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https://de.wikipedia.org/wiki/Indigo
Indigo
Indigo (von ; nach dem Herkunftsgebiet Ostindien) ist eine tiefblaue, kristalline organisch-chemische Verbindung. Er ist ein organisches Pigment mit hoher Farbstärke und schwer löslich in Wasser. Indigo ist der Namensgeber für die Gruppe der Indigoiden Farbstoffe, deren chemische Struktur eng mit der des Indigo verwandt ist. Der gleichnamige Farbton Indigo ist ebenfalls nach ihm benannt. Am ehesten lässt er sich als der letzte erkennbare Blauton, bevor es in ein bläuliches Violett übergeht, umschreiben. Indigo ist im Colour Index als Pigment unter der Bezeichnung C.I. Pigment Blue 66 und als Küpenfarbstoff unter C.I. Vat Blue 1 geführt. Indigo ist eines der ältesten und bekanntesten Pigmente und wurde schon in prähistorischer Zeit zum Einfärben von Textilien verwendet. Früher wurde der Indigo aus Pflanzen wie den Blättern des Färberwaids oder aus der Indigopflanze gewonnen. Ab 1865 entwickelte Adolf von Baeyer verschiedene Synthesewege für Indigo und bestimmte seine chemische Struktur. Für seine Arbeiten zur Farbstoffchemie erhielt er 1905 den Nobelpreis für Chemie. Indigo spielte eine wichtige Rolle für die Weiterentwicklung der Organischen Chemie, besonders die Beziehung zwischen der Farbe und der Struktur des Moleküls und seiner Derivate wurde intensiv untersucht und trug so zur Entstehung einer allgemeinen Farbstofftheorie bei. Mit der Entwicklung von industriellen Syntheseverfahren gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann die großtechnische und kostengünstige Produktion von Indigo, worauf der Markt für natürliches Indigo zusammenbrach. Heutzutage werden mehrere zehntausend Tonnen Indigo pro Jahr synthetisch produziert, der überwiegend zum Färben von Denim-Baumwollstoffen für die Herstellung von Blue Jeans verwendet wird. Vorkommen Indigo kann aus der indischen Indigopflanze (Indigofera tinctoria) oder dem europäischen Färberwaid (Isatis tinctoria) gewonnen werden. Eine Reihe weiterer Pflanzen eignet sich zur Gewinnung von Indigo, darunter der Gewöhnliche Teufelsabbiss (Succisa pratensis), die Indigolupine (Baptisia australis), der Färberoleander (Wrightia tinctoria) oder der Färberschwalbenwurz (Marsdenia tinctoria). In China wurde der Chinesische Waid (Isatis indigotica) verwendet. In Amerika wurde der Bastardindigo (Amorpha fruticosa) und in Japan der Färber-Knöterich (Polygonum tinctorium, syn. Persicaria tinctoria) für das Blaufärben benutzt. Im Vergleich zu Färberwaid liefert Indigo die dreißigfache Farbstoffmenge, so dass dessen Anbau in Europa im 17. Jahrhundert unrentabel wurde. Indigo wird heute noch in Brasilien und El Salvador kultiviert. Man nutzt die farbstoffreichen Arten Indigofera arrecta und Indigofera sumatrana. Die UNESCO fördert verschiedene Projekte zur Anpflanzung von Indigo-haltigen Pflanzen, unter anderem im Jordantal und am Aralsee. Geschichte Seit dem Altertum gehört Indigo zu den gebräuchlichsten und am häufigsten verwendeten Farbmitteln. Vor dem Beginn der synthetischen Produktion wurde er aus verschiedenen indigohaltigen Pflanzen gewonnen. Letztere werden häufig mit dem artspezifischen Epitheton tinctoria bezeichnet, einem lateinischen Wort für das Färben. In Europa diente bis zum 17. Jahrhundert der Färberwaid, Isatis tinctoria, aus der Familie der Kreuzblütengewächse zum Blaufärben. Er stammt ursprünglich aus Vorderasien, wurde aber bereits in vorchristlicher Zeit in Europa als Färbepflanze kultiviert. Das Färben mit Indigo bildet die Grundlage für Jahrhunderte alte Textiltraditionen in ganz Westafrika. Der von den Tuareg-Nomaden der Sahara getragene, mit Indigo gefärbte Tagelmust symbolisiert Reichtum und Gesundheit. Wegen der dortigen wasserarmen Färbeverfahren ist der Indigo nicht sehr abriebfest und dringt in die Haut des Trägers ein, weshalb die Tuareg als die „blauen Männer der Wüste“ bezeichnet werden. Die Yoruba, Mandinka und Hausa färben ihre Kleidung ebenfalls mit Indigo. Altertum bis Spätmittelalter Die Nutzung von Indigo lässt sich in 6000 Jahre alten Baumwollstoffen aus dem präkeramischen Werk von Huaca Prieta de Chicama an der Nordküste Perus in Spuren nachweisen In Ägypten wurden Mumien aus der fünften Dynastie des Alten Reichs gefunden, etwa 4400 Jahre vor der Gegenwart, die in Indigo-gefärbte Mumienbänder eingewickelt waren. Japan und südostasiatische Länder nutzen seit Jahrhunderten Indigo als Farbstoff. Das Farbmittel war weiterhin in Mesopotamien, im Iran und in Afrika bekannt. Pflanzen zur Gewinnung von Indigo wurden vor allem in Indien angebaut. Der Indigo wurde über Barbarikon am Indus nach Ägypten verschifft. Von dort gelangte er nach Griechenland und Italien, wo er als Luxusprodukt angesehen wurde. Caesar berichtete um 50 v. Chr. in De bello Gallico, dass sich die Kelten vor kriegerischen Auseinandersetzungen mit Färberwaid einrieben, um ihre Haut blau zu färben. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere beschrieb Indigo um 77 n. Chr. in seinem Werk Naturalis historia. Laut Plinius genoss Indigo in der antiken Welt das höchste Ansehen nach Purpur. Er gab als Herkunftsland Indien an, was sich im lateinischen Wort Indicum ausdrückt, von dem sich die heutige Bezeichnung Indigo ableitet. Ein anderer Begriff für den Farbstoff ist Anil, der sich vom arabischen Begriff für Blau, an-Nil, ableitet und sich als Bestandteil von Namen wie Anilin wiederfindet. Karl der Große regelte im 8. Jahrhundert den Anbau von Färberwaid zur Indigogewinnung in seiner Landgüterverordnung Capitulare de villis vel curtis imperii. In Europa war der Farbstoff aus der Indigo-Pflanze bis zum 12. Jahrhundert selten, er wurde nur in kleinen Mengen über Syrien und Alexandria aus Indien importiert. Bis zum 17. Jahrhundert wurde Färberwaid zur Indigogewinnung in England, Frankreich und Deutschland angebaut. In Deutschland lag das größte Anbaugebiet in Thüringen, wobei ungefähr 3750 Hektar mit der Pflanze bestellt waren. Frühe Neuzeit Mit der europäischen Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama begann der direkte Import von indischem Indigo (genannt auch „der gerechte Indig, welcher in indianischer Röhre wächst“) nach Europa durch portugiesische Seefahrer. Die niederländischen Kaufmannskompanien gründeten 1602 die Niederländische Ostindien-Kompanie und steigerten in der Folgezeit die Indigoeinfuhr aus Indien und Indonesien weiter. Spanien begann zu dieser Zeit mit dem Anbau in Guatemala und Venezuela, Frankreich ließ den Indigo in San Domingo anbauen und England begann um 1700 mit dem Anbau in Carolina. Da der Indigogehalt des Färberwaids nur etwa 3–4 % der Indigofera-Pflanze betrug, verdrängte der Indigo aus dem tropischen Indigofera tinctoria, trotz protektionistischer Einfuhrbestimmungen diesen schließlich. Nach der Niederlage im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1783 und dem damit verbundenen Verlust der nordamerikanischen Anbauflächen verstärkte England den Indigoanbau in Bengalen. Besonders ehemalige Mitarbeiter der East India Company, sogenannte Pflanzer, begannen mit der Kommerzialisierung des Indigoanbaus in Bihar und Bengalen. Durch betrügerische Verträge und überhöhte Zinssätze für die Beschaffung des Saatguts erzielten die Pflanzer große Gewinne, während die Bauern nur geringen Profit erwirtschafteten. Diese Umstände führten 1859–1862 zu den Indigo-Unruhen, der ersten Bauernbewegung in Bengalen und Bihar gegen die ausbeuterischen Methoden der europäischen Pflanzer. Die Unruhen endeten mit der Abschaffung der Anbaupflicht für Indigo, dennoch stellte der Indigofera-Anbau in Indien weiterhin einen enormen Industriezweig dar, der sich überwiegend in britischem Besitz befand. Waffenröcke, Matrosenuniformen und die blaue Arbeitskleidung der Arbeiter wurden mit diesem Farbstoff gefärbt. Allein in Bihar waren rund 1,5 Millionen Menschen mit dem Indigo-Anbau beschäftigt. Im Jahr 1897 betrug die Anbaufläche in Indien etwa 7000 Quadratkilometer und zu dieser Zeit wurden pro Jahr rund 8000 Tonnen reinen Indigos im Wert von 100 Millionen Mark produziert. Chemische Synthese gegen Ende des 19. Jahrhunderts Mit der ersten erfolgreichen Synthese des Farbstoffs Mauvein 1856 durch William Henry Perkin begann ein Wettbewerb in Wissenschaft und Industrie um die Entwicklung neuer Teerfarben. Die Synthese von Indigo, dem „König der Farbstoffe“, gelang 1878 dem deutschen Chemiker Adolf von Baeyer, der 1883 dessen chemische Struktur aufklärte. Die Chemiefirmen BASF und Farbwerke vorm. Meister, Lucius & Brüning, die späteren Farbwerke Hoechst, verständigten sich 1880 gemeinsam darauf, die Syntheserouten von Baeyer zu einem technischen Verfahren zu entwickeln. Die Synthesewege von Baeyer eigneten sich jedoch nicht für die industrielle Produktion, da die benötigten Rohmaterialien zur damaligen Zeit nicht kostengünstig herzustellen waren. Eine bedeutende Erfindung für die Küpenfärberei mit Indigo gelang Paul Schützenberger 1873 mit der Einführung von Natriumdithionit als Reduktionsmittel. Mit dem von der BASF ab 1906 großtechnisch hergestellten Reduktionsmittel war es möglich, Leuko-Indigo in einfacher Form herzustellen. 1881 nahm die BASF die Produktion von „Kleinen Indigo“ auf, bei der ein Vorprodukt des synthetischen Indigos direkt auf der Textilfaser zu Indigo reduziert wurde. Wegen geringer Marktakzeptanz stellte die BASF das Verfahren jedoch kurze Zeit später wieder ein. Eine im Jahr 1890 von Karl Heumann entwickelte Synthese, ausgehend von N-Phenylglycin, die sogenannte 1. Heumann-Synthese, schien erfolgversprechender. Doch da die Ausbeuten bei diesem Verfahren sehr niedrig waren, stellte die BASF im Jahr 1893 diese Verfahrensentwicklung wieder ein. Die schlechten Ausbeuten der ersten Heumann-Synthese konnte durch Verwendung von Anthranilsäure als Ausgangsmaterial verbessert werden. Durch die zufällige Entdeckung der katalytischen Oxidation des Naphthalins mit Oleum unter Zusatz von Quecksilbersulfat zu Phthalsäure durch Eugen Sapper stand der BASF das notwendige Rohmaterial für die Synthese der Anthranilsäure zur Verfügung. Das anfallende Schwefeldioxid konnte im von Rudolf Knietsch bei der BASF zur industriellen Reife entwickelten Kontaktverfahren wieder aufgearbeitet werden. Nach dieser Synthesevariante brachte die BASF den ersten synthetischen Indigo im Juli 1897 unter Einsatz hoher Investitionen auf den Markt. 1901 fand Johannes Pfleger bei der Degussa eine Variante der Heumann-Synthese, die der Degussa und den Farbwerken Hoechst ebenfalls die Kommerzialisierung des Indigos erlaubte. Infolge der Konkurrenz zwischen den Chemieunternehmen fiel der Preis für Indigo pro Kilogramm von etwa 20 auf 4 Reichsmark. 1904 schlossen BASF und die Farbwerke Hoechst die „Indigo-Konvention“, ein Kartell zur Ausschaltung des Wettbewerbs, die einen Marktpreis von 8 Reichsmark pro Kilogramm festlegte. Mit dem Beginn der industriellen Herstellung verlor der natürliche Indigo innerhalb weniger Jahre große Marktanteile. 1914 hatte der natürliche Indigo nur noch einen Anteil von 4 % am Weltmarkt. Der Erste Weltkrieg und die damit verbundene Seeblockade, die Deutschland keinen Export erlaubte, führte zu einem kurzer Anstieg der pflanzlichen Indigo-Produktion. Nach dem Weltkrieg verdrängte die synthetische Herstellung von Indigo die Gewinnung aus Pflanzenmaterial völlig. Der synthetische Indigo bot eine höhere und konstante Reinheit und war daher leichter anwendbar. Außerdem waren die Färber nicht mehr auf den Ausgang der Färberpflanzenernte angewiesen. Nach dem Ersten Weltkrieg Durch neu entwickelte synthetische blaue Farbstoffe wie Indanthren verlor Indigo zunehmend Marktanteile. Erst die Verbreitung der Jeansmode seit Mitte der 1960er-Jahre sorgte für eine erneute Nachfrage nach Indigo. Im Jahr 2011 verbrauchte die Färbung von Jeansstoffen mehr als 95 % der jährlich produzierten etwa 50.000 Tonnen synthetischen Indigos. Er gehört damit zu den meistangewendeten Pigmenten für die Textilfärbung, mit dem pro Jahr über eine Milliarde Blue Jeans gefärbt werden. Die Forschung auf dem Gebiet der Indigoherstellung und -anwendung konzentriert sich heutzutage auf die Entwicklung wasserarmer Färbeverfahren oder die elektrochemische Reduktion zum Leuko-Indigo sowie die Verwendung von Wasser als Lösungsmittel für die Synthese und die Umkristallisation von Indigo. Herstellung Gewinnung aus Färberpflanzen Die Färberpflanzen enthalten kein Indigo, sondern eine Vorstufe, das Indikan, ein Glycosid des Indoxyls. Strukturformel von Indikan, ein Glycosid Diese wird zunächst durch Gärung unter Abspaltung des Zuckerrestes in Indoxyl, einem Derivat des Indols, umgewandelt. Strukturformel von Indoxyl, Gleichgewicht zwischen Keto- und Enolform Durch anschließende Oxidation an der Luft entsteht aus dem gelben Indoxyl der blaue Indigo. Oxidation von Indoxyl zu Indigo Die traditionelle Gewinnung in Indien erfolgte in sogenannten Indigoterien. Die Gewinnung erfolgt in zwei höhenversetzten Becken. Die frisch geerntete Indigopflanze wurde in einem ersten, höher gelegenen Becken geschichtet und mit Wasser übergossen. Die Pflanzenteile wurden mit Steinen und Balken beschwert, um sie vollständig unter Wasser zu halten. In diesem Becken setzte bei entsprechend hohen Umgebungstemperaturen die Vergärung des Indikans zu Indoxyl ein. Nach Beendigung der Gärung wurde das indoxylhaltige Wasser in ein tiefer gelegenes Becken abgelassen und dort mechanisch belüftet. Die Arbeiter stiegen dazu in das Becken und schlugen mit Latten oder Ähnlichem auf die wässrige Lösung ein, um Luft einzubringen. Das durch Oxidation entstehende Indigo wurde abfiltriert und eingekocht. Anschließend erfolgten die Portionierung und die abschließende Trocknung an Luft. Die Reinheit des so gewonnenen Indigos lag zwischen 15 und 70 %. Diese wurde durch fraktionierte Fällung aus Schwefelsäure erhöht. Neben organischen Verunreinigungen enthält das natürliche Indigo anorganische Bestandteile wie Kieselsäure, Phosphorsäure, Tonerde und viele weitere in Spuren. Die Biosynthese der Indigovorläufer in höheren Pflanzen wurde mit Hilfe der Isotopenmarkierung erforscht und erfolgt wahrscheinlich über den Shikimisäureweg: Biosynthese der Indigo-Vorstufe Indoxyl über den Shikimisäureweg Dabei wird Shikimat (1) in mehreren Stufen zu Chorismat (2) umgewandelt. Durch die Anthranilatsynthase wird diese zum Anthranilat (3) umgebildet. Das Enzym Anthranilat-Phosphoribosyltransferase (EC 2.4.2.18) katalysiert die Reaktion zum N-(5-Phospho-D-ribosyl)-anthranilat, das wiederum durch die Phosphoribosylanthranilat-Isomerase (EC 5.3.1.24) zum 1-(o-Carboxyphenylamino)-1-desoxribulose-5-phosphat (4) reagiert. Durch Ringschluss unter Decarboxylierung erhält man das Indol-Derivat 5, das schließlich in die Aminosäure Tryptophan (6) überführt wird. Die Bildung von Indoxyl (7) aus Tryptophan, bei der die Enzyme Trypthophanase und Dioxygenase eine Rolle spielen, konnte bislang nicht in allen Einzelheiten geklärt werden. Synthesen nach Adolf von Baeyer Adolf von Baeyers erste vollsynthetische Herstellung von Indigo erfolgte durch Reduktion von Isatin, welches er zuvor als Abbauprodukt des Indigo identifiziert hatte. Ausgehend von Phenylessigsäure gelangte er in mehreren Schritten zum Oxindol, das er weiter zum Isatin oxidierte. Über die Chlorierung des Isatins mit Phosphorpentachlorid zum Isatinchlorid und anschließender Reduktion mit Zink in Essigsäure gelangte er zum Indigo. Synthese von Indigo nach Baeyer ausgehend vom Isatin Eine von Baeyer und Drewsen entwickelte Syntheseroute (Baeyer-Drewsen-Reaktion) führte über die Aldoladdition von ortho-Nitrobenzaldehyd und Aceton über die Zwischenstufe des o-Nitrophenylmilchsäureketons zum Indigo. Diese Syntheseroute ist einfach und nützlich für die Darstellung von Indigo und vieler seiner Derivate im Labormaßstab. Synthese von Indigo nach Baeyer ausgehend von Nitrobenzaldehyd Beide Syntheserouten ließen sich nicht kostengünstig in einen industriellen Prozess überführen. Baeyer entwickelte eine weitere Syntheseroute, die von Zimtsäure ausging. Die Nitrierung der veresterten Zimtsäure ergibt nach der Esterhydrolyse die o-Nitrozimtsäure. Durch Bromierung und zweifache Dehydrobromierung erhält man die o-Nitrophenylpropiolsäure, die sich durch Kochen mit Alkali in das Isatin und anschließender Reduktion in Indigo überführen lässt. Synthese von Indigo nach Baeyer ausgehend von Zimtsäure Heinrich Caro, Forschungsleiter der BASF und enger Freund Baeyers entdeckte, dass die isolierbare Zwischenstufe o-Nitrophenylpropiolsäure sich unter milden alkalischen Bedingungen mit Natriumxanthogenat direkt auf der Faser zu Indigo umsetzen ließ. Dieses sogenannte „Kleine Indigo“ stellte die BASF einige Jahre her, jedoch ohne großen Markterfolg. Synthesen nach Karl Heumann Im Jahr 1890 entwickelte der Zürcher Chemiker Karl Heumann eine neue Syntheseroute, ausgehend von N-Phenylglycin (1. Heumann-Synthese). Der Chemiekonzern BASF und die Farbwerke Hoechst patentierten und entwickelten das Verfahren weiter. Die Versuchsreihe mit Phenylglycin wurde von der BASF im Jahr 1893 wieder eingestellt, da die Indigoausbeute sehr niedrig war. 1. Heumann-Synthese (Anilin (1), Chloressigsäure (2), N-Phenylglycin (3), Indoxyl (4), Indigo (5)) Einen alternativen Syntheseweg entwickelte Heumann 1897. Durch die Umsetzung von Anthranilsäure mit Chloressigsäure gelangte Heumann zur Phenylglycin-o-carbonsäure. Wird diese Substanz in einer inerten Atmosphäre mit Kaliumhydroxid auf 200 °C erhitzt, bildet sich 2-Indoxylcarbonsäure. Dieses Material decarboxyliert leicht zu Indoxyl, das an Luft zu Indigo oxidiert (2. Heumann-Synthese). 2. Heumann-Synthese (Anthranilsäure (1), Chloressigsäure (2), Phenylglycin-o-carbonsäure (3), 2-Indoxylcarbonsäure (4), Indoxyl (5), Indigo (6)) Industrielle Produktion Ein zerbrochenes Thermometer führte zufällig zu der Erkenntnis, dass Quecksilbersulfat sich als Katalysator für die Oxidation des bei der Teerfarbstoffindustrie in großen Mengen anfallenden Naphthalins zu Phthalsäure eignete. Durch Reaktion mit Ammoniak ließ sich die Phthalsäure in das Säureamid überführen. Mittels anschließender Hofmann-Umlagerung gelangte die BASF zu Anthranilsäure, die im großtechnischen Maßstab als Ausgangsstoff für die Heumann-Synthese benötigt wurde. Herstellung von Anthranilsäure mittels Hofmann-Umlagerung des Phthalimids Mittels der 2. Heumann-Synthese konnte die Anthranilsäure zu Indigo in Ausbeuten von 70 bis 90 % verarbeitet werden. Ab 1897 stellte die BASF synthetischen Indigo großtechnisch nach diesem Verfahren her. 1901 gelang der Degussa mit einem Verfahren von Johannes Pfleger, mittels Natriumamid, welches im Castner-Kellner-Verfahren zur Herstellung von Natriumcyanid hergestellt wurde, und einer Alkalischmelze N-Phenylglycin bei einer Temperatur von etwa 200 °C Indigo in hohen Ausbeuten zu erhalten (Heumann-Pfleger-Synthese). Das Natriumamid dient dabei als wasserentziehendes Mittel. Dieses Verfahren wurde gemeinsam mit den Farbwerken Hoechst vermarktet: Heumann-Pfleger-Synthese Nach diesem Verfahren produziert die BASF seit 1926 Indigo. Die BASF entwickelte 1905 eine Verfahrensvariante der Heumann-Pfleger-Synthese, bei der das teure Natriumamid durch billigeres Calciumoxid ersetzt wurde. Das Verfahren wurde auf eine früher entwickelte Syntheseroute übertragen. Dabei wird Anilin mit Ethylenchlorhydrin zu 2-Anilinoethanol umgesetzt, das sich in einer Natriumhydroxid-Kaliumhydroxid-Calciumoxidschmelze bei Temperaturen von etwa 280 °C bei befriedigenden Ausbeuten zu Indoxyl umsetzt. Nach diesem Verfahren produzierte die BASF von 1909 bis 1924. Seit 1924 basierte die Indigosynthese der BASF auf Phenylglycinnitril, das aus Anilin hergestellt wurde. In allen Fällen entsteht Indoxyl, das durch Luftsauerstoff zu Indigo oxidiert. Die naheliegende Vermutung, dass die Bildung von Indigo durch basenkatalysierte Kondensation zwischen Isatin und Indoxyl abläuft, konnte durch mechanistische Untersuchungen ausgeschlossen werden. Die Oxidation von Indoxyl in basischer Lösung erfolgt wahrscheinlich über ein radikalisches Zwischenprodukt. Ob die Bildung über die Kupplung von zwei Indoxylradikalen oder der Kupplung eines Indoxylradikals und eines Indoxylanions verläuft, konnte experimentell nicht eindeutig geklärt werden. Mikrobiologische Synthese Schon in den 1920er-Jahren wurde beobachtet, dass Bodenbakterien Indigo aus Indol synthetisieren können. Mittlerweile sind eine Reihe mikrobieller Indigoproduzenten wie Pseudomonas putida bekannt, die aus aromatischen Kohlenwasserstoffen wie Naphthalin, Cumol oder Styrol Indigo bilden können. Das für die Indigobildung verantwortliche Enzymsystem besteht aus einem oder mehreren Enzymen, typischerweise Monooxygenasen, Dioxygenasen oder Hydroxylasen. Die größten Probleme der mikrobiologischen Route sind die hohe Verdünnung des Indigos und der Aufwand für die Abtrennung der beträchtlichen Menge organischen Materials. Bislang konnte eine mikrobiologische Syntheseroute daher nicht kommerzialisiert werden. Handelsformen Große europäische Produzenten von Indigo sind DyStar, ursprünglich ein Gemeinschaftsunternehmen von Bayer, Hoechst und BASF und seit 2010 in chinesisch-indischem Besitz, sowie Archroma, ein Spin-Off des Schweizer Konzerns Clariant. Im asiatischen Raum gibt es eine Vielzahl von Herstellern, unter anderem TaiFeng Chemical Industrial, Zhejiang Runtu oder Bodal Chemicals. Indigo ist in nichtreduzierter oder in vorreduzierter Form erhältlich. Die nichtreduzierten Qualitäten sind als Granulat, Pulver oder alkalische Paste erhältlich. Typische Handelsformen der Paste enthalten 20 bis 30 % Indigo. Die vorreduzierten Lösungen sind in Konzentration von 20 bis 60 % erhältlich. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Indigo besitzt einen recht hohen Schmelzpunkt von etwa 390–392 °C und sublimiert bei einer Temperatur von 170 °C. Er ist schlecht löslich in Wasser, Ethanol und Diethylether. Dies begründet sich darin, dass Indigo im festen Zustand ein Wasserstoffbrücken-Polymer bildet. Röntgenstrukturanalysen haben gezeigt, dass dabei jedes Indigomolekül an vier umgebende Moleküle gebunden ist. Indigo kristallisiert monoklin in der Raumgruppe  mit den Gitterparametern a = 924 pm; b = 577 pm; c = 1222 pm und β = 117,0°, Z = 2. Das Infrarotspektrum lässt sich mittels ATR-Infrarotspektroskopie ermitteln. Charakteristisch ist die Streckschwingung der Carbonylgruppe bei einer Wellenzahl von 1623 cm−1. Eine intensive Bande bei 1065 cm−1 wird der Vibration des fünfgliedrigen Rings zugeschrieben. Molekulare Eigenschaften Indigo besitzt eine planare Struktur mit einer C2h-Symmetrie. Die photochemische Stabilität von Indigo ist auf intramolekulare Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den benachbarten Carbonyl- und sekundären Aminogruppen zurückzuführen. Diese stabilisieren das Molekül in einer planaren trans-Konfiguration und inhibieren so eine photochemische cis-trans-Isomerisierung. Wasserstoffbrückenbindungen (gepunktet) im Indigo Die Farbigkeit eines Moleküls ergibt sich aus dessen Fähigkeit zur Absorption elektromagnetischer Strahlung. Wenn diese im Bereich des sichtbaren Lichts erfolgt, erscheint der Stoff farbig. Als Farbe wird immer die Komplementärfarbe zur Farbe des absorbierten Lichts wahrgenommen. Die Bedingung für Farbigkeit ist daher das Vorkommen von Elektronen, die durch sichtbares Licht angeregt werden. Nach der Farbstofftheorie nach Witt besteht ein Farbstoff aus einem Chromophor (, ), zum Beispiel einem delokalisierten π-Elektronensystem, das die Farbigkeit möglich macht sowie einem Auxochrom (von und ), etwa ein Elektronendonator mit einem +M-Effekt, der das Absorptionsmaximum des Chromophors in den längerwelligen Bereich des Spektrums verschiebt. Indigo weist zwei konjugierte Carbonylgruppen als Chromophor auf. Aufgrund dieses Strukturelements gehört Indigo zur Gruppe der Carbonylfarbstoffe. Chromophores System von Indigo (rot) Die Absorption elektromagnetischer Strahlung bedingt einen Elektronenübergang vom höchsten besetzten Molekülorbital (HOMO) ins niedrigste unbesetzte Molekülorbital (LUMO). Falls keine auxochrome Gruppe vorhanden ist, ist die Energiedifferenz zwischen HOMO und LUMO relativ groß und die Absorption durch den π → π*-Übergang erfolgt im nicht sichtbaren Bereich. Das freie Elektronenpaar der sekundären Aminogruppe des Indigos dient als Elektronendonator und tritt in Wechselwirkung mit dem π-System des Chromophors. Dadurch bilden sich drei neue Molekülorbitale π1, π2 und π*3, wobei die Energiedifferenz zwischen HOMO und LUMO geringer wird. Der π2 → π*3-Übergang erfolgt dadurch beim Indigo durch Licht im orangen Bereich. Indigo erscheint daher blau. Chemische Eigenschaften Die Elementaranalyse des Indigo liefert eine empirische Summenformel von C8H5NO. Durch kryoskopische Messungen ergibt sich eine Molekülformel von C16H10N2O2. Indigo ist ein sehr licht- und temperaturstabiles Molekül. Bei höheren Temperaturen von etwa 460 °C lagert es sich unter Bruch der Bindungen zwischen den Carbonylgruppen und der zentralen Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung zum Dibenzonaphthyridindion um. Thermische Isomerisierung von Indigo zu Dibenzonaphthyridindion Im Alkalischen zerfällt das Molekül bei höheren Temperaturen in Verbindungen wie Anilin und Anthranilsäure. In konzentrierter Schwefelsäure erfolgt die Sulfonierung zum Indigokarmin. Oxidation mit Kaliumpermanganat liefert Isatin. Indigo lässt sich im schwach sauren und alkalischen Bereich leicht reduzieren. Die Leuko-Form liegt unterhalb eines pH-Werts von 5,5 in der Keto-Form vor. Im Bereich zwischen 5,5 und 11 liegt das Mono-Enolat und ab einem pH-Wert von 11 das Di-Enolat vor. Reduktion von Indigo zur Leuko-Form (abhängig vom pH-Wert als Di-Enolat, Mono-Enolat oder Diketon) Mit Chlorsulfonsäure bildet die Leuko-Form Natriumsalze der Schwefelsäureester, sogenannte Indigosole. Die Indigosole sind wasserlöslich und eignen sich zur Färbung von Wolle, wobei diese anschließend mit salpetriger Säure oxidiert werden, wobei gleichzeitig eine Verseifung stattfindet. Als Mono-Chelatligand bildet Indigo mit Palladium- und Platinsalzen lösliche Metall-Komplexe, die weder intra- noch intermolekulare Wasserstoffbrücken aufweisen. Verwendung Küpenfärbung Indigo wird unter anderem wegen seiner ausgezeichneten Lichtstabilität zum Färben verwendet. Die Verbindung wird stark von Baumwollfasern absorbiert und ist sehr waschecht. Indigo selbst ist fast wasserunlöslich und muss vor dem Färben durch Reduktion, etwa unter Verwendung von Natriumdithionit, in das wasserlösliche Leuko-Indigo (von griechisch leukós: weiß, glänzend) überführt werden, die sogenannte Verküpung. Vor der Verwendung von Natriumdithionit bestand die sogenannte Gärungsküpe traditionell aus einem gärfähigen Material wie Sirup oder anderen kohlenhydrathaltigen Substanzen sowie einem alkalischen Zusatz, etwa Kalk oder Urin. Die Kohlenhydrate dienten als Reduktionsmittel. Später wurden weitere Reduktionsmittel wie Arsensulfide, Eisen(II)-sulfat oder Zinkstaub eingesetzt. Zum Färben wird der Baumwollstoff danach in die wässrige Küpe-Lösung mit der reduzierten, farblosen Leukoform gelegt. Die lösliche Komponente zieht auf die Faser auf und beim Trocknen an der Luft entsteht durch Oxidation wieder Indigo. Dementsprechend entsteht die Blaufärbung erst nach Sauerstoffkontakt. Der Indigo bildet keine chemische Bindung mit der Faser aus, sondern haftet daran über Adhäsionskräfte. Dieser Vorgang wird als Küpenfärberei bezeichnet, und so auch bei anderen Textilfarbstoffen angewandt. Früher wurden zur Oxidation des Farbstoffs die Stoffe auf einer Wiese in die Sonne gelegt, wo der Indigo durch eine Rasenbleiche oxidiert wurde. In der Textilindustrie ist der synthetisch hergestellte Indigo als Küpenfarbstoff weit verbreitet. Größtenteils wird Indigo zum Färben von Denim-Stoffen benötigt. Andere Textilfärbemethoden In England entwickelten die Färber im 18. und 19. Jahrhundert zwei weitere Methoden der Indigofärberei. Die erste Methode ist als „Pencil Blue“ bekannt. Zur Stabilisierung wurde dazu Arsentrisulfid und ein Verdickungsmittel zum Leuko-Indigo gegeben. Die Arsenverbindung verzögerte die Oxidation des Indigos, so dass dieser mittels Stiften oder Pinseln auf Textilien aufgetragen werden konnte. Bei der zweiten Methode wurde der unlösliche Indigo direkt auf den Stoff gedruckt und danach mittels Eisen(II)-sulfat reduziert. Danach erfolgte wieder die Oxidation mit Luft. Diese sogenannte „Chinablau“-Prozess erzeugte klare Designs. