch die Flure und kamen an mehreren Klassenräumen vorbei, in denen sich noch viele Schüler versteckt hielten. Einige von ihnen berichteten später, dass die Täter durch die Türfenster Blickkontakt mit ihnen aufgenommen, aber keine Anstalten gemacht hätten, die Klassenzimmer zu betreten. Stattdessen schossen sie in leere Räume. Die Videokameras filmten um 11:44 Uhr, wie die Täter die Treppe zur Cafeteria herunterkamen, wo sich zu diesem Zeitpunkt noch einige Schüler unter den Tischen versteckten. Durch Schüsse und das Werfen eines Sprengsatzes in Richtung der beiden Propangasbomben versuchten die Täter, diese doch noch zur Explosion zu bringen, verursachten dabei aber lediglich einen Brand. Das Feuer trieb die Schüler aus ihren Verstecken und sie rannten durch die Notausgänge ins Freie. Die aktivierte Sprinkleranlage setzte die Cafeteria unter Wasser. Gegen 12:00 Uhr kehrten die Täter in die Bibliothek zurück, wo sich zu diesem Zeitpunkt neben den zehn Toten nur noch Patricia Nielson, die sich in einem Schrank versteckt hatte, und die Schwerverletzten Patrick Ireland und Lisa Kreutz befanden. Die anderen Schüler waren in der Zwischenzeit durch die Notausgänge geflohen. Cullen vermutet, dass die Täter von der Bibliothek aus die für 12:00 Uhr geplante Explosion ihrer Autobomben beobachten wollten, die jedoch ebenfalls aufgrund eines technischen Fehlers ausblieb. Durch die Fenster lieferten sie sich einen letzten Schusswechsel mit der Polizei, bevor sie sich ins Innere der Bibliothek zurückzogen. Einer der beiden Täter zündete noch einen Molotowcocktail, dann begingen sie nebeneinander Suizid, indem sie ihre Schusswaffen gegen sich selbst richteten. Anhand der Positionen, in denen ihre Leichen gefunden wurden, schlossen die Ermittler, dass Harris sich als erster der beiden erschoss. Der Molotowcocktail verursachte ein Feuer, das um 12:08 Uhr die Sprinkleranlage in der Bibliothek in Gang setzte. Aufgrund der später gesicherten Spuren am Tatort wurde festgestellt, dass die Täter zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren. Einsatz der Polizei- und Rettungskräfte Um 11:23 Uhr hatte die Einsatzleitstelle den ersten Notruf an alle in der Umgebung der Columbine High School befindlichen Polizei- und Rettungsfahrzeuge durchgegeben. In den darauffolgenden Minuten und Stunden trafen fast 800 Polizisten von 35 verschiedenen Strafverfolgungsbehörden mit ihren Fahrzeugen vor Ort ein. Die Beamten kesselten das Schulgebäude ein, beobachteten die Ausgänge, evakuierten diejenigen Schüler, die es aus dem Gebäude geschafft hatten, und gaben Feuerschutz. Rettungssanitäter und Feuerwehrleute versorgten die Verletzten und brachten sie in die umliegenden Krankenhäuser. Die Einsatzkräfte berichteten später über chaotische Zustände. Hunderte panischer Menschen flüchteten aus der Schule, im Inneren des Gebäudes waren Schüsse sowie Explosionen zu hören und über dem Gelände kreisten Hubschrauber. Die Notrufleitungen waren vollkommen überlastet, da hunderte Schüler, die sich noch in der Schule befanden, per Handy um Hilfe riefen. Polizisten befragten die Geflohenen, um sich ein genaues Bild von der Situation im Gebäude zu machen, erhielten jedoch widersprüchliche Angaben über die Zahl der Angreifer, deren Aussehen und genauen Aufenthaltsort sowie die von ihnen verwendeten Waffen. Eltern, die in den Nachrichten von den Schüssen an der Columbine High School gehört hatten, machten sich auf den Weg zur Schule und mussten von den Einsatzkräften daran gehindert werden, sich dem Gebäude zu nähern. Um 12:06 Uhr betrat die erste Spezialeinheit der Special Weapons and Tactics (SWAT) das Schulgebäude, ein zweites SWAT-Team folgte gegen 13:15 Uhr. Die Beamten überprüften der Reihe nach sämtliche Räume der Schule und evakuierten zahlreiche Schüler, die zur nahegelegenen Leawood Elementary School gebracht wurden, wo sich inzwischen die wartenden Angehörigen versammelt hatten. Laut Behördenangaben erreichte eines der SWAT-Teams gegen 14:42 Uhr den Raum, in dem sich Dave Sanders befand, für den jedoch jede Hilfe zu spät kam. Um 15:22 Uhr betraten die ersten Beamten die Bibliothek und vermeldeten kurz darauf den Fund der zehn getöteten Opfer sowie den Tod beider Täter. Außerdem retteten sie die fast verblutende Lisa Kreutz und evakuierten Patricia Nielson aus ihrem Versteck sowie die drei anderen Angestellten aus den Nebenräumen. Um 16:00 Uhr gab der Sheriff gegenüber den Medien den Tod der Täter bekannt und schätzte die Anzahl der Todesopfer irrtümlich auf etwa 25. Tatsächlich starben bei dem Amoklauf – einschließlich der Täter – 15 Menschen. Drei der insgesamt 24 Verwundeten hatten sich ihre Verletzungen auf der Flucht vor den Tätern zugezogen. Ermittlungsverfahren Nachdem zahlreiche Zeugen Harris und Klebold als Angreifer identifiziert hatten, beschafften die Ermittler Durchsuchungsbeschlüsse für deren Elternhäuser. Noch am Tattag stellten die Beamten in Harris’ Zimmer unter anderem Munition, Material zum Bauen von Bomben, eine Seite aus dem Anarchist Cookbook, Kalkulationen, Diagramme, einen Zeitplan sowie die Basement Tapes sicher. Aus Klebolds Zimmer wurden unter anderem Rohrbomben und mehrere Aufzeichnungen beschlagnahmt. In der Nacht vom 20. auf den 21. April 1999 durchsuchten Beamte des ATF das Schulgebäude nach Sprengstoff und überprüften dabei jeden einzelnen der knapp 2.000 Schüler-Spinde sowie rund 700 Rucksäcke, die Schüler bei ihrer Flucht zurückgelassen hatten. Ein Teil der sichergestellten Bomben war bereits explodiert und hatte massiven Schaden am Gebäude angerichtet, mehrere Bomben waren jedoch noch intakt und mussten kontrolliert gesprengt werden. Nachdem das Gebäude gesichert worden war, begannen circa 40 Beamte damit, auf einer Fläche von fast 25.000 m² Spuren zu sichern. Die Auflistung des sichergestellten Beweismaterials umfasste schließlich 30.000 Seiten. Die Leichen der Opfer und Täter wurden erst am Tag nach dem Amoklauf in die Gerichtsmedizin überführt. In den ersten 72 Stunden nach Beginn des Amoklaufs hatte die Polizei circa 500 Zeugen verhört, später folgten weitere 5.000 Vernehmungen. Zu Beginn des Ermittlungsverfahrens glaubten die Beamten aufgrund des Ausmaßes der Tat, dass es weitere Tatbeteiligte geben müsse, und so gerieten auch einige Schulfreunde von Harris und Klebold unter Tatverdacht. Drei von ihnen wurden noch am Tattag verhaftet, kurz darauf aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen. Robyn Anderson und Mark Manes stellten sich am Tag nach dem Amoklauf bzw. im Mai 1999 der Polizei und gestanden, den Tätern die Schusswaffen besorgt zu haben. Insgesamt dauerte das Ermittlungsverfahren, an dem rund 100 Beamte von 20 verschiedenen Behörden beteiligt waren, sechs Monate. Seine Ergebnisse veröffentlichte das Jefferson County Sheriff’s Office im Mai 2000 mit dem offiziellen Columbine Report. Im November desselben Jahres brachte die Behörde rund 11.000 Seiten mit den protokollierten Zeugenaussagen heraus. Bis Oktober 2003 wurden sukzessive weitere Dokumente im Gesamtumfang von 15.000 Seiten herausgegeben. Im Jahr 2006 veröffentlichte das Sheriff’s Office zudem die über 900 Seiten umfassenden persönlichen Aufzeichnungen und Dokumente der Täter (Columbine Documents). In dem im Mai 2000 veröffentlichten Untersuchungsbericht wurde angegeben, dass Daniel Rohrbough zuerst von Harris’ Schüssen getroffen, dann aber von Klebold aus kurzer Distanz erschossen worden sei. Rohrboughs Eltern bezweifelten diese Version des Tatgeschehens, da der Untersuchungsbericht in ihren Augen Widersprüche aufwies. Sie vermuteten vielmehr, dass ihr Sohn versehentlich von den Schüssen eines Polizisten getötet worden sei. Die daraufhin eingeleitete unabhängige Untersuchung durch das Sheriff’s Office des benachbarten El Paso County kam im April 2002 aufgrund des ballistischen Gutachtens und mehrerer Zeugenaussagen zu dem Ergebnis, dass der tödliche Schuss „ohne begründete Zweifel“ durch Harris abgegeben worden war. Psychologisches Profil der Täter Grundlage der Profilerstellung Im Nachhinein erstellten Fallanalytiker des FBI auf Basis der hinterlassenen Tagebuch- und Videoaufzeichnungen ein psychologisches Profil der Täter. Sie kamen dabei zu dem Schluss, dass Harris ein homizidaler Psychopath, Klebold hingegen depressiv und suizidal gewesen sei. Der mit dem Fall als leitender FBI-Ermittler befasste Psychologe Dwayne Fuselier erklärte: „[Eric] ging zur Schule, um Menschen zu töten, und es war ihm egal, ob er sterben würde, während Dylan sterben wollte und es ihm egal war, ob andere ebenfalls sterben würden.“ Der Soziologe und Autor Ralph Larkin kritisierte diese Charakterisierung als „vereinfacht“. Sie verschlinge die Identitäten der Täter und reduziere sie auf ein Etikett. Auch die Autorin Rita Gleason ist der Ansicht, dass diese pauschale Darstellung der Täter den Einfluss ihrer Lebenserfahrungen vernachlässige: „Eric Harris war nicht zum Töten bestimmt. Dylan Klebolds Selbsthass hat sich nicht in einem Vakuum entwickelt.“ Beide Täter schrieben in ihren Tagebüchern darüber, sich ausgegrenzt und nicht akzeptiert zu fühlen sowie über ihr mangelndes Selbstwertgefühl. Im Übrigen weisen ihre Aufzeichnungen jedoch signifikante Unterschiede bezüglich ihres Inhalts und Schreibstils auf. Während Harris in seinem Tagebuch überwiegend Wut, Verachtung, Hass und Mordgedanken zum Ausdruck brachte, schrieb Klebold vor allem über seine Depression und Suizidgedanken sowie seine Einsamkeit und Suche nach wahrer Liebe. Laut dem Psychologen Peter Langman wirke Harris’ Schreibweise klar und wortgewandt, Klebolds Gedankengänge würden hingegen wirr und ungeordnet erscheinen. Harris zeichnete Waffen und Swastiken, Klebold malte Herzen. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten zeigten sich auch auf den Basement Tapes. Laut Fuselier hätten die Aufnahmen auf den Laien gewirkt, als sei Klebold der Dominantere von beiden gewesen. Er sei laut, unbeherrscht und zornig aufgetreten, während Harris ruhig und kontrolliert erschien und es bevorzugt habe, hinter der Kamera Anweisungen zu geben. Klebold habe sich jedoch durch seine Augen verraten, mit denen er immer wieder nach Harris’ Bestätigung gesucht habe. Harris Viele Experten sind davon überzeugt, dass Harris ein Psychopath war, der zahlreiche Kriterien auf Robert D. Hares Psychopathie-Checkliste erfüllte. Laut Fuselier sei er unter anderem manipulativ, empathie- und gewissenlos, oberflächlich charmant sowie ein gewohnheitsmäßiger Lügner gewesen, dem es Freude bereitet habe, andere zu täuschen. Die Psychopathie-Diagnose wird von einigen Autoren jedoch auch kritisch betrachtet. Gegen diese Charakterisierung spreche unter anderem, dass Harris durchaus Gefühle wie Traurigkeit, Depression oder Einsamkeit gezeigt habe und von Zeitgenossen als empathiefähig beschrieben wurde. Aus seiner Kindheit seien zudem keine Verhaltensauffälligkeiten wie beispielsweise Tierquälerei bekannt. Auch sei die von ihm an den Tag gelegte extreme Gewalt und sein Suizid untypisch für einen Psychopathen. Gleason bemängelt, dass die Diagnose nur auf Basis von Tagebuch- und Videoaufzeichnungen gestellt wurde. Da Harris nicht mehr persönlich untersucht werden könne, dürfe sie (ebenso wie die Diagnosen in Klebolds Fall) nicht als Fakt behandelt werden. Langman und der Psychologe Aubrey Immelman beschreiben Harris als antisoziale, sadistische, narzisstische und paranoide Persönlichkeit. Laut Immelman erfülle er damit die Kriterien des von Otto F. Kernberg als „bösartiger Narzissmus“ bezeichneten Persönlichkeitssyndroms. Sein sadistisches Wesen habe sich dadurch geäußert, dass er seine Opfer während des Amoklaufs verhöhnt und schikaniert und in seinem Tagebuch über Folter- sowie Vergewaltigungsfantasien geschrieben habe. Langman ist der Ansicht, dass Harris durch den Aufbau einer Fassade von Überlegenheit versucht habe, sein geringes Selbstwertgefühl zu kompensieren, welches vermutlich auf das instabile soziale Umfeld während seiner Kindheit und seine angeborene Thoraxdeformität zurückzuführen sei. Er habe das für einen Narzissten typische übersteigerte Bedürfnis nach Anerkennung gehabt, wobei sein Narzissmus die Grenze zum Größenwahn überschritten habe. Dies zeige sich beispielsweise daran, dass er den geplanten Anschlag in seinem Tagebuch mit den Unruhen von L.A. und dem Zweiten Weltkrieg verglich. Hare glaubt, dass Harris’ Hasstiraden auf die gesamte Menschheit Ausdruck eines Überlegenheitskomplexes gewesen seien. Klebold Menschen, die beide Täter kannten, zeigten sich besonders von Klebolds Tatbeteiligung erschüttert. In seiner äußeren Erscheinung war er ein stiller und schüchterner, aber normaler Teenager mit Zukunftsplänen, der am gesellschaftlichen Leben teilnahm und von vielen seiner Altersgenossen gemocht wurde. Weder seine Familie noch seine engsten Freunde ahnten, dass sich hinter dieser Fassade ein einsamer und depressiver Mensch verbarg, der bereits zwei Jahre vor der Tat suizidal war und seinem Tagebuch anvertraute, sich zu ritzen. Er suchte Linderung im Alkohol und rauchte Marihuana. Wie bei vielen anderen Amokläufern schlugen seine Depression und sein Selbsthass schließlich in Wut und Hass auf andere um. Cullen und Langman glauben, dass man Klebold hätte helfen können, wenn jemand seine psychischen Probleme erkannt hätte. Neben der Depression wurden bei ihm post mortem Merkmale einer selbstunsicher-vermeidenden, einer passiv-aggressiven und einer abhängigen Persönlichkeitsstörung identifiziert. Langman hält es zudem für möglich, dass Klebold eine schizotypische Persönlichkeitsstörung hatte. Dafür sprächen unter anderem seine seltsame Schreibweise, sein Gefühl der Selbstentfremdung, sein von anderen als „eigentümlich“ bezeichnetes äußeres Erscheinungsbild sowie seine teils paranoiden und wahnähnlichen Gedanken. In seiner Fantasiewelt habe er sich zu einem gottgleichen Wesen erhöht, um seine Einsamkeit und sozialen Ängste zu bewältigen. Laut Immelman und Fuselier habe auch Klebold über sadistische Züge verfügt, diese seien aber nicht so stark ausgeprägt wie in Harris’ Fall. Obwohl Klebold ebenfalls psychopathische Verhaltensweisen zeigte, halten Experten ihn nicht für einen Psychopathen, weil er – für einen Psychopathen untypisch – in seinen Aufzeichnungen Schuldgefühle, Reue und Scham zum Ausdruck brachte. Langman meint, dass Klebold durch sein psychopathisches Verhalten seine Unsicherheit kompensiert habe: „Der schüchterne Junge, der nicht den Mut hatte, ein Mädchen nach einem Date zu fragen, wurde zu einem einschüchternden Massenmörder.“ Täterdynamik Aufgrund der erstellten Profile wird Harris oft als der Drahtzieher und die treibende Kraft hinter dem Amoklauf angesehen, während Klebold als Mitläufer eingestuft wird. Mehrere Zeugen berichteten, dass Klebold sich im Verlauf der Tat Harris untergeordnet habe. Er habe dessen Anweisungen befolgt und versucht, ihn zu beeindrucken. Langman ist der Ansicht, dass es während des Amoklaufs trotzdem mehrere Gelegenheiten gegeben habe, bei denen Klebold – im Gegensatz zu Harris – potenzielle Opfer verschont habe. Gleason sieht in Klebold hingegen keinen reinen Mitläufer. Er habe sich durchaus gegenüber Harris behaupten können und einen bedeutenden Anteil an der Planung, Vorbereitung und Ausführung der Tat gehabt. Einige Experten, darunter Fuselier, halten es für abwegig, dass Klebold die Tat ohne Harris realisiert hätte. Wahrscheinlicher sei, dass Harris die Tat auch allein oder im späteren Erwachsenenalter ein noch größeres Verbrechen begangen hätte. Andere Experten wie der Psychiater Frank Ochberg, der das FBI bei der Erstellung der Täterprofile unterstützte, gehen hingegen davon aus, dass keiner der beiden Amokläufer die Tat ohne den anderen verübt hätte. Die Präsenz des anderen habe sie in ihrem Vorhaben bestärkt und gleichzeitig habe sie verhindert, dass einer von ihnen vom Plan zurückgetreten sei. Laut Cullen, der sich auf das vom FBI erstellte Täterprofil stützt, seien der sadistische, psychopathische Harris und der wütende, unberechenbare Klebold ein explosives Paar gewesen, das sich gegenseitig genährt habe. Ohne die Begeisterung des hitzköpfigen Klebold hätte es dem kühl kontrollierenden Harris an der Ausdauer zur Umsetzung des Plans gefehlt. Dass ausgerechnet Harris und Klebold zu Komplizen wurden, liegt Langmans Auffassung nach daran, dass sie sich von ihren Gegensätzen angezogen gefühlt hätten. Harris habe die Rolle des Anführers einnehmen können, was seinem Geltungsbedürfnis entsprochen habe und der unsichere, unselbstständige Klebold habe bei ihm Halt gefunden. Andrew Solomon hat den Eindruck, als habe Klebold um Harris’ willen beim Mord, und Harris um Klebolds willen beim Suizid mitgemacht. Larkin meint, dass beide Täter einander „verzweifelt gebraucht“ hätten. Harris habe Klebolds Leben Antrieb, Sinn und ein Ziel gegeben; Klebold sei für Harris ein bereitwilliger Verbündeter gewesen, der seine Weltanschauung bestätigt habe. Zusammen seien sie eine Macht gewesen, mit der man rechnen musste, getrennt hingegen nur ein paar „Nerds“ am unteren Ende der sozialen Hierarchie der Columbine High School. Tatmotivation Über die Beweggründe der Täter wurde intensiv spekuliert, sie konnten jedoch nicht mit Gewissheit geklärt werden. In frühen Medienberichten wurde ein neonazistischer Hintergrund vermutet, unter anderem weil der Amoklauf am 20. April – Adolf Hitlers Geburtstag – stattfand, Klebold eines der Opfer rassistisch beschimpft hatte und einige Zeugen berichteten, dass die Täter nach einem Strike beim Bowling den Hitlergruß gezeigt hätten. Die Ermittler konnten das neonazistische Motiv jedoch nicht bestätigen. Zwar schrieb Harris in seinem Tagebuch über seine Bewunderung für die Nazis, er stellte dabei aber keine Verbindung zu dem geplanten Anschlag her. Auch gab es andere Zeugenaussagen, denen zufolge Klebold – der selbst jüdische Vorfahren hatte – Harris’ Interesse am Nationalsozialismus nicht geteilt habe. Zudem kamen die Ermittler nach Sichtung der Basement Tapes zu dem Schluss, dass die Täter eigentlich den 19. April 1999 als Tattag festgelegt hatten. Anscheinend aufgrund einer sich verzögernden Munitionslieferung verschoben sie den geplanten Anschlag aber schließlich auf den darauffolgenden Tag. In ihren Aufzeichnungen findet sich keine Begründung für die ursprüngliche Wahl des 19. April als Tattag, es wird jedoch vermutet, dass sie damit dem Jahrestag des Bombenanschlags von Oklahoma City im Jahr 1995 huldigen wollten. Des Weiteren wurde in den Medien Rache für das erlittene Mobbing, mangelnde soziale Akzeptanz und Ausgrenzung als mögliches Tatmotiv diskutiert. Laut Zeugen sollen die Täter während des Amoklaufs mehrmals sinngemäß gesagt haben, dass sie sich für das rächen würden, was ihnen jahrelang von ihren Mitschülern angetan worden sei. Auch in ihren Aufzeichnungen und auf den Basement Tapes äußerten sie ihre Racheabsichten und aufgestaute Wut. Außerdem führten sie „Hasslisten“ mit den Namen von Schülern, von denen sie in der Vergangenheit angegriffen oder gekränkt worden waren. Die ermittelnden Behörden sahen das Rachemotiv hingegen kritisch, weil die Täter nicht gezielt ihre Peiniger attackiert hatten und von keinem der getöteten Opfer gemobbt worden waren. Vielmehr gingen die Ermittler davon aus, dass das Motiv für den Amoklauf das Streben nach Ruhm war. Aus ihren Äußerungen in den von ihnen hinterlassenen Videoaufnahmen und schriftlichen Aufzeichnungen werde deutlich, dass sich Harris und Klebold dessen bewusst waren, dass sie durch die Tat zu Berühmtheiten würden. So diskutierten sie in einem der Videos, welcher Hollywood-Regisseur ihre Geschichte verfilmen solle, und Harris schrieb in seinem Tagebuch, dass er einen bleibenden Eindruck auf der Welt hinterlassen wolle. Der FBI-Agent Mark Holstlow erklärte: „[Sie] wollten sich unsterblich machen […] Sie wollten berühmt sein. Und das sind sie. Sie sind berüchtigt.“ Larkin ist der Meinung, dass es ihnen sowohl um Rache als auch Ruhm ging. Zwar sei die Tötung ihrer Opfer während des Amoklaufs wahllos erfolgt, ihr eigentlicher Plan sei jedoch die Zerstörung der ganzen Schule und die Ermordung aller darin befindlichen Menschen gewesen, da sie all ihren Mitschülern die Schuld an ihrem niedrigen sozialen Status gegeben hätten. Zugleich hätten sie durch das von ihnen erhoffte spektakuläre Ausmaß ihres Racheakts berühmt werden wollen. Ihre Tat weise zudem einen politischen Charakter auf: Harris und Klebold hätten verstanden, dass ihr Schmerz und ihre Erniedrigung von Millionen anderer Schüler geteilt wurden, und ihren Angriff im Namen eines größeren Kollektivs durchgeführt. Cullen kritisiert, dass eine derartige Sichtweise aus zwei brutalen Massenmördern Volkshelden mache. Nach Langmans Auffassung habe Harris Gott spielen, andere dominieren sowie über Leben und Tod entscheiden wollen. Sein Zerstörungswille sei durch seine eigene Ideologie motiviert gewesen. Er habe die Werte der Zivilisation verachtet und davon geträumt, die in seinen Augen untaugliche Menschheit auszulöschen. Es sei daher kein Zufall gewesen, dass er am Tattag ein T-Shirt mit der Aufschrift Natural Selection getragen habe, sondern seine Botschaft an die Welt. Klebolds Motivation sei weniger eindeutig, vermutlich sei die Tat für ihn jedoch ein Ventil für seine Wut und ein Ausweg aus seinem Leid gewesen. Tatfolgen Traumabewältigung der Betroffenen Das Ereignis kam einer gesellschaftlichen Katastrophe gleich und traumatisierte nicht nur die Schüler, Lehrer, Einsatzkräfte und Reporter, die unmittelbar Zeuge des Amoklaufs geworden waren, sondern wirkte sich Dominoeffekt-ähnlich auch auf die indirekt betroffenen Angehörigen, Freunde und Kollegen sowie die gesamte Gemeinschaft Littletons belastend aus. In den Tagen nach der Tat suchten viele Menschen Zuflucht in den Kirchen der Gegend oder den Austausch mit ebenfalls Betroffenen, während andere es bevorzugten, sich zurückzuziehen oder die Geschehnisse zu verdrängen. Die Trauer- und Traumabewältigung wurde durch aufdringliche Sensationsjournalisten, Katastrophentouristen und Drohungen von Trittbrettfahrern erschwert. Einige Betroffene nahmen sich später das Leben, darunter sechs Ersthelfer der Feuerwehr, die Mutter von Anne Marie Hochhalter und ein Schulfreund von Matthew Kechter, der sich am Tattag in dem Klassenraum befunden hatte, in dem Dave Sanders starb. Für die verbleibende Zeit des Schuljahres wurden die Schüler der Columbine High School in der nahegelegenen Chatfield High School unterrichtet. Unterdessen wurden am Schulgebäude sämtliche Schäden und Spuren beseitigt, die an die Tat erinnerten. Im Rahmen der Renovierung, deren Kosten sich auf 1,2 Mio. US-Dollar beliefen, wurde die Treppe zum Westeingang neu gestaltet, die ursprüngliche Bibliothek vollständig entfernt und die darunterliegende Cafeteria in ein zweistöckiges Atrium umgewandelt. Der Signalton des Feueralarms, der am Tattag stundenlang im Schulgebäude zu hören war, wurde ebenfalls geändert, um den Schülern ein fortwährendes Wiedererleben der Ereignisse zu ersparen. Am 16. August 1999 kehrten die Schüler der Columbine High an ihre Schule zurück, deren Personal um zwei psychologische Berater aufgestockt wurde. Der Wiedereröffnung ging eine Versammlung unter dem Motto „Take Back the School“ („Die Schule zurückerobern“) voraus, an der rund 2.000 Menschen teilnahmen. Im Juni 2001 wurde die neue, durch Spendengelder finanzierte Bibliothek eingeweiht. Viele Opfer trugen durch ihre Schussverletzungen bleibende Schäden und Behinderungen davon. Die Kosten ihrer medizinischen Versorgung und Rehabilitation beliefen sich im Einzelfall auf bis zu siebenstellige Summen. Finanzielle Unterstützung erhielten die Opfer und Hinterbliebenen aus einem Spendenfonds in Höhe von 3,8 Mio. US-Dollar. Ein Teil der Spenden wurde zudem für Traumatherapien zur Verfügung gestellt. Zahlreiche Überlebende des Amoklaufs – auch jene, die keine körperlichen Verletzungen davongetragen hatten – litten teilweise noch Jahre nach der Tat am Überlebensschuld-Syndrom und anderen Formen der posttraumatischen Belastungsstörung. Bei vielen von ihnen führt die Berichterstattung über eine erneute Massenschießerei wie beispielsweise beim Massenmord von Las Vegas im Jahr 2017 zur Retraumatisierung. Die Medien begleiteten die Schicksale mehrerer Opfer und Hinterbliebener über Jahre hinweg und berichteten beispielsweise über Sean Graves’ und Patrick Irelands Genesung von ihren Lähmungen oder Austin Eubanks, der während der Behandlung seiner Verletzungen eine jahrelang andauernde Opiatabhängigkeit entwickelte und im Mai 2019 im Alter von 37 Jahren an einer Heroin-Überdosis starb. Einige Überlebende und Hinterbliebene verarbeiteten das Erlebte, indem sie Memoiren schrieben oder zu Aktivisten wurden. Bereits kurz nach der Tat waren Schüler der Columbine High School nach Washington, D.C., gereist, um sich für eine Verschärfung des Waffenrechts einzusetzen. Da die Nutzung von Social Media Ende der 1990er Jahre noch nicht weit verbreitet war, fiel das damalige Echo in den Medien und der Bevölkerung jedoch deutlich geringer aus als bei den Protestbewegungen March for Our Lives und Never Again MSD, die als Reaktion auf das Schulmassaker von Parkland im Jahr 2018 entstanden. Suche nach Ursachen und Mitverantwortlichen Nach der Tat wurde in zahlreichen öffentlichen Diskussionen nach Ursachen und Schuldigen gesucht. Laut Schildkraut und Muschert seien die Einzigen, in deren Richtung dabei nicht mit dem Finger gezeigt wurde, die Täter selbst gewesen. Experten wie Peter Langman betonen, dass School Shootings zu komplex seien, um sie auf eine einzige Ursache zurückführen oder mit einfachen Antworten erklären zu können. Vielmehr gelte es, eine Reihe von Einflussfaktoren und den Umstand zu berücksichtigen, dass es sich bei den Tätern in der Regel um psychisch gestörte Jugendliche handele. Mobbing und soziales Klima der Schule Viele Schüler der Columbine High School berichteten nach dem Amoklauf, dass Mobbing an ihrer Schule zum Alltag gehörte und von der Schulleitung und Lehrerschaft weitgehend ignoriert oder toleriert wurde, da es sich bei den Mobbing-Tätern meist um erfolgreiche Sportler handelte, die von den Lehrkräften bevorzugt behandelt wurden. Brooks Brown beschrieb die Situation später wie folgt: „Wenn die Leute wissen wollten, wie Columbine war, erzählte ich ihnen von den Mobbern, die sich unerbittlich auf jeden stürzten, von dem sie glaubten, dass er unter ihnen stünde. Die Lehrer haben die Augen vor dem Missbrauch ihrer Schüler verschlossen, weil sie nicht die Favoriten waren.“ Einige Schüler und Eltern vertraten die Auffassung, dass das unterlassene Einschreiten der Lehrer und die ungleiche Behandlung von Schülern dazu beigetragen habe, dass Harris und Klebold Rachefantasien entwickelt hätten. Brown äußerte: „Eric und Dylan sind für diese Tragödie verantwortlich, aber Columbine ist verantwortlich für Eric und Dylan.“ Eine im Jahr 2000 anberaumte behördliche Untersuchung des sozialen Klimas an der Columbine High School bestätigte den Wahrheitsgehalt der Mobbing-Berichte, kam aber auch zu dem Ergebnis, dass nur wenige dieser Vorfälle an die Schulverwaltung gemeldet wurden, weshalb das Ausmaß der Gewalt von ihr unterschätzt worden war. Eine 2002 veröffentlichte Studie des U.S. Secret Service und des Bildungsministeriums der Vereinigten Staaten, bei der 37 School Shootings in den USA untersucht worden waren, kam zu dem Ergebnis, dass die Täter in der Mehrheit der Fälle Opfer von Mobbing gewesen waren. Zahlreiche US-Schulbezirke reagierten mit der Einführung neuer oder Verschärfung bereits bestehender Anti-Mobbing-Richtlinien auf das Problem. Darüber hinaus verabschiedeten 44 US-Bundesstaaten Gesetze, welche die Schulen zur Einführung von Anti-Mobbing-Programmen verpflichteten. Viele Experten und Autoren halten den Mobbing-Faktor im Fall von Columbine jedoch für überbewertet. So meinte Langman beispielsweise: „[…] das Ausmaß, in dem Eric und Dylan schikaniert wurden, wurde übertrieben und ihre Belästigung und Einschüchterung anderer Schüler wurde übersehen oder bagatellisiert […] Es hieß, dass Mobbing an der Columbine High School so weit verbreitet war, dass die Schule eine vergiftete Kultur hatte. Selbst wenn dem so war, sagt uns das nicht, warum ausgerechnet Eric Harris und Dylan Klebold von den Tausenden von Schülern, die durch diese vergiftete Kultur gegangen sind, Amok liefen.“ Nebenwirkungen von Psychopharmaka Die Obduktion der Leichen von Harris und Klebold ergab, dass beide während der Tat weder unter Alkohol- noch Drogeneinfluss gestanden hatten. In Harris’ Körper wurde jedoch eine therapeutische Menge des unter dem US-Handelsnamen Luvox verkauften Antidepressivums Fluvoxamin festgestellt. Die Einnahme des Medikaments war ihm im Rahmen einer ambulanten Psychotherapie verordnet worden, in der er sich seit Februar 1998 wegen einer Depression befunden hatte. Zu Beginn der Therapie war ihm Zoloft verschrieben worden, nachdem er jedoch über zwanghafte negative Gedanken geklagt hatte, erfolgte im April 1998 die Umstellung auf Fluvoxamin, dessen Dosis in den kommenden Monaten sukzessive auf schließlich 200 mg pro Tag erhöht wurde. Nach der Tat behaupteten Kritiker von Psychopharmaka, dass ihn die Nebenwirkungen des Medikaments zu dem Amoklauf getrieben hätten. Dieser Behauptung wurde entgegnet, dass Harris bereits vor der Fluvoxamin-Einnahme homizidale Gedanken gehabt habe. Außerdem hätten er und Klebold, der nicht unter Medikamenteneinfluss gestanden hatte, die Idee zur Tat bereits Monate vor Beginn der medikamentösen Therapie gehabt. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Tatbegehung und der Fluvoxamin-Einnahme konnte letztlich nicht belegt werden. Die von einigen Opferfamilien eingereichten Zivilklagen gegen den Luvox-Hersteller Solvay, dem unter anderem vorgeworfen wurde, nicht hinreichend über mögliche Nebenwirkungen des Medikaments informiert zu haben, wurden später zurückgezogen. Fiktionale Gewalt in Computerspielen und Filmen In den Medien wurde debattiert, ob Harris und Klebold durch den Konsum fiktionaler Gewalt zu dem Amoklauf verleitet worden sein könnten. Beide Täter hatten eine Vorliebe für den Film Natural Born Killers gezeigt – dessen Abkürzung „NBK“ sie als Codewort für den geplanten Anschlag auf ihre Schule verwendeten – und sich in ihrer Freizeit häufig mit Gewalt darstellenden Computerspielen beschäftigt. Harris hatte eine der von ihm bei der Tat verwendeten Schusswaffen nach einem Charakter aus der Ego-Shooter-Serie Doom benannt und in einem Schulaufsatz geschrieben: „Doom ist so in meinen Kopf eingebrannt, dass meine Gedanken normalerweise etwas mit dem Spiel zu tun haben … Was ich im realen Leben nicht tun kann, versuche ich, in Doom zu tun.“ Er kreierte zudem eigene Doom-Level, die er auf seiner Website veröffentlichte. Nach dem Amoklauf untersuchte das Simon Wiesenthal Center die von Harris erstellten Spielabschnitte und kam zu dem Ergebnis, dass er rund 100 Stunden mit deren Ausgestaltung verbracht hatte und eine seiner Versionen in einem Massaker endete, weil der Spieler unbesiegbar war. Während einige nach der Tat durchgeführte Studien zu dem Ergebnis kamen, dass Gewalt darstellende Medien bei Jugendlichen die Feindseligkeit gegenüber anderen erhöhen und ihre Hemmschwelle zur Gewalt sowie ihr Empathievermögen verringern können, fanden andere Forscher keine belastbaren Belege dafür, dass aggressives und gewalttätiges Verhalten auf den Konsum Gewalt darstellender Computerspiele zurückgeführt werden kann. Mit der Behauptung, dass es ohne den Einfluss fiktionaler Gewalt nicht zu dem Amoklauf gekommen wäre, verklagten einige Opferangehörige mehrere Computerspiel-Hersteller und andere Unternehmen der Unterhaltungsindustrie auf eine Entschädigungssumme von fünf Milliarden US-Dollar; die Klage wurde jedoch mit dem Argument der Kunstfreiheit vom Gericht abgewiesen. Angesichts der öffentlichen Debatte erhielt der Spielfilm Killing Mrs. Tingle („Frau Tingle töten“) vor seinem US-Kinostart am 20. August 1999 kurzfristig den alternativen Titel Teaching Mrs. Tingle (sinngemäß „Frau Tingle erziehen“). Im Jahr 2005 erschien das Computer-Rollenspiel Super Columbine Massacre RPG!, in dem der Amoklauf an der Columbine High School aus der Sicht der Täter nachgespielt werden kann, was in den USA zu landesweiter Empörung und massiver Kritik führte. US-Waffenrecht Nach dem Amoklauf kritisierten Politiker und Aktivisten der Anti-Waffen-Bewegung die mangelhafte Waffenkontrolle in den USA, die es den minderjährigen Tätern ermöglicht habe, ohne größere Hürden an Schusswaffen zu gelangen. Daraufhin wurden landesweit über 800 Gesetzesentwürfe zur Verschärfung des Waffenrechts eingebracht, von denen jedoch nur circa zehn Prozent erfolgreich waren. Während auf Bundesebene sämtliche Gesetzesentwürfe im Kongress scheiterten, wurden in Colorado mehrere Gesetze verabschiedet, durch die unter anderem ein Background-Check-System eingeführt und Waffenkäufe durch Strohmänner verboten wurden. Trotz Protests aus der Bevölkerung fand am 1. Mai 1999 – elf Tage nach dem Amoklauf – die Jahresversammlung der National Rifle Association (NRA) in Denver statt, woraufhin es zu einer Anti-Waffen-Demonstration von rund 8.000 Menschen kam. Zu den Demonstranten gehörte Tom Mauser, der ein Schild hochhielt mit der Aufschrift “My son Daniel died at Columbine. He’d expect me to be here today.” („Mein Sohn Daniel starb an der Columbine. Er würde von mir erwarten, heute hier zu sein.“) Weiter sagte er: „Es gibt viele verantwortungsvolle Waffenbesitzer. Aber es ist an der Zeit zu begreifen, dass eine halbautomatische TEC-9-Waffe […] nicht zur Wildjagd genutzt wird.“ Charlton Heston, der damalige Präsident der NRA, zeigte sich angesichts des Protests enttäuscht, da der Waffen-Lobby dadurch seiner Auffassung nach Komplizenschaft unterstellt würde: „Es impliziert, dass 80 Millionen redliche Waffenbesitzer irgendwie Schuld seien.“ Der Filmemacher Michael Moore nutzte die Ereignisse an der Columbine High School als Aufhänger für seinen 2002 erschienenen, Oscar-prämierten Dokumentarfilm Bowling for Columbine, in dem er die Gründe der Waffengewalt in den USA hinterfragt. In einer Szene des Films begleiten ihn die überlebenden Opfer Richard Castaldo und Mark Taylor zur Supermarktkette Kmart, wo die Täter einen Teil ihrer Munition erstanden hatten, und geben in einem symbolischen Akt die Kugeln zurück, die in ihren Körpern gesteckt hatten. Kmart reagierte, indem es den Munitionsverkauf landesweit einstellte. Gothic-Kultur und Musikindustrie In frühen Medienberichten wurde behauptet, dass die Täter Mitglieder der sogenannten Trench Coat Mafia gewesen seien. Hierbei handelte es sich um eine Gruppe von jugendlichen Außenseitern, die meist lange schwarze Mäntel trugen, mit der Gothic-Kultur in Verbindung gebracht wurden und oft im Konflikt mit den „Jocks“ der Columbine High School standen. Obwohl Harris und Klebold ebenfalls häufig schwarze Mäntel zur Schule trugen und mit einigen Mitgliedern der Trench Coat Mafia befreundet waren, gehörten sie jedoch weder der Gruppe an noch waren sie Goths. Trotzdem führte die Berichterstattung dazu, dass der Gothic-Bewegung und Schülern, die sich entgegen dem Mainstream kleideten, mit zunehmendem Misstrauen und Anfeindungen begegnet wurde. Viele US-Schulen erließen Kleiderordnungen, die das Tragen von Trenchcoats oder schwarzer Kleidung verboten. Da Harris und Klebold die Musik von Rammstein und KMFDM gehört hatten, kam in den Medien der Vorwurf auf, dass sie von deren Gewalt thematisierenden Liedtexten beeinflusst worden seien. Sascha Konietzko von KMFDM ließ daraufhin verlautbaren, dass die Gruppe Gewalt gegen andere verurteile. Rammstein erklärten, dass Mitglieder der Band selbst Kinder hätten und stetig danach streben würden, ihnen gesunde und gewaltfreie Werte zu vermitteln. Obwohl es widersprüchliche Berichte darüber gibt, ob die Täter überhaupt zu seinen Fans gehörten, wurde insbesondere Marilyn Manson, Frontmann der gleichnamigen Band, durch eine Reihe von Schlagzeilen wie „Killers Worshipped Rock Freak Manson“ („Killer verehrten Rock-Freak Manson“) oder „Devil-Worshipping Maniac Told Kids To Kill“ („Teufelsanbetender Irrer befahl Kids zu töten“) mit dem Amoklauf in Verbindung gebracht. Laut Manson habe dies dazu geführt, dass seine damaligen Plattenverkäufe eingebrochen seien und er zahlreiche Morddrohungen erhalten habe. Wenige Tage nach der Tat sagte die Band aus Respekt vor den Opfern die restlichen US-Konzerte ihrer Tour Rock Is Dead ab, und Manson erklärte: „Die Medien haben die Musikindustrie und sogenannte Gothic-Kids unfairerweise zu Sündenböcken gemacht und ohne wahre Grundlage gemutmaßt, dass Künstler wie ich in gewisser Weise verantwortlich seien. Diese Tragödie war das Produkt von Ignoranz, Hass und einem Zugang zu Waffen. Ich hoffe, dass das unverantwortliche Fingerzeigen der Medien nicht dazu führt, dass Kids, die anders aussehen, noch mehr diskriminiert werden.“ Später von Michael Moore für Bowling for Columbine interviewt, antwortete Manson auf die Frage, was er zu den Kids von Columbine sagen würde, wenn er die Möglichkeit dazu hätte: „Ich würde nicht ein einziges Wort zu ihnen sagen, ich würde zuhören, was sie zu sagen haben und das ist es, was niemand getan hat.“ Die Eltern der Täter Kurz nach dem Amoklauf gaben beide Elternpaare über ihre Rechtsanwälte Erklärungen ab, in denen sie den Opfern ihr Mitgefühl aussprachen. In der Folgezeit waren sie massiver Kritik sowie zahlreichen Schuldzuweisungen und Anfeindungen der Öffentlichkeit ausgesetzt. Ihnen wurde unter anderem mangelnde elterliche Fürsorge und das Übersehen von Warnsignalen vorgeworfen. Laut einem Umfrageergebnis glaubten 83 Prozent der befragten US-Bürger, dass die Eltern eine Mitschuld treffe. Während sich Wayne und Katherine Harris nie wieder öffentlich zum Amoklauf ihres Sohnes und der Kritik an ihnen äußerten, bezogen die Klebolds im Mai 2004 in einem Interview mit der New York Times erstmals Stellung zu den Vorwürfen und erklärten, dass ihr Sohn die Tat nicht wegen, sondern entgegen seiner Erziehung begangen habe. Wider der Erwartung vieler stammten die Täter nicht aus zerrütteten Familienverhältnissen. Freunde und Bekannte ihrer Familien beschrieben sowohl Wayne und Katherine Harris als auch Thomas und Sue Klebold als aufmerksame, besorgte und engagierte Eltern, die auf Fehlverhalten ihrer Kinder mit üblichen Erziehungsmaßnahmen wie Hausarrest oder der Einschränkung von Privilegien reagiert hätten. Beide Täter äußerten auf den Basement Tapes ihre Wertschätzung für ihre Eltern und dass sie keine Schuld treffe. Ein weiteres Interview gewährten die Klebolds im Jahr 2012 für Andrew Solomons Buch Weit vom Stamm. Im Jahr 2016 erschienen Sue Klebolds Memoiren Liebe ist nicht genug, in denen sie versucht, Erklärungen für das Handeln ihres Sohnes und Antworten darauf zu finden, wie die Tat hätte verhindert werden können. Ihr Versagen sieht sie darin, die Anzeichen der psychischen Probleme ihres Sohnes nicht erkannt zu haben. Ihren Anteil am Erlös des Buches spendet Klebold für die Suizidprävention, für die sie sich seit dem Amoklauf engagiert. Das Vorwort zum Buch lieferte Solomon, der schrieb: „Ich glaubte, dass ihre Geschichte zahlreiche, eindeutige Fehler [in der Erziehung] enthüllen würde. Ich wollte die Klebolds nicht mögen, denn der Preis dafür wäre das Eingeständnis, dass sie an den Ereignissen nicht schuld waren, und wenn sie keine Schuld traf, ist keiner von uns sicher. Leider mochte ich sie aber sehr. Und so kam ich zu dem Schluss, dass der Wahnsinn des Columbine-Massakers aus jedem Elternhaus hätte hervorgehen können.“ Juristische Aufarbeitung Die Eltern der Täter wurden strafrechtlich nicht belangt. Mark Manes wurde im November 1999 wegen des illegalen Waffenverkaufs an den minderjährigen Klebold zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Im Jahr 2003 wurde er vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen. Philip Duran, der bei dem Geschäft behilflich gewesen war, wurde im Juni 2000 zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und durfte im November 2003 ebenfalls vorzeitig seine Bewährung antreten. Robyn Anderson konnte strafrechtlich nicht belangt werden, weil es zum damaligen Zeitpunkt in Colorado aufgrund einer Gesetzeslücke nicht illegal war, Gewehre von nicht lizenzierten Händlern zu erwerben und sie an Minderjährige weiterzureichen. Das nach dem Amoklauf erlassene sogenannte „Robyn-Anderson-Gesetz“ verlangt nunmehr für die Weitergabe die Zustimmung eines Erziehungsberechtigten. Zahlreiche Überlebende des Amoklaufs und Hinterbliebene der getöteten Opfer reichten Zivilklagen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld ein, wobei sich die Verfahren teilweise über Jahre hinzogen. Zu den Beklagten gehörten unter anderem das Sheriff’s Office und die Schulbehörde von Jefferson County. Die Kläger warfen der Polizei vor, nicht entschlossen genug gegen die beiden Amokläufer vorgegangen zu sein, und waren der Ansicht, dass die Morde in der Bibliothek und Dave Sanders’ Tod durch zügigeres Einschreiten der Einsatzkräfte hätten verhindert werden können. Den Verantwortlichen der Schule wurde vorgeworfen, Warnsignale übersehen zu haben. Die Klagen gegen die Behörden von Jefferson County wurden im November 2001 zunächst abgewiesen. In der Berufung wurden den Klägern jeweils 15.000 US-Dollar von jeder der beiden Behörden zugesprochen und die Verfahren für erledigt erklärt. Nur Patrick Ireland und den Hinterbliebenen von Dave Sanders wurden – ohne Schuldanerkenntnis – höhere Summen (117.500 US-Dollar bzw. 1,5 Mio. US-Dollar) gezahlt. Auch die Eltern der Täter sowie Manes, Duran und Anderson wurden zivilrechtlich verklagt. Im April 2001 schlossen die Eltern der Täter mit über 30 Opferfamilien einen Vergleich über 1,6 Mio. US-Dollar. Die Summe wurde gleichmäßig auf die Kläger verteilt und stammte aus den Hauseigentümerversicherungen der Beklagten, wobei der Versicherer der Klebolds 1,3 Mio. US-Dollar zahlte und die Versicherung der Familie Harris die restlichen 300.000 US-Dollar abdeckte. Die verklagten Freunde der Täter steuerten insgesamt weitere 1,3 Mio. US-Dollar bei. Fünf Opferfamilien lehnten den Vergleich ab, da sie von den Eltern der Täter Aufklärung verlangten, damit derartige Taten in Zukunft verhindert werden könnten. Im Jahr 2003 kam es auch mit diesen Familien zu einem Vergleich, dessen Inhalt nicht öffentlich bekannt wurde. Die Klebolds und Harrises erklärten sich außerdem bereit, im Juli 2003 unter Eid sowie unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor Gericht auszusagen. Die protokollierten Aussagen wurden per Gerichtsbeschluss versiegelt und werden erst im Jahr 2027 veröffentlicht. Aufgrund ihres historischen Werts werden sie im Nationalarchiv der USA aufbewahrt. Präventionsmaßnahmen Erhöhung der Sicherheitsvorkehrungen an Schulen Nach dem Amoklauf erhöhten zahlreiche Schulen in den USA ihre Sicherheitsvorkehrungen. Die Ausgaben hierfür beliefen sich allein im Jahr 2017 auf fast drei Milliarden US-Dollar. Zu den ergriffenen Maßnahmen gehören unter anderem die Installation von Videoüberwachungsanlagen und Metalldetektoren, verstärkte Präsenz von Wachpersonal oder Polizeipatrouillen, stichprobenartige Durchsuchungen, die Schließung der Eingänge zum Schulgebäude während des Unterrichts sowie Ausweispflichten für Besucher. Zahlreiche Schulen etablierten zudem Verhaltensregeln für den Fall eines Amoklaufs sowie regelmäßige Amokalarmübungen. Diese sogenannten Active Shooter Drills haben sich als effektiv erwiesen, stehen aber zugleich in der Kritik, möglicherweise negative psychologische Auswirkungen auf die Kinder zu haben. Ebenfalls bemängelt wird die seit der Tat vielerorts verfolgte Nulltoleranzstrategie bezüglich der Bedrohung von Mitschülern oder des Waffenbesitzes auf dem Schulgelände. Laut den Kritikern führe die Strategie, nach der schon bei einem geringen Verstoß ein Schulverweis ausgesprochen oder eine psychologische Untersuchung angeordnet werden kann, zur unverhältnismäßigen Bestrafung von Schülern und zur Missachtung der Rechte des Einzelnen. Das FBI brachte im Jahr 2000 Richtlinien für Schulen zur Erkennung von Warnsignalen heraus. Danach würden die meisten School Shooter ihre Tat direkt oder indirekt ankündigen (sogenanntes Leaking). Aufgrund dieser Erkenntnis wurde im Jahr 2004 in Colorado die 24-Stunden-Hotline Safe2Tell eingerichtet, an die sich Schüler in Verdachtsfällen anonym wenden können und bei der bis Anfang 2019 über 30.000 Hinweise eingingen. Änderung der Polizeitaktik bei Amoklagen Während des Amoklaufs war die zuerst am Tatort eingetroffene Streifenpolizei den damals gültigen Handlungsleitlinien gefolgt und hatte das Schulgebäude nicht sofort gestürmt, sondern die Situation zunächst wie eine Geiselnahme behandelt und auf das für dieses Szenario speziell ausgebildete SWAT-Team gewartet. Dieses war jedoch nicht mit der Örtlichkeit vertraut und musste sich beim Betreten der Schule anhand eines fehlerhaften Gebäudeplans und Skizzen von Schülern orientieren. Verkompliziert wurde die Situation durch eine erschwerte Kommunikation zwischen den Beamten der verschiedenen Behörden, da ihre Funkgeräte auf unterschiedlichen Bandbreiten betrieben wurden und somit inkompatibel waren. Innerhalb des Gebäudes wurde die Verständigung zudem durch Rauch und den stundenlang ertönenden Feueralarm behindert. Das späte Einschreiten der Polizei und die Verzögerungen während des Zugriffs führten zu massiver Kritik in der Öffentlichkeit. Den Beamten wurde unter anderem vorgeworfen, ihre eigene Sicherheit über die der Kinder gestellt zu haben. Als Konsequenz veröffentlichte das Department of Homeland Security im Jahr 2003 mit dem Active Shooter Protocol eine neue polizeiliche Taktik, die nunmehr im Fall eines „aktiven Schützen“ (im Gegensatz zum nicht schießenden Geiselnehmer) ein sofortiges Einschreiten der Streifenpolizei vorsieht. Die Beamten werden darauf trainiert, den Schützen so schnell wie möglich zu neutralisieren und sich erst um die verletzten Opfer zu kümmern, wenn dieses Ziel erreicht ist. Außerdem werden Streifenpolizisten besser ausgerüstet und nach medizinischen Leitlinien des US-Militärs geschult (Tactical First Aid), da die Verletzungsmuster von Amoklauf-Opfern mit denen von Soldaten im Kampfeinsatz vergleichbar sind. Eine verbesserte Koordination mit Feuerwehr und Rettungsdienst hat außerdem dazu geführt, dass Verletzte schneller geborgen und versorgt werden können. Die neuen Leitlinien haben sich bereits bei mehreren Amokläufen als erfolgreich erwiesen: Während der Amoklauf an der Columbine High School fast eine Stunde dauerte, werden die meisten Amokläufe inzwischen innerhalb weniger Minuten beendet. „Columbine-Effekt“ – Einfluss auf spätere Amokläufer Seit dem Amoklauf an der Columbine High School lässt sich ein signifikanter Anstieg an School Shootings verzeichnen. Während es in der Zeit vom 30. Dezember 1974 bis einschließlich 20. April 1999 insgesamt 45 Amokläufe an US-Schulen gegeben hatte, handelte es sich beim Schulmassaker von Parkland am 14. Februar 2018 laut USA Today bereits um die 208. Schulschießerei in den Vereinigten Staaten seit Columbine. Bis 1999 hatten sich derartige Vorfälle fast ausschließlich in den USA ereignet, nach der international aufsehenerregenden Tat von Littleton kam es jedoch auch zu einer schlagartigen, weltweiten Ausbreitung des Phänomens. Experten führen den Anstieg auf Nachahmungstäter zurück, die sich den Columbine-Amoklauf zum Vorbild nehmen oder ihn übertreffen wollen. Häufig handele es sich um junge, psychisch gestörte Männer, die sich gemobbt, ausgegrenzt oder missverstanden fühlen und sich auf diese Weise an der Gesellschaft rächen oder Anerkennung verschaffen wollen. Für sie sei das Schulmassaker von Littleton zu einem Mythos und kulturellen Skript geworden. Viele der späteren Amokläufer gaben an, sich mit den Tätern von Columbine zu identifizieren, sie zu bewundern oder von ihnen inspiriert worden zu sein. Vielfach wird daher auch von einem „Columbine-Effekt“ gesprochen. Eine von ABC News durchgeführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass bis Oktober 2014 allein in den USA mindestens 17 Amokläufe und 36 vereitelte Angriffe auf Bildungseinrichtungen nachweislich vom Schulmassaker von Littleton inspiriert wurden, darunter die Amokläufe an der Virginia Tech im Jahr 2007 und der Sandy Hook Elementary School im Jahr 2012. Laut CNN wurden bis November 2015 in den Vereinigten Staaten mehr als 40 Personen angeklagt, die eine Tat nach dem Vorbild von Columbine geplant hatten. Das Magazin Mother Jones ermittelte bis April 2019 über 100 Fälle von Nachahmungstaten in den USA, darunter die Schulmassaker von Parkland und Santa Fe (2018); von den 74 Nachahmungstaten, die in den Zeitraum bis Oktober 2015 fielen, konnten 53 im Planungsstadium verhindert werden, bei den vollendeten Taten starben insgesamt 98 Menschen. Außerhalb der Vereinigten Staaten zählen unter anderem die Amokläufe von Erfurt (2002), Emsdetten (2006), Jokela (2008), Winnenden (2009), Kertsch (2018) und Suzano (2019) zu den Taten, die von Columbine beeinflusst wurden. Die Nachahmungstaten häufen sich auffallend oft rund um den Jahrestag des Amoklaufs an der Columbine High School. Allein zum 7. Jahrestag am 20. April 2006 wurden in den USA zehn geplante Taten rechtzeitig verhindert. Kurz vor dem 20. Jahrestag mussten die Columbine High School und weitere Schulen im Großraum Denver vorübergehend geschlossen werden, weil die Behörden von einer konkreten Gefährdung durch eine potenzielle Nachahmungstäterin ausgingen. Die Großfahndung nach der bewaffneten 18-Jährigen, die vom Columbine-Amoklauf „besessen“ gewesen sein soll, endete am 17. April 2019, als die Polizei sie tot auffand – die Gesuchte hatte sich das Leben genommen. Die Columbine-Täter sagten auf den Basement Tapes selbst vorher, dass sie Nachahmungstäter inspirieren würden, und glaubten, dass sie mit ihrer Tat eine „Revolution“ starten würden. Rezeption Mediale Berichterstattung Mit dem Amoklauf an der Columbine High School wurden School Shootings zum Medienphänomen. Nach der O.-J.-Simpson-Verfolgungsjagd im Juni 1994 war die Tat das Live-Nachrichtenereignis der 1990er Jahre, über das in den USA am zweitmeisten berichtet wurde. Laut CNN handelte es sich im Jahr 1999 um die US-Nachricht mit den höchsten Einschaltquoten und bei einer Umfrage des Pew Research Centers aus demselben Jahr gaben 92 Prozent der befragten US-Bürger an, die Berichterstattung über den Amoklauf zu verfolgen. Die Tat generierte damit in den USA größeres öffentliches Interesse als die US-Präsidentschaftswahlen in den Jahren 1992 und 1996 oder der Tod von Lady Diana (1997). Die Meldung über Schüsse an der Columbine High School wurde binnen einer halben Stunde von sämtlichen Nachrichtensendern des Landes verbreitet und viele Unterhaltungssender unterbrachen ihr reguläres Programm, um live nach Littleton zu schalten. CNN beendete um 11:54 Uhr (UTC−6) seine Berichterstattung über die NATO-Angriffe im Kosovokrieg und berichtete bis zum Abend ohne Unterbrechung aus Colorado. Schätzungen zufolge befanden sich bis zu 500 Reporter, zwischen 75 und 90 Satellitensendewagen sowie 60 Fernsehkameras von zahlreichen US- und 20 ausländischen Fernsehteams vor Ort. Das schnelle Eintreffen der Medien war darauf zurückzuführen, dass sich am Tattag viele Reporter im nahegelegenen Boulder aufgehalten hatten, um über die aktuellen Entwicklungen im JonBenét-Ramsey-Mordfall zu berichten. Kameras filmten die aus der Schule Flüchtenden, Reporter interviewten geschockte, weinende Schüler und Fernsehteams positionierten sich vor den Krankenhäusern der Gegend, um das Eintreffen der zu versorgenden Opfer zu dokumentieren. Da die Notrufleitungen permanent besetzt waren, riefen einige Schüler, die sich noch in der Schule versteckt hielten, bei den Sendeanstalten an, woraufhin sie live im Fernsehen interviewt wurden. Aus einem über der Schule kreisenden Hubschrauber fing eine Fernsehkamera das Bild der Leiche von Daniel Rohrbough ein. Eine andere Aufnahme zeigte ein Schild mit der Aufschrift “1 BLEEDING TO DEATH” („EINER AM VERBLUTEN“), das Schüler in einem der Schulfenster aufgestellt hatten, um Rettungskräfte auf den kritischen Zustand und den Aufenthaltsort des sterbenden Dave Sanders aufmerksam zu machen. Auch der Fall des schwerverletzten Patrick Ireland aus dem Fenster der Bibliothek in die Arme von Rettungskräften wurde live im Fernsehen übertragen. Die Identität der Täter wurde am späten Abend des Tattages bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt hatten das Jefferson County Sheriff’s Office bereits rund 300 Medienanfragen aus 60 Ländern erreicht. In den Tagen nach der Tat gab es Live-Übertragungen von Gedenkfeiern und Beerdigungen einiger Opfer. Da die Behörden anfangs nur wenige Ermittlungserkenntnisse preisgaben, stellten die Medien wochenlang zahlreiche Spekulationen zur Tat an und verbreiteten eine Reihe von Falschinformationen, die sich zum Teil jahrelang im kollektiven Gedächtnis hielten. Beispielsweise wurde berichtet, dass Cassie Bernall auf Harris’ Frage, ob sie an Gott glaube, mit „ja“ geantwortet habe, woraufhin er sie erschossen habe. Bernall wurde daraufhin zur Vorzeigechristin der Evangelikalen Bewegung und ihre Mutter verfasste ein Buch über den angeblichen Märtyrertod ihrer Tochter, das zum Bestseller wurde. Später stellte sich jedoch heraus, dass nicht Bernall, sondern die angeschossene Valeen Schnurr diejenige war, die ihren Glauben an Gott bejaht hatte. Trotz der vielfach geäußerten Befürchtung, dass ihre Veröffentlichung die Überlebenden retraumatisieren könnte, strahlte CBS News im Oktober 1999 die Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Videoüberwachungsanlage aus, die am Tattag in der Schulcafeteria entstanden waren und die Flucht der Schüler sowie die bewaffneten Täter während des Amoklaufs zeigen. Für Empörung sorgte die Publizierung gestohlener Tatortfotos durch den National Enquirer im Jahr 2002, auf denen die Leichen der Täter zu sehen sind. Die intensive Berichterstattung und insbesondere deren Fokus auf die Täter wurde scharf kritisiert, da sie die beiden zu medialen Ikonen mache und – ähnlich wie beim Werther-Effekt – zur Inspiration von Nachahmungstätern führen könne. Zum Beispiel schrieb Marilyn Manson, nachdem Time die Täter im Mai 1999 mit der Schlagzeile „The Monsters Next Door“ („Die Monster von nebenan“) auf seine Titelseite gebracht hatte, in einem Op-Ed für den Rolling Stone: „[Es ist eine] traurige Tatsache, dass Amerika Mörder auf das Cover des Time-Magazins bringt und ihnen so viel Bekanntheit wie unseren Lieblingsfilmstars verleiht. Von Jesse James bis Charles Manson haben die Medien seit ihren Anfängen Kriminelle zu Volkshelden gemacht. Gerade haben sie zwei neue geschaffen, indem sie die Frontseite jeder Zeitung mit den Bildern von […] Dylan Klebold und Eric Harris zukleisterten. Es sollte niemanden überraschen, wenn jedes Kind, das herumgeschubst wird, zwei neue Idole hat.“ Soziokulturelle Bedeutung Aufgrund seiner weitreichenden Folgen gilt der Amoklauf an der Columbine High School als Wendepunkt in der Kultur der Vereinigten Staaten – vergleichbar mit dem Angriff auf Pearl Harbor (1941) und dem Attentat auf John F. Kennedy (1963). Eine Umfrage des Pew Research Centers unter US-Bürgern ergab, dass die Tat für Angehörige der Generationen X und Y zu den zehn bedeutendsten historischen Ereignissen ihrer Lebenszeit zählt. Das Verbrechen erschütterte die amerikanische Gesellschaft in ihrem normativen Fundament und führte zu einer Periode sozialmoralischer Instabilität sowie Verunsicherung und Ängsten in der Bevölkerung. Zwar handelte es sich nicht um den ersten High-School-Amoklauf, zum damaligen Zeitpunkt war es jedoch die tödlichste Schulschießerei in der Geschichte der USA, die den Beginn einer neuen Ära („post-Columbine“) markierte. Sie war zudem die erste Tat ihrer Art, die durch ein bis dahin beispielloses Ausmaß an Planung und Vorbereitung gekennzeichnet war und von Experten und Medien als Terrorakt charakterisiert wurde. Im Zeitraum zwischen dem Bombenanschlag von Oklahoma City im Jahr 1995 und den Terroranschlägen am 11. September 2001 handelte es sich um den Massenmord mit den meisten Todesopfern auf US-Territorium. Während frühere Schul-Amokläufe überregional kaum Beachtung gefunden hatten und als isolierte Einzelfälle betrachtet worden waren, führte die enorme Berichterstattung durch die Massenmedien dazu, dass der Columbine-Amoklauf zur „nationalen Angelegenheit“ wurde und School Shootings als wachsendes gesellschaftliches Problem wahrgenommen wurden. Landesweit wurden die Flaggen auf halbmast gesetzt und US-Präsident Bill Clinton äußerte sich in einer eigens dafür einberufenen Pressekonferenz zu dem Ereignis. Die damalige US-Justizministerin Janet Reno meinte: „[…] niemand ist gegen diese Gewalt immun, […] wie nie zuvor muss Amerika zusammenkommen und sich wirklich darauf konzentrieren, Kindern zu helfen, sich auf stabile und positive Weise zu entwickeln.“ Der vom Spiegel als „die Mutter aller Schulmassaker“ bezeichnete Amoklauf an der Columbine High School ist zum Archetyp des School Shootings geworden, an dem spätere Amokläufe noch immer gemessen werden, obwohl es seither mehrere Schulschießereien mit höheren Opferzahlen gegeben hat. Während der Ausdruck „going postal“ in den USA umgangssprachlich für den Amoklauf am Arbeitsplatz verwendet wird, ist „Columbine“ zum Synonym für den Schul-Amoklauf geworden. US-Schüler, die nach dem 20. April 1999 geboren wurden, werden als die „Generation Columbine“ bezeichnet, die nie eine Welt ohne Schulschießereien erlebt hat. Populärkultur Der Amoklauf an der Columbine High School hat Einzug in die Populärkultur gehalten und wird in zahlreichen künstlerischen Werken thematisiert. Beispielsweise griff The Onion die Ereignisse im September 1999 in dem Satire-Artikel Columbine Jocks Safely Resume Bullying auf. Marilyn Manson verarbeiteten die Tat auf ihrem im Jahr 2000 erschienenen Album Holy Wood unter anderem in dem Stück The Nobodies, das von School Shootern und ihrem Verlangen nach Anerkennung handelt. Auch Eminems Rap-Song I’m Back auf dem Album The Marshall Mathers LP aus dem Jahr 2000 und das 2010 veröffentlichte Lied Pumped Up Kicks von Foster the People wurden durch Columbine inspiriert. Die Handlungen der Spielfilme Elephant (2003) von Gus Van Sant, Zero Day (2003) von Ben Coccio und The Dirties (2013) von Matt Johnson basieren ebenso auf den Ereignissen von Columbine wie eine Reihe von Theaterstücken, darunter die Off-Broadway-Produktion The Library (2014) von Steven Soderbergh. Zu den literarischen Werken, die durch die Tat beeinflusst wurden, gehören die Romane We Need to Talk about Kevin (2003) von Lionel Shriver, Neunzehn Minuten (2007) von Jodi Picoult und Die Stunde, in der ich zu glauben begann (2008) von Wally Lamb. Im Jahr 2009 produzierte der WDR die auf den Aufzeichnungen der Täter basierende Hörspiel-Dokumentation Hass! Mehr Hass! Die Geschichte von Eric und Dylan mit Florian Lukas und Marek Harloff in den Sprechrollen von Harris bzw. Klebold. Die Künstlerin Noelle Mason stickte für die Installation Love Letters/White Flag: The Book of God Harris’ Tagebucheinträge auf Stofftaschentücher und nutzte ein Überwachungskamerabild von Harris und Klebold als Motiv für einen Baumwollteppich mit dem Titel Nothing Much Happened Today (for Eric and Dylan). Bunny Rogers thematisierte die Tat in ihren Installationen The Columbine Library (2014) sowie The Columbine Cafeteria (2016) und Fabián Marcaccio verarbeitete das Tatortfoto der Täter-Leichen in seinem Gemälde Eric & Dylan (2011). Fangemeinde Seit dem Aufkommen der sozialen Medien hat sich, insbesondere auf der Blogging-Plattform Tumblr und dem Videoportal YouTube, eine weltweit verbreitete Online-Subkultur mit schätzungsweise mehreren tausend Anhängern entwickelt, die sich intensiv mit dem Fall sowie den Tätern beschäftigen. Während viele dieser sogenannten „Columbiner“ ein rein forensisches Interesse an der Tat haben und sich mit Gleichgesinnten austauschen wollen, reicht die Faszination bei anderen bis hin zum Fankult, bei dem die Täter glorifiziert, romantisiert und zum Gegenstand von Fan-Art oder -Fiction sowie Cosplay gemacht werden. Die Eltern der Täter berichteten über Fanpost, die sie von Groupies ihrer toten Söhne erhalten, und Sicherheitskräfte der Columbine High School zählten allein im Zeitraum von Juni 2018 bis Mai 2019 rund 2.400 Unbefugte, darunter viele Columbiner, die am Betreten des Schulgeländes gehindert werden mussten. Da ihr Verhalten als deviant angesehen wird und sie von anderen Social-Media-Nutzern kritisiert sowie stigmatisiert werden, bleiben die meisten Columbiner anonym. Laut ersten Befragungsstudien zu dem Phänomen handelt es sich überwiegend um junge Frauen im Teenageralter oder in den Zwanzigern, insgesamt gehen Forscher jedoch von einer heterogenen Gruppe mit einem nicht geringen Männeranteil aus. Viele der Befragten gaben an, wie die Columbine-Täter Erfahrungen mit Mobbing gemacht zu haben, sich depressiv, suizidal oder als Außenseiter zu fühlen; einige berichteten über hybristophile Neigungen. Die Mehrheit der Columbiner wird als „harmlos“ eingestuft, vereinzelt wurden Mitglieder dieser Online-Community jedoch zu Nachahmungstätern, weshalb das FBI entsprechende Internetseiten teilweise überwacht. Gedenken Eine Woche nach dem Amoklauf wurden nahe der Schule fünfzehn Kreuze im Gedenken an die Getöteten errichtet, die in den folgenden Tagen rund 125.000 Menschen besuchten. Von den empörten Eltern eines Opfers wurden zwei der Kreuze niedergerissen, da diese für die Täter aufgestellt worden waren. Auch zwei von fünfzehn Bäumen, die im Garten einer Kirche für die Toten gepflanzt worden waren, wurden von Opfer-Angehörigen gefällt. Aus Sorge vor Grabschändungen ließen die Eltern der Täter die Leichen ihrer Söhne einäschern; der Verbleib ihrer Asche wurde nicht öffentlich bekannt. Nach länger andauernden Finanzierungsschwierigkeiten wurde im Juni 2006 in Anwesenheit des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton im nahe der Schule gelegenen Clement Park der Grundstein für eine dauerhafte Gedenkstätte gelegt, deren Budget sich auf 2,5 Mio. US-Dollar belief. Das Columbine Memorial wurde im September 2007 eingeweiht. Am Jahrestag des Amoklaufs findet an der Columbine High School traditionell kein Unterricht statt. Die Schüler gedenken am 20. April eines jeden Jahres der Opfer, indem sie gemeinnützige Arbeit leisten. Siehe auch Liste von Amokläufen an Bildungseinrichtungen Literatur Sachliteratur Dave Cullen: Columbine. Hachette Book Group, New York, NY 2009, ISBN 978-0-446-55221-9. Joachim Gaertner: Ich bin voller Hass – und das liebe ich. Dokumentarischer Roman. Eichborn Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-8218-5848-7 (Textcollage der Columbine Documents). Rita Gleason: Evidence Ignored: What You May Not Know About Columbine. 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Die Geschichte von Eric und Dylan (WDR-Hörspiel-Dokumentation) 2014: Dateline NBC – Columbine: The Road Home (Staffel 22, Folge 34) 2014: Killing Spree – The Columbine Massacre (Channel 5, Dokumentationsreihe, Staffel 1, Folge 6) 2016: 20/20: Silence Broken: A Mother’s Reckoning (ABC-Special, Diane Sawyer im Interview mit Sue Klebold) 2016: My son was a Columbine shooter. This is my story (Vortrag von Sue Klebold bei TED Talk) 2017: Active Shooter: America Under Fire – Columbine, Colorado (Dokumentationsreihe, Staffel 1, Folge 8) 2018: We are Columbine (Dokumentation) 2019: American Tragedy: Love Is Not Enough (Dokumentation) 2019: Generation Columbine (Dokumentation) 2021: Eltern eines Amokläufers (Arte-Dokumentation) Weblinks Tagesschau-Meldung vom 21. April 1999, tagesschau.de, abgerufen am 31. Januar 2020. Columbine - 20 Jahre nach dem Schul-Amoklauf In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 20. April 2019 (Audio) – Offizieller chronologischer Tatablauf, Diagramme, Fotos, Audio- und Videomaterial (englisch) FBI Records: The Vault – Auszüge der archivierten Fall-Akten des FBI (englisch) A Columbine Site und Research Columbine – Informationen und veröffentlichte Dokumente zum Fall (englisch) The Columbine Guide – Informationen zum Fall von Columbine-Autor Dave Cullen (englisch) Informationen zu Eric Harris und Dylan Klebold in der School-Shooters.Info-Datenbank von Peter Langman (englisch) The Influence of Columbine – Von Peter Langman erstelltes Diagramm, das den Einfluss des Amoklaufs an der Columbine High School auf spätere Amokläufer veranschaulicht. Einzelnachweise Littleton Columbine High School Mordfall Kriminalfall in den Vereinigten Staaten Littleton Geschichte von Colorado Geschichte der Vereinigten Staaten (seit 1988) Jefferson County (Colorado) Columbine (Colorado) Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Limestor%20Dalkingen