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte John Bracewell den Glucoseprozess, der das direkte Bedrucken mit Indigo erlaubte. Der Blaudruck ist eine traditionelle Textildrucktechnik sowie der Name für den dunkelblauen Stoff mit weißen Mustern, der mit dieser Drucktechnik hergestellt wird. Es handelt sich um einen Reservedruck, bei dem der Stoff mit einer Schutzmasse bedruckt wird, um weiß zu bleiben. Nach dem Bedrucken mit der Schutzmasse wird der Stoff mit Indigo gefärbt. Traditionelle Chinesische Medizin In der traditionellen chinesischen Medizin wird Indigo Naturalis in Kombination mit arsenhaltigem Realgar bei der Behandlung der Promyelozytenleukämie verwendet. Des Weiteren wird Indigo Naturalis gegen Schuppenflechte eingesetzt. Der aktive Wirkstoff der Indigo-Naturalis-Zubereitungen scheint allerdings Indirubin zu sein, der als Inhibitor von Cyclin-abhängigen Kinasen wirkt. Banlangen, ein traditionelles chinesisches Heilmittel, wird zum Beispiel aus den Wurzeln des Färberwaids oder der Indigopflanze hergestellt und bei Rachen- und Kehlkopfentzündungen sowie einer Vielzahl anderer Krankheiten verabreicht. Andere Anwendungen Die Maya stellten das Pigment Maya-Blau seit etwa 800 nach Christus her. Das Pigment wurde als Verbundstoff aus Palygorskit und Indigo identifiziert, der wahrscheinlich aus den Blättern einer einheimischen Indigofera-Art stammt. Ein aktuelles Rezept zur Herstellung von Maya-Blau wurde 1993 veröffentlicht. Für den technischen Einsatzbereich lässt sich Indigo in Form dünner organischer Filme für den Bau von Solarzellen verwenden. Forschungen haben gezeigt, dass Indigo in Feldeffekttransistoren eingesetzt werden kann. Ein dünner Film aus teilkristallinem Indigo ist ein Halbleiter mit einer Bandlücke von 1,7 eV und damit ein potenzielles Material für die organische Elektronik. Indigo wurde eher selten bis etwa zum Ende des 17. Jahrhunderts in der Ölmalerei verwendet. Eines der berühmtesten Beispiele ist Vermeers Werk „Christus bei Maria und Martha“, bei dem sowohl der blaue Mantel Christi als auch der Rock von Maria mit Indigo gemalt sind. Indigo kann zur Messung der Ozonkonzentration in der Luft verwendet werden. Dazu wird Chromatographie-Papier mit Indigo getränkt. Durch den Kontakt mit dem Ozon in der Luft bildet sich Isatin. Dieses wird nach Elution photometrisch bestimmt. Ein weiteres Reaktionsprodukt ist das Isatosäureanhydrid. Auch indigoide Farbstoffe lassen sich zum Ozonnachweis einsetzen. In Japan wurde Indigo Naturalis in der traditionellen Medizin als entzündungshemmende Substanz eingesetzt. Die Samurai trugen mit Indigo gefärbte Kleidung, um Wunden und Verletzungen zu heilen. Aufgrund der vermuteten positiven gesundheitlichen Wirkung sind indigogefärbte Decken und Bekleidung traditionelle Geschenke für Neugeborene, um diese vor Krankheiten schützen. Römische und griechische Heilmittel enthielten zum Teil Indigo. Indigoide Farbstoffe Indigoide Farbstoffe sind strukturell dem Indigo verwandte Stoffe. Dazu zählen etwa die Varianten, die durch Veränderung des Indigo-Grundgerüsts entstehen, zum Beispiel durch Ersatz der sekundären Aminogruppe durch andere Elektronendonatoren wie Selen, Schwefel oder Sauerstoff. Die Tabelle zeigt den Vergleich der langwelligsten Absorptionsbande dieser Verbindungen im Vergleich zu Indigo (λmax. bei 606 nm). Durch die Synthese von Strukturisomeren oder der Derivatisierung des Benzolrings ergeben sich weitere Möglichkeiten der Farbvariation. So ist das Strukturisomer Indirubin ein rotvioletter und Indigokarmin (5,5′-Indigodisulfonsäure-Dinatriumsalz) ein blauer Farbstoff. Ringsubstituierte Derivate des Indigos lassen sich auf verschiedenen Wegen synthetisieren. Die Verwendung von Brom-substituiertem Nitrobenzaldehyd in der klassischen Synthese nach Baeyer führt zur Bildung von Purpur (6,6′-Dibromindigo), einem antiken Farbstoff, der aus Purpurschnecken gewonnen wurde. Dessen Struktur wurde 1909 von Paul Friedlaender aufgeklärt. Weitere Beispiele indigoider Farbstoffe sind 5,5′,7,7′-Tetrabromindigo (Brillantindigo B) oder 2-(5-Bromindol)-5-brom-2′-thionaphthenindigo (Cibaviolet 3B). Viele verschiedene indigoide Farbstoffe wie Thioindigo oder Tetrachlorindigo sind kommerziell erhältlich. Im Vergleich zu Indigo ist die ökonomische Bedeutung der Derivate jedoch eher gering. Toxikologie und Umweltaspekte Indigo hat eine geringe Toxizität bei Säugetieren. Der LD50-Wert bei der Maus liegt bei 32 g/kg. Es gibt keine Anzeichen für eine Sensibilisierung beim Menschen nach wiederholten Hautanwendungen. Fütterungsversuche an Ratten und Hunden mit bis zu 3 Gew.% Indigo im Futter zeigten keine gravierenden nachteiligen gesundheitlichen Folgen. Die in der Produktion von Indigo eingesetzten Chemikalien wie Anilin, Formaldehyd oder Cyanwasserstoff sind zum Teil toxisch und umweltgefährdend und werden daher ausschließlich in geschlossenen Systemen gehandhabt. Indigo hat aufgrund seiner geringen Löslichkeit keine nachteiligen Auswirkungen auf Belebtschlammsysteme in biologischen Abwasserbehandlungsanlagen, aber die biologische Abbaurate ist gering. Zur Entfernung des Pigments eignen sich Ultrafiltrationsanlagen vor der Einleitung in die Kläranlage. Nicht umgesetzte Rohstoffe wie Anilin oder Anthranilsäure sind leicht biologisch abbaubar. Zur Verringerung der Salzfracht beim eigentlichen Färbeprozess werden vorreduzierte Applikationen angeboten, welche den Einsatz von Natriumdithionit als Reduktionsmittel unnötig machen. In den letzten Jahren hat sich daher eine neue Handelsform für Indigo etabliert. Dabei wird eine Indigosuspension mit Wasserstoff katalytisch zur Leuko-Form reduziert und als vorreduzierte, konzentrierte Indigo-Flüssigmarke vermarktet. Literatur Elmar Steingruber: Indigo and indigo colorants. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2004, doi:10.1002/14356007.a14 149.pub2. Renate Kaiser-Alexnat: Indigo. Der König der Farbstoffe. In: Südostasien Magazin. Band 3, 2008, S. 110–121, (PDF; 3,3 MB), (Sonderdruck). Helmut Schmidt: Indigo. 100 Jahre industrielle Synthese. In: Chemie in unserer Zeit. Band 3, 1997, S. 121–128, doi:10.1002/ciuz.19970310304. Paul Rys, Heinrich Zollinger: Farbstoffchemie – Ein Leitfaden. 3. neubearbeitete Auflage, Wiley-VCH, Weinheim 1982, ISBN 3-527-25964-3. H. Schweppe: Indigo and Woad. In: E. West Fitzhugh (Hrsg.): Artists' Pigments. A Handbook of Their History and Characteristics. Band 3, Oxford University Press, 1997, S. 81–107. Weblinks . Indigo bei ColourLex Einzelnachweise Indolin Enon Pflanzenfarbstoff Textilfarbstoff
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https://de.wikipedia.org/wiki/Manga
Manga
Manga [] (japanisch ) ist der japanische Begriff für Comics. Außerhalb von Japan bezeichnet er meist ausschließlich aus Japan stammende Comics, wird aber auch für nichtjapanische Werke verwendet, die visuell und erzählerisch stark an japanische Vorbilder angelehnt sind. Eine klare Abgrenzung von Manga durch Stilmerkmale ist wegen der großen formalen und inhaltlichen Vielfalt des Mediums in Japan nicht möglich. Zu den wichtigsten vom Manga beeinflussten Comickulturen gehören die koreanischen Manhwa sowie Manhua aus dem chinesischen Raum. Viele als typisch angesehene Stilelemente von Manga finden sich auch im japanischen Animationsfilm, dem Anime, wieder. In Japan stellen Manga einen bedeutenden Teil der Literatur sowie der Medienlandschaft dar. Der Mangamarkt ist der weltweit größte Comicmarkt. Die Wurzeln des japanischen Comics reichen bis ins Mittelalter zurück. Seine heutige Form ist jedoch wesentlich durch die westlichen Einflüsse im 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Seit den 1990er Jahren sind Mangas neben Animes und Computerspielen ein erfolgreiches kulturelles Exportgut Japans. Definition, Begriffsabgrenzung und Begriffsgeschichte Ähnlich wie der westliche Begriff „Comic“ ist auch „Manga“ in seiner Bedeutung eher unscharf und stark abhängig von Kontext, Motiven der Verwendung und Adressaten des Begriffs. Im westlichen Sprachgebrauch versteht man unter Manga in erster Linie Comics, das heißt in Bildfolgen erzählte Geschichten oder Vorgänge, japanischen Ursprungs. Im erweiterten Sinne werden auch Werke aus anderen Ländern vom Begriff erfasst, die sich der japanischen Zeichentradition zuordnen lassen und typische Stilelemente des Mangas aufweisen. Da diese jedoch breit gefächert sind, einer zeitlichen Veränderung unterliegen und sich mit anderen Comickulturen überschneiden, ist diese Zuordnung stets subjektiv. So bürgerte sich im englischen Sprachraum der Begriff OEL Manga (Original English Language Manga) für japanisch beeinflusste Werke ein. Als allgemeinere Bezeichnung gibt es den „global manga“, zu dem selbst Manhwa aus Korea gezählt werden können. Während dieses – vor allem von Fans vertretene – Verständnis von Manga ausländische Produktionen einschließt, werden experimentelle oder europäisch aussehende japanische Werke oft davon ausgeschlossen, da sie nicht dem erwarteten Stil entsprechen. Des Weiteren wird der Begriff Manga von Verlagen unter Marketinggesichtspunkten immer wieder anders eingesetzt. Beispielsweise etablierte sich unter amerikanischen Verlegern ein Verständnis von Manga als „Comic-Taschenbücher einer gewissen Größe und Preisklasse, die sich vor allem an Mädchen und Frauen richten“. Die genaue Definition und Abgrenzung von Manga ist Gegenstand stetiger Debatten sowohl unter Fans als auch im wissenschaftlichen Diskurs. Als kennzeichnende Merkmale einer Definition von Manga nach Stilmerkmalen werden eine niedliche bis kindliche Darstellung der Figuren, oft mit großen Augen, eine hochgradig kodifizierte Bildsprache und lange, filmartig erzählte Geschichten sowie dafür eingesetzte Erzählstrategien, Bild- und Seitengestaltungen verwendet. Für die Kombination dieser Merkmale – insbesondere die des Charakterdesigns – wird auch die Bezeichnung Japanese Visual Language (JVL, dt. „japanische visuelle Sprache“, nach Neil Cohn) verwendet, ohne dass diese dabei per se als Definition von Manga herangezogen werden. Die Merkmale treffen auch nur auf einen Teil der japanischen Comickultur zu, der jedoch außerhalb Japans besonders präsent ist und daher das Bild prägt. Oft werden sie auch mit der Veröffentlichungsform als Serien kleinformatiger Taschenbücher identifiziert und so beispielsweise gemeinsam mit Comics als serielle Veröffentlichungen zu Bilderbüchern abgegrenzt. Auch speziell in Japan verbreitete Veröffentlichungsformen wie Magazine und dortige Produktionsprozesse werden als Merkmal herangezogen, wobei diese und das Format bereits wieder einen besonderen Japanbezug aufweisen. Ebenso werden viele der stilistischen Merkmale bisweilen auf japanische Kulturmerkmale zurückgeführt, sodass auch eine Definition von Manga nach Stilmerkmalen indirekt auf eine Definition nach japanischem Ursprung zurückgeführt werden kann. In einem Überblick über verschiedene Definitionsversuche stellt Zoltan Kacsuk fest, dass sich alle direkt oder indirekt auf Japan beziehen. Bei einer Definition nach Stil folgt dieser den Veränderungen in Japan, während stilistische Änderungen außerhalb Japans eher als Abrücken vom Manga selbst betrachtet werden. Die Kombination der üblichen Stil-, Genre- und Erzählmerkmale, die Veröffentlichungsform in Magazinen und der damit fast zwangsläufig verbundene japanische Ursprung ergeben ein Verständnis von Manga im engeren beziehungsweise engsten Sinne („Manga Proper“ nach Jaqueline Berndt). Frederik L. Schodt fasst Manga zusammen als „eine japanische Erzählkunst mit langer Tradition, die eine aus dem Westen importierte physische Form angenommen hat“. In Japan selbst wird der Begriff „Manga“, wie auch „Comic“ (), für alle Arten von Comics verwendet, unabhängig von ihrer Herkunft. So allgemein verwendet, wird er oft in Katakana geschrieben. Neben Bildgeschichten werden auch Einzelbilder im üblichen Stil von Comics und Karikaturen als Manga bezeichnet. In Japan ist das Bild vom Manga im Gegensatz zum Westen statt nur von langen Geschichten auch durch Comicstrips geprägt. Jedoch ist das Wort „Manga“ lange Zeit als umgangssprachlich wahrgenommen worden, so dass von Seiten der Verleger „komikku / komikkusu“ häufiger verwendet wird, da das Wort kultivierter klinge. Die japanische Comicforschung begreift Manga vorrangig als in Magazinen erscheinende, serielle grafische Erzählform. In der öffentlichen Wahrnehmung Japans und in der Forschung auch über Japan hinaus bestehen zwei Begrifflichkeiten vom Manga: die japanische Comickultur nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Gesamtheit aller in Japan entstandenen Comics und Bildgeschichten seit dem frühen Mittelalter. Während ihrer Entstehung und noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden auch japanische Animationsfilme als „Manga“, später „Manga Eiga“ (, „Manga-Filme“) bezeichnet. Ab den 1970er Jahren setzte sich dann der Begriff Anime durch und Manga Eiga wird heute nur noch wenig verwendet, insbesondere aber vom Studio Ghibli. Für das Wort „Manga“ finden sich verschiedene direkte Übersetzungen. Darunter sind „spontan“, „impulsiv“, „ziellos“, „unwillkürlich“, „bunt gemischt“, „ungezügelt / frei“, „wunderlich / skurril“ und „unmoralisch“ für die erste Silbe, die zweite bedeutet „Bild“. Das Wort bzw. die Kombination der Zeichen , die wie alle japanischen Sinnzeichen aus China stammen, ist seit dem 12. Jahrhundert in Japan in Gebrauch, doch änderte sich die Bedeutung danach häufig und drastisch. So ordnet Hirohito Miyamoto als erste Verwendung die Bezeichnung eines Löffler-Vogels (, hier in der Lesung mankaku) zu, später eine Bezeichnung für chaotisches Schreiben oder Zeichnen, in der der Vogel als Metapher dient, und schließlich für „Produktion und Sammlung großer Mengen von Zeichnungen unterschiedlicher Motive in verschiedenen Stilen“. Die Einführung der heutigen Bedeutung oder sogar die Erfindung wird oft dem Künstler Katsushika Hokusai zugeschrieben, jedoch verwendete er es weder als erster noch in der heutigen Bedeutung, sondern noch im Sinne von „Sammlung von Zeichnungen“. Wahrscheinlich machte er es jedoch als Bezeichnung für seine Holzschnitte populärer, sodass es Ende des 19. Jahrhunderts in neuem Begriffsinhalt wieder aufgegriffen wurde: „Manga“ bezeichnete nun Karikaturen, einfache humoristische Zeichnungen sowie Zeichenkunst allgemein. Dabei war im Kontext mit politischen Karikaturen die Bedeutung als „ungezügelt/frei“ besonders wichtig. Schließlich wurde das Wort von Kitazawa Rakuten für seine Comicserien aufgegriffen. In der Bezeichnung für diese festigte sich der Begriff in der folgenden Zeit und setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig durch. In jüngerer Zeit gab es mehrere Versuche, das Wort umzudeuten beziehungsweise umzuschreiben, um seine unmittelbare Bedeutung dem Medium entsprechend neutraler zu halten. Darunter waren eine Schreibweise als MAN画, „MAN“ im Sinne von engl. „Menschheit“ und „erwachsen“, oder eine Änderung des ersten Zeichens in das ebenfalls als „man“ ausgesprochenes Zeichen „万“ für „Zehntausende, Alles“. In den westlichen, das heißt zunächst den englischen, Sprachgebrauch eingeführt wurde der Begriff durch Frederik L. Schodt durch sein Buch Manga! Manga! The World of Japanese Comics von 1983 als Bezeichnung für japanische Comics. In den 1990er Jahren etablierte sich der Begriff in diesem Sinne – auch in Europa. Seit zunehmend außerhalb Japans Comics entstehen, die sich stark an japanischen Vorbildern orientieren, und das Bild vom Manga durch die über längere Zeit international erfolgreichen Serien geprägt wird, wird der Begriff auch im weiteren Sinne oder bezogen auf Stilmerkmale verwendet. Entwicklung der japanischen Comics Wissenschaftliche Kontroverse In der Kulturwissenschaft ist umstritten, zu welcher Zeit der Manga entstand beziehungsweise ab wann man bei japanischen Comics von Manga sprechen kann. Die Ansichten reichen von einer Ursprungssuche in der mittelalterlichen japanischen Kultur mit ihren Karikaturen und Bildrollen über die Satiren, Drucke und Skizzen der Edo-Zeit, deren heute bekanntester Künstler Katsushika Hokusai ist, über die Umbrüche in der japanischen Kultur und die Einflüsse des Westens um 1900, als Kitazawa Rakuten das Medium prägte, bis zu Osamu Tezuka, der nach dem Zweiten Weltkrieg neue Erzählformen und Themen fand. Die Auffassung einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Geschichte des Mangas gerät zunehmend in Kritik. Sie ignoriere Brüche in der japanischen Kulturgeschichte und diene dazu, Manga als Kulturgut gegen Vorurteile gegenüber Massenmedien zu verteidigen, sowie Manga aus politischen Gründen als urjapanisches Kulturgut auszuweisen. Dabei würden die starken westlichen Einflüsse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die für den heutigen Manga von großer Bedeutung sind, verschwiegen oder durch bewusste Wahl der historischen und modernen Beispiele ausgeblendet. Es bestehen erzählerisch wie stilistisch große Differenzen zwischen heutigem Manga und der japanischen Kunst bis ins 19. Jahrhundert. Als deutlichen Unterschied nennt Neil Cohn die Erzählstrategien und das Vokabular an Symbolen. Manche japanische Tradition wurde auch über japanisch beeinflusste westliche Bewegungen wie den Jugendstil reimportiert. Dennoch bestehen Gemeinsamkeiten, so nennt Jean-Marie Bouissou beispielhaft den absurden und Fäkalhumor sowie die Verbindung von Menschlichem und Übermenschlichem als inhaltliche Konstanten vom Mittelalter bis heute. Bezüglich der erzählerischen Tradition wird darauf verwiesen, dass das Erzählen in Bildern in Japan in unterschiedlicher Form immer präsent war, während es in der Comicgeschichte anderer Länder starke Brüche und Lücken gibt. Auf diese Weise gab es stets eine hohe Akzeptanz für das Medium, auch ohne dass eine lineare Entwicklung stattgefunden hätte. Umstritten ist auch die Bedeutung Osamu Tezukas, dessen Person und Leistung seit den 1990er Jahren in der Mangaforschung ein zentrales Thema sind. Auf der einen Seite wird er als Schöpfer eines „neuen und ureigen japanischen“ Mediums Manga angesehen. Andere weisen darauf hin, dass manche von Tezukas vermeintlich neuen Erzähltechniken bereits früher in Japan ausprobiert wurden, jedoch noch keinen großen Erfolg hatten, und dass er nicht in allem die Vorreiterrolle hatte, die ihm zugesprochen wird. Dass Osamu Tezuka mit seinen Werken erheblich zur Popularisierung des Mediums beigetragen hat, ist unstrittig. In der Hervorhebung Tezukas als Schöpfer des Mangas vor allem in den 1990er Jahren lag auch das Interesse, das Medium als besonders modern darzustellen – im Gegensatz zur Behauptung einer langen Manga-Tradition durch diejenigen, die die Ursprünge im Mittelalter oder der Edo-Zeit suchten. Vorgeschichte Die ältesten bekannten Vorläufer der japanischen Comic-Kunst sind Zeichnungen und Karikaturen aus dem frühen 8. Jahrhundert, die im Jahr 1935 bei Restaurierungsarbeiten am Hōryū-Tempel in Nara auf der Rückseite von Deckenbalken entdeckt wurden. Buddhistische Mönche begannen schon früh, Bildergeschichten auf Papierrollen zu zeichnen. Diese werden Emakimono genannt. Das bekannteste dieser Werke ist die erste von insgesamt vier chōjū jinbutsu giga (, Tier-Person-Karikaturen), die dem Mönch Toba Sōjō (1053–1140) zugeschrieben werden: Dabei handelt es sich um eine Satire, in der sich Tiere wie Menschen verhalten und auch buddhistische Riten karikiert werden. Diese wurden so erfolgreich, dass derartige Werke bald allgemein als „Toba-e“ (Toba-Bilder) bezeichnet wurden. Im 13. Jahrhundert begann man, Tempelwände mit Zeichnungen von Tieren und vom Leben nach dem Tod zu bemalen. In der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert kamen Holzschnitte auf, die in Hefte gebunden und vor allem an die wohlhabende Mittelschicht verkauft wurden. Auch Zeichnungen aus dem Alltagsleben bis hin zu erotischen Bildern kamen hinzu. Seit der Zeit der ersten noch religiösen Zeichnungen war die Kunst oft von einem absurden Humor bis hin zum Fäkalhumor geprägt. Die ersten auch breitere Schichten erreichenden Werke waren die Ōtsu-e Mitte des 17. Jahrhunderts. Ab dem späten 17. Jahrhundert folgten ihnen Ukiyo-e genannte Holzschnittbilder, die das unbeschwerte Leben, Landschaften und Schauspieler bis hin zu sexuellen Ausschweifungen zum Inhalt hatten und rasch massenhafte Verbreitung in der Mittelschicht der Edo-Zeit fanden. Einer der Künstler dieser Holzschnitte war Katsushika Hokusai (1760–1849), der dafür den bereits zuvor anderweitig gebräuchlichen Begriff „Manga“ aufgriff. Auch andere Künstler, so Aikawa Minwa noch etwas früher als Hokusai, verwendeten das Wort für ihre Werke. Die Hokusai-Manga sind Skizzen, die in insgesamt 15 Bänden veröffentlicht wurden und keine zusammenhängende Geschichte erzählen, sondern Momentaufnahmen der japanischen Gesellschaft und Kultur zeigen. In der Rückschau fiel Hokusai durch die Perspektive des Japonismus eine übergroße Rolle als Ukiyo-e-Künstler zu, sodass er zeitweise auch als Erfinder des Wortes Manga galt. Ein weiterer Teil der Edo-Kultur waren die Kusazōshi (Allerlei-Bücher), die in einer Mischung aus Bildern und Texten Geschichten erzählen und je nach Farbe ihres Umschlags als Akahon (rot), Aohon (grün) und Kurohon (schwarz) bezeichnet wurden, sowie die in großen Auflagen verbreiteten Kibyōshi (Schriften mit gelbem Umschlag). Sie thematisierten das zeitgenössische Leben und entwickelten sich zu einem beliebten Massenmedium. Bild und Text waren in ihnen eng verzahnt und es traten bereits einige Formen von Sprechblasen und ähnlichen Integrationen von Text in Bildern auf. Daneben gab es weiterhin sogenannte Toba-e, die nun vor allem Karikaturen und Satiren des täglichen Lebens zeigten. Westlicher Einfluss und erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Nach Ende der Abschließung Japans und der damit einhergehenden zunehmenden Öffnung des Landes gewann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das westliche Verlagswesen an Einfluss. Neben neuen verbesserten Drucktechniken ließ man sich vom Stil europäischer Karikaturen inspirieren, zu dessen Verbreitung in Japan die Satiremagazine The Japan Punch (1862–1887, gegründet von Charles Wirgman) und Tôbaé (ab 1887, gegründet von Georges Bigot, benannt nach dem Mönch Sōjō Toba) beitrugen, sowie von den in den USA neu entstehenden comic strips in den Zeitungen. Es folgten weitere Karikaturenmagazine nach ihrem Vorbild und einige der entstehenden japanischen Zeitungen hatten Comic-Beilagen. Diese hatten satirischen Charakter und richteten sich ausschließlich an Erwachsene, einige der Publikationen und Künstler waren ständig von Zensur und Verhaftungen bedroht. Um 1900 entstanden die ersten Magazine für Kinder, bereits nach Geschlechtern getrennt: Das Shōnen Sekai für Jungen 1895 und 1902 Shōjo kai für Mädchen. Diese enthielten zunächst aber nur wenige Comics oder Karikaturen. Als erster Vorläufer von Manga in heutigem Sinne gilt die 1902 von Rakuten Kitazawa (1876–1955) gezeichnete Geschichte Tagosaku to Mokubē no Tōkyō Kembutsu („Tagosakus und Mokubes Besichtigung von Tokio“). Kitazawa griff „Manga“ wieder auf, verwendete es in Abgrenzung zu den älteren Kunstformen und setzte es schließlich als Bezeichnung für die Erzählungen in Bildern durch. Er gründete 1905 das Satiremagazin Tōkyō Puck – benannt nach dem britischen (später amerikanischen) Satiremagazin Puck – und 1932 die erste japanische Schule für Karikaturisten. 1935 startete mit Manga no Kuni das erste Fachmagazin für Zeichner. Rakutens Publikationen für Erwachsene folgten bald erste Magazine mit Mangas für Kinder und Jugendliche, so 1907 das Shōnen Puck und für Mädchen 1908 das Shōjo no Tomo sowie viele weitere. In den 1920er Jahren erscheinen vermehrt amerikanische Comic-Strips in Japan, die Vorbild für japanische Künstler werden. In der Folge findet auch die Sprechblase deutlich stärker Verwendung als früher. Der in dieser Zeit entstandene Yonkoma-Manga, Comicstrips aus vier Bildern, ist noch heute in Japan verbreitet. Mit ero-guro-nansensu (erotisch, grotesk, nonsens) entstand ein den Experimenten in anderen Kunstrichtungen und dem Lebensgefühl der 1920er Jahre entsprechendes Genre für Erwachsene. In den 1930er Jahren und insbesondere während des Zweiten Weltkriegs wurde auch der Manga von der Regierung für Propaganda genutzt. Zeichner waren gezwungen, harmlose Alltagsgeschichten, Durchhalte- und Heldengeschichten oder direkte Propaganda zum Einsatz in der Armee oder beim Gegner zu produzieren. Auch Anleitungen oder Erläuterungen in Form von Mangas erschienen häufiger. Der Druck führte dazu, dass sich einige Zeichner auf Geschichten für Kinder verlegten und dabei im Gegensatz zu den bis acht Panel umfassenden Strips der Zeit davor erstmals Erzählungen in vielen Kapiteln und mit über 100 Seiten Gesamtumfang entstanden. Diese erschienen in stärker den Comics gewidmeten Magazinen wie dem Yōnen Club, das 1931 seine höchste Auflage von fast 1 Million erreichte. Die japanische Regierung initiierte 1940 die staatliche Dachorganisation Shin Nippon Mangaka Kyōkai („Neue Vereinigung der Manga-Zeichner Japans“). Doch eine vollständige Kontrolle des bis Ende des Krieges weitverbreiteten Mediums gelang nicht und der Umgang mit populären, aber dem Feind zugeordneten Figuren wie Micky Maus blieb ambivalent: mal waren sie in den Geschichten Symbole des Feinds, mal willkommene Gäste. Die erfolgreichsten Serien in der zunehmend militaristischen Gesellschaft waren Norakuro über die Militärkarriere eines Soldaten in Hundegestalt und Tank Tankuro, Geschichten über einen Panzer mit beliebigen Waffen, sonstiger Ausstattung und Verwandlungsmöglichkeiten. Beide Serien wurden von der erfolgreichen Vermarktung von Spielzeugartikeln und ähnlichem begleitet. In den letzten Jahren des Kriegs wurden die Publikationen auf Grund der Rohstoffknappheit immer stärker eingeschränkt und Mangas als Zeitverschwendung diskreditiert. Nachkriegszeit Nach der japanischen Kapitulation war während der Besatzungszeit das japanische Verlagswesen zunächst strengen Vorgaben der Vereinigten Staaten unterworfen, die das Ziel hatte, dem Militarismus in Japan ein Ende zu bereiten – jedoch waren deren Vorgaben lockerer als die der japanischen Regierung während des Krieges. Zugleich war leichte und erschwingliche Unterhaltung, die Flucht aus dem tristen Alltag bot, sehr gefragt. Es gründeten sich zahlreiche neue Kleinverlage, Mangas erschienen wieder in den Zeitungen und in eigenen Magazinen, aber viele auch in Form von sehr billig produzierten Akahon Manga („Rotbuchmanga“ nach dem roten Einband). Der einflussreichste Wegbereiter des modernen Manga war Osamu Tezuka. Beeinflusst vom Stil der frühen Disney-Zeichentrickfilme und von expressionistischen deutschen und französischen Filmen schuf er nach seinen ersten Zeitungsstrips 1947 Shintakarajima. Die Geschichte basierend auf Die Schatzinsel war erstmals eine lange Erzählung mit filmischer Inszenierung, die den Story-Manga begründete. Diese Strömung wurde für den modernen Manga prägend und macht den Großteil der international erfolgreichen Werke aus. Osamu Tezuka prägte durch weitere erfolgreiche Serien und seinen Einfluss auf andere Künstler die Entwicklung des Mediums. Im gleichen Jahrzehnt erschienen von ihm unter anderem Astro Boy und Kimba, der weiße Löwe, die das Segment für Jungen beeinflussten, und mit Ribbon no Kishi die erste Abenteuerserie für Mädchen. Ab den 1960er Jahren war er mit den Verfilmungen seiner Serien, an deren Produktion er maßgeblich beteiligt war, auch für den Anime prägend. Später widmete sich Tezuka mit ernsthafteren, sozialkritischen Serien einem älteren Publikum. Bis zu seinem Tod 1989 schuf er über 700 Geschichten in unterschiedlichsten Genres. Etwa 70 Prozent der Manga-Publikationen seiner Zeit orientieren sich an den von Tezuka popularisierten Darstellungskriterien, so eine Schätzung von Megumi Maderdonner. Das von Tezuka und anderen jungen Nachkriegskünstlern umgestaltete Medium Manga erreichte in den 1950er Jahren große Popularität, begünstigt durch den wirtschaftlichen Aufschwung. Vorherrschend waren Alltagsthemen sowie Science-Fiction und klassische Abenteuer-Geschichten, daneben das aufkommende Angebot an romantischen bis abenteuerlichen Geschichten für Mädchen. Parallel entwickelte sich ein florierender Leihbüchereimarkt, da der Kauf von Büchern für viele noch zu teuer war, und in diesem ein Segment von gewalt- und sexhaltigen, erzählerisch experimentelleren Comics. Auch das japanische Papiertheater Kamishibai, das in den 1950er Jahren mit Aufkommen des Fernsehens ausstarb, hatte Einfluss auf diese Strömung. Die Bewegung grenzte sich vom Manga der an Kinder gerichteten Magazine ab und formierte sich 1959 als Gekiga. Dessen Höhepunkt lag in den 1960er Jahren, als im Kontext der Studentenproteste sozialkritische, gewalthaltige aber auch in der Alltagsumgebung angesiedelte Geschichten für Erwachsene ein größeres Publikum fanden. Diese Themen kamen auch stärker in die großen Magazine. Sport-Manga, teils auch mit sozialkritischer Handlung, wurden beliebter und 1968 kam mit Harenchi Gakuen der erste erotische Manga heraus – im Shōnen Jump, einem großen Magazin für männliche Jugendliche. Mit dem Niedergang des Leihbüchereimarkts Anfang der 1960er Jahre gingen die dort verbliebenen Künstler zu den großen Verlagen oder gründeten neue, an ein erwachsenes Publikum gerichtete Magazine. Aus dem Gekiga und den an erwachsenes männliches Publikum gerichteten Magazinserien ging der Seinen-Manga hervor, geprägt von Kriminal- oder Abenteuergeschichten und kantigeren, realistischeren Zeichenstilen. Zugleich fand Anfang der 1970er Jahre ein derberer Humor sowie allgemein mehr Sex- und Gewaltdarstellungen Verbreitung. Entwicklung zum kulturellen Exportgut Nachdem in der Nachkriegszeit eine weibliche Leserschaft mit Geschichten fast ausschließlich männlicher Künstler aufgewachsen war, drängten in den 1970er Jahren zunehmend Frauen in den Manga. Die Gruppe der 24er und andere griffen Elemente aus bereits erfolgreichen Geschichten wie denen Tezukas sowie aus Kabuki und Takarazuka-Theater auf, schufen neue Erzähl- und Gestaltungsmittel und widmeten sich in ihren Geschichten Abenteuer, Liebe und Sexualität. Geschichten spielten oft an exotischen Schauplätzen mit authentischer oder aktueller japanischer Mode. Auch Homosexualität wird erstmals behandelt und das Genre Shōnen-ai begründet, in dem Liebe zwischen Männern im Mittelpunkt steht. Etwas später entstand mit Josei auch eine Gattung für erwachsene Frauen. Die siedelte nun Serien für Mädchen und Frauen stärker in der japanischen Gesellschaft an, die Geschichten wurden kritischer und nahmen sich größere Freiheiten. Zur gleichen Zeit entwickelten sich erste Magazine für erotische Manga. In den an Jugendliche gerichteten Magazinen wurde in den 1970er Jahren Science Fiction wieder populärer, darunter vor allem Mecha-Serien mit riesigen Robotern, die von in ihnen sitzenden Menschen gesteuert werden, und Space Operas. Bedeutende Serien dieser Entwicklung waren Mazinger Z von Go Nagai und die Werke von Leiji Matsumoto. Zugleich begann sich eine organisierte Fanszene mit eigenen Veranstaltungen und Publikationen zu entwickeln, die wiederum auf die professionelle Szene wirkte. In den 1980er Jahren wurden Science-Fiction-Serien tiefgründiger, nahmen mehr Bezug auf die Welt ihrer Leser und stellten sich häufiger philosophischen Fragen. Unter diesen waren auch Akira und Ghost in the Shell, die zusammen mit ihren Anime-Verfilmungen als erste Mangas einen Erfolg in der westlichen Welt erreichen konnten. Der erfolgreichste Manga des Jahrzehnts war jedoch Dragon Ball, der etwas später, aber umso erfolgreicher nach Europa und Nordamerika kam. Auf die Popularität sowohl von unterhaltsamen als auch anspruchsvollen Mangas in diesen Ländern folgte in den 1990ern schnell auch die Entstehung einer Fanszene dort. Nachdem das Medium populärer wurde und in den 1980er Jahren zunehmen sexualisierte und gewalthaltige Inhalte auch in Publikationen für Jugendliche und Kinder erschienen, wuchs die gesellschaftliche Kritik in Japan. Auf den Fall des sogenannten Otaku-Mörders Tsutomu Miyazaki, der 1989 vier Mädchen tötete und Anime- und Manga-Fan war, folgte eine gesellschaftliche Debatte um einen Zusammenhang zwischen Medien und Gewalt. Sie führte zunächst zur zeitweisen Stigmatisierung von Mangalesern als generell gemeingefährlich sowie 1991 zu Verhaftungen von Redakteuren, Verlegern und Zeichnern. In der Folge entwickelte sich eine Selbstzensur der großen Verlage und eine stärkere inhaltliche Differenzierung nach Altersgruppen sowie entsprechende Markierungen von Publikationen für Erwachsene, aber auch eine Bewegung von Künstlern gegen die Einschränkung ihrer Freiheit. Bis zu den 1990ern wurden in Japan mit Serien zu Hobbys wie Pachinko und für Otaku oder mit Boys Love auch Nischenmärkte besetzt. Aus der in den vorherigen beiden Jahrzehnten entwickelten Genrevielfalt wurde nun eine zunehmende Vielfalt an Titeln nach einem Anfangserfolg in Japan auch weltweit herausgebracht. Auch alternative beziehungsweise Underground-Manga kamen im westlichen Ausland heraus. Außerhalb Japans inspirierten die Veröffentlichungen lokale Zeichner zur Nachahmung der Stilmittel und Themen, auch durch Mischung mit traditionell amerikanischen Genres und Figuren wie Superhelden. So brachten die großen Verlage DC und Marvel zeitweise Manga-Versionen einiger ihrer Helden heraus. 2001 wurde in Frankreich die Bewegung Nouvelle Manga proklamiert, die frankobelgische und japanische Comictraditionen verbinden will. In Japan selbst erschien ab 1997 mit dem Piraten-Abenteuer One Piece die kommerziell erfolgreichste Serie, die auch international populär wurde – ähnlich wie weitere an Jugendliche gerichtete Abenteuer- und Actionserien, darunter Naruto und Bleach. Zugleich gehen seit 1995 die Verkaufszahlen der Manga-Magazine zurück. Die Tradition der japanischen Comicstrips erlebte in den 1990ern durch sogenannte Moe-Yonkoma, die sich auf humoristische Weise den Alltag schöner junger Mädchen widmen, eine neue Richtung. Nach 2000 kamen Webmanga auf, ebenfalls als Comicstrips, jedoch nicht unbedingt im klassischen Vier-Bild-Schema. Zugleich kamen sowohl illegale wie legale digitale Verbreitungswege für Mangas auf, insbesondere wurden Plattformen zum Lesen auf Handys entwickelt. Der Konsum von Serien über unlizenzierte Scanlations wird als wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen. Im Laufe der 1990er Jahre erhielt der Manga als allgemeines Medium und Kunstform immer mehr Anerkennung. Im Herbst 2000 erkannte die japanische Regierung Manga und Anime offiziell als eigenständige, förderungswürdige Kunstform an und das Medium wurde zum Pflichtstoff im Kunstunterricht, wobei man auf eine Darstellung des Mangas als traditionelle japanische Kunst Wert legte. Um die Popularität japanischer Kultur international zu stärken und auch wirtschaftlich und politisch zu nutzen, wurden besonders ab 2008 Fördermaßnahmen in Form von Stipendien und Auszeichnungen geschaffen. Für diesen Ansatz prägte sich der Begriff Cool Japan. Jedoch gab es sowohl 2002 als auch ab 2010 auch staatliche Bemühungen, sexuelle Darstellungen von unter 19-Jährigen zu beschränken und die Jugendschutzgesetze wieder strenger auszulegen, was zu großen Protesten in Teilen der Zeichner- und Fanszene führte. Auch Debatten um die Wirkung von Gewaltdarstellungen auf Jugendliche und Kinder kamen nach Gewalttaten immer wieder auf. 2015 kam es zu Kritik an sexuellen Darstellungen vor allem Minderjähriger in einigen Mangas, nun vor allem von außen mit der Motivation, international gegen Kinderpornografie vorzugehen. Im gleichen Jahr gab es eine Initiative japanischer Abgeordneter, das Medium als wichtiges kulturelles Exportgut mit einem Nationalen Manga-Zentrum noch stärker zu fördern. Erzählformen und Stilelemente Mangas sind meist in Schwarz-Weiß gehalten und werden entsprechend der traditionellen japanischen Leserichtung von „hinten“ nach „vorne“ und von rechts nach links gelesen. Die außerhalb Japans bekannteste Form von Manga sind die Story-Manga, die eine lange, oft detailreiche Geschichte erzählen und viele Tausend Seiten umfassen können. Daneben gibt es Comic-Strips, sogenannte Yonkoma (Vier-Bilder-Comic). Darüber hinaus gibt es die Bezeichnung Koma-Manga für Comicstrips, die sich nicht an die klassische, in vier Bildern abgeschlossene Form halten. Für den Story-Manga – und damit für das Bild von Manga außerhalb Japans allgemein – prägend ist eine filmische, das heißt inhaltlich ausgebreitete Erzählweise. Bewegungen, Handlungen und Szenerie werden in vielen Details gezeigt, auf viele Bilder kommt nur wenig Text. Der Erzählrhythmus ist auf eine Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit ausgerichtet, sodass das Gefühl „dabei zu sein“ gefördert wird. Zur Rhythmisierung wird sowohl die Komposition der Einzelbilder, so die gewählten Blickwinkel, als auch die Gesamtkomposition der Seiten eingesetzt. Ein im Manga im Gegensatz zu anderen Comic-Kulturen oft auftretendes Erzählmittel ist die Darstellung von Bewegungen in kleinen Schritten. Zusammen mit dem starken Gebrauch von Lautmalereien, die in die Bildkompositionen integriert werden, und Symbolen ermöglicht dies einen schnellen Lesefluss. Durch die ausgebreitete Erzählweise werden die Geschichten oft hunderte oder tausende Seiten lang und bieten Raum für inhaltliche Tiefe und differenzierte Charakterzeichnung. Szenenbilder werden oft in mehreren Bildern einzelner Details stückweise zusammengesetzt und es finden sich vergleichsweise viele Bilder ohne unmittelbare Handlung oder handelnde Figur. Auch die Gesamtgestaltung einer Seite, das heißt die Zusammenwirkung der Panel zu einem Metapanel sind von großer Bedeutung. Entsprechend werden im Vergleich zu amerikanischen Comics häufiger Nahaufnahmen und einzelne Personen statt Personengruppen in einem Panel gezeigt. Der Vergleich zeigt auch, dass japanische Comics weniger Text beinhalten und sich stärker auf die visuelle Umsetzung des Erzählten konzentrieren. Als Form des Comics stehen dem Manga zunächst alle Stilmittel des Comics zur Verfügung. Dazu zählen die Vereinfachung und Übertreibung von Figuren, Bewegungen und Posen, der Einsatz von Symbolen, Lautmalerei und Typografie. Einige Elemente sind für den Manga von besonders großer Bedeutung, wie etwa der Einsatz von Posen, was auch durch den Einfluss des Kabuki-Theaters erklärt werden kann. Bewegungslinien und Überblendungen werden nicht nur für sich bewegende Objekte verwendet, sondern auch in Form von „subjektiver Bewegung“ für die statische Umgebung, gesehen aus der Perspektive der Bewegung. Die Vermittlung von Emotionen geschieht in erster Linie über die Augen, die dazu auch symbolhaft verzerrt werden. Seit dem Shōjo-Manga der 1970er Jahre werden besonders große Augen und darüber hinaus abstrakte Hintergründe verwendet, um Emotionen und Stimmungen zu vermitteln. Erstmals verwendete Osamu Tezuka größere, vor allem in den Pupillen detaillierter ausgearbeitete Augen, um Charakter und Gefühle der Figuren darzustellen. Eine Steigerung der Stilisierung ist Super Deformed, wobei eine Figur spontan in eine kindliche Form schlüpft, die einen Emotionsausbruch oder eine komische Situation überzeichnet zeigt, um dann wieder in ihr normales, realistischeres Erscheinungsbild zu wechseln. Das Charakterdesign entspricht bisweilen, aber nicht zwangsläufig dem japanischen Niedlichkeitskonzept Kawaii, weitere ästhetische Konzepte zur Darstellung von Schönheit und Attraktivität sind Bishōjo (weiblich) und Bishōnen (männlich). Neil Cohn nennt als prägende Merkmale „große Augen, große Frisuren, kleine Münder und ein spitzes Kinn sowie kleine Nasen“. Zur Verbreitung und Bekanntheit gerade dieser Merkmale trugen ab den 1990er auch viele Manga-Zeichenanleitungen bei, die diesen Stil stets reproduzierten. Den Ursprung der übergroßen Augen vermutet Frederik Schodt in einem während der Öffnung Japans nach Westen um 1900 entstandenen Schönheitsideal, europäisch auszusehen. Dieses habe sich verselbstständigt, zugleich sei für die Vermittlung von Emotionen besonders geeignet. Ähnlich verhält es sich mit oft anzutreffendem, scheinbar „weißem“ Äußeren auch japanischer Figuren, insbesondere den hellen Haaren und Augen. Eine weitere Herkunft dieser Stilmittel ist die in der Regel fehlende Farbe und die vereinfachten Gesichtsformen, sodass unterschiedliche Haar- und Augenfarben zur Unterscheidung der Charaktere eingesetzt werden. Durch die eigene Geschichte des Mangas konnte sich ein eigenständiges, umfangreiches Vokabular an Symbolen entwickeln, die für nicht-japanische Leser zunächst schwer verständlich sein können. Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz von Typografie und Lautmalereien, wobei diese meist allgemeinverständlicher sind. Die Summe dieses Vokabulars zusammen mit der Erzählweise des Story-Mangas als Grammatik nennt Neil Cohn „Japanese Visual Language“ (JVL), „japanische visuelle Sprache“. Ihre als typisch wahrgenommenen Erscheinungsformen seien wie ein „Standard-Dialekt“, neben den sich viele abweichende und von ihm abstammende „Dialekte“ gesellen – in Japan wie international – und der sich mit der Zeit verändere. Die etablierten Stilmittel und verwendeten Symbole sowie die Möglichkeit der ausführlichen Darstellung der Inhalte über mehrere Seiten anstatt dicht gepackter Panel ermöglichen eine sehr schnelle Rezeption der Seiten – wie Frederik Schodt schon 1983 feststellte. Laut der Redaktion des Shōnen Magazine wende der Leser nur durchschnittlich 3,75 Sekunden pro Seite auf. Der hohe Symbolgehalt der Seiten ermögliche aber dennoch die Vermittlung vergleichsweise vieler Informationen und bedarf zugleich einer hohen Lesekompetenz. Inhalte und Genres Das Medium Manga ist in Japan inhaltlich stark differenziert und deckt jede Altersgruppe und jedes literarische Genre ab. Mit der Zeit haben sich für Manga in Japan mehrere Untergruppen herausgebildet, die je eine demografische Zielgruppe ansprechen. Dies rührt insbesondere aus den Magazinen, die sich je einer Zielgruppe verschreiben. Diese sind: Kodomo für kleine Kinder Shōnen für männliche Jugendliche Shōjo für weibliche Jugendliche Seinen für (junge) Männer Josei oder „Ladies Comic“ für (junge) Frauen Teils wird auch von Kazoku Manga für Kinder und Familien und Silver Manga für das ältere Publikum gesprochen. All diese an Zielgruppen orientierten Gattungen sind jedoch nicht mit der tatsächlichen Leserschaft gleichzusetzen. Diese ist für jede der Gattungen oft vielfältig. Die Gattungen geben stattdessen einen Hinweis auf den Inhalt: So sind Shōnen-Manga eher actionhaltig, während bei Shōjo-Serien Romantik im Mittelpunkt steht. Ursprünge für die Teilung der Gattungen nach Geschlechtern liegen in der in Japan seit dem Mittelalter starken Trennung der Lebensbereiche von Männern und Frauen, besonders im kulturellen Bereich. Daneben besteht die klassische Einteilung nach Genres wie Thriller, Science-Fiction und Romantik, die die inhaltliche Vielfalt des Mediums abbilden. Es haben sich auch Genres herausgebildet, die für das Medium bzw. für Japan spezifisch sind und die es so in anderen Comickulturen nicht gibt. Dazu gehören Geschichten über Spiele, Hobbys oder andere Freizeitbeschäftigungen, zum Beispiel Serien, die Jugendlichen traditionelle japanische Kultur wie Kalligrafie und Teezeremonie nahebringen, Serien des Sport-Genres, Pachinko- und Mah-Jongg-Mangas. Rekishi-Manga und speziell Jidai-geki beschäftigen sich mit japanischer Geschichte. Einige Genres beschäftigen sich mit Aspekten des Alltags, so geht es in Ikuji-Manga um die Erziehung von Kindern und im Gourmet-Genre um Essen und Kochen. Salaryman-Manga beschäftigen sich in Form von Komödien und Dramen mit dem Berufsalltag des Durchschnittsjapaners, der auch die Zielgruppe des Genres ist, und eine Gruppe anderer Serien verschreibt sich in ähnlicher Weise handwerklichen, traditionellen oder ungewöhnlichen Berufen. Oft steht dabei, wie bei Geschichten über Hobbys, die Karriere eines Anfängers und der Wettbewerb mit Kollegen und Konkurrenten im Zentrum. In den fantastischen Genres haben sich spezifische Untergenres wie Magical Girl über Mädchen(gruppen), die sich in Kämpferinnen gegen das Böse verwandeln können, oder Mecha als Untergenre von Science-Fiction mit Fokus auf riesige Kampfroboter herausgebildet. Fantasy-Serien sind oft beeinflusst durch die japanische Shintō-Religion mit ihren zahllosen Göttern und Dämonen, aber auch durch die Mythologien und Sagenwelten anderer asiatischer Länder und Europas. Auch Elemente, wie man sie in Abenteuer- und Rollenspielen findet, sind verbreitet. Das Feld erotischer Geschichten unterteilt sich in pornografische Hentai und eher erotische Etchi-Manga, wobei die Verwendung der Begriffe in Japan und dem Ausland unterschiedlich ist. Erotische Geschichten und der relativ freizügige Umgang mit Sexualität in der Populärkultur haben in Japan eine lange Tradition, so gab es in der Edo-Zeit viele solche Ukiyo-e, Shunga genannt. Jedoch gab es auch Zeiten, in denen solche Themen im Manga nicht vorkamen, was sich erst ab den 1950er Jahren änderte, sodass keine direkte Verbindung von Shunga zu modernen erotischen Manga gezogen werden kann. Spezielle Untergenres sind Yaoi und Yuri mit homoerotischen Geschichten mit Männern bzw. Frauen. Yaoi bildet auch zusammen mit dem romantischen Shōnen Ai den Boys-Love-Manga, wobei letzterer der in Japan gebräuchliche Begriff ist, während sich die beiden anderen im westlichen Markt erhalten haben. Zielgruppe der homoerotischen Geschichten sind in der Regel nicht homosexuelle Leser, sondern das jeweils andere Geschlecht. In Hentai als auch in Etchi-Manga sind, wie in der japanischen Erotik allgemein üblich, Sexszenen oft in eine humoristische oder parodistische Erzählung eingebettet. Sexuelle Gewalt und Fetische werden vergleichsweise häufig thematisiert. Erotische und pornografische Geschichten sind in Japan stark geprägt von der unter der amerikanischen Besatzung entstandenen Gesetzgebung, die die Darstellung des erwachsenen Genitalbereichs und andere „anstößige“ Inhalte unter Strafe stellte (§ 175 des jap. Strafgesetzbuchs). Dies wurde von vielen Künstlern umgangen, indem die Figuren und ihre Genitalien kindlich gezeigt wurden. Zusammen mit einem Ideal von erstrebenswerter Jugend, Naivität und Unschuld (Kawaii) beförderte das die Entstehung vieler erotischer und pornografischer Geschichten mit kindlichen Figuren und die Etablierung der Genre Lolicon und Shotacon. Auch wenn die Auslegung der Gesetze gelockert wurde, blieb diese Strömung erhalten. Andere Wege, die Zensurgesetzgebung zu umgehen, sind die Verwendung von Balken oder Verpixelung wie im Film, Auslassungen oder von Symbolbildern mit Früchten, Tieren und anderem. Außer den in großen Magazinen veröffentlichten Serien gab es seit dem Zweiten Weltkrieg auch alternative Manga, in denen Stile, Erzählmittel und Themen erprobt werden, die kein großes Publikum finden. So begründete Yoshihiro Tatsumi Ende der 1950er-Jahre den Gekiga, der sich an eine erwachsene Leserschaft richtete. Dieser ging später jedoch in dem größeren Genre Seinen auf. Ab den 1960er Jahren waren die Magazine Garo und COM Plattformen unabhängiger Künstler, allerdings konnte sich nur Garo längere Zeit halten – bis 2002. Auch darüber hinaus gibt es Werke ähnlich dem Underground Comix im Westen. Jedoch verwischen die Grenzen zwischen „Underground“ und „Mainstream“ in Japan stärker, weil der Markt sehr groß ist und auch ungewöhnlichen Werken und Künstlern kommerziellen Erfolg ermöglichen kann. Neben den rein fiktiven Geschichten gibt es Mangas mit Sachgeschichten sowie fiktive Erzählungen mit Bildungs- und Aufklärungsinhalten, beispielsweise in Form von eingeschobenen Erläuterungen. Im japanischen Alltag finden sich sogar Mangas als Gebrauchsanweisungen oder als Hinweise im öffentlichen Raum. Mangas greifen auch immer wieder aktuelle gesellschaftliche und politische Themen und Ereignisse auf. So reagierten viele Künstler und Verlage auf das Erdbeben von Kōbe 1995 und das Tōhoku-Erdbeben 2011, den folgenden Tsunami und das Reaktorunglück. Alte Serien zu Erdbeben und Nuklearkatastrophen wurden wieder aufgelegt und neue geschaffen, die sich mit dem plötzlich veränderten Alltag und den Gefahren des Unglücks auseinandersetzten. Die Beschäftigung mit Politik und insbesondere mit dem Militär – zu dem sich ein eigenes Genre etablierte – ist jedoch ambivalent. Während um 1970 mehrere Serien auch Auswirkungen