Limestor Dalkingen
Das Limestor Dalkingen ist ein einzigartiges römisches Triumphalmonument am Obergermanisch-Rätischen Limes und zählt zu dessen eindrucksvollsten Ruinen. Seit 2005 gehört der unter Kaiser Caracalla zur Triumphpforte ausgebaute antike Grenzdurchgang zusammen mit den gesamten römischen Limesanlagen in Deutschland zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist Teil des 1972 eingerichteten Freilichtmuseums am rätischen Limes, zu dem auch das nahe Kastell Buch und dessen Zivilsiedlung gehören. Das 2006 zum Kulturdenkmal ernannte Tor befindet sich zwischen den Dörfern Schwabsberg und Dalkingen im Ostalbkreis, Baden-Württemberg. Lage In der Antike muss das Tor schon von weitem sichtbar gewesen sein, da es in exponierter Lage auf einer Hügelkuppe errichtet wurde. Nördlich dieses einstigen Grenzübergangs führt heute der Feld- und Wanderweg von Schwabsberg nach Dalkingen vorbei, der dem Verlauf des Limes folgt. Die eigentliche Schaufassade des Torhauses befand sich im Süden. Von dort kamen die Reisenden, die das Gebiet des Römischen Reiches verlassen wollten, um in den freien, unbesetzten Teil Germaniens (Germania magna) zu gelangen. Für viele von ihnen war sicher das rund zwei Kilometer südwestlich gelegene Kastell Buch mit seiner Zivilsiedlung (Vicus) die letzte Station vor beziehungsweise erste nach der Grenze. Wie das dortige reichhaltige und vielfach auch wertvolle Fundgut zeigt, dürften es die Bewohner von Buch durch den Grenzhandel zu einigem Wohlstand gebracht haben. Forschungsgeschichte Wie der Flurname „Mäuerlesbüsche“ zeigt, hat sich das Wissen um ein altes Bauwerk bei Dalkingen sehr lange erhalten. Offensichtlich sind die Überreste des Tores noch lange Zeit sichtbar gewesen. Im frühen 19. Jahrhundert fand die erste bekannte Freilegung dieser Fundstelle statt. 1873 besuchte der Archäologe Ernst von Herzog (1834–1911) im Rahmen seiner Vermessungsarbeit zum römischen Grenzverlauf den Platz. Die damals geborgenen Fundstücke gelten als verschollen. Neben Keramik fand er das bronzene Bruchstück einer weiblichen Statuette. In seinem 1880 veröffentlichten Bericht ist zudem dokumentiert, dass die „Reste eines Thurmes“ ausgegraben worden waren und noch „massenhaft“ Schutt herumlag. Er berichtete auch von einer 1873 entwendeten Platte aus dem Schutthügel, die als Eingangsstufe zum Dalkinger Kirchhof sekundär Verwendung fand. Im Zuge seiner Arbeiten am Limestor gelang es dem Archäologen Dieter Planck 1974, diese Kalksteinplatte wieder aufzufinden. Nach einer 1962 vorgenommenen Asphaltierung der Kirchstraße war das 1,23 × 1,21 Meter große Werkstück durch eine Waschbetonplatte ersetzt und hinter dem Friedhof abgelegt worden. Das erst ab 2010 genauer untersuchte Stück besitzt auf einer Seite ein Wolfsloch. Möglicherweise diente es als Postamentsockel für eine Kaiserstatue, die im Inneren des triumphbogenartigen Limestors aufgestellt war. Im Frühjahr 1885 fanden erneut Ausgrabungen unter dem Landeskonservator Eduard Paulus dem Jüngeren (1837–1907) am Limestor statt, bei denen der antikenbegeisterte ehemalige Generalstabschef des württembergischen Heeres, Eduard von Kallée (1818–1888), die Bilddokumentation übernahm. 1886 folgte ein Bericht des Archäologiepioniers Karl August von Cohausen (1812–1894), der auch eine erste Rekonstruktion für das Limestor vorlegte. In der Folge fanden keine wissenschaftlichen Untersuchungen mehr statt. Der Archäologe Oscar Paret (1889–1972), der 1934 die Aufarbeitung des bisherigen Forschungsstandes für die Publikation des Limeswerks vornahm, stützte sich aus heute unerklärlichen Gründen nicht auf die Befunde von Paulus und die Veröffentlichung von Cohausen, sondern fertigte ohne eigene Grabungen einen abweichenden Plan der Anlage an. Im Ergebnis wurde das Limestor in seiner Vorstellung zu einer Feldwache, ein Kleinkastell, das baulich den angrenzenden Anlagen entsprach. Planck nahm an, dass Paret die älteren Forschungsergebnisse nicht nachvollziehen konnte. Die Folge dieser Eintragung im Limeswerk war, dass über Jahrzehnte publiziert wurde, 1885/1886 wäre die Funktion und Bedeutung des Bauwerks nicht richtig erkannt worden. Erst im Zuge der Flurbereinigung führte das Landesdenkmalamt Baden-Württemberg vom 25. September bis 23. November 1973 sowie vom 1. Juni bis 30. Juli 1974 unter der Leitung von Planck erneut eine flächendeckende Untersuchung durch. Es bestand damals die Gefahr, dass die noch als zwei Meter hoher Schutthügel sichtbare Anlage im Zuge von Straßenarbeiten einplaniert wird. Mit Hilfe moderner Arbeitsmethoden konnte das Gebäude damals eindeutig als mehrfach umgebautes Limestor mit angeschlossenen Räumen für eine Grenzwache gedeutet werden. 1975 wurde die restaurierte Anlage im Zuge des Europäischen Denkmalschutzjahres dem Publikum zugänglich gemacht. Da das Limestor Dalkingen das einzige Bauwerk am Obergermanisch-Rätischen Limes ist, das zu einem Monument mit einer triumphbogenartigen Fassade ausgebaut wurde und in seiner letzten Gestaltung offenbar im Kontext mit einem datierbaren Besuch des Kaisers Caracalla zu sehen ist, hat es schon sehr früh einen besonderen Stellenwert unter den antiken Hinterlassenschaften im unmittelbaren römischen Grenzgebiet erhalten. Nach einer fragmentarisch erhaltenen inschriftlichen Quelle, den Acta Fratrum Arvalium, überschritt der Kaiser am 11. August 213 die rätische Grenze im Kampf gegen die Germanen. In der Forschung des In- und Auslandes wurde dieser Grenzübergang mehrfach mit dem Limestor in Verbindung gebracht, Unter den Befürwortern dieser Theorie waren 1988 die Schweizer Archäologen Walter Drack (1917–2000) und Rudolf Fellmann (1925–2013), wobei sich 1980 mit dem Archäologen Harald von Petrikovits (1911–2010) auch Stimmen gegen diese Vorstellung gestemmt hatten. Als im Jahr 2000 eine umfangreiche Generalsanierung abgeschlossen war, wurde das Tor in Anwesenheit von Planck erneut der Öffentlichkeit übergeben. Im Januar 2003 stimmte der Schul- und Kulturausschuss des Ostalbkreises für den zukünftigen Erhalt der Anlage unter einem Schutzbau. 2005 erfolgte zusammen mit dem gesamten Obergermanisch-Rätischen Limes die Erhebung zum Weltkulturerbe und 2006 erklärte das Regierungspräsidium Stuttgart das Limestor zum besonders geschützten Kulturdenkmal. Die Kosten für einen Schutzbau in Höhe von 1.870.000 Euro, kamen aus Fördermitteln der Europäischen Union, der damaligen Landesstiftung Baden-Württemberg, des Landesamts für Denkmalpflege, der Denkmalstiftung Baden-Württemberg sowie des Schul- und Kulturausschusses des Ostalbkreises. Die 16 Meter hohe Stahl-Glas-Konstruktion, die den ältesten hölzernen Vorgängerbau des Limestores durchschneidet, ummantelt Teile des jüngeren antiken Baubefundes auf einer Fläche von 23 × 21 Metern. Die im Sommer 2010 durchgeführte Baumaßnahme schützt nicht nur die überdeckte antike Substanz, sondern senkt auch die bisher notwendigen Sanierungs- und Unterhaltskosten. Die Höhe des zu festgelegten Öffnungszeiten betretbaren Schutzbaus, der den bis dahin einsam gelegenen Ort durch seine eigenwillige architektonische Gestaltung dominiert, ergibt sich aus der vermuteten Höhe des einstigen Limestors. Dessen mögliches antikes Aussehen und seine Dimensionen werden im Inneren der Konstruktion mit bedruckten Stoffbahnen angedeutet, die in Originalgröße über den erhaltenen steinernen Stümpfen des Tores hängen. Baugeschichte Insgesamt konnten die Archäologen sechs aufeinanderfolgende Bauphasen an den noch ungewöhnlich gut erhaltenen Gebäuderesten feststellen, wobei auch die verschiedenen Ausbauperioden der Rätischen Mauer deutlich wurden. Die Wachmannschaft für das Torhaus, bzw. die Mannschaften, welche die Wachtürme am gleichen Platz besetzt hielten, wurden mit Sicherheit vom nahen Kastell Buch gestellt. Phase 1 Möglicherweise um 160 n. Chr. wurde das römische Militär an diesem Platz erstmals aktiv. Das dendrochronologisch auswertbare Material aus dem rund 2,1 Kilometer entfernten Lagerdorf (Vicus) von Rainau-Buch könnte diese Überlegung stützen. Neben Planck unterstützte auch der bayerische Landeskonservator C. Sebastian Sommer (1956–2021) diesen Datierungsansatz in Bezug auf die Anlage des gesamten rätischen und „Vorderen Limes“. Als früheste absolute Datierung ist aus dem Bucher Lagerdorf ein Befund bekannt, der spätestens vom Mai/Juni 161 n. Chr. stammt. Wie die festgestellten einzelstehenden Pfostengruben nahelegen, errichtete ein römischer Bautrupp zunächst entlang der vorgesehenen Grenzlinie einen einfachen Flechtwerkzaun als Annäherungshindernis. Dieser Zaun lag im Bereich des später errichteten Tores, allerdings rund zwei bis fünf Meter tiefer im Barbaricum als die jüngere Rätische Mauer. Unmittelbar westlich der Fundamente des Limestores fand sich ein im Karree angelegter tiefer Pfostengraben, der möglicherweise als Überrest eines rund 5,5 × 5,5 Meter großen, hölzernen Limeswachturms zu deuten ist. Die bereits zerstörte Nordhälfte dieses Turmes konnte archäologisch nicht mehr erfasst werden. Vor der nordwestlichen und südöstlichen Flanke dieses Turmes setzte der Flechtwerkzaun möglicherweise aus, wobei Planck in seinen neueren Überlegungen davon ausging, dass es zwischen der Südostflanke und dem dortigen Ende des Zaunes eine schmale Schlupfpforte gegeben haben könnte. Die entlang der Südwestseite des Turmes festgestellten Pfostensetzungen hätten somit den Blick auf die Pforte von Süden her verdeckt und könnte als zusätzliche Sicherungsmaßnahme angesprochen werden. Phase 2 1969 konnten am Südrand von Schwabsberg im Bereich der seit der Antike sumpfigen Jagstniederung halbrunde gespaltene Eichenstämme als Teile der hölzernen Limespalisade geborgen werden, die 1975 in vier Proben durch den Dendrochronologen Ernst Hollstein (1918–1988) untersucht wurden. Alle Proben stammten aus dem „Spätjahr 165, möglicherweise Frühjahr 166 n. Chr.“ 1974 wurde die Palisade in diesem Bereich erneut archäologisch angeschnitten. Im Anschluss gingen sieben Proben zur Untersuchung an den Dendrochronologen Bernd Becker. Dieser datierte die Hölzer 1976 auf das Jahr 165 n. Chr. Dazu passende zeitliche Aussagen lieferte Holz aus dem Rotenbachtal bei Schwäbisch Gmünd. Dort, an der Grenze zur Provinz Germania superior, entstand aus diesem Holz ein wohl noch im Jahr 164 n. Chr. errichteter Verbau (siehe Kleinkastell Kleindeinbach). Die aufgedeckten Pfostengruben im Bereich des Limestores gehören ebenfalls dieser Zeitstellung an. Sie markieren nur wenige Jahre nach der Errichtung des Flechtwerkzauns eine neue Ausbauphase. Der Zaun wurde entfernt; rund drei Meter nördlicher entstand eine dicht an dicht stehende Holzpalisade aus Eichenstämmen, für die ein schmaler Graben ausgehoben werden musste. In regelmäßigen Abständen fanden die Ausgräber halbrunde Ausbuchtungen auf der Innenseite des Grabens von einer mit der Palisade entstandenen rückseitigen Verstärkung. In neueren Überlegungen nahm Planck an, dass auch die Schlupfpforte zu einem regulären Grenzübergang umgebaut wurde. Der von Südosten kommende Palisadengraben fluchtete ungefähr auf die Ostecke des Holzturmes. Er ließ jedoch, ähnlich wie der ältere Flechtwerkzaun, einen Durchgang zwischen seinem Ende und der Turmecke offen. Der Palisadengraben knickte rund dreieinhalb Meter vor der Südostflanke des Turmes rechtwinklig nach Südwesten ab und umging den Turm im selben Abstand auch an dessen Südwestseite um dann, in paralleler Flucht zur nordwestlichen Turmflanke, wieder nach Nordosten zu führen und an die westliche Turmecke anzuschließen. Um den Turm war so an zwei Seiten ein offener Hof entstanden, der sich möglicherweise schon für reguläre Grenzkontrollen eignete. Phase 3 In einer weiteren Ausbauphase – zeitversetzt zum Bau der Palisade – wurde ein erster hölzerner Torbau südöstlich des Turms errichtet. In der untersten Füllung seiner Pfostengräben, die mit bis zu 1,1 Metern ungewöhnlich tief gründeten, fand sich neben einigen Keramikscherben ein gut erhaltener Sesterz aus der Regierungszeit des Kaisers Antoninus Pius (138–161). Die nicht sonderlich abgenutzte Münze war zwischen 140 und 144 n. Chr. in Rom geprägt worden. Auch die datierbare Terra Sigillata wurde in der Vergangenheit ebenfalls eher der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts zugeordnet. Das 13,3 × 14,5 Meter große, symmetrisch angelegte Holzgebäude mit weitgehend rechteckigem Grundriss gründete in bis zu 1,1 Meter tiefen Pfostengruben. Die hölzerne Anlage besaß bereits einen von Süden nach Norden führenden Durchlass. Zu beiden Seiten des mittleren Ganges waren im Nordwesten drei, im Südosten vier Räume auszumachen. Dort kann man sich ein Wachlokal, Stuben sowie den Verwaltungsbereich für den Grenzverkehr vorstellen. Wie der Befund an den Pfostengräben vermuten lässt, war der hölzerne Limesturm wohl in die neue Anlage eingebettet und weiterhin genutzt worden. Die Forschung hat gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Limestor und den kleinen Meilenkastellen am nordenglischen Hadrianswall festgestellt. Auch dort gab es kontrollierte Durchlässe in den nichtbesetzten Teil. Während der Ausgrabung machten die tiefen Pfostengräben den Eindruck, als seien die Holzstämme vor der Errichtung des Steinbaus in Phase 5 ausgegraben worden. Es wird angenommen, dass eine vom Kastell Aalen über das Kastell Buch ins Barbaricum führende Straße der Anlass zum Bau des Limestores war. Planck nannte diese Straße eine Hauptverbindung zum Aalener Militärplatz. Während sich der Verlauf dieses Heer- und Handelsweges im Bereich des ehemaligen römischen Reichsgebietes eingrenzen lässt, sind seine Spuren im unbesetzten Teil Germaniens nicht mehr nachweisbar. Phase 4 Möglicherweise kurz vor der Wende zum 3. Jahrhundert war der Holzturm offensichtlich baufällig geworden. Als Ersatz entstand rund sieben Meter hinter der Limespalisade an der südöstlichen Flanke des Limestores ein 5 × 4,8 Meter großes Steinfundament, das Planck noch gut erhalten antraf. Die aufgehende Konstruktion dieses Turms kann entweder als vollständiger Steinturm oder als Holzturm mit Steinfundament gedeutet werden. Der hölzerne Torbau blieb in dieser Phase unverändert. Phase 5 Der Ausbau der Limesmauer in Stein wurde während der Regierungszeit des Kaisers Septimius Severus (193–211) durchgeführt. Darauf weisen unter anderem dendrochronologisch untersuchte Hölzer aus dem Unterbau der Mauer bei Kastell Dambach hin, die waren im Winter 206/207 n. Chr. gefällt wurden. Für den Mauerbau wurde sowohl der hölzerne Durchlass als auch der aus Phase 4 stammende Turm bis auf das Fundament abgebrochen. Die von Südosten kommende Limesmauer verlief nun unmittelbar über seine Nordflanke, bevor sie die abgetragene hölzerne Toranlage in der Mitte schnitt und noch auf deren Areal nach Westen abknickte. Zeitgleich entstand etwas nach Südosten verschoben über dem Holzbau ein 12,6 × 9,3 Meter großes Steingebäude, das die Schleusenfunktion des Vorgängerbaus übernahm und mit seiner Nordfront unmittelbar an die Rätische Mauer anschloss. In der Mitte dieser Front konnten die Forscher am Boden in Laufrichtung der Limesmauer den Abdruck eines massiven Schwellsteins ausmachen, der die Funktion als Durchgang verdeutlicht. Als Ersatz für den abgetragenen Turm mit dem Steinfundament könnte im Umfeld des Durchgangs ein neuer Turm errichtet worden sein, dessen Standort bisher jedoch unbekannt ist. Phase 6 Wahrscheinlich 213 n. Chr. wurde die Südmauer des Limesdurchgangs im Zusammenhang mit dem Germanenfeldzug Caracallas wieder vollständig abgetragen. An ihre Stelle trat eine bis zu 3,4 Meter breite reich gegliederte, vollkommen symmetrische Prunkfassade, die eine wesentlich tiefere Fundamentierung aufwies als die übrigen Gebäudeteile. Demnach dürfte sie oberirdisch auch eine deutlich größere Höhe erreicht und damit alle übrigen Bauten überragt haben. Die östlichen und westlichen Flächen der Fassade wurden mit Kalktuff verblendet. Die Südseite der sorgfältig gearbeiteten Fassade besitzt auf jeder Seite der einspurigen, rund 2,1 Meter breiten Durchfahrt zwei vorspringende rechteckige Pilaster, zwischen denen aufwendiges Netzmauerwerk (opus reticulatum) aus Kalksintersteinen in einem vertieften Rahmen eingesetzt wurde. Der triumphbogenartige Charakter des vorgesetzten Lagenmauerwerks wird durch diese Details deutlich verstärkt. Für die Besonderheit der Anlage sprechen auch viele auffällige Kleinfunde. Bemerkenswert sind vor allem über 140 bronzene Fragmente einer überlebensgroßen Panzerstatue von hervorragender Qualität, die größtenteils an der Schauseite vor der Südwestfront des einstigen Torbogens aufgelesen wurden. Die größten erhaltenen Teile stellen mehrere Pteryges (Textil- oder Lederstreifen) eines Brustpanzers und einen mit Adlerkopf geschmückten Schwertknauf dar. Die Größe und Kostbarkeit der Statue ebenso wie die ikonographischen Details deuten darauf hin, dass es sich um ein Kaiserstandbild handelte. Eine stilistische Analyse sämtlicher Fragmente führte zu dem Ergebnis, dass die Statue älter war als das Limestor selber und in der späten Regierungszeit des Kaisers Hadrian (117–138) oder den ersten Jahren seines Nachfolgers Antoninus Pius (138–161) entstand. Demnach wurde sie für die Neuaufstellung in Dalkingen wiederverwendet. Gegebenenfalls wurde dafür der Kopf ausgetauscht, sodass das Kunstwerk einen anderen Kaiser darstellte als ursprünglich, was in der Antike keinesfalls ungewöhnlich war. Planck sah das Limestor als eine mögliche Übergangsstelle des römischen Heeres während des Germanenfeldzugs 213 n. Chr. an. Dafür könnte unter anderem sprechen, dass das wichtigste Kastell am rätischen Limes, das Reiterkastell Aalen mit seiner 1000 Mann starken Stammbesatzung, nur wenige Kilometer südwestlich des Limestores lag und von dieser Garnison eine direkte Straßenverbindung zum Limestor bestand. Mögliche Gegner Roms könnten in diesem Zusammenhang die Alamannen gewesen sein. Einwände gegen Plancks Interpretation der Bauphase 6 als prunkvolles Limestor brachte erstmals der Archäologe Dietwulf Baatz (1928–2021) im Jahre 1993 vor. Er interpretierte den damals entstandenen Umbau als ein an die Limesmauer gebautes Heiligtum mit einer überdachten Cella. Da Baatz jedoch keine beweislastigen Gründe für seine Mutmaßung vorlegen konnte, blieb er mit dieser Ansicht alleine. Bauten im Umfeld Kalkbrennofen Um die Abwasserleitung von Dalkingen mit der Kläranlage Schwabsberg zu verbinden, wurde 1978 rund 100 Meter südlich des Limestores ein Kanalgraben angelegt. Bei diesen Arbeiten schnitt der Bagger einen Brennofen sowie einige Gruben an. Die Untersuchung der Fundstelle wurde von der Abteilung Bodendenkmalpflege des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg unter der Leitung von Dieter Planck vom 16. Juni 1978 bis zum 26. Juni 1978 durchgeführt. Als wichtigsten Befund konnten die Ausgräber einen runden Kalkbrennofen feststellen, der einen Durchmesser von rund 4,20 Meter besaß. Die halbkugelförmige Ofengrube war rund 1,30 Meter tief in den anstehenden Liasmergel gesetzt worden. An ihrem Grund befand sich ein fast rechteckiger Schacht von nochmals 0,70 Metern Tiefe. Die Ausgräber konnten Luftzufuhrkanäle beobachten, an deren Boden sich Holzkohle gehalten hatte und die zur Grube führten. Den Südteil der Grube begrenzte eine mörtellos gesetzte Mauer aus Bruchsteinen, in der sich Schlitze für die Luftzufuhrkanäle befanden. Zwar ließen sich im gesamten Ofenbereich keinerlei Funde machen, doch mutmaßten die Ausgräber, dass der Kalkbrennofen für den Bau der raetischen Mauer beziehungsweise des Limestores errichtet worden war und damit wohl römisch gewesen ist. Kleinkastell? 2012 und 2014 durchgeführte geophysikalische Untersuchungen erbrachten rund 50 Meter südöstlich des Limestores einen weiteren Befund. Dabei handelte es sich um einen bisher nicht ergrabenen quadratischen Steinbau auf einer Fläche von 20 × 20 Metern, den der Archäologe Stephan Bender (1965–2019) als Heiligtum oder wahrscheinlicher als ein römisches Kleinkastell einstufte. Der kleine Bau orientiert sich mit seiner nordöstlichen Flanke fast genau am Limesverlauf. Untergang Wie die Befunde am Torhaus, das höchstwahrscheinlich auch von der Wachmannschaft bewohnt wurde, zeigen, brannte die Anlage ab und wurde danach nicht mehr wiedererrichtet. In der Vergangenheit wurde das Ende von Dalkingen mit den Alamanneneinfällen 233/234 n. Chr. in Verbindung gebracht. Ein zwischen 231 und 235 n. Chr. geprägter Denar aus den Regierungsjahren des Kaisers Severus Alexander (222 bis 235 n. Chr.) gilt als Schlussmünze am Limestor. Da es im nahen Vicus des Kastells Buch jedoch keine Belege für einen Alamannenangriff zwischen 233 und 234 gibt, könnte der germanische Überfall auch erst im Frühsommer 254 n. Chr. stattgefunden haben. Damals ging das Bucher Dorf in einer Brandkatastrophe unter. Inwieweit die rätische Grenzlinie im Dalkinger Raum bis zum endgültigen Limesfall in den Jahren 259/260 noch intakt geblieben ist, entzieht sich bis heute der Kenntnis. Weitere Funde Militaria Neben den Bruchstücken der Bronzestatue wurden acht bronzene Fibeln in Bügel-, Hakenkreuz-, Band- und S-Form aus dem späten 2. und frühen 3. Jahrhundert geborgen. Daneben ist auch das Bruchstück eines Maskenhelms erwähnenswert, ein typischer Ausrüstungsgegenstand der Reitertruppen. Dazu passen die ebenfalls aufgefundenen Pferdegeschirrfragmente aus bronzenen, teilweise verzinnten Fibeln und Zierknöpfe. Zu den erhaltenen Angriffswaffen zählen sieben Lanzenspitzen. Vier von ihnen könnten in Zusammenhang mit einer kultischen Absteckung des Baugeländes stehen. Man fand sie in den ungestörten Boden eingerammt, zwei vor der Südwestfront links und rechts der Zugangsstraße zum Limestor und je eine an der Ost- und Westseite des Limesdurchgangs. Als weitere militärische Fundobjekte kamen unter anderem das Bruchstück einer Dolchscheide sowie ein bronzenes Ortband aus dem Boden. Die Verzierung dieses Ortbandes mit herzförmigen Ausschnitten war typisch für die Ausrüstung des römischen Militärs ab dem Ende des 2. Jahrhunderts, als die Spatha zur Hauptwaffe im Nahkampf geworden war. Die Anwesenheit von Fernwaffen am Limestor wird durch Geschossbolzen verdeutlicht, die von schnellfeuernden Torsionsgeschützen abgeschossen wurden. Bauwerkzeug, weitere Eisenfunde, Knochen Zum weiteren Fundgut gehören verschiedene Werkzeuge. Dazu zählen ein Hammer, ein eiserner Pfriem, ein Löffelbohrer, ein Schabeisen für die Holzverarbeitung, eine Axt, Fragmente von mindestens zwei eisernen Gusslöffeln und eine Gusspfanne. Außerdem wurden eiserne Messer, Schlüssel sowie die Reste einer Schere entdeckt. Tierknochen zeigten deutliche Hackspuren, die beim Zerteilen des Fleisches entstanden waren. Zusammen mit den Militaria weisen diese Funde und Befunde auf eine kontinuierliche Belegung des Limesdurchgangs durch das römische Militär hin. Keramik Vom Tor konnte eine große Zahl an Keramikscherben katalogisiert werden, wobei späte Terra Sigillata aus Rheinzabern (Tabernae) und Töpfe mit herz- und sichelförmigen Profilen vollständig fehlen. Münzen Während der Grabungen 1973 bis 1974 sowie den Nachgrabungen anlässlich der Errichtung des Schutzbaus 2009 wurden 15 Münzen geborgen, die heute im Landesmuseum Württemberg sowie im Limesmuseum Aalen aufbewahrt werden. Die Reihe beginnt mit zwei Prägungen Hadrians, gefolgt von zwei Münzen des Antoninus Pius. Denkmalschutz Das Limestor Dalkingen und die erwähnten Bodendenkmale sind als Abschnitt des Obergermanisch-Rätischen Limes seit 2005 Teil des UNESCO-Welterbes. Außerdem sind die Anlagen Kulturdenkmale nach dem Denkmalschutzgesetz des Landes Baden-Württemberg (DSchG). Nachforschungen und gezieltes Sammeln von Funden sind genehmigungspflichtig, Zufallsfunde an die Denkmalbehörden zu melden. Siehe auch Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes Literatur Dietwulf Baatz: Der Römische Limes. Archäologische Ausflüge zwischen Rhein und Donau. 4. Auflage. Mann, Berlin 2000, ISBN 3-7861-2347-0, S. 263ff. Stephan Bender: Neue Forschungen im Umfeld des Limestores bei Dalkingen (Wp. 12/81). In: Bericht der Bayerischen Bodendenkmalpflege 56, 2015, S. 81–89. Stephan Bender: Der Postamentsockel vom Wp 12/81 bei Rainau-Dalkingen. In: Peter Henrich (Hrsg.): Der Limes vom Niederrhein bis an die Donau. 6. Kolloquium der Deutschen Limeskommission (= Beiträge zum Welterbe Limes 6), Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2466-5, S. 109–121. Richard Kamm: Das Limes-Tor bei Dalkingen und sein Vermächtnis. In: Geschichts- und Altertumsverein Ellwangen (Hrsg.): Ellwanger Jahrbuch. Band 41, 2006/07, S. 463–479. Wolfram Kleiss: Bemerkungen zum Limestor bei Dalkingen. In: Germania. Anzeiger der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts. Zabern, Mainz 1988, , S. 176–182. Dieter Planck: Zum Limestor von Dalkingen, Gemeinde Rainau, Ostalbkreis. In: Peter Henrich (Hrsg.): Der Limes vom Niederrhein bis an die Donau. 6. Kolloquium der Deutschen Limeskommission (= Beiträge zum Welterbe Limes. 6). Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2466-5, S. 99–107. Dieter Planck: Das Limestor bei Dalkingen. Pforte zur zivilisierten Welt. Mit einem Beitrag von Meinrad Filgis. In: Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Esslingen 2005, ISBN 3-8062-1945-1, S. 130–133. Dieter Planck, Willi Beck: Der Limes in Südwestdeutschland. 2. Auflage, Theiss, Stuttgart 1987, ISBN 3-8062-0496-9, S. 142–146. Dieter Planck: Das Freilichtmuseum am Rätischen Limes im Ostalbkreis. Theiss, Stuttgart 1983, ISBN 3-8062-0223-0. Dieter Planck: Rainau-Dalkingen. Limestor. In: Walter Sölter (Hrsg.): Das römische Germanien aus der Luft. 2. Auflage, Lübbe, Bergisch Gladbach 1983, ISBN 3-7857-0298-1, S. 57–58. Dieter Planck: Neue Untersuchungen am rätischen Limes bei Dalkingen, Ostalbkreis (Baden-Württemberg). In: Studien zu den Militärgrenzen Roms II. Habelt, Bonn 1977, ISBN 3-7927-0270-3, S. 231–234. Dieter Planck: Neue Ausgrabungen am Limes (= Kleine Schriften zur Kenntnis der römischen Besetzungsgeschichte Südwestdeutschlands) (= Schriften des Limesmuseums Aalen. Band 12). Gentner, Stuttgart 1975, S. 13ff. Dieter Planck: Das Limestor bei Dalkingen, Gemeinde Rainau, Ostalbkreis (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 129). Theiss, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-8062-3033-8. Elektronische Medien Barbara Filtzinger: Das Limestor bei Dalkingen. Universitätsbibliothek Tübingen, Tübingen 2003, Video/DVD. Weblinks ; abgerufen am 28. Oktober 2022. Limestor bei Dalkingen auf der Seite der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e. V. (ZUM); abgerufen am 28. Oktober 2022. Anmerkungen Römische Befestigungsanlage (Raetia) Dalkingen Tor in Baden-Württemberg Kulturdenkmal im Ostalbkreis Rainau Römischer Baurest
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hungersnot%20in%20Zentralkenia%201899
Hungersnot in Zentralkenia 1899
Die Hungersnot in Zentralkenia 1899 ist als eine verheerende Katastrophe in die Geschichte Kenias eingegangen. Sie breitete sich ab 1898 rasch in der Zentralregion des Landes um den Mount Kenya aus, nachdem es über mehrere aufeinanderfolgende Jahre hinweg nur geringe Niederschläge gegeben hatte. Heuschreckenplagen, Viehkrankheiten, die die Rinderbestände dezimierten, sowie der wachsende Lebensmittelbedarf durchreisender Karawanen von britischen, swahilischen und arabischen Händlern trugen ebenfalls zur Nahrungsknappheit bei. Mit der Hungersnot ging zudem eine Pockenepidemie einher, die ganze Landstriche entvölkerte. Die Zahl der Opfer ist unbekannt, Schätzungen der wenigen europäischen Beobachter bewegten sich zwischen 50 und 90 Prozent der Bevölkerung. Betroffen waren alle in diesen Regionen lebenden Menschen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Da die Hungersnot zeitlich mit der Etablierung der britischen Kolonialherrschaft zusammenfiel, sahen die Bewohner des zentralen Kenia sie nicht als Folge von natürlichen Ursachen. Sie verstanden sie vielmehr als Zeichen einer universellen Krise, die das Gleichgewicht zwischen Gott und der Gesellschaft störte und die sich ebenso in der Kolonialherrschaft manifestierte. Die Hungersnot hatte eine soziale Neustrukturierung in der Region zur Folge. Sie erleichterte es der britischen Kolonialmacht und den europäischen Missionsgesellschaften, sich in Kenia zu etablieren, trug zur Ethnisierung bei und verursachte ein jahrzehntelanges kollektives Trauma in der Bevölkerung. Zentralkenia am Ende des 19. Jahrhunderts Soziale Organisation Zentralkenia war bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wegen seiner fruchtbaren Böden und des besonders im Hochland niederschlagsreichen Klimas eine dicht besiedelte Region. Neben dem Gebiet um den Victoriasee war es, mit (nach allerdings ungenauen Schätzungen) etwa einer Million Menschen, die bevölkerungsreichste Gegend Britisch-Ostafrikas. Während in dem hochgelegenen Gebiet zwischen dem Mount Kenya und den Ngong-Bergen vor allem Gemeinschaften der Kikuyu, Embu, Meru, Mbeere und Ogiek lebten, war die tiefer liegende und in die halbtrockene Steppe übergehende Region östlich davon vor allem von kambasprachigen Gruppen bewohnt. Südlich der Ngong-Berge und westlich der Nyandarua-Berge siedelten ebenfalls Kikuyu, Ogiek und Massai. Lebensgrundlage war im fruchtbaren Hochland in erster Linie der Ackerbau und in den kargen Steppen vor allem Rinderhaltung. Anders als im 20. Jahrhundert auf Karten häufig dargestellt, lebten diese Gruppen nicht in fest voneinander abgegrenzten Territorien. Sie waren im Gegenteil kulturell und sozial eng miteinander verflochten. Ihre Sprachen waren – bis auf die nilotische Sprache Maa – Bantusprachen und daher eng miteinander verwandt. Neben der Sprache verband die Angehörigen der jeweils gleichen Sprachgruppe jedoch wenig, sie waren nicht durch eine gemeinsame politische Autorität und nur selten durch gemeinsame Rituale verbunden. Eine ethnische Identität, wie sie heute bekannt ist, war nicht ausgeprägt. Die Zugehörigkeit zu den Massai etwa konnte sich durch Umzug oder durch den Wechsel der Lebensgrundlage, z. B. von der Rinderzucht zum Ackerbau, ändern. Die Menschen lebten vielmehr in kleinen Gemeinschaften, in Clans, Familien- oder Dorfverbänden organisiert. Solche Gruppen konnten sich auch aus Menschen mit unterschiedlicher sprachlicher Herkunft bilden. Oft entstanden sie um einen Patron, ein einflussreiches Familienoberhaupt, der es verstand, Menschen an sich zu binden, indem er ihnen Schutz in der Gemeinschaft bot. Meist identifizierten sich diese Gemeinschaften durch die Region, in der sie lebten, über den Gründer ihrer Gemeinschaft als gemeinsamen, auch erfundenen, Ahnen oder über ihre Lebensweise als Ackerbauern, Jäger oder Viehzüchter. Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Einheiten derselben Sprachgruppe kamen ebenso häufig vor wie zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen. Regionaler Austausch und Kontakt Dennoch standen diese kleinen Gemeinschaften über sprachliche Grenzen hinweg in regem Kontakt. Sie heirateten häufig untereinander, trieben lebhaften Handel und beeinflussten gegenseitig ihre Lebensweise, besonders in Gebieten, in denen sie als Nachbarn zusammenlebten. Dieser Kontakt war überlebensnotwendig. Das ertragreiche Hochland fungierte als Kornkammer der gesamten Region. Waren einzelne Gebiete durch Dürren von Nahrungsmangel bedroht, unternahmen die Menschen Handelsreisen ins Hochland und tauschten Ziegen, Schafe und Rinder, Pfeilgifte und Tabak, Werkzeuge oder Waffen, Metalle, Salz und Heilkräuter, Honig oder auch ihre Arbeitskraft gegen Lebensmittel wie Hirse und Yams, Bohnen, Mais und Bananen. In Notzeiten kam es auch vor, dass ganze Familien ins Hochland auswanderten, dort auf dem Land eines wohlhabenden Bauern lebten und arbeiteten und so die Notzeit überstanden. Daneben pflegten einzelne Regionen im Süden dieses Gebietes einen regen Kontakt mit den großen Karawanen, die von der ostafrikanischen Küste ins Inland zogen, um Elfenbein aufzukaufen. In Zentralkenia entstand eine Reihe von Handelsknotenpunkten, wo Zwischenhändler Lebensmittel von der lokalen Bevölkerung erwarben und an die großen Karawanen als Proviant für die Weiterreise verkauften. Mangelnder Regen, Rinderpest und Heuschreckenplagen Für weite Teile Ostafrikas waren die 1880er und 1890er Jahre eine Zeit unregelmäßigen und mangelhaften Niederschlags. Ursache der Trockenheit in Zentralkenia war letztlich ein starkes Auftreten des Klimaphänomens La Niña im Jahre 1898. Dieses Ereignis sowie ein sehr starkes Auftreten von El Niño 1896 und ein erneuter El Niño 1899 führten auch in anderen Teilen Afrikas zu Dürre und Hunger. In Zentralkenia kamen weitere belastende Faktoren hinzu. So vernichteten Heuschreckenschwärme in der 1890er Jahre die durch den fehlenden Regen bereits unzureichenden Ernten in den kargen ebenso wie in den fruchtbaren Gebieten. Darüber hinaus hatte eine Rinderpest-Epizootie schon 1891 große Teile der Rinderbestände vernichtet. Diese ursprünglich aus Asien stammende Tierseuche war 1887 von italienischen Truppen mit indischen Rindern nach Äthiopien eingeschleppt worden und verbreitete sich von dort nach Ostafrika und schließlich bis in das südliche Afrika, wo es keine Immunität gegen die Krankheit gab. Rinderbesitzer in Kenia verloren bis zu 90 Prozent ihrer Viehbestände. In der gesamten Region hatte der Verlust der Rinder tiefgreifende Folgen. Ihr Fleisch wurde äußerst selten verzehrt. Sie galten als Prestigeobjekt und waren ein wertvolles Zahlungsmittel für den Brautpreis und für den Kauf von Lebensmitteln aus fruchtbaren Regionen. Besonders in pastoralen Gesellschaften fiel mit dem Verlust der Rinder für Kinder und junge Erwachsene ein wichtiger Nahrungsbestandteil weg, denn diese ernährten sich zum großen Teil von einem mit Kräutern versetzten Milch-Blut-Gemisch, das man aus Milch und dem aus der Halsschlagader des Rindes abgezapften Blut gewann. Unter den Auswirkungen hatten insbesondere die Massai zu leiden, in deren Gesellschaft die Rinderzucht ein zentrales Element war. Nachdem ihre wirtschaftliche Grundlage zerstört war, starben Tausende, ganze Gemeinschaften lösten sich auf. Überlebende suchten vor allem bei den benachbarten Kikuyu Zuflucht. Feindseligkeiten und die Anwendung von Gewalt nahmen in diesem Zeitraum drastisch zu. Die Rinderpest machte aus den stolzen und gefürchteten Massai Bettler, und sie versuchten, den sozialen Abstieg aufzuhalten, indem die Krieger in großem Stil Rinder und Frauen von umliegenden Gesellschaften raubten, um Haushalte neu aufzubauen. Die Vorboten der Kolonialmacht An den Katastrophen hatten die ersten Versuche der britischen Kolonialmacht, in Kenia Fuß zu fassen, einen nicht unbeträchtlichen Anteil. Ab 1889 errichtete die Imperial British East Africa Company eine Reihe von Verwaltungsposten entlang des bestehenden Handelsweges von der Hafenstadt Mombasa zum Victoriasee (der deutsche Einfluss endete 1890 mit der Übergabe Witus). Ihre Aufgabe bestand darin, die großen Handelskarawanen der Company, die bis zu tausend Personen umfassten, mit Nahrungsmitteln für die Weiterreise zu versorgen. Hierzu wurden große Mengen an Lebensmitteln bei der ansässigen Bevölkerung aufgekauft, mitunter ihr auch geraubt. Der Karawanenverkehr begünstigte zudem die Ausbreitung von bisher unbekannten Krankheiten wie der Rinderpest. Der Einfluss der Briten blieb zunächst jedoch gering und beschränkte sich auf die wenigen Stationen und einen kleinen Umkreis. Erst durch den Eisenbahnbau änderte sich das. Nachdem Großbritannien 1895 die Verwaltung Britisch-Ostafrikas übernommen hatte, begann 1896 der Bau der Uganda-Bahn, die Mombasa mit Uganda verbinden sollte. Je weiter die fertiggestellte Strecke vorrückte, desto leichter wurde es für Europäer, das Inland zu erreichen. 1899 hatte die Bahnstrecke das 1896 als Depot für Baumaterial entstandene Nairobi und damit das südliche Kikuyugebiet im zentralen Kenia erreicht. Die Zahl der Europäer im Land änderte sich damit sprunghaft; Siedler und Verwaltungsbeamte, Missionare, Abenteurer, Geschäftsleute und Wissenschaftler reisten an. Für die Afrikaner hatte der Eisenbahnbau noch eine weitere Dimension. Seit Beginn des Bahnbaus 1896 lockte er zahlreiche afrikanische Arbeiter auf die riesigen Baustellen. Sie verdingten sich hier als Arbeitskräfte, um mit dem Verdienst begehrte europäische Handelsgüter wie Baumwollstoffe und Kleidung, Tabaksdosen, Feuerwaffen oder Perlen erwerben zu können. Die meisten Bahnarbeiter waren indische Vertragsarbeiter, doch auch Afrikaner aus ganz Ostafrika arbeiteten hier. Viele von ihnen kamen aus dem zentralen Kenia. Diese, vor allem männlichen, Arbeitskräfte fehlten in der Landwirtschaft, was die Ernteerträge zusätzlich verringerte. Der Große Hunger Als sich die Große Hungersnot, wie sie im Nachhinein genannt wurde, Ende der 1890er Jahre ausbreitete, waren davon alle Einwohner Kenias betroffen, die zwischen dem Mount Kenya und dem Kilimandscharo lebten. In den tiefer gelegenen östlichen Regionen waren schon Ende des Jahres 1897 die Ernten selbst in jenen Gebieten, die gewöhnlich Lebensmittelüberschüsse erzeugten, gering. Das Jahr 1898 begann mit weiteren trockenen Monaten und der Hunger griff auf südlich gelegene Regionen über. Eine Heuschreckenplage und ein erneuter Ausbruch der Rinderpest, der wiederum um die 30 Prozent der Rinderbestände vernichtete, verstärkten die Auswirkungen des unzureichenden Niederschlags. Bereits Mitte des Jahres 1898 starben viele Menschen vor Hunger. Der Regen in jenem Jahr kam spät und fiel erneut in geringeren Mengen als gewohnt. Jetzt vertrockneten schließlich auch die Ernten östlich des Hochlandes und im südlichen Kikuyugebiet auf den Feldern. Der Nahrungsmangel hatte sich in Zentralkenia Mitte 1898 jedoch noch nicht vollständig ausgebreitet. Im Gegenteil verkauften Händler weiterhin Lebensmittelvorräte aus dem Hochland an durchziehende Karawanen oder an Zwischenhändler, um begehrte Waren wie Kleidung, Perlen, Waffen oder Kupfer- und Messingdraht (aus dem Schmuck gefertigt wurde) zu erwerben. Offenbar ging man davon aus, dass Nahrungsmittel nur punktuell unter den weniger wohlhabenden Menschen knapp waren und im Notfall durch den Handel aus dem zentralen Hochland weiterhin zu beschaffen seien. So berichtete der britische Missionar Harry Leakey von der Missionsstation Kabete in der Nähe von Nairobi: „Die Schrecken (der Hungersnot) wurden außerordentlich durch die Tatsache vermehrt, dass zu dieser Zeit eine riesige Karawane mit nubischen Truppen durch das Kikuyugebiet marschierte. Die Agenten des Lebensmittelzulieferers kauften große Mengen Getreide auf, und der Erlös in Messingdraht, Baumwollstoffen und Perlen erschien den unglücklichen Verkäufern luxuriös. Tatsächlich bedeutete er Unheil, denn als endlich nach zwei, wenn nicht drei vergeblichen Aussaaten genügend Regen kam, um etwas wachsen zu lassen, war kaum noch Saatgut in den Getreidespeichern.“ Ob der Handel mit Lebensmitteln tatsächlich eine Ursache für die Nahrungsknappheit war, ist dennoch umstritten. Die Anthropologin Kershaw wies darauf hin, dass auch Gegenden, die keinen Handel mit den großen Karawanen betrieben, vom Hunger betroffen waren. Der Historiker Ambler beschreibt den Verlauf der Hungersnot als eine sich verschiebende Grenze, die sich mit den Flüchtlingen bewegte: Sobald die Hungermigranten in ein Gebiet einwanderten, das vom Hunger noch nicht betroffen war, entwickelte sich dort eine Lebensmittelknappheit. Diese produzierte weitere Flüchtlinge, die wiederum in neue Gebiete auswichen und auch dort für Nahrungsmangel sorgten. Das regenreiche Hochland zwischen dem Mount Kenya und den Nyandarua-Bergen blieb vom Hunger verschont. Hier fielen die Ernten zwar ebenfalls kleiner aus, doch es wurden weiterhin Lebensmittelüberschüsse produziert, die für Flüchtlinge aus den Hungergebieten das Überleben bedeuteten. 1898 näherte sich der Bahnbau dem Kamba-Gebiet und dem Hochland. Für die Ernährung der Bauarbeiter – auf manchen Baustellen bis zu 4000 Personen – wurden weitere große Mengen von Ziegen und Schafen, Bohnen, Mais und Getreide aus der Umgebung aufgekauft. Nachdem bereits zuvor viele Männer zu den entfernt liegenden Baustellen als Arbeiter gezogen waren, vergrößerte sich die Zahl der Lohnarbeiter auch unter Frauen noch deutlich, als die Baustellen in die nähere Umgebung rückten. Auch im wachsenden Karawanenverkehr arbeiten viele Männer als Träger, sodass zunehmend Arbeitskräfte in der Landwirtschaft fehlten. Durch die anhaltende Dürre waren die zu Hause Verbliebenen oft zu geschwächt, um zusätzliche Maßnahmen gegen den Hunger zu ergreifen. Zu Beginn des Jahres 1899 hatte die Hungersnot einen Höhepunkt erreicht. Sie wurde nicht allein von einer Pockenepidemie begleitet, sondern auch vom Auftauchen des Sandflohs, der bis dato in Zentralkenia unbekannt war und sich schnell ausbreitete. Für die entkräfteten Menschen, denen der Umgang mit Sandflöhen nicht vertraut war, endete der Befall durch das Insekt, das sich durch die Haut ins Fleisch fraß, oft mit verkrüppelten Gliedmaßen, manchmal gar mit dem Tod. Überlebensstrategien Handel und Jagd Angesichts der verdorrenden Ernten auf den Feldern und der schwindenden Vorräte war das wichtigste Mittel zum Überleben Vieh, insbesondere Rinder. Deren Milch und Blut verschaffte ohne Verzug und Mühe Nahrung. Wichtiger noch war, dass Rinder wegen ihres Wertes als Prestigeobjekte für Nahrungsmittel aus dem Hochland verkauft werden konnten. In der Not wurden Heiraten für ungültig erklärt, um Vieh, das als Brautpreis entrichtet worden war, zurückfordern zu können. In anderen Fällen wurden Mädchen überstürzt verheiratet, um Vieh in den Haushalt einzuführen. Trotz des großen Hungers wurde allerdings selten Vieh wegen des Fleischertrages geschlachtet, es war das Kapital einer Familie und wurde eher als Währung denn als Nahrungsmittel behandelt. Handelsreisen ins Hochland, um dort Lebensmittel zu beschaffen, waren jedoch riskant. Sie dauerten mehrere Tage, für die Verpflegung notwendig war, und es mussten reißende Flüsse überquert werden. Vielerorts trieben Räuberbanden ihr Unwesen, die Reisende überfielen und ihrer Waren beraubten. Oft erreichten die vom Hunger geschwächten Reisenden ihr Ziel nicht und starben unterwegs. Arme Familien, die über wenig oder kein Vieh verfügten, litten zuerst und am meisten unter dem Hunger und mussten täglich neu um das Überleben kämpfen. Viele der sonst Landwirtschaft betreibenden Familien wichen auf die Jagd als Nahrungsquelle aus und fingen mit Fallen Gazellen und Eidechsen, die sich in der Nähe der Wohnstätten aufhielten. Einzelne Männer taten sich in Gruppen zusammen und gingen gemeinsam auf die gefährliche Jagd nach Großwild wie Kaffernbüffel oder Elefanten – eine Überlebensform, die gemeinhin in Zentralkenia verachtet wurde. Frauen mit Kindern, Schwache und Alte, die zu Hause bleiben mussten, lebten von Wurzeln und Gräsern, wilden Früchten und Blättern. Man griff zu verzweifelten Maßnahmen, sich zu ernähren. Kleidungsstücke aus Leder und Kalebassen wurden tagelang weichgekocht, um sie essbar zu machen, und Holzkohle wurde zu Mehl verarbeitet. Migration Da es im regenreichen zentralen Hochland, im nördlichen Kikuyugebiet und rings um den Mount Kenya, keinen Nahrungsmangel gab, wanderten Tausende aus den benachbarten Regionen in dieses Gebiet. Viele starben bereits auf dem Weg oder kurz nach ihrer Ankunft. Die Überlebenden versuchten, als Arbeiter auf den Feldern in den weiterhin fruchtbaren Gebieten die Hungerszeit zu überdauern. Eine entscheidende Überlebensstrategie war die Verpfändung von Frauen und Mädchen. Indem hungernde Familien ihre weiblichen Mitglieder an einen anderen Haushalt verpfändeten, der über Nahrung verfügte, waren sowohl die Männer, die dafür Lebensmittel erhielten, als auch die Frauen und Mädchen, die in gut versorgte Familien wechselten, gerettet. Trotz des unter Umständen äußerst traumatischen Erlebnisses für die beteiligten Frauen, die oft nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr vertrautes kulturelles und sprachliches Umfeld verlassen mussten, war diese Methode sehr verbreitet. Tausende von Frauen und Mädchen, vor allem aus Massai- und Kamba-Gemeinschaften, wechselten zwischen 1898 und 1900 in zumeist kikuyusprachige Familienverbände über, die im zentralen und fruchtbaren Hochland lebten. Viele Frauen zogen auch in Eigeninitiative auf die Verwaltungsstationen oder zu den großen Bahnbaulagern und verdienten ihren Lebensunterhalt mit Prostitution, Kleinhandel und Bierbrauen. Neben den Frauen wanderten jedoch auch ganze Dorf- und Familienverbände aus den Hungerregionen ab. Manche Gegenden östlich des Mount Kenya und südlich des heutigen Nairobi schienen den europäischen Beobachtern, die erstmals das Land bereisten, entvölkert. Die Migranten suchten in der Regel in Regionen Zuflucht, die ihnen von Handelsreisen vertraut waren oder in denen sie durch Heirat oder Blutsbrüderschaften auf eine verwandtschaftlich-freundliche Aufnahme hoffen konnten. Die Hungerflüchtlinge wurden in den Gastgemeinschaften jedoch keineswegs nur freundlich empfangen. Sie erlebten das Außenseiterschicksal von Flüchtlingen, ihre Frauen und Kinder wurden häufig vergewaltigt und geraubt. Im weiteren Verlauf kam es vereinzelt auch zu Massakern, da die Gastgesellschaften – nicht grundlos – fürchteten, dass sich durch den Zustrom der Flüchtlinge auch ihre eigenen Nahrungsvorräte erschöpfen würden. Kriminalität und Gewalt Die Not führte dazu, dass sich vielerorts soziale Strukturen und moralische Bindungen auflösten. Selbst engste Beziehungen wurden zerrissen, um sich aus Verantwortlichkeiten zu befreien und das eigene Überleben zu sichern. Blutsbrüder beraubten einander, Männer verließen ihre Familien und Mütter ihre Kinder. In einer kleinen, verlassenen Hütte im Kambagebiet fanden Missionare 24 tote Kinder, die einander eng umschlungen hielten. Andere Kinder irrten allein, mit Geschwistern oder in größeren Gruppen umher und suchten nach Schutz und Nahrung. Junge Männer und selbst Frauen taten sich zu kleinen Banden zusammen und lebten vom Raub. Sie überfielen kleinere und größere Karawanen und Haushalte, die wegen der fehlenden Männer nicht mehr geschützt waren. Auch die Bahnbaustellen waren Ziel häufiger Überfälle, da die große Zahl der Arbeiter, die dort versorgt werden mussten, einen ergiebigen Vorrat an Lebensmitteln versprach. Die Banden umherziehender Marodeure machten das Leben in den Streusiedlungen zunehmend gefährlicher. Angriffe auf Flüchtlinge nahmen zu, insbesondere Frauen und Kinder wurden von Händlern gefangen genommen und an Karawanen als Sklaven verkauft. Selbst innerhalb von Familien kam es vor, dass hierarchisch höherstehende Personen Männer und Frauen aus dem Familienverband in die Sklaverei verkauften. Auch Gerüchte über Kannibalismus verbreiteten sich. Der Elfenbeinhändler John Boyes berichtete: „Einige meiner Männer haben grausige Geschichten von Leuten gehört, die in ihrer Verzweiflung angesichts des Nahrungsmangels einander töten und essen.“ Pockenepidemie Die Lage verschlimmerte sich noch gravierend durch eine Pockenepidemie, die sich von Mombasa aus entlang der Bahnlinie ausbreitete. In Mombasa sammelte man jeden Morgen die Toten aus den Straßen auf, aber die dort ansässige Kolonialverwaltung unternahm keine Schritte, um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern. Die Krankheit gelangte durch die gerade fertiggestellte Strecke der Uganda-Bahn schnell in das vom Hunger betroffene Zentralgebiet. Die Pocken betrafen sowohl Hungernde als auch ausreichend Ernährte. Besonders verheerend wirkten sie sich im fruchtbaren Hochland aus, wo die Gemeinschaften von der Hungersnot weitgehend verschont geblieben waren. Die Seuche, die von den zahlreichen Hungerflüchtlingen eingeschleppt wurde, breitete sich in dem dicht besiedelten Gebiet – dessen Einwohnerzahl durch den Zustrom der Flüchtlinge noch gestiegen war – mit rasender Geschwindigkeit aus. Ganze Dörfer wurden in Kürze entvölkert. Rachel Watt, die Frau eines Missionars, beschrieb die Situation in Machakos, rund 100 km östlich von Nairobi: „Wo auch immer man hinging, die Wege waren mit Leichen übersät. Bis aufs Skelett abgemagerte Babys wurden weinend neben den Leichnamen ihrer Mütter gefunden.“ Viele Menschen suchten sich durch Amulette, Medizin und andere Zauber vor Krankheit und Tod zu schützen. Andere richteten ihren Zorn und ihre Verzweiflung gegen einzelne Menschen, namentlich verlassene Frauen oder Witwen wurden der Hexerei beschuldigt und für das Elend verantwortlich gemacht wurden. Einige Gesellschaften, wie etwa die Embu, verboten Fremden den Zuzug in ihr Siedlungsgebiet völlig, um die Ausbreitung der Pocken zu verhindern. In anderen Gebieten wiederum zwang man die zugezogenen Flüchtlinge, die Erkrankten zu pflegen. Die Rolle der Kolonialverwaltung Die Verwaltungsstationen der sich etablierenden Kolonialmacht und die Missionsstationen nutzen die Situation, um ihren Einfluss zu stärken. Durch den Zugang zu importierten Gütern waren sie, besonders nachdem die Bahnstrecke Nairobi erreicht hatte, nicht mehr von der lokalen Lebensmittelproduktion abhängig. Die Stationen wurden zu Anlaufstellen für viele Hungernde aus der Umgebung, da hier Nahrung vorhanden war, vor allem aus Indien eingeführter Reis. Nach der Fertigstellung der Bahn wuchsen die Stationen und Missionszentren in rasantem Tempo. Die hier residierenden Europäer hatten zuvor häufig den Mangel an Arbeitskräften, die zur Unterhaltung der Station nötig waren, beklagt. Wanderarbeiter zogen es vor, beim Bahnbau zu arbeiten, da man hier besser versorgt und bezahlt wurde. Dieses Problem des Arbeitskräftemangels löste sich, da Hunderte von Männern, insbesondere Massai, in die Nähe der Stationen zogen, um sich dort als Träger und Hilfspolizisten zu verdingen. Als Lohn wurde Reis ausgegeben. In den Regionen dieser frühen Stationen wird die Hungersnot daher auch als Yua ya Mapunga erinnert, die „Reis-Hungersnot“, da mit ihr dieses relativ teure und bis dahin weithin unbekannte Lebensmittel eingeführt wurde. Zugleich begann ein von der Verwaltung und den Missionen organisiertes Hilfsprogramm, das von der britischen Regierung finanziert wurde. Im Kambagebiet und um Nairobi wurden Lager errichtet, die an erwachsene Personen täglich ein Pfund Reis ausgaben. Flüchtlinge strömten an diesen Orten zusammen. In Machakos gab der britische Beamte John Ainsworth im August 1899 täglich 500 Portionen aus, Ende des Jahres mehr als 1500. Insgesamt lebten zu diesem Zeitpunkt ungefähr 5000 Menschen in Zentralkenia von den Nahrungsspenden der Beamten und Missionare. Das Ende des Hungers Die letzten Monate des Jahres 1899 brachten starke Regenfälle und damit das Ende der Dürre, die Zentralkenia während der letzten beiden Jahre verwüstet hatte. Allerdings brachten sie noch nicht das Ende des Hungers. Für einige Gegenden bedeutete gerade diese Zeit noch einmal eine Periode des Leidens. Die Felder waren verwüstet und vom Unkraut überwuchert, nicht alle Überlebenden hatten noch Kraft, den Boden wieder für eine Aussaat vorzubereiten. Wo Ernten heranreiften, verführte der Hunger dazu, die unreifen Feldfrüchte zu verzehren, was weitere Krankheiten unter den geschwächten Menschen hervorrief. Auch wenn die Not durch den Regen nicht sofort beendet war, besserte sich die Versorgungslage doch relativ rasch. Europäische Stationen stellten Saatgut zur Verfügung, da viele Betroffene in der Not ihr eigenes Saatgut verzehrt oder verkauft hatten. Einige Wochen später konnten Überlebende erste Ernten einbringen. Folgen Opfer Alle Versuche, die Zahl der Opfer zu erfassen, basieren auf sehr ungenauen Schätzungen. Das ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass die Bevölkerung in Zentralkenia vor der Etablierung der Kolonialherrschaft nur sehr grob geschätzt werden kann. Die einzige systematische Untersuchung zu den Verlusten während der Hungersnot wurde in den 1950er Jahren von der niederländischen Anthropologin Gretha Kershaw durchgeführt und beschränkte sich auf ein kleines Gebiet in der Gegend von Nairobi. Sie ergab, dass von 71 erwachsenen Männern 24 die Hungersnot nicht überlebt hatten. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass diese Region zu den wohlhabenderen gehörte und sich durch den Zuzug der Europäer eine Reihe von Überlebensmöglichkeiten ergaben. Es sind eher Beschreibungen persönlicher Eindrücke von europäischen Beobachtern, die einen Eindruck vom Ausmaß der Opfer vermitteln. Im Oktober schrieb Francis Hall, der als britischer Beamter der Verwaltungsstation Fort Smith im südlichen Kikuyugebiet täglich Reis ausgab, an seinen Vater: „Wegen der Hungersnot und der Pocken begraben wir jeden Tag sechs bis acht Menschen. Man kann keinen Spaziergang machen, ohne über Leichname zu fallen.“ John Boyes, der sich im Kikuyugebiet einen gewissen Einfluss verschafft hatte, schrieb in einem Bericht, dass von einer Karawane von Hungerflüchtlingen, die er ins Hochland begleitete, täglich um die fünfzig Menschen starben. Die Todesrate war sicher in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich. Besonders hohe Verluste erlitten die Gebiete östlich und südlich des Hochlandes, wo viele Kamba, Massai, in geringerem Maße auch Kikuyu lebten. Territorial handelte es sich um die Gegenden der heutigen Provinz Central, um Nairobi, den südwestlichen Teil der Provinz Eastern sowie den südöstlichen Teil der Provinz Rift Valley. Die von Europäern beobachtete Entvölkerung insbesondere der tiefer gelegenen Gebiete kann sowohl auf eine hohe Todesrate als auch auf die Abwanderung der Menschen hinweisen. Ein häufiger Topos in Beschreibungen von Aufenthalten in Zentralkenia aus dieser Zeit sind die Wege, deren Ränder mit Leichen übersät sind. Ein britischer Siedler erinnerte sich an die Bahnlinie mit den Worten: „1899, als ich den Schienen folgte, kam ich nicht einmal bis Limuru. Die Bahnlinie war ein Berg von Leichen.“ Soziale und ökonomische Neuorientierung Nach der großen Katastrophe lag das wichtigste Bestreben der Bevölkerung darin, Haushalte, Familien und Gemeinschaften wieder aufzubauen, die soziale Ordnung wiederherzustellen und eine lokale Wirtschaft in Gang zu bringen. Da der Handel inzwischen über die Eisenbahn abgewickelt wurde, brach eine Haupteinnahmequelle für den Lebensunterhalt weg. Die Menschen organisierten sich daher eher in kleinen verstreuten Haushalten und nicht mehr in größeren, um einen Patriarchen gruppierten Gemeinschaften. So war es einfacher, alle Mitglieder einer Familie mit dem Land, über das man verfügte, zu ernähren. Der Wiederaufbau vollzog sich buchstäblich in einem Leichenfeld. So erinnerte sich eine Frau an diese Zeit, die sie als Kind erlebte: „Nach der Hungersnot kam eine Jahreszeit der Hirseaussaat und die Hirse wuchs sehr rasch. Aber man konnte wegen der vielen Toten nicht auf den Feldern gehen. Man sah einen Kürbis oder einen Flaschenkürbis, aber man konnte ihn nicht erreichen, weil er auf einem Haufen von Leichen wuchs.“ Nach den bitteren Erfahrungen zogen es viele Menschen vor, die halbtrockenen und tiefer gelegenen Steppen zu verlassen. Sie siedelten sich stattdessen im bewaldeten Hochland an, das sicheren Niederschlag und nach der harten Arbeit des Rodens sicheres Auskommen, dafür aber wenig Weideflächen für Viehhaltung bot. Durch die extreme Zunahme an unkultiviertem Boden wurde aus den trockenen Regionen wieder Buschland und damit auf lange Sicht ein Lebensraum für die Tsetsefliege. Das erschwerte die Wiederansiedlung von Viehzüchtern und die Neuformierung einer lokalen Viehwirtschaft in diesen Regionen. Soziale Gegensätze verschärften sich dauerhaft. Reiche Familien, die die Not überstanden hatten, ohne ihre Heimat zu verlassen, besetzten häufig das Land der Nachbarn, die ins Hochland migriert waren. Durch ihre privilegierte Lage waren sie imstande, Notleidende, Witwen und Waisen an ihren Haushalt zu binden, deren Arbeitskraft zur Bearbeitung von zusätzlichem Land zu nutzen und dadurch schnell einen beträchtlichen Wohlstand aufzubauen. Viele Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehrten, fanden ihr Land besetzt vor, sie mussten Pächter werden oder als Lohnarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienen. Der Verlust ihres Landes verhinderte jedoch, dass sie als Bauern an Erfolge vor der Hungersnot anknüpfen konnten. Noch in den 1930er Jahren wurden Streitfälle um Land vor Gericht gebracht, die ihren Ursprung in dieser Zeit hatten. Festigung der kolonialen Herrschaft Die britische Kolonialmacht ging aus der Hungersnot gestärkt hervor. Die Verwaltungsstationen hatten durch die Not der afrikanischen Bevölkerung Arbeitskräfte und eine große Gefolgschaft gewonnen, die meist auch nach Verbesserung der Lage weiterhin im Umkreis der Stationen wohnen blieben. Auch das Ansehen der Missionen hatte sich deutlich gebessert. Vor der Hungersnot war das Interesse am Christentum sehr gering und für die Missionen enttäuschend gewesen. Während der Hungersnot hingegen hatten viele Hungernde bei ihnen Zuflucht gefunden, aus denen eine erste Generation von afrikanischen Christen in Zentralkenia hervorging. In der Gegend um Nairobi hatte der Missionar Krieger die Menschen in der Nachbarschaft regelmäßig mit dem Fleisch von Wildtieren versorgt, die er bei Jagdunternehmungen erlegte. Missionar Bangert von der Missionsstation Kangundo sah im Rückblick die Hungersnot folglich auch als „eine wunderbare Gelegenheit, das Evangelium in die Herzen dieser Menschen zu bringen“. Die verstreut lebenden Haushalte identifizierten sich immer weniger mit den früher existierenden kleinen Gesellschaften. Sie ordneten sich stattdessen zunehmend in die Kategorien des Stammes ein, die die Kolonialmacht eingeführt hatte und nach denen das Protektorat administrativ aufgeteilt wurde. Die koloniale Verwaltung setzte Paramount Chiefs ein, die eine gesamte ethnische Gruppe vertraten, und über die sich die Menschen wesentlich einfacher kontrollieren ließen. 1902 wurden große Teile des südlichen Kikuyugebietes und des Siedlungsgebietes der Massai enteignet und für den Verkauf an weiße Siedler bereitgestellt. Dabei handelte es sich zum großen Teil um Land, das durch Tod und Abwanderung während der Hungersnot entvölkert war. Als sich in den nachfolgenden Jahrzehnten die Bevölkerung Zentralkenias von den Verlusten erholte, wurde die Landknappheit zum bleibenden Problem, das sich bis zum Ende der Kolonialzeit noch verschärfte. Ethnisierung der Beziehungen in Zentralkenia Infolge der Hungersnot veränderten sich die Beziehungen unter den Gemeinschaften in Zentralkenia beträchtlich. Kikuyu entwickelten eine zunehmend feindselige Haltung gegenüber Massai. Diese hatten – da sie in trockeneren Regionen lebten und besonders vom Hunger betroffen waren – massiv im Gebiet der Kikuyu, Embu und Mbeere im Hochland Vieh, Frauen und Lebensmittel geraubt und dabei auch nicht vor Mord an Frauen und Kindern zurückgeschreckt. Da viele Massai als Hilfstruppen für europäische Verwaltungsstationen arbeiteten, hatten sie zudem an sogenannten Strafexpeditionen gegen Gruppen im Hochland teilgenommen, bei denen ebenfalls große Mengen an Vieh und Lebensmitteln von den Europäern beschlagnahmt worden waren. Die hochgelegenen Regionen Kenias, von Kikuyu- und Embu-Sprechern und Mbeere bewohnt, waren zwar von der Hungersnot nicht direkt betroffen gewesen, litten aber an ihren indirekten Auswirkungen. Der Zustrom der Flüchtlinge erschien zunehmend als Gefahr, da auch hier die Lebensmittel knapp wurden und die rasche Ausbreitung der Pocken als eine Folge der Migration gesehen wurde. In Embu versuchten sich die Dörfer gegen die notleidenden Einwanderer zu schützen. Sie verboten den Zuzug, und die Krankheit wurde mehr und mehr als eine ethnische Charaktereigenschaft der zuziehenden Massai und Kamba gewertet. Auch die Verpfändung von Frauen, die es in großem Maß gegeben hatte, führte nach Verbesserung der allgemeinen Versorgungslage zu Spannungen. Familien, die Frauen verpfändet hatten, waren daran interessiert, sie wieder in ihre Haushalte einzugliedern, um mit ihrer Arbeitskraft und ihrem reproduktiven Potential Gemeinschaften wieder aufzubauen. Das gestaltete sich häufig sehr schwierig, da die Frauen oft nur zögerlich zurückgegeben wurden. In vielen Fällen waren sie bereits verheiratet, in anderen Fällen als Sklavinnen verkauft worden. So entstand unter den Kamba und Massai die Ansicht, die Hochlandgesellschaften, besonders die der Kikuyu, seien Frauenräuber, die sich auf Kosten ihrer notleidenden Nachbarn bereichert hätten. Die Hungersnot im kollektiven Gedächtnis Die Europäer waren zwar entsetzt über die Ausmaße der Hungersnot, sahen in ihr aber eher eine der vielen Katastrophen, unter denen Afrikaner bis zur Etablierung der Kolonialherrschaft gewöhnlich zu leiden hatten. Die tatsächliche Bedeutung der Hungersnot für die afrikanische Bevölkerung wurde erst in wissenschaftlichen Untersuchungen ab etwa 1950 erkannt. Die Anthropologin Gretha Kershaw, der kenianische Historiker Godfrey Muriuki und der amerikanische Historiker Charles Ambler, die für ihre Untersuchungen ausführliche Interviews und Feldforschungen in Kenia durchführten, machten durch ihre Forschungen offenbar, welches Trauma die Hungersnot in der kenianischen Bevölkerung ausgelöst hatte. In Zentralkenia ging man davon aus, dass Wohlergehen ebenso wie Übel von den Ahnen als Strafe oder Unterstützung gesandt wurden. So wurde auch die Hungersnot als Zeichen der Vergeltung für ein begangenes Unrecht verstanden. Die Errichtung der Kolonialherrschaft, der Bau der Eisenbahn und die damit zunehmende Präsenz von Weißen in Zentralkenia, die zeitlich mit der Hungersnot zusammenfielen, sah man deshalb vorerst nicht als ein politisches Ereignis. Man verstand sie eher, ebenso wie die Hungersnot, die Rinderpest, den ausbleibenden Regen und die Pocken, als Teil einer universellen Krise und Abrechnung, deren Ursachen in eigenem Verschulden lagen. Selbst Jahrzehnte nach der Hungersnot sprachen die Überlebenden nur widerwillig und zögerlich über ihre Erlebnisse während dieser Zeit. Mit Schrecken erinnerte man sich nicht nur an die persönlichen Leiden, sondern auch an die Zerschlagung der sozialen Ordnung und an die Macht der Ahnen über die Lebenden. Bis heute ist die schwere Zeit dieser Hungersnot im kollektiven Gedächtnis der Kenianer verankert. Bei den Kikuyu wird sie als Ng’aragu ya Ruraya, „Der große Hunger“ bezeichnet, in den kambasprachigen Gebieten als Yua ya Ngomanisye, „Der Hunger, der überall hinkam“ oder auch „Der grenzenlose Hunger“. Quellen John Boyes: King of the Wa-Kikuyu. A True Story of Travel and Adventure in Africa, London 1911. Kenya Land Commission: Kenya Land Commission Report. 3 Bände, Nairobi 1934. Paul Sullivan (Hrsg.): Francis Hall’s letters from East Africa to his Father, Lt. Colonel Edward Hall, 1892–1901. Dar-es-Salaam 2006. Rachel S. Watt: In the Heart of Savagedom. London 1913. Literatur Charles H. Ambler: Kenyan Communities in the Age of Imperialism. The Central Region in the Late Nineteenth Century. New Haven & London 1988. Greet Kershaw: Mau Mau from Below. Athen 1997. Godfrey Muriuki: A History of the Kikuyu 1500–1900. Nairobi 1974. Bethwell A. Ogot (Hrsg.): Ecology and History in East Africa. Nairobi 1979. Einzelnachweise Geschichte (Kenia) Naturkatastrophe 1899 Zentralkenia 1899
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https://de.wikipedia.org/wiki/Todesopfer%20an%20der%20Berliner%20Mauer
Todesopfer an der Berliner Mauer