auf den politischen Diskurs hatten, ist konkrete politische Kritik in Mangas jenseits allgemeiner pazifistischer oder ökologischer Botschaften heute selten. Manche Serien folgen aber dem Werdegang von Politikern, wie dies ähnlich bei der Porträtierung anderer Berufe geschieht. Und während manche Mangas kritisch mit Krieg und Militär umgehen, gibt es auch Magazine, deren Serien sich technischen oder strategischen Perspektiven widmen und ein Publikum von Technik- und Militär-Fans bedienen. Künstler und Entstehungsprozesse Autoren von Manga werden Mangaka genannt. Der Begriff wurde 1909 von Kitazawa Rakuten geprägt. Schätzungen zufolge gibt es in Japan etwa 2500 Mangaka. Von diesen können jedoch nur etwa 20 % als professionelle Zeichner von ihrer Tätigkeit leben. Darüber hinaus gibt es eine große Zahl an Amateurzeichnern, die außerhalb der Verlage veröffentlichen. Während bis in die 1960er Jahre fast ausschließlich Männer als Manga-Zeichner tätig waren, sind in dem Beruf heute auch viele Frauen tätig und ähnlich erfolgreich wie ihre männlichen Kollegen. Dabei schaffen häufiger Frauen Mangas für weibliches Publikum und Männer für männliches Publikum. Redaktionen sind in allen Sparten vor allem von Männern besetzt. Die Einstiegshürden für einen Künstler sind verglichen mit anderen Medien gering, da er allein, ohne formelle Ausbildung und mit wenig materiellem Aufwand tätig werden kann. Der Weg in den Beruf führt häufig über Wettbewerbe und Einreichungen bei den Magazinen oder Künstler werden durch Dōjinshi – Fanpublikationen im Selbstverlag – bekannt genug, dass ein Verlag auf sie aufmerksam wird. Auch die Arbeit als Assistent bei etablierten Mangaka vermittelt Erfahrung und Übung, um danach eigene Serien zu schaffen. Nicht wenige der Assistenten bleiben bei dieser Tätigkeit jedoch ein Leben lang. Die Bezahlung wird üblicherweise an die Seitenzahl gebunden. In den 1980er Jahren erhielt ein Zeichner 15 bis 250 US-Dollar pro Seite, bei etwa gleicher Bezahlung von Männern und Frauen. In dieser Zeit gehörten auch erstmals einige Zeichner mit über 1 Million Dollar Jahreseinkommen zu den bestverdienenden Japanern: Shinji Mizushima, Fujio Fujiko und Akira Toriyama. Weitere Einnahmen entstehen den Künstlern aus dem Rechteverkauf, da sie im Gegensatz zu US-Comickünstlern die Rechte üblicherweise behalten und nicht an Verlage verkaufen, sowie durch Auftragsarbeiten und bei besonders bekannten auch durch Werbeauftritte. Der Verbleib der Rechte bei den Künstlern führt auch dazu, dass nur sehr selten eine Serie von anderen Künstlern fortgeführt wird und dass die meisten Autoren im Laufe ihrer Karriere viele Serien und Figuren schaffen. Die Arbeit der meisten Zeichner findet unter großem Zeit- und Erfolgsdruck statt, da die Magazine in festem, teils wöchentlichem Rhythmus erscheinen und für jede Ausgabe ein neues Kapitel fertiggestellt sein muss. Da über die Magazine schnell und viele Rückmeldungen der Leser den Verlag erreichen, kann dieser auch zeitnah über die Absetzung einer Serie entscheiden. So ist es üblich, dass 10 Wochen nach Start der Serie über die Fortführung entschieden wird. Die Künstler nehmen teils große persönliche und gesundheitliche Einschränkungen in Kauf. Längere Unterbrechungen der Arbeit sind kaum möglich. Erfolgreiche Künstler arbeiten oft an mehreren Serien, die Wochenenden durch und schlafen nur vier oder fünf Stunden pro Tag. Wenn Termine gehalten werden müssen, werden auch Nächte durchgearbeitet. Neben dem Druck der Verlage führt auch der allgemeine gesellschaftliche Druck zu hoher Arbeitsmoral in Japan sowie das Prestige, möglichst viele Serien gleichzeitig zu veröffentlichen, zu diesem Arbeitspensum. In der Regel beschäftigt ein Künstler daher mehrere Assistenten, die Hilfsarbeiten ausführen wie das Zeichnen von Hintergründen, das Tuschen der Zeichnungen oder den Einsatz von Rasterfolien. Die Interaktion beziehungsweise Einbeziehung der Assistenten variiert jedoch stark: während manche Zeichner sie nur Nach- und Detailarbeiten übernehmen lassen und alle kreativen Arbeiten selbst erledigen, arbeiten andere ähnlich wie bei Filmproduktionen mit einem Team, dessen Ideen in das Werk einfließen und das selbstständig Teile übernimmt. Die Assistenten sind nicht immer angestellte Zeichner, sondern bisweilen auch Freunde oder Familienangehörige der Künstler. Erfolgreiche Künstler beschäftigen außerdem neben oft zehn oder mehr Assistenten auch einen Manager. Durch die geforderte Arbeitsgeschwindigkeit ist die Verwendung von Hilfsmitteln wie Rasterfolie zur Flächenfüllung oder vorgefertigter Hintergründe üblich. Die Aufteilung der Hauptarbeit in einen Zeichner (mangaka) und einen Szenaristen ((manga) gensakusha) ist selten, kommt aber eher bei Serien für Jugendliche vor. Die Szenaristen erreichen dabei selten die gleiche Popularität wie die Zeichner. Sie werden vor allem von Künstlern engagiert, auf denen nach einem ersten Erfolg die Erwartung liegt, weitere beliebte Serien zu schaffen. Vor allem jüngeren Künstlern fehlt dazu jedoch der Erfahrungsreichtum, sodass sie auf Szenaristen oder andere Ideengeber zurückgreifen. Das sind nicht selten auch die Redakteure der Magazine, für die die Künstler arbeiten. Diese wählen die Inhalte – Themen, Stimmungen und Stile – der Geschichten für das Magazin aus und suchen entsprechende Künstler, um die gewünschte Mischung im Magazin zu erreichen und damit die Zielgruppe ansprechen zu können. Darüber hinaus greifen die Redakteure nicht selten auch in die Entwicklung der Geschichten ein, halten engen Kontakt mit den Zeichnern, achten auf Einhaltung von Terminen. So hat das Magazin und dessen Redaktion oft erheblichen Einfluss auf den Inhalt einer Mangaserie, die darin erscheint. Verbreitungswege Veröffentlichungsformen In Japan erscheinen Mangas in unterschiedlichen Formen: In Zeitungen und Zeitschriften erscheinen zwischen den sonstigen Inhalten vor allem Yonkoma und ähnliche Comicstrips. Überwiegend in wöchentlichem oder monatlichem Rhythmus erscheinen telefonbuchdicke Manga-Magazine, in denen auf 400 bis über 1000 Seiten einzelne Kapitel mehrerer Serien zusammengefasst werden. Sie sind für umgerechnet rund drei bis fünf Euro am Zeitungsstand erhältlich, haben eine schlechte Papier- und Druckqualität und werden nach dem Lesen meist weggeworfen oder verschenkt. Die Magazine werden von den Verlagen genutzt, um die Beliebtheit der darin neu erscheinenden Serien bzw. Kapitel beim Publikum und andere Trends zu ermitteln. Dazu werden Fragebögen beigelegt, die der Leser zurücksenden kann. Zwischen den Kapiteln von Fortsetzungsserien erscheinen auch abgeschlossene Kurzgeschichten oder Comicstrips. Darüber hinaus gibt es Magazine, die sich vorrangig oder ausschließlich diesen kurzen Erzählformen widmen. Jeweils im Abstand von mehreren Monaten erscheinen Taschenbücher mit Schutzumschlag (Tankōbon), in denen mehrere vorher in den Magazinen erschienene Kapitel einer erfolgreichen Serie in sehr guter Druckqualität zum Sammeln und Aufbewahren neu aufgelegt werden. Die Bücher fassen etwa 200 bis 300 Seiten. Oft enthalten sie Bonus-Kapitel, die nicht vorher in den Magazinen abgedruckt wurden. Neben der normalen Auflage werden auch limitierte Sonderausgaben veröffentlicht, denen exklusive Figuren oder Merchandising-Artikel zur jeweiligen Serie beiliegen. Seit den frühen 2000er Jahren gibt es in zunehmendem Maße die Möglichkeit, Mangas in digitaler Form kostenpflichtig auf mobilen Geräten zu lesen. Die Bildfolgen sind dafür bildschirmgerecht aufgeteilt und teilweise auch durch technische Effekte (z. B. Einsatz der Pager-Funktion bei Actionszenen) aufbereitet, einige Manga-Serien werden exklusiv für Mobiltelefone angeboten. Aufgrund der geringen Downloadkosten von 40 bis 60 Yen (etwa 25 bis 40 Cent) pro Geschichte und der ständigen Verfügbarkeit entwickelte sich der Markt schnell. 2009 verkaufte einer der Anbieter bereits über 10 Millionen einzelne Kapitel pro Monat und seitdem wurden die Angebote auch auf Märkte außerhalb Japans ausgeweitet. Verkaufsorte sind sowohl Kioske als auch Buchläden und Spezialgeschäfte sowie rund um die Uhr geöffnete Konbini. Außerdem gibt es Automaten, die Magazine verkaufen. Seit Anfang der 1990er Jahre existieren Manga Kissa – Cafés mit zum Lesen ausliegenden Mangas. Als Dōjinshi bzw. Dōjin bezeichnet man von Fans gezeichnete inoffizielle Fortsetzungen oder Alternativgeschichten zu bekannten Anime bzw. Manga oder Spielen. In Japan werden sie oft von spezialisierten Kleinverlagen oder in Eigeninitiative veröffentlicht. Obwohl sie als Verwertung des geschützten Original-Materials fast immer Urheberrechte verletzen, gehen Verlage und Künstler fast nie dagegen vor. Stattdessen ist die Interaktion der Fans mit den Werken wesentlicher Bestandteil der Mediennutzung. Daneben werden auf dem Dōjinshimarkt auch viele Eigenschöpfungen veröffentlicht. Auflagenzahlen Während im Jahr 1967 in Japan von weniger als 50 Manga-Magazinen insgesamt 78 Millionen Exemplare verkauft wurden, waren es im Jahr 1994 von 260 Manga-Magazinen 1.890 Millionen Exemplare und 2006 1.260 Millionen verkaufte Exemplare. Shōnen Jump, das erfolgreichste Magazin, erlebt wie die meisten anderen seit 1997 einen stetigen Rückgang des Absatzes: Mitte der 1990er-Jahre lag er noch bei sechs Millionen Exemplaren pro Woche – 2015 waren es 2,4 Millionen. In den Jahren zuvor verloren die großen Magazine häufiger 10 % und mehr ihrer Auflage pro Jahr. An zweiter Stelle nach Shōnen Jump steht das Weekly Shōnen Magazine mit etwa 1 Million verkauften Exemplaren pro Woche. Hohe Verkaufszahlen in ihren Sparten hatten 2017 das Kindermagazin CoroCoro Comic (780.000), die Seinen-Magazine Young Jump und Big Comic (je etwa 500.000), das Shōjo-Magazin Ciao (450.000) und die Josei-Magazine For Mrs. und Elegance Eva (150.000). Einzelbände erfolgreicher Serien haben üblicherweise Erstauflagen von 300.000 bis 500.000. Den Rekord hält gegenwärtig Band 56 der Serie One Piece: Anfang Dezember 2009 wurde er in einer Erstauflage von 2,85 Millionen Exemplaren ausgeliefert, wofür der Shueisha-Verlag mit einer neunseitigen Zeitungsanzeige warb. Bis zum Jahr 2017 verkauften folgende Serien in Japan über 100 Millionen Exemplare (Summe der Verkaufszahlen aller Bände): One Piece (laufend): 360 Millionen Exemplare Detektiv Conan (laufend): 200 Millionen Exemplare Golgo 13 (laufend): 200 Millionen Exemplare Dragonball (abgeschlossen, 42 Bände): 157 Millionen Exemplare Kochira Katsushika-ku Kameari-kōen Mae Hashutsujo (Kurzform Kochikame, abgeschlossen, 200 Bände): 156 Millionen Exemplare Naruto (abgeschlossen, 72 Bände): 135 Millionen Exemplare Oishimbo (laufend): 130 Millionen Exemplare Slam Dunk (abgeschlossen, 31 Bände): 120 Millionen Exemplare Doraemon (abgeschlossen, 45 Bände): 100 Millionen Exemplare Astro Boy (abgeschlossen, 23 Bände): 100 Millionen Exemplare JoJo no Kimyō na Bōken (laufend): 100 Millionen Exemplare Touch (abgeschlossen, 26 Bände): 100 Millionen Exemplare Golgo 13 (gestartet 1968) und Kochikame (1976–2016) gehören zugleich auch zu den am längsten ununterbrochen laufenden Manga-Serien und zu denen mit der größten Anzahl an Sammelbänden. Zusammenspiel mit anderen Medien Die Vermarktung von Manga findet oft im Zusammenspiel mit Anime-Serien und Kinofilmen, Videospielen, Spielzeugen, Hörspielen und weiteren Medien statt. Dabei kann eine erfolgreiche Mangaserie über die Adaptionen an Reichweite und damit an weiterer Popularität gewinnen oder sogar inhaltlich verändert werden, um andere Teile des Medienverbunds zu unterstützen, die erfolgreicher waren. Auch erscheinen wiederum Manga als Adaptionen anderer Medien. Die Wechselwirkungen in der Vermarktungskette ermöglichen es den Verlagen Risiken zu reduzieren. Zugleich drängen sie zur Konformität und können Innovationen bremsen, da diese noch nicht am Markt erprobt sind. Bei erfolgreichen Serien wird die Adaptionskette manchmal mehrfach wiederholt, das heißt sowohl erneut adaptiert als auch die Adaptionen erneut als Manga – zum Beispiel als Spin-off – umgesetzt, dem wiederum Umsetzungen in anderen Medien folgen. Im Laufe der Zeit wurde die Vermarktung immer schneller. Bei den ersten Verfilmungen in den 1960er Jahren vergingen zwischen Erstveröffentlichung des Mangas und der Adaption noch Jahre. Bereits bei Dr. Slump 1980 lagen zwischen dem ersten Kapitel des Mangas und der Premiere des ersten Films nur sechs Monate. Durch die zahlreichen Adaptionen haben Mangas einen erheblichen Einfluss auf das japanische Kino und Fernsehen. Vergleichbar mit US-amerikanischen Comic-Verfilmungen gibt es in der japanischen Filmindustrie seit der Jahrtausendwende zunehmend Bestrebungen, Mangas als Realfilme oder -serien umzusetzen; Beispiele hierfür sind Touch, Ichi the Killer, Oldboy oder Uzumaki. Immer mehr japanische Regisseure sind mit Manga aufgewachsen, und der Fortschritt der Tricktechnik ermöglicht mittlerweile die Adaption selbst komplexester Szenen. Zudem können bei einer Manga-Umsetzung die Fans des Originalwerkes auch ohne großen Werbeaufwand erreicht werden. Zu den erfolgreichsten Realverfilmungen von Manga zählen unter anderem die Fernsehserie zu Great Teacher Onizuka (1998), deren letzte Folge die höchste jemals erreichte Einschaltquote eines Serienfinales im japanischen Fernsehen hatte, und der Kinofilm zu Nana (2005), der mit einem Einspielergebnis von umgerechnet ungefähr 29 Millionen Euro auf Platz 5 der erfolgreichsten japanischen Kinofilme des Jahres kam. Mit Death Note (2006) war eine Manga-Umsetzung erstmals von vornherein als zweiteilige Kinofassung ausgelegt. Auch jenseits von Adaptionen hatten Mangas Einfluss auf die japanische Spieleindustrie. Viele Spiele greifen Stilelemente aus dem Manga auf und textbasierte Adventure-Spiele sind üblicherweise mit Illustrationen ähnlich einem Manga versehen, sodass sie als technische Weiterentwicklung des grafischen Erzählmediums verstanden werden können. Auch hinsichtlich Inhalt und Genre nehmen japanische Spiele immer wieder Anleihen beim Manga. Seit den 1990er Jahren setzt sich die japanische Gegenwartskunst verstärkt mit der Ästhetik von Mangas auseinander, auch bestärkt durch deren anhaltende und internationale Popularität. Zu Beginn der 2000er Jahre kam es zeitweise zu einem Boom dieser Auseinandersetzung, die das japanische Kunstgeschehen, große Ausstellungen und Kataloge dominierte. Es werden Bezüge zu bekannten Mangaserien oder deren Figuren, typische Designs, Vereinfachung und Niedlichkeit oder sequenzielle Elemente aufgegriffen. Im Rahmen dessen erschien auch das Super Flat Manifesto von Takashi Murakami, in dem dieser eine Tradition „abgeflachter“ japanischer Pop-Art mit Wurzeln in der Edo-Zeit postuliert. Dieser Manga-bezogene Trend löste die vorhergehende Auseinandersetzung mit Zen-Minimalismus, Abstraktion und Aktionskunst in der japanischen Kunst ab. Auch unter den Künstlern gibt es Verbindungen zu anderen Medien. Viele Mangaka begeistern sich für Filme oder schauen schon zum Sammeln von Inspirationen viele Filme. Manche von ihnen sagen auch, dass sie zunächst in die Filmbranche gehen wollten. In der Vergangenheit sind auch viele weniger erfolgreiche – und manche erfolgreiche – Mangazeichner später zum Film oder zur Prosa gewechselt. Einige sind auch in beiden Feldern tätig. So ist Hayao Miyazaki zwar als Anime-Regisseur bekannter, schuf jedoch auch einige Manga-Serien. Zuletzt kommt es auch häufiger vor, dass Schriftsteller Szenarien für Mangas schreiben oder ihre Werke als Manga adaptiert werden. Darüber hinaus haben Mangas Einfluss genommen auf die japanische Literatur, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Schließlich entstand aus der Mischung von Manga und Prosa in Japan die Light Novel: Unterhaltungsromane für eine jugendliche Zielgruppe mit einigen Illustrationen im typischen Manga-Stil. Manga in Japan Markt und Wirtschaftsfaktor Manga sind eine der Hauptsäulen des japanischen Verlagswesens. Die Sparte macht seit vielen Jahren gut ein Drittel aller Druckerzeugnisse in Japan aus. Der Comic-Markt besteht in Japan, anders als in anderen Ländern, fast ausschließlich aus einheimischen Produktionen. Neben dem Markt der Verlage existiert auch ein Markt für Fanpublikationen, zu dem keine genauen Zahlen erhoben werden können, auf dem aber ebenfalls große Summen umgesetzt werden. Dagegen ist der Sammlermarkt von geringerer Bedeutung als in anderen Ländern. 1978 erreichte der Umsatz der Manga-Branche 184,1 Milliarden Yen. Auf dem Höhepunkt des Manga-Magazin-Markts 1995 setzte die Branche 586 Mrd. Yen um. Statistisch gesehen kaufte jeder Japaner pro Jahr 15 Manga. Während lange Zeit die Magazine den Großteil der Umsätze erwirtschafteten – 2002 noch zwei Drittel der Verkäufe – zeigte sich ab der Jahrtausendwende ein neuer Trend: Während im Jahr 2004 die Gesamteinnahmen bei Magazinen noch bei ca. 255 Milliarden Yen und bei Taschenbüchern bei ca. 250 Milliarden Yen lagen, gingen im Jahr 2005 die Einnahmen bei Magazinen auf 242 Milliarden Yen zurück (und lagen damit nur noch bei etwa 70 % der Einnahmen des Jahres 1995), während die Einnahmen bei Taschenbüchern auf 260,2 Milliarden Yen stiegen. 2016 machten Taschenbücher mit 194,7 Mrd. Yen dann etwa zwei Drittel des Print-Manga-Marktes von 296,3 Mrd. Yen aus. Zugleich waren Magazine, selbst die mit dem größten Umsatz, nie besonders profitabel, sondern stets Instrumente zum Testen der Serien. Gewinne erzielen die Verlage erst mit Taschenbüchern und weiterer Vermarktung. In dieser Kombination von Magazinen als Marktöffner und Taschenbüchern als Gewinnbringer wird ein Grund für den wirtschaftlichen Erfolg des Mediums in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen. Gründe für den Rückgang der Verkäufe seit den 1990er Jahren sind die lange andauernde wirtschaftliche Krise und die Konkurrenz durch neue Unterhaltungsprodukte wie Computerspiele, Internet und Smartphones. Außerdem altert und schrumpft die japanische Bevölkerung insgesamt, wodurch die für Manga besonders wichtige Gruppe der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kleiner wird. Darüber hinaus werden wieder mehr Mangas geliehen oder gebraucht gekauft als in den 1990er Jahren, sodass bei gleicher Leserzahl weniger Exemplare abgesetzt werden. Zwar verliert der Print-Markt weiter an Bedeutung, allerdings wird dies seit 2014 durch den stark wachsenden Digitalmarkt wie Manga-E-Books abgefangen, so dass der Manga-Markt sich insgesamt auf etwa 450 Mrd. Yen stabilisiert hat. 2017 überstieg der Umsatz von digital verkauften Serien erstmals den von Taschenbüchern. Quelle: The All Japan Magazine and Book Publisher’s and Editor’s Association (AJPEA), 1978–2011 (Daten grafisch abgelesen mit Genauigkeit ±1%), 2011, 2012, 2013, 2014–2017. Daten für digital vor 2014 nicht abgebildet. Der Markt wird von wenigen großen Verlagen dominiert; Kōdansha, Shōgakukan und Shūeisha (eine 50%ige Tochter Shōgakukans) erwirtschaften etwa 70 % des Umsatzes, während sich viele kleine und mittlere Verlage den Rest aufteilen. Zu den bedeutenderen mittleren Verlagen zählen Hakusensha, Akita Shoten, ASCII Media Works (seit 2013 Teil von Kadokawa), Square Enix, Kadokawa Shoten, Ōzora Shuppan, Futabasha und Shōnen Gahōsha. Kleinere Verlage spezialisieren sich oft auf bestimmte Genres oder Zielgruppen. Seit dem verstärkten Aufkommen digitaler Verbreitung in den 2000er Jahren werden auch Mangas häufiger und international illegal verbreitet. Dies wird durch Künstler und Verlage zunehmend als wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen. Neue Geschäftsmodelle wie verstärkte Angebote von legalen digitalen Mangas wie auch kostenlose Bereitstellung bei Finanzierung über Werbung oder Verkauf von Merchandising werden dem entgegengesetzt, jedoch ohne dass immer zufriedenstellende finanzielle Ergebnisse erzielt werden können. Die Künstler selbst haben, im Gegensatz zu Musikern, kaum die Möglichkeit, Geld durch Live-Auftritte zu verdienen. Befördert wird die digitale, illegale Verbreitung auch durch Leser, die ihre Mangas zur besseren Lagerung für den Eigenbedarf scannen, dann aber auch anderen zugänglich machen. Gesellschaftliche Bedeutung Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen Comics als reine Kinder- und Jugendliteratur bzw. nur als Unterhaltungsmedium gelten, sind Comics in Japan als gleichberechtigtes Medium und Kunstform anerkannt. Sie werden von Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen konsumiert. Comic lesende Pendler oder Geschäftsleute sind nichts Ungewöhnliches, auch Politiker bis zu Premierministern geben Mangalesen als Hobby an oder nutzen Mangas als Medium. Der öffentliche Raum ist besonders während der Fahrt zur Arbeit ein üblicher Ort zur Rezeption von Manga-Magazinen oder Sammelbänden. Außerdem besteht eine große Tauschkultur („mawashiyomi“), sodass viele Bände durch mehrere Hände gehen, und Manga Kissa – Cafés mit ausliegenden Mangas – sind als Orte zur preiswerten Lektüre beliebt. Von Verkäufern verboten, aber dennoch verbreitet ist tachiyomi („im Stehen lesen“) – das Lesen von Mangas in der Auslage der Läden, ohne sie zu kaufen. Manga spiegeln in Japan wie andere Medien auch gesellschaftliche Werte und Entwicklungen wider. So haben die Samurai-Traditionen des Bushidō im Shōnen-Manga Niederschlag gefunden. Zugleich erfährt der Umgang mit diesen Werten immer wieder Veränderung – von der Glorifizierung des Krieges bis zur Darstellung persönlicher Dramen vor historischem Hintergrund oder die Übertragung der Werte in Sport und Beruf. Auf der anderen Seite haben Manga-Serien durch die allgemeine Anerkennung als Kunstform und starke Verbreitung seit vielen Jahrzehnten auch selbst Einfluss auf andere Medien, Kunstformen und die japanische Kultur. Die Ästhetik von Manga ist in der japanischen Kultur so weit akzeptiert und verbreitet, dass sie oft nicht nur für Manga selbst, sondern auch für Schilder, Illustrationen und Werbefiguren verwendet wird. Als Werbeträger dienen sowohl etablierte Figuren aus bekannten Mangaserien als auch eigens für die Werbung geschaffene Figuren. Dazu kommen Produkte, die aus der Vermarktung erfolgreicher Serien entstehen. Die Strategie hinter dem Einsatz der Manga-Ästhetik außerhalb der Serien und insbesondere in Anleitungen und Schildern liegt darin, über ikonische Zeichen und Figuren Orientierung zu vermitteln und komplizierte Abläufe verständlich zu machen. Um die Überwindung von Sprachbarrieren geht es in der Regel nicht, da die Illustrationen fast nur von Japanern angeschaut werden und mit japanischem Text versehen sind. Der Erfolg von Manga in Japan wird gern damit erklärt, dass die Alphabetisierung schon lange hoch war, das Fernsehen relativ spät eingeführt wurde oder es in den großen Städten viele Pendler gibt, die Manga auf der Fahrt lesen. Jason Thompson erklärt den Erfolg eher mit der Fähigkeit der Autoren, sehr lange Geschichten zu erzählen, die ihre Leser mitreißen sowie mit einem größeren Fokus der Aufmerksamkeit und der Urheberrechte auf den Künstlern statt auf Franchises, der zugleich zu einem starken Wettbewerb unter den Künstlern führt. Frederik Schodt sieht einen Grund für den Erfolg der Comics in dem in Japan herrschenden Leistungsdruck ab der Mittelschule sowie dem Leben in dicht besiedelten Städten. Dies führe dazu, dass sich viele eine Freizeitbeschäftigung suchen, die schnell und kurz sowie ohne Störung von anderen konsumiert werden kann, überallhin mitgenommen werden kann und zugleich die Möglichkeit bietet, aus dem anstrengenden, wenig motivierenden Alltag zu entfliehen, wie es ähnlich auch Paul Gravett beschreibt. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten sei es der Comicszene in Japan außerdem gelungen, die seit den 1950er Jahren immer wieder bestehenden Zensurbestrebungen – vor allem von Lehrer- und Elternverbänden – sowohl politisch wie wirtschaftlich zu überstehen. Von anderen wird der Erfolg des Mediums auch japanischen Besonderheiten zugeschrieben: So gebe es in Japan durch die aus einer großen Zahl ursprünglich bildhafter Symbole bestehenden Schrift und die lange Tradition stilisierender beziehungsweise karikierender Malerei eine Affinität zu entsprechend symbolhaften Darstellungen und bildlichem Erzählen. Insbesondere direkt nach dessen Tod wurde auch Osamu Tezuka persönlich, seinem Engagement und dem großen Umfang und der Vielfalt seines Werks ein großer Anteil am Erfolg des Mediums zugeschrieben. Der Kulturhistoriker Tomafusa Kure nahm an, Mangas hätten in Japan den Platz der Literatur ausgefüllt, nachdem diese im 20. Jahrhundert immer intellektueller geworden sei, sich auf psychologische Zustände konzentriert habe und damit viele Leser verloren hatte. Gesellschaftliche Kritik Kritik am Medium Manga gibt es in Japan seit den 1950er Jahren, als auch in den USA und Europa Comics im Zentrum gesellschaftlicher Medienkritik standen. Dabei wurde die in westlichen Ländern verbreitete Kritik, Mangas würden verhindern, dass Kinder richtig lesen lernen, nur selten erhoben. Ihr gegenüber steht die in Japan sehr hohe Alphabetisierung von etwa 99 %. Und wegen der bereits früh ausgeprägten Differenzierung nach Zielgruppen verschiedenen Alters hatte die Kritik von Eltern und Pädagogen in Japan wenig Widerhall gefunden. Erst nachdem in den 1980er Jahren sexuelle Darstellungen auch in Publikationen für Jugendliche und Kinder zunahmen, verstärkte sich die Kritik. Sie gipfelte in der Debatte nach dem Fall des sogenannten Otaku-Mörders Tsutomu Miyazaki, der 1989 vier Mädchen tötete und Anime- und Manga-Fan war. Daraus entstand eine Diskussion um einen Zusammenhang zwischen den Medien und Gewalt. In dieser wird jedoch auch angeführt, dass es in Japan mit seinem sehr hohen Manga-Konsum eine der geringsten Raten an Verbrechen, insbesondere Gewaltverbrechen gibt und daher eine Verbindung zwischen beidem nicht ersichtlich sei. So wird auch argumentiert, dass die unter anderem durch Manga große Verfügbarkeit von sexuell wie an Gewalttaten freizügigen Inhalten eher dazu führt, dass weniger Gewalttaten begangen werden. Das Verhältnis der japanischen Medien und Gesellschaft zu sexualisierten und gewalthaltigen Darstellungen, die Auslegung der diesbezüglichen Gesetze und deren Abwägung mit der Kunstfreiheit ist nach wie vor ungeklärt. Ähnliche Diskussionen gab es um die Verbindung von Manga zur Sekte Ōmu Shinrikyō, die in Japan einen Giftgasanschlag verübte und deren Begründer in seiner Ideologie von Science-Fiction-Serien beeinflusst war. Ebenfalls Anfang der 1990er Jahre gab es eine Kampagne gegen die stereotype Darstellung von Afrikanern und Afroamerikanern in Mangas. Die Stereotype mit Ursprüngen in Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus wurden bis dahin kaum bemerkt oder unbedacht humoristisch eingesetzt. Diese wurden nun international von Minderheitenvertretern stärker wahrgenommen, jedoch wegen Auswahl und mangelnder Sprachkenntnis teils in wiederum verzerrter Form. In Folge der Debatte wurden einige Geschichten umgezeichnet oder ältere Werke kommentiert und bei Redaktionen und Zeichnern herrschte danach ein größeres Problembewusstsein, aber auch die Sorge, unberechtigter Kritik ausgesetzt zu werden, und daher das gänzliche Vermeiden afrikanischer oder afroamerikanischer Figuren. Fanszene und Forschung Paul Gravett beobachtete in der Leserschaft von Mangas mehrere Gruppen: neben den meisten Lesern, die nur gelegentlich lesen und nur einige wenige Serien verfolgen, gibt es eine deutlich kleinere Gruppe von Fans des Mediums sowie innerhalb diesen die besonders aktive Gruppe der Otaku, wie besonders besessene Fans teilweise genannt werden. Daneben gibt es einen Markt von Sammlern seltener Manga-Ausgaben, der jedoch deutlich kleiner als die Sammlerszene in den USA ist – auch weil die meisten Serien immer wieder neu aufgelegt werden. Otaku wurden seit Aufkommen der Szene in den 1980er Jahren von der Gesellschaft und Medien als gestörte Stubenhocker gebrandmarkt und grenzten sich – auch als Reaktion darauf – bewusst von der Gesellschaft ab. Für Fans, die besonders viele Serien sammeln und nicht mehr alle Bücher lagern können, wird zunehmend eine Dienstleistung namens jisui angeboten: ein Unternehmen scannt für den Kunden dessen Bücher, die er dann nur noch als digitale Kopie aufbewahrt. Seit den 1970er Jahren entwickelte sich eine starke Fanszene, die wesentliche Überschneidungen zu der von Animes aufweist. Fans sind oft selbst kreativ tätig. Beliebte Formen sind Fanart, Fanfiction und Dōjinshi, wobei die Verlage in Japan dabei meist dulden, dass bei den selbstverlegten Fortsetzungen oder Alternativerzählungen der Fans Urheberrechte verletzt werden. Auch werden von Fans Veranstaltungen organisiert: Der zwei Mal jährlich seit 1975 in Tokio stattfindende Comic Market (auch ‚Comiket‘ genannt) ist nicht nur die größte Dōjin-Messe Japans, sondern mit 35.000 Ausstellern und über 500.000 Besuchern sogar die größte Comic-Veranstaltung der Welt. Die kreative Fanszene, in der neben Adaptionen bekannter Werke auch Eigenschöpfungen entstehen und angehende Künstler ihre ersten Werke publizieren, wird von jungen Frauen dominiert. Das rührt auch daher, dass in der japanischen Gesellschaft der Druck auf Männer größer ist, schnell zu studieren und berufstätig zu werden, sodass sie seltener Gelegenheit für zeitaufwändige Hobbys haben. Cosplay – das Verkleiden als Figur aus einer Mangaserie – ist ein beliebtes Hobby in der Fanszene. Dies reicht bis zu Cosplay-Cafés, in denen die Bedienung kostümiert ist. Forschung zum Manga und eine Szene von Kritikern konnte sich trotz weiter Verbreitung und gesellschaftlicher Anerkennung bis in die 1990er Jahre nicht entwickeln. Allein den Comicstrips war ab den 1960er Jahren bereits einige Aufmerksamkeit von Forschern und Kritikern zuteilgeworden. Das erste Museum, das sich umfangreich mit Manga beschäftigte und gezielt sammelte, war das 1989 eröffnete Kawasaki City Museum. Ein erstes Symposium zum Manga veranstaltete die Japanische Gesellschaft für Kunstgeschichte im Jahr 1998; 2001 wurde die Japanische Gesellschaft für Manga-Studien (Nihon Manga Gakkai) gegründet, die jährliche Konferenzen veranstaltet. Ein erster Studiengang entstand 2006 an der Seika-Universität Kyōto, weitere folgten. Im gleichen Jahr eröffnete das Kyōto International Manga Museum. Das Forschungsfeld konzentriert sich bisher auf historische Betrachtungen des Mediums sowie spezifische Aspekte der visuellen Sprache und des Erzählens. Außerdem wurden soziologische Themen wie die Verbindung von Genres und Gender oder Subkulturen untersucht. Preise und Auszeichnungen Zu den bedeutendsten im Manga-Bereich verliehenen Preisen gehören als älteste Auszeichnung der vom gleichnamigen Verlag 1956 ins Leben gerufene Shōgakukan-Manga-Preis für die besten Mangas, sowie der seit 1977 verliehene Kodansha-Manga-Preis und der seit 1997 von der Zeitung Asahi Shimbun jährlich in vier Kategorien vergebene Osamu-Tezuka-Kulturpreis für herausragende Zeichner und Personen oder Institutionen, die sich um die Mangas besonders verdient gemacht haben. In jüngerer Zeit werden auch Auszeichnungen von politischen und Kulturinstitutionen vergeben. Dies sind der Internationale Manga-Preis des japanischen Außenministeriums, der Japan Media Arts Award des japanischen Kulturamts und der von mehreren Museen vergebene GAIMAN Award. Darüber hinaus werden Mangas in Japan immer wieder auch mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Internationale Verbreitung Allgemeine Entwicklung und Wirkung Die internationale Verbreitung von Manga wurde durch den vorhergehenden Erfolg von Anime, japanischen Animationsfilmen, gefördert. Auch dabei spielte, wie bei der Geschichte des Mangas selbst, Osamu Tezuka eine bedeutende Rolle, da gerade die von ihm produzierten Verfilmungen seiner Manga-Serien im Ausland großen Erfolg hatten. Die Verbreitung von Anime-Serien insbesondere in den 1990er Jahren führte schließlich dazu, dass die Stilmerkmale von Manga einem jungen Publikum vertraut wurden und sie dem Medium offener gegenüber standen. Darüber hinaus waren diese Serien stark mit Merchandisingprodukten wie Spielzeug verknüpft, in deren Gefolge auch die Mangaserien vermarktet wurden. Die vorhergehende Popularisierung von Anime hatte insbesondere in den 1990er Jahren jedoch auch die Folge, dass nach der selektiven Wahrnehmung einiger pornografischer Anime als „der Anime“ das Vorurteil eines sexualisierten, potentiell gefährlichen Mediums auch auf Manga übertragen wurde. Auch die Verwendung der Manga-Ästhetik in Werbung für erotische Angebote im nächtlichen Fernsehprogramm leistete dem Vorschub. Das Vorurteil eines von Gewalt und Sex durchdrungenen und zugleich kindischen Mediums bestand bereits seit den 1960er Jahren, als es im Westen erste Berichte über japanische Comics gab, die Aufsehen erregende Beispiele herausgriffen. Paul Gravett führt diese auch auf das allgemeine Vorurteil eines unreifen, der Führung bedürftigen Japans zurück, das in der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten verbreitet war. Auch während der beginnenden internationalen Popularisierung in den 1990er Jahren wurden Vorurteile durch selektive Darstellung der entweder besonders kinderfreundlichen oder avantgardistischen, verstörenden Werke noch bestärkt. Auch unter japanophilem Publikum war Manga wenig beliebt, da das Medium als Gegensatz zur japanischen Hoch- und Hofkultur wie Teezeremonie und Gartenkunst wahrgenommen wurde, als hedonistische, rebellische Popkultur. Begünstigt wurde die Wahrnehmung als gefährliches Medium auch dadurch, dass die früh international erschienenen, positiv angenommenen Verfilmungen für ein jüngeres Publikum nicht als japanisch beziehungsweise als Anime wahrgenommen wurden. Durch Synchronisation und Genreauswahl – bevorzugt wurden kulturell neutrale Science-Fiction- und Fantasy-Inhalte – blieb die japanische Herkunft weitgehend verborgen. Dies trug auch zum schnellen Erfolg von Anime bei, dagegen war die Leserichtung für Manga eine Hürde. Daher wurden die lizenzierten Ausgaben zunächst oft gespiegelt. Die spezifische Dominanz von Bildern gegenüber Text, archetypisch-symbolische Gestaltung der Figuren und der filmische Erzählstil dagegen machen das Medium Manga international leicht verständlich. Ähnliches gilt für die stark stilisierten und nicht als japanisch erkennbaren Charakterdesigns und die inhaltliche Vielfalt, die auch eine Vielzahl an Werken ohne Bezüge zur japanischen Kultur bietet. Jedoch ist international – im Gegensatz zur Situation in Japan selbst – fast nur der Story-Manga bekannt und verbreitet. Der Erfolg von Manga außerhalb Japans und insbesondere bei der Generation der 1980er und 1990er Jahre wird gern mit seiner Andersartigkeit erklärt, die der Abgrenzung zu anderen Kulturprodukten und der Elterngeneration diene. Jedoch war dieser Generation der Stil von Manga gar nicht so fremd, da sie bereits über Animeserien damit vertraut wurden. Außerdem sind die in den 1990er Jahren erfolgreichen Serien für ein jüngeres Publikum entstanden, bieten Charaktere, mit denen sich die Leser leicht identifizieren können, und laden zur kreativen Auseinandersetzung in Form von Fanart ein. Auch die schnell gewachsene Fanszene trug zur Attraktivität des Mediums bei. Die Ästhetik von Manga und Anime fand mit der internationalen Popularisierung der Medien auch über die Konsumenten der japanischen Werke hinaus Verbreitung, Akzeptanz und Gefallen, sodass sie auch in nicht-japanischen Produktionen aufgegriffen wurde. Besonders in der Fanszene, aber auch darüber hinaus, entstand außerdem ein größeres Interesse an anderen Aspekten der japanischen Kultur. In einigen Jugendkulturen entstand seit den 2000er Jahren eine Japan-Mode, sodass Japan hier größeren Einfluss als die früher Vorbild gebenden Vereinigten Staaten hat. Manga wurde zusammen mit Anime unter dem Schlagwort Cool Japan zu einem kulturellen Botschafter Japans, in deren Kontext auch andere Aspekte der japanischen Kultur vermittelt werden sollen und die zu einem Gegenstand und Mittel japanischer Außenpolitik wurden. Dem dient auch der 2007 vom japanischen Außenministerium ins Leben gerufene Internationale Manga-Preis. Ein für die Verbreitung wichtiger Weg war das Internet, über das zunächst Informationen über das Medium und dann zunehmend auch übersetzte Serien leicht zugänglich wurden. Diese sogenannten Scanlations waren wie zuvor schon die in der Fanszene kursierenden Kopien illegal, dennoch hatte diese Verbreitung großen Anteil an der Popularisierung und schließlich auch dem kommerziellen Erfolg von Mangas außerhalb Japans. Die im Laufe der 2000er Jahre immer einfachere Zugänglichkeit und Umfang der illegalen Kopien wird jedoch auch für einige Marktschwankungen, wie in den USA, mitverantwortlich gemacht und nimmt anders als in Japan einen erheblichen Anteil des Konsums ein. Dem gegenüber steht, dass viele Serien nur sehr spät, langsam oder nie außerhalb Japans veröffentlicht werden und daher illegale Kopien oft der einzig mögliche Zugang sind. Viele Scanlationgruppen werden außerdem von den Verlagen toleriert, da sie ihre Fanübersetzungen zurückziehen und zum Kauf aufrufen, sobald die Serie für das Zielpublikum offiziell veröffentlicht wurde. Scanlations haben auch Druck auf die Verlage ausgeübt, Manga möglichst originalgetreu zu veröffentlichen und waren Vorbild beispielsweise bei der unveränderten Übernahme von Lautmalereien und japanischen Anreden in Übersetzungen. Das trug dazu bei, vielen Manga-Veröffentlichungen im Westen einen eher exotischen Charakter zu verleihen, anstatt dass sie an das heimische Publikum angepasst wurden. Manga hat Comics im Westen, die hier zuvor fast ausschließlich an männliche Leser gerichtet waren, für ein weibliches Publikum attraktiv gemacht und dem Medium so eine wesentlich größere Leserschaft erschlossen. Der weibliche Teil der Fanszene ist oft auch deutlich stärker selbst kreativ in Form von Fanart. Teils im Westen geäußerter Kritik, Mangas seien sexistisch, würden Frauen herabsetzen oder Vergewaltigung verherrlichen, traten Timothy Perper und Martha Cornog 2002 in einer Studie entgegen. Nach Auswertung aller in drei Jahren auf Englisch erschienenen Werke stellten sie fest, dass Mangas keinesfalls frauenfeindlich seien, sondern im Gegenteil vielfältige feministische Qualitäten besäßen und der Sexualität gegenüber zwar positiv eingestellt seien, dabei aber Widerstand gegen sexuelle Übergriffe übten, die sie darstellen. Die interkulturell anschlussfähigen und übertragbaren Stilmerkmale und Erzählstrategien des Manga wurden in den etablierten internationalen Fanszenen aufgegriffen, in denen Werke entstanden, die von den japanischen Vorbildern inspiriert waren. Auf diese Weise entstanden diverse internationale „Ableger“, die sich oft stärker mit Manga identifizieren als mit der jeweils nationalen Comickultur. Eng mit der japanischen Kultur verbundene Aspekte des japanischen Comics gingen dabei verloren, die Stilmerkmale wurden globalisiert. Unterstützt wurde dies durch den Erfolg von How-to-Draw-Manga-Anleitungen, die diese Merkmale außerhalb Japans verbreitet und standardisiert haben. Allgemein kann Manga zusammen mit Anime als ein Beispiel kultureller Globalisierung gelten, das nicht vom Westen ausging. Im Prozess der Verbreitung von Mangas zeigen sich sowohl globale Homogenisierung als auch Heterogenisierung, indem Teile der japanischen Kultur weltweit wirken, dabei aber selbst oft von ihrem Ursprung entfremdet und kulturell angepasst werden. In einem zweiten Schritt werden diese importierten Aspekte in lokale Comickulturen integriert. Darüber hinaus wirkt Manga einer kulturellen Dominanz der Vereinigten Staaten entgegen, wobei sich diese Wirkung kaum über den Kulturbereich von Comics hinaus erstreckt. Ostasien Im Vergleich zu Amerika und Europa hatten japanische Comics in Ostasien bereits früh Erfolg und fanden insbesondere in Südkorea, Taiwan und Hongkong schnell Verbreitung. Jedoch waren viele der Veröffentlichungen zunächst nicht lizenziert, sodass kein Geld an die Urheber gezahlt wurde. Erst mit dem Rückgang der Verkäufe in Japan übten die japanischen Verlage und die Regierung Druck in den Nachbarländern aus, auf dass die illegalen Veröffentlichungen bekämpft und Lizenzen erworben wurden. Die Serien waren weiterhin populär und ermöglichten den Verlagen zusätzliche Einnahmen. Als Gründe für den schnellen Erfolg von Mangas in den Nachbarländern Japans – meist gegen die dortige Zensur und gesellschaftliche Widerstände – werden die gute Lesbarkeit und Überlegenheit von Layout und Erzähltechniken und die kulturelle Nähe genannt. Mit dieser Nähe gehe eine leichtere Identifizierung mit Inhalten und Figuren einher. Dazu komme die oft größere inhaltliche Freiheit als bei einheimischen Produktionen, gerade in Hinblick auf Humor, Sex und Gewalt, und damit ein höherer Unterhaltungswert. Außerdem ist die Übersetzung einfacher, da das Spiegeln meist nicht nötig ist. In Taiwan sind Manga so erfolgreich, dass die meisten großen japanischen Magazine auch hier erscheinen. Zugleich war das Land lange Zeit eines derjenigen mit den meisten illegalen Kopien – der größte dieser Verlage war Tong Li Publishing, der über 1000 Werke ohne Lizenz herausbrachte. Manga war wegen der japanischen Kolonialherrschaft über Taiwan politisch nicht erwünscht und daher Zensur unterworfen. Diese griff wegen der illegalen Kopien jedoch kaum und Taiwan war trotz der Einschränkungen Sprungbrett für die Weiterverbreitung von Mangas in andere Länder Ostasiens. So konnten Mangas seit den 1950er Jahren den Comicmarkt in Taiwan und die lokale Comickultur prägen. Zeitweise wurde dies von den Zensurbehörden hingenommen, später wurden anti-japanische Strömungen genutzt, um den einheimischen Comic zu fördern. In den 1990ern entwickelte sich ein Lizenzmarkt, in den die meisten der vorherigen Piratenverlage einstiegen. Auf Korea hatten die japanischen Comics bereits früh Einfluss, da während der japanischen Kolonialherrschaft viele japanische Produkte in das Land kamen und ein reger Austausch stattfand. Nach der Befreiung 1945 waren japanische Produkte dagegen geächtet und lange Zeit deren Import und Verbreitung gesetzlich verboten. Dennoch gelangten ab den 1950er Jahren immer mehr Mangaserien als unlizenzierte Kopien nach Südkorea, wo sie häufig ohne Herkunfts- und Autorangabe oder mit koreanischen Autoren versehen verbreitet wurden. Die offiziell durch die koreanische Zensur gelangten Kopien waren oft durch koreanische Zeichner von der japanischen Vorlage abgezeichnet. Den Höhepunkt erreichte der nicht-lizenzierte Markt in den 1980er Jahren, ehe ab 1990 das Verbot japanischer Produkte gelockert und Lizenzverträge abgeschlossen wurden. So wurde erstmals überhaupt bekannt, dass viele der beliebten Serien japanischen Ursprungs waren, was zu nationalistisch motivierter Kritik und Sorge um zu großen japanischen Einfluss führte. Mangas wurden für die Darstellung von Gewalt und Sexualität kritisiert und als schlechter Einfluss auf die koreanischen Kinder dargestellt. Zugleich entwickelte sich ein Magazin- und Taschenbuchmarkt nach japanischem Vorbild, auf dem zunehmend auch die einheimischen Künstler Fuß fassen konnten. Als Folge der Kritik an Mangas fördert die südkoreanische Regierung seitdem stärker die nationale Comicbranche, den Manhwa. Die starken japanischen Einflüsse auf diese sind wegen der Ablehnung japanischer Kultur gesellschaftlich umstritten oder werden sogar verleugnet. Nach China kamen Mangas über Kopien aus Taiwan und Hongkong. Doch erste Einflüsse der japanischen Comics gab es bereits in den 1920er Jahren. Aus diesen und japanischen Einflüssen in Hongkong in den 1960ern entstand der Manhua, der chinesische Comic. Der zur gleichen Zeit in der Stadt florierende Markt illegaler Kopien funktionierte ähnlich wie in Taiwan und Korea und wurde in den 1990ern durch einen Lizenzmarkt abgelöst. Parallel dazu wurden aus Japan einfache Arbeiten in der Manga-Branche an Zeichner in China ausgelagert, was zu einem erneuten Einfluss des Mangas auf die lokale Comickultur führte, einschließlich einer größeren Genrevielfalt nach japanischem Vorbild. Der größte Verlag im Markt, sowohl bei Importen als auch Eigenproduktionen, ist Jade Dynasty Group. Die ersten offiziell in China veröffentlichten Mangas waren ab 1981 Astro Boy und Kimba. Auf die Verbreitung von Mangas in China und Taiwan folgten auch die Staaten Südostasiens. In Singapur waren Mangas Ende der 1990er Jahre die beliebtesten Comics. Dort, in Thailand, den Philippinen und Malaysia verbreiteten sich wie in den Nachbarländern Japans zunächst illegale Kopien in großem Maße, ehe lizenzierte Veröffentlichungen folgten. In jedem der Länder dominieren Mangas die Comicmärkte. Vereinigte Staaten In den Vereinigten Staaten hatte der Import von Mangas lange Probleme mit der etablierten Comickultur. Es musste nicht nur Verständnis für die anderen Stile und Erzählweisen entstehen, sondern Comics waren fest mit Superhelden und der Zielgruppe von Sammlern und männlichen Jugendlichen verknüpft und zwei Verlage dominieren den Markt. So bedurfte es vieler Versuche, ehe erfolgreiche Vermarktungswege und Zielgruppen für Mangas gefunden waren. Japanische Comics wurden daher in den Vereinigten Staaten ab den 1970er Jahren zunächst nur einer kleinen Gruppe bekannt: Fans japanischer Animationsfilme oder Japanischstämmige. Der erste in den USA veröffentlichte übersetzte Manga war Barfuß durch Hiroshima, der 1978 von einer in San Francisco und Tokio tätigen Fan-Übersetzergruppe privat verlegt, aber nach kurzer Zeit wieder eingestellt wurde. Größere Verbreitung fanden bald darauf zwei Kurzgeschichten von Shinobu Kaze: Seine zehnseitige Geschichte Violence Becomes Tranquility erschien im März 1980 im Comicmagazin Heavy Metal, und die sechsseitige Geschichte Heart And Steel im Februar 1982 im Magazin epic. 1982 folgte ein Versuch, die auch vom Barfuß-durch-Hiroshima-Schöpfer Keiji Nakazawa stammende Kurzgeschichte I Saw It herauszubringen und in dem von Art Spiegelman herausgegebenen Avantgarde-Magazin RAW wurden im Mai 1985 mehrere Kurzgeschichten von Zeichnern des japanischen Magazins Garo veröffentlicht. Im gleichen Jahr erschien mit dem Mangazine erstmals ein amerikanisches Magazin, das Fancomics im Stil von Mangas gewidmet war. Mit zunehmender Popularität des Mangas entwickelte sich mit dem OEL Manga („Original English Language Manga“) ein eigenes Marktsegment. Auch darüber hinaus nahmen Mangas seit den 1980er Jahren Einfluss auf die amerikanische Comicszene – so ließen sich Art Spiegelman und Frank Miller vom Medium inspirieren. Ab Mai 1987 erschien bei First Comics die Manga-Serie Lone Wolf & Cub, deren erste Bände aufgrund des großen Verkaufserfolges bereits nach kurzer Zeit nachgedruckt werden mussten. Noch im gleichen Jahr brachte Eclipse Comics zusammen mit Viz die Manga-Serien Kamui, Mai the Psychic Girl und Area 88 als zweiwöchentlich erscheinende Comichefte heraus. Viz war als Ableger des japanischen Verlags Shogakukan gegründet worden und ist als Viz Media noch immer im Markt aktiv. Im Jahr 1988 folgte Marvel Comics mit der Veröffentlichung von Akira, das zu einem Wegbereiter für Manga- und Anime weltweit wurde. In der folgenden Zeit wurde Dark Horse zum größten Manga-Verlag in den USA neben Viz. Die ersten Mangas in den USA waren zur Anpassung an die übrigen Comicpublikationen auf Albenformat vergrößert und auf westliche Leserichtung gespiegelt worden. In dieser Phase waren die meisten Manga-Figuren daher scheinbar Linkshänder und japanische Schriftzeichen auf Schildern und Plakaten wurden seitenverkehrt abgedruckt. Mitte der 1990er Jahre erschienen erste Fan- und Fachmagazine sowie vermehrt auch Mangas für Japan-Interessierte oder Studierende, deren Zahl zugleich durch die Verbreitung von Anime und Manga zunahm. Der Verkauf lief noch über Comicläden. Das änderte sich erst mit dem Erfolg von Sailor Moon ab 1997, der zudem zur Veröffentlichung weiterer Mangas für ein weibliches Publikum führte. Der Verlag Mixx Entertainment hatte daran, unter seinem neuen Namen Tokyopop, großen Anteil und wurde zu einem der größten Manga-Verlage der USA. 2004 kam Del Rey Manga hinzu, die eine Partnerschaft mit Kōdansha eingingen. Als erster Manga-Band in original japanischer Leserichtung in den USA erschien zwar bereits 1989 Panorama of Hell bei Blast Books, doch erst Tokyopop brachte ab 2002 Manga-Serien konsequent ungespiegelt heraus. Statt der Spiegelung finden jedoch immer wieder andere Anpassungen statt, wenn die Darstellungen nach amerikanischen Vorstellungen zu gewalthaltig oder zu stark sexualisiert sind. Dies hängt immer wieder auch damit zusammen, dass in den USA auf ein jüngeres Publikum abgezielt wird als in Japan. Im Jahr 2005 betrug der Umsatz des nordamerikanischen Manga-Marktes etwa 125 bis 145 Millionen Euro, und unter den 100 meistverkauften Comicbänden in den USA waren 80 Manga-Bände. Mangas waren das am stärksten wachsende Segment des amerikanischen Verlagswesens. Ende der 2000er Jahre jedoch gingen die Verkäufe in den USA wieder zurück: Von 2007 bis 2009 schrumpfte die Zahl der Verkäufe um 30 bis 40 %. Das wird als Konsolidierung eines überstrapazierten Marktes und Folge eines Überangebots gesehen – das Medium Manga selbst blieb beliebt und verschwand dadurch nicht, die Fanszene ist seither eher noch gewachsen. Europa Als erster Manga in Europa erschien Bushido Muzanden von 1969 bis 1971 in Fortsetzungskapiteln in einem französischen Kampfsportmagazin. Ab 1978 erschien mit dem französischsprachigen Magazin Le Cri Qui Tue aus der Schweiz das erste europäische Manga-Magazin. Der erste auf Spanisch veröffentlichte Manga war die Gekiga-Kurzgeschichte Good-Bye von Yoshihiro Tatsumi im Jahr 1980 in Ausgabe Nr. 5 der Underground-Comiczeitschrift „El Víbora“. Die Zeitschrift veröffentlichte im Laufe der nächsten Jahre weitere Geschichten dieses Zeichners. Als erste Serie auf Spanisch erschien ab 1984 Candy Candy Corazón, die auch in Italien mit großem Erfolg veröffentlicht wurde. Es folgten Science-Fiction-Serien von Go Nagai und Leiji Matsumoto in Frankreich, Spanien und Italien. Generell waren es der italienische und der spanische Comicmarkt, die sich in Europa als erste in größerem Maße dem Manga öffneten. Den ersten Erfolg hatten Mangas in Spanien, wo sie schnell dem Erfolg von Anime-Fernsehserien in den 1980er Jahren folgten. In rascher Folge erschienen vor allem Shōnen und Seinen-Serien wie Crying Freeman und City Hunter. Mehrere neue Verlage und kurzlebige Fanmagazine entstanden. Heute wird der Markt von drei großen sowie mehreren kleinen, stark spezialisierten Verlagen bedient. Auch in Italien nahm der Vertrieb von Mangas im Laufe der 1990er Fahrt auf. Es erschienen die Magazine Mangazine und Zero, die mehrere Serien herausbrachten, später folgten weitere Magazine. Auch hier dominierten nun Mangas für das männliche Publikum und neue, spezialisierte Verlage entstanden. Ende des Jahrzehnts kam die Veröffentlichung im japanischen Taschenbuchformat auf sowie eine größere inhaltliche Vielfalt. Italien war der größte europäische Absatzmarkt für Manga, ehe es etwa 2000 von Frankreich abgelöst wurde. 