Als Todesopfer an der Berliner Mauer (auch Maueropfer oder Mauertote) werden Personen bezeichnet, die zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 bei der Flucht aus der DDR an der Berliner Mauer infolge der Anwendung des Schießbefehls durch Soldaten der DDR-Grenztruppen oder durch Unfälle ums Leben kamen. Über die Anzahl der Todesopfer gibt es unterschiedliche Angaben. Nach Erkenntnissen des staatlich geförderten Forschungsprojekts des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) und der Stiftung Berliner Mauer gab es mindestens 140 Maueropfer, darunter 101 DDR-Flüchtlinge, 30 Personen aus Ost und West, die ohne Fluchtabsicht verunglückten oder erschossen wurden, und 8 im Dienst getötete Grenzsoldaten. Nicht zu den eigentlichen Maueropfern zählt das ZZF die Menschen, die bei oder nach den Grenzkontrollen eines natürlichen Todes – hauptsächlich durch Herzinfarkt – starben. Mindestens 251 solcher Fälle sind bekannt. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August, Betreiberin des Mauermuseums am Checkpoint Charlie, ging 2009 von 245 Maueropfern und 38 natürlichen Sterbefällen aus. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ermittelte die Umstände der Vorfälle und kontrollierte, sofern möglich, den Umgang mit Toten und Verletzten. Gegenüber den Angehörigen und der Öffentlichkeit versuchte das MfS, die wahren Umstände der Vorfälle zu vertuschen. Urkunden wurden gefälscht, falsche Meldungen an die Presse gegeben und Spuren verwischt. Die Vorfälle fanden nach der Wende zum Teil eine juristische Aufarbeitung in den Politbüro- und Mauerschützenprozessen gegen ausführende Grenzsoldaten und deren militärische sowie politische Vorgesetzte. Es kam zu 131 Verfahren gegen 277 Personen, die etwa zur Hälfte mit Verurteilungen endeten. Geschichte Berlin war nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Sektoren unter der Kontrolle der alliierten Staaten USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich unterteilt. Nach der kontinuierlichen Abriegelung der innerdeutschen Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik ab 1952 verblieben die Sektorengrenzen in Berlin als ein weitgehend offener Weg aus der DDR. Der Außenring um West-Berlin, die Grenze zwischen West-Berlin und der DDR, war ebenfalls ab 1952 abgeriegelt. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 riegelten die Nationale Volksarmee (NVA), die Deutsche Grenzpolizei, die Volkspolizei und die Betriebskampfgruppen alle Wege zwischen dem sowjetischen Sektor und den drei West-Sektoren ab. Es begann der Bau der Grenzsicherungsanlagen. Die Grenzbefestigung bestand in den Anfangsjahren im Innenstadtbereich meist aus einer gemauerten Wand mit einer Stacheldrahtkrone. Als Baumaterialien dienten Ziegelsteine und Betonplatten. Weitere Stacheldrahthindernisse waren als Abgrenzung nach Osten zusätzlich zu einer Hinterlandmauer ausgelegt. An einigen Stellen, wie in der Bernauer Straße, bildeten Häuser, deren Türen und Fenster zugemauert waren, den Grenzverlauf. Die Häuser standen auf Ost-Berliner Gebiet, der Gehweg gehörte zu West-Berlin. Die Sicherungsanlagen des Außenrings um West-Berlin bestanden vielerorts aus Metallzäunen und Stacheldrahtbarrieren. Der technisch weiterentwickelte Ausbau fand erst später statt. Mit dem Ausbau der Mauer mit L-förmigen Betonsegmenten, wie sie beim Mauerfall stand, wurde erst 1975 begonnen. Die Geschichte der Todesopfer an der Berliner Mauer begann nach der Recherche des ZZF neun Tage nach Beginn des Mauerbaus mit dem Tod von Ida Siekmann. Sie starb an Verletzungen, die sie sich beim Sprung aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Bernauer Straße auf den in West-Berlin liegenden Gehweg zugezogen hatte. Zwei Tage später kam es zum ersten Mauertoten durch Waffengewalt, als Transportpolizisten Günter Litfin an der Humboldthafenbrücke erschossen. Fünf Tage danach wurde Roland Hoff erschossen. In den folgenden Jahren starben immer wieder Menschen bei dem Versuch aus der DDR zu fliehen. Einige Fälle, wie der Tod von Peter Fechter, gelangten in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, andere blieben bis nach der deutschen Wiedervereinigung unentdeckt. Etwa die Hälfte aller Maueropfer starb in den ersten fünf Jahren nach Abriegelung der Sektorengrenze. In den Anfangsjahren der Mauer lag sowohl die Anzahl aller Fluchten als auch jener durch Überwindung der Grenzanlagen der DDR wesentlich höher als in den folgenden Jahrzehnten. Dies führte zu einer höheren Anzahl von Toten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Von anfänglich zwischen 8500 und 2300 Personen, welche direkt über die Grenzanlagen flohen („Sperrbrecher“), sank die Anzahl ab Ende der 1970er-Jahre auf etwa 300 Personen pro Jahr. Mit dem gestiegenen technischen Ausbau der Mauer verlor dieser Fluchtweg an Bedeutung. Andere Wege zum Verlassen der DDR, z. B. über die sozialistischen Nachbarländer, mit gefälschten Pässen oder versteckt in Fahrzeugen, wurden häufiger genutzt. In den meisten Fällen gaben Angehörige der Grenztruppen der DDR (bis September 1961 Deutsche Grenzpolizei) die tödlichen Schüsse ab, seltener waren Transportpolizisten, Volkspolizisten oder Soldaten der NVA beteiligt. Peter Kreitlow († Januar 1963) war der einzige, der von sowjetischen Soldaten (die in der DDR normalerweise nicht im Grenzschutz eingesetzt waren) erschossen wurde. Sie hatten die Fluchtgruppe um Kreitlow in einem Wald zwei Kilometer vor der Grenze aufgespürt und schossen auf sie. Der größte Teil der Mauertoten waren Menschen aus Ost-Berlin und aus der DDR, die – oft spontan und teils nach Alkoholkonsum – einen Fluchtversuch unternommen hatten. Laut Untersuchung des ZZF waren dies 98 Fälle. Hinzu kamen West-Berliner, darunter mehrere Kinder, sowie mehrere Bundesbürger und ein Österreicher. Im Umfeld der Fluchttunnel wurden im März 1962 die beiden Fluchthelfer Heinz Jercha und Siegfried Noffke und zwei Grenzsoldaten erschossen. Der Fluchthelfer Dieter Wohlfahrt starb 1961 an den Folgen einer Schussverletzung, die er erlitten hatte, als er ein Loch in den Grenzzaun schnitt. Weitere Westdeutsche starben, nachdem sie – teils unabsichtlich, verwirrt oder angetrunken – in den Grenzbereich oder die Grenzgewässer gelangt waren, wie Hermann Döbler und Paul Stretz, oder auch die Mauerspringer Dieter Beilig und Johannes Muschol. Mindestens acht Angehörige der Grenztruppen wurden von Flüchtlingen, Fluchthelfern, Fahnenflüchtigen, West-Berliner Polizisten oder auch versehentlich von eigenen Kameraden (Eigenbeschuss) erschossen. Die Todesopfer waren mehrheitlich männlich und unter 30 Jahren alt. Zu Tode kamen mindestens 13 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Das jüngste Todesopfer war der 15 Monate alte Holger H.; er erstickte 1973 bei der Flucht seiner Eltern im Auto. Das älteste Opfer war die 80-jährige Olga Segler, die sich 1961 bei einem Sprung aus ihrer Wohnung an der Bernauer Straße tödlich verletzte. Der letzte Tote war Winfried Freudenberg, dem am 8. März 1989 zunächst die Flucht mit einem Gasballon gelang, aber über West-Berlin abstürzte und tödlich verunglückte. Chris Gueffroy, der Anfang Februar 1989 starb, war das letzte durch Schusswaffengebrauch getötete Maueropfer. Neben den bekannten Opfern gibt es mehrere unbekannte Tote, über deren Todesumstände keine Erkenntnisse vorliegen. Laut Untersuchungen des ZZF starben mindestens 251 Menschen bei Grenzkontrollen in Berlin eines natürlichen Todes. Dies betraf alleine am Grenzübergang im Bahnhof Friedrichstraße 227 Menschen. Herzinfarkte waren dabei die häufigste Todesursache. Die Grenzkontrollen, auch im Transitverkehr durch die DDR, verursachten bei vielen Reisenden Stress, der durch die martialischen Sperranlagen und das strenge, unfreundliche Auftreten der Passkontrolleinheiten hervorgerufen wurde. Viele Reisende fühlten sich schikaniert, wenn sie unverhältnismäßig lange warten mussten oder wegen kleiner Vergehen länger verhört wurden. Nur wenige dieser Fälle wurden öffentlich bekannt. Wegen der Geheimhaltung in der DDR galt dies insbesondere für verstorbene DDR-Bürger. Vorgehen der staatlichen Organe der DDR Die Grenzsoldaten der DDR waren beauftragt, „ungesetzliche Grenzübertritte“ mit allen Mitteln zu verhindern. Ihnen wurde dazu der ab 1960 geltende Schießbefehl erteilt, der bis 1989 mehrfach verändert in Kraft blieb und auch an der Sektorengrenze galt. Wenn es zur Schussabgabe, einer Verhaftung oder einem Todesfall kam, übernahm das MfS die Ermittlungen und entschied über das weitere Vorgehen. Aus den Analysen der Vorfälle leitete das MfS Handlungsanweisungen für die Grenzsoldaten ab. Anfangs blieben verwundete oder erschossene Flüchtlinge bis zum Abtransport offen liegen, sodass sie auch von West-Berlinern und der westlichen Presse gesehen werden konnten. Nach den Reaktionen auf den öffentlichen Tod Peter Fechters bekamen die Grenzer die Anweisung, Tote oder Verletzte möglichst schnell aus dem Sichtfeld West-Berlins zu entfernen. Negative Berichterstattung sollte vermieden werden. Häufig zogen die Grenzer Personen deswegen in den Pkw-Sperrgraben der Grenzsicherungsanlage. Teilweise wurde mit dem Abtransport bis Anbruch der Dunkelheit gewartet. Die Grenztruppen mussten verletzte Personen in das Krankenhaus der Volkspolizei in Berlin-Mitte oder in das Armeelazarett Drewitz bei Potsdam bringen. Während des Transports gab es keine medizinische Betreuung. Um kein Aufsehen zu erregen, nutzten die Grenzsoldaten für den Transport meist keine Krankenwagen, sondern Lkws oder Trabant-Kübelwagen. Bei der Ankunft in einem der Institute übernahm die MfS-Abteilung Linie IX oder in Ausnahmefällen die Hauptabteilung IX den Vorgang. Verletzte blieben in den Krankenhäusern unter Bewachung des MfS. Sie sollten baldmöglichst in eines der Untersuchungsgefängnisse des MfS verlegt werden. Für Leichen war das Gerichtsmedizinische Institut der Charité oder die Militärmedizinische Akademie Bad Saarow zuständig. An diesen Orten war die Geheimhaltung der Vorfälle einfacher als in anderen Einrichtungen. Über Tote verfügte das MfS völlig. Es erledigte alle Formalitäten unter konspirativen Bedingungen bis hin zur Verbrennung der Leichen im Krematorium Berlin-Baumschulenweg. Um die Todesumstände zu verschleiern, fälschte das MfS Sterbeurkunden und andere Dokumente, betrieb eine „Legendierung“. Berichte über Todesfälle mussten sowohl dem Minister für Staatssicherheit als auch dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrats der DDR vorgelegt werden. Die weiteren Ermittlungen führte ebenfalls das MfS. Im Mittelpunkt des Interesses stand nicht die Spurensicherung, sondern die Verheimlichung der Vorkommnisse gegenüber der Öffentlichkeit, insbesondere der westlichen. Die beteiligten Grenzsoldaten sowie eventuelle Begleiter von erschossenen oder verletzten Personen wurden vernommen und die Angehörigen kontaktiert. Gegenüber Letzteren verschleierte das MfS die genauen Todesumstände in vielen Fällen oder verpflichtete sie, über die Umstände Stillschweigen zu bewahren. Den Angehörigen war ein persönlicher Abschied von den Toten verwehrt. Trauerfeiern durften auf Verfügung des MfS nicht ausgerichtet werden. Bei der Beisetzung der Urne durfte – wenn überhaupt – nur der engste Familienkreis unter Bewachung anwesend sein. Manche Familien erfuhren erst nach der Wiedervereinigung vom Schicksal ihrer Verwandten. Bei einigen Toten ist der Verbleib der Leiche bis heute ungeklärt. Das MfS überprüfte und bewertete das Vorgehen der Grenzsoldaten. Insbesondere das taktische Vorgehen war von Interesse, mit der Absicht, eventuelle Schwachstellen zu entdecken. Auch die Grenztruppen selbst führten Untersuchungen durch. Nach einer verhinderten Flucht wurden die ausführenden Soldaten meist noch an Ort und Stelle befördert, bekamen Sonderurlaub, Geldprämien oder Ehrungen wie das Leistungsabzeichen der Grenztruppen oder die Medaille für vorbildlichen Grenzdienst. In den Untersuchungsberichten wurden taktische Fehler oder ein erhöhter Munitionsverbrauch gerügt. Berichte der Grenztruppen versuchten das Verhalten als möglichst fehlerfrei darzustellen. Für seine Handlungen benötigte das MfS das Mitwirken von Ärzten, Krankenschwestern, Volkspolizisten, Staatsanwälten, Verwaltungs- und Standesbeamten. Auch nach der Wende sagten diese Personengruppen größtenteils nichts über ihre eigenen Verwicklungen in die Verschleierung der Todesumstände aus. Reaktionen aus West-Berlin und der Bundesrepublik In West-Berlin bekannte Todesfälle lösten Proteste in der dortigen Bevölkerung aus. Senatsmitglieder suchten die Tatorte auf und sprachen zu Presse und Bevölkerung. Verschiedene Gruppen und Einzelpersonen organisierten Protestaktionen gegen die Mauer und die Schüsse. Als Peter Fechter vor den Augen vieler Menschen hilflos verblutete, kam es zu spontanen Massendemonstrationen, die in der folgenden Nacht in Ausschreitungen mündeten. „Mörder, Mörder!“ riefen die Demonstranten. West-Berliner Polizisten und US-Soldaten schützten die Mauer vor einer Erstürmung. Demonstranten bewarfen Busse, die sowjetische Soldaten zur Bewachung des Sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten brachten, mit Steinen. Der Vorfall führte auch zu antiamerikanischen Protesten, die Willy Brandt verurteilte. In der Folgezeit wurden vereinzelt Lautsprecherwagen an der Mauer aufgestellt, aus denen die Grenzsoldaten der DDR aufgefordert wurden, nicht auf Flüchtlinge zu schießen, und vor möglichen Konsequenzen gewarnt wurden. Bundesdeutsche Gruppen reichten wegen der Schüsse Beschwerde bei der UN-Menschenrechtskommission ein. Das überparteiliche Kuratorium Unteilbares Deutschland verkaufte bundesweit Protestplakate und Anstecknadeln gegen das Grenzregime und seine Folgen. Die Ordnungsbehörden West-Berlins gaben Flüchtenden anfangs Feuerschutz, wenn diese von Grenzsoldaten der DDR beschossen wurden. Dabei kam es zu mindestens einem tödlichen Vorfall, als der Grenzsoldat Peter Göring am 23. Mai 1962 durch Schüsse eines West-Berliner Polizisten getötet wurde. Die Staatsanwaltschaft Berlins bewertete dies erst 1991 als Nothilfe und Notwehr, da der Polizist angab, sein Leben bedroht gesehen zu haben. West-Berliner Rettungskräfte konnten in vielen Fällen nicht zu den verletzten Personen vordringen, weil sich diese auf dem Staatsgebiet der DDR oder in Ost-Berlin befanden. Es gab keine Genehmigung, dieses Territorium zu betreten, sodass für die Rettungskräfte Lebensgefahr bestanden hätte. Die vier Kinder Çetin Mert, Cengaver Katrancı, Siegfried Kroboth und Giuseppe Savoca, die zwischen 1972 und 1975 am Gröbenufer der Spree ins Wasser fielen, konnten nicht gerettet werden, obwohl West-Berliner Rettungskräfte schnell vor Ort waren. Im April 1983 verstarb der Transitreisende Rudolf Burkert während eines Verhörs am Grenzübergang Drewitz an einem Herzinfarkt. Eine spätere Obduktion in der Bundesrepublik stellte auch äußere Verletzungen fest, sodass Gewalteinwirkung nicht ausgeschlossen werden konnte. Dies führte neben negativen Presseberichten auch zur Intervention durch Helmut Kohl und Franz Josef Strauß. Für anstehende Staatskredite wurde der DDR die Bedingung aufgelegt, die Grenzkontrollen menschenwürdig durchzuführen. Zwei weitere Todesfälle West-Deutscher im Transitverkehr kurz nach dem Tod Burkerts lösten Demonstrationen gegen das DDR-Regime und eine breite Mediendiskussion aus. In der Folgezeit nahm die Kontrolltätigkeit im Transitverkehr ab. Reaktionen der West-Alliierten Nach bekannten Todesfällen protestierten die Westmächte bei der sowjetischen Regierung in Moskau. Auf Hilfegesuche reagierten die West-Alliierten in vielen ihnen bekannten Fällen nicht. Im Fall Peter Fechters gaben US-Soldaten vor Ort an, nicht in den Grenzbereich zu dürfen, obwohl ihnen dies in Uniform gestattet war. Generalmajor Albert Watson, damals amerikanischer Stadtkommandant, kontaktierte seine Vorgesetzten im Weißen Haus, ohne eine eindeutige Antwort zu bekommen. Watson sagte: „Dies ist ein Fall, für den ich keine Dienstvorschrift habe.“ Der US-Präsident John F. Kennedy war über den Vorfall beunruhigt und ließ dem US-Stadtkommandanten über seinen Sicherheitsberater McGeorge Bundy ausrichten, er solle einen weiteren Vorfall der Art verhindern. Bundy, der für einen ohnehin geplanten Besuch 1962 in Berlin war, teilte Willy Brandt mit, dass der Präsident Brandts Anstrengungen unterstütze. Kennedy machte Brandt und Adenauer jedoch klar, dass die Unterstützung der Vereinigten Staaten an der Berliner Mauer endete und es keine Anstrengungen zur Beseitigung der Mauer geben würde. Zehn Tage nach dem Tod Fechters kontaktierte Konrad Adenauer den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, um über ihn einen Brief an Nikita Chruschtschow zu senden. De Gaulle sagte seine Unterstützung zu. Die Stadtkommandanten der vier Sektoren kamen unter Beteiligung Willy Brandts zu der Vereinbarung, dass Militärkrankenwagen der West-Alliierten verletzte Personen aus dem Grenzbereich holen durften, um sie in ein Ost-Berliner Krankenhaus zu bringen. Feuerschutz aus West-Berlin für beschossene Flüchtlinge Wenn die Schüsse der DDR-Grenzsoldaten auf Flüchtlinge West-Berliner Polizisten, Feuerwehrleute, Anwohner und Zuschauer gefährdeten bzw. wenn diese auf West-Berliner Gebiet einschlugen, erwiderten West-Berliner Polizisten und in einem Fall Besatzungssoldaten das Feuer. In mehreren Fällen gelang eine Flucht im Feuerschutz aus West-Berlin. Das erste Mal beantwortete die West-Berliner Polizei am 4. Oktober 1961 das Feuer der DDR-Grenzer. Der beschossene Flüchtling namens Bernd Lünser sprang in höchster Not vom Dach eines fünfstöckigen Hauses in die Tiefe, verfehlte das von der West-Berliner Feuerwehr bereitgehaltene Sprungtuch knapp und starb. Am 17. April 1963 durchbrach der 19-jährige Wolfgang Engels mit einem gestohlenen Schützenpanzerwagen die Mauer. Vieles spricht dafür, dass die Flucht über die Mauer schließlich nur gelingen konnte, weil ein West-Berliner Polizeibeamter Feuerschutz gab. Am 23. Mai 1962 durchschwamm ein 14-jähriger Schüler den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, um in den Westen zu gelangen. Bis zu acht Grenzsoldaten schossen gezielt auf den im Wasser schwimmenden Jungen. Als er daraufhin leblos im Wasser Richtung Westufer trieb, beschossen sie ihn weiter, da sie „nicht feststellen konnten, ob er täuschte“. Eine Streife der West-Berliner Polizei erwiderte das Feuer der Grenzsoldaten. Dabei trafen den Grenzsoldaten Peter Göring drei Projektile; tödlich war ein Querschläger, der ihn traf, nachdem er seinen Grenzturm verlassen hatte. Ein weiterer Grenzsoldat wurde durch einen Oberschenkeldurchschuss schwer verletzt. Den von acht Schüssen lebensgefährlich getroffenen Jungen rettete die West-Berliner Polizei. Er war zum Invaliden geworden. Am 13. September 1964 versuchte der 21-jährige Michael Meyer in der Stallschreiberstraße in Berlin-Mitte die Mauer zu überwinden. Nach Warnschüssen schossen DDR-Grenzsoldaten gezielt und trafen West-Berliner Wohnhäuser; Meyer blieb – von fünf Kugeln schwer verletzt – in unmittelbarer Nähe der Mauer liegen. US-Soldaten und West-Berliner Polizisten gaben Feuerschutz; Volksarmisten besetzten Laufgräben im Todesstreifen und zwei ostdeutsche Schützenpanzerwagen fuhren in Position. Trotzdem gelang es einem Sergeant der US Army, Meyer mit Hilfe von Stricken und einer an die Mauer angelehnten Leiter nach West-Berlin zu ziehen. Als am 29. August 1966 der angetrunkene West-Berliner Heinz Schmidt den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal in Richtung Ost-Berlin durchschwamm und die Schüsse der DDR-Grenzer auf West-Berliner Gebiet einschlugen, gaben West-Berliner Polizisten keinen Feuerschutz. Schmidt starb, von fünf Kugeln tödlich getroffen. Gegen die Polizisten wurde Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gestellt. Bürgermeister und Innensenator Heinrich Albertz nahm sie in Schutz, weil sie die 150 Meter entfernten Treffer nicht hätten bemerken können. Öffentlicher Umgang mit den Todesopfern DDR-Regierung und Presse Offizielle Stellungnahmen zu den Todesfällen an der Mauer, im DDR-Sprachgebrauch als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet, und die Beiträge in den staatlich kontrollierten Medien stellten das Handeln der Grenztruppen als legitime Verteidigung der Grenze der DDR dar und diffamierten die Toten. Dabei sollen die Grenztruppen stets vorbildlich vorgegangen sein, als sie die Grenze angeblich vor Angriffen, Verbrechern, feindlichen Agenten und dem Westen schützten. Die Öffentlichkeitsarbeit wandelte sich mit der Zeit. In späteren Jahren versuchten die Behörden möglichst alle Informationen über Tote an der Berliner Mauer zu unterdrücken, insbesondere während Staatsbesuchen oder internationalen Messen. Der Regierung der DDR war bewusst, dass Berichte über Tote an den Grenzsicherungsanlagen das Ansehen der DDR im Inland und Ausland schädigten. Über die Stadtkommandanten der Alliierten wurden die Vorfälle international bekannt. Die Medien der DDR unterlagen einer strengen Kontrolle durch das MfS und die SED, die mit ihrem Zentralorgan, der Zeitung Neues Deutschland, über die zweitgrößte Tageszeitung der DDR verfügte. Auch im Deutschen Fernsehfunk, dem staatlichen Fernsehsender der DDR, hatte der Staat die Kontrolle über die Inhalte. Seine Medien nutzte der Staat, um die Maueropfer in seinem Sinn darzustellen. Zum Tod Peter Fechters 1962 kommentierte Karl-Eduard von Schnitzler in der Fernsehsendung Der schwarze Kanal: „Das Leben eines jeden Einzelnen unserer tapferen Jungen in Uniform ist uns mehr wert als das Leben eines Gesetzesbrechers. Soll man von unserer Staatsgrenze wegbleiben – dann kann man sich Blut, Tränen und Geschrei sparen.“ Neues Deutschland behauptete, Fechter sei von „Frontstadtbanditen“ in den Selbstmord getrieben worden. Weiterhin behauptete die Zeitung, dass Fechter homosexuell gewesen wäre. Günter Litfin war fälschlich als Homosexueller, Prostituierter und Verbrecher dargestellt. Auch in anderen Fällen stellten die Pressevertreter unwahre Behauptungen auf. Die Berliner Zeitung schrieb 1966 über Eduard Wroblewski, er sei ein Asozialer und als Fremdenlegionär wegen schwerer Verbrechen im Bezirk Halle zur Fahndung ausgeschrieben gewesen. Dies waren aber Anschuldigungen ohne Grundlage. Im Dienst getötete Grenzsoldaten wurden hingegen unabhängig von den tatsächlichen Umständen ihres Todes zu Helden hochstilisiert. Sie wurden unter großer medialer Aufmerksamkeit in Staatsbegräbnissen beigesetzt. Pioniergruppen nahmen an den zum Teil offenen Särgen Abschied. Verantwortlich für ihren Tod waren stets feindliche Agenten, auch wenn spätere Untersuchungen ergaben, dass sie in etwa der Hälfte der Fälle von eigenen Kameraden versehentlich erschossen wurden. Nach dem Tod von Egon Schultz durch die Waffe eines Kameraden verbreitete das MfS die Nachricht, der Fluchthelfer Christian Zobel sei für den Tod verantwortlich gewesen. Zobel hatte zwar auf Schultz geschossen, aber nicht gesehen, ob er getroffen hatte. Er verstarb bereits vor der Wende, sodass er nichts mehr von der Manipulation erfuhr. Die Propaganda nutzte die Fälle auch, um Fluchthilfegruppen zu diffamieren. Beispielsweise wurde für den Tod von Siegfried Widera die Girrmann-Gruppe (bezeichnet als „Girrmann-Banditen“) verantwortlich gemacht. Diese Gruppe hatte keine Verbindung zu dem Vorfall, verhalf aber mehreren hundert DDR-Bürgern zur Flucht. Zu Ehren der getöteten Grenzsoldaten wurden Straßen, Schulen, Pioniergruppen und Plätze nach ihnen benannt. In Berlin wurden mehrere Denkmäler und Gedenktafeln aufgestellt. An diesen fanden jährlich Gedenkfeiern statt, an denen sich auch die Freie Deutsche Jugend beteiligte. Direkte Äußerungen der Staatsführung zu den Schüssen an der Berliner Mauer waren selten. Während der Leipziger Messe gelang es am 5. September 1976 zwei westdeutschen Reportern, Erich Honecker Fragen zu den Mauerschüssen zu stellen. Auf die Frage, ob es möglich sei, auf die Schüsse zu verzichten, antwortete Honecker zunächst ausweichend: „Wissen Sie, ich möchte nicht über die Schüsse sprechen, denn in der Bundesrepublik fallen soviel Schüsse täglich, wöchentlich, monatlich, die möchte ich nicht abzählen.“ Auf die Nachfrage, ob eine Einigung mit der BRD über einen Verzicht auf die Schüsse möglich sei, stellte Honecker fest: „Das Wichtigste ist, man darf an der Grenze nicht provozieren, und wenn man an der Grenze nicht provoziert, dann wird es ganz normal sein. Es war lange Zeit normal, und es wird auch in Zukunft so sein.“ West-Berliner Senat und Presse Vertreter des Abgeordnetenhauses und der Regierende Bürgermeister veröffentlichten bei Todesfällen Stellungnahmen, die ihre Empörung über die Toten, die Mauer und die Zustände in der DDR ausdrückten. Der West-Berliner Senat ersuchte in einigen Fällen den jeweils zuständigen amerikanischen, britischen oder französischen Stadtkommandanten, Protest bei den sowjetischen Stellen einzulegen. Bis Ende der 1960er-Jahre verwendeten West-Berliner Politiker den Begriff „Schandmauer“ oder „Mauer der Schande“ als Bezeichnung für die Mauer. Die Volksvertreter übernahmen gegenüber der Presse auch falsch dargestellte Vorkommnisse und stellten Organe der DDR als verantwortlich dar. Nachdem Rudolf Müller den Grenzsoldaten Reinhold Huhn erschossen hatte und durch einen selbst gegrabenen Tunnel in den Westen geflohen war, gab Egon Bahr, damals Senatssprecher, bekannt, Müller hätte Huhn nur einen „Uppercut versetzt“. Auch die westliche Presse übernahm Müllers falsche Darstellung und titelte „Schießwütige Vopos töteten eigenen Posten“. In anderen Fällen veröffentlichte die Presse, insbesondere das Boulevard-Segment, Berichte in drastischer Sprache, in denen sie die Mauer und die Verantwortlichen anklagten. So titelte die Boulevard-Zeitung B.Z. nach Günter Litfins Tod: „Ulbrichts Menschenjäger wurden zu Mördern!“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb von der „brutale[n] Kaltblütigkeit“ der Grenzer. Bundesrepublik Deutschland Die Bundespolitik nahm anfänglich regelmäßig Stellung zu Todesfällen an der Mauer. Bei der Rede zum Tag der Deutschen Einheit 1962 verurteilte Konrad Adenauer die Schüsse an der Mauer und nannte Namen von Mauertoten. Im Zuge der Neuen Ostpolitik des Kabinetts von Bundeskanzler Willy Brandt, der von 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister von Berlin war, änderte sich ab 1969 das Verhalten auf Bundesebene. Es zeigte sich eine größere sprachliche Zurückhaltung in Stellungnahmen zur Berliner Mauer und zu den Mauertoten, um die Annäherung an die DDR nicht zu gefährden. Die bundesdeutsche Regierung sah die Mauertoten als belastend für die innerdeutschen Beziehungen an. Es gab Forderungen, die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, die im November 1961 eingerichtet worden war, um bekannte Verbrechen in der DDR zu erfassen, abzuschaffen, um die innerdeutschen Beziehungen zu verbessern. Auch nach einer Protestwelle nach mehreren natürlichen Todesfällen bei Grenzkontrollen 1983 blieben die offiziellen Stellungnahmen der Bundesregierung meist zurückhaltend, während in Verhandlungen mit der DDR hinter verschlossenen Türen eindeutige Forderungen gestellt wurden. Im Juni 1983 äußerte sich Bundeskanzler Helmut Kohl zu den Fällen: Juristische Aufarbeitung Während der deutschen Teilung Während der deutschen Teilung blieben Grenzsoldaten der DDR juristisch unbehelligt. Sie hatten ihren Dienst im Sinne der DDR-Regierung und der Justiz vollzogen. Auf westlicher Seite nahmen die Staatsanwaltschaft Berlin und die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter Ermittlungen auf, die sich aber meist gegen unbekannte Personen in der DDR richteten und während der deutschen Teilung nicht verfolgt werden konnten. Eine Zusammenarbeit zwischen den Behörden beider deutscher Staaten bis hin zu Auslieferungen bestand nicht. Vereinzelt gab es Verfahren gegen Täter, die in den Westen flohen. Wegen des Tods des Grenzsoldaten Ulrich Steinhauer gab es 1981 einen Prozess gegen den fahnenflüchtigen Schützen, der unter Anwendung des Jugendstrafrechts mit einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren endete. Gegen Rudolf Müller, der 1962 den Grenzsoldaten Reinhold Huhn erschoss, als er seine Familie durch einen Tunnel aus der DDR holte, wurde erst nach dem Mauerfall Anklage erhoben. Nach der Aussage Müllers war ein anderer Grenzsoldat für den Tod verantwortlich. Nach dem Ende der DDR Die juristische Aufarbeitung der Mauerschüsse fand nach der deutschen Wiedervereinigung in den „Politbüro“- und „Mauerschützenprozessen“ statt und wurde im Herbst 2004 abgeschlossen. Zu den angeklagten Verantwortlichen gehörten unter anderem der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, sein Nachfolger Egon Krenz, die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates Erich Mielke, Willi Stoph, Heinz Keßler, Fritz Streletz und Hans Albrecht, der SED-Bezirkschef von Suhl sowie einige Generäle wie der Chef der Grenztruppen (1979–1990), Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten. Das Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 2 GG, wurde durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 (2 BvR 1851/94) eingeschränkt für den Fall, dass von staatlicher Seite die von der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet wurden. Diese Entscheidung ermöglichte die Prozesse gegen die mutmaßlichen Mauerschützen. In 112 Verfahren mussten sich 246 Personen vor dem Landgericht Berlin als Schützen oder Tatbeteiligte verantworten. Für etwa die Hälfte der Angeklagten endeten die Verfahren mit einem Freispruch. Insgesamt 132 Angeklagte verurteilte das Gericht zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen. Darunter waren 10 Mitglieder der SED-Führung, 42 führende Militärs und 80 ehemalige Grenzsoldaten in Mannschaftsdienstgraden. Vor dem Landgericht Neuruppin waren 19 Verfahren mit 31 Angeklagten anhängig, die für 19 Todesschützen mit Bewährungsstrafen endeten. Für den juristisch als Mord bewerteten Tod von Walter Kittel wurde der Mörder mit der längsten Freiheitsstrafe von 10 Jahren belegt. Im Allgemeinen bekamen die Todesschützen Strafen zwischen 6 und 24 Monaten auf Bewährung während die Befehlshabenden mit zunehmender Verantwortung höhere Strafen bekamen. Im August 2004 wurden Hans-Joachim Böhme und Werner Lorenz vom Landgericht Berlin als ehemalige Politbüro-Mitglieder zu Bewährungsstrafen verurteilt. Der letzte Prozess gegen DDR-Grenzsoldaten ging am 9. November 2004 – genau 15 Jahre nach dem Fall der Mauer – mit einem Schuldspruch zu Ende. Politische Bewertung nach der Deutschen Wiedervereinigung Nach der Wiedervereinigung nahm der Vorstand der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), Rechtsnachfolgerin der SED, zum 40. Jahrestag des Mauerbaus 2001 Stellung zu den Todesfällen und erklärte: „Es gibt keine Rechtfertigung für die Toten an der Mauer.“ Durch den Zusammenschluss der PDS mit der WASG entstand 2007 die Partei Die Linke. Die Linke äußert sich zu den Mauertoten wie folgt: „Die Schüsse an der Mauer auf eigene Bürgerinnen und Bürger, die ihren Staat verlassen wollten, stellen eine Verletzung elementarer Menschenrechte dar und sind durch nichts zu rechtfertigen.“ Forschungsstand Datensammlung während der deutschen Teilung Verschiedene Behörden in West-Berlin und der Bundesrepublik sammelten während der deutschen Teilung Erkenntnisse über Personen, die an der innerdeutschen und der Grenze zu West-Berlin ums Leben kamen. Bei der West-Berliner Polizei war die Staatsschutzabteilung für die Registrierung bekannter Vorfälle zuständig. Die Aufzeichnungen unterscheiden zwischen Personen, die an der Außengrenze West-Berlins ums Leben kamen (80 Fälle), unklaren Fällen (darunter 5 mögliche Maueropfer) und erschossenen Grenzsoldaten (7 Fälle). Eine weitere staatliche Stelle war die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, die auch beauftragt war, Hinweise auf vollendete oder versuchte Tötungshandlungen in der DDR zu sammeln. 1991 veröffentlichte sie den „Salzgitter-Report“ mit den Namen von 78 Todesopfern. Die Daten galten als vorläufig, weil die Erfassungsstelle keinen Zugang zu Archiven der DDR hatte. Beide Stellen listeten hauptsächlich Vorfälle, die von West-Berlin aus beobachtet werden konnten oder von denen entweder Flüchtlinge oder übergelaufene Grenzsoldaten berichteten. Untersuchungen nach dem Ende der DDR Mit der deutschen Wiedervereinigung begannen verschiedene Organisationen und Einzelpersonen die Geschichte der Maueropfer zu erforschen. Darunter waren sowohl staatliche Stellen wie die Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) als auch wissenschaftliche Projekte und verschiedene Buchautoren. Die ZERV glich die Daten der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter mit Funden in DDR-Archiven ab und erfasste 2000 insgesamt 122 Verdachtsfälle der Tötung durch Organe der DDR an der Grenze zu West-Berlin. Diese Liste war eine Vorermittlung für die Staatsanwaltschaften in Berlin und Neuruppin, die sich anschließend mit der juristischen Aufarbeitung befassten. Zwei andere Projekte, das der Arbeitsgemeinschaft 13. August und des Zentrums für Zeithistorische Forschung, erlangten besondere öffentliche Aufmerksamkeit. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August sammelt Informationen über Opfer an allen Außengrenzen der DDR einschließlich der Ostsee. An dem Projekt nehmen keine professionellen Historiker teil. Die von der Arbeitsgemeinschaft als vorläufig bezeichneten Ergebnisse werden jährlich auf Pressekonferenzen am 13. August vorgestellt. In die Listen werden immer wieder neue Fälle aufgenommen und alte gestrichen. Am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam leiteten Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke von Oktober 2005 bis Dezember 2007 ein öffentlich gefördertes Forschungsprojekt. Das Ziel war die Ermittlung der genauen Zahl der Maueropfer und die öffentlich zugängliche Dokumentation der Geschichten der Opfer. Gefördert wurde das Projekt von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Deutschlandradio und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Die Ergebnisse des Projekts werden im Internet unter www.chronik-der-mauer.de und in dem 2009 erschienenen Buch Todesopfer an der Berliner Mauer veröffentlicht. Beschrieben sind jeweils die Biografie der Opfer, ihre Todesumstände und die verwendeten Quellen. In der Bilanz des Projekts vom 7. August 2008 wurde dargelegt, dass von den 575 überprüften Fällen 136 die vom ZZF entwickelten Kriterien eines Maueropfers erfüllen. Weiterhin wurden 251 Fälle identifiziert, bei denen Menschen im Umfeld von Kontrollen an Grenzübergängen in Berlin starben. Die Untersuchung der natürlichen Todesfälle ist noch nicht systematisch abgeschlossen. Von den Berichten der Transportpolizei ist etwa ein Drittel nicht mehr vorhanden, vor allem aus den 1970ern fehlen ganze Jahrgänge. Die alternative Auswertung sämtlicher Tagesberichte der Grenztruppen zum Geschehen an allen überwachten Bereichen war aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich. Kontroverse um die Opferzahlen Die genauen Opferzahlen sind nicht bekannt. Angaben der verschiedenen Untersuchungen widersprechen sich zum Teil, sind aber nicht immer vergleichbar, weil unterschiedliche Definitionen der zu erfassenden Fälle angewandt werden. Zudem veröffentlichen nicht alle Organisationen regelmäßig ihre Zahlen oder haben ihre Untersuchungen mit einem vorläufigen Stand beendet. Zwischen den beiden Projekten der Arbeitsgemeinschaft 13. August und Hans-Hermann Hertle (ZZF) besteht eine öffentlich ausgetragene Kontroverse, in deren Mittelpunkt die Anzahl der Maueropfer steht. Diese liegt bei der Arbeitsgemeinschaft höher als beim ZZF. Die Publikationen der Arbeitsgemeinschaft schließen nach Hertle auch Opfer ein, bei denen ein Zusammenhang mit dem Grenzregime nicht sicher nachgewiesen ist. Gegen das Projekt des ZZF erhebt Alexandra Hildebrandt von der Arbeitsgemeinschaft seit der Zwischenbilanz des Projekts im August 2006 den Vorwurf, die Zahl der Opfer für ein positiveres Bild der DDR absichtlich kleinzurechnen. Grund sei die Zuteilung von Forschungsgeldern durch den Berliner Senat, der während des ZZF-Projekts von einer Koalition aus SPD und Die Linke geführt wurde. 2008 gab die Arbeitsgemeinschaft 13. August bekannt, dass nach 1961 insgesamt 222 Menschen infolge der Berliner Mauer starben. Hertle bezweifelte diese Angaben, da einige der als tot gelisteten Personen ihre Flucht nachweislich überlebten. 2006 seien auf der Liste 36 überlebende Personen gewesen. Außerdem enthalte die Liste einzelne Opfer doppelt. Hans-Hermann Hertle bewertet die Opferliste der Arbeitsgemeinschaft 13. August als „eine umfangreiche Aufstellung von Verdachtsfällen“, die einen „wissenschaftlich überprüfbaren Maßstab verfehlt“. Berlins regierender Bürgermeister Klaus Wowereit kommentierte den Streit am 13. August 2009 mit „Jeder einzelne Tote war zu viel.“ 2009 gab Hildebrandt die Anzahl der Mauertoten mit 245 an. Sie zählte dabei auch ungeklärte Leichenfunde in Grenzgewässern und Angehörige der Grenztruppen mit, die Suizid begingen. Nach ihrer Argumentation war ein DDR-Offizier, der Selbstmord beging, das erste Maueropfer und nicht Ida Siekmann. Weiterhin unterscheiden sich die Erkenntnisse von Hertle und Hildebrandt hinsichtlich der Personen, die während einer Grenzkontrolle eines natürlichen Todes starben. Hertle, der Zugang zu den unvollständigen Akten der Transportpolizei hatte, zählt 251 dieser Fälle, während Hildebrandt auf 38 kommt. Quellenlage Die Erkenntnisse über Maueropfer werden hauptsächlich in behördlichen und militärischen Archiven der Bundesrepublik und der DDR gewonnen. Die Akten des MfS, die von der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) verwaltet werden, sind nicht vollständig zugänglich. Teile, insbesondere aus den späteren Jahrgängen, wurden im Zuge der Auflösung des Ministeriums zerstört, andere Teile sind noch nicht gesichtet. Hinzu kommt, dass wegen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes viele Akten nicht im Original, sondern nur in teils anonymisierten Auszügen eingesehen werden können. Seit einer Novellierung des Gesetzes im Jahr 2007 können Forschungsprojekte unter bestimmten Bedingungen direkte Einsicht nehmen. Die Akten der Grenztruppen, die Teil der NVA waren, liegen beim Bundesarchiv-Militärarchiv. Bei der Auswertung der Akten von Grenztruppen, Staatssicherheit und westlichen Behörden müssen laut Hertle den „Wertungen, Interessen und Zwänge[n] der Akten führenden Behörden und somit den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen“ Rechnung getragen werden. Die Familien der Toten sind eine weitere Quelle, können aber nur selten zu den direkten Geschehnissen Angaben machen, da sie das MfS oftmals mit falschen Informationen versorgte. Auswahlkriterien Jede Untersuchung hatte ihre eigenen Kriterien bei der Auswahl, welche Fälle zu den Maueropfern zu zählen sind. Während die Untersuchungen des ZERV hauptsächlich auf eine juristisch verwertbare Schuld ausgerichtet waren, entwickelten sowohl das ZZF als auch die Arbeitsgemeinschaft 13. August eigene Kriterien, die über die juristische Schuldfrage hinausgehen. Das ZFF setzte einen Fluchthintergrund oder einen sowohl zeitlichen als auch räumlichen Zusammenhang zum Grenzregime voraus. Aus den untersuchten Fällen entwickelte das ZZF fünf Fallgruppen: Personen, die bei einem Fluchtversuch von bewaffneten Organen der DDR oder durch die Grenzeinrichtungen getötet wurden, Personen, die bei einem Fluchtversuch im Grenzgebiet durch einen Unfall starben, Personen, die im Bereich der Grenze starben und für deren Tod staatliche Organe der DDR durch Handeln oder Unterlassen verantwortlich waren, Personen, die durch oder bei Handlungen der Grenzorgane zu Tode kamen, Grenzsoldaten, die bei einer Fluchtaktion im Grenzgebiet getötet wurden. Die Definition der Arbeitsgemeinschaft 13. August geht weiter. Bei ihr gehören auch Grenzsoldaten der DDR, die Selbstmord begingen, und ungeklärte Leichenfunde in Grenzgewässern zu den Todesopfern der Berliner Mauer. Gedenken Der Todesopfer der Berliner Mauer wurde sowohl während der deutschen Teilung als auch nach dem Ende der DDR öffentlich gedacht. Es gibt verschiedene Gedenkstätten und Gedenkveranstaltungen. Zum Teil wurden Straßen und Plätze nach den Toten benannt. Gedenkstätten Zur Erinnerung an die Maueropfer errichteten private Initiativen und öffentliche Stellen auf Beschluss der Bezirke Berlins, des Abgeordnetenhauses oder der Bundesregierung seit den Anfangsjahren der Mauer Gedenkstätten, die über das Stadtgebiet von Berlin verteilt sind. Dazu gehören Denkmäler, Kreuze und Gedenksteine, die auch von Politikern während Staatsbesuchen besichtigt wurden. Mit den Grenzanlagen wurden nach dem Mauerfall auch Teile der Denkmäler entfernt. Dies betraf insbesondere Denkmäler für gefallene Grenzsoldaten der DDR. Nach jedem Toten stellte der private Berliner Bürger-Verein mit Unterstützung des West-Berliner Senats ab 1961 weiß lackierte Holzkreuze am Ort des Geschehens auf. Diese Praxis behielten die Vereinsmitglieder bei, bis sie am 10. Jahrestag des Mauerbaus, dem 13. August 1971, die dauerhafte Gedenkstätte Weiße Kreuze an der Ostseite des Reichstagsgebäudes einrichteten. An einem Zaun vor der Mauer waren Gedenkkreuze mit den Namen und Sterbedaten verschiedener Todesopfer angebracht. Im Zuge von Bauarbeiten wegen des Regierungsumzugs nach Berlin mussten die weißen Kreuze 1995 von der Ostseite des Reichstags verlegt werden. Der neue Standort liegt an der Westseite des Gebäudes an einem Zaun des Tiergartens. 2003 eröffnete Wolfgang Thierse eine neue Gedenkstätte nach einem Entwurf von Jan Wehberg mit dem gleichen Namen am Reichstagufer. Auf sieben beidseitig beschrifteten Kreuzen sind die Namen von 13 Mauertoten genannt. Eine weitere Gedenkstätte des Bürger-Vereins befand sich in der Bernauer Straße. An unterschiedliche Maueropfer erinnern Gedenkplatten, die in Gehsteige eingelassen sind, und andere Installationen in der Nähe ihres Sterbeortes. Am Checkpoint Charlie errichtete die Arbeitsgemeinschaft 13. August im Oktober 2004 das Freiheitsmahnmal, das mit 1067 Kreuzen an die Todesopfer der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze erinnerte. Das Mahnmal musste nach etwa einem halben Jahr wieder entfernt werden, weil der Grundstückseigner den Pachtvertrag der Arbeitsgemeinschaft kündigte. Der Aktionskünstler Ben Wagin richtete 1990 zusammen mit anderen Künstlern das Parlament der Bäume im ehemaligen Todesstreifen am östlichen Ufer der Spree, gegenüber dem Reichstag ein. Auf Granitplatten sind 258 Mauertoten aufgeführt. Bei einigen ist neben der Bemerkung Unbekannter Mann oder Unbekannte Frau nur ein Todesdatum genannt. Die 1990 erstellte Sammlung enthält Personen, die später als Mauertote ausgeschlossen wurden. Im Hintergrund stehen schwarz-weiß bemalte Mauersegmente. Für den Bau des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses musste die Gedenkstätte verkleinert werden. Im Untergeschoss des Bundestagsgebäudes wurde 2005 eine weitere Gedenkstätte eröffnet. Diese verwendet Mauersegmente des ursprünglichen Parlaments der Bäume. Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin errichteten 1998 die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße als nationales Denkmal. Das Denkmal geht auf einen Entwurf der Architekten Kohlhoff & Kohlhoff zurück. Es wurde später erweitert und umfasst heute das Dokumentationszentrum Berliner Mauer, ein Besucherzentrum, die Kapelle der Versöhnung, das Fenster des Gedenkens mit Porträts der Todesopfer der Berliner Mauer und ein sechzig Meter langes Teilstück der ehemaligen Grenzanlagen, das an beiden Enden mit Stahlwänden abgeschlossen ist. Die nördliche Wand trägt die Inschrift: „In Erinnerung an die Teilung der Stadt vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 und zum Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft“. Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus 2011 errichtete die Stiftung Berliner Mauer 29 Stelen, die an 50 Maueropfer erinnern, entlang der ehemaligen Grenze zwischen West-Berlin und der DDR. Neben den 3,6 m hohen, orangenfarbigen Säulen informieren Infotafeln über die Mauertoten. Eine geplante Stele in Sacrow für Lothar Hennig wurde zunächst nicht errichtet, da Hennig wegen seiner Tätigkeit als IM für das MfS umstritten ist. Gedenkveranstaltungen Verschiedene Organisationen – zum größten Teil Vereine oder private Initiativen – führten seit den ersten Todesfällen jährlich Gedenkveranstaltungen in Berlin durch, meist am Jahrestag des Mauerbaus. Diese wurden zum Teil von den Bezirksämtern West-Berlins oder durch das Senatsprotokoll unterstützt. So gab es jeden 13. August zwischen 20 und 21 Uhr die „Stunde der Stille“ zur stillen Andacht. Seit dem 13. August 1990 erinnert das Land Berlin jährlich am Peter-Fechter-Kreuz in der Zimmerstraße nahe dem Checkpoint Charlie an die Mauertoten. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Gedenkfeiern an unterschiedlichen Orten. Auch im Ausland fanden am Tag des Mauerbaus Gedenkveranstaltungen für die Todesopfer und Proteste gegen die Berliner Mauer statt. Siehe auch Todesopfer des DDR-Grenzregimes mit weiterführenden Einzellisten Literatur Pertti Ahonen: Death at the Berlin Wall. Oxford University Press, Oxford 2011, ISBN 978-0-19-954630-5. Werner Filmer, Heribert Schwan: Opfer der Mauer. Bertelsmann, München 1991, ISBN 3-570-02319-2 Patrick Major: Behind the Berlin Wall: East Germany and the Frontiers of Power. Oxford University Press, 2009, ISBN 978-0-19-924328-0. Maria Nooke, Hans-Hermann Hertle: Die Todesopfer am Außenring der Berliner Mauer 1961–1989. ISBN 978-3-00-040791-8. Heiner Sauer, Hans-Otto Plumeyer: Der Salzgitter-Report. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat. München 1991, ISBN 3-7628-0497-4 Weblinks Dirk Simon: Der Fall B., Dokumentarfilm auf Vimeo Einzelnachweise Politikgeschichte (Berlin) Flüchtlingsthematik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mathias%20Metternich
Mathias Metternich
Mathias Metternich (* 8. Mai 1747 in Steinefrenz, Kurfürstentum Trier; † 28. Oktober 1825 in Mainz, Großherzogtum Hessen) war Mathematiker sowie revolutionärer Politiker und Publizist. Metternich war Professor für Mathematik und Physik an der Kurfürstlichen Universität zu Mainz. Seine Studien, bei denen er zum Doktor der Philosophie promoviert wurde, betrieb er an der Kurfürstlichen Universität in Mainz und später an der Universität Göttingen, wo er unter anderem Student bei Abraham Gotthelf Kästner und Georg Christoph Lichtenberg war. Spätestens ab 1789 sympathisierte er mit den Ideen der Französischen Revolution und betätigte sich im folgenden Jahrzehnt vornehmlich als revolutionärer Politiker und Publizist in Mainz und Südwestdeutschland. So war er im Oktober 1792 Mitbegründer des überregional einflussreichen Mainzer Jakobinerklubs und einer der bedeutendsten Klubisten der Mainzer Republik 1792/93. 1793 war Metternich kurzzeitig Vizepräsident des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents, des Parlaments der Mainzer Republik. Trotz Metternichs zahlreich publizierter Werke als Mathematiker und Physiker wird in der Rezeption seines Lebenswerks vornehmlich seine Rolle als revolutionärer Politiker und Publizist während der 1780er und 1790er Jahre gewürdigt. Leben Herkunft und Ausbildung Mathias Metternich wurde im nahe bei Montabaur im Westerwald liegenden kurtrierischen Steinefrenz geboren. Die Familie Metternich, die nicht mit dem gleichnamigen rheinländischen Adelsgeschlecht von Metternich verwandt war, lebte dort als eine seit dem 17. Jahrhundert ansässige Bauernfamilie, die über mehrere Generationen das Amt des Ortsvorstehers ausübte und damit zum kleinbürgerlich-bäuerlichen Milieu gehörte. Gefördert wurde der junge Metternich durch einen adeligen Gönner, ein Mitglied der kurtrierischen Grafenfamilie von Walderdorff, der gleichzeitig auch Amtmann in Montabaur war. Wahrscheinlich handelte es sich um Carl Anton von Walderdorff, der Oberamtmann in Montabaur war. Metternich wurde damit der Besuch des Jesuitengymnasiums in Hadamar ermöglicht. Anfang der 1770er Jahre kam er mittellos, aber mit einem Empfehlungsschreiben seines adligen Gönners nach Mainz. Sein anfänglich einfaches bäuerliches Erscheinungsbild wurde nach 1793 Gegenstand einer gegen Metternich gerichteten politischen Kampagne. Der Chronist Anton Joseph Hoffmann verspottete Metternich als „bäuerlich-plebejische Kanaille“ und schrieb weiter: . Trotzdem war Metternich 1771/1772 Volksschullehrerkandidat für das „Normalinistitut“ (Normalschule), die Institution im kurfürstlichen Mainz, die für die Lehrerausbildung zuständig war. 1773/1774 war er nach erfolgreicher Ausbildung Elementarschullehrer an der Pfarrschule St. Emmeran und St. Quintin. 1774 starb der reformfreudige und liberale Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim und es kam unter seinem Nachfolger, Friedrich Karl Joseph von Erthal, in Mainz zu der „Antireform-Kampagne“. Die Normalschule wurde von den kurfürstlichen Behörden kurzzeitig geschlossen, vorherige Reformen teilweise zurückgesetzt. Wie einige andere Lehrer verlor auch Metternich seine Stelle als Lehrer. Indizien deuten darauf hin, dass sich Metternich bereits damals politisch betätigte und seine Entlassung mit seinem Engagement zusammenhing. Ab 1780 übte Metternich allerdings wieder eine Lehrtätigkeit im Fach Mathematik an der Normalschule aus. Nach 1775, möglicherweise erst ab 1780, studierte Metternich zusätzlich an der Universität Mainz Mathematik. Ab 1784 setzte er an der Universität Göttingen seine Mathematik- und Physikstudien fort. Dort war er Schüler Abraham Gotthelf Kästners und Georg Christoph Lichtenbergs, die zu dieser Zeit sowohl als Kapazitäten auf den Gebieten Mathematik und Physik als auch als fortschrittliche Aufklärer im Rahmen der Göttinger Kant-Schule galten. Für das Jahr 1786 ist eine Promotion über das Thema Reibung an der kurmainzischen Universität zu Erfurt bekannt. Metternich wurde zum doctor philosophiae promoviert. Nach seiner Promotion wurde er 1786 neben Rudolf Eickemeyer zum außerordentlichen Professor für Mathematik und Physik an die kurfürstliche Universität Mainz berufen, wo er der Philosophischen Fakultät angehörte. Ab 1786 war Metternich auch Mitglied der Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften und beschäftigte sich im Rahmen seiner Mitgliedschaft mit naturwissenschaftlichen Studien. Tätigkeit als Universitätsprofessor Über die ersten Jahre als Universitätsprofessor ist wenig bekannt. Metternich trat der Gruppe der Mainzer Illuminaten bei und war außerdem Mitglied der Mainzer Gelehrten Lesegesellschaft, einer für die Aufklärungszeit typischen Institution. Dort entstand bereits ein intensiver Gedankenaustausch zu anderen Mitgliedern der Lesegesellschaft, wie Felix Anton Blau oder Anton Joseph Dorsch, die später ebenfalls als Jakobiner Karriere machten. Auch Rudolf Eickemeyer lernte er bei diesen Zusammenkünften kennen. Zu Beginn seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor und später, nach seinem Rückzug aus dem öffentlichen Leben, widmete er sich der Publikation von Fachbüchern zu mathematischen Themen. Mit der Abhandlung Von dem Widerstande der Reibung gewann er bereits 1789 den Preis der Societas Jablonoviana. Seine ersten Werke vor 1792 sind noch dem Kurfürsten von Mainz, seinem „… hochwürdigsten Fürsten und Herrn …“, gewidmet. Bereits ab 1789 sympathisierte Metternich mit den Gedanken und Zielen der Französischen Revolution. Er traf sich regelmäßig mit gleichgesinnten Oppositionellen in einem weiteren Zirkel. Auch in der Gelehrten Lesegesellschaft gab er sich nun offen als Revolutionsanhänger zu erkennen. Als diese sich 1791 aufgrund inhaltlicher Differenzen ihrer Mitglieder zu Fragen der Französischen Revolution spaltete, waren Metternich und sein Kollege Andreas Joseph Hofmann federführend bei der Aufteilung der Lesegesellschaft in eine Aristokratische und eine Demokratische Lesegesellschaft. Metternich verbreitete zu dieser Zeit offen revolutionäres Gedankengut bei seinen Studenten, genauso wie die Universitätsprofessoren Hofmann und Georg von Wedekind. Trotz Denunziation und Anklage bei der kurfürstlichen Obrigkeit hatte dies aber keine Folgen für Metternich. Politische Aktivitäten 1792/1793 Bereits Tage vor dem Einzug der französischen Armee am 21. Oktober 1792 trug Metternich durch Anstecken einer blau-rot-weißen Kokarde seine Gesinnung öffentlich zur Schau. Zusammen mit seinem Kollegen Wedekind und dem Hofgerichtsrat Hartmann führte er am 3. November 1792 einen Zug Gleichgesinnter durch Mainz und errichtete einen Freiheitsbaum. Mit der Flucht des Kurfürsten nach Aschaffenburg und dem Einzug der französischen Truppen trat Metternich zunehmend als Politiker vor und während der kurzlebigen Mainzer Republik in den Vordergrund. Metternich war einer der führenden Mainzer Jakobiner und gehörte damit der Gruppe von Anhängern der Revolution innerhalb und außerhalb Frankreichs an, die sich nach dem Kloster Saint-Jacques in Paris nannten. Er versuchte, mit einer Vielzahl von Reden, Flugschriften und einer eigenen Zeitung, dem Bürgerfreund, auch die Öffentlichkeit zu erreichen. Der Bürgerfreund erschien zweimal in der Woche; sie sollte den Menschen in allgemeinverständlicher Sprache Ziele und Gedanken der Revolution nahebringen und war gleichzeitig eine Agitationsplattform gegen das Ancien Régime. Die Zeitung erschien mit ihrer ersten Ausgabe bereits am 26. Oktober 1792, also kurz nach dem Einmarsch der französischen Truppen. Die letzte Ausgabe kam am 16. April 1793 heraus. Durch eine Initiative des Wormser Theologen, Kirchenrechtler und ehemaligen Universitätsprofessor Georg Wilhelm Böhmer angeregt, gründete er zusammen mit Wedekind, dem Kaufmann Patocki, Hofmann und circa 15 anderen Anwesenden, vornehmlich aus dem Mainzer Universitätsumfeld, den Mainzer Jakobinerklub, dessen Präsident er von Februar bis April 1793 war. Im März 1793 vertrat er Georg Forster als Vizepräsident des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents, des Parlaments der Mainzer Republik. Zudem war er Mitglied der Mainzer Munizipalität (Dezember 1792) und der zweiten Administration im französisch besetzten „Mayence“ (März 1793). Auch war sich Metternich nicht zu schade, den Kontakt zu der einfachen Bevölkerung zu suchen. Als führendes Mitglied des Jakobinerklubs und „Abstimmungskommissar“ besuchte er Ende Dezember 1792 zusammen mit anderen bekannten Jakobinern wie beispielsweise dem Mediziner Jacob Fidelis Ackermann Ortschaften rund um Mainz. Dort warb er für die Ideen der Französischen Revolution sowie konkreter für die Errichtung einer Republik nach Pariser Vorbild und die Annahme der fränkischen Konstitution. Die Stimmung in vielen Mainzer Vororten, die im Spätherbst 1792 noch überwiegend „revolutionäre Kirchweihfeste“ mit aufgestellten Freiheitsbäumen gefeiert hatten, hatte sich jedoch aufgrund des politischen Alltags verändert. Durch das Dekret des Pariser Konvents vom 15./22. Dezember 1792 trat an die Stelle der Selbstbestimmung der Zwang zur Freiheit. Dies bekam auch Metternich auf seinen Besuchen Ende 1792/Anfang 1793 zu spüren. Vielerorts wie beispielsweise in den Dörfern Bodenheim, Finthen und dem benachbarten Gonsenheim weigerten sich Dorfbewohner, vor ihm und den anderen Kommissaren für die Annahme der neuen fränkischen Ordnung und gegen das Ancien Règime zu schwören, und es kam zu Repressalien gegen die Bevölkerung. Metternichs Leben und Wirken nach der Rückeroberung von Mainz 1793 Die Rückeroberung von Mainz durch preußische Truppen und die damit verbundene Auflösung der Mainzer Republik waren ein Wendepunkt in Metternichs Leben. Metternich wurde am 23. Juli 1793 nach einem gescheiterten Fluchtversuch verhaftet. Er wurde misshandelt, des Hochverrats angeklagt und zur Haft auf die Festung Ehrenbreitstein verbracht. Während des französischen Vorstoßes im Februar 1794 wurde er aus Sicherheitsgründen zeitweise auf der Festung Petersberg in Erfurt inhaftiert. Als man ihn im Februar 1795 freiließ, wurde er nach Frankreich abgeschoben. Dort bemühte er sich – wohl vergeblich – um eine Rente von 300 Livres als politischer Flüchtling, die ihm aufgrund seiner politischen Tätigkeiten in Mainz 1792/1793 zugestanden hätte. Durch die Protektion des Direktoriumsmitglieds Jean François Reubell, den er seit dessen Aufenthalt in Mayence Anfang 1793 persönlich kannte, erhielt er jedoch Ende März 1795 eine Anstellung als Beamter in der Verwaltung der Quecksilberminen im besetzten linksrheinischen Gebiet. In dieser Zeit hielt Metternich engen Kontakt zu anderen deutschen Exilanten in Paris und zu Jakobinern in den Städten Köln und Bonn. Politisch engagierte er sich weiterhin mit der Herausgabe von revolutionsfreundlichen Schriften und Zeitungen. Die ab dem 21. Januar 1796 in Straßburg publizierte Zeitung Rheinische Zeitung war ein Gemeinschaftsprojekt von Metternich und Christoph Friedrich Cotta, ebenfalls einem Mainzer Emigranten. Die Zeitung wurde bereits am 30. Juni 1796 wieder eingestellt, da sowohl Metternich als auch Cotta Straßburg verließen, um sich im Südwesten Deutschlands an Vorbereitungen zu einem Aufstand zu beteiligen. Dieser sollte die französische Partei im Rahmen des „Süddeutschen Feldzugs“ unterstützen, der während der Kämpfe der Ersten Koalition stattfand. Möglicherweise war Metternich zu diesem Zeitpunkt auch konspirativ für die Franzosen auf dem Reichsgebiet tätig und hatte als französischer Unterkommissar Kontakt zu dem ihm persönlich bekannten Rudolf Eickemeyer, der sich zu diesem Zeitpunkt bei der Armee Jean-Victor Moreaus aufhielt. Als er im Oktober 1796 bei Frankenthal einer österreichischen Reiterpatrouille der Reichstruppen in die Hände fiel, wurde er sofort verhaftet. Nachdem man ihn am 12. Oktober 1796 in Mainz auf dem Schlossplatz öffentlich zur Schau gestellt hatte, blieb er bis zum April 1797 als Geisel relativ unbehelligt in Festungshaft. Seine Freilassung erfolgte gemäß Artikel 9 der am 18. April abgeschlossenen Leobener Präliminarien, der die Freilassung Gefangener beider Seiten regelte. Sie führten im Oktober des Jahres zum Frieden von Campo Formio. Metternich betätigte sich nochmals politisch, als er 1797/1798 in Bingen die Cisrhenanische Bewegung mit Aufrufen und der Herausgabe verschiedener Zeitungen wie beispielsweise der Politischen Unterhaltungen am linken Rheinufer unterstützte. Metternich galt mit Joseph Görres in Koblenz, Michael Venedey in Aachen und Franz Gall in Bonn als einer der prominentesten und engagiertesten Unterstützer der Cisrhenanenbewegung. In einem anonymen, Metternich aber bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zugeschriebenen und im Rheinland weit verbreiteten Flugblatt wandte er sich An die Bewohner des linken Rheinufers: Diese Schrift gilt als bedeutendstes Dokument aus der Konstitutionsphase der Cisrhenanischen Bewegung dieser Zeit. Als am 30. Dezember 1797 „Mayence“ zum vierten Mal französisch wurde, kehrte Metternich im Januar 1798 zurück. Bereits im Februar des Jahres trat er eine Professorenstelle für Mathematik an der von ihm mitgeplanten Mainzer Zentralschule, der Nachfolgeeinrichtung der Kurfürstlichen Universität, an und lehrte dort Mathematik und Experimentalphysik. Metternich engagierte sich sofort neben seiner Lehrtätigkeit auch in der Administration. So wurde er ab Februar 1798 Mitglied und Archivar der neu geschaffenen Zentralverwaltung in Mainz. 1799 übernahm er das Amt des Polizeichefs und war ab Juni 1799 zusammen mit dem Franzosen d’Aigrefeuille Vorsteher des Denunziationsbüros der französischen Administration. Bis März 1800 war er außerdem noch Mitglied der Départementsverwaltung des Département du Mont-Tonnerre. Gemeinsam mit den anderen Mainzer Jakobinern Friedrich Lehne, Abraham Lembert und Joseph Schlemmer war er Mitherausgeber und Redakteur der Zeitung Der Beobachter vom Donnersberg, einer der führenden Zeitungen im neu entstandenen Département du Mont-Tonnerre. Sie erschien vom 20. Mai 1798 bis zum 20. Dezember 1801. Nach seiner Demission bei der Départementsverwaltung im Frühjahr 1800 und mit dem Beginn von Napoleons Herrschaft zog sich Metternich aus dem öffentlichen politischen Leben zurück. Er widmete sich vornehmlich seiner Lehrtätigkeit an der Zentralschule (ab 1803 Lyzeum), die er mindestens bis 1809 ausübte. Nach seinem Biographen Keller führte er diese „bis in das hohe Alter“ aus. Schubring stellt in seinen Werken zur Verknüpfung Metternichs politischer mit wissenschaftlicher Tätigkeit allerdings fest, dass Metternich nach 1809 keine Dozententätigkeit unter französischer Administration mehr wahrnahm. Er schrieb wieder Fachbücher zu mathematischen und physikalischen Themen. Bis zu seinem Lebensende hielt er jedoch den Kontakt zu anderen ehemaligen Jakobinern, vor allem zu Georg von Wedekind, aufrecht. Privatleben Metternich heiratete erst spät. 1808 ehelichte er Sophie Friederike Treffz (1773–1846), mit der er zwei Söhne und zwei Töchter hatte. Sein erster Sohn, Germain Metternich, wurde 1811 geboren. Er war ab der späteren Vormärzzeit ebenso wie sein Vater politisch aktiv. Germain Metternich betätigte sich in den 1830er und 1840er Jahren als Revolutionär und nahm sowohl am Hambacher Fest wie auch an verschiedenen Kämpfen der Deutschen Revolution 1848 und 1849 teil. Sein zweiter Sohn, Ludwig Metternich, wurde 1817 geboren. Dessen Taufpate war Ludwig I., Großherzog von Hessen-Darmstadt. Dieser war Metternichs Logenbruder, nachdem dieser durch Vermittlung von Georg von Wedekind 1816 in die Darmstädter Freimaurerloge Johannes der Evangelist zur Eintracht eingetreten war. Mathias Metternich starb am 28. Oktober 1825 in Mainz und liegt auf dem Hauptfriedhof Mainz begraben, wo das Familiengrabmal noch existiert. Politische Ansichten Metternichs politische Einstellung ab den späten 1780er Jahren war durch mehrere unterschiedliche Faktoren geprägt. Aufgrund seiner eigenen sozialen Herkunft aus dem kleinbäuerlichen Milieu waren ihm die Lebensverhältnisse und Nöte des einfachen Volkes im Ancien Régime des späten 18. Jahrhunderts gut bekannt. Dazu kamen noch seine gesellschaftlichen Erfahrungen zu Beginn seiner Studienzeit in Mainz. Metternich, sozialer Außenseiter im Kreis der Mainzer kurfürstlichen Bildungsgesellschaft, dürfte dem Spott und der Verachtung der höhergestellten Adligen und Bürger ausgesetzt gewesen sein. Seine Mitgliedschaft bei den Mainzer Illuminaten und seine Studien im aufklärerisch geprägten Göttingen waren ebenfalls für eine weitere Ausprägung und Verfeinerung seiner politischen und sozialen Einstellung im Sinne der Aufklärung verantwortlich. Keller sieht gerade durch den Kontakt zu Lichtenberg und Kästner, den Vertretern der Göttinger Kant-Schule, eine Beeinflussung Metternichs und eine Erweiterung seines Horizonts für politische und philosophische Themen gegeben. Letztendlich führte dies bei ihm zu einer hohen und konsequenten Akzeptanz der Grundgedanken der Französischen Revolution, die sich in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte manifestierten. In der Hochzeit seiner politischen Aktivitäten (1792 bis 1800) vertrat Metternich diese Grundziele der Revolution, wo er nur konnte. In seiner Zeitung Der Bürgerfreund stellte er beispielsweise vom 2. November 1792 bis 30. Januar 1793 alle 17 Artikel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als Fortsetzungsreihe vor. Als Kommunikationsform wählte er dabei, nachdem anfangs Kritik an seiner trockenen Gelehrsamkeit aufgekommen war, zur anschaulicheren Darstellung die Dialogform und arbeitete zudem mit Namensmetaphern sowie fiktiven Gesprächsrunden und Personen des einfachen Volks. Dabei bediente er sich einer Argumentation, die zwar der bäuerlichen Denkweise folgte, aber zusätzlich auf Elemente des Naturrechts und der (früh)christlichen Ethik pochte. Metternich bezog auch zu vielen einzelnen politischen Punkten deutlich Stellung. Zur Frage der Gleichheit, eines der Schlagworte der Revolution (Egalité), schrieb er beispielsweise im Bürgerfreund: Wie viele andere deutsche Jakobiner war Metternich weit davon entfernt, eine Gleichheit des Besitzes zu fordern. Vielmehr zeigte sich hier sein liberales Verständnis des Begriffs. Sein Ziel war es, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, durch die Menschen ihre politische Freiheit genießen und sich am besten gemäß ihren natürlichen Begabungen entwickeln können. Seine tief verwurzelte ursprüngliche jakobinische Überzeugung vertrat er letztmals in seiner Rede zum 10. Jahrestag der Revolution 1799 vor größerem Publikum. Am 18. Juni 1799 kam es zum Sturz der unpopulären und korrupten Regierung in Paris (Revolution vom 30. Prairial). Die republikanische Opposition („Neojakobinismus“), zu der auch Metternich gezählt werden konnte, gewann auch in Mayence wieder die Oberhand. Mit Joseph Lakanal wurde ein politischer Gesinnungsgenosse Metternichs Generalkommissar in Mayence. Bei den Feierlichkeiten auf dem Marktplatz hielt Metternich seine Rede am Feste des vierzehnten Julius in Mainz. Mittlerweile hatte sich die politische Lage seit Beginn der Revolution nachhaltig verändert. An die Stelle der Interessen des einfachen Volkes, Träger der Revolution 1789, die auch Metternich unermüdlich vertreten hatte, waren seit einigen Jahren die des Großbürgertums und der Kaufleute getreten. Metternich rief seinen Zuhörern mit einem zeitlichen Abriss der Revolutionsgeschichte die Ereignisse der letzten zehn Jahre seit dem Sturm auf die Bastille ins Gedächtnis, beschwor nochmals die Ideale und Ziele der ursprünglichen Revolutionsbewegung und prangerte die aktuellen Missstände scharf an. Dabei verwendete er viele Kritikmuster, die er vormals gegen das Ancien Régime benutzt hatte, und attackierte nunmehr das entstehende Großbürgertum. Der Staatsstreich des 18. Brumaire VIII und die nachfolgende politische Entwicklung machten Metternich aber klar, dass die Zeit der Jakobiner endgültig zu Ende war. Im Frühjahr 1800 beendete er seine politische Laufbahn. Der Mathematiker Metternich Metternich war neben Johann Georg Tralles, mit dem er möglicherweise zusammen in Göttingen studierte, der einzige politisch aktive Mathematiker in der Zeit der Französischen Revolution. Auf französischer Seite standen dagegen zahlreiche bekannte Mathematiker wie Pierre-Simon Laplace, Lazare Carnot oder Gaspard Monge, der als Marineminister der Republik das Todesurteil an König Ludwig XVI. vollstrecken ließ. Wie Metternichs Biograph Keller darlegt, gründeten Metternichs politische Ansichten auf eigenen Erfahrungen als Sohn einer bäuerlichen Familie im Feudalsystem des 18. Jahrhunderts. Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit, erst in einer Elementarschule und später als Universitätsprofessor, brachte er seinen Schülern und Studenten neben mathematischen und physikalischen Inhalten auch seine politischen Ansichten nahe. Relativ unberührt davon blieb sein Wirken als Mathematiker. Metternich eignete sich die Grundkenntnisse der Mathematik und Physik wahrscheinlich autodidaktisch an. Die Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität Mainz war somit wahrscheinlich eher der zeitweiligen kurfürstlichen Aufklärungspolitik als seinen zu dieser Zeit vorhandenen wissenschaftlichen Fähigkeiten geschuldet. Nach seinen Göttinger Studien vertiefte sich jedoch Metternichs Qualifikation als Wissenschaftler und er begann, sich mit grundsätzlichen Problemen der Mathematik zu beschäftigen. 1787 wurde sein nunmehr fachlich fundiertes Engagement als Wissenschaftler und Professor mit einer ordentlichen Professur an der Universität Mainz honoriert. Zu diesem Zeitpunkt hatte Metternich bereits mehrere Lehrbücher veröffentlicht; seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Autor kam jedoch aufgrund seiner politischen Tätigkeit bis kurz nach 1800 zum Erliegen. Mit der deutschen Übersetzung des französischen Lehrbuchs Élements d’algèbre von Sylvestre Lacroix widmete sich Metternich wieder der wissenschaftlichen Publizistik. Da er allerdings mit Lacroixs Haltung zu negativen Zahlen nicht übereinstimmte, kommentierte er die Übersetzung mit eigenen kritischen Fußnoten und fügte später sogar eigene, Lacroix widersprechende Kapitel ein, die seine wissenschaftliche Sicht darlegen sollten. Seinem wissenschaftlichen Biographen Schubring zufolge hatte diese offensichtliche Missachtung der offiziellen französischen Lehrmeinung allerdings Konsequenzen. Metternich wurde nach 1809 nicht mehr als Dozent am Imperial Lycée Mayence und damit im französischen Schuldienst geführt. Eine Bewerbung als Professor an der geplanten Université Mayence wurde offenbar nicht berücksichtigt. Metternich fand danach keine Anstellung als Dozent mehr. Einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte Metternich nach 1815, als er sein Werk Vollständige Theorie der Parallellinien vollendete. Sein Werk, das noch komplett in der Euklidischen Geometrie wurzelte, wurde ausgiebig und konstruktiv-kritisch von Carl Friedrich Gauß und Friedrich Ludwig Wachter besprochen. Dies führte zu einer längeren Überarbeitung des Werks durch Metternich, das 1822 in einer vollkommen umgearbeiteten zweiten Auflage erschien. Die späteren Arbeiten von Gauß, János Bolyai und Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski führten jedoch zur Etablierung der Nichteuklidischen Geometrie und Metternichs Arbeit, die sich nun als nicht mehr wissenschaftlich aktuell erwies, geriet in Vergessenheit. Rezeption Mathias Metternichs politische Rolle in der Endzeit der kurfürstlichen Ära sowie während und nach der Mainzer Republik wird im Allgemeinen als sehr bedeutend erachtet. Er gilt, zusammen mit dem eng befreundeten Georg von Wedekind, als „Jakobiner der ersten Stunde“ in Mainz. Durch seine einfache Herkunft und seinen Aufstieg in die gehobene bildungsbürgerliche Schicht als Wissenschaftler und Intellektueller wird ihm eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des revolutionären Wissens an die einfache Bevölkerung zuerkannt. Mario Keller, der Hauptbiograph Metternichs, weist ihm eine wichtige Rolle bei der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden „Emanzipation der bäuerlich-plebejischen Schichten“ zu. Metternichs Handeln sei dabei aber nicht spontan unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse erfolgt, sondern gemäß einem bereits vorher entstandenen Konzept. Keller sieht dabei den Ursprung von Metternichs sozialem Handeln in seiner Herkunft begründet. Aufgrund der gehobenen sozialen Stellung seines Vaters in der Dorfgemeinschaft habe er bereits frühzeitig ein entsprechendes Bewusstsein für die Belange des einfachen Volks entwickelt. Durch seine später erworbene Bildung fühlte sich Metternich der „Vermittlung autonomer politischer Handlungsfähigkeit“ an diese Bevölkerungsschicht verpflichtet, wobei das aufklärerische Erziehungsideal im Vordergrund stand. Eine Vielzahl von Metternichs eigenen Reden, aber auch die anderer bedeutender Jakobiner, wurde umgehend nach ihrer Abhaltung, beispielsweise vor dem Jakobinerklub, gedruckt. Als Flugblätter wurden sie teils verkauft, teils kostenlos weitergegeben oder in Wirtshäusern öffentlich vorgelesen. Damit zirkulierten über 100 Flugblätter und -schriften alleine 1792/93 in effizienter Weise unter dem Volk, das zudem noch die Auswahl zwischen bis zu sieben verschiedenen revolutionären Zeitungen hatte. Der von Metternich herausgegebene Bürgerfreund war eine dieser Zeitungen. Ihr wird vor allem bescheinigt, dass sie mit beim einfachen Volk „populärer sprachlicher Gestaltung“ über wichtige Aspekte der Französischen Revolution informierte, so beispielsweise in ihrer ersten Ausgabe über die Menschenrechtsartikel. Metternich arbeitete dabei oft mit dem Stilmittel von fiktiven Dialogen, die ihm am ehesten geeignet schienen, komplexe politische Sachverhalte wie beispielsweise seine Vorstellung des Gleichheitsprinzips einfach darzulegen. Veröffentlichungen von Mathias Metternich (Auswahl) Gründliche Anweisung zur Rechenkunst für Anfänger in öffentlichen Schulen. Neue ganz umgearbeitete Auflage. 1783 (Mainz & Frankfurt) Mathias Metternich erläutert die Lehre von der Verhältniss des Kreises zum Durchmesser. 1786 (Andreä, Frankfurt am Main) Von dem Widerstande der Reibung 1789 Anfangsgründe der Geometrie und Trigonometrie: zum Gebrauch für Anfänger bei dem Unterrichte 1789 Herausgeber der Zeitschrift Der Bürgerfreund 1792–1793 (Mainz) Untersuchung der Frage: Wie kann der rheinisch-deutsche Freistaat dauerhafte Sicherheit in seiner freien Verfassung erhalten? gesprochen im deutschen National-Convente zu Mainz. 1793 (Mainz) Etwas über das Etwas des Dr. Gottlob Teutsch an den Verfasser des mainzischen Bürgerfreundes über die mainzische Konstitution. – von einem Bürger auf dem Lande. 1792 (mutmaßlicher Verfasser Metternich) Der Aristokrat in der Klemme: ein Lustspiel in zwei Aufzügen, nach dem Französischen frei bearbeitet. 1792 (Mainz) Etwas über die Klubbs und Klubbisten in Teutschland, und was dabei Rechtens ist. 1793. Der Aristokrat auf Seichtheiten und Lügen ertappt: eine Widerlegung der Schrift unter dem Titel: Über die Verfassung von Mainz oder Vergleich des alten und neuen Mainz. 1793 Gründliche Rechenkunst in Dezimalbrüchen und andern Zahlen: zum vorzüglichen Gebrauch bei den neuen Maßen und Gewichten 1808 Die reine und angewandte Zahlenlehre für Lehrer und Lernende. 1813 (Neue Gelehrten Buchhandlung, Coblenz & Hadamar) Vollständige Theorie der Parallellinien. Nebst einem Anhang, in welchem der erste Grundsatz, zur Technik der geraden Linien angegeben wird. 1815 (Mainz, Selbstverlag, Kupferberg in Kommission) Anfangsgründe der Algebra. Aus dem Französischen, nach der 7. Auflage, übersetzt und mit erl. Anmerkungen und Zusätzen vermerkt von Matthias Metternich. Nebst einem Anhang. 2. Auflage 1820 (Mainz, Kupferberg) – Übersetzung von Sylvestre Francois Lacroix' Werk: Élements d'algèbre. Geometrische Abhandlungen über die Theilung des Dreyeckes, durch drey Linien nach bestimmten Richtungen, die sich in einem einzigen Punkte schneiden; und über verschiedene Verwandlungen der Vierecke. Rein-synthetisch, dann auch analytisch, und umgekehrt, entwickelt. Mit 2 Figuren-Tafeln. 1821 (Mainz, Kupferberg) Vollständige Theorie der Parallellinien, oder: geometrischer Beweis des elften Euklidischen Grundsatzes. 2., umgearbeitete Auflage 1822 (Mainz, Kupferberg in Kommission) Literatur Anne Cottebrune: „Deutsche Freiheitsfreunde“ versus „deutsche Jakobiner“. Zur Entmythisierung des Forschungsgebietes „Deutscher Jakobinismus“ (= Gesprächskreis Geschichte. Band 46). Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2002, ISBN 3-89892-093-3 (Onlineversion bei der Friedrich-Ebert-Stiftung). Anne Cottebrune, Susanne Lachenicht: „Deutsche Jakobiner“ im französischen Exil. Paris und Straßburg – Wege zwischen radikaler Akzeptanz und Ablehnung der Revolution. In: Francia 31/2 (2004), S. 95–119 (Digitalisat) Franz Dumont: Mayence. Das französische Mainz (1792/98–1814). In: Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hrsg.): Mainz – Die Geschichte der Stadt. 2. Auflage. von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2000-0. S. 319–374. Mario Keller: Rund um den Freiheitsbaum – Die Bewegung von unten und ihr Sprecher Mathias Metternich in der Zeit der Mainzer Republik (1789–1799) (= Moralische Ökonomie. Band 4). Materialis-Verlag, Frankfurt 1988, ISBN 3-88535-118-8. Susanne Lachenicht: Information und Propaganda. Die Presse deutscher Jakobiner im Elsass (1791–1800). Oldenbourg, München 2004, ISBN 3-486-56816-7. Gert Schubring: Conflicts Between Generalization, Rigor, and Intuition: Number Concepts Underlying the Development of Analysis in 17th-19th Century France and Germany. Sources and Studies in the History of Mathematics and Physical Sciences. 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Juli 1797: „An die Bewohner des linken Rheinufers“ mainzer-republik.de – Liberale Phase (Oktober–Dezember 1792) Anmerkungen Hochschullehrer (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) Mathematiker (18. Jahrhundert) Mathematiker (19. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Literatur (18. Jahrhundert) Literatur (19. Jahrhundert) Sachliteratur Revolutionär Illuminat Freimaurer (Deutschland) Freimaurer (19. Jahrhundert) Deutscher Geboren 1747 Gestorben 1825 Mann Mitglied des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents Mainzer Republik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz%20%C3%BCber%20die%20Unterbrechung%20der%20Schwangerschaft
Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft
Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft war ein von der Volkskammer, dem Parlament der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), am 9. März 1972 beschlossenes Gesetz zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Mit seiner Verabschiedung wurde in der DDR für den Schwangerschaftsabbruch in Abkehr von der zuvor geltenden indikationsbasierten Regelung eine grundlegende Neufassung der Gesetzeslage in Form einer Fristenlösung eingeführt. Nach dieser erhielten Frauen das Recht, innerhalb von zwölf Wochen nach dem Beginn einer Schwangerschaft über deren Abbruch eigenverantwortlich zu entscheiden. Für den beteiligten Arzt bestand gemäß dem Gesetz die Pflicht zur Beratung der Schwangeren über die medizinische Bedeutung des Eingriffs und über die künftige Anwendung schwangerschaftsverhütender Methoden und Mittel. Das Gesetz traf in der DDR auf Kritik und Ablehnung durch die Kirchen beider Konfessionen sowie durch Teile der Ärzteschaft, zu einer öffentlichen Diskussion in nennenswertem Umfang kam es allerdings nicht. Bis zur politischen Wende von 1989 war die Beschlussfassung über das Gesetz jedoch die einzige Abstimmung in der Geschichte der Volkskammer, die nicht einstimmig ausfiel, da es 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen gab. Die mit dem Gesetz geschaffene Rechtslage in der DDR, mit der erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte für den Schwangerschaftsabbruch eine Fristenregelung in Kraft trat, beeinflusste in der Folgezeit auch die Debatte über die Novellierung des § 218 StGB und die daraus resultierenden Gesetzesinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland sowie die Neuregelung des § 218 StGB nach der deutschen Wiedervereinigung. Entstehung und Inhalt Rechtliche Entwicklung Gesetzliche Grundlage zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland war bis 1943 das 1871 verabschiedete Reichsstrafgesetzbuch mit den §§ 218–220, deren Strafandrohung in einer 1926 beschlossenen Neufassung abgemildert worden war. Das Reichsgericht hatte den Bestimmungen des Strafgesetzbuches, die ein generelles Verbot des Schwangerschaftsabbruchs ohne definierte Indikationen darstellten, in einer Entscheidung vom 11. März 1927 außerdem eine strenge medizinische Indikation als richterrechtlich formulierte Ausnahme hinzugefügt. Entsprechend diesem Urteil galt das Vorliegen einer „gegenwärtigen, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Gefahr für die Schwangere“ als Rechtfertigungsgrund in Form eines übergesetzlichen Notstands. Im Dritten Reich änderte sich die Auffassung zur normativen Basis des Verbots des Schwangerschaftsabbruchs grundlegend, da nicht mehr primär die Tötung des werdenden oder ungeborenen Lebens als Begründung im Vordergrund stand. Vielmehr galt nun ein Sachentzug gegenüber dem Vater und dem Staat sowie ab 1943 eine „Beeinträchtigung der Lebenskraft des deutschen Volkes“ als Grundlage der Strafbarkeit. Darüber hinaus betraf das strikte Verbot mit Ausnahme der medizinischen Indikation nur rassenhygienisch erwünschte Schwangerschaften. Bei Eltern, die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie als „erbkrank und minderwertig“ galten, wurde hingegen auch eine eugenische Indikation erlaubt und sogar befürwortet. Ab 1943 galt für Abtreibung die Todesstrafe, wenn „die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt“ wurde. Für andere Fälle von Abtreibung wurde die Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren wieder eingeführt. Gegen die Schwangere konnte sie allerdings nur in, im Gesetz nicht definierten, besonders schweren Fällen verhängt werden, gegen Dritte blieb in minder schweren Fällen Gefängnisstrafe möglich. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde diese Rechtslage in den einzelnen Ländern der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1948 durch neue Regelungen mit erweiterten Indikationsmodellen ersetzt. Diese enthielten aufgrund der Kriegsfolgen eine kriminologische Indikation bei Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder einem sexuellen Missbrauch, so zum Beispiel in Thüringen durch das „Gesetz über Unterbrechung der durch ein Sittlichkeitsverbrechen verursachten Schwangerschaft“ vom 29. August 1945, sowie mit Ausnahme des Gesetzes von Sachsen-Anhalt auch eine soziale Indikation bei vorliegender oder drohender sozialer Notlage, in Thüringen beispielsweise durch das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“" vom 18. Dezember 1947. In Mecklenburg wurde 1947 auch die embryopathische Indikation eingeführt. Darüber hinaus wurde das Strafmaß gegenüber den zuvor geltenden gesetzlichen Bestimmungen erheblich verringert. Rund ein Jahr nach Gründung der DDR trat dann am 27. September 1950 das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau in Kraft, mit dem in § 11 eine einheitliche Regelung der Indikationen für einen Schwangerschaftsabbruch eingeführt wurde. Ein Schwangerschaftsabbruch war laut § 11 nur nach medizinischer oder embryopathischer Indikation zulässig, „wenn die Austragung des Kindes das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Frau ernstlich gefährdet oder wenn ein Elternteil mit schwerer Erbkrankheit belastet ist“ und die Erlaubnis einer Kommission vorlag, die sich aus Ärzten, Vertretern der Organe des Gesundheitswesens und des Demokratischen Frauenbundes zusammensetzte. Ziel des Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau war neben der Förderung der Gleichberechtigung der Frauen und der Steigerung ihrer Erwerbstätigkeit insbesondere die Geburtenförderung als Teil der Bevölkerungspolitik. Die mit dem Gesetz ab 1950 in der DDR geltende Rechtslage führte in den folgenden Jahren einerseits zu einer der geringsten Raten an genehmigten Schwangerschaftsabbrüchen weltweit, andererseits zu einem Anstieg der Zahl illegaler Schwangerschaftsabbrüche und dazu, dass Frauen zu Schwangerschaftsabbrüchen bis zum Bau der Berliner Mauer auf Ärzte in West-Berlin auswichen. Im März 1965 kam es, ohne Änderung des Gesetzestextes, durch eine interne Rundverfügung des Ministeriums für Gesundheitswesen zur Erweiterung der Anwendung des § 11 um eine kriminologisch und eine soziale Indikation. Die anderen Fälle des Schwangerschaftsabbruchs blieben weiterhin verboten und strafbar, die strafrechtlichen Bestimmungen der Ländergesetze galten zunächst weiter und wurden 1968 durch die §§ 153–155 des Strafgesetzbuches der DDR abgelöst. Mit dem 1972 beschlossenen Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft wurde dann die indikationsbasierte Rechtslage vollständig durch eine Fristenregelung abgelöst. Auch nach der Verabschiedung des Gesetzes und dessen Verkündung im Gesetzblatt der DDR am 15. März 1972 blieben die §§ 153–155 des StGB-DDR vollumfänglich und unverändert in Kraft, da eine Schwangerschaftsunterbrechung strafrechtlich als unzulässig galt, wenn sie „entgegen den gesetzlichen Vorschriften“ vorgenommen wurde. Die konkrete Definition der Voraussetzungen für die Zulässigkeit war damit, anders als im § 218 des deutschen Strafgesetzbuches, nicht Teil der Bestimmungen des StGB-DDR, sondern erfolgte durch die entsprechenden Gesetze von 1950 beziehungsweise 1972. Gründe für die Neuregelung von 1972 waren, wie schon bei der Ausweitung der Indikationen im Jahr 1965, vor allem die hohe Dunkelziffer illegaler Schwangerschaftsabbrüche, die zunehmenden Forderungen nach Selbstbestimmung der Frauen sowie die Verjüngung und die Zunahme des Frauenanteils unter den Ärzten in der DDR. Für die Wahl des Zeitpunkts spielte darüber hinaus möglicherweise ein „Wettlauf“ mit den Reformbemühungen der sozialliberalen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle. Sowohl im rechtshistorischen Kontext als auch im internationalen Vergleich war insbesondere die Anerkennung der Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch als Recht der Frau ein Novum; lediglich in der ein Jahr später beschlossenen Regelung in Dänemark ist eine vergleichbare Formulierung zu finden. Mit dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurden § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 2 und § 5 des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft aufgehoben. Vollständig außer Kraft trat das Gesetz 1993 nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur bundeseinheitlichen Neuregelung der Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch. Bestimmungen Laut der Präambel des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft, das aus fünf Paragraphen bestand, galt die Möglichkeit, über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst zu entscheiden, als Erfordernis der „Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie“ und damit als Beitrag zum Erreichen dieses Ziels im Rahmen der Frauen- und Familienpolitik der DDR. Gemäß § 1 Abs. 1 wurde demzufolge Frauen „zusätzlich zu den bestehenden Möglichkeiten der Empfängnisverhütung das Recht übertragen, über die Unterbrechung einer Schwangerschaft in eigener Verantwortung zu entscheiden“, um die Anzahl, den Zeitpunkt und die zeitliche Aufeinanderfolge von Geburten zu bestimmen. Dementsprechend war laut § 1 Abs. 2 eine schwangere Frau berechtigt, die Schwangerschaft innerhalb von zwölf Wochen nach deren Beginn „durch einen ärztlichen Eingriff in einer geburtshilflich-gynäkologischen Einrichtung“ abbrechen zu lassen. Für den beteiligten Arzt bestand gemäß § 1 Abs. 3 die Pflicht, „die Frau über die medizinische Bedeutung des Eingriffs aufzuklären und über die künftige Anwendung schwangerschaftsverhütender Methoden und Mittel zu beraten“. Der Abbruch einer länger als zwölf Wochen bestehenden Schwangerschaft war gemäß § 2 an die Entscheidung einer Fachärztekommission gebunden und nur bei einer Gefährdung für das Leben der Frau oder beim Vorliegen anderer schwerwiegender Umstände zulässig. Gemäß § 3 Abs. 1 war der Schwangerschaftsabbruch unzulässig, wenn die Frau an einer Krankheit litt, die im Zusammenhang damit zu schweren gesundheitsgefährdenden oder lebensbedrohenden Komplikationen führen konnte. Gemäß § 3 Abs. 2 war der Schwangerschaftsabbruch unzulässig, wenn der letzte Schwangerschaftsabbruch weniger als sechs Monate zurücklag, es sei denn, dass die Fachärztekommission eine Ausnahmegenehmigung erteilte. Vorbereitung, Durchführung und Nachbehandlung eines zulässigen Schwangerschaftsabbruches waren nach § 4 Abs. 1 „arbeits- und versicherungsrechtlich dem Erkrankungsfall gleichgestellt“. Darüber hinaus wurde durch § 4 Abs. 2 mit der Verabschiedung des Gesetzes die Abgabe ärztlich verordneter Mittel zur Empfängnisverhütung an sozialversicherte Frauen unentgeltlich. Die Bestimmungen zum Inkrafttreten des Gesetzes und zu den Auswirkungen auf andere Gesetze, insbesondere die Aufhebung der zuvor bestehenden Einschränkungen der Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, waren in § 5 enthalten. Wahrnehmung Reaktionen in der DDR Der am 23. Dezember 1971 bekanntgegebene gemeinsame Beschluss des Ministerrats der DDR und des Politbüros des ZK der SED zum geplanten Gesetz kam unerwartet, öffentliche Diskussionen gab es vorher und in der Folgezeit kaum. Vertreter beider Konfessionen der Kirchen in der DDR äußerten noch vor der Verabschiedung des Gesetzes ihre Ablehnung. So betonte die katholische Kirche in einem am 9. Januar 1972 von allen Kanzeln verlesenen Hirtenbrief, dass es die Aufgabe jedes Staates sei, das werdende Leben besonders zu schützen, dass Gewissensfreiheit für das medizinische Personal gelten müsse und dass die sonstige Gesetzgebung in der DDR der Situation von Schwangeren und Kindern in umfangreicher Weise Sorge tragen würde, so dass eine einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigende Notlage schwerlich gegeben sein könne. Die acht evangelischen Bischöfe in der DDR brachten in einem wenige Tage später veröffentlichten „Wort der Bischöfe der evangelischen Landeskirchen in der DDR“, das sich insbesondere an die einzelnen Mitglieder der Kirchen und „an alle, die es hören wollen“ richtete, ihre „tiefste Bestürzung“ und ihre Ablehnung des Gesetzesvorhabens zum Ausdruck. Protest kam außerdem von freikirchlichen Gruppierungen wie beispielsweise den Siebenten-Tags-Adventisten, deren Gemeinschaft eine entsprechende Stellungnahme veröffentlichte und in ihren Gemeinden verbreiten ließ. Auch von Ärzten sowie von Mitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gab es Kritik, die jedoch nicht die breite Öffentlichkeit erreichte. Helmut Kraatz, einer der bedeutendsten Gynäkologen in der DDR, äußerte sich zwar einerseits positiv zur Neuregelung, da sie „Kurpfuschern den Boden entzog“, bezeichnete aber andererseits den Schwangerschaftsabbruch auch als die „für Frau und Gynäkologen unangenehmste Methode der Familienplanung“. Der Entwurf des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft entstand in gemeinsamen Beratungen des Verfassungs- und Rechtsausschusses, des Ausschusses für Gesundheitswesen und des Ausschusses für Arbeit und Sozialpolitik der Volkskammer. Bei der Abstimmung in der Volkskammer am 9. März 1972, die durch Handzeichen erfolgte, kam es nach Redebeiträgen des Volkskammerpräsidenten Gerald Götting, des Ministers für Gesundheitswesen Ludwig Mecklinger und der Abgeordneten Hildegard Heine vom Ausschuss für Gesundheitswesen zum ersten und einzigen Mal vor der politischen Wende von 1989 zu einem nicht einstimmigen Ergebnis; 14 Abgeordnete der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands – rund ein Viertel der Fraktionsmitglieder – stimmten gegen das Gesetz und acht Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Der Anteil der Gegenstimmen an der Gesamtzahl der Abgeordneten in der Volkskammer, die über eine Einheitsliste der Nationalen Front mit feststehender Sitzverteilung gewählt wurde, lag bei weniger als drei Prozent. Die uneinheitlichen Meinungen innerhalb der CDU zum Gesetzesvorhaben sowie das geplante abweichende Stimmverhalten der betreffenden Abgeordneten waren der Führung der Partei um ihren Vorsitzenden Gerald Götting im Vorfeld bekannt und über Albert Norden, Mitglied im Politbüro des Zentralkomitees der SED, rund einen Monat vor der Beschlussfassung der SED-Führung mitgeteilt worden. Dementsprechend ging Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger, Mitglied der SED, in seinen Ausführungen zur Begründung des Gesetzes auch auf die Bedenken in kirchlichen Kreisen ein. Zuvor hatte es in der DDR lediglich in einigen Kommunalparlamenten, wie beispielsweise 1968 beim Abriss der Ruine der Potsdamer Garnisonkirche und der Sprengung der Leipziger Universitätskirche, vereinzelt Gegenstimmen in Abstimmungen gegeben. Eine offizielle Stellungnahme der CDU zum Gesetz und zum Verhalten ihrer Abgeordneten erfolgte nicht; von kirchlichen Amtsträgern beider Konfessionen wurde das nicht einstimmige Ergebnis begrüßt. In der Berichterstattung des Neuen Deutschlands, als landesweites Zentralorgan der SED die wichtigste Tageszeitung in der DDR, wurde der Ausgang der Abstimmung als „absolute Mehrheit“ bezeichnet und betont, dass „Recht und Würde der Frau voll garantiert“ seien. Das Ergebnis nutzte die SED propagandistisch zur Aufwertung der Volkskammer und als Beleg für die Freiheit, welche die Abgeordneten bei ihrer Stimmabgabe, insbesondere auch bei allen anderen einstimmig gefassten Beschlüssen, besitzen würden. Die staatlichen Behörden tolerierten in der Folgezeit die Ablehnung der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in den in der DDR bestehenden Krankenhäusern in katholischer oder evangelischer Trägerschaft. Das Katholische Krankenhaus in Heiligenstadt in der katholisch geprägten Region Eichsfeld musste allerdings seine gynäkologische Abteilung an eine staatliche Klinik abgeben, da es andernfalls in der Stadt keine Möglichkeit für einen Schwangerschaftsabbruch gegeben hätte. Eine organisierte Lebensrechtsbewegung existierte in der DDR nicht, entsprechende Protestaktivitäten blieben marginal und auf Einzelpersonen beschränkt, vor allem auf Christen in sozialen und medizinischen Berufen. Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland Das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft und insbesondere das Abstimmungsergebnis in der Volkskammer trafen auch in der westdeutschen Medienlandschaft auf großes Interesse. So berichtete beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am Tag nach der Abstimmung unter der Überschrift „Totenstille in der Volkskammer. Erstmals Neinstimmen im Plenarsaal“. Die Kommentare zur Bedeutung der Abstimmung fielen unterschiedlich aus. Während sie in der Süddeutschen Zeitung als „bemerkenswerter Vorgang“ bezeichnet wurde, der möglicherweise zu einer Entzerrung des in der Bundesrepublik vorherrschenden Bildes der Volkskammer als „Zustimmungsmaschine der SED“ führen müsse, wurde in der FAZ die Vermutung geäußert, dass das Stimmverhalten der abweichenden CDU-Abgeordneten nach Absprache mit der SED erfolgt sei. Der Evangelische Pressedienst betrachtete die Zulassung der Neinstimmen als Zeichen dafür, dass die DDR den Schwangerschaftsabbruch zwar freigeben, jedoch nicht propagieren würde. Die Neufassung der Rechtsgrundlagen zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR setzte in der Bundesrepublik zudem die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt und Justizminister Gerhard Jahn in ihren Bestrebungen zu einer Reform des § 218 StGB unter Druck. Dadurch kam es im Juni 1974 zur Verabschiedung einer mit der neuen Rechtslage in der DDR vergleichbaren Fristenlösung anstelle der ursprünglich geplanten begrenzten Indikationsregelung. Die Neuregelung wurde allerdings nach einer Verfassungsklage der Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie von fünf Landesregierungen im Februar des folgenden Jahres vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und im Juni 1976 durch ein Modell mit vier verschiedenen Indikationen ersetzt, bei der zusätzlich zu den bereits vorher zulässigen Ausnahmen die soziale Indikation neu aufgenommen wurde. Nach der deutschen Wiedervereinigung entstand mit dem Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung vom 27. Juli 1992 eine Fristenregelung mit Beratungspflicht und Indikationen als bundeseinheitliche Neuregelung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, die einen Kompromiss aus der Fristenlösung der DDR und dem Indikationsmodell in der Bundesrepublik darstellte. Diese Novellierung trat nach einer Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht 1993 in geänderter Form in Kraft, schließlich erfolgte 1995 eine Neuregelung durch den Gesetzgeber. Auswirkungen Die Zahl der genehmigten Schwangerschaftsabbrüche in der DDR, die 1962 und damit drei Jahre vor der Ausweitung der Indikationsregelung von 1950 bei 860 gelegen hatte, stieg unmittelbar nach der Einführung der Fristenlösung zunächst deutlich auf rund 119.000 im Jahr 1972, nahm jedoch bereits bis 1976 wieder auf etwa 83.000 ab. Demgegenüber standen vor der Neuregelung 70 bis 80 Frauen pro Jahr, die durch unsachgemäß durchgeführte Abtreibungen verstarben. Unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes waren die Krankenhäuser in der DDR aufgrund unzureichender Ausstattung oft überfordert, in der Frauenklinik der Charité in Berlin erfolgte beispielsweise die Durchführung des Eingriffs anfangs in mehreren Schichten. In späteren Jahren bestanden in nahezu allen Krankenhäusern in der DDR Spezialabteilungen für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die durch die Neuregelung verursachte Zunahme der Schwangerschaftsabbrüche sowie die zeitgleich eingeführte kostenlose Abgabe schwangerschaftsverhütender Mittel führten durch den daraus resultierenden Geburtenausfall zu einer bis zum Ende der 1970er Jahre anhaltenden Bevölkerungsabnahme in der DDR und wirkten sich in den folgenden Jahren entsprechend auf die Altersstruktur aus. Staatlicherseits wurde aufgrund dieser Entwicklung ab den frühen 1970er Jahren, teilweise zeitgleich mit dem Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft, eine Reihe von geburtenfördernden sozialpolitischen Maßnahmen beschlossen, zu denen insbesondere Regelungen zur Verbesserung der Situation von Familien mit Kindern und von berufstätigen Müttern zählten. Dies betraf beispielsweise subventionierte Mieten für Familien mit geringem Einkommen, eine reduzierte Wochenarbeitszeit bei vollem Lohn und ein höherer Urlaubsanspruch für Frauen mit mindestens drei Kindern, die Verlängerung der bezahlten Freistellung nach einer Geburt von zwei auf drei Monate sowie für junge Ehepaare die Einführung eines zinslosen Darlehens in Höhe von 5000 Mark mit langer Laufzeit, auf dessen Rückzahlung bei der Geburt von Kindern Abschläge gewährt wurden. Ab dem Beginn der 1980er Jahre lag die Zahl der Geburten wieder über den Sterbezahlen; 1990 wurden rund 74.000 Abtreibungen vorgenommen. Aufgrund einer im Vergleich zur Bundesrepublik höheren Geburtenrate war die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bezogen auf die ausgetragenen Schwangerschaften in beiden Ländern zum Ende der 1980er Jahre vergleichbar mit etwa drei Geburten pro Schwangerschaftsabbruch. Nach der politischen Wende in der DDR wurde das „Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft“ in den Entwurf des Runden Tisches für eine neue DDR-Verfassung aufgenommen. Für den neu entstandenen Unabhängigen Frauenverband, der bei den Volkskammerwahlen im März 1990 in einem Wahlbündnis mit der Grünen Partei in der DDR antrat, war die Beibehaltung der geltenden Fristenregelung ein bestimmendes Thema. Die CDU warb im Wahlkampf einerseits mit der ablehnenden Haltung ihrer 14 Abgeordneten bei der Abstimmung von 1972, führte andererseits aber auch in ihrem Wahlprogramm aus, dass „Abtreibungsverbote und Strafandrohungen … keine Lebenshilfe“ seien. Mit Ausnahme der neugegründeten Deutschen Sozialen Union (DSU) unterstützten Politiker aller in der neugewählten Volkskammer vertretenen Parteien einschließlich der CDU eine Beibehaltung der Fristenregelung, die als Forderung auch in die Koalitionsvereinbarung der neugebildeten Regierung aus dem CDU-geführten Wahlbündnis Allianz für Deutschland, der SPD und dem liberalen Bund Freier Demokraten aufgenommen wurde. Kurt Wünsche von der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), der von Januar bis August 1990 als DDR-Justizminister unter den Ministerpräsidenten Hans Modrow und Lothar de Maizière fungierte, regte die Aufnahme des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in eine neu zu verabschiedende gesamtdeutsche Verfassung oder den Fortbestand unterschiedlicher Rechtslagen an. Eine kontroverse öffentliche Debatte zu den Spätfolgen des Gesetzes von 1972 löste im Februar 2008 Wolfgang Böhmer aus, damaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und zu DDR-Zeiten Chefarzt der Gynäkologie in einem evangelischen Krankenhaus in Wittenberg, indem er im Nachrichtenmagazin Focus die in der DDR geltende Rechtslage zu Schwangerschaftsabbrüchen in Zusammenhang mit einer „leichtfertigen Einstellung zu werdendem Leben“ und Kindstötungen in den neuen Bundesländern brachte. Seine Aussagen zum Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsabbrüchen in der DDR und der Häufigkeit von Kindstötungen im Osten Deutschlands, die er einige Tage später in einem Interview in der Zeitung Die Welt relativierte, wurden von Politikern aller Parteien überwiegend abgelehnt. Im Bezug auf seine Äußerungen zur DDR-Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch gab es allerdings auch differenzierte Kommentare von Psychiatern und Politikwissenschaftlern sowie Zustimmung von einigen betroffenen Frauen, von Kirchenvertretern und von Lebensrechtsinitiativen wie der CDU-Organisation Christdemokraten für das Leben. Literatur Kirsten Thietz: Ende der Selbstverständlichkeit? Die Abschaffung des § 218 in der DDR. Dokumente. Basis Druck Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-86-163013-3. G58: Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft. 1972. In: Matthias Judt (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Reihe: Forschungen zur DDR-Gesellschaft. Ch. Links Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-86-153142-9, S. 210/211. Michael Schwartz: »Liberaler als bei uns?« Zwei Fristenregelungen und die Folgen. Reformen des Abtreibungsstrafrechts in Deutschland. In: Udo Wengst, Hermann Wentker: Das doppelte Deutschland: 40 Jahre Systemkonkurrenz. Reihe: Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung. Band 720. Ch. Links Verlag, Berlin 2008, ISBN 3-86-153481-9, S. 183–212. Weiterführende Veröffentlichungen Christa Mahrad: Schwangerschaftsabbruch in der DDR: Gesellschaftliche, ethische und demographische Aspekte. Reihe: Europäische Hochschulschriften. Serie XXXI: Politikwissenschaft. Band 111. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-82-040251-9. Weblinks »Es war eine einsame Entscheidung…« Das »Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft« der DDR vom 9. März 1972. DRA-Spezial 10/2006 des Deutschen Rundfunkarchivs, online (PDF-Datei, ca. 396KB) Einzelnachweise Gesetz (DDR) Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland Feminismus Rechtsquelle (20. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20M%C3%BCnchen-Pasing%E2%80%93Herrsching
Bahnstrecke München-Pasing–Herrsching
|} Die Bahnstrecke München-Pasing–Herrsching ist eine elektrifizierte, 31 Kilometer lange Hauptbahn in Oberbayern. Sie führt als Stichstrecke von München-Pasing über Germering, Gilching und Weßling nach Herrsching am Ufer des Ammersees. Die Strecke wird von der DB Netz AG betrieben und ist zwischen München-Pasing und Weßling zweigleisig ausgeführt. Die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen nahmen die Strecke 1903 als Lokalbahn in Betrieb. Aufgrund ihrer großen Bedeutung im Ausflugsverkehr von München ins Fünfseenland erhielt sie 1913 zwischen Pasing und Freiham ein zweites Gleis und wurde bis 1925 auf gesamter Länge elektrifiziert. Seit 1972 wird die Strecke durch die S-Bahn München bedient und ist in den Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) integriert. Zwischen 1981 und 1986 stattete die Deutsche Bundesbahn den Abschnitt Freiham–Weßling schrittweise mit einem zweiten Gleis aus, der Abschnitt Weßling–Herrsching ist hingegen weiterhin eingleisig. Geschichte Planung und Streckenvarianten Anfang der 1880er Jahre gab es erste Bemühungen zum Bau einer Bahnstrecke von München an den Ammersee. Clemens Maria zu Toerring-Jettenbach stellte am 12. Juni 1881 den Antrag zur Errichtung einer Sekundärbahn von Pasing nach Ried bei Herrsching am Ammersee, die sein Schloss Seefeld erschließen sollte. Der Bayerische Landtag lehnte eine Bezuschussung dieses Projekts jedoch 1884 ab. Ab Mitte der 1890er Jahre setzten sich verschiedene Interessengruppen für eine Lokalbahn zum Ammersee ein. Vorrangiges Ziel war dabei eine Erschließung des Ammersees für den Ausflugsverkehr aus München. Es begann eine öffentliche Diskussion um die Streckenführung, da als Streckenendpunkte Stegen am Nordende des Ammersees und Herrsching am Ostufer zur Wahl standen. Für beide Varianten gründeten sich Komitees, die ihre jeweiligen Petitionen 1895 beim Landtag einreichten. Reichsrat Hugo Ritter von Maffei, der Besitzer der Ammersee-Amperschifffahrt, sprach sich für den Endpunkt Stegen aus. Stegen war Ausgangspunkt der Ammerseeschifffahrt und ermöglichte daher nach Ansicht der Befürworter eine bessere und gleichmäßigere Erschließung der Ortschaften an beiden Ufern des Ammersees. Zudem war die Strecke nach Stegen kürzer und direkter als die Herrschinger Variante. Für den Endpunkt Herrsching sprach hingegen die Nähe zum beliebten Ausflugsziel Andechs. Als Nachteil der Stegener Variante wurde die geringe Entfernung zur Bahnstrecke München–Buchloe und zur geplanten Lokalbahn Mering–Weilheim am Westufer des Ammersees gesehen, während durch eine Streckenführung nach Herrsching ein bisher wenig erschlossenes Gebiet angeschlossen werde. Hugo von Maffei wollte den benötigten Grund in seinen Gütern Freiham, Kleßheim und Wandlheim jedoch nur für eine Streckenführung nach Stegen abtreten. Das Herrschinger Eisenbahnkomitee plante daher anstelle des Streckenbeginns in Pasing eine weiter nördlich verlaufende Trasse mit Abzweigung von der Bahnstrecke München–Buchloe in Aubing ein. Der Reichsrat Hans Veit zu Toerring-Jettenbach stellte als Wortführer des Herrschinger Eisenbahnkomitees 10.000 Mark für die Verwirklichung dieser Variante zur Verfügung. Am 14. März 1896 beschäftigte sich der Bayerische Landtag mit dem Bahnprojekt und traf aufgrund der höheren Erschließungswirkung eine Vorentscheidung für die Trasse nach Herrsching. Dabei befürwortete der Minister Friedrich Krafft von Crailsheim einen Beginn der Strecke in Aubing, um den Bahnhof Pasing zu entlasten. Im Februar 1899 einigten sich die beiden Interessengruppen schließlich auf den Endpunkt Herrsching. Da sich der von ihm gewünschte Endpunkt Stegen nicht durchsetzen ließ, sicherte Maffei nun doch eine kostenlose Abtretung seines Grundes für die Herrschinger Variante zu, sodass als Ausgangspunkt wieder Pasing vorgesehen wurde. Dies ermöglichte auf dem ersten Streckenkilometer eine parallele Führung zur Bahnstrecke München–Starnberg. Streckenbau Am 2. März 1900 erteilte der Landtag schließlich die Genehmigung zur Errichtung der Lokalbahn, für die er Baukosten von drei Millionen Mark veranschlagte. Vorschläge zur Elektrifizierung und zur Errichtung als zweigleisige Hauptbahn wurden hingegen abgelehnt. Der bayerische Prinzregent Luitpold genehmigte den Streckenbau zum 30. Juni 1900. Im Sommer 1900 begannen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen mit den Detailplanungen für die Trasse. Die Strecke wurde für die Errichtung in sechs Baulose unterteilt. Am 25. April 1901 begannen die Bauarbeiten am ersten Baulos bei Pasing. Dadurch konnte die Baustelle der 1900 genehmigten Centralwerkstätte Aubing noch im selben Jahr an das Schienennetz angebunden werden. Um den Einsatz von Hauptbahnfahrzeugen mit höheren Achslasten zu ermöglichen, erhielt die Lokalbahn einen Hauptbahnoberbau unter Verwendung von Altschienen. Es kam jedoch nach Baubeginn 1901 weiterhin zu Diskussionen über den Streckenverlauf im südlichen Abschnitt zwischen Weßling und Herrsching: Im Bereich des Wörthsees wurden Varianten über Walchstadt, Schluifeld und Steinebach erwogen. Die Entscheidung fiel zugunsten einer Streckenführung zwischen den Orten Steinebach und Auing mit einem Bahnhof in Steinebach. Dafür wurde die ursprünglich geplante Trasse über Oberalting und entlang des Ostufers des Pilsensees zugunsten einer Streckenführung an dessen Westufer geändert. Im Juni 1902 konnten die Bayerischen Staatsbahnen schließlich die Bauarbeiten zwischen Weßling und Herrsching aufnehmen. Für den Durchstich der Meilinger Höhe sowie die Aufschüttung von Bahndämmen bei Auing, im Herrschinger Moos und auf dem Gelände für den Bahnhof Herrsching waren größere Erdarbeiten notwendig. Die Erdmassen wurden mit dampflokbetriebenen Feldbahnen befördert. Im Durchschnitt waren bei den Bauarbeiten 200 Arbeiter im Einsatz. Die Teilstrecke von Pasing bis Weßling war im Sommer 1902 fertiggestellt, wurde jedoch noch nicht in Betrieb genommen. Am 23. Juni 1903 führten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen die erste Probefahrt zur technischen Abnahme der Gesamtstrecke durch. Insgesamt betrugen die Baukosten für die Lokalbahn 2.757.274 Mark, von denen die am Bahnbau Interessierten 189.112 Mark übernehmen mussten. Betriebsaufnahme und erste Ausbauten Einen Tag vor der Eröffnung, am 30. Juni 1903, kamen vier Sonderzüge zur Beförderung von 1100 Schulkindern auf der Strecke zum Einsatz. Am 1. Juli 1903 nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen die Lokalbahn von Pasing nach Herrsching feierlich in Betrieb. Zu Beginn verkehrten an Werktagen in jeder Richtung drei Personenzüge und zwei Güterzüge auf der Strecke, die Höchstgeschwindigkeit betrug 40 km/h. Obwohl an den Wochenenden im Sommer zwei zusätzliche Badezüge eingesetzt wurden, war die Strecke in dieser Jahreszeit oft überlastet. Gleich im Eröffnungsjahr war sie mit 126.275 Fahrgästen die meistbefahrene Lokalbahnstrecke der Region. Im ersten vollen Betriebsjahr 1904 nutzten 267.661 Fahrgäste die Strecke, sodass die Bayerischen Staatsbahnen einen Überschuss von 84.317 Mark erwirtschaften konnten. Die Zahl der jährlichen Personenkilometer stieg bis 1910 von 5,2 auf 10,3 Millionen an, sodass die Strecke nach Herrsching 1910 mit einem Überschuss von 98.464 Mark die wirtschaftlichste Lokalbahn Bayerns war. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens insbesondere im Ausflugsverkehr mussten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen das Zugangebot immer weiter erhöhen. Die Kapazität der Bahnanlagen reichte für den gesteigerten Zugverkehr jedoch nicht aus, sodass Ausbaumaßnahmen notwendig wurden. Von 1905 bis 1906 erweiterten die Bayerischen Staatsbahnen den Bahnhof Herrsching um zusätzliche Abstellgleise. Durch geringfügige Nacharbeiten am Bahnkörper wurde 1906 die Höchstgeschwindigkeit auf der Strecke von 40 km/h auf 70 km/h angehoben. Aufgrund der Überschreitung der bei Lokalbahnen zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h wurde die Strecke fortan als hauptbahnmäßig betriebene Nebenbahn geführt. Um die Streckenkapazität weiter zu erhöhen, statteten die Bayerischen Staatseisenbahnen von 1906 bis 1910 alle Bahnhöfe mit mechanischen Stellwerken und Signalanlagen aus und errichteten in Freiham, Steinebach und Seefeld-Hechendorf zusätzliche Ausweichgleise. Für die in Bau befindliche Centralwerkstätte Aubing nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen am 20. November 1905 zwischen Pasing und Freiham an der Abzweigung des Werkszufahrtsgleises den Haltepunkt Zentralwerkstätte Aubing in Betrieb. Die Centralwerkstätte selbst nahm am 1. Oktober 1906 den Betrieb auf. Die Zuführungsfahrten zur Centralwerkstätte führten zu einem weiteren Engpass auf der eingleisigen Strecke. Daher beschlossen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen, die Lokalbahn auf diesem Abschnitt zweigleisig auszubauen. Das zweite Streckengleis zwischen Pasing und dem Bahnhof Freiham ging am 23. Juli 1913 in Betrieb. Planungen, das zweite Gleis bis Weßling weiterzuführen und die Strecke mit einem Streckenblock auszustatten, wurden vorerst nicht verwirklicht. Im Ersten Weltkrieg kam es zu einem Mangel an Fahrzeugen, sodass die Zahl der Züge reduziert werden musste. Ab dem 1. Oktober 1918 betrieben die Bayerischen Staatsbahnen den Abschnitt Pasing–Freiham vorübergehend nur noch eingleisig, nahmen nach Kriegsende jedoch den zweigleisigen Betrieb wieder auf. Elektrifizierung und Zweiter Weltkrieg Ab 1904 stellte Oskar von Miller im Auftrag des Königlich Bayerischen Staatsministeriums für Verkehrsangelegenheiten erste Berechnungen für eine Elektrifizierung der Lokalbahn Pasing–Herrsching auf, die aber zunächst nicht weiterverfolgt wurden. Anfang der 1920er Jahre beschloss die Deutsche Reichsbahn, die durch den Ausflugsverkehr stark belastete Herrschinger Strecke zusammen mit den Bahnstrecken München–Garmisch-Partenkirchen, Tutzing–Kochel und Weilheim–Peißenberg zu elektrifizieren. Im Sommer 1924 begannen die Bauarbeiten, die durch die Siemens-Schuckertwerke ausgeführt wurden. Im Herrschinger Moos zwischen Seefeld-Hechendorf und Herrsching führte der Moorgrund zu Problemen bei der Standfestigkeit, sodass die Oberleitungsmasten in diesem Abschnitt mit Querträgern im Bahndamm verankert werden mussten. Auf der ganzen Strecke kamen Eisengittermasten zum Einsatz, die bis zum 30. September 1924 größtenteils aufgestellt waren. Die Oberleitung der Strecke wurde vom bis 1925 neu errichteten Unterwerk Pasing gespeist. Erste elektrische Probefahrten führte die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) ab Januar 1925 durch. Die Kosten für die Elektrifizierung betrugen insgesamt 1.131.800 Goldmark. Am 1. August 1925 (nach anderen Angaben am 27. Mai 1925) nahm die DRG den planmäßigen elektrischen Zugbetrieb zwischen Pasing und Herrsching auf. Gleichzeitig führte sie ein neues Fahrplankonzept ein, mit dem sich die Zahl der Züge auf der Strecke in etwa verdoppelte. Durch die bessere Beschleunigung und höhere Geschwindigkeit der Elektrolokomotiven konnte die Fahrzeit um 20 Minuten reduziert werden. Ab 1915 bemühten sich Bewohner des südöstlichen Ammerseeufers um eine Verlängerung der Strecke von Herrsching über Aidenried und Vorderfischen bis nach Wielenbach an der Lokalbahn Mering–Weilheim. 1921 verfasste der Weilheimer Stadtrat ein Gesuch zur Streckenverlängerung an die bayerische Regierung, mit dem sich der bayerische Landtag am 15. Juni 1921 befasste. Auf einer Versammlung am 24. November 1926 beschlossen die am Bahnbau interessierten Ortschaften die Aufnahme von Planungsarbeiten. Da die Strecke jedoch als unwirtschaftlich beurteilt wurde und die benötigten finanziellen Mittel fehlten, wurde das Projekt nicht verwirklicht. Im Zuge des ab 1938 entwickelten S-Bahn-Projekts für München plante die Deutsche Reichsbahn auf der Strecke einen 20-Minuten-Takt bis Unterpfaffenhofen-Germering und einen 60-Minuten-Takt bis Herrsching. Dafür sollte der eingleisige Abschnitt von Freiham nach Herrsching zweigleisig ausgebaut werden. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs wurden diese Planungen 1941 eingestellt. Im Zweiten Weltkrieg war die Strecke ab 1944 zunehmend Ziel von Luftangriffen, da sie mit dem Ausbesserungswerk Neuaubing, dem Tanklager Krailling der Wirtschaftlichen Forschungsgesellschaft und den Dornier-Werken mehrere strategisch wichtige Betriebe anschloss. Aufgrund von Beschädigungen der elektrischen Oberleitung musste die Deutsche Reichsbahn häufig auf den Einsatz von Dampflokomotiven zurückgreifen. Der Bahnhof Neuaubing wurde am 21. Juli 1944 bei einem Luftangriff der United States Army Air Forces schwer beschädigt. Am 29. April 1945 stellte die Deutsche Reichsbahn den Zugverkehr auf der Strecke ein; bis zum 30. April wurde die Strecke durch die amerikanischen Truppen eingenommen. Am 23. Juli 1945 wurde der Zugverkehr zwischen Pasing und Herrsching wieder aufgenommen. Am 19. Juni 1951 ereignete sich ein schwerer Eisenbahnunfall an einem Bahnübergang zwischen Seefeld-Hechendorf und Herrsching. Als den Bahnübergang, dessen Schranken nicht geschlossen waren, ein mit 24 Ausflüglern besetzter Lkw querte, wurde er von einem Zug erfasst. 16 Menschen starben. 1953 löste die Deutsche Bundesbahn die für die Strecke zuständige Bahnmeisterei im Bahnhof Herrsching auf und ordnete die Strecke der Bahnmeisterei in München-Pasing zu. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens stufte die Deutsche Bundesbahn die Strecke Pasing–Herrsching am 15. August 1957 von einer Nebenbahn zur Hauptbahn auf. In den 1950er Jahren endete die Beförderung von Bahnpost zwischen München und Herrsching. Ausbau für den S-Bahn-Betrieb 1959 nahm die Deutsche Bundesbahn erneut Planungen für ein Münchner S-Bahn-Netz auf, in das die Strecke Pasing–Herrsching integriert werden sollte. 1969 begann der Umbau der Strecke für den S-Bahn-Betrieb. Auf den ersten 1,5 Kilometern wurde die Herrschinger Strecke mit der Vorortbahn Pasing–Gauting zusammengelegt und zweigte ab dem 31. Mai 1970 erst am neu errichteten Haltepunkt München-Westkreuz von der Vorortbahn ab. Die Stationen entlang der Strecke erhielten neue 76 cm hohe Bahnsteige und in den Bahnhöfen Unterpfaffenhofen-Germering, Gilching-Argelsried, Weßling und Steinebach wurden höhenfreie Bahnsteigzugänge eingerichtet. Zudem erweiterte die Deutsche Bundesbahn die Bahnhöfe Unterpfaffenhofen-Germering und Gilching-Argelsried um ein zusätzliches drittes Gleis. Die Bahnsteigsperren wurden an allen Stationen aufgehoben. Am 1. Mai 1972 legte die Deutsche Bundesbahn im Zuge des S-Bahn-Baus den Haltepunkt Weichselbaum still und nahm etwa einen Kilometer nordöstlich den neuen Haltepunkt Neugilching in Betrieb. Am 28. Mai 1972 nahm die Deutsche Bundesbahn den Betrieb der S-Bahn München auf. Ab Beginn des S-Bahn-Betriebs war die Bahnstrecke nach Herrsching vollständig in den neuen Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) integriert. Für den höheren Energiebedarf der S-Bahn-Triebwagen der Baureihe 420 mit einer Stundenleistung von 2400 kW reichte die Stromversorgung nicht mehr aus, sodass zunächst keine Langzüge aus drei Einheiten auf der Strecke fahren konnten. Behelfsweise stellte die Deutsche Bundesbahn 1972 ein fahrbares Unterwerk am Haltepunkt Geisenbrunn auf. Durch den S-Bahn-Betrieb und das Einwohnerwachstum der Orte Harthaus, Unterpfaffenhofen, Germering, Gilching und Argelsried kam es zu einem starken Anstieg der Fahrgastzahlen, die in den Jahren 1973 bis 1982 von 33.370 auf 43.950 pro Tag zunahmen. Die eingleisige Strecke war zunehmend überlastet, sodass weitere Ausbauten der Streckeninfrastruktur notwendig wurden. Um auf der gesamten Strecke einen festen 10-Minuten-Takt erreichen zu können, plante die Deutsche Bundesbahn ab 1973 im Rahmen der Zweiten Ausbaustufe der S-Bahn München den zweigleisigen Ausbau der Strecke von Freiham bis Herrsching. Ende 1980 schlossen die Deutsche Bundesbahn und der Freistaat Bayern den Vertrag zum Streckenausbau. 1981 begannen die Bauarbeiten, die bei laufendem Betrieb durchgeführt wurden. Im Zuge des zweigleisigen Ausbaus ersetzte die Deutsche Bundesbahn sechs Bahnübergänge durch höhenfreie Kreuzungsbauwerke, sodass die Schrankenposten in Harthaus, Germering und Gilching entfallen konnten. Die Gleisanlagen in Unterpfaffenhofen-Germering, Gilching-Argelsried und Weßling wurden für den zweigleisigen Betrieb angepasst und in Harthaus, Unterpfaffenhofen-Germering, Geisenbrunn und Neugilching zusätzliche Bahnsteige errichtet. Zudem ersetzte die Deutsche Bundesbahn die bisherige Oberleitung, die zum Teil noch von 1930 stammte, durch eine neue Regeloberleitung der Bauart Re 160. Die Strecke wurde für eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h ertüchtigt. 1985 nahm die Deutsche Bundesbahn zwei Drucktastenstellwerke in Weßling und Herrsching in Betrieb, welche die verbliebenen mechanischen Stellwerke entlang der Strecke ersetzten. Anstelle des provisorischen fahrbaren Unterwerks nahm in Geisenbrunn 1985 ein stationäres Unterwerk den Betrieb auf. Nach dreijähriger Bauzeit nahm die Deutsche Bundesbahn am 27. September 1984 das zweite Gleis zwischen Freiham und Unterpfaffenhofen-Germering in Betrieb. Ab dem 3. September 1985 war der Abschnitt von Gilching-Argelsried nach Weßling zweigleisig befahrbar. Auf dem dazwischenliegenden Streckenabschnitt von Unterpfaffenhofen-Germering bis Gilching-Argelsried nahm die Deutsche Bundesbahn schließlich am 22. Dezember 1986 den zweigleisigen Betrieb auf. Durch den Ausbau konnte die Fahrzeit auf der Strecke zum Fahrplanwechsel am 28. Mai 1987 um sechs bis acht Minuten verkürzt und ein ganztägiger 20-Minuten-Takt bis Weßling eingeführt werden. Der zweigleisige Ausbau des letzten Abschnittes von Weßling bis Herrsching wurde hingegen zurückgestellt, sodass dieser Streckenabschnitt weiterhin nur eingleisig ist; einzige Ausnahme ist der für die Zugkreuzungen verwendete Bahnhof Seefeld-Hechendorf. In der Folge der Ausbauten nahmen die Fahrgastzahlen auf der Strecke Pasing–Herrsching zwischen 1987 und 1992 von 43.655 auf 45.250 pro Tag zu. Bis 2001 stieg die Auslastung weiter auf 46.750 Fahrgäste pro Tag. Am 12. Juni 2012 begannen wegen bedeutender Neubauvorhaben in Freiham die Bauarbeiten für den neuen S-Bahn-Haltepunkt München-Freiham. Er befindet sich im Zentrum des Ortsteils, einen Kilometer östlich des alten, nicht mehr im Personenverkehr bedienten Bahnhofs Freiham. Der Haltepunkt wurde am 14. September 2013 in Betrieb genommen. Im Zuge der Planungen für die Zweite Stammstrecke der S-Bahn München beschlossen der Freistaat Bayern und das Bundesverkehrsministerium am 25. Oktober 2016 einen Ausbau der Bahnstrecke Pasing–Herrsching durch mehrere netzergänzende Maßnahmen, die eine Verdichtung des Zugangebots ermöglichen. Die höhengleiche Abzweigung der Herrschinger Strecke von der Vorortbahn München–Gauting in Westkreuz soll durch ein Überwerfungsbauwerk ersetzt werden. Im Bahnhof Weßling ist die Errichtung eines Stumpfgleises zum Abstellen und Wenden von S-Bahn-Zügen westlich des Mittelbahnsteigs und ein barrierefreier Ausbau geplant. Zwischen Steinebach und Seefeld-Hechendorf plant die Deutsche Bahn die Einrichtung eines zweigleisigen Begegnungsabschnittes und den Ausbau des Haltepunkts Steinebach zur Überleitstelle mit zwei neuen Außenbahnsteigen. Die Ausbauten sollen spätestens mit Eröffnung der Zweiten Stammstrecke fertiggestellt werden. Streckenbeschreibung Verlauf Die Bahnstrecke begann bis 1970 bei Streckenkilometer 0,0 im Bahnhof Pasing. Sie fädelte zwischen der Vorortbahn München–Gauting und der Bahnstrecke München–Buchloe in nordwestlicher Richtung aus dem Bahnhof aus und bog parallel zur Vorortbahn und zur Bahnstrecke München–Garmisch-Partenkirchen nach Südwesten ab. Seit 1970 beginnt die Herrschinger Strecke bei Kilometer 1,536 am Haltepunkt mit Abzweigstelle Westkreuz. Südlich des Haltepunkts verlässt sie die Trasse der Vorortbahn, überquert die Bodenseestraße und schwenkt in einer engen Kurve nach Westen. Im Süden von Neuaubing führt sie, parallel zur Bodenseestraße, nördlich am ehemaligen Neuaubinger Schlafwagen-Ausbesserungswerk vorbei und erreicht nördlich des ehemaligen Ausbesserungswerks Neuaubing den Bahnhof München-Neuaubing bei Kilometer 3,435. Nördlich an der Kolonie Neuaubing vorbeiführend verlässt die Strecke Neuaubing und durchquert das Neubaugebiet Freiham. Im Bereich des Bahnhofs Freiham überquert sie mit einer Brücke den Autobahnring München. Weiterhin in südwestlicher Richtung verlaufend, trifft die Strecke am Haltepunkt Harthaus auf die Münchner Stadtgrenze und das Siedlungsgebiet von Germering. Zwischen Neugermering und Harthaus hindurch erreicht die Strecke bei Kilometer 7,99 den Bahnhof Germering-Unterpfaffenhofen zwischen Unterpfaffenhofen im Süden und dem Germeringer Stadtzentrum im Norden. Nach 1,5 Kilometern verlässt die Trasse in einer Linkskurve das Ortsgebiet von Germering und führt stetig ansteigend zwischen den Einöden Wandlheim und Kleßheim hindurch. Am Höhenzug Parsberg quert die Strecke in einem Einschnitt die Wasserscheide zwischen Würm und Amper und biegt bei Geisenbrunn zunächst in nordwestliche Richtung ab. In mehreren Kurven führt sie dann durch hügeliges Gebiet erneut nach Südwesten und erreicht im Gefälle das Ortsgebiet von Argelsried. Nach dem Bahnhof Gilching-Argelsried bei Kilometer 14,01 durchquert die Trasse Neugilching und führt nach Verlassen des Ortsgebiets mit einer Brücke über die Autobahn A 96. Wieder ansteigend verläuft die Strecke nordwestlich des Flugplatzes Oberpfaffenhofen über den Ort Weichselbaum gerade in südwestlicher Richtung, führt nördlich an Oberpfaffenhofen vorbei und erreicht bei Kilometer 18,859 den Bahnhof Weßling. In einer Doppelkurve umfährt die Strecke in 250 Metern Entfernung den Weßlinger See und erreicht noch im Ortsgebiet von Weßling bei Kilometer 19,6 mit 598,2 Metern über Normalhöhennull ihren höchsten Punkt. Nun stetig abfallend durchbricht die Trasse in einem Einschnitt den Höhenzug am Meilinger Wald und nähert sich in mehreren Kurven bis auf 900 Meter dem Wörthsee. Nach dem Bahnhof Steinebach biegt sie bei Auing nach Süden ab und führt auf einem Bahndamm durch das hügelige Gelände. Am nördlichen Ortsrand von Hechendorf schwenkt sie in einer Rechtskurve erneut nach Südwesten und erreicht 700 Meter südlich des Bahnhofs Seefeld-Hechendorf das Westufer des Pilsensees, dem sie über 2,5 Kilometer folgt. Am Südende des Pilsensees biegt die Strecke wieder nach Süden ab und durchquert auf einem Bahndamm das Herrschinger Moos. Bei Kilometer 30,0 tritt sie, weiterhin auf einem Damm verlaufend, in das Ortsgebiet von Herrsching ein und erreicht östlich des Ammersees bei Streckenkilometer 30,946 ihren Endbahnhof Herrsching auf einer Höhe von 539,8 Metern über Normalhöhennull. Betriebsstellen München-Pasing Der Bahnhof München-Pasing () war von 1903 bis 1970 der Ausgangspunkt der Bahnstrecke nach Herrsching. Die München-Augsburger Eisenbahn-Gesellschaft nahm den Haltepunkt Pasing 1839 mit der Bahnstrecke München–Augsburg in Betrieb. Mit der Eröffnung der Bahnstrecke München–Starnberg wurde er 1854 zum Bahnhof und erhielt ein erstes Empfangsgebäude. 1873 nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen die Bahnstrecke München–Buchloe in Betrieb und errichteten ein neues größeres Empfangsgebäude, das bis heute in Betrieb ist. Die Gleisanlagen des Bahnhofs wurden in den 1950er Jahren nach Norden verlegt. München-Westkreuz Der Haltepunkt München-Westkreuz () befindet sich an der Grenze der Münchner Stadtteile Pasing im Osten und Aubing im Westen. Der Haltepunkt wurde zur Erschließung der neuen Siedlung Am Westkreuz ab 1962 geplant und ging am 31. Mai 1970 unter dem Namen Westkreuz in Betrieb. Mit dem Haltepunkt ist betrieblich die zeitgleich eröffnete Abzweigstelle verbunden, an der die Herrschinger Strecke seit 1970 höhengleich von der Vorortbahn München–Gauting abzweigt. Mit Beginn des S-Bahn-Betriebs erhielt der Haltepunkt zum 28. Mai 1972 den neuen Namen München-Westkreuz. Der Haltepunkt verfügt über einen 213 m langen Mittelbahnsteig, der teilweise überdacht ist. Der Zugang zum Bahnsteig erfolgt am Nordende über die Aubinger Straße, welche die Streckengleise im Bereich des Haltepunkts durch eine Unterführung quert, sowie am Südende von der Friedrichshafener Straße aus. Mit der Verlängerung der U-Bahn nach Freiham ist eine Haltestelle Westkreuz geplant. München-Neuaubing Der Bahnhof München-Neuaubing () liegt im Süden des Münchner Stadtteils Neuaubing nördlich des ehemaligen Ausbesserungswerks München-Neuaubing (bis 1915 als Centralwerkstätte Aubing bezeichnet). Die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen nahmen die Station am 20. November 1905 zunächst als Halteplatz Zentralwerkstätte Aubing in Betrieb. Ab 1906 war der Halteplatz mit einem Toilettengebäude und Unterständen ausgestattet. Mit Inbetriebnahme der Centralwerkstätte stuften sie den Halteplatz 1906 zum Bahnhof mit eigenem Stellwerk auf, an dem östlich des Bahnsteigs die Verbindungsgleise zur Centralwerkstätte abzweigten. 