10 bis 13 Verlage veröffentlichen Mangas in Italien und setzten bei Bestsellern bis zu 150.000 Exemplare (Dragon Ball) oder 75.000 Exemplare (Inu Yasha, One Piece) pro Band ab. 1990 begann Glénat mit der französischsprachigen Veröffentlichung von Akira. Doch in den folgenden Jahren hielten sich die großen Verlage noch zurück, da es gesellschaftlich und in der Branche noch Vorbehalte gegenüber dem als gewalthaltig geltenden Manga gab. Das änderte sich ab 1993 langsam, als die Nachfrage in Folge der schon mehrere Jahre im französischen Fernsehen laufenden Anime-Serien immer größer wurde. Édition Tonkam und Pika brachten ab 1994 und 1995 als spezialisierte Verlage eine größere Vielfalt in das französische Manga-Angebot. Versuche, Manga-Magazine nach japanischem Vorbild zu etablieren, scheiterten nach kurzer Zeit. Dennoch stieg der Manga-Anteil am französischen Comicmarkt von 10 % im Jahr 2001 auf 37 % im Jahr 2008 und das Land wurde zum größten Markt für Manga in Europa mit zeitweise 37 Manga-Verlagen. Der Bestseller Naruto verkaufte 220.000 Exemplare pro Band. Auch der Markt im benachbarten Belgien ist seit den 1990er Jahren stetig gewachsen. Hier werden, ähnlich wie in Frankreich, auch sehr viele anspruchsvollere Titel für ein erwachsenes Publikum, beispielsweise von Jirō Taniguchi, verlegt. Seit 2003 haben Mangas im frankobelgischen Raum so viel Akzeptanz, dass sie regelmäßig mit Comicpreisen ausgezeichnet werden. In allen westeuropäischen Ländern ging der Erfolg von Manga einher mit Krisen der nationalen Comicmärkte in den 1980er und 1990er Jahren, ausgelöst durch das aufkommende Privatfernsehen oder inhaltliche und verlegerische Stagnation. Der Manga-Markt in Großbritannien entwickelte sich später als in den meisten übrigen europäischen Ländern. Während im Jahr 2001 etwa 100.000 Manga-Bände mit einem Gesamtumsatz von umgerechnet 2 Millionen Euro verkauft wurden, waren es im Jahr 2005 knapp 600.000 Bände mit einem Gesamtumsatz von umgerechnet 7,6 Millionen Euro. Die meisten Mangas in Großbritannien werden nach wie vor aus den USA eingeführt, der erste britische Manga-Verlag wurde im August 2005 gegründet, der zweite 2006. Jedoch gab es schon seit 1991 mit Manga Entertainment einen Anime-Vertrieb im Vereinigten Königreich, der auch Mangas veröffentlichte. Nach Russland kamen Mangas bereits in den 1980er Jahren durch sowjetische Diplomaten und es entstand eine kleine Fanszene, die sich über oft illegale Wege Kopien japanischer Comics beschaffte. Erst 2005 erschien beim Verlag Sakura Press mit Ranma ½ der erste lizenzierte Manga in Russland. Im gleichen Jahr kamen erste Mangas in Polen heraus, die dort großer gesellschaftlicher Kritik ausgesetzt waren. 2010 machte das Segment 70 % des polnischen Comicmarkts aus und wird von zwei polnischen Verlagen und Egmont bedient. In den Ländern Nordeuropas entstanden vereinzelt eigene Verlage, die sich jedoch nicht alle lange halten konnten. Die Märkte werden daher auch von internationalen Verlagen und deren lokalen Töchtern bedient. Ab 2000 nahm der künstlerische Einfluss des Mangas auf die europäischen Zeichner zu. Frederic Boilet, der bereits mit japanischen Zeichnern gearbeitet hatte, proklamierte 2001 die Bewegung des Nouvelle Manga. Der Austausch mit den japanischen Künstlern sollte verstärkt werden, von den japanischen Erzähltechniken und der Vielfalt der Inhalte und Zielgruppen gelernt und die Unterschiede zwischen den nationalen Comic-Traditionen beseitigt werden. Viele französische Künstler ließen seitdem Manga-Stilmittel in ihre Arbeiten einfließen. Es entstand der Begriff Euromanga für diese Werke. Deutschland Der Begriff „Manga“ als Name für die Werke Hokusais wurde in der deutschsprachigen Kunstliteratur bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts verwendet, meist in der heute veralteten Schreibweise „Mangwa“. Die erste und zugleich negativ gefärbte Verwendung des Wortes „Manga“ für japanische Comics in deutschsprachigen Medien findet sich in einer Sonderbeilage der Zeitschrift stern von 1977: „(…) Höchste Auflagen haben die „Mangas“, Strip-Magazine mit Sadismen, bei deren Anblick vermutlich gar der alte Marquis de Sade noch Neues hätte lernen können“. Die ersten Manga-Veröffentlichungen in Deutschland, zuerst 1982 Barfuß durch Hiroshima – Eine Bildergeschichte gegen den Krieg von Keiji Nakazawa im Rowohlt Verlag, hatten wenig bis keinen Erfolg, obwohl sie hinsichtlich Leserichtung, Veröffentlichungsform und teils auch Farbe an westliche Lesegewohnheiten angepasst waren. So wurde Akira 1991 zwar gespiegelt und koloriert in Alben veröffentlicht, wurde aber nicht mehr als ein Achtungserfolg. Der Durchbruch für Manga in Deutschland kam Ende 1997 mit der ungespiegelten Serie Dragon Ball des Carlsen-Verlags. Die Veröffentlichung in originaler Leserichtung war vom Lizenzgeber vorgegeben worden, erwies sich aber als vorteilhaft und wurde zum Standard für Manga-Veröffentlichungen in Deutschland: Die japanische Leserichtung betont Authentizität, grenzt zum restlichen Comic-Angebot ab und senkt die Kosten für die Verlage, die dies in Form geringerer Preise an den Leser weitergeben. Den meisten Bänden ist seitdem auf der letzten bzw. der nach westlicher Leserichtung ersten Seite eine kurze Anleitung zum Lesen von rechts nach links beigeheftet. Mittlerweile erscheinen allein bei den größten deutschen Manga-Verlagen Carlsen Manga, Egmont Manga, Tokyopop, Planet Manga und Kazé Deutschland jährlich über 800 Manga-Bände. Die Entwicklung des Manga-Booms in Deutschland lässt sich zum Beispiel an den Umsatzzahlen des Carlsen-Verlags ablesen: Während der Verlag 1995 Manga für knapp 400.000 Euro verkaufte, lag sein Manga-Umsatz im Jahr 2000 bei über vier Millionen Euro und 2002 bei über 16 Millionen Euro. Im Jahr 2005 lag der Manga-Bruttoumsatz in Deutschland bei 70 Millionen Euro. Egmont Manga und Anime (EMA) war mit einem Jahresumsatz von 15 Millionen Euro Marktführer, im Jahr 2006 lag laut GfK-Angaben Carlsen Comics mit einem Marktanteil von 41 % knapp vor EMA (38 %). Das Segment umfasste in dem Jahr etwa 70 % des deutschen Comicmarktes und wurde zum drittwichtigsten Markt für Manga in Europa. Dabei lief der Vertrieb ab den 2000er Jahren nicht nur über den Fach- und Zeitschriftenhandel, sondern auch über die meisten Buchläden. Das Angebot wird oft in der Nähe von Jugendbüchern platziert und der Erfolg verhalf auch anderen speziell japanischen Erzählformen wie Light Novel nach Deutschland. Die positive Entwicklung des Marktes hält auch über das Jahr 2010 hin an. So stiegen die Umsätze mit Manga von 2014 zu 2015 um fast 15 %, während der Buchmarkt insgesamt schrumpfte. Die deutsche Comicbranche ist wie keine andere in Westeuropa abhängig vom Manga. Die Veröffentlichungen geschehen zwar fast immer ungespiegelt, jedoch manchmal auf andere Weise verändert oder es wird bereits verändertes Material aus den USA übernommen, um anderen Vorstellungen über die Darstellbarkeit von Sex und Gewalt entgegenzukommen oder Kritik vorzubeugen. So werden meist auch Swastiken, die in Ostasien ein verbreitetes Glückssymbol sind, entfernt, weil sie in Deutschland mit dem Nationalsozialismus assoziiert werden. Mangas werden in Deutschland fast ausschließlich in Form von Taschenbüchern (meist im japanischen Tankōbon-Format) veröffentlicht. Der Versuch, auch monatlich erscheinende Manga-Magazine nach japanischem Vorbild in Deutschland zu etablieren, scheiterte Anfang des 21. Jahrhunderts nach einigen Jahren: Die Magazine Manga Power und Manga Twister wurden wegen unzureichender Verkaufszahlen und Banzai! wegen Lizenzproblemen wieder eingestellt. Das Magazin Daisuki hielt sich noch bis Mai 2012. Die Manga-Leserschaft war laut einer großangelegten Umfrage von 2005 im Wesentlichen zwischen 14 und 25 Jahren alt, nur 12 % älter als 25. Dieser kleine Teil älterer Fans spielte jedoch eine große Rolle in der Etablierung der Szene, so in der Gründung von Magazinen, Veranstaltungen und Plattformen. 70 % der Befragten waren weiblich. Frauen machen auch die überwiegende Mehrheit des selbst kreativen Teils der Fanszene aus. Die thematischen und ästhetischen Interessen sind außerordentlich breit gestreut, auch wenn fantastische Stoffe vorherrschen, und es wird von den Befragten eine große Bandbreite an Lieblingswerken genannt. Allein bei der Frage nach dem ersten gelesenen Manga stechen Dragonball und Sailor Moon hervor. Nachdem der Comicmarkt in Deutschland seit den 1980er Jahren rückläufige Verkäufe bei stetig steigenden Preisen verzeichnete, wurde dieser Trend durch den Erfolg von Manga in den 1990er Jahren gebrochen. Die günstige Veröffentlichungsform und die neuen Inhalte sprachen nun wieder ein breiteres, jüngeres und erstmals weiblicheres Publikum an. Seit der Jahrtausendwende haben Manga auf etablierten deutschen Literaturveranstaltungen wie der Frankfurter Buchmesse und der Leipziger Buchmesse eigene Messebereiche. Das Segment wurde – in Verbindung mit Cosplay – zu einem der Publikumsmagneten der Messen und bringt ihnen viele junge Besucher. Beim Sondermann-Preis der Frankfurter Buchmesse gab es zeitweise zwei Kategorien für Manga – national und international – und es entstanden Manga-Zeichenwettbewerbe, die vom Manga inspirierte deutsche Künstler suchen. Seit Anfang der 2000er etablierten sich so auch einige deutsche Künstler, die aus der Manga-Fanszene stammen und Manga-typische Stile, Erzählstrategien, Themen und Genres in ihren Werken aufgreifen. Siehe auch Liste der Manga-Titel Liste der auf Deutsch veröffentlichten Mangas Liste der Manga-Magazine Liste der Mangaka Literatur Osamu Tezuka (Vorwort), Frederik L. Schodt: Manga! Manga! The World of Japanese Comics. Kodansha America, 1983, ISBN 0-87011-752-1 (englisch). Frederik L. Schodt: Dreamland Japan: Writings on Modern Manga. Diane Pub Co., 1996, ISBN 0-7567-5168-3 (englisch). Sharon Kinsella: Adult Manga: Culture and Power in Contemporary Japanese Society. University of Hawaii Press, 2000, ISBN 0-8248-2318-4 (englisch). Masanao Amano, Julius Wiedemann (Hrsg.): Manga Design. Taschen Verlag, 2004, ISBN 3-8228-2591-3. Stephan Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Harrassowitz Verlag, 2005, ISBN 3-447-05213-9. Paul Gravett: Manga – Sechzig Jahre japanische Comics. Egmont Manga & Anime, 2006, ISBN 3-7704-6549-0. Miriam Brunner: Manga – Faszination der Bilder: Darstellungsmittel und Motive. Wilhelm Fink, München 2009, ISBN 978-3-7705-4879-8. Weblinks Deutschsprachige Manga-Datenbank aniSearch The Incomplete Manga-Guide – Verzeichnis für auf Deutsch veröffentlichte Manga Einzelnachweise Literatur (Japan) Jugendkultur Bildende Kunst (Japan)
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Kreiszahl
Die Kreiszahl, auch Ludolphsche Zahl, Ludolfsche Zahl oder Archimedes-Konstante, abgekürzt mit dem griechischen Kleinbuchstaben (Pi), ist eine mathematische Konstante, die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser angibt. Dieses Verhältnis ist für alle Kreise gleich, unabhängig von ihrer Größe. Die dezimale Darstellung der Kreiszahl beträgt wobei in der Praxis oft nur drei signifikante Stellen verwendet werden (3,14), deren Genauigkeit für einfache Anwendungen ausreicht. Seit dem 8. Juni 2022 sind 100 Billionen Nachkommastellen der Kreiszahl bekannt. Die Kreiszahl hat etliche interessante Eigenschaften. Vor allem ist sie keine rationale Zahl, kann also nicht exakt durch ein Verhältnis zweier ganzer Zahlen ausgedrückt werden. Sie ist sogar eine transzendente Zahl, ist also nicht Nullstelle eines vom Nullpolynom verschiedenen Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten (s. u. Irrationalität und Transzendenz). Die Kreiszahl tritt nicht nur bei Kreisberechnungen in der Geometrie auf, sondern hat auch in anderen mathematischen Teilgebieten und Theorien Bedeutung. Beispielsweise lässt sich durch sie die Lösung des klassischen Basler Problems mit der Theorie der Fourierreihen verknüpfen. Geschichte der Bezeichnung Die Bezeichnung mit dem griechischen Buchstaben Pi erfolgt nach dem Anfangsbuchstaben des griechischen Wortes  – , „Umfang“ oder  – zu lateinisch , „Randbereich“. Das Pi () wurde erstmals von William Oughtred in seiner 1647 veröffentlichten Schrift Theorematum in libris Archimedis de Sphæra & Cylyndro Declaratio verwendet. Darin drückte er mit das Verhältnis von halbem Kreisumfang (semiperipheria) zu Halbmesser (semidiameter) aus, d. h. . Dieselben Bezeichnungen benutzte um 1664 auch der englische Mathematiker Isaac Barrow. Im Jahr 1697 nahm David Gregory für das Verhältnis von Umfang zu Radius. 59 Jahre später als Oughtred, nämlich im Jahr 1706, setzte der walisische Mathematiker William Jones in seiner Synopsis Palmariorum Matheseos als Erster den griechischen Kleinbuchstaben ein, um das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser auszudrücken. Erst im 18. Jahrhundert wurde durch Leonhard Euler populär. Er verwendete 1737 erstmals für die Kreiszahl, nachdem er zuvor verwendet hatte. Seitdem ist aufgrund der Bedeutung Eulers diese Bezeichnung allgemein üblich. Definition Es existieren mehrere gleichwertige Ansätze, die Kreiszahl  zu definieren. Die erste (klassische!) Definition in der Geometrie beruht auf der Proportionalität von Umfang und Durchmesser eines Kreises. Entsprechend lässt sich die Kreiszahl definieren als das Verhältnis von Umfang zum Durchmesser des Kreises. Die Kreiszahl entspricht demnach dem Quotienten und Proportionalitätsfaktor . Der zweite geometrische Ansatz fußt auf dem Vergleich des Flächeninhalts eines Kreises mit dem Flächeninhalt des Quadrats über seinem Kreisradius (auch: Halbmesser) , also seinem halben Durchmesser. Aus Gründen der Ähnlichkeit sind diese beiden Flächeninhalte ebenfalls proportional. Entsprechend lässt sich die Kreiszahl definieren als der Quotient bzw. der Proportionalitätsfaktor . Man fasst diese zweite Definition in den Merksatz, dass sich eine Kreisfläche zur umgebenden Quadratfläche wie verhält. In der Analysis geht man (nach Edmund Landau) oft so vor, zunächst die reelle Kosinusfunktion über ihre Taylorreihe zu definieren und dann die Kreiszahl als das Doppelte der kleinsten positiven Nullstelle des Kosinus festzulegen. Weitere analytische Ansätze gehen auf John Wallis und Leonhard Euler zurück. Dass die erste und die zweite Definition dieselbe Zahl definieren, bewies bereits Archimedes von Syrakus, vergleiche Kreisfläche. Der Umfang eines Kreises verhält sich also zu seinem Durchmesser genauso wie die Fläche des Kreises zum Quadrat des Radius. Das jeweilige Verhältnis – der Proportionalitätsfaktor – ist in beiden Fällen die Kreiszahl . Eigenschaften Irrationalität und Transzendenz Die Zahl ist eine irrationale Zahl, also eine reelle, aber keine rationale Zahl. Das bedeutet, dass sie nicht als Verhältnis zweier ganzer Zahlen also nicht als Bruch , dargestellt werden kann. Das wurde 1761 (oder 1767) von Johann Heinrich Lambert bewiesen. Tatsächlich ist die Zahl sogar transzendent, was bedeutet, dass es kein vom Nullpolynom verschiedenes Polynom mit rationalen Koeffizienten gibt, das zur Nullstelle hat. So ist auch jede Zahl, die durch algebraische Operationen wie Addition und Multiplikation mit sich selbst und mit ganzem Zahlen aus erzeugt wird, wiederum transzendent. Das wurde erstmals von Ferdinand von Lindemann 1882 bewiesen. Als Konsequenz ergibt sich daraus, dass es unmöglich ist, nur mit ganzen Zahlen oder Brüchen und Wurzeln auszudrücken, und dass die exakte Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal nicht möglich ist. Die ersten 100 Nachkommastellen Da eine irrationale Zahl ist, lässt sich ihre Darstellung in keinem Stellenwertsystem vollständig angeben: Die Darstellung ist stets unendlich lang und nicht periodisch. Bei den ersten 100 Nachkommastellen in der Dezimalbruchentwicklung ist keine Regelmäßigkeit ersichtlich. Auch weitere Nachkommastellen genügen statistischen Tests auf Zufälligkeit (siehe auch Frage der Normalität). Darstellung zu anderen Zahlenbasen Im Binärsystem ausgedrückt ist (Siehe OEIS-Folge OEIS:A004601). In OEIS sind auch die Zahlen der Darstellungen zu den Basen 3 bis 16 und 60 angegeben. Kettenbruchentwicklung Eine alternative Möglichkeit, reelle Zahlen darzustellen, ist die Kettenbruchentwicklung. Da irrational ist, ist diese Darstellung unendlich lang, und, da es keine quadratisch irrationale Zahl ist, ist sie nicht periodisch. Der reguläre Kettenbruch der Kreiszahl beginnt so: Eine mit der regulären Kettenbruchentwicklung verwandte Entwicklung von ist diejenige als negativ-regelmäßiger Kettenbruch (): Anders als bei der Eulerschen Zahl konnten bislang (2000) bei der regulären Kettenbruchdarstellung von keine Muster oder Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden. Jedoch gibt es nicht-reguläre Kettenbruchdarstellungen von , bei denen einfache Gesetzmäßigkeiten erkennbar sind: Näherungsbrüche der Kreiszahl Aus ihrer regulären Kettenbruchdarstellung ergeben sich als beste Näherungsbrüche der Kreiszahl (Zähler bzw. Nenner ) die folgenden: Der absolute Fehler in der Praxis wird dabei schnell vernachlässigbar: Mit der 20. Näherung stimmen 21 Nachkommastellen mit denen der Kreiszahl überein. Mit diesem Näherungsbruch wäre erst der Umfang eines Kreises von etwa 3,8 Billiarden km Durchmesser (das entspricht der Entfernung zum Polarstern) um einen Millimeter falsch (nämlich zu kurz) berechnet. Sphärische Geometrie In der Kugelgeometrie ist der Begriff Kreiszahl nicht gebräuchlich, da das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser in diesem Fall nicht mehr für alle Kreise gleich, sondern von deren Größe abhängig ist. Für einen Kreis mit einem sehr viel kleineren Durchmesser als dem der Kugel, auf deren Oberfläche er „gezeichnet“ wird (etwa ein Kreis mit 1 m Durchmesser auf der kugeligen Erdoberfläche), ist die Krümmung der Kugelfläche gegenüber der euklidischen Kreisebene meist vernachlässigbar klein, bei größeren Kreisen oder hoher Präzisionsanforderung muss sie berücksichtigt werden. Normalität Es ist noch ungeklärt, ob eine normale Zahl ist, das heißt, ob ihre binäre (oder jede andere n-äre) Zahlendarstellung jede mögliche endliche Binär- bzw. sonstige Zifferngruppe gleichermaßen enthält – so wie es die Statistik erwarten ließe, wenn man eine Zahl vollkommen nach dem Zufall erzeugte. Umgekehrt wäre es beispielsweise auch denkbar, dass irgendwann nur noch zwei Ziffern in unregelmäßiger Folge auftreten. Wenn eine normale Zahl ist, dann enthält ihre (nur theoretisch mögliche) vollständige Stellenwertdarstellung alle nur denkbaren Muster, zum Beispiel sämtliche bisher und zukünftig geschriebenen Bücher in codierter Binärform (analog zum Infinite-Monkey-Theorem). Bailey und Crandal zeigten im Jahr 2000 mit der Bailey-Borwein-Plouffe-Formel, dass die Normalität von zur Basis 2 auf eine Vermutung der Chaostheorie reduziert werden kann. Physiker der Purdue-Universität haben im Jahre 2005 die ersten 100 Millionen Dezimalstellen von auf ihre Zufälligkeit hin untersucht und mit kommerziellen Zufallszahlengeneratoren verglichen. Der Forscher Ephraim Fischbach und sein Mitarbeiter Shu-Ju Tu konnten dabei keinerlei verborgene Muster in der Zahl entdecken. Demnach sei nach Ansicht Fischbachs die Zahl tatsächlich eine gute Quelle für Zufälligkeit. Allerdings schnitten einige Zufallszahlengeneratoren noch besser als ab. Feynman-Punkt Die auffälligste und bekannteste „Unzufälligkeit“ in den ersten 1000 Dezimalstellen ist der Feynman-Punkt, eine Folge von sechs Neunen ab der 762-sten Stelle. Das wirkt deshalb erstaunlich, weil es unter den ersten 1000 Dezimalstellen nur fünf genaue Dreifachfolgen und überhaupt keine genauen Vier- oder Fünffachfolgen gibt. Die zweite Sechsfachfolge beginnt bei der 193.034-sten Dezimalstelle und besteht wieder aus Neunen. Entwicklung von Berechnungsverfahren Die Notwendigkeit, den Umfang eines Kreises aus seinem Durchmesser zu ermitteln oder umgekehrt, stellt sich im ganz praktischen Alltag: Man braucht solche Berechnungen zum Beschlagen eines Rades, zum Einzäunen runder Gehege, zum Berechnen der Fläche eines runden Feldes oder des Rauminhalts eines zylindrischen Getreidespeichers. Daher suchten Buchhalter und Wissenschaftler, vor allem Mathematiker und Astronomen, seit der Antike nach immer genaueren Näherungswerten für die Kreiszahl. Wesentliche Beiträge lieferten etwa ägyptische, babylonische und griechische Wissenschaftler, im Mittelalter vor allem chinesische und persische Wissenschaftler, in der Neuzeit französische, englische, schottische, deutsche und schweizerische Wissenschaftler. In der jüngeren Geschichte gerieten die Bestrebungen zur größtmöglichen Annäherung an phasenweise zu einer regelrechten Rekordjagd, die zuweilen skurrile und auch aufopfernde Züge annahm. Erste Näherungen Berechnungen und Schätzungen in den vorchristlichen Kulturen Die Kreiszahl und einige ihrer Eigenschaften waren bereits in der Antike bekannt. Das älteste bekannte Rechenbuch der Welt, das altägyptische Rechenbuch des Ahmes aus der Mitte der 16. Jahrhundert v. Chr., nennt den Wert , was vom tatsächlichen Wert nur um rund 0,60 % abweicht. Als Näherung für benutzten die Babylonier oder einfach nur 3, solange dessen Abweichung von gut 4,5 % nicht ins Gewicht fiel. Den Wert 3 nutzte man auch im alten China, und er findet sich auch in der biblischen Beschreibung des Wasserbeckens, das für den Jerusalemer Tempel geschaffen wurde: In Indien nahm man für die Kreiszahl in den Sulbasutras, den Schnurregeln zur Konstruktion von Altären, den Wert  und wenige Jahrhunderte v. Chr. in der Astronomie den Näherungswert . Näherungen für den praktischen Alltag Handwerker benutzten in Zeiten vor Rechenschieber und Taschenrechner die Näherung und berechneten damit vieles im Kopf. Der Fehler gegenüber beträgt etwa 0,04 %. In den meisten Fällen liegt das innerhalb der möglichen Fertigungsgenauigkeit und ist damit völlig ausreichend. Eine andere oft genutzte Näherung ist der Bruch immerhin auf sieben Stellen genau. Allen diesen rationalen Näherungswerten für ist gemeinsam, dass sie partiellen Auswertungen der Kettenbruchentwicklung von entsprechen, z. B.: Archimedes von Syrakus Die Frage, ob die Kreiszahl rational ist Für den griechischen Mathematiker Archimedes und viele nach ihm war unklar, ob die Berechnung von nicht doch irgendwann zum Abschluss käme, ob also eine rationale Zahl sei, was die jahrhundertelange Jagd auf die Zahl verständlich werden lässt. Zwar war den griechischen Philosophen mit der Irrationalität von die Existenz derartiger Zahlen bekannt, dennoch hatte Archimedes keinen Grund, bei einem Kreis von vornherein eine rationale Darstellbarkeit der Flächenberechnung auszuschließen. Denn es gibt durchaus allseitig krummlinig begrenzte Flächen, die sich als rationale Zahl darstellen lassen, sogar von Kreisteilen eingeschlossene wie die Möndchen des Hippokrates. Annäherung durch Vielecke Archimedes gelang es um 250 v. Chr., die Kreiszahl mathematisch einzugrenzen, d. h. eine Ober- und Unterschranke anzugeben. Hierzu näherte er sich wie auch andere Mathematiker mit regelmäßigen Vielecken dem Kreis an, um Näherungswerte für zu gewinnen. Mit umbeschriebenen und einbeschriebenen Vielecken, beginnend bei Sechsecken, durch wiederholtes Verdoppeln der Eckenzahl bis zu 96-Ecken, berechnete er obere und untere Schranken für den Kreisumfang. Er kam zu der Abschätzung, dass das gesuchte Verhältnis etwas kleiner als sein müsse, jedoch größer als Laut Heron besaß Archimedes eine noch genauere Abschätzung, die aber falsch überliefert ist: Wilbur Knorr korrigierte zu: In den westlichen Kulturen stellten diese Berechnungen von Archimedes über eine sehr lange Zeit – wie in manchen anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen auch – den Status quo in Bezug auf die Genauigkeit der Kenntnis von dar. Erst im 16. Jahrhundert erwachte das Interesse wieder. 4. bis 15. Jahrhundert Fortschritte in der Annäherung an erzielten in der Zeit des 4. bis 15. Jahrhunderts vor allem chinesische und persische Wissenschaftler: Im dritten Jahrhundert bestimmte Liu Hui aus dem 192-Eck die Schranken 3,141024 und 3,142704 sowie später aus dem 3072-Eck den Näherungswert 3,1416. Um 480 berechnete der chinesische Mathematiker und Astronom Zu Chongzhi (429–500) für die Kreiszahl also die ersten 7 Dezimalstellen. Er kannte auch den fast genauso guten Näherungsbruch (das ist der dritte Näherungsbruch der Kettenbruchentwicklung von der in Europa erst im 16. Jahrhundert gefunden wurde (Adriaan Metius, deshalb auch Metius-Wert genannt). Im 14. Jahrhundert berechnete Zhao Youqin die Kreiszahl über ein 16384-Eck auf sechs Dezimalstellen genau. Der indische Mathematiker und Astronom Aryabhata gibt im Jahre 498 das Verhältnis des Kreisumfangs zum Durchmesser mit an, was nur um rund 0,00023 % zu hoch liegt. In seinem 1424 abgeschlossenen Werk Abhandlung über den Kreis berechnete der persische Wissenschaftler Dschamschid Masʿud al-Kaschi mit einem 3×228-Eck bereits auf 16 Stellen genau. 