1908 errichteten die Bayerischen Staatsbahnen ein zweigeschossiges Empfangsgebäude mit Mansarddach und benannten den Bahnhof zum 1. Oktober 1908 in Neuaubing um. Von 1913 bis 1999 war das Ausbesserungswerk der Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft an den Bahnhof Neuaubing angebunden, zudem waren Gleisanschlüsse zu einer Kiesgrube und von den 1950er Jahren bis 1997 zu einem Gas-Tanklager vorhanden. Nach dem zweigleisigen Streckenausbau war der Bahnhof ab 1913 mit einem Haus- und einem Zwischenbahnsteig ausgestattet. Für den S-Bahn-Betrieb nahm die Deutsche Bundesbahn zwei neue, teilweise überdachte Außenbahnsteige in Betrieb und benannte den Bahnhof am 28. Mai 1972 in München-Neuaubing um. Nach der 2001 erfolgten Stilllegung des Ausbesserungswerks Neuaubing baute die Deutsche Bahn im April 2015 die Verbindungsgleise und -weichen zum Werksgelände zurück, seitdem ist am Bahnhof Neuaubing nur noch eine für den Betrieb nicht nutzbare Weiche vorhanden. München-Freiham Hp Der Haltepunkt München-Freiham () wurde zur Anbindung des Neubaugebiets Freiham am 14. September 2013 eröffnet. Er liegt etwa einen Kilometer östlich des alten Bahnhofs Freiham und verfügt über zwei überdachte Außenbahnsteige. München-Freiham Der Bahnhof München-Freiham () befindet sich nördlich des Gutshofs Freiham. Zunächst als Haltestelle errichtet, ist er seit 1908 ein Bahnhof mit Ausweichgleis und Stellwerk. Bei seiner Eröffnung verfügte er über ein eingeschossiges Empfangsgebäude mit Holzverkleidung, das um 1970 durch einen neuen Flachbau ersetzt wurde. Seit 1935 zweigt in Freiham ein Gleisanschluss zum Tanklager Krailling ab. Am 1. Juni 1975 stellte die Deutsche Bundesbahn den Personenverkehr am Bahnhof Freiham wegen geringer Fahrgastzahlen ein; als Betriebsbahnhof ist er hingegen weiterhin in Betrieb. Harthaus Der Haltepunkt Harthaus () liegt auf der Stadtgrenze von München und Germering, zwischen den Germeringer Ortsteilen Harthaus im Süden und Neugermering im Norden. Der unbesetzte Haltepunkt ging am 5. Oktober 1947 in Betrieb. Als Stationsgebäude war ein einfacher Güterwagenkasten vorhanden, der als Schrankenwärter- und Warteraum diente. Für den S-Bahn-Betrieb erhielt der Haltepunkt einen neuen Außenbahnsteig. Mit dem zweigleisigen Ausbau errichtete die Deutsche Bundesbahn zwischen 1981 und 1984 einen zweiten Außenbahnsteig und ersetzte den Wagenkasten durch ein eingeschossiges Gebäude in Klinker-Bauweise mit Kiosk und Toilettenanlagen. Der westlich des Haltepunkts gelegene Bahnübergang und Schrankenposten wurde 1984 mit der Fertigstellung einer Straßenunterführung aufgelassen. Germering-Unterpfaffenhofen Der Bahnhof Germering-Unterpfaffenhofen () befindet sich nördlich der ehemals eigenständigen Gemeinde Unterpfaffenhofen, die 1978 nach Germering eingemeindet wurde. Bei seiner Eröffnung trug der Bahnhof den Namen Unterpfaffenhofen-Germering. Nördlich der Gleise erhielt er ein zweigeschossiges Empfangsgebäude mit östlich anschließender offener Wartehalle, ein eingeschossiges Nebengebäude und einen Güterschuppen mit Laderampe. Der Bahnhof verfügte neben dem durchgehenden Hauptgleis mit Zwischenbahnsteig über ein 330 Meter langes Ausweichgleis am Hausbahnsteig. Zudem war ein beidseitig angebundenes Ladegleis vorhanden, von dem zwei Stumpfgleise zum Güterschuppen und zur Ladestraße führten. Für den S-Bahn-Betrieb stattete die Deutsche Bundesbahn den Bahnhof zwischen 1969 und 1972 mit einem dritten Hauptgleis und einem neuen Mittelbahnsteig zwischen den Gleisen 2 und 3 aus, der höhenfrei über eine Bahnsteigunterführung angeschlossen wurde. Im Zuge des zweigleisigen Ausbaus baute die Deutsche Bundesbahn zwischen 1982 und 1984 das Ladegleis zurück und nahm an Gleis 1 einen zusätzlichen Außenbahnsteig in Betrieb. Der örtliche Güterverkehr in Unterpfaffenhofen-Germering wurde zum 27. Mai 1990 mit Schließung des Wagenladungstarifpunktes eingestellt. Auf Initiative der Stadt Germering erhielt der Bahnhof zum 31. Mai 1992 den Namen Germering-Unterpfaffenhofen. Bis 1993 ersetzte die Deutsche Bundesbahn den beschrankten Bahnübergang im östlichen Bahnhofsbereich durch eine Straßenunterführung mit direktem Treppenzugang zum Mittelbahnsteig. Geisenbrunn Der Haltepunkt Geisenbrunn () liegt im Norden des Gilchinger Ortsteils Geisenbrunn. Der unbesetzte Haltepunkt verfügte zunächst nur über einen Schüttbahnsteig und eine Milchverladerampe am Streckengleis. 1910 richteten die Bayerischen Staatseisenbahnen einen durch eine Deckungsstelle gesicherten Gleisanschluss zu einem Tonwerk ein, der noch vor 1938 wieder zurückgebaut wurde. Aufgrund der steigenden Fahrgastzahlen errichtete die Gemeinde Argelsried um 1920 ein eingeschossiges, hölzernes Walmdachgebäude mit einem Dienstraum und einem Warteraum, in dem ein Bahnagent zum Fahrkartenverkauf stationiert wurde. 1962 stellte die Deutsche Bundesbahn den Fahrkartenverkauf wieder ein, fortan war der Haltepunkt nicht mehr besetzt. Mit dem zweigleisigen Streckenausbau nahm die Deutsche Bundesbahn in Geisenbrunn 1986 zwei neue Außenbahnsteige in Betrieb. Gilching-Argelsried Der Bahnhof Gilching-Argelsried () befindet sich im Nordwesten der bis 1978 eigenständigen Gemeinde Argelsried, etwa zwei Kilometer südlich des alten Ortszentrums von Gilching. Bei seiner Eröffnung verfügte der Bahnhof über ein zweigeschossiges Empfangsgebäude, an das nordöstlich die offene Wartehalle anschloss, sowie ein Nebengebäude nordöstlich und einen Güterschuppen südwestlich des Empfangsgebäudes. Neben dem durchgehenden Hauptgleis mit Zwischenbahnsteig waren ein 388 Meter langes Ausweichgleis am Hausbahnsteig und ein beidseitig angebundenes Ladegleis mit zwei Gleisstutzen zum Güterschuppen und zur Ladestraße vorhanden. In Vorbereitung auf den S-Bahn-Betrieb errichtete die Deutsche Bundesbahn zwischen 1969 und 1972 ein drittes Hauptgleis und einen neuen Mittelbahnsteig zwischen den Gleisen 2 und 3, die bisherigen Bahnsteige wurden zurückgebaut. Zur höhenfreien Anbindung des Mittelbahnsteigs entstand eine neue Unterführung. Mitte der 1980er Jahre gestaltete die Deutsche Bundesbahn im Zuge des zweigleisigen Ausbaus den Spurplan des Bahnhofs um. Zwischen 1987 und 1991 wurde der Bahnübergang im Nordkopf des Bahnhofs durch eine Straßenunterführung ersetzt. Von 2018 bis 2020 baute die Deutsche Bahn den Bahnhof barrierefrei aus. Der nicht mehr genutzte Güterschuppen und die Laderampe wurden im Zuge des Umbaus im Februar 2018 abgebrochen. Empfangsgebäude und Nebengebäude sind noch vorhanden, werden aber nicht mehr für den Bahnbetrieb genutzt. Neugilching Der Haltepunkt Neugilching () ging am 1. Mai 1972 kurz vor Aufnahme des S-Bahn-Betriebs als Ersatz für den zeitgleich geschlossenen Haltepunkt Weichselbaum in Betrieb. Der unbesetzte Haltepunkt liegt im Zentrum des Gilchinger Ortsteils Neugilching und war zunächst mit einem Außenbahnsteig ausgestattet. Mit dem zweigleisigen Streckenausbau errichtete die Deutsche Bundesbahn bis 1985 einen zweiten Außenbahnsteig. Weichselbaum Der Haltepunkt Weichselbaum () lag etwa 700 Meter nordöstlich des Ortes Weichselbaum. Bei seiner Eröffnung am 5. Oktober 1936 diente er zunächst ausschließlich den Beschäftigten der Dornier-Werke bei Oberpfaffenhofen und wurde daher nur von einzelnen Zügen morgens und abends bedient. Zum 3. Juli 1944 öffnete die Deutsche Reichsbahn den Haltepunkt für den allgemeinen Verkehr, fortan hielten die meisten auf der Strecke verkehrenden Zügen in Weichselbaum. Aufgrund des geringen Fahrgastaufkommens und der abseitigen Lage gab die Deutsche Bundesbahn den Haltepunkt Weichselbaum am 1. Mai 1972 auf und ersetzte ihn durch den einen Kilometer nordöstlich gelegenen Haltepunkt Neugilching. Die hölzerne Wartehalle wurde nach 1973 abgebrochen. Ende der 1930er Jahre richtete die Deutsche Reichsbahn 200 Meter südlich des Haltepunkts die Anschlussstelle Weichselbaum () ein, an der ein Gleisanschluss zu den Dornier-Werken und deren Werksflughafen Oberpfaffenhofen abzweigte. An der Anschlussstelle, die später zur Ausweichanschlussstelle (Awanst) wurde, war ein beidseitig angebundenes Übergabegleis vorhanden. 2003 stellte die Deutsche Bahn die Bedienung des Gleisanschlusses zu den Dornier-Werken ein. 2006 wurde das Gleis unterbrochen und 2015 die Ausweichanschlussstelle zurückgebaut. Weßling (Oberbay) Der Bahnhof Weßling (Oberbay) () liegt im Norden der Gemeinde Weßling, etwa 300 Meter nördlich des Weßlinger Sees. In den ersten Jahren trug der Bahnhof lediglich den Namen Weßling; am 1. Oktober 1912 wurde er in Weßling (Oberbay) umbenannt. Das dreiteilige Empfangsgebäude besteht aus zwei zweigeschossigen Kopfbauten, die über eine offene Wartehalle verbunden sind. Zudem waren ein eingeschossiges Nebengebäude und ein Güterschuppen vorhanden. Der Bahnhof war ursprünglich mit drei Hauptgleisen ausgestattet, die an einem Hausbahnsteig und zwei Zwischenbahnsteigen lagen. Südlich der Hauptgleise lag ein beidseitig angebundenes Ladegleis mit zwei Stumpfgleisen zur Ladestraße und zum Güterschuppen. Im Zuge des Ausbaus für den S-Bahn-Betrieb errichtete die Deutsche Bundesbahn 1971 zwischen den Gleisen 1 und 2 einen Mittelbahnsteig, der über eine Unterführung höhenfrei erschlossen ist, und baute das dritte Bahnsteiggleis zurück. Seit 1985 endet im Bahnhof Weßling das zweite Streckengleis. Mit dem zweigleisigen Streckenausbau veränderte die Deutsche Bundesbahn den Spurplan des Bahnhofs. Unter dem Empfangsgebäude entstand bis 1986 eine Straßenunterführung, die zwei Bahnübergänge ersetzte. Für den Bau der Unterführung wurde die mittige Wartehalle abgebrochen und nach deren Fertigstellung wieder aufgebaut, wobei die bisher offenen Arkadenbögen auf der Gleisseite mit Glaswänden verschlossen wurden. Zum 6. März 1987 stellte die Deutsche Bundesbahn den Wagenladungsverkehr in Weßling ein und schloss am 27. Mai 1990 die Fahrkartenausgabe. Im November 2002 demontierte die Deutsche Bahn die Weiche zum stillgelegten Ladegleis. Die Wartehalle und der kleinere Kopfbau des Empfangsgebäudes befinden sich im Eigentum der Gemeinde Weßling und werden als Gemeindebücherei genutzt. Steinebach Der ehemalige Bahnhof und heutige Haltepunkt Steinebach () befindet sich am östlichen Ortsrand von Steinebach in der Gemeinde Wörthsee, etwa 900 Meter vom Ostufer des Wörthsees entfernt. Bei seiner Eröffnung war der Bahnhof mit einem zweigeschossigen Empfangsgebäude mit anschließender Wartehalle, einem eingeschossigen Nebengebäude und einem Güterschuppen ausgestattet. Die Gleisanlagen bestanden neben dem durchgehenden Hauptgleis am Hausbahnsteig aus einem Ausweichgleis mit Zwischenbahnsteig und einem beidseitig angebundenen Ladegleis mit zwei Gleisstutzen. 1910 nahmen die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen ein zweites Ausweichgleis mit einem weiteren Zwischenbahnsteig südlich der bisherigen Gleise in Betrieb. Anfang der 1960er Jahre wurde das dritte Bahnsteiggleis wieder abgebaut. Für den S-Bahn-Betrieb errichtete die Deutsche Bundesbahn 1971 einen neuen Mittelbahnsteig zwischen den Gleisen 1 und 2 und eine Bahnsteigunterführung. Im Mai 1983 stellte die Deutsche Bundesbahn den örtlichen Güterverkehr in Steinebach ein. Nach dem zweigleisigen Streckenausbau zwischen München und Weßling wurden die Zugkreuzungen von Steinebach nach Weßling und Seefeld-Hechendorf verlegt. Am 1. November 1986 wandelte die Deutsche Bundesbahn daher den Bahnhof in eine Haltestelle um und baute das Ausweichgleis und das Stellwerk zurück. Da der Bahnsteig nun ebenerdig erreichbar war, wurde die Bahnsteigunterführung zugeschüttet. Zum 1. Juli 1987 schloss die Deutsche Bundesbahn den Fahrkartenschalter und ersetzte den vom Empfangsgebäude aus bedienten Bahnübergang mit Anrufschranke durch eine Brücke, fortan war die Station nicht mehr besetzt. Mit dem Rückbau des Ladegleises wurde die Haltestelle Steinebach im Dezember 1989 zum Haltepunkt. 1991 stellte das Landratsamt Starnberg das Empfangsgebäude und das Nebengebäude unter Denkmalschutz; seit 1992 befinden sich beide Gebäude in Privateigentum. Das Empfangsgebäude wurde von 1995 bis 2015 als Gaststätte genutzt. Seefeld-Hechendorf Der Bahnhof Seefeld-Hechendorf () liegt am östlichen Ortsrand von Hechendorf, einen Kilometer westlich von Seefeld und ungefähr 700 Meter nördlich des Pilsensees. Die als Haltestelle errichtete Station verfügte neben dem durchgehenden Hauptgleis mit Bahnsteig nur über ein 236 Meter langes, beidseitig angebundenes Ladegleis mit zwei Stumpfgleisen zum Güterschuppen und zur Ladestraße. An Hochbauten waren das dreiteilige Empfangsgebäude mit zwei Kopfbauten und einer dazwischenliegenden Wartehalle, ein Nebengebäude und der Güterschuppen mit Laderampe vorhanden. 1908 errichteten die Bayerischen Staatseisenbahnen ein Ausweichgleis mit Zwischenbahnsteig und ein Stellwerk, sodass die Haltestelle zum Bahnhof wurde. Später wurde zudem ein 150 Meter langes Stumpfgleis zur Abstellung von Güterwagen errichtet, das vom Ladegleis abzweigte. Im Mai 1970 stellte die Deutsche Bundesbahn die Stückgutverladung in Seefeld-Hechendorf ein. Für den S-Bahn-Betrieb errichtete die Deutsche Bundesbahn 1971 einen neuen Mittelbahnsteig, der zunächst noch über einen schienengleichen Übergang angebunden war. 1988 wurde schließlich ein höhenfreier Bahnsteigzugang über eine Unterführung geschaffen. Am 1. Oktober 1988 schloss die Deutsche Bundesbahn die Fahrkartenausgabe. Mit Schließung des Wagenladungstarifpunktes stellte sie zum 1. August 1989 den örtlichen Güterverkehr in Seefeld-Hechendorf ein, ab Dezember 1989 war der Bahnhof nicht mehr besetzt. In der Folge wurde das Ladegleis zurückgebaut und der Güterschuppen nach 1992 abgebrochen. Das Empfangsgebäude befindet sich im Eigentum der Gemeinde Seefeld, das Nebengebäude ist nicht mehr erhalten. Herrsching Der Bahnhof Herrsching () liegt westlich des Ortszentrums von Herrsching, etwa 250 Meter östlich des Ammerseeufers. Als Endbahnhof der Strecke erhielt er ein großes dreiteiliges Empfangsgebäude und eine Lokomotivstation mit Lokschuppen und Drehscheibe. Die Gleisanlagen des Bahnhofs bestanden aus drei Hauptgleisen, einem Ladegleis sowie mehreren Abstellgleisen und wurden bis 1906 um weitere Abstellgleise erweitert. Nach 1994 baute die Deutsche Bahn die Gleisanlagen zurück, sodass nur noch die drei Hauptgleise und ein Mittelbahnsteig für den S-Bahn-Betrieb vorhanden sind. Von 2013 bis 2014 wurden die Bahnanlagen nach Norden verschoben und der Südkopf des Bahnhofs stillgelegt, sodass die Strecke nun etwa 300 Meter weiter nördlich als zuvor endet. Hochbauten Die Hochbauten entlang der Lokalbahn Pasing–Herrsching wurden durch das Hochbaubüro der Generaldirektion der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen geplant und in Zusammenarbeit mit dem Münchner Architekten Jakob Rusch und dem Dießener Baumeister Franz Stiegler errichtet. In Größe und Ausstattung der Stationsgebäude gingen die Bayerischen Staatseisenbahnen dabei weit über den Lokalbahn-Standard hinaus. Anstelle der bei Lokalbahnen üblichen eingeschossigen Holzbauten erhielten die meisten Stationen zweigeschossige Empfangsgebäude in massiver Steinbauweise, die in drei unterschiedlich großen Typen ausgeführt wurden. An den Stationen Unterpfaffenhofen-Germering, Gilching-Argelsried und Steinebach errichteten die Bayerischen Staatseisenbahnen zweigeschossige Walmdach­gebäude mit zwei Fensterachsen. Auf der Gleisseite tritt eine Fensterachse in einem Risalit hervor. An den Hauptbau schließt eine Wartehalle mit Satteldach an, die zur Gleisseite in Unterpfaffenhofen und Gilching durch drei, in Steinebach durch vier Arkadenbögen geöffnet war. Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes waren ein Dienstraum und ein Warteraum zweiter Klasse, im Obergeschoss eine Dienstwohnung untergebracht. Weßling und Seefeld-Hechendorf erhielten größere Gebäude mit Krüppelwalmdach und drei Fensterachsen. Auf der Gleisseite ist ein kleiner eingeschossiger Vorbau angebracht. An die halboffene Wartehalle mit drei Arkadenbögen schloss ein ursprünglich eingeschossiger Gebäudetrakt mit Walmdach an, in dem sich ein Warteraum erster Klasse befand. Die Hauptgebäude enthielten im Erdgeschoss zwei Diensträume und einen Warteraum zweiter Klasse, im Obergeschoss befanden sich eine Dienstwohnung und ein Dienstzimmer, im Dachgeschoss eine weitere Dienstwohnung. Später wurden die eingeschossigen Nebenbauten in Weßling und Seefeld-Hechendorf mit einem zusätzlichen Obergeschoss erweitert. Das größte Empfangsgebäude der Strecke entstand am Endbahnhof Herrsching. Der dreiteilige Bau besteht aus zwei zweigeschossigen Kopfbauten mit Krüppelwalmdach und drei Fensterachsen und einer dazwischenliegenden Wartehalle mit fünf Arkadenbögen. Die Empfangsgebäude der Strecke sind durch den Jugendstil geprägt und weisen eine asymmetrische Gestaltung und einen eher malerischen Charakter auf. Die Erdgeschossfenster verfügen zum Teil über schmiedeeiserne Fenstergitter mit Pflanzenmotiven. Ursprünglich waren zudem an allen Fenstern geschwungene Putzrahmungen mit farbig aufgemalter Pflanzenornamentik vorhanden. Dieser Fassadendekor wurde später entfernt, wodurch die Bauten nüchterner und strenger als in der Anfangszeit wirken. Als weiteres Gestaltungsmerkmal waren Riffelputzfelder an den Fassaden angebracht, die in den Arkadenzwickeln der Wartehallen von Steinebach und Herrsching noch vorhanden sind. Im Zuge der Einrichtung mechanischer Stellwerke erhielten alle Empfangsgebäude zwischen 1906 und 1910 hölzerne oder gemauerte Stellwerksvorbauten. Die Haltestelle Freiham wurde aufgrund ihres geringen Verkehrsaufkommens lediglich mit einem eingeschossigen Holzgebäude mit Satteldach ausgestattet. Am Haltepunkt Geisenbrunn war zunächst kein Gebäude vorhanden, erst um 1920 erhielt er ein hölzernes Stationsgebäude mit Walmdach. Das erst 1908 errichtete gemauerte Empfangsgebäude am Bahnhof Neuaubing weicht architektonisch deutlich von den älteren Stationsgebäuden ab. Das Gebäude besteht aus einem giebelständigen Hauptbau und einem traufständigen Seitentrakt und verfügt über Mansarddächer mit Krüppelwalm. An weiteren Hochbauten errichteten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen an den Stationen Unterpfaffenhofen-Germering, Gilching-Argelsried, Weßling, Steinebach und Seefeld-Hechendorf einheitliche eingeschossige Nebengebäude mit Walmdach, in denen die Bahnhofstoiletten und Waschküchen untergebracht wurden. Der Bahnhof Herrsching erhielt ein geringfügig größeres Nebengebäude. An allen Stationen außer Geisenbrunn wurde ein Güterschuppen in Holzbauweise mit Satteldach und einer Laderampe errichtet. Der Bahnhof Herrsching verfügte zudem über einen zweiständigen Lokschuppen mit angebautem Wohntrakt, eine Bahnmeisterei und zwei 1910 und 1913 errichtete Dienstwohngebäude. Die gemauerten Empfangsgebäude in Neuaubing, Germering-Unterpfaffenhofen, Gilching-Argelsried, Weßling, Steinebach, Seefeld-Hechendorf und Herrsching sind alle erhalten geblieben. Ebenso sind noch die Nebengebäude in Germering-Unterpfaffenhofen, Gilching-Argelsried und Steinebach vorhanden. Die Empfangsgebäude von Steinebach und Herrsching und das Nebengebäude in Steinebach stehen unter Denkmalschutz. Die hölzernen Stationsgebäude von Freiham und Geisenbrunn sind nicht erhalten. Stellwerke und Sicherungstechnik Bei der Inbetriebnahme wurden die Weichen entlang der Strecke zunächst vor Ort durch Weichenwärter gestellt und die Fahrerlaubnis mündlich erteilt. Aufgrund der geplanten Anhebung der Höchstgeschwindigkeit beschloss die Generaldirektion der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen am 11. Februar 1904, die Bahnhöfe der Strecke mit Stellwerken und Einfahrsignalen auszustatten und einen späteren Einbau von Ausfahrsignalen vorzubereiten. Zwischen 1906 und 1910 nahmen die Bayerischen Staatseisenbahnen in den Bahnhöfen Neuaubing, Freiham, Unterpfaffenhofen-Germering, Gilching-Argelsried, Weßling, Steinebach, Seefeld-Hechendorf und Herrsching mechanische Stellwerke der Bauart Krauß mit Kurbelwerk in Betrieb, die über Doppeldrahtzugleitungen die Weichen und die neu eingebauten bayerischen Formsignale stellten. 1910 richteten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen in Geisenbrunn mit der Errichtung eines Gleisanschlusses zu einem Tonwerk eine Deckungsstelle ein. Die Anschlussweiche wurde aus beiden Fahrtrichtungen mittels Deckungssignalen gesichert, die aus einer Wellblechbude bedient wurden. Im Zuge der Elektrifizierung stattete die Deutsche Reichsbahn die Stellwerke der Strecke zwischen 1923 und 1925 mit Streckenblock aus. Am 27. Juni 1968 nahm die Deutsche Bundesbahn am Bahnhof Gilching-Argelsried anstelle des mechanischen Stellwerks ein Drucktastenstellwerk der Siemens-Bauart Dr S2 in Betrieb und ersetzte die Formsignale durch Lichtsignale nach dem H/V-Signalsystem. Die übrigen mechanischen Stellwerke und Formsignale blieben über die Aufnahme des S-Bahn-Betriebs hinaus in Betrieb. Am 22. November 1977 nahm am Bahnhof München-Freiham ein Spurplandrucktastenstellwerk der Siemens-Standardbauart Sp Dr S60 den Betrieb auf, über das die Weichen und Signale der Bahnhöfe Neuaubing und Unterpfaffenhofen-Germering ferngestellt werden. 1985 ersetzte die Deutsche Bundesbahn schließlich mit der Einrichtung von zwei Spurplandrucktastenstellwerken der Bauform Sp Dr S600 alle an der Strecke verbliebenen mechanischen Stellwerke mit Ausnahme von Steinebach. Zunächst ging am 23. Juli 1985 das Spurplanstellwerk am Bahnhof Herrsching mit Fernstellung des Bahnhofs Seefeld-Hechendorf in Betrieb, es folgte am 15. September 1985 das Stellwerk am Bahnhof Weßling. Das 17 Jahre alte Drucktastenstellwerk in Gilching-Argelsried wurde zeitgleich außer Betrieb genommen und der Bahnhof fortan von Weßling aus ferngestellt. Das letzte mechanische Stellwerk der Strecke in Steinebach legte die Deutsche Bundesbahn 1986 mit dem Rückbau des Bahnhofs Steinebach zur Haltestelle still. Fortan wurde die ganze Strecke von drei Stellwerken in Freiham, Weßling und Herrsching aus gestellt. Ab dem 16. August 1991 steuerte die Deutsche Bundesbahn die Stellwerke in Freiham, Weßling und Herrsching durch die Betriebssteuerzentrale (BSZ) in München-Pasing fern. Damit wurde an der Bahnstrecke Pasing–Herrsching kein Betriebspersonal mehr benötigt. Zum 21. April 2013 ersetzte die Deutsche Bahn die Betriebssteuerzentrale durch das neue elektronische Stellwerk (ESTW) München Südwest, das die Fernsteuerung der bestehenden Spurplanstellwerke übernahm. Fahrzeugeinsatz Lokomotiven und Reisezugwagen Für den Betrieb auf der Strecke lieferte die Lokomotivfabrik Krauss & Comp. fünf Nassdampf-Tenderlokomotiven der Gattung D VIII an die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen. Für den Personenverkehr waren zur Eröffnung 16 Lokalbahnwagen der Gattungen BL, BCL, Ci und P.Post.L vorhanden. Planmäßig waren die Personenzüge aus einer Lokomotive und fünf Wagen gebildet, Züge zur Beförderung von Eilstückgut erhielten zusätzlich einen gedeckten Güterwagen der Gattung GLmn. Neben der Gattung D VIII bespannten die Bayerischen Staatseisenbahnen die Züge auf der Strecke vor allem mit Schlepptender­lokomotiven der Gattungen B V, B VI, B VIII, B IX, C III und C IV sowie mit Tenderlokomotiven der Gattungen D VII, D IX, D XI und D XII. Mit dem Beginn des elektrischen Betriebes stellte die Deutsche Reichsbahn 1925 die lokomotivbespannten Personen- und Güterzüge auf der Strecke vollständig auf Elektrolokomotiven der Gattung EP2 um, ab 1927 als Baureihe E 32 bezeichnet. Ab Ende der 1920er Jahre setzte die Deutsche Reichsbahn zweiachsige Ganzstahlwagen, sogenannte Donnerbüchsen, in den Personenzügen ein. Im Güterverkehr kamen neben der Baureihe E 32 Elektrolokomotiven der Baureihen E 44, E 75 und E 91 des Bahnbetriebswerks München Hbf zum Einsatz. 1938 setzte die Deutsche Reichsbahn zudem die elektrischen Rangierlokomotiven der Baureihe E 60 zwischen München-Laim und Herrsching ein. Der Rangierdienst im Gleisanschluss des Tanklagers Krailling wurde ab dem Bahnhof Freiham mit eigenen Werkslokomotiven der Bauart WR 360 C 14 durchgeführt. Ab 1951 übernahm die Deutsche Bundesbahn die Rangierarbeiten im Gleisanschluss. Da aufgrund steigender Fahrgastzahlen das Zuggewicht zunahm, setzte die Deutsche Bundesbahn ab 1952 vor einigen Personenzügen eine zusätzliche Vorspannlokomotive der Baureihe E 32 ein. Am 23. Mai 1954 führte die Deutsche Bundesbahn den Wendezugbetrieb zwischen München und Herrsching ein. Die Wendezüge wurden aus Mitteleinstiegswagen und ab 1955 dreiachsigen Umbau-Wagen gebildet, die mit Lokomotiven der Baureihe E 44 G bespannt wurden. Gleichzeitig endete der Einsatz der Baureihe E 32 auf der Strecke. Ab 1957 setzte die Deutsche Bundesbahn vor den Wendezügen Einheitselektrolokomotiven der Baureihe E 41 ein. Mit der Aufnahme des S-Bahn-Verkehrs endete der Einsatz lokbespannter Personenzüge weitgehend. Lediglich auf den S-Bahn-Ergänzungszügen bis Unterpfaffenhofen-Germering kamen n-Wagen-Garnituren zum Einsatz, die in den Fahrplanjahren 1975 und 1976 noch von Schnellzuglokomotiven der Baureihe E 16, später von Einheitselektrolokomotiven gezogen wurden. Die Überführungsfahrten zum Ausbesserungswerk Neuaubing und die Kesselwagenzüge zum Tanklager Krailling bespannte die Deutsche Bundesbahn bis in die 1960er Jahre zum Teil mit Dampflokomotiven. Danach kamen vor diesen Zügen die Baureihe E 41 und Diesellokomotiven der Baureihen V 160 und V 60 zum Einsatz. Bis 1971 setzte die Deutsche Bundesbahn vor Übergabezügen nach Herrsching noch die Baureihe E 75 ein. DB Cargo setzt vor den Übergabezügen zum Tanklager und Flüssiggaslager Krailling Diesellokomotiven der Baureihe 294 ein, bis etwa 2010 waren Lokomotiven der Baureihe V 60 im Einsatz. Triebwagen Ab 1906 setzten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen zwischen München und Herrsching die für den Münchner Vorortverkehr neu beschafften vierachsigen Dampftriebwagen der Gattung MCCi ein. Vier Dampftriebwagen wurden 1924 zu Elektrotriebwagen mit den Nummern elT 701–704 (ab 1940: ET 85 01–04) umgebaut und kamen nach der Elektrifizierung weiterhin auf der Herrschinger Strecke zum Einsatz. Die Deutsche Bundesbahn setzte die Triebwagen noch bis 1956 zwischen München und Weßling ein. Von Juni 1956 bis zum 20. Mai 1957 waren auf der Strecke die nur vorübergehend im Bw München Hbf stationierten Elektrotriebwagen der Baureihe ET 30 im Einsatz. Zwischen 1958 und 1961 verkehrten im Vorortverkehr bis Unterpfaffenhofen-Germering Triebwagen der Baureihe ET 32. Mit der Aufnahme des S-Bahn-Betriebs am 28. Mai 1972 übernahmen die dreiteiligen S-Bahn-Triebwagen der Baureihe 420 den Personenverkehr auf der Strecke. Lediglich die Werkspersonenzüge zum Ausbesserungswerk Neuaubing wurden bis 1974 mit Triebwagen der Baureihe 485 gefahren. Zum 21. Juni 2003 stellte die Deutsche Bahn die S 5 Ebersberg–Herrsching als letzte Münchner S-Bahn-Linie von der Baureihe 420 auf die neuen vierteiligen Elektrotriebwagen der Baureihe 423 um. Seit April 2019 kommen auf den Verstärkerzügen bis Weßling wieder Triebwagen der Baureihe 420 zum Einsatz. Verkehr Personenverkehr Im ersten Fahrplan ab dem 1. Juli 1903 setzten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen täglich drei Zugpaare zwischen München und Herrsching ein, die am Starnberger Flügelbahnhof des Münchner Centralbahnhofs begannen und alle Zwischenstationen auf der Strecke bedienten. An Sonn- und Feiertagen im Sommer verkehrten bei gutem Wetter zwei zusätzliche Badezüge, die lediglich in Pasing, Weßling und Seefeld-Hechendorf hielten. Die regulären Personenzüge benötigten für die Strecke München Centralbahnhof–Herrsching etwa 90 Minuten, während die Badezüge die Strecke in 72 Minuten zurücklegten. Der Fahrpreis für eine einfache Fahrt von München nach Herrsching lag im Eröffnungsjahr bei 2,10 Mark in der zweiten und 1,40 Mark in der dritten Wagenklasse; Wagen erster Klasse wurden nicht mitgeführt. Aufgrund des hohen Fahrgastaufkommens erweiterten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen das Zugangebot bis 1906 auf acht Zugpaare pro Tag. Durch die Streckenausbauten konnte die Fahrzeit bis 1914 auf 71 bis 76 Minuten für die Regelzüge und 55 bis 63 Minuten für die Badezüge reduziert werden. Im Sommerfahrplan 1914 verkehrten täglich weiterhin acht Zugpaare zwischen München Hbf und Herrsching, die zum Teil alle Stationen bedienten, zum Teil zwischen Pasing und Weßling ohne Halt durchfuhren. An Sonn- und Feiertagen setzten die Bayerischen Staatsbahnen sieben zusätzliche Badezüge in Richtung Herrsching und fünf in Richtung München ein, die größtenteils nur an den Zwischenstationen Pasing, Weßling, Steinebach und Seefeld-Hechendorf hielten. Zusätzlich waren ein Zugpaar von München Hbf nach Weßling und drei Zugpaare im Vorortverkehr von München Hbf nach Freiham vorgesehen. Im Ersten Weltkrieg reduzierten die Bayerischen Staatsbahnen das Zugangebot bis 1918 wegen Fahrzeugmangels auf vier Zugpaare an Werktagen und sechs an Sonn- und Feiertagen. Mit der Aufnahme des elektrischen Betriebes konnte die Deutsche Reichsbahn zum Sommerfahrplan 1925 die Fahrzeit der Regelzüge auf 54 bis 63 Minuten senken und die Zugzahlen deutlich erhöhen. Fortan begannen alle Züge im Starnberger Flügelbahnhof des Münchner Hauptbahnhofs und wurden bis Pasing zum größten Teil über die Vorortbahn geführt. Zwischen München Hbf und Herrsching verkehrten nun an Werktagen 14 Zugpaare und an Sonn- und Feiertagen im Sommer bei gutem Wetter bis zu 16 Zugpaare. Ergänzend zu den durchgehenden Zügen fuhren zwei Zugpaare zwischen München und Weßling, elf Zugpaare bis Unterpfaffenhofen-Germering, zwei bis Freiham und zwei weitere bis Neuaubing. In den 1930er Jahren baute die Deutsche Reichsbahn das Zugangebot weiter aus, sodass im Sommerfahrplan 1939 zwischen München und Herrsching an Werktagen 18 und an Sonn- und Feiertagen im Sommer bis zu 22 Zugpaare zum Einsatz kamen. Der Vorortverkehr wurde bis 1939 auf 17 Zugpaare von München nach Unterpfaffenhofen-Germering und vier Zugpaare bis Freiham erweitert. Im Zweiten Weltkrieg verringerte die Deutsche Reichsbahn das Angebot und stellte die Badezüge zum größten Teil ein. 1943 waren werktags noch 14 Zugpaare zwischen München und Herrsching im Einsatz. In der Nachkriegszeit blieben die Zugzahlen zunächst geringer als vor dem Krieg. So verkehrten Anfang 1946 nur fünf Zugpaare, 1947 dann wieder 14 Zugpaare über die Gesamtstrecke. Aufgrund der steigenden Fahrgastzahlen verbesserte die Deutsche Bundesbahn das Zugangebot bis in die 1950er Jahre wieder. Ab Anfang der 1950er Jahre führte die Deutsche Bundesbahn einzelne Züge zwischen München und Herrsching als Nahschnellverkehrszüge (N) mit weniger Zwischenhalten und einer auf 50 Minuten verkürzten Fahrzeit, während die Fahrzeit der Regelzüge bei etwa 60 Minuten lag. Im Sommerfahrplan 1953 setzte die Deutsche Bundesbahn von Montag bis Freitag 19 und am Wochenende bis zu 20 Zugpaare zwischen München Hbf und Herrsching ein, sodass Herrsching zu den meisten Tageszeiten etwa stündlich angeschlossen war. Diese wurden werktags durch ein Zugpaar von München nach Weßling, drei bis Gilching-Argelsried, neun bis Unterpfaffenhofen-Germering und ein Zugpaar bis Neuaubing verstärkt. In den folgenden Jahren blieben die Zugzahlen bis 1972 weitgehend konstant. Mit Inbetriebnahme der S-Bahn München führte die Deutsche Bundesbahn einen Taktfahrplan auf der Strecke Pasing–Herrsching ein. Ab dem 28. Mai 1972 verkehrte die Linie S 5 im 20-Minuten-Takt vom Münchner Ostbahnhof nach Unterpfaffenhofen-Germering und im 40-Minuten-Takt weiter nach Herrsching. In der morgendlichen und nachmittäglichen Hauptverkehrszeit wurde der 20-Minuten-Takt bis Herrsching ausgedehnt. Ergänzend setzte die Deutsche Bundesbahn einzelne Nahverkehrszüge als Verstärker im S-Bahn-Ergänzungsverkehr zwischen Unterpfaffenhofen-Germering und München-Pasing ein, die ab Pasing weiter ohne Halt nach München Hbf oder über die Sendlinger Spange nach Deisenhofen und Höllriegelskreuth verkehrten. Noch bis 1974 verkehrte ein Zugpaar im Werkspersonenverkehr von Pasing zum Ausbesserungswerk Neuaubing. Ab 1981 band die Deutsche Bundesbahn einige Züge der S 5 ab München Ostbahnhof weiter nach Giesing und vereinzelt bis Deisenhofen durch. Mit der Fertigstellung des zweigleisigen Ausbaus wurde ab 1987 ein durchgehender 20-Minuten-Takt bis Weßling angeboten und die einzelnen Verstärkerzüge ebenfalls von Unterpfaffenhofen-Germering bis Weßling verlängert. Im Mai 1992 tauschte die Deutsche Bundesbahn die östlichen Endpunkte der Linien S 4 und S 5; fortan verkehrte die S 5 im 20-Minuten-Takt von Weßling nach Grafing Bahnhof und im 40-Minuten-Takt von Herrsching nach Ebersberg. Im Zuge eines weiteren Linientausches fuhr die S 5 ab dem 12. Dezember 2004 von Herrsching nach Holzkirchen. Gleichzeitig führte die Deutsche Bahn anstelle der einzelnen Verstärkerzüge einen 10-Minuten-Takt in der Hauptverkehrszeit zwischen Germering-Unterpfaffenhofen und Deisenhofen ein. Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2009 wurde die Linienbezeichnung S 5 aufgehoben, seitdem wird die Bahnstrecke München-Pasing–Herrsching durch die Linie S 8 vom Flughafen München nach Herrsching bedient. Im Winter besteht bis Weßling ein 20-Minuten-Takt und bis Herrsching ein 20/40-Minuten-Takt. Im Sommer fahren die Züge auf der gesamten Strecke im 20-Minuten-Takt. In der Hauptverkehrszeit verkehren von München Ost Verstärkerzüge nach Germering-Unterpfaffenhofen und Weßling im 20-Minuten-Takt, die auf diesem Abschnitt einen 10-Minuten-Takt herstellen Güterverkehr Der Güterverkehr auf der Lokalbahn Pasing–Herrsching war zur Betriebsaufnahme ausschließlich von lokaler Bedeutung. Zunächst verkehrten an Werktagen zwei planmäßige Güterzugpaare zwischen München und Herrsching. Im Eröffnungsjahr 1903 transportierten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen insgesamt 11.307 Tonnen Güter über die Strecke, im ersten vollständigen Betriebsjahr 1904 waren es 22.487 Tonnen. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens im Personenverkehr kamen, anders als auf anderen bayerischen Lokalbahnen, von Beginn an von den Personenzügen getrennte Güterzüge für Massengüter zum Einsatz. Diese beförderten vor allem Baustoffe, Holz, Kohlen sowie landwirtschaftliche Produkte wie Kartoffeln, Zuckerrüben, Kunstdünger und Großvieh, die an den Laderampen und Ladestraßen der einzelnen Stationen umgeschlagen wurden. Für den Transport von Eilgut, Milch und Käselaiben wurden auch gemischte Züge eingesetzt, wofür ein Güterwagen an die regulären Personenzüge angehängt wurde. In den ersten Betriebsjahren stieg das Güterverkehrsaufkommen fortwährend an, sodass die Bayerischen Staatseisenbahnen 1910 bereits 50.770 Tonnen Güter auf der Strecke beförderten. Von 1910 bis in die 1930er Jahre bedienten die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen in Geisenbrunn einen Gleisanschluss zu einem Tonwerk, über den täglich ein Güterwagen zugestellt und abholt wurde. 1935 nahm die Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft (WiFo) einen Gleisanschluss vom Bahnhof Freiham zum neu errichteten Tanklager Krailling in Betrieb, über den die Deutsche Reichsbahn mittels Kesselwagen Treibstoff für die Wehrmacht transportierte. Einen weiteren Gleisanschluss richtete die Deutsche Reichsbahn Ende der 1930er Jahre bei Weichselbaum ein, der zur Anlieferung von Flugzeugteilen für das Werk Oberpfaffenhofen des Flugzeugherstellers Dornier-Werke diente. Durch diese beiden strategisch bedeutsamen Gleisanschlüsse nahm der Güterverkehr auf der Strecke vor und während des Zweiten Weltkriegs erheblich zu. Alleine über den Gleisanschluss zum Tanklager Krailling beförderte die Deutsche Reichsbahn 1941 etwa 368.000 Tonnen Treibstoff. In der Nachkriegszeit wies das Tanklager nach Übernahme durch die amerikanische Armee weiterhin erheblichen Güterverkehr auf; 1948 wurden 606.000 Tonnen Treibstoff über den Gleisanschluss transportiert. Ab 1959 wurden Tanklager und Gleisanschluss zunächst durch die Vereinigte Tanklager und Transportmittel GmbH (VTG), später durch die Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) betrieben. Ab den 1960er Jahren ging mit der steigenden Bedeutung des Straßengüterverkehrs der örtliche Güterverkehr zwischen Pasing und Herrsching zunehmend zurück. In den 1980er Jahren stellte die Deutsche Bundesbahn den Wagenladungsverkehr schrittweise an den meisten Bahnhöfen ein: Am Bahnhof Freiham endete der Ortsgüterverkehr 1980, in Steinebach 1983, in Weßling 1987, in Seefeld-Hechendorf 1989 und in Unterpfaffenhofen-Germering 1990. Den Wagenladungstarifpunkt am Bahnhof Herrsching schloss die Deutsche Bahn am 1. September 1994, damit endete gleichzeitig der Güterverkehr zwischen Weichselbaum und Herrsching vollständig. Es verblieb die Bedienung der Gleisanschlüsse zu einem Gas-Tanklager im Bahnhof Neuaubing, zum Tanklager Krailling der IVG ab dem Bahnhof Freiham und zu den Dornier-Werken in Weichselbaum. 1997 wurde das Gaslager nach Krailling verlegt und fortan über den Gleisanschluss am Bahnhof Freiham bedient, das Anschlussgleis in Neuaubing wurde stillgelegt. 2003 stellte die Deutsche Bahn die Bedienung des Gleisanschlusses zu den Dornier-Werken ein. Seitdem bedient DB Cargo nur noch den Gleisanschluss vom Bahnhof Freiham zum Tanklager Krailling und zum Flüssiggaslager. Zum Gaslager verkehren pro Woche etwa zwei bis drei Übergabezüge mit Kesselwagen. Ab Dezember 2014 wurde vorübergehend nur noch das Flüssiggaslager bedient, Ende 2016 das Anschlussgleis zum Tanklager aber wieder hergestellt. Kursbuchstrecken Im Reichs-Kursbuch war die Strecke München–Herrsching zunächst unter der Nummer 311c, später unter der Nummer 297e verzeichnet. Parallel dazu war eine eigene Kursbuchstrecke 313i für den Vorortverkehr von München nach Neuaubing und Freiham vorhanden. Im neuen Nummernsystem des Amtlichen Kursbuchs für das Reich, das später von der Deutschen Bundesbahn übernommen wurde, war der Vorortverkehr wieder in die Haupttabelle integriert, zunächst unter der Nummer 403a. Mit Betriebsaufnahme der S-Bahn erhielt die Strecke die neue Kursbuchstrecke 995 Herrsching–München Ostbahnhof. Mit dem Linienwechsel auf die S 8 hat sie seit 2009 die Kursbuchstreckennummer 999.8 inne. Literatur Weblinks Barbara Pexa: Über die Lokalbahn Pasing/Herrsching. In: woerthsee-online.de, 2003. Einzelnachweise Bahnstrecke in Bayern Bahnstrecke Munchen PasingHerrsching Bahnstrecke Munchen PasingHerrsching Bahnstrecke Munchen PasingHerrsching Bahnstrecke Munchen PasingHerrsching
7452572
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fohr-Pfeifhase
Großohr-Pfeifhase
Der Großohr-Pfeifhase (Ochotona macrotis) ist eine Art der Pfeifhasen (Ochotonidae) innerhalb der Hasenartigen (Lagomorpha). Er kommt im Himalaya und im Tian Shan vor; sein Verbreitungsgebiet reicht dabei vom Süden Kasachstans über Teile von Kirgisistan und Tadschikistan bis in die Volksrepublik China und den Norden Indiens. Mit einer Körpergröße von 15 bis 21 Zentimetern und einem Gewicht von bis 280 Gramm gehört er zu den mittelgroßen Arten der Pfeifhasen. Von anderen Arten der Gattung unterscheidet er sich vor allem durch die sehr großen Ohren und die spezifische Färbung, wobei auch melanistische und damit vollständig schwarze Tiere vorkommen. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung stammt von Albert Günther aus dem Jahr 1875; die taxonomische Einordnung der Pfeifhasen ist schwierig und veränderte sich über die Zeit mehrfach, was auf die große Ähnlichkeit der einzelnen Arten und Unterarten untereinander zurückgeführt werden kann. Aufgrund des vergleichsweise großen Verbreitungsgebietes und des Fehlens bestandsgefährdender Risiken wird die Art als nicht gefährdet betrachtet. Merkmale Allgemeine Merkmale Der Großohr-Pfeifhase ist ein mittelgroßer Pfeifhase mit einer Körperlänge von 15 bis 21 Zentimetern bei einem Gewicht von 160 bis 280 Gramm. Er hat im Sommer ein blass braun- bis sandfarben-graues Fell mit einer ockerfarbenen Tönung, im Winter ist das Fell länger und weich mit blassgrauer Färbung und rauchig-gelben Bereichen. Bei der Unterart O. m. macrotis kommen auf den Schultern und dem Kopf rauch-gelbe und -braune Flecken vor, O. m. wollastoni besitzt dagegen keine Flecken. Die Stirn ist rötlich-braun gefärbt. Die Bauchseite ist weiß bis grauweiß. Neben den normal gefärbten Tieren kommen auch Tiere vor, die melanistisch und damit einfarbig schwarz gefärbt sind. Die namensgebenden Ohren erreichen eine Länge von 23 bis 36 Millimetern und sind damit im Vergleich zu denen anderer Pfeifhasen sehr groß, sie sind rundlich und besitzen einen schwarzen Rand. Sie sind im Vergleich zu denen des nächstverwandten Royle-Pfeifhasen (Ochotona roylei) etwas breiter und auf der Innenseite mit langen Haaren ausgestattet. Die Hinterfüße sind 28 bis 37 Millimeter lang, die Füße sind weiß mit nackten Fußballen. Das Genom besteht aus 2n = 62 Chromosomen. Merkmale des Schädels Der Schädel ist für den eines Pfeifhasen mittelgroß und entspricht in Form und Größe dem des Royle-Pfeifhasen. Die Gesamtlänge des Schädels beträgt 38 bis 44 Millimeter, die Breite 21 bis 23 Millimeter und die Höhe 15 bis 18 Millimeter. Das im knöchernen Gaumen liegende Schneidezahnfenster und das dahinterliegende Gaumenfenster verschmelzen bei dieser Art zu einer einzelnen größeren Öffnung. Das Stirnbein besitzt häufig ebenfalls ein Paar kleinere Fenster, dieses Merkmal trifft jedoch nicht generell zu. Die Paukenblasen des Ohres sind mittelgroß ausgebildet. Die Tiere besitzen wie alle Pfeifhasen im Oberkiefer auf beiden Seiten jeweils zwei Schneidezähne (Incisivi) gefolgt von einer längeren Zahnlücke (Diastema) sowie von je drei Vorbackenzähnen (Praemolares) und zwei Backenzähnen (Molares). Im Unterkieferast sind auf beiden Seiten nur je ein Schneidezahn sowie nur zwei Prämolaren vorhanden, dafür drei Molares. Insgesamt besitzen die Tiere also 26 Zähne. Verbreitung Der Großohr-Pfeifhase ist über ein vergleichsweise großes Gebiet in Zentralasien in den Gebirgszügen des Himalaya, des Pamir, des Hindukusch sowie des Tian Shan verbreitet. Das Verbreitungsgebiet reicht dabei vom südöstlichen Kasachstan sowie vom östlichen Kirgisistan und Tadschikistan über das nordöstliche Pakistan und Afghanistan, den Norden Indiens, Nepal und Bhutan bis in die Bergregionen der Provinzen Xizang, Sichuan, Xinjiang, Yunnan, Qinghai und Gansu in der Volksrepublik China. Einige Unterarten kommen zudem bis in den Norden Indiens vor. Die Höhenverbreitung der Tiere reicht von 2300 bis 6126 Meter, wobei die Art bei gemeinsamem Vorkommen mit Ochotona roylei höhere Lagen bevorzugt. Nach anderen Angaben sind sie hauptsächlich in Höhen von 3000 bis 5700 Metern anzutreffen, die Unterart O. m. sacana besiedelt die am tiefsten liegenden Bereiche in Höhen von 2500 bis 4000 Metern im chinesischen Tian Shan. Lebensweise Der Großohr-Pfeifhase lebt in felsigen Bergregionen und Kiefernwäldern. Die Tiere nutzen Felsspalten und Höhlungen unter und zwischen Steinen als Bauten und sind weitgehend tagaktiv, manchmal werden sie auch in der Dämmerung und nachts aktiv. Die Bewegung der Tiere findet schnell laufend und springend statt. Sie kommen in der Regel morgens vor Sonnenaufgang aus ihren Bauen und fressen bis in den Vormittag, dann ziehen sie sich vor allem aufgrund der steigenden Temperaturen zurück; die abendliche Aktivität beginnt mit fallenden Temperaturen und dauert bis nach Sonnenuntergang an. Die Tiere bewegen sich auf der Nahrungssuche vor allem in den oberen Bereichen von Steinhaufen, laufen jedoch auch manchmal offen und ungedeckt auf den felsigen Flächen und an der Vegetation. Die Tiere leben wenig gesellig in Familiengruppen mit Territorien, die in der Regel von einem Elternpaar und dessen Jungtieren besetzt sind. Großohr-Pfeifhasen zeigen kein aggressives Territorialverhalten und bilden keine festen und exklusiven Reviere. Die Aktivitätsbereiche sind entsprechend überlappend und nehmen eine Fläche von maximal 1600 m² pro Individuum ein. Die Besiedlungsdichte variiert zwischen 500 Individuen pro km² in den Hochlagen und 2300 Individuen pro km² in den Tälern mit ausgeprägterer Vegetation. Die Lautäußerungen der Tiere sind leise und selten und ihre soziale und kommunikative Bedeutung innerhalb der Gruppen wird entsprechend angezweifelt. Sie ernähren sich generalistisch von Pflanzenteilen wie Gräsern, Blättern, Zweigen sowie von Moosen und Flechten, wobei sie anders als viele andere Arten der Pfeifhasen keine Ballen aus getrockneten Gräsern (Heuballen) anlegen und als Vorrat lagern. Während der wärmeren Jahreszeiten ernähren sich die Tiere vor allem von grünen Pflanzenteilen, Beeren und Früchten und in den trockeneren und kälteren Jahreszeiten fressen sie trockene Zweige, Gräser und andere Pflanzenteile. Wie andere Pfeifhasen legen auch die Großohr-Pfeifhasen „Latrinen“ unter Steinen und Büschen an, in denen sie ihre Kotpillen hinterlassen. Im Vergleich zu anderen Arten ist die Reproduktionsrate des Großohr-Pfeifhasen niedrig und abhängig von den regionalen Bedingungen. Für die Würfe legen die Weibchen Brutkammern zwischen den Steinen an, die mit Federn und Fell ausgepolstert werden. Die Weibchen haben eine Tragzeit von etwa 30 Tagen und gebären von April bis Mitte August häufig zwei und im Fall von O. m. sacana bis zu drei Würfe pro Jahr mit durchschnittlich jeweils zwei bis sieben Jungtieren. Die Jungtiere werden mit einem dichten Fell geboren, die Augen sind noch geschlossen. Die Geschlechtsreife erreichen die Tiere nach etwa sieben bis zehn Monaten. Sie erreichen ein Alter von bis zu drei Jahren, bereits nach einem Jahr produzieren sie eigenen Nachwuchs. Systematik Der Großohr-Pfeifhase wird als eigenständige Art den Pfeifhasen (Gattung Ochotona) und der Untergattung Conothoa zugeordnet. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung stammt aus dem Jahr 1875 von Albert C. L. G. Günther, dem damaligen Leiter der zoologischen Abteilung am Natural History Museum in London, der die Art als Lagomys macrotis bezeichnete und gemeinsam mit dieser einige andere Arten der Hasenartigen wie den Ladakh-Pfeifhasen (Ochotona ladacensis), den Yarkand-Hasen (Lepus yarkandensis) und den heute als Unterart des Wüstenhasen (Lepus tibetanus) eingeordneten Lepus pamirensis beschrieb. Wie bei den meisten Pfeifhasen ist auch beim Großohr-Pfeifhasen die systematische Einordnung aufgrund der großen Ähnlichkeiten der Arten schwierig und veränderte sich über die Zeit mehrfach. Zeitweise wurde die Art dem Royle-Pfeifhasen (O. roylei) als Unterart zugeschlagen, aufgrund von morphologischen und ökologischen Unterschieden in den Regionen, in denen beide Arten sympatrisch vorkommen, wurde der Artstatus von Ochotona macrotis jedoch bestätigt. Im Jahr 2000 wurde auf der Basis von Sequenzen der mitochondrialen DNA der Royle-Pfeifhase als Schwesterart des Großohr-Pfeifhasen identifiziert, beide zusammen bilden entsprechend dieser Ergebnisse die Schwestergruppe zu einem Taxon aus dem Ladakh-Pfeifhasen (Ochotona ladacensis) und dem Koslow-Pfeifhasen (O. koslowi). Gemeinsam mit dem Forrest-Pfeifhasen (Ochotona forresti) und dem Rotohr-Pfeifhasen (Ochotona erythrotis) wurden alle diese Arten als „Mountain group“ zusammengefasst, während die klassische Aufteilung nach Untergattungen als paraphyletisch verworfen wurde. 2004 erschien eine phylogenetische Analyse auf der Basis der Sequenz des Cytochrom b, bei der das Schwestergruppenverhältnis von Großohr- und Royle-Pfeifhase bestätigt wurde, der Ladakh-Pfeifhase sich jedoch als basale Schwesterart eines Taxons aus O. koslowi, O. rutila, O. iliensis, O. roylei und O. macrotis erwies; die gesamte Gruppe zuzüglich einiger weiterer Arten wurde in eine „Surrounding Qinghai-Tibet Plateau Group“ eingeordnet. Nach der Überarbeitung der Taxonomie durch Andrei Alexandrowitsch Lissowski 2013 auf der Basis kraniometrischer Merkmale und der Sequenz des Cytochrom b wurden einige Details der phylogenetischen Einordnung geändert, die nahe Verwandtschaft der Arten wurde jedoch bestätigt. Lissowski stellte diese Arten entsprechend gemeinsam in die Untergattung Conothoa. Insgesamt werden gemeinsam mit der Nominatform fünf Unterarten beschrieben: O. m. macrotis , 1875: Nominatform; Die Unterart kommt im Kunlun-Gebirge im Hochland von Tibet, in Xinjiang sowie dem angrenzenden Qinghai vor. O. m. chinensis , 1911: Die Unterart lebt im nordwestlichen Hengduan Shan im Südosten von Tibet, im westlichen Sichuan und dem nördlichen Yunnan im südlichen China. O. m. sacana , 1914: Die Unterart kommt im Tian Shan, im Pamir und im Alaigebirge vom Südwesten Kasachstan bis Tadschikistan vor. O. m. wollastoni , 1922: Diese Unterart lebt im Karakorum-Gebirge sowie in der Ladakh-Region. Benannt wurde die Unterart nach Alexander F. R. Wollaston, der als Naturwissenschaftler die Expedition der Royal Geographical Society zum Mount Everest begleitete und die auf der Expedition gesammelten Typusexemplare den am British Museum tätigen Zoologen Thomas und Hinton zur Verfügung stellte. Sie beschrieben die Tiere als Ochotona wollastoni und damit als eigenständige Art, die sie in die nähere Verwandtschaft des Royle-Pfeifhasen (O. roylei) einordneten. O. m. gomchee , 2017: Diese Unterart wurde erst 2017 durch ein internationales Forscherteam um Andrei Alexandrowitsch Lissowski beschrieben. Sie kommt in Bhutan im Bereich des Chamka Chhu und wahrscheinlich bis in den östlichen Himalaya in die Regionen Sikkim und Arunachal Pradesh vor. Ochotona auritus , 1875, wurde bei Wilson & Reeder 2005 als weitere Unterart des Großohr-Pfeifhasen eingeordnet und wird heute als Synonym des Ladakh-Pfeifhasen (Ochotona ladacensis) betrachtet. Die Zuordnung von Ochotona forresti duoxionglaensis , 2009, aus Motuo und Mainling im Namcha Barwa Himal in der Schleife des Brahmaputra im Südosten des Autonomen Gebiets Tibet zum Großohr-Pfeifhasen wird auf der Basis kraniologischer Datenanalysen diskutiert. Gefährdung und Schutz Die Art wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) aufgrund ihres großen Verbreitungsgebietes als nicht gefährdet (least concern) eingestuft. Obwohl keine genauen Daten zur aktuellen Bestandsgröße vorliegen, wird davon ausgegangen, dass es sich um eine regelmäßig vorkommende Art handelt und dass es keine größeren Schwankungen der Populationsgrößen gibt. Eine Interaktion mit Menschen kommt aufgrund der hoch- und abgelegenen Lebensräume der Tiere kaum vor, in seltenen Fällen nutzen die Tiere Mauern oder auch Gebäude am Rande ihrer Verbreitungsgebiete als Unterschlupf. Im indischen Teil des Verbreitungsgebietes kommt die Art im Hemis-Nationalpark und im Kanji Wildlife Sanctuary vor, darüber hinaus könnte sie im Changthang Wildlife Sanctuary vorkommen. In China kommt der Großohr-Pfeifhase in den Naturschutzgebieten Tuomuerfeng, Zhumulangmafeng, Changtang und Sanjiangyuan vor. Belege Literatur A.A. Lissovsky: Large-eared Pika – Ochotona macrotis. In: Don E. Wilson, T.E. Lacher, Jr., Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World: Lagomorphs and Rodents 1. (HMW, Band 6), Lynx Edicions, Barcelona 2016; S. 57. ISBN 978-84-941892-3-4. Joseph A. Chapman, John E. C. Flux (Hrsg.): Rabbits, Hares and Pikas. Status Survey and Conservation Action Plan. (PDF; 11,3 MB) International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN), Gland 1990; S. 39–40. ISBN 2-8317-0019-1. Large-Eared Pika. In: Andrew T. Smith, Yan Xie: A Guide to the Mammals of China. Princeton University Press, 2008; S. 283–284. ISBN 978-0-691-09984-2. Weblinks Dana Jordan: Ochotona macrotis, large-eared pika. Animal Diversity Net, 2005 Pfeifhasen
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https://de.wikipedia.org/wiki/The%20Legend%20of%20Zelda%3A%20A%20Link%20Between%20Worlds
The Legend of Zelda: A Link Between Worlds
The Legend of Zelda: A Link Between Worlds (OT: jap. , Zeruda no Densetsu: Kamigami no Toraifōsu Tsū) ist ein vom japanischen Videospielkonzern Nintendo entwickeltes und herausgegebenes Action-Adventure-Videospiel für das Handheld Nintendo 3DS. In Europa und Nordamerika erschien es im November 2013, in Japan folgte die Veröffentlichung im Dezember. Bei dem Spiel handelt es sich um den 17. Titel der Videospielserie The Legend of Zelda. Es orientiert sich stark am Serienteil A Link to the Past und setzt dessen Handlung einige Jahrhunderte später fort. Zu neuen Spielelementen der Zelda-Reihe, die in A Link Between Worlds anzutreffen sind, zählen die Funktion, die Spielfigur in ein Graffito zu verwandeln, sowie ein neues Item-System, das dem Spieler mehr Entscheidungsfreiheit gewährt. Im Spiel herrscht zudem die Vogelperspektive vor. Für die Entwicklung von A Link Between Worlds war das Studio Nintendo Entertainment Analysis & Development unter der Regie von Hiromasa Shikata verantwortlich. Die Planungen zum Spiel begannen direkt im Anschluss an die Vollendung von Spirit Tracks, dem vorherigen Handheld-Teil der Serie. Die eigentliche Entwicklungsphase startete Ende 2011. Mit einem Metascore von 91 von 100 Punkten gilt A Link Between Worlds als eines der besten 3DS-Spiele. Die Fachpresse hob insbesondere die Rätsel sowie den Spielfluss und das Spieltempo positiv hervor, während manche Publikationen Kritik an der Grafik und an der starken Ähnlichkeit zu A Link to the Past übten. Nach dem Urteil mancher Kritiker führt das Spiel Innovationen in die Zelda-Reihe ein, ohne die Traditionen der Serie zu vernachlässigen. Und doch fielen die Meinungen der Fachpresse bezüglich dieser Neuerungen eher gemischt aus. Bis März 2014 hat der Hersteller laut eigenen Angaben über zweieinhalb Millionen Exemplare des Spiels verkauft. Spielbeschreibung Handlung A Link Between Worlds handelt in der Spielwelt von The Legend of Zelda: A Link to the Past (SNES, 1991; kurz: ALttP) und ist zeitlich sechs Generationen nach den Ereignissen aus jenem Titel angesiedelt. Gemäß der Zeitleiste der Zelda-Reihe fanden zwischen den beiden Spielen die Ereignisse aus Oracle of Ages/Oracle of Seasons (GBC, 2001) und Link’s Awakening (GB, 1993) statt. Auf A Link Between Worlds folgt demnach die Handlung von Tri Force Heroes (Nintendo 3DS). Zu Beginn der Handlung wird der im Königreich Hyrule als Lehrling des Schmieds lebende Protagonist Link Zeuge, wie ein Magier namens Yuga sein Unwesen treibt und Menschen in Porträts verwandelt. Sahasrahla befürchtet, dass Yuga die Nachfahren der Sieben Weisen aufspüren möchte, die vor langer Zeit den bösen Ganon verbannt hatten, um mit ihrer Kraft den Dämon wieder zum Leben zu erwecken. Daher trägt sie Link auf, den Magier aufzuhalten. Unterstützt wird Link bei seiner Mission von einem fahrenden Händler im Hasenkostüm namens Ravio, der in sein Haus einzieht und ihm im Gegenzug nützliche Ausrüstungsgegenstände ausleiht sowie ihm einen Armreif schenkt. Als Link im Laufe des Spiels erneut auf Yuga stößt, verwandelt ihn dieser in ein Graffito. Dank Ravios Armreif kann sich Link in diesem zweidimensionalen Zustand an der Wand bewegen und so entkommen. Anschließend nimmt Yuga Schloss Hyrule ein. Um die von ihm errichtete magische Barriere zu überwinden, erlangt Link das Master-Schwert, mit dem ein legendärer Held vor vielen Jahren bereits Ganon bezwungen hatte, und stellt sich im Schloss erneut dem bösen Magier. Dieser verwandelt Prinzessin Zelda in ein Gemälde und entkommt durch einen Riss in der Wand in eine andere Dimension. Link folgt ihm und findet sich im Königreich Lorule wieder, einer Art Paralleldimension zu Hyrule. In Lorule macht sich Yuga die Kraft aller sieben inzwischen in Porträts eingesperrten Weisen zunutze und lässt Ganon wieder auferstehen, der mit ihm verschmilzt. Kurz bevor er Link in einem Kampf töten kann, erscheint Hilda, die Königin von Lorule, und hält Yuga auf. Sie bittet Link, die Sieben Weisen zu retten. Dazu muss er sieben Tempel in Lorule durchqueren, die Porträts aufspüren und sie berühren. Nach der Erfüllung dieser Mission kehrt Link zurück in das Schloss, wo ihm Hilda von der Geschichte ihres Königreiches erzählt. Wie auch in Hyrule existierte demnach in Lorule einst ein göttliches Artefakt, das als Triforce bezeichnet wird und seinem Besitzer sämtliche Wünsche erfüllt. Da Kriege um das Triforce das Königreich zu zersplittern drohten, zerstörte die Königsfamilie das Triforce von Lorule. Infolgedessen steht das Königreich kurz vor seinem Untergang. Um diesen abzuwenden, fasste Hilda den Entschluss, mithilfe von Yuga durch eine List an das Triforce von Hyrule zu gelangen. Link versucht, dies zu verhindern, und bekämpft den Magier. Allerdings ist Yuga nicht mehr von Hilda kontrollierbar; er handelt auf eigene Faust, um die Macht des Triforce für sich selbst beanspruchen zu können. Link besiegt schließlich Yuga. Anschließend erscheint Ravio, der sich als Einwohner von Lorule entpuppt und Hilda überzeugt, von ihrem Vorhaben abzulassen. Daraufhin kehren Link und die befreite Prinzessin Zelda zurück nach Hyrule. Dort wünschen sie sich von ihrem Triforce ein zweites göttliches Relikt für das Parallelkönigreich, sodass in diesem wieder Frieden einbricht. Zum Schluss bringt Link das Master-Schwert zurück in die Verlorenen Wälder, aus denen er es erlangt hatte. Spielprinzip Der Spieler übernimmt in A Link Between Worlds die Kontrolle über die Spielfigur Link. Die Spielwelt wird hauptsächlich aus der Vogelperspektive dargestellt und ist – abgesehen von geringfügigen Änderungen – identisch zu der des Prequels. Die über die Spielwelt verteilten Dungeons sind komplett neu gestaltet. Um die Handlung des Spiels abzuschließen, muss der Spieler sämtliche Dungeons aufsuchen, diese erfolgreich durchqueren und sich deren Bossgegnern stellen. Dazu, für das Erkunden der Spielwelt und für das Lösen von in den Dungeons und in der Spielwelt verteilten Rätseln sind Ausrüstungsgegenstände („Items“) vonnöten. Die Gesundheit der Spielfigur wird durch Trefferpunkte in Form von Herzen visualisiert, deren Anzahl nach gegnerischen Angriffen sowie Stürzen in Lava, Abgründe etc. abnimmt. Nach dem Verlust sämtlicher Herzen folgt das Game over. Wandkonzept und Parallelwelt Ab einem bestimmten Spielfortschritt erhält der Spieler die Möglichkeit, seine Spielfigur per Knopfdruck in ein Graffito zu verwandeln, sofern sie sich an einer Wand befindet. Der Spieler kann Link dann horizontal entlang der Wände steuern. Durch diese Technik wird es möglich, Hindernisse zu überwinden, durch Ritzen in einer Wand auf die andere Seite zu schlüpfen, von einem Felsvorsprung zu einem anderen zu gelangen oder sich an sich bewegenden Plattformen „festzuhalten“. Befindet sich Link im Gemäldezustand, geht die Energieanzeige stetig zurück. Sie beschränkt die Gemälde-Fähigkeit der Spielfigur zeitlich, denn dieser Zustand endet automatisch, sobald die Anzeige abgelaufen ist. Ebenfalls nach einem festgelegten Fortschritt kann der Spieler zwischen den beiden Welten Hyrule und Lorule hin- und herreisen. Ermöglicht wird dies durch in beiden Welten anzutreffende Dimensionsportale in Form von Ritzen in Wänden, durch die die Spielfigur wandern kann, woraufhin sie an der entsprechenden Stelle der Parallelwelt auftaucht. Ähnlich wie in A Link to the Past mit Licht- und Schattenwelt, handelt es sich bei Lorule um eine an Hyrule angelehnte, in vielen Details veränderte Welt. Sie verhält sich zu Hyrule gegensätzlich: Die Umgebung, die Bewohner und die Gebäude sind Gegenstücke von denen aus Hyrule, und in Lorule herrscht eine düstere Stimmung. Item-System In A Link Between Worlds borgt sich der Spieler die für das Abenteuer relevanten Items unabhängig vom Spielfortschritt beim Händler Ravio gegen eine festgelegte Anzahl Rubine. Dabei handelt es sich um die fiktive Währung des Zelda-Universums, die Link von besiegten Gegnern erhält und in vielen Stellen der Spielwelt versteckt sind. Dadurch stehen der Spielfigur bereits zu Beginn des Spiels theoretisch sämtliche Items zu Verfügung. Der Spieler kann selbst entscheiden, welche Items er benötigt. Wenn die Spielfigur stirbt, so verliert sie alle Items und muss sie sich erneut leihen, sobald er das Spiel fortsetzt. Im späteren Spielverlauf ist es dem Spieler möglich, Items käuflich zu erwerben, sodass er diese nach dem Tod der Spielfigur nicht mehr verliert. Dies erlaubt es dem Spieler, die Reihenfolge der Dungeons größtenteils selbst zu bestimmen. Das Verwenden von Items wie beispielsweise Pfeilen und Bomben wird nicht durch einen Vorrat begrenzt, sondern ausschließlich durch eine Energieanzeige. Diese nimmt bei Gebrauch der meisten Items sowie der Wandfähigkeit ab und füllt sich nach einer kurzen Abklingzeit automatisch wieder auf. Ästhetik und Grafik A Link Between Worlds nutzt einen an A Link to the Past angelehnten Grafikstil, der – anders als beim Vorgänger, dessen Grafik aus Sprites besteht – mithilfe dreidimensionaler Polygone in Echtzeit berechnet wird. Das Spiel unterstützt den optionalen autostereoskopischen, brillenlosen 3D-Effekt des Nintendo 3DS. Außerdem läuft es sowohl im 2D- als auch im 3D-Modus als erster in 3D berechneter Teil der Zelda-Reihe mit einer stabilen Framerate von 60 Bildern pro Sekunde. Nach Angaben des Herstellers ermöglicht dies einen solideren 3D-Effekt. Entstehungsgeschichte A Link Between Worlds wurde vom Software Development Department 3 des Studios Nintendo Entertainment Analysis & Development (EAD) in dem im japanischen Kyōto beheimateten Nintendo-Hauptquartier entwickelt. Der als Produzent involvierte Abteilungsleiter Eiji Aonuma sowie der Director Hiromasa Shikata, der mit dem Spiel sein Debüt als Projektleiter gab, waren die Verantwortlichen des Projektes. Als Regieassistenten fungierten der leitende Programmierer Shiro Mouri sowie der führende Spieldesigner Kentaro Tominaga. Der Zelda-Schöpfer und EAD-Manager Shigeru Miyamoto war General-Produzent des Titels. Weitere einflussreiche Entwickler der Zelda-Reihe wie Takashi Tezuka oder Toshihiko Nakagō bekleideten Supervisor-Positionen. Als Komponist fungierte Ryō Nagamatsu. Das Kyōto-Studio des Nintendo-Tochterunternehmens Monolith Soft unterstützte das Entwicklerteam bei der Gestaltung und Umsetzung der Charaktere, Umgebungen und Dungeons. Projektbeginn (Ende 2009 – Oktober 2010) Nach der Fertigstellung von The Legend of Zelda: Spirit Tracks (DS, 2009) wurde der Großteil des Zelda-Team Ende 2009 den Arbeiten an Skyward Sword (Wii, 2011) zugeteilt. Zugleich begannen Ende 2009 die Planungen für ein neues Zelda-Spiel für das nächste Nintendo-Handheld, den im März 2011 veröffentlichten Nintendo 3DS. Das für die Planung verantwortliche Team umfasste zunächst ausschließlich Shikata, Mouri sowie einen weiteren Programmierer. Ein halbes Jahr nach Beginn der Planungsarbeiten präsentierte das Team dem für die Bewilligung neuer EAD-Projekte zuständigen Miyamoto eine Idee, in der Kommunikation das zentrale Thema war. Miyamoto lehnte das Konzept ab, da er es für veraltet hielt. Daraufhin begann die Planung von Grund auf neu. Dabei kam Shikata spontan auf die Idee, dass sich die Spielfigur des neuen Spiels in ein Wandgemälde verwandeln können sollte. Innerhalb eines Tages programmierte Mouri einen Prototyp zu dieser Idee. Anders als das finale Produkt nutzte dieser frühe Prototyp die Third-Person-Perspektive und als Platzhalter für die Spielfigur den Link aus Spirit Tracks. Diesen Prototyp genehmigte Miyamoto schließlich. Zwei Wochen später, im Oktober 2010, wurde das dreiköpfige Team jedoch aufgelöst und den Arbeiten an den EAD-Produktionen New Super Mario Bros. U (Wii U, 2012) sowie Nintendo Land (Wii U, 2012) zugeordnet. Das Zelda-Projekt wurde daher zunächst auf Eis gelegt. Wiederbelebung des Projekts (ab November 2011) Um den angestrebten Veröffentlichungszeitraum für Ende 2013 einhalten zu können, nahm Aonuma im November 2011 nach der Fertigstellung von Skyward Sword wieder die Arbeiten am neuen Handheld-Zelda auf, dessen Entwicklung zuvor ein Jahr lang geruht hatte. Tominaga, zuvor Spieldesigner für Skyward Sword, übernahm zeitweise an Shikatas Stelle die Regie. Eine Zielsetzung des Entwicklerteams lag darin, den 3D-Effekt des 3DS so in das Spiel einzubauen, dass er sich konstruktiv auf das Spielprinzip auswirkt. Dies resultierte in Dungeons, in denen die Höhenunterschiede zwischen zwei Ebenen eine große Rolle spielen. Ein weiterer Leitgedanke während der Entwicklung war, die Konventionen der Zelda-Reihe zu überdenken. Im Rahmen dessen kam Shikata auf die Idee, dem Spieler ab einem gewissen Fortschritt die Auswahl der Dungeonreihenfolge selbst zu überlassen. Um dies zu ermöglichen, erdachte sich das Team ein System, in welchem sich der Spieler seine Ausrüstung in einem Laden innerhalb des Spiels kaufen sollte. Die Ausleihfunktion wurde durch ein Hobby Aonumas inspiriert. Weshalb sich das Entwicklerteam für einen weniger linearen Spielablauf entschied, erklärte Aonuma im Oktober 2013 in einem Interview. Entwicklung als Fortsetzung von A Link to the Past (ab Mitte 2012) Seit der Markteinführung des 3DS hatte Miyamoto Aonuma wiederholt vorgeschlagen, eine Neuauflage („Remake“) von A Link to the Past mit dreidimensionaler Grafik für das Handheld zu entwickeln. Aonuma stand der Idee kritisch gegenüber, da er lieber ein neues Spiel auf Basis des SNES-Klassikers entwickeln wollte. Die Idee, das 3DS-Zelda als Fortsetzung von A Link to the Past zu konzipieren, kam aber erst im Mai 2012 auf, als Miyamoto bei einer weiteren internen Vorstellung des Projektes erneut den Vorschlag zu einem ALttP-Remake in den Raum warf und das Entwicklerteam diese Idee mit dem bereits erarbeiteten Konzept des neuen Spiels kombinierte. Die positive Resonanz auf ein von Miyamoto angeregtes Level in Super Mario 3D Land (3DS, 2011), das als Hommage an die Zelda-Reihe intendiert ist und aus der Vogelperspektive gespielt wird, bekräftigte die Entwickler in dieser Entscheidung. Obwohl Aonuma mit dem Vorschlag einverstanden war, herrschte im Entwicklerteam zunächst Skepsis vor. Um seine Vorstellung von dem Spiel zu veranschaulichen, modellierte Aonuma die Spielwelt von A Link to the Past mithilfe einer Software innerhalb weniger Tage als Proof of Concept in 3D um und präsentierte es Miyamoto im Juli 2012. Dieser gab sich einverstanden, ebenso wie das Entwicklerteam, sodass die Realisierung des Konzeptes beginnen konnte. Zunächst experimentierten die Entwickler mit der Vogelperspektive. Um trotz der Überkopf-Perspektive die Spielfigur nicht direkt von oben, sondern schräg darstellen zu können, damit auch ihr Gesicht und ihr Körper zu erkennen sind, wurden sämtliche Objekte und Figuren im Verhältnis zur Spielwelt leicht nach hinten gezerrt. Als Ende 2012 Nintendo Land und New Super Mario Bros. U vollendet waren, stieß das ursprüngliche Team wieder zum Projekt dazu, und Shikata übernahm die Regie. Zu dieser Zeit wuchs das Entwicklerteam stark an. War Gemälde-Link ursprünglich als schlichte 2D-Version des Link aus Spirit Tracks angedacht, entschied sich das Team gegen Ende 2012 für ein avantgardistisches Design. Erst zu diesem Zeitpunkt verfassten die Skriptautoren die Handlung des Spiels; laut den Credits des Spiels übernahmen dies die Nintendo-Mitarbeiter Tatsuya Hishida und Mari Shirakawa, die zuvor an keinem anderen Zelda-Spiel beteiligt gewesen waren. Zeitweise arbeitete das Zelda-Team parallel an der Neuauflage The Legend of Zelda: The Wind Waker HD (Wii U, 2013) sowie an The Legend of Zelda: Breath of the Wild (Wii U, Nintendo Switch, 2017). Anfang Oktober 2013 schloss das zuletzt aus über 90 Personen bestehende Entwicklerteam die Arbeiten an A Link Between Worlds ab. Musik Der Videospielkomponist Ryō Nagamatsu von der EAD Sound Group verfasste den Soundtrack des Spiels und gab damit sein Debüt für ein Zelda-Spiel. Aus musikästhetischen Gründen und wegen der Lautsprecher des 3DS-Handhelds entschied sich das Team gegen eine von einem Orchester eingespielte Videospielmusik. Trotzdem sollte die Musik des Spiels nach Angaben des Produzenten wie von echten Instrumenten gespielt klingen. Der Soundtrack umfasst Neuinterpretationen von Stücken aus A Link to the Past, die im Original aus der Feder des Nintendo-Komponisten Kōji Kondō stammen. Freischaltbar im Spiel sind außerdem Arrangements bekannter Stücke aus der Reihe, die Nagamatsu selbst auf einer Flöte spielte und mit per Synthesizer erstellten Gitarren-Tönen unterlegte. Die Figuren Link und Ravio wurden von der japanischen Seiyū Mitsuki Saiga synchronisiert, während Ayumi Fujimura Prinzessin Zelda sprach und Seiro Ogino den Antagonisten Yuga vertonte. Sprachausgabe umfasst der Titel nicht. Lediglich die Ausrufe der Charaktere sind vertont. Veröffentlichung Ankündigungen Seit April 2011 äußerten Shigeru Miyamoto und Eiji Aonuma in mehreren Interviews die Möglichkeit einer Fortsetzung von A Link to the Past für den 3DS. Die Fachpresse deutete diese Aussagen zunächst als Wunschäußerungen. Im September 2011 bestätigte Aonuma gegenüber der Videospielzeitschrift Game Informer erstmals konkret die Entwicklung eines neuen Zelda-Spiels für den 3DS. Im Juni 2012 hieß es von Miyamoto in einem Interview, Nintendo entscheide sich derzeit zwischen einer Fortsetzung oder einem Remake von A Link to the Past sowie einer Neuauflage von Majora’s Mask (N64, 2000) für den 3DS. Am 17. April 2013 stellte der Nintendo-Präsident Satoru Iwata im Rahmen einer Ausstrahlung der Webshow „Nintendo Direct“ A Link Between Worlds erstmals der Öffentlichkeit vor. Er bekräftigte dabei, dass es sich nicht um ein Remake von A Link to the Past handle, obwohl die Spielwelt aus diesem Spiel übernommen sei. Nintendo veröffentlichte am gleichen Tag den ersten Trailer zum Spiel. Im Juni 2013 stellte der Hersteller während der Spielemesse E3 einen neuen Trailer vor und gab den finalen westlichen Namen des Spiels bekannt. Titel Bei der Ankündigung im April 2013 betitelte der Hersteller das Spiel vorläufig schlicht als The Legend of Zelda. Alternativ bezeichnete die Videospielpresse das Spiel vor der Bekanntgabe des finalen Titels als Zelda 3DS oder A Link to the Past 2. In Japan trägt das Spiel den Titel , Zeruda no Densetsu: Kamigami no Toraifōsu 2, der sich wörtlich mit „Triforce der Götter 2“ übersetzen lässt. Da A Link to the Past in Japan als Kamigami no Toraifōsu veröffentlicht wurde, lautet die sinngemäße Übertragung des japanischen Titels „A Link to the Past 2“. Um zu betonen, dass es sich nicht um ein Remake, sondern um ein neues Spiel handelt, taufte der Hersteller das Spiel im Westen mit dem Untertitel A Link Between Worlds. Deutet man den Namen als Anspielung auf den Titel des Prequels, auf den Namen der Spielfigur und auf das Feature, zwischen zwei Welten hin- und herzureisen, lässt sich dieser Titel mit „Ein Link zwischen Welten“ oder „Eine Verbindung zwischen Welten“ übertragen. Während der Entwicklung war als Titel außerdem The New Legend of Zelda im Gespräch, parallel zu New Super Mario Bros. (DS, 2006), bei dem es sich um eine Neuinterpretation des Konzeptes der ersten Super-Mario-Spiele handelt. Markteinführung A Link Between Worlds kam am 22. November 2013 in Europa und in Nordamerika auf den Markt. In Australien folgte die Veröffentlichung am 23. November und in Japan brachte Nintendo das Spiel am 26. Dezember heraus. In sämtlichen Regionen veröffentlichte der Hersteller das Spiel sowohl im Handel als auch als Vollpreis-Download im Nintendo eShop. Außerdem erschien weltweit parallel zum Spiel eine Sonderedition des Nintendo 3DS XL im Zelda-Design inklusive eines Downloadcodes zu A Link Between Worlds. Seit September 2014 ist der Original Soundtrack zum Spiel im japanischen Club Nintendo erhältlich. Im Club Nintendo für Europa ist der offizielle Soundtrack seit Januar 2015 verfügbar. Insgesamt enthält er 105 Stücke sowie ein Begleitheft. Am 16. Oktober 2015 werden im Rahmen des Labels „Nintendo Selects“ neue Exemplare von A Link Between Worlds zu einem günstigeren Preis herausgegeben. Verkaufszahlen Laut dem Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) wurden in Deutschland bis Januar 2014 über 100.000 Exemplare von A Link Between Worlds verkauft. Im Vereinigten Königreich debütierte das Spiel auf Platz 9 der vom Marktforschungsunternehmen GfK Chart-Track ermittelten Videospielcharts für die Markteinführungswoche. In Schweden stieg das Spiel auf Platz 1 in die Charts ein, in Norwegen auf Platz 2 und in Finnland auf Platz 8. Nach Angaben des Marktforschungsunternehmens NPD Group wurde A Link Between Worlds in Nordamerika im November 2013 etwa 280.000 Mal verkauft. Zusätzlich wurde das 3DS-XL-Bundle, dem das Spiel beiliegt, etwa 125.000 Mal innerhalb des Veröffentlichungsmonats verkauft. Bis Januar 2014 stiegen die Nordamerika-Verkaufszahlen auf 715.000. In Japan belegte das Spiel zu seiner Markteinführung laut dem Marktforschungsinstitut Media Create mit etwa 225.000 Verkäufen den ersten Platz der Wochenvideospielcharts. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die globalen Verkaufszahlen des Spiels, aufgeteilt in Japan und Übersee. Die Daten entstammen offiziellen Nintendo-Finanzberichten und beinhalten sowohl Download- als auch Bundle-Verkäufe. Rezeption Vorschauberichte Im Juni 2013 äußerte Samuel Claiborn von der englischsprachigen Videospiel-Website IGN Bedenken an der Spielwelt von A Link Between Worlds. Da diese fast ohne Änderungen aus A Link to the Past übernommen wurde, befürchtete er, dass damit der für die Zelda-Reihe traditionelle Sinn für Abenteuer und Erkundung verloren gehen und sich das Spiel nur an Reihenneueinsteiger richte. In dem Feature, Wände betreten zu können, sah Claiborn keinen äquivalenten Ersatz für die quasi-identische Oberwelt. Der Videospieljournalist Jeremy Parish bemängelte in einer Anfang November 2013 veröffentlichten Spielvorschau für die englische Videospiel-Website USGamer die Grafik des Spiels. Insbesondere in Zwischensequenzen würden optischen Mängel deutlich, die die Dramatik der Handlung verringerten. Um diesen Kritikpunkt auszugleichen, stellte Parish der Grafik des Titels dessen Spielkonzept gegenüber. Er lobte die Steuerung der Spielfigur, die besonders flüssig und rasch vonstattengehe und gut auf die Eingaben des Spielers reagiere. A Link Between Worlds sei das Zelda-Spiel mit dem besten Spielfluss, so Parish weiter. Seine Meinung zum Spiel fasste er im Titel seines Berichts zusammen mit den Worten „Looks Like Crap, Plays Like a Dream“ (etwa: „Sieht aus wie Scheiße, spielt sich wie ein Traum“). Rezensionen Die Videospieljournalistin Keza McDonald fasste im November 2013 in der Spielrezension für IGN zusammen, dass A Link Between Worlds durch sein herausforderndes Spielprinzip, durch seine Rätsel sowie durch Innovationen überzeugen könne. Auf der anderen Seite beschrieb McDonald die Handlung, die Figuren sowie die Spielwelt als flach und identitätslos. Da das Spiel an den Grundfesten der Zelda-Reihe rüttele, sei es mehr als eine schlichte Fortsetzung. McDonald lobte die Spielwelt, die die Erforschung durch den Spieler belohne, sowie die neuartigen und abwechslungsreichen Rätsel innerhalb der Dungeons. Außerdem fiel ihr auf, dass der Spieler selbständiger agiere als in den Vorgängerteilen. A Link Between Worlds unterstütze den Spieler nicht etwa durch ein ausführliches Tutorial, sondern durch die Level- und Rätsel-Gestaltung. Damit besinne sich das Spiel zurück auf die Bedeutung von Abenteuer und Erkundung in den ersten Zelda-Spielen. Andy Robertson vom englischsprachigen Forbes Magazine widerlegte im November 2013 die ursprünglichen Bedenken, dass A Link Between Worlds lediglich Material aus dem Prequel übernehme. Das Spiel sei „eines der liebenswertesten und überzeugendsten“ („one of the most endearing and compelling“), die er in der letzten Zeit gespielt habe. Im Gegensatz zu früheren Zelda-Spielen falle der Schwierigkeitsgrad niedriger aus, hielt Robertson fest. Zwar kritisierte er, dass das Spiel mehr Dungeons hätte vertragen können, dass die Handlung „ein wenig zu viel Märchen und nicht genug Legende“ („a little too much fairy tale and not enough legend“) sei, und bemängelte den geringen Wiederspielwert, relativierte diese Kritikpunkte jedoch, da sie nicht ausschließlich auf dieses Spiel, sondern auf die ganze Zelda-Reihe zuträfen. Carsten Göring schrieb im Januar 2014 in einem Bericht für die deutsche Nachrichtenwebsite Spiegel Online, dass sich A Link Between Worlds trotz der Aufnahme vieler bewährter Elemente aus der Zelda-Reihe frisch anfühle. Er bezeichnete die Spielwelt als kompakt. Stephen Totilo, ein für die Videospielwebsite Kotaku tätiger Redakteur, zählte in einer im November 2013 bei Nytimes.com veröffentlichten Rezension die Dungeons des Spiels zu den am raffiniertesten gestalteten Labyrinthen der ganzen Reihe. Außerdem begrüßte er, dass das Spiel dem Spieler mehr Freiheiten gebe und sich so auf die älteren Zelda-Titel zurückbesinne. Susan Arendt von der auf Videospiele fokussierten Website Joystiq kritisierte die Bosskämpfe des Spiels, die zu sehr an jene aus A Link to the Past erinnerten und keine Herausforderung darstellten. Sie seien die einzigen Elemente des Spiels, die sie sich Arendts zufolge nicht frisch anfühlten. In der im November 2013 veröffentlichten Besprechung der englischsprachigen Videospiel-Website Eurogamer kritisierte der Redakteur Christian Donlan insbesondere die starke Ähnlichkeit zu A Link to the Past sowie die Grafik, die seiner Meinung nach schlechter sei als die des SNES-Prequels: So stark besinne sich A Link Between Worlds auf die Wurzeln der Serie, dass viele der ihm innewohnenden Überraschungen abgeschwächt würden. Daher gehe es für Serienkenner im Spiel weniger um Erkundung, sondern vielmehr um Wiedererkundung, sodass das Spiel das Gefühl einer Neuauflage hinterlasse. Außerdem äußerte Donlan Kritik an einigen zentralen Merkmalen des Titels: Die Parallelspielwelt Lorule etwa sei zu simpel, zu klein und mit zu wenigen Rätseln bestückt. Auf der positiven Seite hob er die Steuerung als „einzigartig“ („peerless“) hervor und lobte die Dungeons. Die britische Spielezeitschrift Edge monierte auf der einen Seite, dass die Grafik des Spiels grob und einfach ausfalle, auf der anderen Seite die durch die einfache Grafik ermöglichte Framerate von 60 fps für ein sehr flüssiges Spielerlebnis sorge. Die Zeitschrift lobte außerdem die „herrlichen Orchester-Arrangements klassischer Melodien“ („glorious orchestrations of classic themes“). Martin Gaston von der englischen Spiele-Website GameSpot äußerte, der 3D-Effekt verbessere das Spielerlebnis, indem er dem Spiel mehr Tiefe und Charakter verleihe. Ihm zufolge sei Super Mario 3D Land das einzige Spiel im Spielerepertoire des 3DS, das den 3D-Effekt des Handhelds noch etwas besser verwende als A Link Between Worlds. Kritik am Item-System Besonders intensiv haben sich die Kritiker mit dem Item-System beschäftigt. So verknüpfe McDonald zufolge A Link Between Worlds eine bekannte Spielwelt mit innerhalb der Zelda-Reihe großen Innovationen. Das neuartige Item-System erhöhe die Bedeutung von Erkundungen in dem Spiel, überlasse dem Spieler mehr Entscheidungsfreiheit und gestalte den Spielablauf weniger linear. Daher habe die auf den ersten Blick gering scheinende Neuerung große Auswirkungen auf das Gesamtspiel. Da die Spielfigur aufgrund des neuen Systems nach ihrem Tod sämtliche bloß geliehenen Items verliere, stelle der Bildschirmtod für den Spieler eine besonders große Bedrohung dar. Die Edge kritisierte das Item-System als unausgeglichen. Das Magazin vermerkte in seiner Besprechung des Spiels, dass erfahrene Spieler nur selten vor einem Game Over stehen würden. Der Verlust der geliehenen Ausrüstung sei daher keine große Bedrohung. Die Alternative – die Items zu hohen Preisen zu kaufen – erscheine ebenfalls schlecht ausbalanciert, da die Spielfigur sehr schnell an ausreichend viele Rubine gelange. Weitere derartige redundante Ideen würden Nintendos Errungenschaft trüben, mit A Link Between Worlds ein vom Spieler selbst bestimmbares Abenteuer zu gestalten. Dass die Entwickler routinierte Abläufe in den Dungeons durch überraschende Elemente ersetzen mussten, um dies zu ermöglichen, begrüßte die Edge. Donlan äußerte sich in seiner Eurogamer-Rezension überwiegend gemischt zum Item-System. Es sei enttäuschend und verringere den „Nervenkitzel“, bei der Erkundung eines Dungeons neue Items aufzuspüren. Zugleich handele es sich um eine kluge Idee, die den Entwicklern neue Möglichkeiten in Sachen Spielstruktur gewähre. Des Weiteren begrüßte Donlan die Entscheidung, den Spieler die Ausrüstung durch eine virtuelle Währung kaufen zu lassen, anstatt zu diesem Zwecke ein sogenanntes Micropayment zu nutzen. Zudem sorge das Item-System für eine größere Bedrohung innerhalb des Spiels, welches der Autor als eines der einfachsten zu spielenden Zelda-Spiele bezeichnete. In einer Rezension für das deutschsprachige Spiele-Magazin GamePro kritisierte Kai Schmidt das Item-System, da es seiner Ansicht nach die Faszination schmälere, neue Ausrüstungsgegenstände zu erhalten und mit diesen zuvor unüberwindbare Passagen der Spielwelt zu bestreiten. Wertungsspiegel Die Rezensionsaggregator-Website Metacritic hat für A Link Between Worlds aus 81 Kritiken eine Durchschnittswertung („Metascore“) von 91 von 100 Punkten ermittelt. Bei GameRankings, einer vom Konzept her vergleichbaren Website, liegt die Durchschnittswertung bei 91,11 %, ausgehend von 54 Kritiken (Stand: April 2014). In der Tabelle rechts dieses Textes ist eine Auswahl an Wertungen enthalten, mit denen verschiedene Videospielwebsites und -Zeitschriften das Spiel bewerteten. Auszeichnungen und Bestenlisten A Link Between Worlds wurde bei mehreren Preisverleihungen nominiert und erhielt dabei teilweise Auszeichnungen. Einen Überblick über Nominierungen und Auszeichnungen des Spiels ermöglicht die folgende Tabelle. Die folgende Liste gibt einen Überblick über Bestenlisten, in die A Link Between Worlds aufgenommen wurde. Computer Bild Spiele, „Die besten Spiele des Jahres 2013“: Platz 2 EGM, „EGM’s Best of 2013“: Platz 3 Entertainment Weekly, „Top 10 (and 3 Worst) Videogames of 2013“: Platz 8 Forbes, „The Best Video Games Of 2013“: Platz 6 Joystiq, „Top 10 of 2013“: Platz 2 M! Games, „Die Spiele des Jahres 2013“: Platz 7 MTV, „The 10 Best Video Games Of 2013“: Platz 4 Bedeutung innerhalb der Zelda-Reihe Keza McDonald von IGN äußerte im Oktober 2013, dass A Link Between Worlds die Konventionen der Serie überdenke wie kaum ein vorheriges Zelda-Spiel, obwohl es als Fortsetzung des SNES-Zelda-Ablegers eng mit der Vergangenheit der Serie verknüpft sei. Das Spiel befreie sich vom strukturellen Korsett der Zelda-Spiele der letzten zehn Jahre. Der Game-Informer-Redakteur Dan Ryckert benennt in seiner Spielbesprechung mehrere Elemente als Innovationen für die Zelda-Reihe. Dazu zählt er das Konzept, Gegenstände auszuleihen beziehungsweise zu kaufen. In den vorher erschienenen Zelda-Spielen ist nämlich in jedem Dungeon ein Item versteckt, das die Spielfigur einsammeln muss, um den Dungeon absolvieren zu können. Aufgrund des neuen Item-Systems wird erstmals in der Geschichte der Reihe ein nichtlinearer Spielverlauf ermöglicht, denn in vorherigen Zelda-Spielen ist die Reihenfolge der Dungeons streng vorgegeben. Außerdem nennt Ryckert die Energieanzeige, die nun allen Items zu Grunde liegt, als Neuerung, da die Spielfigur in früheren Zelda-Teilen an ihrer statt über einen Vorrat an Items wie Bomben und Pfeilen verfügt. Eine weitere Innovation sei die in Dungeons von Beginn an verfügbare Karte; in vorherigen Zelda-Titeln nämlich steht dem Spieler eine Dungeonkarte erst zur Verfügung, wenn er sie im Labyrinth eingesammelt hat. Aonuma äußerte im September 2013 in einem Interview, dass die Entwicklung des nächsten Zelda-Spiels, das 2015 für die Wii U veröffentlicht werden soll, durch jene Erfahrungen profitiere, die sein Team durch A Link Between Worlds sowie The Wind Waker HD gewonnen hat. Welche Elemente aus A Link Between Worlds in das neue Produkt einfließen sollen, teilte er nicht mit. In einem im März 2014 veröffentlichten Interview des britischen Official Nintendo Magazine gab sich Aonuma bezüglich des Spielkonzeptes von A Link Between Worlds zufrieden. Das Spiel habe neue Leitlinien für Zelda-Spiele aus der Vogelperspektive aufgestellt, die bei der Entwicklung weiterer Serienableger berücksichtigt werden müssen. Literatur Nintendo (Hrsg.): The Legend of Zelda – Art & Artifacts. Tokyopop, Hamburg 2017, ISBN 978-3-8420-3950-6, S. 98–106, 350–361. Nintendo (Hrsg.): The Legend of Zelda – Encyclopedia. Tokyopop, Hamburg 2019, ISBN 978-3-8420-4957-4. Weblinks The Legend of Zelda: A Link Between Worlds bei Zelda.com (englisch) The Legend of Zelda: A Link Between Worlds bei Nintendo.de The Legend of Zelda: A Link Between Worlds im Zeldapendium The Legend of Zelda: A Link Between Worlds bei ZeldaEurope.de The Legend of Zelda: A Link Between Worlds Lösungsübersicht bei ZFans.de Iwata fragt: The Legend of Zelda: A Link Between Worlds – Siebenteiliges Entwicklerinterview bei Nintendo.de Anmerkungen Einzelnachweise Action-Adventure Computerspiel 2013 Fantasy-Computerspiel Nintendo-3DS-Spiel Nintendo Entertainment Analysis & Development Link Between Worlds #A
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dorfkapelle%20Tregist
Dorfkapelle Tregist
Die Dorfkapelle Tregist, auch Ortskapelle Tregist oder Kapelle Maria Knotenlöserin genannt, ist eine auf dem Gebiet der Stadtgemeinde Bärnbach in der Weststeiermark gelegene römisch-katholische Kapelle. Die der heiligen Maria gewidmete Kapelle untersteht der Pfarre Voitsberg und gehört damit zum Seelsorgeraum Voitsberg in der Region Steiermark Mitte der Diözese Graz-Seckau. Eine erste Kapelle an diesem Standort wurde 1884 geweiht, in den 1950er-Jahren durch ein Hochwasser zerstört und anschließend abgetragen. Von 1986 bis 1989 wurde unter Mithilfe der Bevölkerung ein Neubau errichtet und von dem weststeirischen Bildhauer und Maler Franz Weiss künstlerisch gestaltet. Weiss gestaltete sowohl die Außenwände als auch den Innenraum in verschiedensten Kunsttechniken als Gesamtkunstwerk und führte fast alle künstlerischen Gestaltungselemente der Kapelle selbst aus. Einzig die beiden Glasfenster fertigte ein anderer Meister nach seinen Entwürfen. Die Außenwände der Kapelle zieren großflächige und farbenfrohe Wandmalereien, die biblische Motive mit Darstellungen von Heiligen zeigen sowie Päpste und Personen, die sich um die Verkündigung der christlichen Botschaft verdient gemacht haben. So sieht man neben Heiligen wie Martin von Tours auch Mutter Teresa oder Hélder Câmara. In den Motiven wird immer wieder ein regionaler Bezug hergestellt, so etwa mit Häusern aus dem Umland der Kapelle, an denen Jesus das Kreuz vorbeiträgt. Auch die Besuche des Papstes in Österreich werden dargestellt. Das Hauptbild des Altars zeigt Maria Knotenlöserin, die Knoten aus einem Band löst. Durch eine Inschrift auf dem Band und die Darstellung des Kraftwerks nimmt es Bezug auf die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. In der Weihnachtszeit wird um die Kapelle ein Krippendorf aufgestellt, bestehend aus sechs Bildtafeln mit Motiven der Weihnachtsgeschichte. Das gesamte Bauwerk steht unter Denkmalschutz (). Standort Die Dorfkapelle steht im zur Stadtgemeinde Bärnbach gehörenden Teil der Streusiedlung Tregisttal, auf einer Seehöhe von rund 470 Metern, am linken Ufer des Tregistbaches. Der Tregistbach fließt etwa 5 Meter westlich an der Kapelle vorbei, während der Altsteigbach etwa 5 Meter südlich verläuft. Der Altsteigbach mündet direkt südwestlich der Kapelle in den Tregistbach. Beide Gewässer bilden die Gemeindegrenze zur Stadtgemeinde Voitsberg. Unmittelbar östlich verläuft die Tregisttalstraße, die von Tregist nach Tregisttal führt und in diesem Ort endet. Das Gasthaus Alaunfabrik, das auf die ehemalige Alaunfabrik zurückgeht, steht 10 Meter östlich auf dem Gemeindegebiet von Voitsberg. Etwa 50 Meter südöstlich der Kapelle liegt die ehemalige Volksschule von Tregist, die zu einem Museum für die Werke von Franz Weiss umgestaltet wurde. Geschichte Etwas südlich der heutigen Dorfkapelle stand am linken Ufer des Tregistbaches ursprünglich eine 1884 geweihte einfache Kapelle der nahe gelegenen ehemaligen Alaunfabrik, die um 1955 durch ein Hochwasser des Tregistbaches zerstört und anschließend abgetragen wurde. Der Künstler Franz Weiss wohnte in der Nähe der alten Kapelle und schätzte sie als Andachtsort. Schon als junger Malerschüler bei Rudolf Szyszkowitz hatte Weiss den Wunsch, die alte Kapelle auszumalen. So setzte er sich bereits kurze Zeit nach der Zerstörung dafür ein, das Bauwerk in seinem Stil neu zu errichten. Der Bau der neuen Andachtsstätte begann in den 1980er-Jahren, wobei ein besser vor Hochwasser geschützter Standort in der unmittelbaren Nähe der alten Kapelle gesucht wurde. Wie die alte Kapelle, so wurde auch die neue Kapelle am linken Ufer des Tregistbaches errichtet. Das Grundstück für den Neubau stellten Annemarie und Engelbert Pignitter zur Verfügung, und am 29. Juni 1986 wurde es gesegnet. Franz Weiss stellte anlässlich der Segnung eine Widmungstafel mit einem darauf abgebildeten Kirchenmodell und dem Datum der Segnung auf. Durch die Lage der Kapelle in der Stadtgemeinde Bärnbach, aber im Pfarrsprengel von Voitsberg, wurde der Bau durch Förderungen von beiden Gemeinden unterstützt. Der eigentliche Bau der Kapelle begann im September 1986 und am 5. April 1987 wurde die Fertigstellung des Rohbaues mit der Weihe der Giebelkreuze gefeiert. Am 12. April 1987 wurden die beiden von der Bevölkerung gespendeten Glocken der Kapelle geweiht; die Weihe der Kapelle folgte am 15. Oktober 1989. An der Ausgestaltung des Bauwerks arbeitete Franz Weiss noch bis 1992 weiter. Architektur und Gestaltung Die Kapelle hat einen kreuzförmigen Grundriss und ist nach Nordwesten ausgerichtet. Der Grundriss entsteht durch das Querschiff vor dem Altarraum. Das Querschiff wurde kürzer als in einem ersten Plan ausgeführt. Die technische Bauplanung lag bei dem Architekten Anton Walter, während die Bauausführung Hubert Grinschgl oblag. Karl und Peter Weiss, zwei Brüder von Franz Weiss, führten den Innenausbau aus. Franz Weiss gestaltete zwischen 1986 und 1992 sowohl das Innere als auch das Äußere der neuen Kapelle. Die Innenwände und die Decke sowie drei Außenwände sind mit großflächigen Gemälden in Seccomalerei und Tempera versehen. Außenarchitektur Die verputzten Außenwände sind glatt gehalten und außer an der nordwestlichen Seite mit zahlreichen Wandmalereien von Franz Weiss gestaltet. Im Südosten befindet sich eine rundbogige Eingangstür. Über der Eingangstür erhebt sich ein offener Dachreiter mit den Glocken der Kapelle. Langhaus und auch Querschiff haben mit Ziegeln gedeckte und nach unten hin leicht ausschwingende Satteldächer. An der südöstlichen Seite des Langhauses ist die Kante des Satteldaches über dem Eingang walmartig. An den Dachgräten über den Giebeln im Nordwesten, Südwesten und Nordosten ist je eine Kugel mit darauf aufgesetztem Kreuz angebracht. Der Dachreiter endet in einer Kugel mit einem aufgesetzten Patriarchenkreuz. An jeder Seite des Querschiffs fällt durch ein hohes Rundbogenfenster Licht in das Innere der Kapelle. Die rundbogige Eingangstür der Kapelle ist mit Treibarbeiten aus Kupfer und mit Emailmalereien verziert. Das untere Türfeld zeigt den Erzengel Michael mit erhobenem Schwert vor einer Weltenscheibe stehend. Die Weltenscheibe ist von der Inschrift „Wer ist wie Gott. Sanct Michael“ umgeben. Das Bogenfeld der Tür trägt eine Darstellung der Gnadenmutter von Mariazell in einer Mandorla über der Inschrift „O MARIA IMMER HILF“. Beide Bildfelder werden durch ein Triforium voneinander getrennt, durch das man in das Kapelleninnere schauen kann. Vor der Kapelle steht an der Gemeindegrenze zwischen Bärnbach und Voitsberg eine von Franz Weiss in Email gestaltete Grenztafel. Darauf steht ein Engel mit je einer Hand auf den Wappen der beiden Gemeinden. Zu seinen Füßen sind die Wappen Österreichs und der Steiermark sowie das Wappen von Papst Johannes Paul II. dargestellt, das aber statt einer goldenen (gelben) Tingierung eine silberne (weiße) aufweist. Wandmalereien Mit Ausnahme der Westwand sind alle Außenwände mit Seccomalereien geschmückt, die zugleich die Wände gliedern. Sie stammen alle von Franz Weiss und entstanden zwischen 1986 und 1992. Die farbenfrohe Ausmalung kann als ungewöhnlich bezeichnet werden. Ostwand Die Ostwand der Kapelle ist durch Bänderungen in acht Bildfelder unterteilt. Diese Abgrenzungen sind fließend und werden teilweise von den dargestellten Figuren überschritten. Als Hauptbild über dem Eingang ist Jesus als Pantokrator oder Weltenherrscher in der Mandorla dargestellt. Die rechte Hand hat er zum Segen erhoben, in seiner linken Hand hält er eine aufgeschlagene Bibel und mit seinen Füßen steht er auf einer Weltkugel. Jesus sitzt statt auf einem Thron auf einem Regenbogen, der in den österreichischen Nationalfarben Rot-Weiß-Rot gehalten ist. Die Mandorla ist dunkelrot ausgelegt und in Gold gerahmt. Rund um den breiten Rahmen sind Kreise mit Sternen gemalt. Jesus wird von zwei knienden Engeln flankiert, links Erzengel Gabriel mit weißen Lilien und rechts Erzengel Michael mit dem Schwert in der Hand. Unterhalb des Jesusbildes, direkt über dem Eingang, steht der Satz „GOTT IST DER HERR AUCH UNSERER ZEIT“. Schräg unterhalb des Jesusbildes sind auf jeder Seite des Eingangs und der Inschrift je sechs der zwölf Apostel dargestellt. Der Regenbogenthron, auf dem Jesus sitzt, reicht bis zu den Aposteln und nimmt dort mit Weiß-Grün die steirischen Landesfarben an. Die Apostel halten Bibeln in den Händen und sind teilweise mit sprechenden Gesten als Verkünder der Heiligen Schrift dargestellt. Unter den Aposteln liegt die unterste Bildebene mit weiteren Heiligen, die als Zeugen des gelebten Glaubens angesehen werden. Auf jeder Seite der Eingangstür sind zwei Heilige dargestellt. Am linken Rand steht Nikolaus von Flue, ein Schweizer Einsiedler mit politischem Einfluss, in einer braunen Kutte und auf einen Stock gestützt. In der linken Hand hält er einen Rosenkranz. Über seinem Kopf schwebt in einem Kreis das Gesicht von Christus König. Neben ihm steht Teresa von Ávila im Ordensgewand der Karmelitinnen. Sie hält ein aufgeschlagenes Buch. Ihre Darstellung ist ein Verweis auf das nahe gelegene Karmelitinnenkloster auf dem Heiligen Berg bei Bärnbach. Diese beiden Heiligen sind Vertreter der Vita contemplativa, die ihr Leben dem Studium der Heiligen Schrift widmeten. Dem stehen auf der rechten Seite zwei Vertreter der Vita activa, also des in Taten gelebten Glaubens gegenüber. Als erste Vertreterin schließt rechts der Eingangstür die als Kirchengründerin bekannte Hemma von Gurk an, die ein Modell der Kapelle in den Händen hält. Den Abschluss auf der rechten Seite bildet Martin von Tours. Er zerschneidet seinen Mantel und schenkt einen Teil dem vor ihm knienden Bettler. Nordwand Die Nordwand ist in sieben Bildfelder unterteilt. Sie setzt die Reihe mit Persönlichkeiten des Glaubens in neuerer Zeit fort. Über den Figuren in der oberen Bildfläche am Langhaus schwebt das Rad des Himmels mit goldenen Speichen. Vom Rad fallen Tropfen der Gnade zu den Figuren. Im Zentrum dieser Bildfläche steht eine Darstellung von Maria. In ihrem Schoß liegt die aufgeschlagene Bibel, über der der Heilige Geist in Gestalt der Taube schwebt. Wie die Flügel der Taube breitet auch Maria ihre Arme aus. Bei der Gestaltung der Maria ließ Franz Weiss persönliche Bezüge einfließen und gab ihr die Gesichtszüge seiner Mutter. Zu ihren Füßen stehen gelbe Gladiolen. Zur Rechten von Maria ist die Begegnung von Papst Paul VI. mit dem Patriarchen Athinagoras von Konstantinopel am 5. Januar 1964 in Jerusalem dargestellt. Diese Begegnung führte zu einem Durchbruch in den Beziehungen zwischen römisch-katholischer Kirche und griechisch-orthodoxen Kirchen. Die Darstellung zeigt beide bei der Geste des Friedensgrußes. Zur Linken Marias steht Mutter Teresa, die durch ihren Einsatz für Arme, Obdachlose, Kranke und Sterbende weltweit bekannte indische Ordensfrau. In ihrer linken Hand hält sie einen Suppenteller als Symbol für die Speisung der Armen und ein Tropfen der Gnade trifft ihr Herz. Neben Mutter Teresa steht der Erzbischof und Befreiungstheologe Dom Hélder Câmara, der sich für die soziale Gerechtigkeit und als Kämpfer für Menschenrechte in Brasilien engagierte. Das untere Bildfeld ist von Lichtbahnen durchzogen; sie wirken, als würden sie vom Himmelsrad im oberen Bildfeld nach unten strahlen. Am linken Rand steht Frère Roger Schutz, der Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, bei der jährlich Tausende junge Menschen religiöse Selbstbesinnung suchen. Er trägt einen hellen Habit und ist im Gespräch mit einem Jugendlichen. Neben ihm steht die Schweizer Ärztin, Mystikerin und geistliche Schriftstellerin Adrienne von Speyr. Sie wird von zwei Sonnenblumen flankiert und hält als Zeichen für ihre zahlreichen Schriften ein Buch in die Höhe. Der Nächste ist der auch als „Speckpater“ bekannte Pater und Begründer des Hilfswerks Kirche in Not Werenfried van Straaten. Er steht vor einer Weltkugel, hält mit seiner rechten Hand einen Kelch in die Höhe und trägt in seiner linken Hand eine umgedrehte Melone, mit der er Spenden für sein Hilfswerk sammelte. Den Abschluss auf der rechten Seite macht der hinter Gittern stehende ungarische Erzbischof József Mindszenty, der mehrmals wegen seines Auftretens gegen Ungerechtigkeit inhaftiert wurde. Er gilt als eine Symbolfigur des Widerstandes gegen den Kommunismus in Ungarn. Die Nordwand des Querschiffes ist den Papstbesuchen Johannes Pauls II. am 13. September 1983 in Mariazell und am 25. Juni 1988 in Gurk gewidmet. Im Giebelfeld über dem Fenster steht unter dem Auge der Vorsehung die Gnadenmutter von Mariazell. Auf jeder Seite der Gnadenmutter steht ein Kerzenleuchter mit je drei Kerzen. Im Hintergrund sieht man Waldreben und Rosen. Auf der linken Seite des Fensters steht die heilige Anna, wie sie die junge Maria mit einem Buch das Lesen lehrt. Ihren rechten Fuß hat Anna auf einen Schemel aufgesetzt, hinter dem eine Vase mit Marien- und Taglilien steht. Die weißen Marienlilien sind dabei zu Maria hin geneigt. Rechts vom Fenster steht Johannes Paul II. Unterhalb von Anna sieht man die Basilika Mariazell mit dem Datum des Papstbesuches. Auf der rechten Seite steht der Dom zu Gurk mit dem Datum des Besuches und dem damals gewählten Wappen. Zwischen diesen beiden Darstellungen und direkt unterhalb des Fensters ist eine Säule mit dem Papstwappen von Johannes Paul II., wiederum weiß statt gelb tingiert. Auf drei Spruchbändern unterhalb des Fensters steht das Weihegebet des Papstes, das er vor dem Mariazeller Gnadenaltar sprach. Am linken Rand dieser Fläche, unterhalb der Basilika von Mariazell, sind das Wappen des Diözesanbischofes Johann Weber und das Wappen des Weihbischofes Franz Lackner aufgemalt. Die obere Bildfläche an der Nordwand des Altarraumes zeigt einen Schutzengel, vor dem zwei Kinder spielen und tanzen. Die untere Bildfläche ist nicht figürlich gestaltet, sondern gibt eine kurze Baubeschreibung mit einer Aufzählung der am Bau beteiligten Personen wieder. Südwand Beherrschende Motive der Südwand sind biblische Szenen der Passion und Auferstehung. Wie die Nordwand ist sie auch in sieben Bildfelder unterteilt. Das obere Bildfeld am Langhaus zeigt die Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor, wie es im Evangelium geschildert ist: Jesus nimmt drei seiner Jünger, von denen zwei im Gemälde zu sehen sind, mit auf den Gipfel des Berges, wo sich sein Aussehen verändert und neben ihm Mose und Elija erscheinen . Jesus ist in Weiß gekleidet, vor einer geometrischen, im symbolischen Blau des Himmels gehaltenen Schmuckform. Jesus hat die linke Hand zum Segen gehoben. Zu seiner Linken steht Mose mit den Zehn Geboten, zur Rechten der Prophet Elija. Im Hintergrund der Szene strahlen die Sterne des Himmels sowie die Mondsichel. Das untere Bild zeigt die fünfte Station des Kreuzwegs: Simon von Cyrene hilft Jesus, das Kreuz zu tragen . Hier ist es aber nicht Simon, sondern ein einheimischer Bauer, der ihm hilft. Der Hintergrund stellt einen lokalen Bezug her, da man sowohl das Heimathaus von Franz Weiss als auch einige Bauernhöfe der näheren Umgebung sowie die alte Kapelle von Tregisttal erkennen kann. Das Gewand Jesu ist in Violett, der Passionsfarbe, gehalten, und diese Farbe lässt sich auch in der Kleidung des Bauern erkennen. Auf der linken Seite des Bildfeldes, am Längsbalken des Kreuzes, steht eine alte Frau mit Handtasche und Rosenkranz. Es ist die Tregisterin Hedwig Kurz, der Franz Weiss damit ein Denkmal setzte. Kurz unternahm von Herbst 1937 bis Ostern 1938 eine Fußwallfahrt nach Rom. Der Querbalken des Kreuzes ragt nach oben aus dem Bildfeld hinaus und wird zu einem Lichtstrahl, auf dem der verklärte Jesus im oberen Bildfeld steht. Die Südwand des Querschiffes zeigt Szenen der Auferstehung Jesu. Im Giebelfeld sitzt ein Engel am leeren Grab. Rechts unter dem Engel ist ein Wappen mit dem Lamm Gottes angebracht. Links unter dem Engel fließt aus einem Kreuz das heilige Blut, das von drei Kelchen aufgefangen wird. Unter den Kelchen steht die Stadtpfarrkirche Voitsberg. Rechts neben dem Fenster steht der auferstandene Jesus in einem Feld mit Disteln. Ihm gegenüber kniet links vom Fenster in einem Feld mit orangefarbenen Taglilien Maria Magdalena, die ihn ansieht . Im Bildfeld unter dem Fenster ist Jesus im Grab dargestellt. Unterhalb verläuft ein Band aus Immergrün. Auf jeder Seite des Grabes steht ein Kerzenständer mit drei Kerzen auf dem linken und zwei auf dem rechten als Symbole für die Wundmale. Aus den Wundmalen sprießen insgesamt fünf Ähren, die als Frucht je eine Hostie ausbilden. Zwischen den Ähren und dem Grab verläuft der Spruch „DIES IST DAS BROT FÜR DAS LEBEN DER WELT“. Das obere Bild an der Südwand des Altarraumes zeigt die Auffahrt Jesu in den Himmel. In der Mandorla entschwindet er durch die Wolkendecke den Blicken seiner Jünger . Auf der Weltkugel im Bild darunter hat er seine Fußabdrücke hinterlassen. Die Darstellung hat wieder einen regionalen Bezug. In der Weltkugel ist der Stolleneingang eines Bergwerkes eingelassen, den eine Inschrift als den Eingang der Grube Zangtal ausweist, in der von 1799 bis 1989 unter anderem die Graz-Köflacher Eisenbahn- und Bergbaugesellschaft Kohle abbaute. Unter dem Stolleneingang prangt das Wappen der Stadt Voitsberg. Innenarchitektur Die Innenwände sind glatt verputzt. Der Dachstuhl ist mit einer Holzdecke aus gebleichtem Fichtenholz verkleidet, in die mehrere flache und hohe Rundbogennischen eingelassen sind. Vor dem Altar sind in den Fußboden ein Kreuz, drei ineinander übergehende Herzen sowie Alpha und Omega gefräst. Unter den Herzen steht das Wort „Maria“ sowie das Weihedatum der Kapelle. Deckenmalereien Die Holzdecke ist mit von Franz Weiss geschaffenen Tafelmalereien geschmückt. Die nischenartigen Vertiefungen der Decke sind in Blau und Gold gerahmt und mit goldenen Sternen verziert. Zwischen den Nischen sind acht Engel sowie die vier Evangelisten dargestellt. Auf der linken Seite des Langhauses stehen ein Engel mit Blumen, daneben mit Krone und von Blumen umgeben der Engel des inneren Gebetes sowie der Siegesengel mit einem Blumenkranz und Kreuzstab. Ihnen gegenüber sind auf der rechten Langhausseite der Erzengel Raphael mit dem jungen Tobias, der Lobpreisengel mit einer Gitarre sowie der Engel der Betrachtung mit einem Buch dargestellt. Im Altarraum sind links ein Engel mit dem Auge der Vorsehung und rechts der Engel der ewigen Anbetung mit einem Schriftband abgebildet. Die Vierung zeigt das Christusmonogramm IHS. Im umlaufenden Deckengesims steht ein Gebet von Papst Johannes XXIII.; die Zitate in den Fensternischen sind den vier Evangelien entnommen. Ausstattung Mit dem Vortragekreuz und dem Weihbrunnkessel stammen zwei der Gegenstände im Inventar der Kapelle aus dem alten Vorgängerbau. Das Vortragekreuz wurde von Franz Weiss zu einem Dreifaltigkeitskreuz umgestaltet und hängt an der Wand links neben dem Altar. Über dem gekreuzigten Jesus sind Gottvater und der Heilige Geist als Taube angebracht. Altar Der mit Hinterglasmalerei in Acrylfarben auf Plexiglas von Franz Weiss gestaltete Altar zeigt das Hauptbild der Maria Knotenlöserin. Der Name und die Darstellung gehen auf ein Gemälde im Stift St. Peter in Augsburg zurück. Das Band steht symbolisch für die Verbindung des Menschen zu Gott, die durch die Ursünde wie durch einen Knoten gestört ist, den Maria löst. Weiss wählte das Motiv auch, um seine Dankbarkeit für die Führung durch sein Leben zum Ausdruck zu bringen, die er seiner Verehrung der Maria zuschrieb. Das Bild in Tregist entstand unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im April 1986. Am linken Fuß Marias ist die Atomanlage abgebildet und auf dem verknoteten, dunkel gefärbten Band steht „Tschernobyl“. Am rechten Fuß Marias sieht man die Stadtpfarrkirche Voitsberg sowie die Voitsberger Michaelikirche. Zu den beiden Kirchen fällt das weiße und nicht mehr verknotete Band aus Marias Händen. Über dem Hauptbild des Retabels ist die Heilige Dreifaltigkeit als sogenannter Gnadenstuhl dargestellt. In der Tafel links des Hauptbildes stehen Franz von Assisi mit seinen Stigmata und Josef von Nazareth als Zimmermann mit dem Jesuskind. In der rechten Tafel stehen Barbara mit Schwert, Turm und Kelch sowie Veronika mit dem Schweißtuch. Unter dem Hauptbild, in der Predella des Altares, sind zwei Bildtafeln, die eine Einheit bilden. Links steht Erzengel Michael mit dem Flammenschwert und rechts Adam und Eva, die aus dem Paradies vertrieben sind . Auf der Mensa des Altars ist das Lamm Gottes dargestellt. Da die Farbe der Altarbilder abzublättern begann, wurden sie von 2010 bis 2013 von der Kunsthistorikerin Christina Pucher restauriert. Farbglasfenster Die zwei Farbglasfenster fertigte Meister Odilo Kurka in der Werkstätte Schlierbach nach Entwürfen von Franz Weiss. Das als Weihnachtsfenster bezeichnete Fenster im nördlichen Querschiff zeigt unten die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria, dass sie einen Sohn gebären wird , darüber die Geburt Jesu und oben den zwölfjährigen Jesus mit den Schriftgelehrten im Tempel . Die Bilder des sogenannten Osterfensters im südlichen Querschiff beginnen mit der Pietà, der Mutter Maria mit ihrem toten Sohn, in der Mitte der auferstandene Jesus mit der Siegesfahne und darüber Jesus mit den beiden Jüngern, denen er nach seiner Auferstehung auf dem Weg nach Emmaus begegnet war und die ihn jetzt erkennen, als er wie beim Abendmahl vor seinem Leiden das Brot bricht . Glocken Im offenen Dachreiter hängen zwei unterschiedlich große Glocken. Beide wurden durch Spenden aus der Bevölkerung finanziert und am 12. April 1987 geweiht. Kirchliches und Brauchtum Die Dorfkapelle steht zwar auf dem Gemeindegebiet von Bärnbach, gehört aber zum Pfarrsprengel der Pfarre Voitsberg. Dieser Pfarre ist die Kapelle bereits seit ihrer Weihe unterstellt. Jedes Jahr wird an einem Sonntag um den Weihetag der Kapelle (15. Oktober) eine heilige Messe gefeiert. Daneben ist die Kapelle auch Ort des kirchlichen Brauchtums. So dient sie als Station bei der Segnung der Osterspeisen am Karsamstag, regional als Fleischweihe bekannt. Auch Maiandachten und das Erntedankfest werden in ihr gehalten. Zu Weihnachten wird bei ihr das Friedenslicht zur Abholung aufgestellt. Krippendorf an der Kapelle Zum 750-jährigen Jubiläum der Stadt Voitsberg fertigte Franz Weiss in den Jahren 1995 und 1996 ein Krippendorf. Es besteht aus sechs Bildtafeln, die jedes Jahr von Mariä Empfängnis (8. Dezember) bis Mariä Lichtmess (2. Februar) bei der Kapelle aufgestellt werden. Die Tafeln hängen in sechs von Anton Walter gezimmerten Krippenhäuschen. Die Szenen auf den Tafeln sind in Acryl gemalt. Jede Szene ist von einem Rahmen umgeben, in dem der begleitende Bibeltext steht. Die Szenen des Krippendorfes stellen in ihren Motiven immer wieder regionale Bezüge her. Die erste Tafel zeigt die Verkündigung des Herrn durch den Erzengel Gabriel an die vor einem Betpult kniende Maria. Im Hintergrund der Szene sieht man die Voitsberger Michaelkirche, das Schloss Greißenegg, die Stadtpfarrkirche Voitsberg sowie das Dampfkraftwerk Voitsberg. Die nächste Szene zeigt die Verkündigung an die Hirten auf dem Felde durch einen Engel. Auch diese Szene stellt einen regionalen Bezug her, da die Schafe der Hirten vor der Burgruine Obervoitsberg weiden. In der dritten Szene sieht man die Geburt Christi in einem offenen Stall. Josef trägt einen grünen Janker und einen alpenländischen Hut. Bei der Anbetung der Könige auf der nächsten Tafel trägt Josef eine einfache steirische Landestracht. Die fünfte Tafel zeigt die Darstellung des Herrn im Tempel von Jerusalem. Der Tempel ist als Säulenhalle dargestellt, die der Krypta im Dom zu Gurk ähnelt. Die Flucht nach Ägypten ist die letzte Szene. Die Heilige Familie zieht dabei an der Pfarrkirche Bärnbach, der Pfarrkirche Piber sowie dem Schloss Alt-Kainach vorbei. Literatur Weblinks Einzelnachweise Baudenkmal (Steiermark) Bauwerk in Bärnbach Tregist Tregist Tregist Tregist Tregist
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brighton%20i360
Brighton i360
Der Brighton i360, ursprünglich: British Airways i360, ist ein 162 Meter hoher Aussichtsturm im südenglischen Brighton. Eröffnet wurde der von 2014 bis 2016 erbaute Turm am 4. August 2016. Seine ringförmige und verglaste, nicht drehbare Aussichtsplattform ist vertikal beweglich und wird zwischen Boden und einer Höhe von 138 Metern hinauf- und heruntergefahren. Ein Besuch schließt die Auf- und Abfahrt und einen etwa halbstündigen Aufenthalt in der Höhe ein. Der i360 ist der höchste Aussichtsturm im Vereinigten Königreich und hat nach dem Hochhaus The Shard in London die zweithöchste öffentlich zugängliche Aussichtsplattform des Landes. Gleichzeitig gehört das Bauwerk mit einem Höhen-Breiten-Verhältnis von mehr als 40 : 1 zu den schlanksten Türmen der Welt und zu den höchsten Aussichtstürmen mit höhenbeweglicher Aussichtsplattform. Ihrer außergewöhnlichen Gestaltung und Technik wurde durch zahlreiche Preise gewürdigt. Geschichte Vorgeschichte Die Idee für einen Aussichtsturm lässt sich bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen. In einem auf den 24. März 1964 datierten, allerdings nicht gesendeten Beitrag für die Wochenschau British Pathé werden drei Männer gezeigt, die einen Entwurf für einen strandnah im Meer verankerten, 300 Meter hohen Aussichtsturm besprechen. Der präsentierte Turm steht auf einem L-förmigen, mehrgeschossigen Basishaus, das über einen rund 90 Meter langen Betonpier mit der Uferpromenade verbunden ist. Drei schlanke, sich nicht verjüngende, parallel verlaufende Pfeiler tragen einen schlichten, wenig profilierten, zweigeschossigen, leicht konvexen Turmkorb mit zwei großflächigen und unterbrechungsfreien Fensterbändern. Oberhalb und unterhalb des Turmkorbs verbinden zwei Kegelstümpfe die unterschiedlichen Baukörper miteinander. An den oberen Kegelstumpf schließt auf einer Höhe von etwa 210 Metern ein dünner Mast an, der die Spitze des Bauwerks bildet. Aus einer Architekturdarstellung geht hervor, dass der Standort für den Brighton Tower zwischen dem Brighton Pier und dem heute nur noch in Resten erhaltenen West Pier geplant war, unweit des heutigen Aussichtsturmes. Die Pläne gehen auf eine kanadische Firma mit dem Namen Skydeck International Ltd. aus Toronto zurück. Der Turm, für den drei Aufzüge geplant waren, sollte in seinem Turmkorb auf zwei Besucheretagen bis zu 1000 Menschen Platz bieten sowie Radio- und Fernsehsignale ausstrahlen können. Die Baukosten wurden auf rund 1,5 Millionen Pfund geschätzt, was in Preisen von 2019 etwa 30 Millionen Pfund entspricht. Das Projekt kam zum Erliegen, als sich das Planungsunternehmen und der Rat der Stadt Brighton nicht über die Höhe der jährlich von den Investoren an die Stadt zu entrichtenden Pacht einigen konnten. Planungen 2003 schlugen die Architekten David Marks (1953–2017) und Julia Barfield für Brighton eine Touristenattraktion vor – beide hatten Ende der 1990er Jahre das London Eye in London geplant. Tragwerksplaner des i360 war John Roberts, der auch Anteilseigner der Betreibergesellschaft des i360 ist. Nachdem zunächst die Realisierung für 2008 ins Auge gefasst worden war, erlitt das Projekt durch die Finanzkrise ab 2007 einen Rückschlag, sodass erneut über die Finanzierung verhandelt werden musste. Damals ging man noch von einer Turmhöhe von 183 Metern aus. Nachdem 2012 eine neu gegründete Gesellschaft mit einer Hypothek die Vorfinanzierung gesichert hatte, wurde im März 2014 der gesamte Investitionsumfang genehmigt. Von dem 46 Millionen Pfund großen Budget stammen 36,2 Millionen vom Public Works Loan Board, einer staatlichen Gesellschaft, die öffentlichen Einrichtungen Darlehen aus dem National Loans Fund gewährt. Die Betreiber gehen von einer jährlichen Besucherzahl von rund 700.000 Menschen aus. Kontroverse Im örtlichen Umfeld von Brighton kam es zu verschiedenen Kampagnen gegen die Vergabe des Darlehens und die Errichtung des Turmes. In Unterschriftenaktionen wurden Stimmen gegen das Vorhaben gesammelt. Sogar einige Architekten, darunter zunächst auch Paul Zara und Paul Nicholson, aber auch Vertreter aus Gesellschaft und Medien unterstützten die Proteste. Allerdings kamen nur einige Hundert Stimmen zusammen. In einer Onlinepetition auf change.org lehnten gerade einmal 1447 Gegner das Vorhaben ab. Paul Zara wandelte sich im Verlauf der Debatte zum Befürworter der Projekts. Valerie Payton von der Kampagne SaveHOVE sagte, dass sich der Turm „enorm von der Küste abheben würde und seine breite, große und monströse Stahlkonstruktion allgegenwärtig sichtbar sei, sobald man in die Stadt oder sein Umland blicken werde.“ Sie äußerte sich besorgt darüber, dass die Stadt auch dann das Darlehen zurückzahlen müsse, wenn das Projekt scheitern sollte. Selma Montford von der Brighton Society zweifelte die prognostizierten Besucherzahlen an. Bewohner von Brighton, die den Turm missbilligen, bezeichnen ihn als iSore; das englische Wort „eyesore“ bedeutet „unschöner Anblick“ oder auch „Bausünde“. Bau Nachdem im Juni 2014 die Verträge unterzeichnet worden waren, begannen die Gründungsarbeiten am 29. Juli. Ab Februar 2015 stellte man die 13 bis 20 m langen Stahlbetonpfähle für die Fundamente her. Die Stahl- und Glaselemente des Turms wurden in Großbritannien sowie auch in Frankreich und den Niederlanden vorgefertigt. Im Mai 2015 wurde mit der Errichtung des Turms aus Fertigteilen begonnen werden. Das US-amerikanische Unternehmen Jacobs Engineering Group war für die ingenieurtechnische Umsetzung sowie Inspektionsarbeiten und andere Dienstleistung verantwortlich. Am 11. Juni 2015 kam der erste von insgesamt zwei Lastkähnen am Strand von Brighton an. Er brachte die in den Niederlanden vorfabrizierten zylindrischen Turmsegmente von Rotterdam über den Seeweg direkt zur Baustelle. Die insgesamt 17 zylindrischen Stahlsegmente waren 4 bis 12 Meter hoch und wurden mithilfe eines fast 100 Meter hohen und 200 Tonnen schweren Gittermastkrans mit Raupenfahrwerk und Derrickausleger aus dem Schiff entladen und an die nur 85 Meter entfernte Turmbaustelle gehievt. Der Frachtkahn brachte auch Lehrgerüstsektionen an das Baugelände. Entlang des Lehrgerüstes als Hilfskonstruktion wuchs der Turm in die Höhe. Die Segmente wurden dabei jeweils unter den bereits zusammengesetzten Rumpf des Turms geschoben, der abschnittsweise mit Hydraulikpressen angehoben wurde. Auf diese Weise wuchs der Turm durch das Einfügen der Segmente von unten. Zum Einfügen des letzten Segments mussten 980 Tonnen gehoben werden. Die zylindrischen Teile mit Massen zwischen 45 und 85 Tonnen wurden mit insgesamt 1336 Bolzen verschraubt. Allein die Bolzen wiegen zusammengenommen 30 Tonnen. Am 23. August 2015 war die vorgesehene Turmhöhe erreicht. Die Montagezeit für die Stahlsäule betrug zehn Wochen. Danach wurde das Lehrgerüst abgebaut. Im nächsten Arbeitsschritt wurde der Turm mit fünf Millimeter starken, gebogenen Aluminiumpaneelen verkleidet. Im Januar 2016 brachen fünf Personen in die Baustelle des i360 ein und sprangen als Base Jumper von der Spitze des unfertigen Turms. Daraufhin wurden die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Im Juli 2016 waren alle Bauarbeiten am Turm abgeschlossen. Seit Eröffnung Der Brighton i360 wurde am 4. August 2016 im Beisein von Prince Philip eröffnet. Mit seinen 173 Metern ist er mit Abstand das höchste Bauwerk in der Grafschaft Sussex und neben dem 24-geschossigen und 102 Meter hohen Wohnhochhaus Sussex Heights des schweizerisch-britischen Architekten Richard Seifert aus den 1960er Jahren das zweite über 100 Meter hohe Bauwerk in Brighton. Die Kosten des Bauwerks wurden mit rund 46 Mio. Pfund beziffert. Bereits in den Tagen davor hatten Pressevertreter sowie Vertreter aus Politik und Wirtschaft die Gelegenheit zu einer Turmauffahrt. Das zur Eröffnung anberaumte Feuerwerk musste wegen schlechten Wetters vertagt werden. Am 11. März 2019 konnte der einmillionste Fahrgast begrüßt werden. Der Brighton i360 macht seit seiner Eröffnung immer wieder Schlagzeilen durch technische Ausfälle. Nachdem bereits im September 2016 über 150 Gäste für zwei Stunden stecken geblieben waren, wiederholten sich ähnliche Vorfälle in den nächsten Monaten. Beschreibung Lage und Situation Der Turm steht an der King’s Road unmittelbar am Strand auf Höhe des 1866 errichteten und im Jahr 2003 abgebrannten West Piers. Ein vom Ufer isolierter Überrest des Tragskeletts des Piers befindet sich einige hundert Meter vorgelagert im Meer. Der Turm stellt eine optische Sichtachse zum gegenüber der King’s Road liegenden Regency Square her und komplettiert die offenen vier Seiten des Platzes. Auch die Höhe des Bauwerks wurde bewusst gewählt. Sie entspricht einerseits der Länge des rechteckigen, 66 Meter breiten Regency Square und ist andererseits die Hälfte der Länge des West Pier. Nordöstlich vom Regency Square befindet sich das Sussex Heights, ein 102 Meter hohes Wohnhochhaus und bis zur Errichtung des i360 das höchste Bauwerk der Stadt Brighton. Zum Areal des Turmes gehört ein ebener, rechteckiger Platz auf Straßenhöhe. Er ist durch ein Drehkreuz und eine verglaste Wand vom öffentlichen Gehweg abgetrennt und dient als Wartebereich für die Fahrgäste. Die Mitte des Platzes befindet sich eine Vertiefung in der die bewegliche Aussichtskanzel einfährt, um einen ebenerdigen Ein- und Ausstieg zu erreichen. Unterhalb dieses Platzes befinden sich Kasse, ein Souvenirladen und ein Restaurationsbetrieb. Diese untere, der Strandseite zugewandte Ebene ist über seitliche Treppen zu erreichen. Die Kanzel kann sowohl den Wartebereich auf dem Platz wie die Ebene des Souvenirladens anfahren. Der gesamte Bereich der Anlage umfasst eine Fläche von 2037 Quadratmetern. Design und Name Der Entwurf stammt von den Architekten David Marks und Julia Barfield. Die Gestaltung des Turms, insbesondere der Gondel mit der Aussichtsplattform, ähnelt im Stil und der Ästhetik dem ebenfalls von den beiden Architekten entworfenen London Eye. Das „i“ steht laut Architekt Marks für „Intelligenz, Innovation und Integrität“, die Zahl 360 für den Winkel des Rundumblicks. Die Architekten verstehen das Design des i360 als moderne Interpretation der Gestaltung englischer Seebäder des Viktorianischen Zeitalters. Als Name war ursprünglich Brighton i360 vorgesehen, er wurde aber auf den Namen des Sponsors, der Fluglinie British Airways, abgeändert. Abgesehen vom Namen trugen auch etliche Gegenstände und Objekte die Marke von British Airways, beispielsweise die Liegestühle und Sonnenschirme sowie die Kleidung der Hostessen, welche die Turmauffahrt begleiten. Im Jahr 2022 ging das Namensrecht des Turm von British Airways auf die Stadt Brighton über, so dass der Turm seither nun doch wie ursprünglich geplant Brighton i360 heißt. Architektur und Technik Der Brighton i360 besteht aus einem schlanken Stahlschaft, der insgesamt 161,75 Meter in die Höhe ragt. Auf ihm befindet sich eine 11,70 Meter hohe Spitze, welche die Gesamthöhe des Bauwerks auf 173,45 Meter erweitert und ihn damit zum höchsten Bauwerk in Sussex macht. Das Prinzip der entlang eines schlanken Turmes und diesen umgreifenden auf- und abfahrbaren Plattform wurde vom Gyro-Tower übernommen. Die Stahlrohrsäule hat einen Durchmesser von 3,9 Metern. Sie ist von der Aussichtskabine und deren ebenfalls ringförmigem Fahrgestell umgeben. Das Fahrgestell wird in vier Nuten im Umfang des Turmes bis auf eine maximale Höhe von 138 Metern geführt. Die Glashülle der Kabine hat annähernd die Form eines abgeplatteten Rotationsellipsoids (Außendurchmesser etwa 18 Meter, Höhe 4,70 Meter), das in der Mitte zylindrisch durchbrochen ist. Ihre Nutzlast beträgt 15 Tonnen (entspricht 200 Personen mit je 75 kg durchschnittlichem Gewicht), und sie enthält eine Bar. Kabine und Fahrgestell wiegen zusammen 93 Tonnen (73 plus 20 Tonnen). Die Hülle der Gondel besteht aus 24 Segmenten, die sich aus gebogenen Glaselementen zusammensetzen. Zwei Segmente sind mit Schiebetüren zum Ein- und Ausstieg ausgestattet. Ein Höhen-/Breitenverhältnis von über 40:1 macht das Bauwerk zum schlanksten Turm der Welt. Die Kabine wurde von Poma gebaut und wird mit Seilbahntechnologie entlang des Schachts angehoben bzw. abgesenkt. Im Inneren der Stahlsäule sind Gegengewichte untergebracht. Etwa 50 % der für den Aufstieg der Gondel benötigten Energie wird während der Fahrt nach unten zurückgewonnen, gemäß anderen Quellen sollen es sogar über 60 % sein. Die Aussichtsgondel bewegt sich auf- wie abwärts mit einer konstanten Geschwindigkeit von 0,4 Metern pro Sekunde und wird von einem 160 kW starken Motor angetrieben. Um das Beschlagen in der verglasten Kanzel sowie Kälte- und Zugerscheinungen zu verhindern, sorgen zwölf Luftschleieranlagen im Kleinstformat für die notwendige Luftzirkulation und können stündlich bis zu 2150 Kubikmeter Luft umsetzen. Die zwischen 1 Meter und 1,5 Meter langen Anlagen im oberen Kanzelbereich werden von einem verzinktes Stahlgehäuse kaschiert und sorgen mit einer thermischen Leistung von 9 kW auch im Winter für angenehme Temperaturen. Am Fuß des Turms befindet sich ein quaderförmiges, eingeschossiges Basisgebäude (The beach building), das sich optisch als Verlängerung des Regency Square darstellt. Dieses Gebäude überbrückt den Höhenunterschied zwischen Strand und dem Straßenniveau der King’s Road. Das Flachdach ist begehbar und mit einer Reling umgeben. In der Mitte des Daches befindet sich der Ein- und Ausstieg der fahrbaren Kanzel und zwei Nachbauten der West-Pier-Zahlstellen wurden auf dem Dach platziert. Sie sind eine leicht modernisierte Reminiszenz an die traditionsreichen Bauten aus dem Jahr 1866, die fast an der gleichen Stelle am Zugang zum West Pier standen. Um den Turm auch bei starken Winden stabil zu halten, wirken wie im London Eye rund drei Tonnen schwere Schwingungsdämpfer der Windbewegung entgegen, die je nach Situation unterschiedlich betrieben werden können. Die Dämpfer enthalten kleine Behälter aus rostfreiem Stahl die zur Hälfte mit einer frostsicheren Flüssigkeit gefüllt sind. Ihre Form variiert, damit sie in unterschiedlichen Frequenzen schwingen. Insgesamt 50 dieser Dämpfungselemente wurden auf drei unterschiedlichen Ebenen des Turms verteilt. Die meisten sitzen am obersten Teil des Turmschafts, da dort die höchste Dämpfungskraft benötigt wird. Nutzung Das Strandgebäude an der Basis ist so konzipiert, dass es außer dem Hauptzweck als Aussichtsturm auch einen Souvenirladen und ein Restaurant (Belle Vue) bietet. Ein Raum soll Kunstausstellungen vorbehalten bleiben und weitere Räumlichkeiten für Veranstaltungen und Feierlichkeiten zur Verfügung stehen. Für Veranstaltungen bietet es je nach Bedarf Platz für 10 bis 800 Personen. Die Räumlichkeiten des Turms können ebenso für das Abhalten von Hochzeiten verwendet werden. Auch ein Kinder- und Spielbereich wurde im Strandgebäude 2017 fertiggestellt. Abends öffnet in der Aussichtsgondel die Nyetimer Sky Bar. Aus diesem Grund wurde die Verweildauer auf 30 Minuten ausgedehnt. Eines der wieder aufgebauten Zahlstellenhäuschen auf dem Dach des Strandgebäudes wird als Teehaus genutzt. Sowohl das Basishaus als auch der Aussichtsturm sind barrierefrei zugänglich. Aufgrund niedriger Besucherzahlen baten die Betreiber 2018 um erleichterte Bedingungen zur Rückzahlung des Kredits. Ab August 2016 hatte der Turm nur rund 500.000 Besucher, anstelle der erwarteten 800.000. Zurückgeführt wurde dies auf das schlechte Wetter sowie die unzuverlässige Eisenbahnverbindung nach London. Architektonische Einordnung Der Brighton i360 ist ein Aussichtsturm, der dem Prinzip und dem Aussehen eines Gyro-Tower ähnelt. Mit seiner fahrbaren Kanzel nimmt er zu anderen Aussichtstürmen eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zum Gyro-Tower, der zudem meist als Fahrgeschäft in Freizeitparks anzutreffen ist, dreht sich die Kanzel des British Airways i360 nicht. Türme mit fahrbaren Kanzeln außerhalb von Freizeitparks sind entsprechend selten. Außerhalb von Freizeitparks gibt es Gyro-Tower beispielsweise in Rotterdam mit dem 185 Meter hohen Euromast, der eine Kombination eines konventionellen Aussichtsturms mit einer auf seinen Turmkorb aufgesetzten Stahlkonstruktion ist, auf der sich die fahrbare Aussichtskanzel befindet. Der 2012 eröffnete, 53 Meter hohe Gyro-Turm Jurassic Skyline im südwestenglischen Weymouth, der ebenfalls nicht Teil eines Freizeitparks ist, ist am ehesten mit dem Brighton i360 zu vergleichen. Der Turm in Weymouth wurde allerdings 2017 nach einem technischen Zwischenfall mit einhergehender Personenrettung und wegen zuvor zurückgegangener Besucherzahlen permanent geschlossen, an einen anderen Betreiber verkauft und soll abgebaut werden. Rezeption Irritationen um den Weltrekord Mit einem Höhen-Breiten-Verhältnis von 41,4 : 1 ist der Turm eine außerordentlich schlanke Konstruktion. Vor der Eröffnung meldeten verschiedene Medien, dass der Brighton i360 der schlankeste Turm sowie der höchste Turm mit verfahrbarer Kanzel sei. Die Meldungen und der Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde erwiesen sich als falsch. Die zwei Ingenieure Tim Ibell von der University of Bath und Pierfrancesco Cacciola von der University of Brighton stellten ein Gesuch für die Anerkennung eines Weltrekordes, was die Grundlage der irrigen Meldungen sein dürfte. Tatsächlich wird der Rekord seit dem 27. September 2013 bereits vom Top o’ Texas Tower gehalten, der zur State Fair, einem 24-tägigen Volksfest, im texanischen Dallas in der Nähe des Cotton Bowl Stadions errichtet wurde. Sein Höhen-Breiten-Verhältnis übertrifft mit 47,61 : 1 den vom Brighton i360 – allerdings ist er mit 152,4 Metern auch etwas niedriger als der Turm in Brighton und befördert auch maximal nur 100 Fahrgäste. Einen späteren Versuch des Betreibers, den Brighton i360 als „höchsten Aussichtsturm mit beweglicher Aussichtskanzel“ zu titulieren, scheiterte an der britischen Wettbewerbs-Regulierungsorganisation Advertising Standards Authority (ASA). Die ASA argumentierte, dass es weltweit verschiedene Gegenbeispiele gebe, und führte an, dass es Aussichtstürme mit drehenden Kanzeln gebe; zudem sei der Euromast in Rotterdam ebenfalls ein Turm mit vertikal auffahrender Kanzel. Preise und Auszeichnungen Seit der Eröffnung des Brighton i360 erhielt das Bauwerk über 20 Preise und Auszeichnungen. Neben Auszeichnungen im Sektor Tourismus und Wirtschaft erhielt der Turm 2017 den British Construction Industry Award. Gewürdigt wurde damit die innovative bauliche Leistung und das außergewöhnliche Höhen-Breiten-Verhältnis, ebenso das architektonische Design und seine wirtschaftliche Effizienz. Im selben Jahr wurde der i360 auch Gewinner des vom Institution of Structural Engineers (IStructE) vergebenen Ingenieurpreises Supreme Award for Structural Engineering Excellence. Auch das IStructE würdigte die besondere Bauform, die sogar einen Weltrekord darstelle. Um dies zu erreichen, seien bauliche Innovationen notwendig gewesen, die das Bauwerk geeignet dämpfen. Damit wurde eine Eigenfrequenz von weniger als 0,2 Hertz erreicht. Ebenso wurde die effiziente Bauausführung gelobt sowie die Tatsache, dass über 60 % der notwendigen Energie für die Aufwärtsfahrt durch die vorangegangene Abwährtsfahrt rekuperiert werde. Auch 2017 verlieh das Royal Institute of British Architects einen nationalen Preis. Die nächtliche Beleuchtung des Turms errang 2018 in der Kategorie Beleuchtung den Scottish Design Award. Weblinks (englisch) (englisch) – Videobeitrag zum Turmbau (englisch) Brighton’s i360 tower is a testament to Marks Barfield’s vision and tenacity baunetzwissen.de: Aussichtsturm Brighton i360 in Brighton. Ausblick in 140 Metern Höhe und Energie-Rückgewinnungsprozess Einzelnachweise Aussichtsturm in Europa Erbaut in den 2010er Jahren Bauwerk in Brighton and Hove Turm in England Brighton
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https://de.wikipedia.org/wiki/Das%20Ei%20und%20ich%20%28Buch%29
Das Ei und ich (Buch)