15. bis 19. Jahrhundert Allgemeiner Verlauf In Europa gelang es Ludolph van Ceulen 1596, die ersten 35 Dezimalstellen von zu berechnen. Angeblich opferte er 30 Jahre seines Lebens für diese Berechnung. Van Ceulen steuerte allerdings noch keine neuen Gedanken zur Berechnung bei. Er rechnete einfach nach der Methode des Archimedes weiter, aber während Archimedes beim 96-Eck aufhörte, setzte Ludolph die Rechnungen bis zum einbeschriebenen fort. Der französische Mathematiker François Viète variierte 1593 die Archimedische Exhaustionsmethode, indem er den Flächeninhalt eines Kreises durch eine Folge einbeschriebener annäherte. Daraus leitete er als Erster eine geschlossene Formel für in Form eines unendlichen Produktes ab: Der englische Mathematiker John Wallis, der 1655 das nach ihm benannte wallissche Produkt entwickelte, zeigte im gleichen Jahr die Viète-Reihe Lord Brouncker, dem ersten Präsidenten der „Royal Society“, der die Gleichung als Kettenbruch wie folgt darstellte: Gottfried Wilhelm Leibniz steuerte 1682 folgende Reihendarstellung bei: Siehe auch Kreiszahlberechnung nach Leibniz. Diese war indischen Mathematikern bereits im 15. Jahrhundert bekannt. Leibniz entdeckte sie für die europäische Mathematik neu und bewies die Konvergenz dieser unendlichen Summe. Die obige Reihe ist wegen auch ein Spezialfall der Reihenentwicklung des Arkustangens, die der indische Mathematiker Madhava um ca. 1400 fand und auf die der schottische Mathematiker James Gregory in den 1670er Jahren zurückkam: Sie war in der Folgezeit Grundlage vieler Approximationen von , die alle lineare Konvergenzgeschwindigkeit haben. Im Jahr 1706 beschrieb William Jones in seinem Werk Synopsis palmariorum matheseos die von ihm entwickelte Reihe, mit der er 100 Nachkommastellen von bestimmte. „Let . […] Then Im selben Jahr 1706 berechnete John Machin mit seiner Formel gleichfalls die ersten 100 Dezimalstellen von Die Formel ist über das Additionstheorem des Arkustangens zu gewinnen – oder gleichwertig durch Betrachtung der komplexen Zahl, bestehend aus Potenzen ganzzahliger, so genannter Gaußscher Zahlen, mit ganzzahligen Exponenten und dem Argumentwert; Im Laufe der Zeit wurden viele Formeln dieser Art gefunden. Eine Formel mit sehr guter Konvergenz der taylorschen Reihen stammt von Carl Størmer (1896): , welche gleichbedeutend damit ist, dass Real- und Imaginärteil der Gaußschen Zahl mit gleich sind. Leonhard Euler führte in seiner im Jahre 1748 erschienenen Introductio in Analysin Infinitorum im ersten Bande bereits auf 148 Stellen genau an. Von Euler entdeckte Formeln (siehe auch Riemannsche ζ-Funktion): Irrationalität Johann Heinrich Lambert bewies 1761/1767 die Irrationalität der Kreiszahl. Damit stand erstmalig fest, dass eine exakte oder abschließende Berechnung nicht möglich ist. 1770 publizierte Lambert einen Kettenbruch, der heute meist in der Form geschrieben wird. Bei der Berechnung der Kreiszahl liefert er pro Schritt im Mittel etwa 0,76555 Dezimalstellen, im Vergleich zu anderen Kettenbrüchen relativ viel. Numerische Verfahren ab dem 20. Jahrhundert Neue Algorithmen Im 20. Jahrhundert wurden Iterationsverfahren entwickelt, die eine deutlich effizientere Berechnung „neuer“ Nachkommastellen von gestatten. 1914 fand der indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan bei Untersuchungen von elliptischen Funktionen und Modulfunktionen die folgende Formel: Die ersten Iterationen dieses Verfahrens liefern folgende Ergebnisse: Es wird also die Quadratwurzel aus 2 mit immer „längeren“ Näherungsbrüchen multipliziert. Pro Iteration liefert dieses Verfahren etwa 8 weitere korrekte Nachkommastellen. Diese hocheffizienten Verfahren wurden erst mit der Entwicklung von Computern mit Langzahlarithmetik interessant, durch die der reine Rechenaufwand immer weniger ins Gewicht fiel, so dass komplizierte Iterationsverfahren mit quadratischer oder noch höherer Konvergenz praktisch durchführbar wurden. Chudnovsky-Algorithmus Der 1988 veröffentlichte Chudnovsky-Algorithmus ist das schnellste derzeit bekannte Verfahren und wurde in allen aktuellen Rekordberechnungen eingesetzt. Er wurde aus dem Ramanujan-Ansatz entwickelt, arbeitet jedoch etwa 50 Prozent schneller, und basiert auf der Konvergenz einer verallgemeinerten hypergeometrischen Reihe: Eine technische Implementation beider Iterationsverfahren (Ramanujan und Chudnovsky) bietet die Software y-cruncher. BBP-Reihen 1995 entdeckte Simon Plouffe zusammen mit Peter Borwein und David Harold Bailey eine neuartige Reihendarstellung für : Diese Reihe (auch Bailey-Borwein-Plouffe-Formel genannt) ermöglicht es, die -te Stelle einer binären, hexadezimalen oder beliebigen Darstellung zu einer Zweierpotenz-Basis von zu berechnen, ohne dass zuvor die vorherigen Ziffernstellen berechnet werden müssen. Später wurden für weitere BBP-Reihen gefunden: Tröpfelalgorithmus Eng verwandt mit den Verfahren zur Ziffernextraktion sind Tröpfelalgorithmen, bei denen die Ziffern eine nach der anderen berechnet werden. Den ersten solchen Algorithmus zur Berechnung von fand Stanley Rabinowitz. Seitdem sind weitere Tröpfelalgorithmen zur Berechnung von gefunden worden. Methode von Gauß, Brent und Salamin Die Berechnung der Bogenlänge einer Lemniskate über elliptische Integrale und deren Approximation über das Arithmetisch-geometrische Mittel nach Gauß liefert das schnell konvergierende Verfahren von Salamin und Brent zur numerischen Berechnung. Grundlage hierfür ist die folgende zuerst von Gauß vermutete Darstellung von : Letzteres Integral ist auch als lemniskatische Konstante bekannt. Es gilt dann , wobei sich das arithmetisch-geometrische Mittel über die Iteration mit zwei initialen Argumenten berechnet und gesetzt wird. Nichtnumerische Berechnungsverfahren Berechnung mittels Flächenformel Diese Berechnung nutzt den Zusammenhang aus, dass in der Flächenformel des Kreises enthalten ist, dagegen nicht in der Flächenformel des umschreibenden Quadrats. Die Formel für den Flächeninhalt des Kreises mit Radius lautet , der Flächeninhalt des Quadrates mit Seitenlänge errechnet sich als . Für das Verhältnis der Flächeninhalte eines Kreises und seines umschreibenden Quadrats ergibt sich also . Damit lässt sich als das Vierfache dieses Verhältnisses schreiben: . Programm Als Beispiel ist ein Algorithmus angegeben, in dem die Flächenformel demonstriert wird, mit der näherungsweise berechnet werden kann. Man legt dazu über das Quadrat ein Gitter und berechnet für jeden einzelnen Gitterpunkt, ob er auch im Kreis liegt. Das Verhältnis der Gitterpunkte innerhalb des Kreises zu den Gitterpunkten innerhalb des Quadrats wird mit 4 multipliziert. Die Genauigkeit der damit gewonnenen Näherung von hängt von der Gitterweite ab und wird mittels kontrolliert. Mit erhält man z. B. 3,16 und mit bereits 3,1428. Für das Ergebnis 3,14159 ist allerdings schon zu setzen, was sich durch den zweidimensionalen Lösungsansatz auf die Zahl der notwendigen Rechenvorgänge in quadratischer Form niederschlägt. r = 10000 kreistreffer = 0 quadrattreffer = r ^ 2 for i = 0 to r - 1 x = i + 0.5 for j = 0 to r - 1 y = j + 0.5 if x ^ 2 + y ^ 2 <= r ^ 2 then kreistreffer = kreistreffer + 1 return 4 * kreistreffer / quadrattreffer Anmerkung: Das obige Programm ist nicht für die schnellstmögliche Ausführung auf einem realen Computersystem optimiert, sondern aus Gründen der Verständlichkeit so klar wie möglich formuliert worden. Weiterhin ist die Kreisfläche insofern unpräzise bestimmt, als nicht die Koordinaten der Mitte für die jeweiligen Flächeneinheiten benutzt werden, sondern der Flächenrand. Durch die Betrachtung eines Vollkreises, dessen Fläche für die erste und letzte Zeile gegen Null geht, ist die Abweichung für großes marginal. Die Konstante Pi ist für den Alltagsgebrauch in Computerprogrammen typischerweise bereits vorberechnet vorhanden, üblicherweise ist der zugehörige Wert dabei mit etwas mehr Stellen angegeben, als ihn die leistungsfähigsten Datentypen dieser Computersprache aufnehmen können. Alternatives Programm Dieses Programm summiert die Fläche des Kreises aus im Verhältnis zum Radius sehr schmalen Streifen. Es verwendet die Gleichungen und sowie . n := 1000000 // Halbe Anzahl der Streifen s := 0 // Summe der Flächeninhalte for x := -1 to +1 step 1/n: // Flächeninhalt des Streifens an der Stelle x hinzuaddieren. // Die Höhe des Streifens wird exakt in der Mitte des Streifens gemessen. // Die 2 steht für die obere plus die untere Hälfte. // Der Faktor 1/n ist die Breite des Streifens. s += 2 * sqrt(1 - x*x) * 1/n pi := s Die x-Koordinaten der untersuchten Fläche gehen von bis . Da Kreise rund sind und dieser Kreis sein Zentrum auf den Koordinaten hat, liegen die y-Koordinaten ebenfalls im Bereich von bis . Das Programm teilt die zu untersuchende Fläche in 2 Millionen schmale Streifen auf. Jeder dieser Streifen hat dieselbe Breite, nämlich . Die Oberkante eines jeden Streifens ist jedoch unterschiedlich und ergibt sich aus der obigen Formel zu , im Code wird das als sqrt(1 - x*x) geschrieben. Die Höhe eines jeden Streifens geht von der Oberkante bis zur Unterkante. Da die beiden Kanten bei Kreisen gleich weit von der Mittellinie entfernt sind, ist die Höhe genau das Doppelte der Kantenlänge, daher die 2 im Code. Nach dem Durchlaufen der for-Schleife befindet sich in der Variablen s der Flächeninhalt des Kreises mit Radius 1. Um aus dieser Zahl den Wert von Pi zu ermitteln, muss diese Zahl gemäß der Formel noch durch geteilt werden. In diesem Beispiel ist , daher ist das im Programmcode weggelassen. Statistische Bestimmung Berechnung mit einem Monte-Carlo-Algorithmus Eine Methode zur Bestimmung von ist die statistische Methode. Für die Berechnung lässt man zufällige Punkte auf ein Quadrat „regnen“ und berechnet, ob sie innerhalb oder außerhalb eines einbeschriebenen Kreises liegen. Der Anteil der innen liegenden Punkte ist approximiert . Diese Methode ist ein Monte-Carlo-Algorithmus; die Genauigkeit der nach einer festen Schrittzahl erreichten Näherung von lässt sich daher nur mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit angeben. Durch das Gesetz der großen Zahlen steigt jedoch im Mittel die Genauigkeit mit der Schrittzahl. Der Algorithmus für diese Bestimmung ist: function approximiere_pi(tropfenzahl) innerhalb := 0 // Zählt die Tropfen innerhalb des Kreises // So oft wiederholen, wie es Tropfen gibt: for i := 1 to tropfenzahl do // Zufälligen Tropfen im Quadrat [0,0] bis (1,1) erzeugen x := random(0.0 ..< 1.0) y := random(0.0 ..< 1.0) // Wenn der Tropfen innerhalb des Kreises liegt … if x * x + y * y <= 1.0 innerhalb++ // Zähler erhöhen return 4.0 * innerhalb / tropfenzahl Die 4.0 im Code ergibt sich daraus, dass in der Tröpfchensimulation nur die Anzahl für einen Viertelkreis berechnet wurde. Um daraus die (hochgerechnete) Anzahl für einen ganzen Kreis zu bekommen, muss die berechnete Anzahl noch mit 4 multipliziert werden. Da die Zahl Pi das Verhältnis zwischen der Kreisfläche und dem Quadrat des Radius ist, muss die so erhaltene Zahl noch durch das Quadrat des Radius geteilt werden. Der Radius ist in diesem Fall 1, daher kann das Teilen weggelassen werden. Buffonsches Nadelproblem Eine weitere auf Wahrscheinlichkeiten beruhende und ungewöhnliche Methode ist das Buffonsche Nadelproblem, von Georges-Louis Leclerc de Buffon (1733 vorgetragen, 1777 veröffentlicht). Buffon warf Stöcke über die Schulter auf einen gekachelten Fußboden. Anschließend zählte er, wie oft sie die Fugen trafen. Eine praktikablere Variante beschrieb Jakow Perelman im Buch Unterhaltsame Geometrie. Man nehme eine ca. 2 cm lange Nadel – oder einen anderen Metallstift mit ähnlicher Länge und Durchmesser, am besten ohne Spitze – und zeichne auf ein Blatt Papier eine Reihe dünner paralleler Striche, die um die doppelte Länge der Nadel voneinander entfernt sind. Dann lässt man die Nadel sehr häufig (mehrere hundert- oder tausendmal) aus einer beliebigen, aber konstanten Höhe auf das Blatt fallen und notiert, ob die Nadel eine Linie schneidet oder nicht. Es kommt nicht darauf an, wie man das Berühren eines Striches durch ein Nadelende zählt. Die Division der Gesamtzahl der Nadelwürfe durch die Zahl der Fälle, in denen die Nadel eine Linie geschnitten hat, nähert sich (stochastisch) mit zunehmender Zahl der Würfe an die Formel an, wobei die Länge der Nadeln und den Abstand der Linien auf dem Papier bezeichnet. Daraus ergibt sich leicht eine Näherung für Die Nadel kann dabei auch gebogen oder mehrfach geknickt sein, wobei in diesem Fall auch mehr als ein Schnittpunkt pro Wurf möglich ist und entsprechend mehrfach gezählt werden muss. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam der Schweizer Astronom Rudolf Wolf durch 5000 Nadelwürfe auf einen Wert von . Rekorde der Berechnung von π Geometrische Konstruktionen Aufgrund der Transzendenz von ist es nicht möglich, durch eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal eine Strecke mit der exakten Länge von Längeneinheiten zu erstellen. Es existieren jedoch sowohl eine Reihe von Zirkel-und-Lineal-Konstruktionen, die sehr gute Näherungen liefern, als auch Konstruktionen, die dank eines weiteren Hilfsmittels – zusätzlich zu Zirkel und Lineal – eine exakte Konstruktion ermöglichen. Als ein solches weiteres Hilfsmittel kommen dabei insbesondere als Quadratrizes bezeichnete Kurven zum Einsatz, die z. B. mit Hilfe einer sogenannten Dynamische-Geometrie-Software (DGS) erzeugt und als Ausdruck u. a. auf Papier Verwendung finden. Zudem gibt es einige spezielle mechanische Zeichengeräte und eventuell eigens angefertigte Kurvenlineale, mit denen sich solche Kurven zeichnen lassen. Ohne direktischen praktischen Nutzen, doch geometrisch anschaulich, lässt sich als Flächeninhalt eines angepassten Sierpinski-Teppiches konstruieren. Näherungskonstruktionen Zur geometrischen Konstruktion der Zahl gibt es die Näherungskonstruktion von Kochański aus dem Jahr 1685, mit der man einen Näherungswert der Kreiszahl mit einem Fehler von weniger als 0,002 Prozent bestimmen kann. Es handelt sich also um eine Näherungskonstruktion für die (exakt nicht mögliche) Quadratur des Kreises. 143 Jahre später, nämlich 1828, veröffentlichte C. G. Specht seine Zweite Annäherungs-Construction des Kreis-Umfanges im Journal für die reine und angewandte Mathematik. Für die Annäherung fand er den Wert Halbiert man diesen Wert, ergibt sich eine Dezimalzahl, bei der sieben Nachkommastellen mit denen der Kreiszahl übereinstimmen: Bei einem Kreis mit Radius ist dieser Wert auch gleich dem Flächeninhalt des Dreiecks , mit anderen Worten, der Flächeninhalt des Dreiecks ist nahezu gleich dem des Kreises. Beachtenswert ist, erst im Jahr 1914, d. h. 86 Jahre später, verbesserte Srinivasa Ramanujan – in seiner zweiten Quadratur des Kreises – die Genauigkeit des nahezu flächengleichen Quadrats um eine auf acht gemeinsame Nachkommastellen mit der Kreiszahl . Eine zeichnerische Darstellung wird in dem oben angeführten Journal nicht erfasst; hierzu die Anmerkung des Herausgebers: Die nachfolgende Beschreibung der nebenstehenden Konstruktion ist eine Anlehnung an das Original der Konstruktionsbeschreibung. Zeichne zuerst den Einheitskreis um den Punkt und dann ab eine gerade Linie; dabei ergibt sich . Anschließend wird in eine Senkrechte zur Geraden errichtet; sie erzeugt . Es folgen auf der Geraden ab hintereinander vier Halbkreise mit dem Radius jeweils um den sich neu ergebenden Schnittpunkt, dabei entstehen die Punkte und . Nach der Dreiteilung der Strecken in und sowie in und , wird nun der Punkt mit verbunden. Die dabei entstandene Strecke auf die Senkrechte ab abgetragen ergibt . Verbinde auch den Punkt mit und übertrage die neue Strecke ab auf die Senkrechte; es ergibt sich . Es geht weiter mit den Verbindungen der Punkte mit sowie mit . Beim Übertragen der Strecke auf die Strecke ab ergibt sich . Abschließend zeichne ab eine Parallele zur Strecke , die in schneidet. Die somit entstandene Strecke entspricht annähernd dem Wert . Die Annäherung an die Kreiszahl kann z. B. auf folgende Art und Weise verdeutlicht werden: Wäre der Durchmesser eines Kreises , würde sein angenäherter Umfang nur um ca.  kürzer als sein theoretischer Wert sein. Mithilfe der Quadratrix des Hippias Die nebenstehende Darstellung zeigt die Kreiszahl als Strecke, erstellt mit Hilfe der Quadratrix des Hippias. Es beginnt mit einer Geraden ab dem Punkt und einer Senkrechten auf diese Gerade durch . Anschließend wird der Halbkreis mit dem Radius um gezogen; dabei ergeben sich die Schnittpunkte und . Nun konstruiert man das Quadrat mit der Seitenlänge 1. Es folgt die Festlegung der Quadratrix, ohne „Lücke“ auf der -Achse. Hierfür wird der Bezug der Kurve nicht auf die -Achse, sondern auf die -Achse gewählt. Die Quadratrix (rot) verläuft somit durch und . Für diese Lage der Quadratrix () gilt die kartesische Gleichung: Die Quadratrix schneidet nach dem Satz des Dinostratos die Seite ihres zugehörigen Quadrates im Punkt und generiert damit auf der Geraden, nun als Zahlengerade genutzt, den Wert . Das Errichten der Senkrechten auf die Strecke ab bis zum Halbkreis ergibt den Schnittpunkt . Nach der Verlängerung der Strecke über hinaus und dem Zeichnen einer geraden Linie ab durch bis zur Verlängerung ergibt sich der Schnittpunkt . Eine Möglichkeit u. a. ist nun, die Länge der Strecke mit Hilfe des Strahlensatzes zu bestimmen. In der Zeichnung ist ersichtlich, dass der Strecke entspricht. Infolgedessen sind nach dem ersten Strahlensatz die Verhältnisse der Abschnitte , umgeformt und die entsprechenden Werte eingesetzt ergibt sich . Nun wird der Kreisbogen mit dem Radius um bis auf die Zahlengerade gezogen; es entsteht der Schnittpunkt . Der abschließende Thaleskreis über ab dem Punkt ergibt somit exakt die Kreiszahl . Mithilfe der archimedischen Spirale Eine sehr einfache Konstruktion der Kreiszahl zeigt das folgende Bild, erzeugt mithilfe der archimedischen Spirale. Wird als Windungsabstand (mit ) gewählt, so schneidet der Graph der Spirale die -Achse in und liefert somit bereits nach einer Vierteldrehung Der auf die -Achse projizierte Halbkreis mit Radius sowie die Strecke (grüne Linien) dienen lediglich der Verdeutlichung des Ergebnisses. Mithilfe der Sinuslinie Die Konstruktion der Kreiszahl mithilfe des Graphen der Sinusfunktion , auch als Sinuslinie bezeichnet, ist eine der einfachsten ihrer Art. Die Sinuskurve wird mittels Schablone oder einer sogenannten Dynamische-Geometrie-Software (DGS) auf einer Zahlengeraden eingezeichnet. Sie durchläuft zuerst den Punkt und liefert schließlich beim zweiten Überqueren der Zahlengerade (Winkel ) die Kreiszahl als Länge, d. h. den halben Umfang des Einheitskreises. Experimentelle Konstruktion Die folgende Methode nutzt die in der Kreisfläche „versteckte“ Kreiszahl , um mit Hilfe experimenteller Physik den Wert von als messbare Größe darzustellen. Ein Zylinder mit dem Radius und der Gefäßhöhe wird bis auf die Höhe mit Wasser gefüllt. Die so bestimmte Wassermenge wird nun vom Zylinder in einen Quader umgefüllt, der eine quadratische Grundfläche mit Seitenlänge und eine Gefäßhöhe von aufweist. Wassermenge im Zylinder in Volumeneinheiten [VE]: Wasserstand im Quader in Längeneinheiten [LE]: , daraus Das Ergebnis zeigt: Eine Wassermenge, die in einem Zylinder mit dem Radius den Wasserstand hat, liefert – umgefüllt in den Quader – den Wasserstand . Formeln und Anwendungen Formeln, die π enthalten Formeln der Geometrie In der Geometrie treten die Eigenschaften von als Kreiszahl unmittelbar hervor. Umfang eines Kreises mit Radius : Fläche eines Kreises mit Radius : Volumen einer Kugel mit Radius : Oberfläche einer Kugel mit Radius : Volumen eines Zylinders mit Radius und Höhe : Volumen eines durch die Rotation des Graphen um die -Achse definierten Rotationskörpers mit den Grenzen und Formeln der Analysis Im Bereich der Analysis spielt ebenfalls in vielen Zusammenhängen eine Rolle, zum Beispiel bei der Integraldarstellung , die Karl Weierstraß 1841 nutzte, um zu definieren, der unendlichen Reihe: (Euler, siehe Basler Problem und auch Riemannsche Zetafunktion), der gaußschen Normalverteilung: oder in anderer Darstellung: , der Stirling-Formel als Näherung der Fakultät für große : , der Fourier-Transformation: . den Formeln der Funktionentheorie: Wie für alle Teilgebiete der Analysis ist auch für die Funktionentheorie (und darüber hinaus für die gesamte komplexe Analysis) die Kreiszahl von grundlegender Bedeutung. Als herausragende Beispiele sind hier die Euler-Identität zu nennen sowie die Integralformel von Cauchy . Darüber hinaus wird die Bedeutung der Kreiszahl ebenfalls augenfällig in den Formeln zur Partialbruchzerlegung der komplexwertigen trigonometrischen Funktionen, die im Zusammenhang mit dem Satz von Mittag-Leffler stehen. Hier sind vor allem die Partialbruchzerlegung des Kotangens: zu erwähnen sowie die daraus – neben weiteren! – zu gewinnenden Partialbruchzerlegungen zu Sinus und Kosinus: Die obige Partialbruchreihe zum Sinus liefert dann durch Einsetzen von die bekannte Reihendarstellung , die ihrerseits direkt zu der eulerschen Reihendarstellung führt, siehe Basler Problem. Neben diesen von den Partialbruchreihen herrührenden π-Formeln kennt die Funktionentheorie noch eine große Anzahl weiterer davon, die statt der Darstellung mit unendlichen Reihen eine Darstellung mittels unendlicher Produkte aufweisen. Viele von ihnen gehen auf das Werk von Leonhard Euler zurück (s. u.). Formeln der Zahlentheorie Die relative Häufigkeit, dass zwei zufällig gewählte natürliche Zahlen, die unterhalb einer Schranke liegen, teilerfremd sind, strebt mit gegen (Satz von Ernesto Cesàro, 1881). Nimmt man eine ganze Zahl z, deren Dezimaldarstellung aus Fünfen besteht, und berechnet das -Fache des Sinus des z-ten Teils eines Grades, dann strebt das Resultat mit wachsendem gegen π: Formeln der Physik In der Physik spielt neben der Kreisbewegung: (Winkelgeschwindigkeit gleich mal Umlauffrequenz) vor allem bei Wellen eine Rolle, da dort über die Sinus- und Kosinusfunktion eingeht; somit also zum Beispiel in der Quantenmechanik: (Heisenbergsche Unschärferelation), außerdem in der Berechnung der Knicklast und bei der Reibung von Partikeln in Flüssigkeiten (Gesetz von Stokes) . Produktformeln von Leonhard Euler Wird die Folge der Primzahlen mit bezeichnet, so gilt: {| class="wikitable" !colspan="4"| unendliches Produkt !!colspan="2"| endliche Approximation (3 Faktoren) !!colspan="2"| Abweichung von |- |style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| |- |style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| |- |style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| |- |style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| |- |style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid none solid none; text-align:right"|   ||style="border-style: solid none solid none;"| ||style="border-style: solid solid solid none;"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none; text-align:right"| ||style="border-style: solid none solid solid;"| ||style="border-style: solid solid solid none; text-align:right"| |} Siehe dazu auch die Artikel über die Zeta-Funktion und insbesondere den Abschnitt Funktionswerte für gerade natürliche Zahlen. Auf Euler gehen auch die folgenden Produktformeln zurück, welche die Kreiszahl mit der komplexen Gammafunktion und dem komplexen Sinus und Kosinus verbinden: Die erste der drei folgenden Formeln bezeichnet man auch als eulerschen Ergänzungssatz. Bei den beiden anschließenden Produktformeln für Sinus und Kosinus handelt es sich um absolut konvergente Produkte. Beide Produktformeln ergeben sich aus dem Ergänzungssatz, wobei die Produktformel des Kosinus ihrerseits wegen eine direkte Anwendung der Produktformel des Sinus ist. Die Produktformel des Sinus führt dann mit zu dieser interessanten Beziehung (): Sonstiges Kuriositäten Freunde der Zahl feiern am 14. März (in US-amerikanischer Notation 3/14) den Pi-Tag und am 22. Juli (in US-amerikanischer Notation 7/22) den Pi Approximation Day. Im Jahr 1897 sollte im US-Bundesstaat Indiana mit dem Indiana Pi Bill die Kreiszahl gesetzlich auf einen der von Hobbymathematiker Edwin J. Goodwin gefundenen Werte festgelegt werden, der sich auf übernatürliche Eingebungen berief. Aus seinen Arbeiten lassen sich unterschiedliche Werte für die Kreiszahl ableiten, unter anderem 4 oder . Nachdem er eine gebührenfreie Nutzung seiner Entdeckungen anbot, verabschiedete das Repräsentantenhaus diesen Gesetzentwurf einstimmig. Als Clarence A. Waldo, Mathematikprofessor der Purdue University, davon zufällig bei einem Besuch des Parlaments erfuhr und Einspruch erhob, vertagte die zweite Kammer des Parlaments den Entwurf auf unbestimmte Zeit. Der der Straßenverkehrszulassungsordnung bestimmt in Deutschland für die Berechnung des (für die Kfz-Steuer relevanten) Hubraums eines Verbrennungsmotors: „Für pi wird der Wert von 3,1416 eingesetzt.“ Die Versionsnummer des Textsatzprogramms TeX von Donald E. Knuth wird entgegen den üblichen Konventionen der Software-Entwicklung seit den 1990er Jahren so inkrementiert, dass sie sich langsam annähert. Die aktuelle Version von Januar 2021 trägt die Nummer 3.141592653. Der Versionsname der freien Geoinformationssystemssoftware QGIS lautet in der Version 3.14 „Pi“. Für Bugfix-Versionen werden zusätzliche Dezimalstellen hinzugefügt. Wissenschaftler senden mit Radioteleskopen die Kreiszahl ins Weltall. Sie sind der Meinung, dass andere Zivilisationen diese Zahl kennen müssen, wenn sie das Signal auffangen können. Der aktuelle Rekord im Pi-Vorlesen liegt bei 108.000 Nachkommastellen in 30 Stunden. Der Weltrekordversuch begann am 3. Juni 2005 um 18:00 Uhr und wurde am 5. Juni 2005 um 0:00 Uhr erfolgreich beendet. Über 360 Leser lasen jeweils 300 Nachkommastellen. Organisiert wurde der Weltrekord vom Mathematikum in Gießen. Film, Musik, Kultur und Literatur Im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann schildert der Erzähler im Kapitel Der große Stumpfsinn auf mitleidig-belächelnde Weise, wie die Nebenfigur des Staatsanwalts Paravant den „verzweifelten Bruch“ Pi zu enträtseln versucht. Paravant glaubt, dass die „planende Vorsehung“ ihn dazu bestimmt habe, „das transzendente Ziel in den Bereich irdisch genauer Erfüllung zu reißen“. Er bemüht sich, in seiner Umgebung eine „humane Empfindlichkeit zu wecken für die Schande der Verunreinigung des Menschengeistes durch die heillose Irrationalität dieses mystischen Verhältnisses“, und fragt sich, „ob nicht die Menschheit sich die Lösung des Problems seit Archimedes’ Tagen viel zu schwer gemacht habe, und ob diese Lösung nicht in Wahrheit die kindlich einfachste sei.