Das Ei und ich (Titel des englischen Originals: The Egg and I) ist eine autobiografische humoristische Erzählung der amerikanischen Schriftstellerin Betty MacDonald. Das 1945 erschienene Buch beschreibt die Erlebnisse der Erzählerin auf einer Hühnerzuchtfarm am Rande der Olympic Mountains Ende der 1920er Jahre. Es wurde ein Bestseller, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und von dem weltweit über drei Millionen Exemplare verkauft wurden. Eine Verfilmung des Buchs gab Anlass zu einer ganzen Serie weiterer Filme, deren Mittelpunkt die im Buch beschriebenen Hillbillys bildeten. Das Werk fand erst in den 1970er Jahren, im Zuge einer Diskussion über häuslichen Humor und „komischen Feminismus“, einige Beachtung in der Literaturwissenschaft, insbesondere in den Women’s Studies. Bereits 1951 war jedoch im Zuge eines Verleumdungsprozesses die Frage nach der Textsorte von The Egg and I juristisch akut geworden, also die Frage, ob es sich um eine autobiografische Erzählung oder ein fiktionales Werk handele. Schließlich wurde es auch Thema in einer Debatte über literarischen Regionalismus und die Werte des amerikanischen Westens. Philologische Fragen der Entstehung, Veröffentlichung und Vermarktung des Buches sowie der biografischen Bezüge und Schauplätze wurden erst in einer 2016 erschienenen Biografie von Paula Becker geklärt. Handlung und formaler Bau Die durchgängig in der Ich-Form erzählte Geschichte ist in fünf Teile (parts) unterteilt, die jeweils mehrere Kapitel enthalten und durch ein Zitat eingeführt werden, das als Motto dem Text voransteht. Der Titel des ersten Teils, „Such Duty“ („Solche Pflicht“), ist dem Motto dieses Teils entnommen, einem Shakespeare-Zitat aus Der Widerspenstigen Zähmung: „Such duty as the subject owes the prince,/Even such a woman oweth to her husband“ („Die Pflicht, die der Vasall dem Fürsten zollt,/die ist die Frau auch schuldig ihrem Gatten“). Er bezieht sich direkt auf die Ermahnung der Mutter der Erzählerin, es sei die Pflicht der Frau, dafür zu sorgen, dass der Mann sich bei seiner Arbeit wohlfühlt – eine Pflicht, die die Erzählerin trotz großer Anstrengung nicht zu erfüllen vermag. Die drei Kapitel des ersten Teils enthalten zunächst einen gerafften, anekdotischen Überblick über die Kindheit der Erzählerin. Es folgt die Heirat der 18-Jährigen mit dem Versicherungsangestellten Bob und dessen Entschluss, auf der Olympic-Halbinsel eine Hühnerfarm zu betreiben – eine Entscheidung, die die Erzählerin gemäß dem Leitsatz der Mutter freudig unterstützt. Die beiden begeben sich in die „ungezähmteste Ecke der Vereinigten Staaten“ („most untamed corner of the United States“), kaufen eine verlassene Farm und richten sie her. Dies nimmt etwa den Zeitraum zwischen März und November ein. Die Titel der anderen vier Teile folgen dem Jahreslauf: November – Frühling – Sommer – Herbst. Die Erzählung verlässt hier weitgehend die chronologische Folge und reiht Anekdoten, wiederkehrende Ereignisse und daran geknüpfte Reflexionen aneinander. Der Teil „November“, eingeleitet mit einem gekürzten Zitat von Thomas Hoods Gedicht No!, welches das Fehlen von Farbe, Licht und Wärme und Leben im November beschwört, schildert zunächst ausführlich die Arbeiten der Farmerin in einer einsamen Farm ohne Strom und Wasseranschluss und die ungleiche Verteilung und Anerkennung der Arbeit zwischen den Geschlechtern. Das geht von den Kämpfen mit dem anthropomorphisierten Ofen „Stove“ über das Waschen, Bügeln, Backen und Putzen bis zum Aufstehen in tiefer Dunkelheit und Nässe um 4 Uhr morgens. Mit optimistischerem Tonfall werden dann die reichlich vorhandenen Nahrungsmittel aufgezählt – und der Kontrast zu den Sitten der alteingesessenen Bevölkerung, die sich trotz dieser Überfülle von Schweinebauch mit Makkaroni ernährt. Hier wird auch erstmals ihre Schwangerschaft erwähnt, in Verbindung mit einem Angebot zur Abtreibung mittels eines Stiefelknöpfers („plain oldfashioned buttonhook“), das ihr ein Ortsansässiger macht. Der „Frühling“ trägt als Motto ein Zitat von John Keats: „Hear ye not the hum of mighty workings!“ Die „mächtigen Werke“ beziehen sich auf das Erwachen der Natur und die Fortpflanzungstätigkeit: Die Erzählerin bringt ihre Tochter zur Welt, und als sie aus dem Krankenhaus zurück ist, haben auch auf dem Hof alle Tiere eifrig Nachwuchs in die Welt gesetzt („had been busy producing“), was die Arbeit noch vermehrt. Der Kern des Frühlingsteils ist jedoch der gesellschaftliche Verkehr, besonders mit den nächsten Nachbarn. Das sind einerseits die Kettles, „Paw“ und „Maw“ (Papa und Mama) Kettle mit ihren 15 Kindern. Ihre Farm ist, anders als die des tüchtigen Bob und der Erzählerin, unordentlich, schmutzig und nur von Improvisationen zusammengehalten. Paw kommt, sobald die Beziehungen einmal etabliert sind, ständig an, um etwas zu borgen. Das sind auf der anderen Seite die Hicks’: Während Mr Hicks nur als „a large ruddy dullard“ (stämmiger Einfaltspinsel mit gerötetem Teint) erscheint, ist Birdie Hicks vom Haushalt geradezu besessen, ein Putzteufel und in der Lage, schon vor dem Frühstück Hunderte Gläser Obst und Gemüse einzumachen. Die Sympathien der Erzählerin liegen bei Maw Kettle. Ein weiteres Kapitel ist der aufwändigen Hühner- und Kükenpflege gewidmet, die die Erzählerin dazu bringt, selbst Küken hassen zu lernen, denn: „Chickens are so dumb. Any other living thing which you fed 365 days in the year would get to know and perhaps to love you. Not the chicken.“ („Hühner sind so dumm. Jedes andere Lebewesen, das du 365 Tage im Jahr fütterst, würde dich irgendwann kennen und vielleicht lieben. Das Huhn nicht.“) Der „Sommer“ beginnt mit dem Motto: „Man works from dawn to setting sun/But woman’s work is never done“ („Von morgens bis abends arbeitet der Mann/Doch die Arbeit der Frau ist nie getan“), einem bekannten Sprichwort. Das damit angeschlagene Thema der Geschlechterrollen in der Arbeit betrifft unter anderem die Konservierungsarbeiten (Einmachen, Sterilisieren usw.), die der Frau zufallen; die Erzählerin, die mit Birdie Hicks’ Leistungen weder mithalten kann noch will, erlebt den glücklichsten Tag ihres Farmlebens, als endlich der Drucktopf in die Luft fliegt – aber Bob sucht ungerührt einen größeren aus dem Sears-&-Roebuck-Katalog aus. Ein weiteres Kapitel beschreibt Besuche naturschwärmerischer Bekannter auf der Farm, die blind für die Plackerei ihrer Gastgeberin sind. Vor allem geht es in diesem Teil aber um die Indianer, in engem Bezug zum Gender-Thema. Crowbar, Clamface und Geoduck Swensen sind „Bobs gute Freunde, aber zu meinen konnte ich sie nicht rechnen“, weil Frauen für sie nicht zählen („They were Bob’s good friends. I couldn’t count them as mine, for they had no use for women and were unable to understand Bob’s attitude toward me“). Die Kapitelüberschrift „Mit Pfeil und Bogen“ steht in ironischem Kontrast zum von der Erzählerin wahrgenommenen Erscheinungsbild: klein, o-beinig und meist betrunken. Das Kapitel berichtet unter anderem von einer bedrohlichen Situation: Ein betrunkener Freund von Geoduck sucht sie zu Hause auf, als sie allein ist, und belästigt sie; sie wird ihn nur mit vorgehaltener Flinte wieder los. Die Erzählerin wird danach, sozusagen als Friedensangebot, samt Kind und Mann zu einem indianischen Picknick eingeladen. Sie ist entsetzt von der Sauferei, dem Schmutz und dem Umgang mit den Kindern. Es folgen Kapitel über die Erziehung der Kinder in nicht-indianischen Kreisen – die mit Schweinebauch und Bier gefüttert werden – und die gefährliche, häufig zu Todesfällen führende Arbeit der Männer im Holzfällerlager. Der abschließende Teil „Herbst“, eingeleitet erneut mit einem Zitat von Thomas Hood, diesmal dem Anfang seines Gedichts Autumn, beginnt mit einer technischen Veränderung, die auf den Abschied vom unzivilisierten Leben vorausdeutet: Bob baut eine Wasserleitung für die Farm. Es folgen Erlebnisse des ländlichen, mit viel Alkohol verbundenen geselligen Verkehrs („The Theatah – the Dahnse“), darunter eine große Geburtstagsparty für Maw Kettle. Später führt ein Brand, ausgelöst durch Unachtsamkeit von Paw Kettle, zu einer vereinten Anstrengung der Männer, das Feuer einzudämmen; der Erzählerin fällt die Aufgabe zu, die Helfer bis fünf Uhr morgens mit Essen und Alkohol zu versorgen. Schließlich berichtet Bob von einer Farm im Stadtgebiet von Seattle, die zum Verkauf stehe. Die Erzählerin ist begeistert von der Aussicht auf Strom- und Wasseranschluss und hofft, künftig morgens länger im Bett bleiben zu können, doch Bob dämpft ihren Enthusiasmus: Hühner müssten immer früh gefüttert werden. Die Erzählung endet mit der lakonischen Feststellung: „Which just goes to show that a man in the chicken business is not his own boss at all. The hen is the boss“ („Woraus ersichtlich ist, dass der Besitzer einer Hühnerfarm keineswegs sein eigener Herr ist. Die Henne ist sein Meister“). Eine räumliche Einordnung der Handlung in der Nähe des Puget Sound an der Pazifikküste des Staates Washington und, genauer, auf der Olympic-Halbinsel ist gut möglich, obwohl die Orts- und Landschaftsnamen fast durchweg verschleiert sind. Auf die zeitliche Einordnung gibt es hingegen kaum Hinweise. Lediglich die wiederholten Anspielungen auf die Prohibition lassen darauf schließen, dass die Handlung bereits über zwanzig Jahre zurückliegt. Entstehungs-, Veröffentlichungs- und Vermarktungsgeschichte Entstehung und Lektorat Die Grundlage des Buchs bilden die Erfahrungen der Autorin. Sie heiratete 1927 als Zwanzigjährige den Versicherungskaufmann Robert Heskett, mit dem sie bis 1930 auf der Olympic-Halbinsel eine Hühnerzuchtfarm bewirtschaftete. Anekdoten aus dieser Zeit erzählte sie vielfach im Familien- und Kollegenkreis, auch in Briefen. Gemäß MacDonalds eigenen Angaben, sowohl in ihrem späteren Buch Anybody can do anything als auch in Briefen, ging der Entschluss, sie niederzuschreiben, auf das wiederholte Drängen ihrer Schwester Mary Bard zurück, die später selbst Schriftstellerin wurde. Ihr ist The Egg and I auch gewidmet, die Widmung lautet: „To my sister Mary who has always believed that I can do anything she puts her mind to“, also etwa: „Für meine Schwester Mary, die immer geglaubt hat, dass ich alles schaffen kann, was sie sich in den Kopf gesetzt hat.“ Begonnen hat MacDonald das Manuskript aber vermutlich bereits 1940 oder 1941 in Seattle, möglicherweise auf die Anregung eines Professors für Creative Writing an der University of Washington. Sie ließ es zunächst liegen, als sie ihren zweiten Mann Donald MacDonald kennenlernte. Seit 1942 lebte sie mit Donald MacDonald auf Vashon Island und beide pendelten mit der Fähre zur Arbeit nach Seattle. Mary Bard, die Kontakt zu einem Lektor und Literaturscout von Doubleday, Henri Verstappen, hatte, erzählte diesem, dass ihre Schwester an einem Buch über die Region schreibe, und arrangierte ein Treffen. Verstappen bat Betty MacDonald, bis zum nächsten Tag ein Exposé zusammenzustellen. Um das zu schaffen, meldete sie sich bei dem Bauunternehmen, in dessen Büro sie arbeitete, krank und verlor prompt ihre Arbeitsstelle. Da Verstappen das Exposé vielversprechend fand, betrieb sie nun ernsthaft die Fertigstellung des Manuskripts. Weil sie wieder Arbeit suchen musste und zudem die beiden Kinder versorgte, stockte die Schreibarbeit aber immer wieder. Schließlich verließ Verstappen Ende 1943 den Verlag und sandte die fertiggestellten Kapitel zurück. Im Februar 1944 schickte Betty MacDonald, wiederum auf Marys Drängen hin, zunächst ein Exposé und dann ein weiter fortgeschrittenes Manuskript an die Agentur Brandt & Brandt in New York. Bernice Baumgarten, Literaturagentin und Leiterin der Buchabteilung bei Brandt & Brandt, hielt es für aussichtsreich, verlangte aber verschiedene Veränderungen: Statt, wie das ursprüngliche Manuskript, in Tagebuchform, sollte es im Stil einer durchgehenden Erzählung gehalten sein; zudem sei es zu kurz. Auf diese Intervention gingen die biografischen Kapitel des ersten Teils zurück. Ferner fand Baumgarten das Ende zu bitter; man gewinne den Eindruck, MacDonald habe ihren Mann zeitweise geradezu gehasst. MacDonald schrieb das Ende um, wobei sie, wie ein Brief an Baumgarten bezeugt, Robert Hesketts Charakter („in Wirklichkeit war er der größte Bastard, den es jemals gab, aber … ich hoffte, man würde es nicht merken“; „actually he was the most concentrate bastard that ever lived but … I hoped it was not apparent“) mit dem ihres zweiten Mannes Donald MacDonald amalgamierte. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass in der Erzählung zu viel die Rede vom illegalen Schnapsbrennen sei. Auch diese anstößige Aktivität milderte die Autorin daraufhin ab. Im Oktober 1944 gelang es Baumgarten schließlich, das Buch auf der Basis des Exposés an den Verlag J. B. Lippincott & Co. in Philadelphia zu verkaufen. Es gab mit Lippincott noch eine Debatte um den Buchtitel: Der Verleger schlug „Fine Feathered Friends“ (Fein gefiederte Freunde) vor, MacDonald konnte sich jedoch mit ihrem ursprünglichen Titel The Egg and I durchsetzen. Zudem wünschte Lippincott aus juristischen Gründen eine Veränderung der Personennamen, die den wirklichen Namen noch zu ähnlich seien, was MacDonald umsetzte. Von den Manuskripten ist nach Angaben von MacDonalds Biografin Paula Becker nichts erhalten, es ist Becker jedoch gelungen, den Briefwechsel der Autorin mit Baumgarten und Lippincott aufzufinden, der Rückschlüsse auf den Entstehungs- und Lektoratsprozess erlaubt. Eine humoristische Beschreibung des „langen, langen Jahrs zwischen der Empfängnis und der Geburt von The Egg and I“ unter der Überschrift „Anybody Can Write Books“ (Jeder kann Bücher schreiben) bietet das 17. und letzte Kapitel von MacDonalds drittem autobiografischen Buch Anybody can do anything (1950). Die Hindernisse des Schreibprozesses schilderte die Autorin anschaulich in ihrem vierten autobiografischen Buch, Onions in the Stew: „Ich habe versucht, in der Küche, im Esszimmer, im Wohnzimmer, in unserem Schlafzimmer, im Gästehaus, auf der Terrasse, im Innenhof zu schreiben – es ist immer dasselbe. Ich bin zuerst und zuletzt und immer Ehefrau und Mutter, und egal, was ich mache, ich muss damit aufhören, um ‚zu überlegen, wo ich den großen Schraubenzieher hingelegt habe‘ …“ Veröffentlichung Zunächst wurde eine Fassung im Sommer 1945 in drei Nummern der Zeitschrift The Atlantic Monthly vorabgedruckt. Diese Fassung war gegenüber der Buchausgabe gekürzt und entschärft („bowdlerized“). Die Zeitschrift sorgte zusätzlich für eine Veränderung aller Ortsnamen, um juristische Probleme zu vermeiden. Im Oktober 1945 brachte Lippincott schließlich die Buchausgabe heraus, die ebenfalls die geänderten Ortsnamen aufwies und sich glänzend verkaufte. Die ersten Auflagen zeigten auf dem Schutzumschlag einen kolorierten Holzschnitt einer Farmszene von Richard Bennett, bald ersetzte der Verlag diese Illustration jedoch durch ein Porträtfoto der Autorin. Urheber dieses Fotos, aufgenommen im Januar 1945, war der Fotograf Leonid Fink (Seattle). Eine Taschenbuchausgabe, eine Buchclubausgabe sowie eine Ausgabe für die „Armed Services“ erschienen noch 1945. Bereits am 30. Dezember 1945 erklomm das Buch die Spitze der Bestsellerliste der New York Times und blieb dort 42 Wochen lang, am 5. Januar 1946 erschien es auch auf Rang 1 der Bestsellerliste von Publishers Weekly und hielt diese Position für 33 Wochen. Auf der Nonfiction-Jahresbestsellerliste (also als Sachbuch) 1946 von Publishers Weekly belegte das Buch Platz 1. Im September 1946 war eine verkaufte Auflage von einer Million erreicht. Reader’s Digest brachte in der November-Ausgabe 1946 eine stark gekürzte Version. Die ersten Übersetzungen erschienen: 1946 ins Dänische, Schwedische und Spanische, 1947 ins Deutsche, Finnische, Französische, Niederländische, Norwegische (Bokmål) und Tschechische, 1948 ins Italienische und 1949 ins Polnische. Der Verlag schrieb 1967 in einer Broschüre, allein in den USA und Kanada seien bis August 1966 mehr als 1.801.450 Exemplare verkauft worden, davon 760.501 in der ursprünglichen Hardcover-Ausgabe von Lippincott. Es sei das bestverkaufte Buch gewesen, das Lippincott je verlegt habe. Beth Kraig geht von einer Weltauflage des Buchs von über drei Millionen Exemplaren aus; es sei in 32 Sprachen übersetzt worden. Vermarktung: Filmrechte Vor allem aber gelang es, die Filmrechte zu verkaufen. Chester Erskine schrieb gemeinsam mit Fred F. Finklehoffe auf der Basis des Buchs ein Drehbuch und drehte dann für Universal Pictures den Film The Egg and I mit Claudette Colbert als Betty, Fred MacMurray als Bob, Marjorie Main als Maw Kettle und Percy Kilbride als Paw Kettle, der im März 1947 Premiere hatte. Das Drehbuch reduzierte den beißenden Witz der Erzählerin deutlich und schnitt die Geschichte auf ein versöhnlich endendes Liebesdrama zu. Eine attraktive Farmerin, die den handelnden Personen hinzugefügt wurde, bot Gelegenheit für Eifersucht, die im Happy End überwunden werden konnte. Komik bezog der Film hauptsächlich aus seinem Umgang mit den Hillbillys, besonders den Kettles: Marjorie Main wurde sogar für einen Oscar (beste Nebenrolle) nominiert, bekam ihn aber nicht. Der Film war ein Kassenerfolg und spielte über 5 Millionen Dollar ein. Das Erfolgsrezept der ländlichen Komödie (rural comedy) verwertete Universal dann bis 1957 mit einer ganzen Serie von insgesamt neun Ma-und-Pa-Kettle-Filmen weiter, die lediglich die Figuren (auch Birdie Hicks, Geoduck und Crowbar) nutzten, aber nichts mehr mit dem ursprünglichen Buch zu tun hatten. 1946 erschien bei Columbia Records auch eine Schallplatte mit dem Song The Egg and I, der aus dem Soundtrack des Films stammte. Als Urheber waren Harry Akst, Harry Ruby, Al Jolson und Bert Kalmar ausgewiesen, Betty MacDonald war als Urheberin des Titels genannt. Es sang Dinah Shore zur Begleitung einer von Sonny Burke geleiteten Bigband. 1947 erschien eine weitere Aufnahme bei RCA Victor, hier waren die Interpreten Sammy Kaye und Mary Marlow (Gesang). Das Lux Radio Theatre sendete am 5. Mai 1947 über CBS Radio eine einstündige Live-Radiofassung mit Orchester und den Stimmen von Claudette Colbert und Fred MacMurray. CBS lancierte auch eine Seifenoper auf der Basis von The Egg and I, mit Pat Kirkland als Betty und John Craven als Bob, die von September 1951 bis August 1952 im Fernsehen lief. Historischer Hintergrund Hühnerhaltung Die Geschichte, wie sie in The Egg and I erzählt wird, markiert einen grundlegenden Wandel in der Entwicklung der erwerbsmäßigen Hühnerhaltung in den USA. Hühnerhaltung war zunächst zum großen Teil von Bäuerinnen auf dem Hinterhof oder im Garten betrieben worden, um die ökonomischen Risiken der Landwirtschaft etwas abzufedern. Gepflegt wurden die Tiere meist nach tradierten Rezepten, das „Eiergeld“ war meist ein (geringes) eigenständiges Einkommen der Frau. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs lassen sich zunehmende Anstrengungen nachweisen, die Hühnerhaltung zu rationalisieren und zu verwissenschaftlichen. An Universitäten wurden „Extension Services“ zur Schulung der Farmer eingerichtet, so im Jahre 1918 im Bundesstaat Washington, in dem die Handlung spielt. In Alderwood Manor im Snohomish County von Washington gab es eine riesige Demonstrationsfarm, die Farmern den richtigen Weg vorführen sollte, mit Hühnerzucht Geld zu verdienen. Im Zuge der Farmkrise der 1920er Jahre, als die Preise für landwirtschaftliche Produkte kräftig nachgaben, viele Farmer insolvent wurden und nach Westen zogen, gewann das an den Extensions gelehrte neue „mechanistische Modell der Hühneraufzucht“ erheblich an Bedeutung. Damit ging die Hühnerhaltung zugleich von der weiblichen Domäne in die männliche über. Die in The Egg and I beschriebene Hühnerfarm kann einerseits als einer der letzten Ausläufer des Familienbetriebs betrachtet werden, bevor die Geflügelzucht zur Agrarindustrie wurde. Andererseits handelte es sich durchaus um Intensivtierhaltung, sowohl von den Bestandsgrößen als auch von den Methoden her. Die Protagonisten beginnen mit 750 Hühnern und legen die Größe des Betriebs auf maximal 2000 an, Bob wird zum tüchtigsten Hühnerzüchter der Gemeinde, „wissenschaftlich, gründlich und nicht behindert durch Traditionen oder Altweibergeschichten“. Er konzentriert sich auf die Zucht, da ihm zufolge Eierproduktion und Zucht nicht gleichzeitig wirtschaftlich betrieben werden können. Effiziente Fütterung, sorgfältige Dokumentation und umstandslose Beseitigung der unproduktiven Tiere sind erforderlich, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Literatur zur Hühnerzucht ist reichlich vorhanden und wird genutzt. Die Kontrolle liegt explizit beim männlichen Farmer, die Erzählerin fühlt sich als Arbeitspferd („Percheron“). Das Motto „Zurück zur Natur“ gilt demnach nur für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, nicht aber für die Methoden der Tierproduktion. Das Gegenstück der vorwissenschaftlichen Tierhaltung ist ebenfalls noch im Buch vorhanden, nämlich bei den Kettles. Maw Kettle zieht ihre Küken in der Küche auf, ohne Desinfektionsmittel und Thermometer. „Das sollte der Leitfadenverfasser sehen“, denkt die Erzählerin bitter. Schauplatz Die Hühnerzuchtfarm wurde zu der Zeit, in der die Handlung spielt, dem Siedlungsplatz Center zugerechnet, heute wird sie zu Chimacum gezählt. Diese beiden Siedlungsplätze („neighboring areas“) waren sehr dünn besiedelt, 1926 lebten dort insgesamt etwa 276 Personen. Es gab kaum ausgebaute Straßen, elektrischer Strom war erst in den späten 1940er Jahren verfügbar, außer in den wenigen Häusern, die über eigene Generatoren verfügten. Autos waren noch selten, schwere Transport- und Farmarbeiten wurden mit Pferden verrichtet. Immerhin gab es in Chimacum einen kleinen Laden und eine Post sowie eine High School, die Bettys Schwester Dede besuchte. Größere Einkäufe mussten in Port Ludlow oder Port Townsend erledigt werden, wofür man im letzteren Fall einen ganzen Tag rechnen musste. Die Bards hatten als Kinder eines umherziehenden Bergbauingenieurs im amerikanischen Westen durchaus ein einfaches Leben kennengelernt, hatten sich danach aber in Seattle an Komfort und ein gesellschaftliches Leben gewöhnt. Dass die Farm in Chimacum für die Autorin einen „Kulturschock“ darstellte, hatte auch mit der Kultur der Familien zu tun, die dort seit Jahrzehnten das Land bewirtschafteten und vielfach miteinander verwandt und verschwägert waren. Dies war keine günstige Situation für Zugezogene aus der Stadt. Dass ein großer Teil der Einwohner indianische Vorfahren hatte, wie MacDonald schreibt, traf zu. Nach dem Puget-Sound-Krieg siedelten sich um 1860 Küsten-Salish-Indianer und europäische Einwanderer im Chimacum Valley an und heirateten untereinander. Einflussreich waren vor allem die Bishops (nicht verwandt mit denjenigen Bishops, die später gegen Betty MacDonald klagten), die aus einer Ehe eines englischen Seemanns mit einer Snohomish hervorgegangen waren. William Bishop jr., der zur Zeit der Handlung von The Egg and I dort lebte, war einer der ersten politischen Vertreter der Native Americans im amerikanischen Westen. Es gab dort auch die einflussreiche Familie Hicks (wiederum nicht identisch oder verwandt mit den Hicks’ aus The Egg and I), Skykomish-Indianer, die an der Mündung des Chimacum Creek wohnten. Analysen und Interpretationen Textsorte: Autobiografie oder Fiktion In den USA wurde das Buch durchweg als Sachbuch (non-fiction) vermarktet. Paula Becker hält fest, dass es dort zu keinem Zeitpunkt als belletristisches Werk ausgegeben wurde und der Text auch nie eine substanzielle Änderung, die über Neusatz und Druckfehlerkorrektur hinausging, erfahren hat. In Deutschland hingegen erhielt Das Ei und ich spätestens seit der Taschenbuchausgabe von Rowohlt in den 1950er Jahren den Untertitel „Roman“ und wurde durchgängig unter der Kategorie Belletristik eingeordnet. Überarbeitete Wirklichkeit Dass die Handlung eng an wirkliche Ereignisse im Leben der Autorin angelehnt war und auch die handelnden Figuren Vorbilder in der Wirklichkeit hatten, steht fest; ebenso jedoch, dass MacDonald diese Ereignisse und Figuren für die Veröffentlichung bewusst verändert hat. So vermutet Paula Becker, dass die Tätigkeit der Hesketts auf der Farm in Wahrheit weit mehr mit der Schwarzbrennerei zu tun hatte, als die veröffentlichte Fassung zugibt. Insbesondere der Charakter und Verlauf der Ehe weichen stark von dem ab, was über die Biografie der Autorin bekannt ist: Sie verließ Robert Heskett mit ihren beiden Töchtern und ließ sich von ihm scheiden; die Begründung war Alkoholismus und häusliche Gewalt. Damit stimmen auch die später eingeholten Berichte von Nachbarn der Hesketts überein. Das versöhnlich stimmende Ende der Erzählung ist entsprechend reine Fiktion. Ebenso wenig wird im Buch die Tatsache erwähnt, dass die Mutter und die Geschwister der Autorin während der ersten Zeit in der Nähe ebenfalls eine Farm betrieben und damit scheiterten, also keineswegs so weit von ihr entfernt waren, wie das im Buch scheint. Selbst die Geburt einer der beiden Töchter von Betty MacDonald fehlt in der Erzählung. Die Verleumdungsklagen Relevant wurde die Frage „Autobiografie oder Fiktion“ in zwei Verleumdungsklagen („libel suits“), die von Personen, die sich im Buch wiedererkannt hatten, gegen die Autorin eingereicht wurden. Beide folgten mit erheblichem Abstand auf die Buchveröffentlichung und wurden vermutlich durch die Reklame für den Film bzw. im zweiten Fall den Erfolg der Kettle-Filme ausgelöst. Am 25. März 1947 erhoben Edward und Ilah Bishop, die in Chimacum Nachbarn der Hesketts gewesen waren, Klage. Sie gaben an, sie seien die Vorbilder der Hicks’, als solche wiedererkennbar und daher der Lächerlichkeit, dem Hass und der Verachtung preisgegeben. Dafür forderten sie 100.000 Dollar Schadensersatz. MacDonalds Anwalt bestritt die Zulässigkeit der Klage. Es gab ein längeres Hin und Her über zwei Jahre, doch bevor der Fall vor Gericht kam, handelten die Anwälte beider Seiten einen außergerichtlichen Vergleich aus, der im Mai 1949 in Kraft trat. Die Klagenden erhielten 1.500 Dollar und verpflichteten sich im Gegenzug schriftlich, ihre Forderung nicht mehr öffentlich zu erwähnen. Erheblich ernster war die zweite Klage, die am 17. September 1949 von Albert Bishop, sechs seiner Söhne, zwei seiner Töchter und einer Schwiegertochter gegen die Autorin, den Verlag, den Taschenbuchverlag und eine Buchhandlung eingereicht wurde. Bishops Frau, die als Maw Kettle identifiziert wurde, war mittlerweile verstorben. Sie gaben an, sie seien erkennbar als Paw Kettle und seine Kinder porträtiert worden. Dazu kam eine Klage von Robert Johnson, der sich als der Indianer Crowbar beschrieben sah. Alle führten an, die Veröffentlichung habe schlimme und demütigende Folgen für sie gehabt. Die beiden Klagen wurden zusammengezogen, die Schadensersatzforderungen der Kläger summierten sich auf 975.000 Dollar. Am 5. Februar 1951 wurde die Hauptverhandlung in Seattle eröffnet, die bis zum Urteil am 20. Februar 1951 großen Publikumsandrang fand. Die Kläger hatten zu beweisen, dass sie in dem Buch wiedererkennbar dargestellt wurden und dass sie davon bezifferbaren Schaden erlitten hatten. Der Ausgang des Prozesses hing wesentlich davon ab, ob die Kettles und Crowbar erfundene Figuren in einem ansonsten autobiografischen Buch waren oder tatsächlich Porträts der Kläger darstellten. Ein Großteil des Prozesses war dieser Frage gewidmet, was den Zuschauern einige Unterhaltung bot, da die Kläger in dem Bemühen, ihre Identität mit den Kettles nachzuweisen, ihr Hillbilly-Image öffentlich bestätigten. So sah einer der Bishop-Söhne jedem Jurymitglied tief in die Augen, um zu beweisen, dass er tatsächlich blaue Augen habe, wie im Buch beschrieben. Die Verteidigung sprach gewöhnlich von einem Roman („novel“) und bestritt, wenn möglich, jede Identität der Figuren und Schauplätze mit wirklichen Personen und Orten. Vor allem aber hob sie darauf ab, dass die Verbindung zwischen real existierenden Orten und Personen und den im Buch beschriebenen durch die Kläger und andere Personen selbst hergestellt worden sei, um von der Popularität des Buchs zu profitieren. In diesem Fall könnten sie kaum berechtigt sein, auf Schadensersatz zu klagen. Sie rief Zeugen auf, die bestätigten, dass sich die Bishops mit einem gewissen Stolz selbst gegenüber anderen als die Kettles identifiziert hätten und dass eine Schwägerin der Bishops, Anita Larson, die die mutmaßliche Heskett-Farm übernommen hatte, entgeltliche Führungen durch die „Egg and I Farm“ angeboten und dafür sogar Werbeschilder an der Straße aufgestellt habe. Betty MacDonald trat selbst als Zeugin auf und gab an, es habe sich bei den Schauplätzen wie den Personen um Fiktion gehandelt. Sie habe keine wirklichen Personen außerhalb ihrer eigenen Familie geschildert. Es sei ihr lediglich um typische Orte und Personen gegangen, die nicht identisch mit real existierenden seien. „I was writing about an imaginary place in an imaginary country“ („Ich habe über einen imaginären Ort in einem imaginären Land geschrieben“), fasste sie zusammen. Am 20. Februar fällte die Jury ihr Urteil: Die Klage wurde abgewiesen. Paula Becker weist darauf hin, dass MacDonalds Aussage offensichtlich nicht der Wahrheit entsprach. Nicht nur waren die Orte, obwohl sie im Buch „Town“ und „Docktown“ hießen, ohne weiteres als Port Townsend und Port Ludlow identifizierbar, vor allem hatte sie in der Korrespondenz mit dem Verlag die Personennamen einen nach dem anderen abgehakt, um den Forderungen Lippincotts nach juristischer Absicherung nachzukommen. In einem Brief an Bernice Baumgarten hatte sie bereits 1945 sogar geschrieben: „Vielleicht hätte das Buch einen besseren Beigeschmack, wenn ich die Wahrheit vergessen und die Leute weniger wie die ignorante, un- und amoralische, vulgäre Gruppe aussehen lassen würde, die sie tatsächlich waren, und eher rustikal und urig. Wenn es verleumderisch sein soll, die Leute so zu beschreiben, wie sie waren, dann zeigen wir sie doch ruhig so, wie sie nicht waren.“ Lokalkolorit und Mythen Die letzte Grenze: Natur und Pioniergeist Zu den Gründen für den Erfolg von The Egg and I zählte, wie Analysen der Eigenschaften amerikanischer Bestseller wahrscheinlich machen, das Lokalkolorit des amerikanischen Westens. Ruth Miller Elson meinte: „Wenn man einen Roman schreiben wollte, der sich in den USA gut verkaufen sollte, war ein westlicher Schauplatz für wenigstens einen Teil der Handlung eine gute Idee.“ James Hart schrieb in seiner Arbeit The Popular Book: A History of America’s Literary Taste die Beliebtheit von MacDonalds Buch der allgemeinen Attraktivität von „Americana“ während der 1940er Jahre zu, einer Zeit, in der viele Leute vom Land in die Stadt zogen bzw. ziehen mussten. Dabei stand der Westen für unverdorbene Natur und Pioniergeist, der Osten für Stadt und Zivilisation. Bereits bei der Entstehung von The Egg and I spielte die Spekulation auf die Attraktivität des Schauplatzes eine Rolle: Der Literaturscout, auf dessen Anfrage hin MacDonald ihr Exposé schrieb, war auf der Suche nach Autoren und Themen aus dem amerikanischen Nordwesten. Im letzten Kapitel ihres dritten autobiografischen Buchs Anybody can do anything legte MacDonald ihrer Schwester Mary eine zugespitzte Version der Stereotypen in den Mund, die aus Buchmarktgesichtspunkten für diese exotische Lokalität sprachen: „Wir leben an der letzten Grenze der Vereinigten Staaten. Das Land der großen Lachswanderungen, der Riesentannen, der unkartierten Gewässer und der unbezwungenen Berge, und es ist fast nichts darüber geschrieben worden. Wenn du den Leuten in New York erzählst, dass die Lachse bei uns zur Haustür hereinspringen und nach unseren Knöcheln schnappen, dann glauben die das. Die meisten Leute in den Vereinigten Staaten glauben, dass wir entweder die ganze Zeit zugefroren sind wie die Antarktis oder dass wir noch Tierhäute tragen und mit den Indianern kämpfen. Also ich persönlich glaube, es ist Zeit, dass jemand von hier mal die Wahrheit schreibt.“ Doch wie MacDonald schrieb, wählte sie einen besonderen Dreh, um mit diesen Stereotypen zu spielen, eine Art Gegenschrift gegen die Illusionen des Zurück-aufs-Land-Schemas: „Ich würde eine Art Widerlegung zu all den letzthin erfolgreichen ‚Ich-liebe-das-Leben-Büchern‘ von guten Kameradinnen schreiben, deren Ehemänner sie gezwungen hatten, ohne Licht und fließendes Wasser auf dem Land zu leben. Ich würde die andere Seite zeigen. Ich würde einen Bericht einer schlechten Kameradin über das Leben in der Wildnis ohne Licht, Wasser oder Freunde und mit Hühnern, Indianern und schwarzgebranntem Schnaps verfassen.“ Vor Augen hatte sie dabei speziell Louise Dickinson Richs Erfolgsbuch We took to the woods (Wir zogen in die Wälder), einen 1942 bei Lippincott erschienenen hymnischen Bericht über das gemeinsame Leben eines Ehepaars in der wilden Natur von Maine. In einem Brief an Brandt & Brandt schrieb MacDonald sogar, ihr Buch sollte eigentlich „We don’t take to the woods“ heißen. Für James Hart lag hier ein weiteres Erfolgsgeheimnis von The Egg and I: Die neu in die Stadt verschlagenen Amerikaner hätten sich darin bestätigt fühlen können, dass „es noch belastender sein konnte, zur Natur zurückzukehren, als ihr zu entkommen“. Beth Kraig hat das ambivalente Spiel der Autorin mit den Stereotypen der unverdorbenen Natur, des Pioniergeists und der „letzten Grenze“ (last frontier) näher untersucht und meint, dass Betty MacDonald als „shaky regionalist“, also „wacklige Regionalistin“ bezeichnet werden könne. Sie geht dabei vor allem auf das in The Egg and I mehrfach wiederkehrende Motiv der Pionierin ein. Im einleitenden Kapitel erscheinen zwei weibliche Haltungen zum westlichen Pioniergeist („pioneer spirit“), personifiziert in zwei Vorbildern: Die Mutter der Erzählerin liebt die Gefahr und das Abenteuer und folgt ihrem Mann, wohin ihn sein Weg führt. Sie begleitet ihn freudig, „lebte in einer Hütte und ritt hoch zu Pferd mit dem Baby vor ihr auf dem Sattel“, während Gammy, ihre Großmutter väterlicherseits, den Kindern obsessiv die Gefahren des Lebens im Freien einprägt: „Sie überzeugte uns davon, dass die Bäume am Rand der Lichtung, wo unsere Hütte stand, wie Käfigstangen im Zoo waren und direkt dahinter Hunderte von Wölfen, Grizzlybären und Berglöwen lauerten, die um eine Gelegenheit kämpften, uns zu fressen.“ Zwischen diesen beiden explizit aufgerufenen und jeweils mit großer Sympathie bedachten Vorbildern laviert die Erzählerin, als sie ihrem Mann in die Wildnis folgt. Ähnliches gilt für die Naturbeschreibungen: Das Land sei „nur mit Superlativen zu beschreiben. Am zerklüftetsten, am westlichsten, am größten, am tiefsten, am weitesten, am wildreichsten, am reichsten, am fruchtbarsten, am einsamsten, am verlassensten.“ Solche Darstellungen wirkten durchaus attraktiv auf die Leser. Doch mit dem Aufrufen des Stereotyps der unverdorbenen Natur ging auch ein Gefühl der Unheimlichkeit einher: „Ich sah missmutig auf die so nah dräuenden Berge, die mir ein Gefühl eingaben, als schaute jemand über meine Schulter, und auf die erschreckende Männlichkeit der Wälder, und ich dachte: ‚Um Himmels willen, diese Berge könnten uns abschütteln wie eine Fliege von ihrem Rock, ihre Bäume ein bisschen umstellen und niemand würde je davon erfahren.‘ Es war kein tröstlicher Gedanke.“ Und an anderer Stelle: „‚Dieses Land hasst die Zivilisation, und nicht nur in dem harmlosen Sinn, dass es den Menschen die Zunge herausstreckt, sondern es ist ein gewaltiger, großer, überwältigender Hass mit allen Kräften der Natur hinter sich‘, dachte ich und hoffte, wir würden bald eine Stadt erreichen.“ Damit wird das Bild des „geheiligten Orts“ aufgegriffen, wie es im „echten Regionalismus“ des Westens verwurzelt sei, und zugleich ins Zwielicht gerückt. Ungestört kann die Erzählerin die Idylle der Wildnis nur von der Fähre aus genießen, von wo sie die „großartige Kette der Olympic Mountains“ bewundert, die sich „zuvorkommenderweise in ihrer ganzen verschneiten Pracht“ präsentiert. Hinterwäldler und Indianer Die Biografin von Betty MacDonald, Paula Becker, fand The Egg and I witzig und aufmunternd, aber auch „irgendwie gemein“ („kind of mean“). Von anderen Autoren gibt es deutlichere Urteile: Jerry Wayne Williamson meinte, MacDonald sei offenbar eine „sehr arrogante Person“ gewesen, die „garstige Dinge über andere Leute sagte und sie auch so meinte“. Diese Urteile betreffen vor allem die Beschreibungen zweier Gruppen im Buch: die Landbevölkerung und die Indianer. Dass man an der Art, wie die Hinterwäldler dargestellt werden, Anstoß nehmen konnte, wird bereits in den Verleumdungsprozessen um das Buch sichtbar. Die Vorstellung dieser Figuren war im Buch „weit weniger unbeschwert als in dem Film, den Hollywood daraus machte“. So wird Maw Kettle in drastischen Ausdrücken als vulgär und unsauber geschildert, wenn auch diese Beschreibung durch die Sympathie der Erzählerin bis zu einem gewissen Grade entschärft wird; bei Paw Kettle, der als arbeitsscheuer Schnorrer erscheint, ist eine solche Abmilderung kaum erkennbar. Paula Becker kommentiert: „Was auch immer sie an Menschlichem an diesen Leuten beobachtet hatte, war abgestreift worden, als Betty ihr Buch schrieb, und so blieben bloß Karikaturen übrig.“ Dennoch stießen gerade diese Karikaturen auf das Interesse der Leserschaft und das galt besonders für die Kettles, die im Buch die Rolle der Hanswurste oder Narren in der Komödie bzw. der Zanni in der Commedia dell’arte spielten. In der Verfilmung wurden die aggressiven Züge, die ihre Schilderung aufwies, stark verdünnt und es entstanden volkstümliche Figuren mit goldenem Herzen, aber unkultivierten Sitten, über die man gutmütig lachen konnte. Sie wurden zu ikonischen Figuren der ländlichen Komödie („rural comedy“) in Amerika. Im Buch hingegen schlägt die Einsamkeit und Entmutigung der Erzählerin durch, die, wie sie an Bernice Baumgarten schrieb, ihre Nachbarn eher als schreckenerregend denn als amüsant erlebte, als „ignorante, un- und amoralische, vulgäre Gruppe“. In manchen Fällen, etwa bei der Kritik der üblichen Kindererziehung, ist der Ton kaum mehr humoristisch. Allerdings bleibt die Bewertung doch ambivalent. Wenn die Kinder auch mit Kaffee, Bier und Schweinebauch großgezogen und von jeder frischen Luft ferngehalten wurden: „Sie überlebten und wurden groß, und ihr Leben war sicher faszinierender als das von modernen Babys mit ihren festen Fütterungszeiten und sterilen Fläschchen.“ Die Hinterwäldler-Welt, so erschreckend sie erscheinen mag, hat bei MacDonald auch ihre faszinierenden Seiten. Die Beschreibung der Indianer in The Egg and I hingegen ist von solchen Ambivalenzen fast völlig frei. Sie werden als Gegenbild zum Ideologem des edlen Wilden eingeführt, das die Autorin, wie sie berichtet, aus ihrer Kindheit in Butte kannte: Prärieindianer mit Federschmuck. „Ich hegte noch immer diese romantischen Vorstellungen von Indianern, als ich auf die Hühnerfarm kam, und es war ein schwerer Schlag, als ich merkte, dass der kleine rote Bruder von heute, zumindest die pazifische Variante, die ich sah, nicht ein großer kupferhäutiger Krieger ist, der, nur mit Perlen und Federn bekleidet und Pfeil und Bogen führend, in den tiefen Wäldern umherzieht. Unser Indianer, untersetzt und schlammfarben, war eher hingelümmelt in einem Ford Modell T zu finden, mit einem Zahnstocher zwischen den gelben Zähnen, betrunken und einen anzüglichen Blick im flachen Gesicht.“ Der Ton wird sogar noch schärfer: „Die Indianer der Pazifikküste, die ich sah, waren den Bildern im Great-Northern-Railroad-Kalender so wenig ähnlich, wie Nacktschnecken Libellen ähneln. […] Der Küstenindianer ist untersetzt, o-beinig, dunkelhäutig, flachgesichtig, breitnasig, schmutzig, krank, ignorant und verschlagen.“ An diesen Beschreibungen scheint zur Zeit der großen Popularität des Buches kaum ein Leser Anstoß genommen zu haben. Paula Becker hat aus dieser Zeit keine Beispiele für die Kritik solcher rassistischer Beschreibungen gefunden. Ruth Miller Elson diskutiert in ihrer Analyse amerikanischer Bestseller von 1865 bis 1965 die Behandlung der Indianer in diesen Büchern und meint, die meisten Bestsellerautoren hätten wohl diesem Zitat aus The Egg and I zugestimmt: „Je mehr ich von ihnen [den Indianern] sah, desto mehr dachte ich, was für eine hervorragende Idee es doch gewesen sei, ihnen das Land wegzunehmen.“ Später jedoch wurden diese Beschreibungen als untragbar empfunden. Jerry Wayne Williamson schreibt: „Die volle Kraft ihrer Verachtung aber reservierte sie für die Indianer der Nordwestküste“, die als „lasterhaft und minderwertig“ erscheinen. In der Verfilmung trat dieser Zug allerdings deutlich in den Hintergrund. Die Neuausgabe von The Egg and I 1987 erschien mit einem Vorwort der beiden Töchter von Betty MacDonald, in dem diese schrieben: „Wir sind sicher, würde Betty heute noch leben, so würde sie die Misere des Indianers in einer ganz anderen Weise adressieren. Wir glauben, dass sie nur das, was sie als erschreckende Situation erlebte, in eine witzige Begegnung umformen wollte.“ In ihrem folgenden autobiografischen Buch, The Plague and I, behandelte die Autorin den antijapanischen Rassismus ihrer Zeitgenossen völlig anders, nämlich mit tiefer Verachtung. Humor und Gender Aufbauender und aggressiver Humor Sowohl in der Buchwerbung als auch in allen Reaktionen auf das Buch wurden die humoristischen Qualitäten von The Egg and I besonders hervorgehoben. „Wenn Sie vergessen haben, wie man lacht – dieses Buch ist es, was Ihnen der Arzt verschreibt“, lautete ein Zitat auf dem Buchumschlag. Die deutsche Taschenbuchausgabe 1951 warb damit, es handle sich um „eines der heitersten Bücher …, die die neue angelsächsische Literatur kennt“. In der Literatur gibt es verschiedene Versuche, diesen humoristischen Charakter näher zu bestimmen. So ordnete Hamlin Hill das Werk als zeitgenössische Realisierung der Tradition des „einheimischen amerikanischen Humors“ (native American humor) ein, für den im 19. Jahrhundert etwa Mark Twain stehe. Diese Tradition, die Hill auch als „gesunden Humor“ apostrophiert, sei durch Werte wie Common Sense, Selbstvertrauen und vor allem die Fähigkeit des Protagonisten geprägt, mit der komischen Situation umzugehen. Die Zutaten der Komik stammten im Wesentlichen aus der Außenwelt: Charakterisierung der Personen, Wortspiele und physische Handlung. Im Gegensatz dazu stehe der moderne „neurotische Humor“, städtisch, am Rande der Irrationalität und des Wahnsinns und vor allem introvertiert, die Komik entstehe gerade aus dem Unvermögen des Protagonisten, mit der Situation umzugehen (Mein Freund Harvey ist eines seiner Beispiele). Betty MacDonald sei trotz aller Ausbrüche der Verzweiflung durchaus fähig, Hühner zu züchten, und die Figuren, insbesondere die Kettles, seien in ihrer Charakterisierung von starkem Lokalkolorit geprägt und könnten als moderne Varianten des Dialekthumors durchgehen. Paula Becker beschrieb den Humor des Buchs in ähnlichem Sinn als aufbauend und ermutigend. Sie paraphrasierte seine Botschaft so: „Das Leben ist hart. Kontrollieren können wir nur unsere Reaktion darauf, und da ist Lachen besser als Weinen. Dieses Gefühl erheiterte und ermutigte Leser auf der ganzen Welt.“ Doch diese Lesart des Humors von The Egg and I ist nicht die einzige, die in der Rezeption hervorgehoben wurde. Eine beißende, ätzende Qualität des MacDonald’schen Witzes wurde ebenfalls öfter wahrgenommen. Der Künstler William Cumming, der ihre Hühnerzuchterzählungen im Kollegenkreis in der National Youth Administration hörte, schrieb: „Bettys Humor war nicht gütig, gemütlich oder freundlich. Er hatte die bösartige Schärfe eines Skalpells und konnte schneiden. Betty betrachtete die Fehler der Menschheit als verwerflich. Dass diese Fehler gewöhnlich zu komischen Reinfällen führten, hieß nicht, dass sie in ihren Augen weniger tödlich gewesen wären. Sie richtete ihren beißenden Humor gegen die Dummheit der Menschen, weil diese sie wütend machte.“ Er verglich sie gar mit Billie Holiday: MacDonald habe wie sie gelacht, um nicht kotzen zu müssen. An anderer Stelle wies auch Paula Becker darauf hin, dass ein „unbarmherziges Urteil über die Schwächen anderer“ ein Charakterzug der Autorin und des Buchs sei. Wenn die clever zugeschnittenen Porträts ihrer Mitmenschen Verletzungen verursachten, dann habe die Autorin das eben für eine gute Geschichte in Kauf genommen. Diese beiden Seiten des Humors von The Egg and I spielten eine Rolle in der feministischen Debatte um das Buch. Bereits ein zeitgenössischer Kritiker, Clifton Fadiman in Booklist, brachte seine Wahrnehmung des Humors von The Egg and I mit Eigenschaften der Geschlechter in Verbindung: „Der trockene Humor ist der einer Frau, aber die Sprache ist männlich: Sie sticht realistische Bauernromane aus, indem sie die Dinge beim Namen nennt (‚calling a spade a spade‘), und das tut sie reichlich (‚and there were plenty of spades‘).“ Nancy Walker und Zita Z. Dresner zitierten Fadimans Kritik und erklärten, dass MacDonald in The Egg and I „vor dem Körperlichen nicht zurückschreckte und nirgends versuchte, die Brutalitäten, die Rohheiten und den Irrsinn zu schönen, die sie in ihrer Umgebung vorfand“. In ihrer Diskussion des Bucherfolgs rückte Becker die komischen Qualitäten des Buchs zudem in einen Zusammenhang mit dessen Erscheinungszeitpunkt, nämlich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. The Egg and I habe die Themen der Schlacht, des Konflikts und des Durchhaltens, wie sie während des Krieges die nichtfiktionale Literatur bestimmt hätten, in einen häuslichen Kontext übertragen, wo es nicht um Leben und Tod, sondern um weit geringere Einsätze ging. Die Komik des Buches speise sich auch aus dieser Übertragung. „The Egg and I traf den Nerv eines kriegsmüden Publikums als eine tröstliche Überlebensgeschichte: der erfolgreiche Kampf einer Frau darum, jeden Morgen wenigstens das Aufstehen zu schaffen, den Unbequemlichkeiten und Herausforderungen zum Trotz.“ Häuslicher Humor und komischer Feminismus Das Ei und ich gilt als Ausgangspunkt einer weiblichen autobiografischen Literatur der „schreibenden Hausfrauen“ (der Begriff der Housewife Writers stammt von Betty Friedan), die unter die Begriffe „häuslicher Humor“ (domestic humor) und „komischer Feminismus“ (funny feminism) gefasst worden ist. Friedan schrieb: „Es sind gute Handwerkerinnen, die besten dieser schreibenden Hausfrauen. Und manches an ihrem Werk ist auch komisch. … Aber es gibt etwas an ihnen, was nicht komisch ist, wie bei Onkel Tom … ‚Lach‘, sagt die schreibende Hausfrau der wirklichen Hausfrau, ‚wenn du dich verzweifelt, leer, gelangweilt, gefangen fühlst in den Routinen des Bettenmachens, Herumfahrens, Geschirrspülens. Ist es nicht komisch? Wir stecken alle in derselben Falle.‘“ Doch die wirklichen Hausfrauen hätten nicht die Möglichkeiten der schreibenden Hausfrauen, ihre Frustration in erfolgreiche Zeitungsartikel und humorvolle Bücher umzuwandeln. Weibliche Selbstironie als Selbsterniedrigung Friedan erwähnte MacDonald in diesem Zusammenhang nicht. Das tat zwölf Jahre später die Literaturwissenschaftlerin Patricia Meyer Spacks in ihrem Buch The Female Imagination: Sie identifizierte in den autobiografischen Schriften zeitgenössischer ‚schreibender Hausfrauen‘, etwa von Erma Bombeck und Jean Kerr, eine Tendenz zur Selbstironie und Selbsterniedrigung (self-deprecation) mit den Mitteln der Komik, die ihr zufolge wohl mit Betty Macdonald und The Egg and I begonnen habe. Dieses Merkmal des Humors analysierte sie detailliert anhand verschiedener Textstellen, so in der kurzen Schilderung der Liebesgeschichte der Erzählerin. „Seine gebräunte Haut, sein braunes Haar, seine blauen Augen, seine weißen Zähne, seine rauchige Stimme, seine freundliche, liebenswürdige Art waren an sich schon genügend gute Eigenschaften, die Krämpfe der Bewunderung bei Mary und ihren Freundinnen hervorriefen, aber das Wunderbarste an ihm, das ganz Besondere war, dass er mich mochte. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum eigentlich …“ In Kapitel 4 des Buches besteht Bob darauf, weiße Kieferndielen für den Küchenfußboden zu verwenden, die unmöglich sauberzuhalten sind (schlimmer wäre nur noch weißer Samt, schreibt die Erzählerin). Sie hasst es, den Boden täglich zu schrubben, und tut es doch, obwohl ihr die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens klar ist, aber natürlich nützt es nichts. Spacks kommentiert, die Erzählerin präsentiere sich als minderwertig und Versagerin. Der humoristische Ton dieser Episode hintertreibe den Groll und die Wut, die darunter lägen und nicht zum Ausdruck kämen. So werde vielleicht ein wenig Mitgefühl für die geplagte Hausfrau erzeugt, das Hauptgewicht dieser Erzählweise liege jedoch darauf, dass sie sich selbst mit ihren sinnlosen Bemühungen lächerlich und zum Objekt der Komik mache. Diese Komiktradition sei „grundlegend konservativ in ihren sozialen Implikationen“, indem sie das Bild weiblicher Inkompetenz bestätige. Die Erzählerin triumphiere über ihr Leiden, indem sie es in Komik verwandle, und dies bedeute letztlich, das Leiden hinzunehmen. „Und die, die lachen, akzeptieren es auch.“ Kritische Potenziale Diese negative Einschätzung aus der zweiten Welle des Feminismus versuchten später Nancy Walker, Zita Z. Dresner und vor allem Jane F. Levey teilweise zu revidieren. Walker räumte in ihrem Aufsatz von 1985 über den ‚komischen Feminismus‘ ein, dass der „unbeschwerte Humor“ der kritisierten Autorinnen eine idealisierende Seite habe: Die Beschränkung auf hausfrauliche und mütterliche Pflichten werde mit einem heiteren Lächeln hingenommen. Sie betonte jedoch die unter dieser Oberfläche liegenden Signale von Unruhe und Unzufriedenheit und analysierte die darin liegende Kritik anhand von The Egg and I als einem Werk, das die Standards für die Nachfolger gesetzt habe. Zunächst sei zwar das Objekt der Komik hier, wie auch später regelmäßig, die Erzählerin selbst, die den ihr auferlegten und von ihr akzeptierten Normen nicht nachzukommen vermöge, und der Humor nehme Züge von Selbstironie und Selbsterniedrigung an. In den Themen der Isolation der Erzählerin, des frustrierten Ehrgeizes, das Ziel der perfekten Hausfrau zu erreichen, und des damit verbundenen Ressentiments gegen den Mann verberge sich aber sehr wohl eine Kritik an den sozialen Normen, denen die Erzählerin unterworfen sei. Ein ungewöhnlicher Fall sei The Egg and I insofern, als speziell die emotionale Isolation der Erzählerin von ihrem Mann offen zutage trete; die Kritik sei nur mehr mit einer dünnen Schicht Humor überdeckt. So straft Bob die Erzählerin mit schweigender Missachtung, als sie vergessen hat, Petroleum für die Lampen zu bestellen: „Bob … zeigte sein Enttäuschtsein von mir, indem er, noch während er den letzten Bissen kaute, vom Tisch aufstand und sich ins Bett warf – zweifellos um von den guten alten Tagen zu träumen, als man noch Frauen schlug.“ Und gegen Ende des Buchs sitzen die beiden zusammen „wie Nachbarn, die sich plötzlich im selben Hotelzimmer wiederfinden“, eine unverstellte Darstellung von Entfremdung in der Partnerschaft, die in den Werken des „häuslichen Humors“ selten sei, weil sie mit dessen heiterem Tonfall nicht zusammenpasse. Zita Z. Dresner wies in einem Sammelbandbeitrag von 1991 zudem darauf hin, dass die Protagonistin des Buchs die junge, unerfahrene Ehefrau sei, während die Erzählerrede die seitdem gemachten Erfahrungen der Autorin reflektiere. The Egg and I könne daher als weiblicher Bildungsroman gelesen werden: Die Protagonistin lerne Schritt für Schritt Lektionen der Desillusionierung, sie befreie sich nach und nach von den hemmenden Idealbildern der Hausfrau, die sie zu Beginn der Erzählung noch selbst vertrete, und diese Bildungsgeschichte werde mit humoristischen Mitteln erzählt. Dass die Erzählung, statt die im realen Leben erfolgte Trennung und Scheidung und damit die Konsequenz dieses Bildungsprozesses zu thematisieren, mit einer versöhnlichen Note ende, sei den Konventionen der humoristischen weiblichen Autobiografie geschuldet. Gemischte Botschaften Levey konturierte in ihrem Zeitschriftenbeitrag von 2001 die „gemischten Botschaften“ (mixed messages) des Buchs noch schärfer. The Egg and I biete nicht nur detaillierte Beschreibungen mühsamster und unattraktivster Hausarbeit, sondern auch eine Kritik der Mutterrolle der Frau – freilich indirekt und dadurch bei zu einem gewissen Grade entschärft. Während Schwangerschaft und Mutterschaft durchaus als lohnend geschildert werden, aber nur eine relativ kleine Rolle in der Erzählung einnehmen, trägt die Beziehung der Erzählerin zu den Küken, die sie aufziehen muss, Züge von Abneigung und Ekel, ja unverkennbarer Feindschaft. „Alles andere, was ich von Geburt an versorgt hätte, hätte einen so festen Platz in meinen Gefühlen bekommen, dass ich mich nur mit Gewalt davon hätte losreißen können, aber hier kam es so weit, dass ich tatsächlich mit Freuden Bob zusehen konnte, wie er mit seinem mörderischen Messer fünfzig Hähnchen die Gurgel durchschnitt und sie zum Ausbluten aufhängte“, zitierte Levey aus MacDonalds Buch, und sie kommentierte: „Ihre Kritik der Mutterschaft hat ihren Ort im Hühnerhaus.“ Dieser drastische Ausdruck von Hass auf die Objekte ihrer mütterlichen Fürsorge, am ungefährlichen Gegenstand der Küken ausagiert, habe einen Resonanzboden für die inneren Konflikte geboten, die die Leserinnen angesichts ihrer mütterlichen Pflichten empfunden hätten. Ebenfalls am ungefährlichen Objekt werde der Machtkampf zwischen Mann und Frau ausagiert, nämlich in Form des Kampfs der Erzählerin mit dem widerspenstigen Ofen. Dieser wird nicht nur vermenschlicht, indem er den großgeschriebenen Eigennamen „Stove“ erhält, sondern auch vermännlicht, indem er mit einem maskulinen Personalpronomen („he“) ausgestattet wird. Der Ofen hatte „keine der warmen, freundlichen Eigenschaften, die man mit dem Namen assoziiert … schmollte in seiner Küchenecke … rauchte und würgte und spie …“ Und am ersten Regentag erkennt die Erzählerin, „dass Stove mein Feind war“. Levey kommentierte: „Hier war ein unzweifelhaft feindlicher Herd.“ Hätte MacDonald einen solchen Machtkampf mit ihrem Mann ausgetragen, so wäre das vom Lesepublikum nicht akzeptiert worden, so Levey, wohl aber in Form dieser indirekten Inszenierung. Umgekehrte Pilgerfahrt Die Kritik der „schreibenden Hausfrauen“ bezog sich auf eine bestimmte historische Situation: die Verdrängung der Hausfrau aus dem öffentlichen Leben an Heim und Herd in den amerikanischen Vorstädten („suburbia“) nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem in den 1950er und 1960er Jahren. In den als typisch betrachteten Fällen weiblicher Autobiografien, wie Shirley Jackson, Jean Kerr, Phyllis McGinley oder Erma Bombeck, war dies auch die Situation, die die Autorinnen auf humoristische Weise glossierten. Für The Egg and I traf dies offensichtlich nicht zu: Es beschrieb das Hausfrauenleben in der urtümlich erscheinenden „Wildnis“ der Provinz. Die Diskussion über dieses Buch als Ausgangspunkt des ‚komischen Feminismus‘ war auf die Leserschaft fokussiert, die vor allem, so die Vermutung der Autorinnen, aus Vorstadthausfrauen bestanden habe. Levey sah hier einen weiteren Anhaltspunkt für eine indirekte Spiegelung der Erfahrung der Leserinnen: Es handle sich um eine „umgekehrte Pilgerfahrt“, nicht, wie in der Nachkriegsgesellschaft allgemein, vom Land in die Vorstadt, sondern von der Stadt aufs Land. Die von ihr geschilderte Entfremdung vom Gemeinschaftsleben habe daher mit der Entfremdung korrespondiert, die die Leserinnen erfahren hätten, jedoch durch eine Migration in umgekehrter Richtung, aus der Modernität heraus. Diese Umkehrung erlaube mehrere Lesarten: Das Leben auf dem Land könne mit seiner Isolation und ungleichen Verteilung der Hausarbeit als Vergrößerungsspiegel für die Situation der Frauen in den Vorstädten aufgefasst werden, aber auch als negatives Gegenstück zum technisch besser ausgestatteten Stadtleben sowie schließlich in einzelnen Zügen auch als positives, nostalgisches Gegenbild. Es sei gerade diese Mehrdeutigkeit, die es dem Buch ermöglicht habe, so viele Erfahrungen seiner Leserinnen zu spiegeln. Rezeption USA The Egg and I war ein Überraschungserfolg, der weniger von den Rezensionen in der Presse als vielmehr vom Enthusiasmus der Buchhändler und spontanen Leserreaktionen getrieben wurde. Dabei spielte auch die geschickte Werbestrategie des Verlags eine große Rolle, der großzügig Anzeigen platzierte, sobald er aufgrund der Reaktion auf den Vorabdruck erkannt hatte, dass hier ein potenzieller Bestseller entstanden war. Ein weiterer Kniff des Verlags war es, auf dem Umschlag ein großes Foto der Autorin zu zeigen, so dass die reale Person der Autorin für das Buch warb – und umgekehrt das Buch für die Autorin. Dies führte zu einem wahren Run auf das neue Heim der MacDonalds – und zu Busladungen von Touristen, die die Handlungsstätten des Buchs identifiziert hatten und dort einfielen. Life druckte bereits im Januar 1946 eine Homestory über Bettys Heim auf Vashon Island, mit einer mehrseitigen Fotostrecke. Aber auch die Presse zeigte sich angetan von dem Werk. Clifton Fadiman machte in Booklist zwar einige despektierliche Bemerkungen über die schicksalsergebene Opferhaltung der Erzählerin in ihrer unglücklichen Ehe, lobte aber die realistische Sprache des Buchs. Harmonischer nahm ein anderer New Yorker Rezensent die Wirkung des Buches wahr: „Für Stadtmenschen, die es trocken und gemütlich haben, ist Mrs. MacDonalds Leben in den Wäldern ein ungetrübtes Vergnügen.“ Die Hollywood-Verfilmung und insbesondere die daraus hervorgegangenen Ma-and-Pa-Kettle-Filme trugen erheblich zur Popularität des Buchs bei. Der Filmkritiker Bosley Crowther verriss allerdings in der New York Times die Verfilmung vernichtend, weil sie den beißenden Witz des Buches nicht zu transportieren vermöge und stattdessen auf konventionelle Männer- und Frauenbilder setze, offenbar in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Hays Code. Am 3. Februar 1981 gab das Jefferson County Board of Commissioners der Straße, die an der ehemaligen Heskett-Farm vorbeiführte, offiziell den Namen „Egg and I Road“. Europa: Sonderfall Tschechoslowakei The Egg and I verkaufte sich auch in Europa sehr gut. Die französische Ausgabe, unter dem Titel L’Œuf et moi, hatte eine verkaufte Auflage von 150.000. In Deutschland schrieb Der Spiegel über Das Ei und ich: „Es geht nicht um großartige psychologische Probleme, aber um ein Stück amerikanisches Alltagsleben. Und es ist mit bezauberndem Freimut und mit blinzelndem Humor beschrieben.“ In der Zeit erhielt es eine Kurzrezension in der Rubrik „Von Frauen geschrieben“. Die Rezension hob als Qualitäten hervor: „Amüsant, optimistisch, oft mit drastischem Humor.“ Ein echter Longseller mit zeitlicher Verzögerung wurde es jedoch in der Tschechoslowakei. Die erste tschechische Ausgabe erschien 1947, doch zwischen 1948 (dem Jahr der Machtübernahme der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei) und 1970 gab es keine Neuauflagen. Seit 1970 wurde das Buch aber immer wieder gedruckt, insgesamt zählt Samantha Hoekstra von 1947 bis 2010 51 Auflagen von Betty MacDonalds Büchern auf Tschechisch und Slowakisch. In Tschechien führte der Literaturwissenschaftler Jiří Trávníček über einen Zeitraum von acht Jahren mehrere Umfragen zur Popularität von Büchern bei der tschechischen Leserschaft durch. 2007 und 2010 führte The Egg and I (unter dem tschechischen Titel Vejce a já) die Liste an, 2013 belegte es Rang 5. 2015 berichtete er in einem Radiointerview: „Das populärste Buch aller drei Studien, die wir durchführten, ist Vejce a já von Betty MacDonald. Ich habe keine Erklärung für dieses Phänomen, aber es ist definitiv etwas sehr Tschechisches.“ Bei einer Umfrage tschechischer Bibliotheken, die über 93.000 Leserantworten auf die Frage nach ihrem Lieblingsbuch auswerteten, lag Vejce a já auf Rang 9 (und Anybody can do anything, ein weiteres Buch der Autorin, auf Rang 8). In einem Interview 2018 gab Trávníček an, Tschechinnen über 50 bezeichneten Betty MacDonalds Bücher als ihre Lieblingsbücher. In Philip Roths Roman Epilogue: The Prague Orgy (Die Prager Orgie. Ein Epilog) findet dieses Phänomen eine eigentümliche literarische Rezeption. Der Erzähler Nathan Zuckerman, wie Roth selbst ein amerikanischer jüdischer Schriftsteller, reist ins Prag der 1970er Jahre, um das unveröffentlichte Manuskript eines jiddischen Autors zu finden. Kaum ist ihm dies gelungen, wird es beschlagnahmt und Zuckerman wird genötigt, in ein Auto zum Flughafen zu steigen. Dort trifft er auf Novak, der sich als tschechoslowakischer Kulturminister vorstellt und ihn unvermittelt auf Deutsch anspricht: „Kennen sie Fraulein Betty MacDonald?“ Als Zuckerman verneint, benennt Novak sie als Autorin von The Egg and I. Zuckerman erinnert sich: „Handelte von einer Farm – nicht wahr? Ich habe es nicht mehr gelesen, seit ich zur Schule gegangen bin.“ Und weiter: „Es würde mich überraschen, wenn in Amerika jemand unter dreißig von The Egg and I überhaupt nur gehört hat.“ Novak kann das nicht glauben und erklärt es für eine „Tragödie“, dass dieses „Meisterwerk“ in Amerika in Vergessenheit geraten sei. Es schließt sich eine lange Tirade über die wahre tschechische Literatur und ihre Schriftsteller an, die „von ihren Lesern geliebt werden“, im Gegensatz zu „irgendwelchen entfremdeten, degenerierten, egoistischen Künstlern“, worunter Novak auch Franz Kafka fasst. Wahre Schriftsteller seien „Leute, die wissen, wie man sich auf anständige Weise in sein historisches Unglück fügt“. Roth war befreundet mit Dissidenten der tschechischen Literatur; Stanislav Kolář hält es für höchstwahrscheinlich, dass Roth bei seinen Besuchen in der Tschechoslowakei von der dortigen Popularität des Buches erfuhr. Wissenschaft MacDonalds autobiografische Erzählung fand zunächst kaum Berücksichtigung in den Literaturwissenschaften. Lediglich im Bereich der Bestsellerforschung wurde das Buch gelegentlich behandelt, so in James Harts Monografie The Popular Book: A History of America’s Literary Taste (1950) und viel später in Ruth Miller Elsons Werk Myths and Mores in American Best Sellers 1865–1965 (1985). Eine Ausnahme ist der Mark-Twain-Forscher Hamlin Hill, der 1963 in einem Zeitschriftenaufsatz The Egg and I als zeitgenössisches Beispiel von „native American humor“ abhandelte, einem Konzept, das ursprünglich von Walter Blair 1937 für den eigenständigen Beitrag der amerikanischen Literatur zum humoristischen Schreiben entwickelt worden war. Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Women’s Studies in den 1970er Jahren. Im Anschluss an Betty Friedans Kritik der „schreibenden Hausfrauen“ analysierte die Literaturwissenschaftlerin Patricia Meyer Spacks 1975 detailliert die weibliche Selbstironie in The Egg and I und kam zu einem sehr negativen Urteil über die Wirkungen dieses Stilmittels. In den 1980er Jahren griffen verschiedene Forscherinnen diese Analysen auf, erweiterten sie um Überlegungen zu den kritischen Potenzialen des Buchs und versuchten das starke normative Urteil von Spacks zu relativieren bzw. zu revidieren. Hier sind besonders die Beiträge von Nancy Walker und Zita Z. Dresner sowie ein postum erschienener Aufsatz von Jane F. Levey (2001) zu erwähnen, die auch textanalytisch neue Erkenntnisse brachten. Seitdem gehört The Egg and I zu den Werken, die regelmäßig im Kontext der Themen „häuslicher Humor“, „weiblicher Humor“ und „weibliche Autobiografie“ behandelt werden. So hat die Autorin einen Eintrag in The Oxford Companion to Women’s Writing in the United States. Barbara Levy widmete dem Buch einen Abschnitt in Ladies Laughing (1997), Kristi Siegel betrachtete es in ihrer Monografie über Women’s Autobiographies (1999) unter dem Aspekt der Mutter-Tochter-Beziehung, und Penelope Fritzer und Bartholomew Bland zählten das Werk in ihrer History of Domestic Humor Writing (2002) zu den Vorreitern des häuslichen Humors in den USA. Neben diesem Strang der wissenschaftlichen Debatte, der die Themen Gender und Humor in den Mittelpunkt stellte, gab es auch einige Beiträge, die die „ländliche Komödie“ und das Bild der Hinterwäldler und Indianer fokussierten. Sie gingen meist von der sehr breitenwirksamen Verfilmung aus und schlossen analytische Bemerkungen zum Buch an. Das gilt etwa für Jerry Wayne Williamsons Hillbillyland (1995) und Tim Hollis’ Rural Comedy in the 20th Century (2008). Unter dem regionalen Aspekt, nämlich als Beitrag zur Literatur und Bildlichkeit des amerikanischen Westens, hat die Literaturwissenschaftlerin Beth Kraig The Egg and I einer ausgedehnten Analyse unterzogen (2005). Regionalhistorisch ausgerichtet sind auch einige Beiträge von Mildred Andrews, Beth Kraig und Paula Becker auf der Webseite HistoryLink, insbesondere zur Biografie der Autorin, den Örtlichkeiten der Erzählung und vor allem zu dem aufsehenerregenden Verleumdungsprozess von 1951. Einen ungewöhnlichen Ansatzpunkt für die Analyse des Buchs hat Susan M. Squier (2011) gewählt: Sie analysierte es in einer Geschichte der Hühnerzucht unter dem Aspekt des „fellow feeling“, also des Gefühls der Verbundenheit zwischen Mensch und Tier. Die Biografie Betty MacDonalds von Paula Becker (2016) konnte erstmals zahlreiche Dokumente zum Entstehungs- und Veröffentlichungsprozess von The Egg and I auswerten. Becker war es insbesondere gelungen, Ordner mit MacDonalds Korrespondenz zu diesem und den folgenden Büchern ausfindig zu machen und zu sichten, vor allem mit Bernice Baumgarten und dem Lippincott-Verlag, aber auch etwa MacDonalds Antworten auf Leserpost. Ferner verwertete Becker viele Archivauskünfte erstmals und konnte so eine Reihe von Daten korrigieren, unter anderem das Geburtsdatum der Autorin. Einige Bemerkungen zur Rezeption der Erzählung außerhalb der USA, speziell in der Tschechoslowakei, finden sich in einer Masterarbeit von Samantha Hoekstra an der Florida University (2008). Zahlen zur Beliebtheit des Werks in der Tschechischen Republik bieten die Forschungen des tschechischen Literaturwissenschaftlers Jiří Trávníček. Ein Forschungsprojekt Trávníčeks am Institut für tschechische Literatur bei der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik zielte darauf, Gründe für die Popularität der Autorin in der tschechischen Leserschaft zu bestimmen. 2022 erschienen die Ergebnisse in Buchform. Ausgaben (Auswahl) In englischer Sprache The Egg and I. Gekürzter Vorabdruck in The Atlantic Monthly, Juni 1945, S. 97–108, Juli 1945, S. 91–100, August 1945, S. 97–106 The Egg and I. Lippincott, Philadelphia 1945 The Egg and I. Rockefeller Center, NY Pocket Books, New York 1945 The Egg and I. Life on a wilderness chicken ranch. Edition for the Armed Services (Nr. 1100), New York 1945 The Egg and I. Penguin Books, London 1956 Übersetzungen Das Ei und ich. Übersetzung ins Deutsche: Renate Hertenstein. Alpha-Verlag, Bern 1947 Das Ei und ich. Taschenbuchausgabe mit Leinenrücken. Rowohlt, rororo Nr. 25, Hamburg 1951. Ägget och jag. Übersetzung ins Schwedische: Sten Söderberg. Ljus, Stockholm 1946 Ægget og jeg. Übersetzung ins Dänische: Christen Fribert. Erichsen, Kopenhagen 1946 El huevo y yo. Übersetzung ins Spanische: Lidia Yadilli. Peuser, Buenos Aires 1946 Egget og jeg. Übersetzung ins Norwegische (Bokmål): Lill Herlofson Bauer. Ekko, Oslo 1947 Het ei en ik. Übersetzung ins Niederländische: E. H. van Meeteren-Verhagen. Amsterdam 1947 L’œuf et moi. Übersetzung ins Französische: George Belmont. Laffont, Paris 1947 Muna ja minä. Übersetzung ins Finnische: Eeva-Liisa Manner. Gummerus, Jyväskylä 1947 Vejce a já. Übersetzung ins Tschechische: Leopold Havlik. Žikeš, Praha 1947 Io e l’uovo. Übersetzung ins Italienische: Ada Salvatore. Bompiani, Milano 1948 Jajko i ja. Übersetzung ins Polnische: Marta Wańkowicz-Erdmanowa. Kuthan, Warschau 1949 Vajce a ja. Übersetzung ins Slowakische: Bohuslav Kompiš. Mladé letá, Bratislava 1971 Literatur Paula Becker: Looking for Betty MacDonald. The Egg, the Plague, Mrs. Piggle-Wiggle, and I. University of Washington Press, Seattle und London 2016 Zita Z. Dresner: Domestic Comic Writers. In: June Sochen (Hrsg.): Women’s Comic Visions. Wayne State University Press, Detroit 1991, S. 93–114. Zu The Egg and I: S. 99–104 Hamlin Hill: Modern American Humor: The Janus Laugh. In: College English, Jg. 25 (1963), S. 170–176 Beth Kraig: It’s About Time Somebody Out Here Wrote the Truth: Betty Bard MacDonald and North/Western Regionalism. In: Western American Literature, Jg. 40 (2005), Nr. 3, S. 237–271 Jane F. Levey: Imagining the Family in U.S. Postwar Popular Culture: The Case of The Egg and I and Cheaper by the Dozen. In: Journal of Women’s History, Jg. 13 (2001), Nr. 3, S. 125–150 Patricia Meyer Spacks: The Female Imagination. A literary and psychological investigation of writing by women – novels, autobiographies, letters, journals – that reveals how the fact of womanhood shapes the operations of the imagination. Knopf, New York 1975, besonders das Kapitel Finger Posts (S. 190–226) über weibliche Autobiografien und dort S. 218–223 über The Egg and I Susan M. Squier: Poultry Science, Chicken Culture. A Partial Alphabet. Rutgers University Press, New Brunswick 2011, besonders S. 128–129 zu The Egg and I Nancy Walker: Humor and Gender Roles: The „Funny“ Feminism of the Post-World War II Suburbs. In: American Quarterly, Jg. 37 (1985), Nr. 1, Special Issue: American Humor, S. 98–113 Weblinks Life Goes Calling on the Author of “the Egg and I” – Best-seller Betty MacDonald lives a very happy life without chickens. Homestory in Life, 18. März 1946, S. 134–137, online Beth Kraig: Betty and the Bishops: Was The Egg and I libelous? Ursprünglich veröffentlicht in Columbia Magazine, Jg. 12 (1998), Nr. 1, online zugänglich über die Seite der Washington State Historical Society Paula Becker: Betty MacDonald’s The Egg and I is published on October 3, 1945. HistoryLink-Essay Nr. 8261, 14. August 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online Paula Becker: Washington Governor Mon C. Wallgren presents Betty MacDonald with the one millionth copy of The Egg and I on September 12, 1946. HistoryLink-Essay Nr. 8263, 18. August 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online Paula Becker: Libel trial against Betty MacDonald of Egg and I fame opens in Seattle on February 5, 1951. HistoryLink-Essay Nr. 8270, 31. August 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online Paula Becker: Seattle jury finds for the defendants in libel suit against Egg and I author Betty MacDonald on February 20, 1951. HistoryLink-Essay Nr. 8271, 5. September 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online Paula Becker: Jefferson County resolution officially establishes Egg and I Road in Center on February 3, 1981. HistoryLink-Essay Nr. 8273, 12. September 2007, letzte Revision am 17. Oktober 2014. Online Einzelnachweise Literarisches Werk Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigte Staaten) Autobiografie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zweih%C3%B6cker-Spinnenfresser
Zweihöcker-Spinnenfresser
Der Zweihöcker-Spinnenfresser (Ero furcata) ist eine Spinne aus der Familie der Spinnenfresser (Mimetidae). Die großflächig paläarktisch verbreitete Art bewohnt eine Vielzahl an Habitaten (Lebensräumen). Darunter insbesondere verschiedene Waldbiotope, wo sie sich an Bäumen und in der Vegetation nahe dem Boden sowie in der Bodenstreu aufhält. Der auch in Mitteleuropa häufig vorkommende Zweihöcker-Spinnenfresser ist in Europa allgemein die häufigste Art der Buckelspinnenfresser (Ero). Die wie alle Arten der Spinnenfresser eher kleine Spinne zeichnet sich wie die anderen Vertreter der Familie durch ihre einzigartige und namensgebende Ernährungsweise aus – sie erbeutet ausschließlich andere Spinnen, insbesondere netzbauende Spinnen. Diese werden in ihren eigenen Netzen überwältigt, nachdem sie durch Zupfen des Jägers an den Netzfäden direkt zu diesem gelockt werden. Das Weibchen des Zweihöcker-Spinnenfressers fertigt nach der Paarung im Spätsommer einen charakteristischen Eikokon an, der zumeist leichter zu entdecken ist als die Spinne selbst. Der nachtaktive Zweihöcker-Spinnenfresser erhielt aufgrund seiner bemerkenswerten Biologie in den letzten Jahren eine höhere Aufmerksamkeit und wurde von der Arachnologischen Gesellschaft (AraGes) zur Spinne des Jahres 2021 ausgerufen. Merkmale Der Zweihöcker-Spinnenfresser hat eine Körperlänge von 2,5 bis 4,8 Millimetern beim Weibchen und 2,5 bis 3,0 Millimetern beim Männchen, womit es sich bei der Art wie bei Spinnenfressern (Mimetidae) üblich um recht kleine Spinnen handelt. Auch ist der grundsätzliche Körperbau mit dem anderer Buckelspinnenfresser (Ero) identisch. Demzufolge ist wie bei anderen Vertretern der Gattung das Prosoma (Vorderkörper) des Zweihöcker-Spinnenfressers zentral erhöht. Dessen Carapax (Rückenschild) besitzt eine gelblich-braune Grundfärbung. In der Mitte verläuft ein schwarzer Mittelstreifen. Die Augenregion ist dunkler und am Rand des Carapax befindet sich außerdem ein ebenfalls dunkler und fast schwarzer Strich. Genauso befindet sich auch zwischen der Rückengrube und Augenregion ein gänzlich schwarzer Strich. Die Cheliceren (Kieferklauen) erscheinen dunkelbraun-schwarz und das Sternum (Brustschild des Prosomas) ist gelblich-weiß gefärbt und mit dunklen Flecken versehen. Ein weiteres mit allen Buckelspinnenfressern gemeinsames Merkmal sind die Beinlängen. Die beiden vorderen Beinpaare sind länger als die beiden hinteren. Die Beine haben eine gelbliche Farbgebung und sind rotbraun-schwarz geringelt. Das Opisthosoma (Hinterleib) ist von kugeliger Form und besitzt dorsal (oben) im vorderen Teil zwei stumpfe Höcker. Seine Grundfarbe ist ähnlich wie beim Carapax hellbraun bis gelblich. Dabei treten schwarze, rötliche und graue Farben auf gelbem Grund auf. Das Opisthosoma ist vor den Höckern dunkel und dahinter heller gefleckt. Genitalmorphologische Merkmale Die Bulbi (männliche Geschlechtsorgane) des Zweihöcker-Spinnenfressers werden u. a. dadurch gekennzeichnet, dass deren Tibien (Beinschienen) etwa 2,7-mal so lang wie breit sind. Das Cymbium (hinterstes Sklerit, bzw. Hartteil eines einzelnen Bulbus) ist von ovaler Form, proximal (zur Körpermitte gelegen) erhöht und bildet einen konischen Tuberkel. Der Konduktor (Leiter) eines Bulbus besitzt je eine prolaterale (an frontaler Blickrichtung gelegenen) Furche. Die Spitze des Cymbiums ist nach Charakterart der Buckelspinnenfresser (Ero) mit retrolateralen (an dorsaler Blickrichtung gelegenen) und ventralen (seitlichen), fingerförmigen Fortsätzen versehen. Das sog. Paracymbium hat einen basalen (an der Basis gelegenen), zweiteiligen und weißlichen Fortsatz. Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) der Art besitzt einen charakteristischen, seitlich angelegten Lappen. Der mittlere Bereich der Epigyne ist breiter als lang und hinten von einem Chitinwall abgegrenzt. Das Septum (Trennwand) ist weiß gefärbt und von länglicher Form. Die Vulva ist mit kurzen Einführgängen und runden Spermatheken (Samentaschen) versehen. Ähnliche Arten Der Zweihöcker-Spinnenfresser kann leicht mit den drei anderen in Mitteleuropa heimischen Arten der Buckelspinnenfresser (Ero) verwechselt werden, die dort jedoch allesamt deutlich seltener sind. Die meisten Ähnlichkeiten weist der Zweihöcker-Spinnenfresser mit dem Sumpfspinnenfresser (E. cambridgei) auf. Dieser besitzt ebenfalls zwei Höcker auf dem Opisthosoma, allerdings ist bei ihm die Färbung vor dem Höckerpaar heller als dahinter. Außerdem ist der Sumpfspinnenfresser oftmals geringfügig kleiner. Beide Arten sind ganzjährig aktiv und kommen teilweise in den gleichen Lebensräumen vor, die bei dem Sumpfspinnenfresser entsprechend seinem Trivialnamen aus feuchten Habitaten (Lebensräumen), darunter Hochmooren oder überschwemmten Wiesen bestehen. Der Vierhöcker-Spinnenfresser (E. aphana) und der Große Spinnenfresser (E. tuberculata), die anderen beiden in Mitteleuropa vorkommenden Arten der Gattung, lassen sich hingegen leichter vom Zweihöcker-Spinnenfresser durch die vier Höcker am Opisthosoma unterscheiden. Außerdem beläuft sich die Phänologie (Aktivitätszeit) des Vierhöcker-Spinnenfressers auf den Zeitraum zwischen April bis August und er bevorzugt wärmere Gebiete, während der seltene Große Spinnenfresser ab Juni bis in das Jahresende ebenfalls sowohl in feuchten Lebensräumen als auch in Nadelwäldern angetroffen werden kann. Vorkommen Das Verbreitungsgebiet des Zweihöcker-Spinnenfressers erstreckt sich großflächig auf der Paläarktis von Europa über die Türkei, Kaukasien, Russland (europäischer bis fernöstlicher Teil), Turkmenistan bis nach Japan. Auch in Europa ist die Art flächendeckend verbreitet und wurde bisher lediglich auf Nowaja Semlja, in Island, auf den Mittelmeerinseln Sardinien und Sizilien und in den südosteuropäischen Ländern Albanien, Kosovo und Nordmazedonien nicht nachgewiesen. In Kaukasien fehlt sie in den Ländern Armenien sowie Aserbaidschan. Lebensräume Der recht anpassungsfähige Zweihöcker-Spinnenfresser weist ein breites Spektrum an Habitaten auf, er bevorzugt jedoch Wälder und Waldränder einschließlich Auwälder und meidet auch keine monotonen Fichtenkulturen. Abgesehen davon kann die Art in Feuchtwiesen und auf Trockenrasen gefunden werden, gleiches gilt für wärmeres Gelände. Innerhalb der bevorzugten Lebensräume kann der Zweihöcker-Spinnenfresser an Bäumen, Sträuchern und Stauden in Bodennähe gefunden werden, wobei er in der Strauch- und Krautschicht jedoch seltener vorkommt. Ein weiteres Mikrohabitat in Wäldern sind Streuschichten. Darüber hinaus wurde der Zweihöcker-Spinnenfresser in Regenmooren und Salzwiesen nachgewiesen. Urbane Flächen und Kulturland werden von der Art überwiegend gemieden. Der Zweihöcker-Spinnenfresser ist vorwiegend in der Planaren Höhenstufe (bis zu 800 Meter über dem Meeresspiegel) vorfindbar, kann aber auch in die Montane Höhenstufe (bis zu 1.500 Meter über dem Meeresspiegel) vordringen. Die bisher höchsten Fundmeldungen der Art liegen aus Österreich vor, wo sie auf Geröll in einer Höhe von 2.000 Metern über dem Meeresspiegel nachgewiesen wurde. Im Vereinigten Königreich beläuft sich die maximale Fundhöhe auf 700 Meter über dem Meeresspiegel. Bedrohung und Schutz Der Zweihöcker-Spinnenfresser gilt allgemein nicht als gefährdet und ist in Europa überdies die häufigste Art der Buckelspinnenfresser (Ero). In der Roten Liste gefährdeter Arten Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands bzw. der Roten Liste und Gesamtartenliste der Spinnen Deutschlands (2016) wird die Art als „ungefährdet“ gewertet, da ihre Bestände in Deutschland gleich bleibend sehr häufig sind. Auch im Vereinigten Königreich wird der dort häufige und weitverbreitete Zweihöcker-Spinnenfresser von der IUCN in die Kategorie LC („Least Concern“, bzw. nicht gefährdet) eingestuft. Ähnliches gilt für die Art in Norwegen und auch in Tschechien wird sie von der IUCN in der Kategorie ES („Ecologically Sustainable“, bzw. ökologisch anpassbar) erfasst. Lebensweise Der Zweihöcker-Spinnenfresser pflegt nach bisherigen Kenntnissen eine ähnliche Lebensweise wie die anderen drei mitteleuropäischen Arten der Buckelspinnenfresser (Ero) und bewegt sich zumeist langsam fort. Er ist nachtaktiv und hält sich am Tage auf den Unterseiten von Blättern und Zweigen versteckt, wobei er nicht selten die Beine an den Körper zieht. Dadurch ist er in dieser Zeit schwer auffindbar. Ab dem Abend wird die Spinne aktiv. Beutefang Der Zweihöcker-Spinnenfresser teilt mit allen anderen Spinnenfressern (Mimetidae) die Eigenschaft, als Nahrungsspezialist ausschließlich andere Spinnen zu erbeuten, was der Familie ihre Trivialbezeichnung eingebracht hat. Dabei erbeutet der Zweihöcker-Spinnenfresser bevorzugt Kugelspinnen (Theridiidae), wofür er in seiner nächtlichen Aktivitätszeit deren Haubennetze aufsucht. Wurde ein solches gefunden, zupft der Zweihöcker-Spinnenfresser an den Fangfäden des Netzes und täuscht somit ein ins Netz geratenes Beutetier vor. Sobald sich der Netzeigentümer dem vermeintlichen Opfer nähert und nah genug an den Jäger gelangt, packt dieser die Kugelspinne mithilfe der vorderen Beinpaare und versetzt ihr blitzschnell einen Biss in eines der Beine. Das dadurch injizierte Gift macht das Beutetier sofort flucht- und wehrunfähig. Die gelähmte Spinne wird anschließend von dem Jäger durch die Bissstelle ausgesogen und somit verzehrt. Der Zweihöcker-Spinnenfresser erweitert sein Jagdverhalten beim Fang ausgewachsener und weiblicher Individuen aus der Gattung der Höhlenradnetzspinnen (Meta). Hier benutzt er den bereits zuvor am Netz einer weiblichen Höhlenradnetzspinne gespannten Balzfaden eines Männchens der Gattung, das sich nach dem Auftreten des Spinnenfressers verzieht, und ahmt dort durch Zupfsignale anscheinend ein solches nach. Dadurch wird die weibliche Höhlenradnetzspinne zum Spinnenfresser gelockt und dann erbeutet. Lebenszyklus und Phänologie Der Lebenszyklus des Zweihöcker-Spinnenfressers wird wie bei anderen in den gemäßigten Klimazonen vorkommenden Spinnen von den Jahreszeiten mitbestimmt. Die Phänologie (Aktivitätszeit) der Art beläuft sich dabei bei den ausgewachsenen Tieren beider Geschlechter auf das ganze Jahr. Das Paarungsverhalten des Zweihöcker-Spinnenfressers ist wie bei den anderen Arten der Spinnenfresser (Mimetidae) bisher unerforscht. Ein verpaartes Weibchen legt im Spätsommer einen charakteristischen eiförmigen Eikokon an, der eine Höhe von vier und einen Durchmesser von drei Millimetern hat. Befestigt ist er an einem 12 bis 15 Millimeter langen Fadenstrang. Dieser ist allerdings sehr fest und dient wahrscheinlich zum Schutz vor Eiräubern, wobei eine Parasitierung etwa durch Schlupfwespen jedoch nicht verhindert wird. Die äußere Hülle des Kokons bildet ein dichtes und weißes Gespinst, das nah des Befestigungsstrangs jedoch dünner ist, was damit zu begründen ist, dass diese Stelle zum Verlassen der geschlüpften Jungtiere aus dem Kokon dient. Ferner ist dieser von gewellten, rotbraunen Fäden umgeben. Mit einer Anzahl von sechs bis acht Eiern in einem Kokon ist diese verglichen mit der Anzahl von Eiern in den Kokons anderer Spinnen sehr gering. Der Kokon selber ist durch seine Eigenschaften leichter zu finden als der Ersteller von selbigem. Der Kokon wird oft an dürren Fichtenzweigen befestigt, wo er sehr leicht auffindbar ist. Er kann sich jedoch auch unter Steinen und an Felsen befinden. Gleichermaßen wird der Kokon gelegentlich unter Blättern angelegt. Bei den im Herbst geschaffenen Kokons verlassen die Jungtiere diesen nach der Überwinterung, die dementsprechend in dem Kokon stattfindet. Sie werden anscheinend im folgenden Frühjahr geschlechtsreif und legen eigene Kokons an. Deren Nachkommen verlassen wiederum im Sommer den Kokon. Gleichzeitig gibt es mit vielen jüngeren Kugelspinnen, die in der gleichen Zeitspanne auftreten, auch ausreichend Beute für die Jungtiere des Zweihöcker-Spinnenfressers, da zu dieser Zeit insbesondere Jungtiere der Kleinen (Phylloneta sisyphia) und der Gewöhnlichen Haubennetzspinne (Phylloneta impressa) ebenfalls anzutreffen sind, die eine zu dieser Zeit zahlreich vorfindbare Beute für die Jungtieren des Zweihöcker-Spinnenfressers darstellen. Diese werden in deren Brutgespinsten erbeutet. Systematik Die klassische Systematik befasst sich im Bereich der Biologie sowohl mit der taxonomischen (systematischen) Einteilung als auch mit der Biologie und mit der Nomenklatur (Disziplin der wissenschaftlichen Benennung) von Lebewesen einschließlich des Zweihöcker-Spinnenfressers. Der Artname furcata stammt aus dem lateinischen und bedeutet „Gabel“, die Bezeichnung selbst deutet auf die Gabelung des Mittelstreifens auf dem Carapax. Beschreibungsgeschichte Während seiner Erstbeschreibung 1789 wurde der Zweihöcker-Spinnenfresser vom Autor Charles Joseph de Villers wie damals alle Spinnen in die Gattung Aranea eingeordnet und erhielt die Bezeichnung A. furcata. Von Carl Ludwig Koch wurde die Art bereits 1836 erstmals unter der Bezeichnung E. variegata in die von ihm zeitgleich erstbeschriebene Gattung der Buckelspinnenfresser (Ero) eingeordnet. Die heutige Bezeichnung E. furcata fand erstmals 1881 unter Eugène Simon und seitdem durchgehend Verwendung. Innere Systematik Der Zweihöcker-Spinnenfresser ist innerhalb der Gattung der Buckelspinnenfresser (Ero) mit dem Sumpfspinnenfresser (E. cambridgei) am nächsten verwandt. Die genaue Stellung aller Arten der monophyletischen Gattung der Buckelspinnenfresser ist bis heute nicht im Gänze erforscht. Bei 2016 durchgeführten molekulargenetischen Untersuchungen wurde anhand von Populationen des Zweihöcker- und des Sumpfspinnenfressers aus Dänemark festgestellt, dass diese eine enge Verwandtschaft zu chilenischen Populationen der sowohl in Chile als auch in Argentinien verbreiteten Art Ero spinipes aufweisen. Die bisher ermittelten Verwandtschaften des Zweihöcker-Spinnenfressers mit anderen Vertretern und geographischen Populationen der Gattung sind in folgendem Kladogramm einsehbar: Auszeichnung zur Spinne des Jahres 2021 Der Zweihöcker-Spinnenfresser wurde von der Arachnologischen Gesellschaft (AraGes) zur Spinne des Jahres 2021 auserwählt, um auf seine sonderbare und auch für die anderen Spinnenfressern (Mimetidae) typische Ernährungsweise sowie seine Kokonbauweise aufmerksam zu machen. Letzterer Aspekt dient vor allem dazu, Aufmerksamkeit auf die vielseitige Nutzbarkeit von Spinnseide und ihrer effizienten Produktion zu richten. Ein weiteres Ziel dieser Auszeichnung ist es, über die aktuelle Verbreitung der Art aufgeklärt zu werden. Die Koordination der Wahl lag beim Naturhistorischen Museum Wien, in Zusammenarbeit mit der Arachnologischen Gesellschaft und der European Society of Arachnology (ESA). An der Wahl waren 84 Arachnologen aus 27 europäischen Ländern beteiligt. Einzelnachweise Literatur Weblinks Ero furcata bei Global Biodiversity Information Facility Ero furcata bei Fauna Europaea Ero furcata beim Rote-Liste-Zentrum Ero furcata beim Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V. Ero furcata bei der European Arachnological Society Ero furcata bei der British Arachnological Society Ero furcata bei araneae – Spiders of Europe Spinnenfresser
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https://de.wikipedia.org/wiki/Portr%C3%A4t%20eines%20afrikanischen%20Mannes
Porträt eines afrikanischen Mannes
Das Porträt eines afrikanischen Mannes (, ) ist ein Gemälde des niederländischen Renaissance-Malers Jan Mostaert. Mostaert schuf das Gemälde wahrscheinlich zwischen 1525 und 1530. Es ist nicht bekannt, wen das Porträt darstellt. Aufgrund der Kleidung, Haltung und Attribute wird angenommen, dass der Afrikaner ein Soldat an einem europäischen Hof war. Vermutlich gehörte er zum Hofstaat von Margarete von Österreich. Es könnte sich um Christophle le More, Mitglied der Leibwache Karls V., handeln. Seit 2005 ist das Gemälde im Besitz des Rijksmuseum Amsterdam. Jan Piet Filedt Kok und Mareike de Winkel vom Rijksmuseum schrieben über das Bild: „Es ist das früheste und einzige unabhängig gemalte Porträt eines Schwarzafrikaners aus dem späten Mittelalter und der Renaissance, das erhalten geblieben ist.“ Frühere Bildnisse und Skulpturen der Heiligen Mauritius und Balthasar, die üblicherweise als Schwarze gezeigt wurden, waren stereotyp dargestellt. Bildbeschreibung Das Gemälde zeigt die Halbfigur eines Mannes in nach links gedrehter Dreiviertelansicht in europäischer Kleidung des 16. Jahrhunderts vor einem blaugrünen Hintergrund. Seine Haltung ist selbstbewusst, mit ruhigem Blick und mit einem leicht angehobenen Kinn. Er hat ein dunkelbraunes Gesicht, einen dunklen Oberlippenbart und einen kurzen Vollbart. Sein schwarzes Haar wird weitgehend von einer orangeroten Mütze verdeckt, an der ein rundes goldenes (oder silbervergoldetes) Pilgerabzeichen befestigt ist. Er trägt ein weißes Hemd ohne Kragen, aber mit einem gerüschten und bestickten oberen Rand. Darüber trägt er ein tiefrotes Wams, darüber wiederum einen einfachen schwarzen Mantel, einen sogenannten Tappert, mit Ärmeln, die an den Ellenbogen aufgeschnitten sind und von schwarzen, geflochtenen Schnüren zusammengehalten werden. Die Schnüre, die den Rock am Hals schließen, bilden eine Art doppelte Halskette und sind in Höhe seines Bauches zusammengebunden. Darunter trägt der Mann zwei braungefärbte Beinlinge, die mit paarig eingezogenen Nestelbändern am Gambeson angenestelt sind. Sein Hosenschlitz wird durch das Hemd und durch einen Schritteinsatz (Braguette) bedeckt, die unter dem Griff seines Schwertes zu sehen sind. Der Mann auf dem Gemälde trägt außerdem Handschuhe aus dünnem weißen Leder, die in einer feinen Quaste am Handgelenk enden. Seine rechte Hand ruht auf dem reich verzierten Griff eines Schwertes, das zusammen mit einem bestickten Beutel am Wehrgehänge befestigt ist. Jan Piet Filedt Kok und Mareike de Winkel vermuteten, dass es sich um ein um 1500 häufig verwendetes Schwert mit gerader Klinge handelt, dessen Kreuzgriff lang genug ist, um bei Bedarf mit zwei Händen gehalten zu werden. Dieser Schwerttyp ist auf zahlreichen Bildern aus der Zeit zwischen 1465 und 1510 zu sehen und war in ganz Europa verbreitet. Auf dem Geldbeutel sind mit Goldfaden und Perlen florale Motive und eine französische Lilie gestickt. Geschichte und Provenienz Eine dendrochronologische Untersuchung der Eichentafel des Gemäldes hat gezeigt, dass das Porträt ab 1520 entstanden sein könnte, eine Entstehung ab 1526 aber plausibler ist. Der ursprüngliche Rahmen des Bildes wurde zu einem nicht bekannten Zeitpunkt abgesägt, vermutlich als andere Rahmen modern wurden. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts trat das Porträt nicht öffentlich in Erscheinung. 1920 erwarb es der Kunsthändler Thomas Harris. Woher Harris das Gemälde hatte, ist nicht bekannt, nur dass viele der Bilder, die Harris verkaufte, aus Spanien stammten. Harris schickte ein Foto des Gemäldes an den renommierten Kunsthistoriker Max Friedländer. Auf Grundlage der Fotografie schrieb Friedländer das Gemälde dem Haarlemer Maler Jan Mostaert zu, was in den folgenden Jahrzehnten nie in Frage gestellt wurde. Auch Jan Piet Filedt Kok und Mareike de Winkel vom Rijksmuseum Amsterdam haben die Zuschreibung nach ihrer wissenschaftlichen Untersuchung im Jahr 2005 als wahrscheinlich bestätigt. Das Porträt habe zwar viele Ähnlichkeiten mit anderen männlichen Porträts der Zeit, aber in Stil und Maltechnik entspreche es am engsten den Mostaert zugeschriebenen Porträts. Jan Mostaert war im März 1518 von Margarete von Österreich zum Ehrenmaler ernannt worden, wahrscheinlich auf Fürsprache der vielen Adligen, die Mostaert mit gutem Erfolg porträtiert hatte. Friedländer erwähnte das Porträt 1921 in der zweiten Auflage seines Handbuchs Von Eyck bis Bruegel ohne weitere Erläuterung. In seiner Darstellung der altniederländischen Malerei führte er es 1934 als Gemälde Mostaerts auf. 1924 ging das Porträt in den Besitz von Hans Wendland in Lugano über, der es noch im gleichen Jahr an die Galerie Fischer in Luzern verkaufte. Die Galerie verkaufte das Bild 1934 an Thomas D. Barlow (1883–1964) in London. Die Öffentlichkeit konnte das Gemälde 1936 erstmals sehen, als es im Rahmen einer Ausstellung im Museum Boymans in Rotterdam gezeigt wurde. Der Kunstkenner H. P. Bremmer erwähnte es daraufhin lobend. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Porträt im Rahmen mehrerer Ausstellungen in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich gezeigt. Der Kunsthistoriker Friedrich Winkler wies 1959 als Erster auf den einzigartigen und eigenständigen Charakter des Porträts hin. Nach Thomas D. Barlows Tod erbte sein Sohn Basil Stephen Barlow (1918–1991) das Gemälde. Dessen Erben gaben es von 1998 bis 2003 als Leihgabe an das Kenwood House in London. Von dort kam es 2004 über Simon C. Dickinson Ltd, London, zum Kunsthändler R. Noortman in Maastricht. 2005 erwarb das Rijksmuseum Amsterdam, unterstützt von mehreren Sponsoren, das Porträt für 600.000 €. Am Rijksmuseum Amsterdam wurde nach dem Erwerb des Bildes eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt, die neben einer dendrochronologischen Untersuchung, einer Infrarotreflektographie und Röntgenaufnahmen auch die Analyse der Kleidung des Porträtierten und einen Stilvergleich mit anderen Porträts Jan Mostaerts umfasste. Darüber hinaus evaluierte der Historiker Ernst van den Boogardt anhand von veröffentlichten archivalischen Quellen, um wen es sich bei dem abgebildeten Schwarzen handeln könnte. Der 2005 erschienene Konferenzband Black Africans in Renaissance Europe verwendete das Porträt eines afrikanischen Mannes als Titelblatt. Maltechnik und Farben Bei der kunsttechnologischen Untersuchung wurde das Porträt zerstörungsfreien Verfahren wie der Infrarotreflektographie und verschiedenen Röntgenanalysen unterzogen. Es konnte so nachgewiesen werden, dass es keine Vorzeichnung gab. Auch konnte gezeigt werden, dass der blaugrüne Untergrund, der vermutlich aus Azurit mit Bleiweiß besteht, die Figur ausspart. Der Bart war ursprünglich länger und erhielt erst im Laufe des Malprozesses seine in zwei Spitzen endende Form. Für das Gesicht des Dargestellten verwendete der Maler eine spezielle Farbkomposition. Im Gegensatz zu den Porträts hellhäutiger Personen enthalten hier lediglich die Glanzlichter und die Reflexionen auf den Augenpupillen Bleiweiß. Die Kleidung ist texturbetont gemalt. Der Rand der Stickerei des Hemdes ist dabei in weiß gezeichnet, während Mostaert den roten Gambeson mit roten Lasurschichten auf einer weißen Untermalung modellierte. Die Details des schwarzen Wappenrocks und der Kordeln sind mit feinen gelb-brauen Aufhellern angedeutet. Das Gold des Abzeichens auf dem orangeroten Barett ist in Gelb mit Spuren von Bleizinn angedeutet. Bedeutung Bei der Konferenz Black Africans in Renaissance Europe 2001 in Oxford wies die englische Historikerin Kate Lowe in ihrem Vortrag „The stereotyping of black Africans in Renaissance Europe“ („Die Stereotypisierung von Schwarzen Afrikanern im Europa der Renaissance“) auf die Bedeutung des Porträts hin und analysierte es als Gegenbeispiel zu der sonstigen stereotypen Darstellung von Schwarzen in der Renaissance. Jan Piet Filedt Kok und Mareike de Winkel vom Rijksmuseum schrieben über das Bild: „Es ist das früheste und einzige unabhängig gemalte Porträt eines Schwarzafrikaners aus dem späten Mittelalter und der Renaissance, das erhalten geblieben ist.“ In dieser Zeit wurden zwar regelmäßig Schwarze dargestellt, häufig als einer der Heiligen Drei Könige. Die früheste Darstellung eines Heiligen als Schwarzer ist die Skulptur des Heiligen Mauritius im Magdeburger Dom, die um 1240/50 entstand. Doch waren diese Darstellungen keine Porträts individueller Personen, sondern allgemeine Typen mit ständig wiederkehrenden Merkmalen. Albrecht Dürer zeichnete 1508 den Kopf eines Afrikaners. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Studienzeichnung, die kein anderer Künstler zu sehen bekam. Dürer hatte sie wohl in der Absicht geschaffen, diese später in einem Gemälde mit dem Motiv Anbetung der Könige zu verwenden. 1521 zeichnete Dürer während eines Aufenthalts in Antwerpen eine zwanzigjährige Schwarze, bei der es sich um eine Dienerin oder Sklavin des Hoffaktors des Königs von Portugal handelt, auch in diesem Fall eine Studienzeichnung für den eigenen Gebrauch. Wie die Kunsthistorikerin Esther Schreuder vermerkte, hat Jan Mostaert selbst Darstellungen von Schwarzen in weiteren Bildern im Hintergrund integriert, als König in einer Weihnachtszene, als Diener oder als Musiker. Diese entsprechen den sonst üblichen stereotypen Darstellungen von Schwarzen als Nebenfiguren. Dargestellter Mann Haltung, Kleidung und Attribute des dargestellten Afrikaners zeigen seine Verbindung mit der europäischen Hofkultur. Die Historikerin Kate Lowe schloss aus Mostaerts Zugehörigkeit zu Margarete von Österreichs Hof, dass der dargestellte Mann dem Hofstaat in Mechelen angehörte. Gemälde auf Eichentafeln waren kostspielig und entstanden in der Regel als Auftragsarbeiten, wobei der Auftrag üblicherweise von den Porträtierten oder vom betreffenden Hof ausging. Die Kleidung des Mannes und die Attribute (Schwert und Pilgerabzeichen) seien kostspielig. Abgesehen von seiner Hautfarbe unterscheide sich der Mann nicht von anderen Darstellungen von Renaissance-Adligen. Lowe verwies insbesondere auf die fehlenden Ohrringe und nicht vorhandenen körperlichen Narben oder Brandzeichen, die sonst die Darstellungen von Schwarzen stereotyp aufwiesen, die auf vielen Bildern als Diener oder Sklaven als Beiwerk oder Teil der Szenerie dargestellt sind. Auch weitere etablierte Stereotype von Darstellungen von Schwarzen weist das Porträt nicht auf. Dazu gehören die einfältig lachende Pose – Lachen galt als Beleg für Dummheit und mangelnde Disziplin – oder Faulheit, Trunkenheit oder Kriminalität. Insgesamt kam Lowe zu dem Schluss, dass es sich um einen hochstehenden Mann handeln müsse. Jan Piet Filedt Kok und Mareike de Winkel widersprachen Kate Lowes Einschätzung, dass die Kleidung des Porträtierten kostspielig und spanisch sei. Ihrer Meinung nach bestand sie eher aus einfachen, praktischen Stoffen und nicht, wie beim Adel üblich, aus teurem Brokat- oder Damaststoff. Zudem war die Kleidung des Mannes um 1520 beim Adel bereits aus der Mode. Das betrifft den Schnitt des Hemds, den Stil der weißen Lederhandschuhe und der Mütze und auch das Tragen des Geldbeutels am Gürtel. Dagegen war der Porträtierte mit seinem Bart, Oberlippenbart und kurzen Haaren modisch auf der Höhe der Zeit. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren Männer am niederländischen und auch am spanischen Hof kahlgeschoren. Ab etwa 1515 wurden am französischen Hof Bart und kurzes Haar üblich. Dieser Mode schloss sich der habsburgische Hof in Mechelen an. Laut Filedt Kok und Winkel war der Mann nicht so gekleidet, wie man es von einem Adeligen oder einem Abgesandten eines anderen Hofes erwarten würde, sondern eher wie ein Soldat, etwa ein Söldner oder ein Leibwächter. Militärische Uniformen gab es noch nicht. Die Kleidung und Haltung des Porträtierten strahlen eine gewisse Bravour aus und es scheint wahrscheinlich, dass er in den Diensten eines hohen Herrn (oder einer hohen Dame) stand. Das Pilgerzeichen und sein Haar und Bart machen es wahrscheinlich, dass er in den Kreisen des habsburgischen Hofes in Brüssel oder Mechelen bei Margarete von Österreich lebte. Das Pilgerabzeichen am Hut belegt, dass der Abgebildete Christ war. Auf dem Abzeichen ist eine Madonna zwischen zwei Engeln dargestellt. Es ist das Zeichen der Muttergottes von Halle bei Brüssel, das dank einer Marienstatue in der Basilika St. Martin in dieser Zeit ein bedeutender Wallfahrtsort war. Der Porträtierte könnte den Wallfahrtsort selbst besucht und das Abzeichen dort gekauft oder von seinem Dienstherrn als Geschenk erhalten haben. Als weitere Möglichkeit gilt, dass das Abzeichen auf seine Zugehörigkeit zur Bruderschaft Unserer Lieben Frau von Halle hinweist. Das Tragen einer goldenen oder vergoldeten Plakette an der Kopfbedeckung war ein kurzlebiges, vor allem höfisches Modephänomen, das am französischen Hof entstanden und vor allem in Italien und den Niederlanden übernommen worden war. Das belegen holländische Porträts aus der Zeit von 1510 bis 1530, darunter eine Reihe männlicher Porträts von Jan Mostaert. Abgesehen vom Pilgerabzeichen trägt der Mann keinen weiteren Goldschmuck wie Ketten, Kragen, Ringe, Knöpfe oder Nägel am Hut, wie es bei einem Adeligen üblich gewesen wäre. Das Gemälde hat einen unbemalten Rand von ca. 5 mm, der im gerahmten Zustand nicht zu sehen ist. Dieser Rand belegt, dass die bemalte Oberfläche des Bildes vollständig erhalten und das Gemälde kein Fragment einer größeren Darstellung ist. Filedt Kok und de Winkel wiesen darauf hin, dass damit eine Darstellung eines der Heiligen Drei Könige ausgeschlossen ist, da diese nie allein abgebildet wurden. Der Historiker Ernst van den Boogardt hat anhand von veröffentlichten archivalischen Quellen Christophle le More als wahrscheinlichsten Kandidaten für den dargestellten Soldaten identifiziert, wobei er konstatierte, dass weitere Archivrecherchen zu weiteren möglichen Kandidaten führen könnten. Christophle wird zwischen 1501 und 1506 als in den Ställen von Philipp dem Schönen beschäftigter Lakai mehrmals erwähnt. Boogardt sieht als mögliche Herkunft, dass er als Sohn eines Sklaven um 1490 geboren sein könnte und getauft und als Christ erzogen worden wäre. Er könnte formell freigelassen worden sein oder durch seinen Aufstieg könnte im Laufe der Zeit die Unterscheidung zwischen Sklave und loyalem Diener verwischt worden sein. Als Jugendlicher hätte er in den Ställen zu arbeiten begonnen, der Schule für die jungen Hofadeligen, die reiten lernen mussten. Dort hätte Christophle regelmäßig mit ihnen Kontakt gehabt, und auch Karl V. dürfte ihn von klein auf gekannt haben. Bis 1517 gibt es keine weiteren Hinweise auf Christophle, dann erscheint er auf einer Lohnliste Karls V. Boogardt geht davon aus, dass er als Erwachsener Mitglied der Leibwache Karls V., einer Elitegruppe von etwa hundert Mann, geworden war. Diese Leibwächter gehörten zu den niederen Hofbediensteten. 2013 brachte der Direktor des Rijksmuseum Wim Pijbes in einem Zeitungsartikel das Porträt mit der Entwicklung der niederländischen Folklorefigur Zwarte Piet in Verbindung. Die Literaturhistorikerin Marie-José Govers reagierte daraufhin 2014 mit der These, das Porträt sei eine Darstellung des Heiligen Mauritius. Die Kunsthistorikerin Esther Schreuder wies diese beiden Theorien, die nie wissenschaftlich publiziert wurden, als substanzlos zurück. Literatur Weblinks Information des Rijksmuseum Amsterdam zum Bild mit Ausschnitt aus der Audioführung (englisch) Einzelnachweise Gemälde des Rijksmuseums Amsterdam Gemälde (16. Jahrhundert) Werk der Porträtmalerei
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https://de.wikipedia.org/wiki/Polymerase-Kettenreaktion
Polymerase-Kettenreaktion
Als Polymerase-Kettenreaktion (, PCR) bezeichnet man Methoden zur in vitro-Vervielfältigung von Erbsubstanz (DNA). Dazu werden, je nach Methode, verschiedene Formen des Enzyms DNA-Polymerase verwendet. Die Bezeichnung Kettenreaktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Produkte vorheriger Zyklen als Ausgangsstoffe für den nächsten Zyklus dienen und somit eine exponentielle Vervielfältigung ermöglichen. Bei der klassischen PCR werden diese Zyklen über ein Temperaturprogramm gesteuert. Bei der Weiterentwicklung isotherme DNA-Amplifikation erfolgt diese Vervielfältigung kontinuierlich bei konstanter Temperatur. Die PCR wird in biologischen und medizinischen Laboratorien zum Beispiel für die Erkennung von Erbkrankheiten und Virusinfektionen, für das Erstellen und Überprüfen genetischer Fingerabdrücke, für das Klonieren von Genen und für Abstammungsgutachten verwendet. Sie ist die empfindlichste und zuverlässigste Labor-Methode des direkten Erregernachweises. Entwickelt wurde die Methode durch den Biochemiker Kary Mullis im Jahr 1985. 1993 wurde ihm dafür der Nobelpreis für Chemie verliehen. Die PCR zählt heute zu den wichtigsten Methoden der modernen Molekularbiologie, und viele wissenschaftliche Fortschritte auf diesem Gebiet (z. B. im Rahmen des Humangenomprojekts) wären ohne diese Methode nicht möglich gewesen. Geschichte Anfang der 1970er Jahre kam der norwegische Postdoc Kjell Kleppe im Labor von Nobelpreisträger Har Gobind Khorana auf den Gedanken, DNA durch zwei flankierende Primer zu vervielfältigen, jedoch geriet die Idee in Vergessenheit. Die Polymerase-Kettenreaktion selbst wurde 1983 von Kary Mullis erneut erfunden. Seine Absicht war es, ein neuartiges DNA-Syntheseverfahren zu entwickeln, das DNA durch wiederholte Verdopplung in mehreren Zyklen mittels eines Enzyms namens DNA-Polymerase künstlich vervielfältigt. Sieben Jahre nach der Veröffentlichung seiner Idee wurde Mullis hierfür 1993 der Nobelpreis für Chemie verliehen. DNA-Polymerase kommt in allen Lebewesen vor und verdoppelt während der Replikation die DNA vor der Zellteilung. Dazu bindet sie sich an einen einzelnen DNA-Strang und synthetisiert mittels eines kurzen komplementären Oligonukleotids (Primer) einen dazu komplementären Strang. Bereits in Mullis’ ursprünglichem PCR-Versuch wurde das Enzym in vitro verwendet. Die doppelsträngige DNA wurde zunächst durch Erhitzen auf 96 °C in zwei Einzelstränge getrennt. Bei dieser Temperatur wurde die dabei zunächst verwendete DNA-Polymerase I von E. coli zerstört und musste daher nach jedem Erhitzen erneut zugegeben werden. Diese Folge von Arbeitsschritten musste mehrere dutzendmal in Folge wiederholt werden, um eine ausreichende Amplifikation zu erreichen. Mullis’ ursprüngliches Verfahren war daher sehr ineffizient, da es viel Zeit, große Mengen DNA-Polymerase und ständige Aufmerksamkeit erforderte. Eine entscheidende Verbesserung der PCR-Technologie brachte die Verwendung von thermostabilen DNA-Polymerasen, das heißt von Enzymen, die auch bei Temperaturen von annähernd 100 °C ihre Polymerase-Aktivität behalten und nicht denaturieren. Eine der ersten thermostabilen DNA-Polymerasen wurde aus dem in heißen Quellen lebenden thermophilen Bakterium Thermus aquaticus gewonnen und Taq-Polymerase genannt. Durch die Verwendung thermostabiler DNA-Polymerasen bestand keine Notwendigkeit mehr, ständig neue Polymerase zuzugeben, und der ganze PCR-Prozess konnte erheblich vereinfacht und automatisiert werden. Mullis arbeitete zu dieser Zeit für die kalifornische Biotech-Firma Cetus und wurde mit einer Prämie von 10.000 US-Dollar abgefunden. Diese meldete die PCR-Methode zum Patent an. Jahre später verkaufte Cetus dann die Rechte an der PCR-Methode mitsamt dem Patent für die von ihm verwendete DNA-Polymerase Taq an die Firma Roche für 300 Millionen Dollar. Das Enzym Taq wurde jedoch bereits 1980 von dem russischen Forscher Kaledin beschrieben. Aus diesem Grund wurde nach jahrelangem Rechtsstreit der Firma Roche das Patent für Taq inzwischen entzogen. Die US-Patente für die PCR-Technologie selbst liefen im März 2005 aus. Die Taq-Polymerase erfährt nach wie vor breite Anwendung. Ihr Nachteil liegt darin, dass sie manchmal Fehler beim Kopieren der DNA produziert, was zu Mutationen in der DNA-Sequenz führt. Polymerasen wie Pwo und Pfu, die aus Archaea gewonnen werden, haben einen Korrekturmechanismus, der die Anzahl der Mutationen in der kopierten DNA erheblich senkt. Prinzip PCR wird eingesetzt, um einen kurzen, genau definierten Teil eines DNA-Strangs zu vervielfältigen. Der zu vervielfältigende Bereich der DNA wird auch als Amplicon bezeichnet, die bei der PCR entstehenden Produkte als Amplifikate. Dabei kann es sich um ein Gen oder auch nur um einen Teil eines Gens handeln oder auch um nichtcodierende DNA-Sequenzen. Im Gegensatz zu lebenden Organismen kann der PCR-Prozess nur relativ kurze DNA-Abschnitte kopieren. Bei einer Standard-PCR können dies bis zu etwa dreitausend Basenpaare (3 kbp) lange DNA-Fragmente sein. Mit Hilfe bestimmter Polymerasen-Gemische, weiterer Additive in der PCR und optimalen Bedingungen können sogar Fragmente mit einer Länge von über 20–40 kbp vervielfältigt werden, was immer noch sehr viel kürzer ist als die chromosomale DNA einer eukaryotischen Zelle. Eine menschliche Zelle enthält beispielsweise etwa drei Milliarden Basenpaare pro haploidem Genom. Komponenten und Reagenzien Eine PCR benötigt mehrere grundlegende Komponenten. Diese sind: Die Original-DNA, die den zu vervielfältigenden Abschnitt enthält (Template) Zwei Primer, um auf den beiden Einzelsträngen der DNA jeweils den Startpunkt der DNA-Synthese festzulegen, wodurch der zu vervielfältigende Bereich von beiden Seiten begrenzt wird DNA-Polymerase, die bei hohen Temperaturen nicht zerstört wird, um den festgelegten Abschnitt zu replizieren (kopieren) (z. B. Taq-Polymerase) Desoxyribonukleosidtriphosphate, die Bausteine für den von der DNA-Polymerase synthetisierten DNA-Strang Mg2+ -Ionen, für die Funktion der Polymerase essentiell, stabilisieren die Anlagerung der Primer und bilden lösliche Komplexe mit den Desoxyribonucleosidtriphosphaten Pufferlösungen, die eine für die DNA-Polymerase geeignete chemische Umgebung sicherstellen Die Reaktion wird üblicherweise in Volumina von 10–200 µl in kleinen Reaktionsgefäßen (200–500 µl) in einem Thermocycler durchgeführt. Diese Maschine erhitzt und kühlt die in ihr befindlichen Reaktionsgefäße präzise auf die Temperatur, die für den jeweiligen Schritt benötigt wird. Etwaige Kondensatbildung im Deckel des Gefäßes wird durch einen beheizbaren Gerätedeckel (über 100 °C) verhindert. Die Thermocycler der ersten Generation besaßen noch keinen beheizten Deckel, weshalb bei diesen Geräten zur Vermeidung einer Verdampfung von Wasser während der PCR die Reaktionsansätze mit Mineralöl überschichtet wurden. Als Reaktionsgefäß können, je nach Probeneinsatz bzw. Heizblock des Thermocyclers, neben einzelnen 200-µl-Reaktionsgefäßen auch acht zusammenhängende 200-µl-Reaktionsgefäße oder PCR-Platten für bis zu 96 Ansätze mit 200 µl oder auch 384 Ansätze zu je 50 µl verwendet werden. Die Platten werden entweder mit einer Gummiabdeckung oder einer selbstklebenden Klarsichtfolie verschlossen. Beispiel Als allgemeines Beispiel sei hier eine typische Zusammensetzung einer PCR-Reaktion wiedergegeben. Viele Beispiele für die verschiedensten Variationen der PCR finden sich in der wissenschaftlichen Literatur in verschiedensten Kombinationen: Ablauf Der PCR-Prozess besteht aus etwa 20–50 Zyklen, die in einem Thermocycler durchgeführt werden. Die folgenden Angaben sind als Richtwerte gedacht. Meist muss eine PCR auf die spezifische Reaktion hin optimiert werden. Jeder Zyklus besteht aus drei Schritten (siehe Abbildung unterhalb): Denaturierung (Melting, Schmelzen): Zunächst wird die doppelsträngige DNA auf 94–96 °C erhitzt, um die Stränge zu trennen. Die Wasserstoffbrückenbindungen, die die beiden DNA-Stränge zusammenhalten, werden aufgebrochen. Im ersten Zyklus wird die DNA oft für längere Zeit erhitzt (Initialisierung), um sicherzustellen, dass sich sowohl die Ausgangs-DNA als auch die Primer vollständig voneinander getrennt haben und nur noch Einzelstränge vorliegen. Manche (sogenannte Hot-Start-) Polymerasen müssen durch eine noch längere anfängliche Erhitzungsphase (bis zu 15 Minuten) aktiviert werden. Primerhybridisierung (primer annealing): In diesem Schritt wird die Temperatur abgesenkt und ca. 30 Sekunden lang auf einem Wert gehalten, der eine spezifische Anlagerung der Primer an die DNA erlaubt. Die genaue Temperatur wird hierbei durch die Länge und die Sequenz der Primer bestimmt (bzw. der passenden Nukleotide im Primer, wenn durch diesen Mutationen eingeführt werden sollen = site-directed mutagenesis). Wird die Temperatur zu niedrig gewählt, können sich die Primer unter Umständen auch an nicht hundertprozentig komplementären Sequenzen anlagern und so zu unspezifischen Produkten („Geisterbanden“) führen. Wird die Temperatur zu hoch gewählt, ist die thermische Bewegung der Primer unter Umständen so groß, dass sie sich nicht richtig anheften können, so dass es zu gar keiner oder nur ineffizienter Produktbildung kommt. Die Temperatur, welche die beiden oben genannten Effekte weitgehend ausschließt, liegt normalerweise 5–10 °C unter dem Schmelzpunkt der Primersequenzen; dies entspricht meist einer Temperatur von 55 bis 65 °C. Elongation (Extension, Polymerisation, Verlängerung, Amplifikation): Schließlich füllt die DNA-Polymerase die fehlenden Stränge mit freien Nukleotiden auf. Sie beginnt am 3'-Ende des angelagerten Primers und folgt dann dem DNA-Strang. Der Primer wird nicht wieder abgelöst, er bildet den Anfang des neuen Einzelstrangs. Die Temperatur hängt vom Arbeitsoptimum der verwendeten DNA-Polymerase ab (68–72 °C). Bei diesen Temperaturen können jedoch nur ganz bestimmte Enzyme arbeiten. Oft wird hier die Taq-Polymerase genutzt. Dieser Schritt dauert etwa 30 Sekunden je 500 Basenpaare, variiert aber in Abhängigkeit von der verwendeten DNA-Polymerase. Die PCR-Produkte sind anschließend viele Tage auch bei Raumtemperatur stabil, sodass eine Weiterverarbeitung nicht sofort erfolgen muss. In vielen Laboren hat es sich etabliert, die Proben im Thermocycler nach Ende der PCR auf 4–8 °C herunter zu kühlen. Viele Hersteller raten davon jedoch ab, da aufgrund von Kondensation im Metallblock die Lebenszeit eines Cyclers mit Peltier-Element stark reduziert wird. (A) Die Ausgangs-DNA liegt zunächst als Doppelstrang vor (Pfeilrichtung: 5'→3'). (B,C) Nach der Denaturierung sind die Einzelstränge getrennt und die Primer können binden. (C,D) Die Polymerase produziert den Gegenstrang, indem sie die Primer 5'→3' (in Pfeilrichtung) verlängert. Die Produkte sind jeweils noch an einem Ende zu lang. Dies ist damit zu erklären, dass lediglich ein Startpunkt (Primer), nicht aber ein Endpunkt exakt festgelegt ist. (E,F) Im nächsten Zyklus entstehen erstmals PCR Produkte in der richtigen Länge – allerdings sind die Gegenstränge jeweils noch zu lang. (G,H) Im dritten Zyklus entsteht erstmals das PCR Produkt als Doppelstrang in der richtigen Länge (die anderen Produkte sind in H nicht dargestellt). (H,I,J) In den folgenden Zyklen vermehren sich die gewünschten Produkte exponentiell (da sie selbst als Matrize für weitere Strangsynthesen dienen), während die ungewünschten langen Produkte (siehe Produkte des ersten Zyklus) nur linear ansteigen (nur eingesetzte DNA dient als Matrix). Dies ist der theoretische Idealfall, in der Praxis fallen aber zudem in geringem Maße auch kürzere Fragmente als die gewünschte Ziel-DNA an. Diese kurzen Fragmente häufen sich vor allem in den späten Zyklen an und können durch Fehlpaarung der Primer auch zu falschen PCR Produkten werden. Daher werden bei PCR Reaktionen meist nur etwa 30 Zyklen durchlaufen, damit vorwiegend DNA der gewünschten Länge und Sequenz produziert wird. Aufreinigung von PCR-Produkten Ein PCR-Produkt kann durch Agarose-Gelelektrophorese anhand seiner Größe identifiziert werden. (Die Agarose-Gelelektrophorese ist ein Verfahren, bei der DNA in ein Agarose-Gel eingebracht wird und anschließend eine Spannung angelegt wird. Dann bewegen sich die kürzeren DNA-Stränge schneller als die längeren auf den Pluspol zu.) Die Länge des PCR-Produkts kann durch einen Vergleich mit einer DNA-Leiter, die DNA-Fragmente bekannter Größe enthält und parallel zur Probe im Gel mitläuft, bestimmt werden. Soll die PCR vor allem als quantitativer Nachweis dienen, empfiehlt sich die Real Time PCR oder die Digital PCR. PCR-Optimierung Verschiedene Methoden können eingesetzt werden, um die Synthesemengen zu steigern oder Inhibitoren der PCR zu beseitigen. Varianten Die klassische PCR ist durch zahlreiche Variationen erweitert und verbessert worden. Dadurch können verschiedene Aufgaben spezifisch angegangen werden. Alternativ zur PCR können auch verschiedene Methoden der isothermalen DNA-Amplifikation oder Ligase-Kettenreaktion verwendet werden. Agglutinations-PCR: Methode zur Bestimmung der Menge von Antikörpern. Es werden Antigene durch Antikörper isoliert und dann vermehrt. Die genaue Antikörpermenge muss aber schon vorher vorliegen, z. B. im Neutralisationshemmtest. [[Digital Polymerase Chain Reaction|Digital PCR]] (dPCR): Bei der digital PCR (dPCR) wird die DNA verdünnt und auf eine große Anzahl an Femtoliter-Reaktionsgefäßen verteilt. Pro Reaktionsgefäß entsteht entweder DNA oder nicht. Aufgenommen wird ein Digitalsignal. Durch Auszählen einer großen Anzahl an Reaktionsgefäßen kann der Anteil erfolgter Reaktionen zur Mengenbestimmung verwendet werden. Immun-PCR: Methode zur Erkennung von Antigenen. Immunoquantitative Echtzeit-PCR (irt-PCR): Manchmal müssen selbst geringe Mengen an Pathogenen wirksam erkannt werden, da sie auch einzeln für den Menschen gefährlich werden können. Die Detektionsschwelle vieler immunologischer Methoden (z. B. ELISA) kann für diese Fälle unzureichend sein, so dass man hier auf die immunoquantitative Echtzeit-PCR (immunoquantitative real-time PCR) zurückgreift. Hierbei kombiniert man die hohe Spezifität von Antikörpern mit einer qPCR. Wie beim klassischen ELISA nutzt man zwei Antikörper. Der erste wird an einer Mikrotiterplatte fixiert und erkennt das gesuchte Antigen. Daran bindet dann der zweite Antikörper. Im herkömmlichen ELISA wird der immunologische Komplex aus erstem Antikörper, Antigen und zweitem Antikörper durch eine chemische Farbreaktion sichtbar gemacht, dagegen ist in der irt-PCR der zweite Antikörper über einen Streptavidin-Biotin-Komplex mit einer 246bp-langen doppelsträngigen DNA verbunden. Wenn der immunologische Komplex entsteht, kann diese Marker-DNA durch qPCR amplifiziert, detektiert und quantifiziert werden. Diese Methode ist etwa tausendmal sensibler als ein klassischer ELISA. Inverse PCR: Amplifikation unbekannter Genbereiche. Kolonie-PCR: Nachweis von bestimmten DNA-Sequenzen in Kolonien von Bakterien oder Pilzen; als DNA-Vorlage keine gereinigte Plasmid-DNA oder chromosomale DNA, sondern aus dem Kulturmedium entnommene Bakterienkolonien. Ligation-During-Amplification: Wird häufig zur Mutagenese von Plasmiden genutzt. Zirkuläre DNA kann amplifiziert werden, wodurch ein zusätzlicher Ligationsschritt entfällt. MassTag-PCR: Kombination einer PCR mit der Massenspektrometrie. Multiplex ligation-dependent probe amplification (MLPA): Variante der Multiplex-PCR (s. unten) zur gezielten Vermehrung mehrerer ähnlicher DNA-Sequenzen. Multiplex-PCR: Es werden mehr als ein Primerpaar für die Amplifikation eines bestimmten Gens oder auch mehrerer Gene auf einmal verwendet. Die Multiplex-PCR spielt u. a. in der Diagnostik von Krankheiten eine Rolle, beispielsweise beim Lesch-Nyhan-Syndrom. Ursache für das Lesch-Nyhan-Syndrom ist eine Mutation des HPRT1-Gens, das für eine Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase codiert. Das Gen hat neun Exons, in Patienten mit dem Lesch-Nyhan-Syndrom kann eines dieser Exons fehlen. Durch eine Multiplex-PCR kann dies leicht entdeckt werden. Nested-PCR: Die nested (verschachtelte bzw. geschachtelte) PCR eignet sich sehr gut, wenn nur sehr geringe Mengen der zu amplifizierenden DNA relativ zur Gesamtprobenmenge an DNA vorhanden sind. Hierbei werden zwei PCR hintereinander ausgeführt. Durch die erste PCR wird – neben unerwünschten Sequenzbereichen infolge unspezifischer Bindung der Primer – der gewünschte Abschnitt der DNA (Amplikon) erzeugt. Letztere wird für eine zweite PCR als Matrize verwendet. Durch Primer, die an Bereichen innerhalb der ersten Matrize binden (downstream der ersten Primer), wird der gewünschte Sequenzbereich mit sehr hoher Spezifität generiert. Da auch die DNA-Region der Wahl zum zweiten Mal amplifiziert wurde, entsteht ausreichend DNA für weitere Prozedere. Anwendung findet die nested-PCR beispielsweise in der Gen-Diagnostik, in der Forensik (bei sehr wenig verwertbaren Spuren wie Haaren oder Bluttropfen wie im Kriminalfall JonBenét Ramsey) oder bei phylogenetischen Untersuchungen. Auch Mikrochimärismus bei Leukozyten nach einer Bluttransfusion kann mittels nested-PCR nachgewiesen werden. Quantitative Echtzeit-PCR (qPCR oder real-time PCR): Wird benutzt, um die Menge des vervielfältigten DNA-Abschnitts zu bestimmen. Im Laborjargon wird fast nur der englische Begriff real-time PCR oder quantitative PCR verwendet, kurz qPCR oder missverständlich auch rt-PCR, was aber zu Verwechslungen mit dem länger etablierten Begriff RT-PCR mit vorgeschalteter reverser Transkription führt. Bei der real-time PCR wird der Reaktion ein zunächst inaktiver Fluoreszenzfarbstoff beigemischt, der durch die DNA-Produktion aktiv wird. (Zum Beispiel, weil er sich in die DNA einlagert (wie SYBR Green) oder weil ein Quencher, der die Fluoreszenz zunächst löscht, bei der Amplifikation entfernt wird.) Bei jedem Zyklus – also „in Echtzeit“ – wird die Fluoreszenz gemessen, woraus man auf die Menge der amplifizierten DNA schließen kann. Abhängig von der ursprünglichen Anzahl an Kopien wird ein gewisser Schwellenwert des Fluoreszenzsignals früher oder später (oder gar nicht) erreicht. Wegen dieser Zusatzinformation hat die real-time PCR den Beinamen „quantitative PCR (qPCR)“. Z. B. durch die Verwendung von Standardkurven erlaubt diese Technik auch eine absolute Quantifizierung (als Kopieanzahl pro Reaktion). Obwohl Geräte und farbstoffmarkierte Reagenzien teurer sind als bei der „klassischen“ Endpunkt-PCR, ist ein Sichtbarmachen der Amplifikate auf einem Gel nicht unbedingt nötig, so dass sich Arbeit und vor allem Zeit sparen lassen. Die Technik der qPCR lässt sich auch mit einer vorgeschalteten reversen Transkription (RT) kombinieren, z. B. um RNA-Viren nachzuweisen, dann spricht man von qRT-PCR. Reverse-Transkriptase-PCR (RT-PCR): Die Amplifikation von RNA (z. B. eines Transkriptoms oder eines RNA-Virus) erfolgt in einer Reverse-Transkriptions-PCR (engl. ) über eine reverse Transkription der RNA in DNA mit einer reversen Transkriptase. In Kombination mit einer Konzentrationsbestimmung in Echtzeit (qPCR) bezeichnet man die Reaktion als qRT-PCR. Touchdown-PCR: vermeidet eine Amplifizierung unspezifischer DNA-Sequenzen. In den ersten Synthese-Zyklen wird die Annealing-Temperatur nur knapp unterhalb der Denaturierungstemperatur gewählt. Damit ist die Primerbindung und somit auch das Amplifikat höchst spezifisch. In den weiteren Zyklen wird die Annealing-Temperatur herabgesetzt. Die Primer können jetzt zwar unspezifische Bindungen eingehen, allerdings verhindern die spezifischen Replikate der frühen Reaktion eine übermäßige Amplifikation der unspezifischen Sequenzen. Ein weiterer Vorteil ist eine enorme Steigerung der Amplifikatmenge. Diese abgewandelte PCR erlaubt somit eine starke und sehr spezifische DNA-Amplifikation. Anwendungsgebiete Die PCR kommt als Methode zur Detektion und Vervielfältigung von DNA-Abschnitten in einer Vielzahl von Anwendungsgebieten zum Einsatz. Forschung Das Klonieren eines Gens – nicht zu verwechseln mit dem Klonen eines ganzen Organismus – ist ein Vorgang, bei dem ein Gen aus einem Organismus isoliert und anschließend in einen anderen eingepflanzt wird. PCR wird oft benutzt, um das Gen zu vervielfältigen, das dann in einen Vektor (ein Vektor ist ein Mittel, mit dem ein Gen in einen Organismus verpflanzt werden kann), beispielsweise ein Plasmid (ein ringförmiges DNA-Molekül), eingefügt wird (siehe Abbildung). Die DNA kann anschließend in einen anderen Organismus eingesetzt werden, in dem das Gen oder sein Produkt besser untersucht werden kann. Das Exprimieren eines klonierten Gens kann auch zur massenhaften Herstellung nutzbarer Proteine wie z. B. Arzneimittel dienen. Mutagenese ist eine Möglichkeit, die Sequenz der Nukleotide (Basen) der DNA zu verändern. Es gibt Situationen, in denen man mutierte (veränderte) Kopien eines bestimmten DNA-Strangs benötigt, um die Funktion eines Gens zu bestimmen. Mutationen können in kopierte DNA-Sequenzen auf zwei grundsätzlich verschiedene Arten während des PCR-Prozesses eingefügt werden. Gezielte Mutagenese (engl. site-directed mutagenesis) erlaubt es dem Forscher, an spezifischen Stellen auf dem DNA-Strang Mutationen zu erzeugen. Meist wird dafür die gewünschte Mutation in die Primer integriert, die für die PCR verwendet werden. Bei der gezielten bzw. stellenspezifischen Mutagenese ist mindestens einer der Primer nicht hundertprozentig identisch mit der DNA, an die er sich anlagert. Während der Amplifikation wird so eine Mutation in das DNA-Fragment eingeführt. Zufällige Mutagenese (engl. random mutagenesis) beruht hingegen auf der Verwendung von fehlerträchtigen Polymerasen (bzw. Polymerasen ohne Mechanismus zur Fehlerkorrektur) während des PCR-Prozesses. Bei der zufälligen Mutagenese können Ort und Art der Mutationen nicht beeinflusst werden und müssen erst durch eine Sequenzierung identifiziert werden. Eine Anwendung der zufälligen oder gezielten Mutagenese ist die Analyse der Struktur-Funktions-Beziehungen eines Proteins. Nach der Veränderung der DNA-Sequenz kann man das entstandene Protein mit dem Original vergleichen und die Funktion aller Teile des Proteins bestimmen. Zudem können damit auch Funktionen der Nukleinsäure selbst (mRNA-Transport, mRNA-Lokalisation etc.) untersucht werden. Gängige Methoden der DNA-Sequenzierung (Bestimmung der Nukleotid-Abfolge von DNA) basieren auf Varianten der PCR. Die Illumina Sequenzierungsmethode (Sequenzierung mit Brückensynthese) beruht auf einer Festphasen-PCR, bei der die zu sequenzierende DNA zufällig fragmentiert, mit Oligonukleotiden (Adaptersequenzen) ligiert und über komplementäre Adaptersequenzen an einer Oberfläche fixiert wird. Bei der anschließenden PCR dienen die Adaptersequenzen als Primer. Zur Sequenzierung werden hierbei spezielle Nukleotide verwendet, die mit verschiedenfarbigen fluoreszierenden Markern versehen sind. Während der Amplifikation kann über die jeweils detektierte Farbe das eingebaute Nukleotid zugeordnet werden. Andere Sequenzierungsmethoden basieren auf der Emulsions-PCR. Beispiele sind die Zwei-Basen-Sequenzierung (engl. Sequencing by Oligo Ligation Detection, SOLiD) oder das Ionen-Halbleiter-DNA-Sequenzierungssystem (Ion Torrent Sequenzierungsmethode). Medizin und Diagnostik Die Erkennung von Erbkrankheiten in einem vorliegenden Genom ist ein langwieriger und komplizierter Vorgang, der durch den Einsatz von PCR bedeutend verkürzt werden kann. Jedes Gen, das in Frage kommt, kann durch PCR mit den entsprechenden Primern amplifiziert (= vervielfältigt) und anschließend sequenziert werden (DNA sequenzieren heißt, die Sequenz der Nukleotide (oder Basen) der DNA zu bestimmen), um Mutationen aufzuspüren. Virale Erkrankungen können ebenfalls durch PCR erkannt werden, indem man die Virus-DNA vervielfältigt bzw. bei RNA-Viren diese RNA erst in DNA umschreibt und dann mittels PCR vervielfältigt (die RT-PCR). Diese Analyse kann sofort nach der Infektion erfolgen, oft Tage oder Wochen vor dem Auftreten der Symptome. Erfolgt die Diagnose so früh, erleichtert das den Medizinern die Behandlung erheblich. Darüber hinaus wird die quantitative PCR auch für die Diagnostik verwendet, z. B. um die genaue Viruslast bei einer bekannten HIV-Infektion zu bestimmen, um die Entwicklung des Therapieerfolgs nachzuvollziehen. Die PCR kann auch zu Reihenuntersuchungen eingesetzt werden. So wird sie z. B. von Blutspendediensten zur Routineuntersuchung von Blutkonserven eingesetzt. Die Empfindlichkeit des PCR-Tests erlaubt es, Proben zu sogenannten Pools (z. B. 64 Einzelproben) zusammenzufassen. Ist der Test eines Pools positiv, wird die Anzahl der zusammengefassten Proben solange verringert (meistens halbiert), bis die verursachende Probe identifiziert ist. Zur sicheren Diagnostik und Absicherung von eventuell falsch-positiven Antigen-Schnelltests bei der COVID-19-Erkrankung wird die PCR ebenfalls eingesetzt. Forensik, Paläontologie und Biologische Anthropologie Der genetische Fingerabdruck ist ein DNA-Profil, das für jedes Individuum einzigartig ist. In der Forensik wird der genetische Fingerabdruck genutzt, um kleinste Spuren von an Tatorten gefundener DNA mit der DNA von Verdächtigen zu vergleichen. Als Proben können Blut, Sperma, Speichel, Hautzellen, oder Haare mit anhaftenden Zellen dienen. Die DNA wird aus den Zellkernen der in den Proben enthaltenen Körperzellen extrahiert, aufgereinigt und analysiert. Bei der Analyse wird die PCR genutzt, um spezielle DNA-Abschnitte zu vervielfältigen, die sich in nicht-codierenden Bereichen der DNA (junk DNA) befinden und aus Wiederholungen bestimmter kurzer Sequenzen (Tandemwiederholungen) bestehen. Die Anzahl der Tandemwiederholungen (und damit die Länge der Sequenzen) sind zwischen verschiedenen Individuen sehr variabel. Da mehrere unterschiedliche DNA-Abschnitte auf die jeweilige Anzahl der Tandemwiederholungen hin untersucht werden, entsteht ein individuelles Muster aus PCR-Produkten charakteristischer Längen. Abstammungsgutachten oder Vaterschaftstests basieren ebenfalls auf dem genetischen Fingerabdruck (siehe Abbildung). In der Molekularen Phylogenie zur Untersuchung evolutionärer Verwandtschaftsverhältnisse von Organismen. Analyse alter (fossiler) DNA: Da die PCR aus nur geringen DNA-Probemengen eine beliebige Menge von Material erzeugen kann, ist sie besonders für die sehr alte aDNA geeignet, die in der Natur nur noch in für Untersuchungen nicht mehr ausreichenden Mengen vorkommt. Dabei beruhen nahezu alle wissenschaftlichen Erkenntnisgewinne in Bezug auf die aDNA und somit viele seit langem ausgestorbener Arten auf der Methode der PCR. Lebensmittelanalytik Die steigenden Anforderungen von Handel und behördlicher Lebensmittelüberwachung zur Aufklärung und Verhinderung von unlauterem Wettbewerb führten zum Einzug der Technologie in die Lebensmittelanalytik. So kann die PCR zur Identifizierung von Gewürzen in komplexen Lebensmittelmatrizes herangezogen werden. Sie kann auch zur Unterscheidung von Varietäten bei Edelkakao z. B. Criollo und Forastero eingesetzt werden. Literatur C. R. Newton, A. Graham: PCR. Introduction to Scientific Techniques. 2. Auflage. ed. BIOS Scientific Publishers, Oxford 1997, ISBN 1-872748-82-1. R. K. Saiki, D. H. Gelfand, S. Stoffel, S. J. Scharf, R. Higuchi, G. T. Horn, K. B. Mullis, H. A. Erlich: Primer-Directed Enzymatic Amplification of DNA with a Thermostable DNA Polymerase (PDF; 1,2 MB). In: Science. 239.1988, S. 487–491, PMID 2448875, Kary B. Mullis, F. Faloona, S. Scharf, R. Saiki, G. Horn, H. Erlich: Specific enzymatic amplification of DNA in vitro: the polymerase chain reaction. Cold Spring Harb Symp Quant Biol. 1986;51 Pt 1:263-73. Kary B. Mullis: The polymerase chain reaction. Birkhäuser, Boston 1994, ISBN 3-7643-3607-2. Rabinow, Paul: Making PCR: A Story of Biotechnology, University of Chicago Press, 1996, ISBN 0-226-70146-8. D. Baltimore: RNA-dependent DNA polymerase in virions of RNA tumor viruses. In: Nature 226, 1970, S. 1209–1211. Weblinks Animation der PCR mit Beschreibung (deutsch) Einzelnachweise Molekularbiologie Lebensmittelanalytik Nukleinsäure-Methode Gentechnik Wikipedia:Artikel mit Video