“ In diesem Zusammenhang erwähnt der Erzähler den historischen Zacharias Dase, der Pi bis auf zweihundert Stellen nach dem Komma berechnet hat. In der Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise bemächtigt sich in Folge 43, Der Wolf im Schafspelz (orig. Titel Wolf in the Fold), ein fremdes Wesen des Bordcomputers. Der 1. Offizier Spock befiehlt darauf dem Computer, die Zahl Pi bis auf die letzte Nachkommastelle zu berechnen. Durch diese Aufgabe wird der Computer so überfordert, dass das Wesen den Computer wieder verlässt. 1981 wurde Carl Sagans Buch Contact veröffentlicht. Das Buch beschreibt das SETI-Programm zur Suche nach außerirdischer Intelligenz und damit verbundene philosophische Betrachtungen. Es endet mit der fiktiven Beantwortung der Frage, ob das Universum zufällig entstanden ist oder planvoll geschaffen wurde. Die Zahl  spielt für die im Rahmen der Handlung folgerichtige Antwort die zentrale Rolle. 1988 initiierte Larry Shaw den Pi-Tag am 14. März im Exploratorium. 1998 veröffentlichte Darren Aronofsky (Requiem for a Dream) den Film Pi, in dem ein mathematisches Genie (Sean Gullette als ‚Maximilian Cohen‘) die Weltformel aus herausfiltern möchte. Auf dem 2005 erschienenen Doppelalbum Aerial von Kate Bush ist ein Lied der Zahl Pi gewidmet. Die im November 2006 eröffnete Medieninstallation Pi in der Wiener Opernpassage widmet sich unter anderem der Kreiszahl. Im Film Nachts im Museum 2 (2009) ist die Kreiszahl die Kombination für die Tafel des Ahkmenrah. Die Kombination wird mit Hilfe von Wackelkopf-Einsteins gelöst und öffnet in dem Film das Tor zur Unterwelt. Die progressive Deathcore-Band After the Burial hat auf ihrem Debütalbum Forging a Future Self das Lied Pi (The Mercury God of Infinity) veröffentlicht. Es besteht aus einem Akustikgitarrensolo, auf das ein Breakdown folgt, dessen Rhythmus an die ersten 110 Stellen der Kreiszahl angelehnt ist. In der Folge 28 (2x06) Rückkehr des Thor der Fernsehserie Stargate – Kommando SG-1 ist die Zahl 3,14159 die Lösung eines Rätsels zur Kontaktaufnahme mit freundlichen Aliens. Pi-Sport Das Memorieren der Zahl Pi ist die beliebteste Möglichkeit, das Merken langer Zahlen unter Beweis zu stellen. So ist aus dem Lernen von Pi ein Sport geworden. Der Inder Rajveer Meena ist offizieller Weltrekordhalter mit bestätigten 70.000 Nachkommastellen, die er am 21. März 2015 fehlerfrei in einer Zeit von 10 Stunden aufsagte. Er wird im Guinness Book of Records als Rekordhalter geführt. Der inoffizielle Weltrekord lag im Oktober 2006 bei 100.000 Stellen, aufgestellt von Akira Haraguchi. Der Japaner brach damit seinen ebenfalls noch inoffiziellen alten Rekord von 83.431 Nachkommastellen. Den deutschen Rekord hält seit dem 10. März 2023 die Frankfurter Gedächtniskünstlerin Susanne Hipp mit 15.637 Nachkommastellen. Für das Memorieren von Pi werden spezielle Mnemotechniken angewandt. Die Technik unterscheidet sich dabei nach den Vorlieben und Begabungen des Gedächtniskünstlers sowie der Menge der zu memorierenden Nachkommastellen. Für das Merken der ersten Ziffern von Pi gibt es einfache Merksysteme, dazu Pi-Sport-Merkregeln. Alternative Kreiszahl τ Der amerikanische Mathematiker Robert Palais schlug 2001 in einer Ausgabe des Mathematik-Magazins The Mathematical Intelligencer vor, für statt wie bisher den Quotienten aus Umfang und Durchmesser eines Kreises, in Zukunft den Quotienten aus Umfang und Radius (entsprechend als grundlegende Konstante zu verwenden. Seine Argumentation beruht darauf, dass in vielen mathematischen Formeln der Faktor vor der Kreiszahl auftauche. Ein weiteres Argument ist die Tatsache, dass die neue Konstante im Bogenmaß einen Vollwinkel darstellt, statt wie einen halben Winkel, und so weniger willkürlich wirkt. Die neu normierte Kreiszahl, für deren Notation Michael Hartl und Peter Harremoës den griechischen Buchstaben (Tau) vorschlugen, würde diese Formeln verkürzen. Nach dieser Konvention gilt dann also Literatur Claudi Alsina, Roger B. Nelsen: Charming Proofs: A Journey Into Elegant Mathematics. MAA 2010, ISBN 978-0-88385-348-1, S. 145–146 () Weblinks Beweis der Irrationalität von in der Formelsammlung Mathematik Beweis der Transzendenz von und im Beweisarchiv. Albrecht Beutelspacher (Mathematikum Gießen): Mathematik zum Anfassen – Die Zahl . Bayern α. Werner Scholz: Die Geschichte der Approximationen der Zahl. TU Wien, 3. November 2001. Archimedes und die Ermittlung der Kreiszahl. The -Search Page. Ziffernfolgen innerhalb von suchen. Pibel.de. Auf dieser Website steht die Zahl Pi auf bis zu 10 Millionen Kommastellen zum Download bereit. Aktuelle Weltrangliste der -Auswendiglerner. Englisch. Monte-Carlo-Methode zur Approximation von π. Don Zagier: Zahlentheorie und die Kreiszahl Pi. Gaußvorlesung 2003 in Freiburg (Podcast). Anmerkungen Einzelnachweise Besondere Zahl
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah%20Arendt
Hannah Arendt
Hannah Arendt (geboren am 14. Oktober 1906 als Johanna Arendt in Linden, heutiger Stadtteil von Hannover; gestorben am 4. Dezember 1975 in New York City) war eine jüdische deutsch-US-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin. Die Entrechtung und Verfolgung von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus sowie ihre eigene kurzzeitige Inhaftierung durch die Gestapo im Juli 1933 bewogen sie zur Emigration aus Deutschland. Sie emigrierte über Karlsbad und Genf nach Paris, wo sie als Sozialarbeiterin bei jüdischen Einrichtungen wirkte. Nachdem sie vom nationalsozialistischen Regime 1937 ausgebürgert worden war, war sie staatenlos, bis sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Seitdem verstand sie sich als US-Amerikanerin und bekannte sich zur US-amerikanischen Verfassung. Arendt war unter anderem als Journalistin sowie Hochschullehrerin tätig und veröffentlichte wichtige Beiträge zur politischen Philosophie. Gleichwohl lehnte sie es ab, als „Philosophin“ bezeichnet zu werden. Auch dem Begriff „Politische Philosophie“ stand sie eher distanziert gegenüber; sie zog die Bezeichnung „Politische Theorie“ für ihre entsprechenden Publikationen vor und legte Wert darauf, dass sie als Historikerin arbeite. Auch wegen ihrer theoretischen Auseinandersetzungen mit Philosophen wie Sokrates, Platon, Aristoteles, Immanuel Kant, Martin Heidegger und Karl Jaspers sowie mit den maßgeblichen Vertretern der neuzeitlichen politischen Philosophie wie Niccolò Machiavelli, Charles-Louis de Montesquieu und Alexis de Tocqueville wird sie dennoch häufig als Philosophin bezeichnet. Gerade wegen ihres eigenständigen Denkens, der Theorie der totalen Herrschaft, ihrer existenzphilosophischen Arbeiten und ihrer Forderung nach freien politischen Diskussionen nimmt sie in den Debatten der Gegenwart eine bedeutende Rolle ein. Sie verachtete diejenigen deutschen Intellektuellen, die sich ab 1933 Adolf Hitler zuwandten. Arendt vertrat ein Konzept von „Pluralität“ im politischen Raum. Demnach bestehe zwischen den Menschen eine potentielle Freiheit und Gleichheit in der Politik. Wichtig sei es, die Perspektive des anderen einzunehmen. An politischen Vereinbarungen, Verträgen und Verfassungen sollten auf möglichst konkreten Ebenen gewillte und geeignete Personen beteiligt sein. Aufgrund dieser Auffassung stand Arendt rein repräsentativen Demokratien kritisch gegenüber und bevorzugte Rätesysteme sowie Formen direkter Demokratie. Ihre öffentlichen Stellungnahmen zu politischen Ereignissen waren unter Gegnern und Freunden häufig umstritten; ihre Zivilcourage wurde oft als Unnachgiebigkeit wahrgenommen und bekämpft, insbesondere ihre Arbeit zum Eichmann-Prozess. Durch ihr politisches Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Anfang der 1950er Jahre wurde sie öffentlich bekannt. Vita activa oder Vom tätigen Leben gilt als Arendts philosophisches Hauptwerk. Als Quellen für ihre Überlegungen nutzte Arendt neben philosophischen, politischen und historischen Dokumenten unter anderem Biografien und literarische Werke. Diese Texte wertete sie wortgetreu aus und konfrontierte sie mit ihren eigenen Denkansätzen. Leben und Werk Kindheit und Jugend Johanna Arendt wurde 1906 als Tochter säkularer jüdischer Eltern im heute zu Hannover gehörenden Linden geboren. Ihre Vorfahren stammten aus Königsberg i. Pr., wohin ihr schwer erkrankter Vater, Paul Arendt (1873–1913), und die Mutter, Martha geb. Cohn (1874–1948), zurückkehrten, als sie kaum drei Jahre alt war. Nach dem frühen Tod des Vaters, der Ingenieur war, wurde sie von ihrer sozialdemokratisch eingestellten Mutter freiheitlich erzogen. In den gebildeten Kreisen Königsbergs, in denen sie aufwuchs, war die Mädchenbildung selbstverständlich. Durch die Großeltern (ein Großvater war der Großkaufmann und Kommunalpolitiker Max Arendt) hatte sie das liberale Reformjudentum kennengelernt. Sie gehörte keiner religiösen Gemeinschaft an, verstand sich jedoch immer als Jüdin. Bereits im Alter von 14 Jahren las sie Kants Kritik der reinen Vernunft und Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen sowie Søren Kierkegaard. Sie musste die Schule wegen Differenzen mit einem Lehrer verlassen, ging anschließend nach Berlin, wo sie ohne formalen Schulabschluss unter anderem als Gasthörerin Vorlesungen zur christlichen Theologie, u. a. bei Romano Guardini, besuchte. Zurück in Königsberg, bestand sie 1924 als externer Prüfling das Abitur. Noch während ihrer Schulzeit hatte sie einen philosophischen Kreis gegründet, in dem sie 1920 Ernst Grumach traf. Durch ihn lernte sie ihre langjährige Freundin Anne Mendelsohn, später Anne Weil, kennen. Studienzeit 1924 nahm sie ihr Studium an der Universität Marburg auf und studierte ein Jahr lang Philosophie bei Martin Heidegger und Nicolai Hartmann, außerdem als Nebenfächer Evangelische Theologie, wobei sie insbesondere Vorlesungen bei Rudolf Bultmann hörte, sowie Gräzistik. Der 35-jährige Familienvater Heidegger und die 17 Jahre jüngere Studentin verliebten sich ineinander und begannen eine Beziehung. Arendt war nicht die erste und nicht die einzige Liebesbeziehung Heideggers in seiner Marburger Zeit. Arendt lebte in Marburg wegen ihrer Beziehung zu Heidegger, die dieser geheim halten wollte, sehr zurückgezogen. Sie pflegte lediglich Kontakte zu ihrem Kommilitonen Hans Jonas und zu ihren Königsberger Freunden. Die Beziehung zwischen Heidegger und Arendt blieb der Öffentlichkeit verborgen, bis 1982 die große Arendt-Biografie von Elisabeth Young-Bruehl gleichzeitig in den USA und Großbritannien erschien. Seitdem gibt es darüber zahlreiche Veröffentlichungen. Anfang 1926 fasste sie auf Drängen Heideggers den Entschluss, den Studienort zu wechseln, und ging für ein Semester zu Edmund Husserl nach Freiburg. In Heidelberg studierte sie anschließend Philosophie und wurde auf Vermittlung Heideggers 1928 bei Karl Jaspers nach erfolgreicher Verteidigung ihrer Arbeit Der Liebesbegriff bei Augustin promoviert. Mit Jaspers blieb sie bis zu dessen Tod freundschaftlich verbunden. In Heidelberg weitete Arendt ihren Freundeskreis aus. Dazu gehörten Karl Frankenstein, der 1928 eine geschichtsphilosophische Dissertation vorlegte, der Jungianer Erich Neumann und Erwin Loewenson, ein expressionistischer Essayist. Auch Jonas kam nach Heidelberg und arbeitete dort ebenfalls über Augustinus. Ein anderer Kreis erschloss sich ihr durch die Freundschaft mit Benno von Wiese und die von Jaspers empfohlenen Vorlesungen von Friedrich Gundolf. Große Bedeutung hatte für sie zudem Kurt Blumenfeld, der Geschäftsführer und Hauptsprecher der deutschen Zionistenorganisation, dessen Thema die Erforschung der so genannten Judenfrage und der Assimilation war. Ihm verdanke sie, heißt es in einem Brief an ihn aus dem Jahr 1951, ihr Verständnis für die Situation der Juden. Heirat, Beginn der NS-Herrschaft, erste politische Aktivitäten Ihr erstes Buch trägt den Titel Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Es handelt sich um ihre bereits im Alter von 22 Jahren verfasste und 1929 in Berlin gedruckte Dissertation. Darin verbindet sie philosophische Ansätze Martin Heideggers mit denen von Karl Jaspers und betont bereits damals die wichtige Rolle der Geburt (später Gebürtlichkeit, Natalität) für das Individuum wie auch für seine Mitmenschen. Damit grenzt sie sich von ihrem Lehrer Heidegger ab. Das Werk wurde in wichtigen philosophischen und literarischen Publikationen besprochen. Auf Kritik stieß, dass sie Augustinus als Philosophen betrachtet und nicht als Kirchenvater. Außerdem wurde bemängelt, dass sie neuere theologische Literatur nicht zitiert habe. Einige Interpreten sehen in diesem Werk indes bereits spätere Leitmotive Arendts vorbereitet. In Berlin traf sie ebenfalls 1929 Günther Stern wieder, den sie schon aus Marburg kannte und der später unter seinem Pseudonym Günther Anders bekannt wurde. Kurz darauf zog sie mit ihm zusammen, für die damalige Zeit ein in der öffentlichen Meinung verpöntes Verhalten; die beiden heirateten noch im selben Jahr in Nowawes. Sie wohnten dann in Drewitz, in Heidelberg, ein Jahr in Frankfurt und dann wieder in Berlin. Arendt schrieb für die Frankfurter Zeitung und besuchte Seminare bei Paul Tillich und Karl Mannheim, dessen Buch Ideologie und Utopie sie rezensierte. Zugleich befasste sie sich mit Rahel Varnhagen von Ense, einer intellektuellen Jüdin der Romantik. Als sich abzeichnete, dass Sterns Habilitationsschrift von Theodor W. Adorno nicht akzeptiert werden würde, gingen beide wieder nach Berlin. Dort begann Arendt mit der Arbeit an ihrem als Habilitation angelegten Werk über Rahel Varnhagen. Nach einem positiven Gutachten von Jaspers, der weitere Gutachten von Heidegger und Dibelius besorgte, wurde die Studie durch ein Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gefördert. Gleichzeitig begann Arendt, sich mehr für politische Fragen zu interessieren. Sie las Marx und Trotzki und knüpfte neue Kontakte an der Hochschule für Politik. Die Ausgrenzung der Juden trotz Assimilation analysierte sie anhand des erstmals von Max Weber in Bezug auf die Juden verwendeten Begriffs „Paria“ (Außenseiter). Sie stellte diesem, angeregt durch die Schriften Bernard Lazares, den entgegengesetzten Terminus „Parvenu“ (Aufsteiger) gegenüber. 1932 veröffentlichte sie in der Zeitschrift Geschichte der Juden in Deutschland den Artikel Aufklärung und Judenfrage, in dem sie in der Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn als Aufklärern und Johann Gottfried Herder als Vorläufer der Romantik ihre Ideen über die Eigenständigkeit des Judentums entwickelte. Ebenfalls 1932 verfasste sie eine Rezension über das Buch Das Frauenproblem in der Gegenwart von Alice Rühle-Gerstel, in der sie die Frauenemanzipation im öffentlichen Leben würdigte, ihr jedoch die Beschränkungen – insbesondere in der Ehe und im Arbeitsleben – gegenüberstellte. Sie konstatierte die „faktische Geringschätzung“ der Frau in der Gesellschaft und kritisierte die Pflichten, die mit ihrer Unabhängigkeit nicht zu vereinbaren seien. Der Frauenbewegung stand Hannah Arendt indes distanziert gegenüber. Die politischen Fronten seien „Männerfronten“, betonte sie einerseits. Andererseits sah sie jedoch die „Fragwürdigkeit“ der Frauenbewegung ebenso wie die der Jugendbewegung, weil beide – klassenübergreifend angelegt – dabei scheitern müssten, einflussreiche politische Parteien zu bilden. Kurz vor Adolf Hitlers Machtantritt versuchte Karl Jaspers, sie in mehreren Briefen davon zu überzeugen, dass sie sich als Deutsche betrachten solle. Dies lehnte sie stets mit dem Hinweis auf ihre Existenz als Jüdin ab. Sie schrieb: „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung.“ Ansonsten fühlte sie sich zur Distanz verpflichtet. Besonders kritisierte sie den von Jaspers gebrauchten Ausdruck „deutsches Wesen“. Jaspers antwortete: „Es ist mir wunderlich, daß Sie als Jüdin sich vom Deutschen unterscheiden wollen.“ Diese kontroversen Positionen nahmen beide auch nach dem Krieg ein. Schon 1931 ging Arendt davon aus, dass die Nationalsozialisten an die Regierung kommen würden, dachte 1932 an Emigration, blieb jedoch zunächst in Deutschland und wurde erstmals politisch aktiv. Ihr Mann, der sich inzwischen Günther Anders nannte, flüchtete im März 1933 nach Paris. Vermittelt durch Kurt Blumenfeld, war Arendt für die Zionistische Vereinigung für Deutschland tätig, um die beginnende Judenverfolgung zu dokumentieren. Ihre Wohnung in Berlin diente Flüchtlingen als Zwischenstation. Im Juli 1933 wurde sie verhaftet und kam für acht Tage in Gestapo-Haft. Gegenüber Günter Gaus äußerte sie sich 1964 über ihr Motiv: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.“ Bereits 1933 vertrat sie die Auffassung, dass das nationalsozialistische Regime aktiv zu bekämpfen sei. Sie stand damit im Gegensatz zu vielen gebildeten Deutschen, teilweise mit jüdischem Hintergrund, die sich mit dem NS-Regime arrangieren wollten, die neuen Herrscher manchmal lobten oder die Diktatur zunächst unterschätzten. Im Gaus-Interview drückte sie ihre Verachtung für die umgehende – damals noch freiwillige – „Gleichschaltung“ der meisten Intellektuellen aus. Arendt war davon abgestoßen und wollte mit dieser Art von affirmativen, opportunistischen oder sogar begeisterten Gelehrten nichts gemein haben. Daraus resultierte auch der Streit mit Leo Strauss, dessen konservative Auffassungen sie ablehnte. Ebenso war sie von Heideggers NS-Engagement enttäuscht, der bereits am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war. Daraufhin brach sie den Kontakt ab und traf ihn erst 1950 wieder. Auch die Freundschaft mit Benno von Wiese beendete sie, als er sich frühzeitig dem Nationalsozialismus zuwandte und ebenfalls 1933 Parteimitglied wurde. Diese Erfahrung der tiefen Entfremdung von Freunden beschrieb sie in ihren Werken und in ihrer Korrespondenz mehrmals. Sie war davon überzeugt, dass es sich jeweils um Willensentscheidungen handelte, für die der Einzelne verantwortlich war. Noch kurz vor ihrem Tod stellte sie fest: Gerade viele professionelle Denker hätten hinsichtlich des Nationalsozialismus versagt, als sie sich für das Regime engagierten. Arendt verlangte nicht von jedem aktiven Widerstand. Schon das Schweigen erkannte sie als Ablehnung der totalen Herrschaft an. Exil, zweite Ehe und Engagement für jüdische Flüchtlinge Über das tschechische Karlsbad, Genua und Genf emigrierte sie 1933 zunächst nach Frankreich. In Paris war sie, ohne Papiere, wiederum für zionistische Organisationen tätig, die beispielsweise jüdischen Jugendlichen zur Flucht nach Palästina verhalfen. Sie arbeitete wissenschaftlich über den Antisemitismus und hielt Vorträge vor verschiedenen Vereinigungen sowie in der Freien Deutschen Hochschule Paris. Hannah Arendt und ihr Ehemann hatten schon in Berlin unterschiedliche Interessen und Freundeskreise: „Er verkehrt(e) unter Linken, im Umfeld von Brecht“, sie hatte zunehmend Kontakt zu zionistischen und anderen jüdischen Persönlichkeiten. Zunächst wohnten beide in Paris zusammen, besuchten gemeinsam die Seminare Alexandre Kojèves und Versammlungen mit anderen Intellektuellen im Exil. Doch die Ehe scheiterte und wurde 1937 geschieden. Arendt vertraute Elfride Heidegger in einem Brief vom 10. Februar 1950 an, dass sie, als sie Marburg verließ, fest entschlossen war, nie wieder einen Mann zu lieben: „Und dann heiratete ich, nur um zu heiraten, einen Mann, den ich nicht liebte.“ Arendt führt weiter aus, dass sie sich den Dingen absolut überlegen fühlte, dass sie glaubte, über alles verfügen zu können, gerade weil sie nichts von sich selbst erwartete. Schließlich sagte sie, dass sich alles erst änderte, als sie den Mann traf, der ihr zweiter Ehemann werden sollte. Bereits 1936 hatte sie Heinrich Blücher kennengelernt, einen ehemaligen Kommunisten, der sich schon früh gegen die Politik Josef Stalins gewandt hatte. In Paris gehörten beide mit Walter Benjamin, dem Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit, dem Nervenarzt Fritz Fränkel und dem Maler Carl Heidenreich zu einem Kreis deutscher Flüchtlinge. 1937 wurde Arendt die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. 1939 glückte es ihr gerade noch, ihre Mutter aus Königsberg in Sicherheit zu bringen. Im Januar 1940 heiratete sie Heinrich Blücher. Für Blücher war es die dritte Ehe. Anfang Mai 1940 wiesen die französischen Behörden über die Presse die deutschstämmigen Ausländer an, sich zum Abtransport zu melden. Arendt wurde mit vielen anderen Frauen für eine Woche im Vélodrome d’Hiver inhaftiert. Danach wurden sie in das südfranzösische Camp de Gurs deportiert. In ihrem Essay Wir Flüchtlinge schreibt sie dazu sarkastisch, dass „die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden“. Nach etwa einem Monat gelang ihr mit wenigen anderen die Flucht aus Gurs, denn die Wachsamkeit der französischen Lagerverwaltung hatte in der chaotischen Lage, nachdem die Wehrmacht Paris besetzt hatte und nach Süden vorgerückt war, vorübergehend nachgelassen. In einem Brief an Salomon Adler-Rudel schilderte Arendt wenig später die Umstände der Internierungen von Flüchtlingen aus NS-Deutschland. Die folgende Zeit verbrachten sie und ihr Mann in Montauban, und Arendt konnte, u. a. mit Hilfe Varian Frys, Papiere für die Ausreise nach Lissabon besorgen. Im französischen Exil verband sie eine enge Freundschaft mit dem damals noch weitgehend unbekannten Walter Benjamin, den sie auch materiell unterstützte. Nachdem er sich 1940 das Leben genommen hatte, setzte sie sich 1945 vergeblich beim Schocken-Verlag für die Veröffentlichung seiner Werke ein. Erst 1968 konnte sie seine Essays – mit Anmerkungen und einem Vorwort versehen – in den USA herausgeben. Immigration in die USA, Erwerbstätigkeit und Kampf für eine jüdische Armee Im Mai 1941 erreichten Arendt, ihr Ehemann und ihre Mutter über Lissabon New York. Die Familie wohnte zunächst in Hotelzimmern und lebte von einem geringen Stipendium der zionistischen Flüchtlingsorganisation. Arendt vervollkommnete sehr schnell ihre Kenntnisse der englischen Sprache. Ab Oktober 1941 war sie für das deutsch-jüdische Magazin Aufbau in New York tätig. Sie schrieb regelmäßig eine kurze Kolumne This means You („Das geht dich an“). Der Startartikel unter dem Titel Mose and Washington („Moses und Washington“) knüpft in der Gestalt des Moses an die jüdische Exilgeschichte an. Arendt argumentiert, dass das moderne (Reform-)Judentum den Bezug zu seiner eigentlichen Tradition verloren habe, ein Motiv, das auch die These ihres Buches über Rahel Varnhagen bildet. Es „wächst bei uns höchst paradoxerweise die Zahl jener, die Moses und David durch Washington oder Napoléon ersetzen“, Juden, die sich auf fremde Kosten (nämlich der Nichtjuden) „verjüngen“ wollten. Kritisch merkt sie an, dass die (jüdische) Geschichte kein Vehikel sei, aus dem man beliebig aussteigen könne; sie fordert, aus dem Judentum einen „Segen“ zu machen, nämlich eine Waffe im Kampf um die Freiheit. Damit wollte sie das politische Bewusstsein der jüdischen Öffentlichkeit in aller Welt wecken. In zahlreichen Artikeln forderte sie den Aufbau einer selbstständigen jüdischen Armee auf Seiten der Alliierten. Mit diesem Verlangen, das sie bereits vor Beginn der Massenmorde in den Konzentrationslagern formulierte, konnten sie und ihre wenigen Mitstreiter sich nicht durchsetzen. Zwar bezeichnete sich Arendt in dieser Zeit noch als (säkulare) Zionistin, nahm aber eine zunehmend kritische Haltung zur Weltanschauung des Zionismus ein, die sie mit anderen Ideologien wie Sozialismus oder Liberalismus verglich, welche Voraussagen über die Zukunft machten. Sie hielt Freiheit und Gerechtigkeit für Grundprinzipien der Politik, die mit der Vorstellung eines auserwählten Volkes nicht zu vereinbaren seien. Diese Positionen stießen in der jüdischen Öffentlichkeit zumeist auf Ablehnung. 1943 veröffentlichte sie den Essay We Refugees (dt. Wir Flüchtlinge), in dem sie sich mit der Rechtlosigkeit von Flüchtlingen und Staatenlosen auseinandersetzt. Von 1944 bis 1946 war Hannah Arendt als Forschungsleiterin der Conference on Jewish Relations tätig, anschließend bis 1949 als Lektorin im jüdischen Schocken-Verlag. Am 26. Juli 1948 starb ihre Mutter Martha Arendt während einer Reise zu ihrer Stieftochter Eva Beerwald in England. Von 1949 bis 1952 arbeitete sie als Executive Secretary (Geschäftsführerin) für die Organisation zur Rettung und Pflege jüdischen Kulturguts Jewish Cultural Reconstruction Corporation (JCR). Bis Heinrich Blücher 1951 Philosophie-Kurse an einem College erteilen konnte, sorgte Hannah Arendt nahezu allein für den Lebensunterhalt der Familie. Erste Reisen in die Bundesrepublik und Berichte über die Nachwirkungen des NS-Regimes 1949/1950 bereiste Arendt im Auftrag der JCR die Bundesrepublik Deutschland und setzte sich dafür ein, die nicht zerstörten jüdischen Kulturgüter, darunter ganze Bibliotheken, nach Israel oder in die USA zu bringen. Arendt traf während dieses Aufenthalts zum ersten Mal seit 1933 Karl Jaspers und Martin Heidegger. Eine zweite Reise folgte 1952. Seitdem fuhr sie jedes Jahr für einige Monate nach Europa, bisweilen auch nach Israel, besuchte viele Freunde und Verwandte, jedes Mal aber Karl und Gertrud Jaspers. Während ihrer Recherchen in der Bundesrepublik stand sie in brieflichem Kontakt mit Gershom Scholem. In dem Essay Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes (1950) schreibt Arendt sehr differenziert über die Nachkriegssituation. Deutschland habe in kurzer Zeit durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte, das moralische Gefüge der westlichen Welt zerstört. Millionen von Menschen aus Osteuropa strömten in das zerstörte Land. „Man kann bezweifeln, ob die Politik der Alliierten, alle deutschen Minderheiten aus nichtdeutschen Ländern zu vertreiben – als ob es nicht schon genug Heimatlosigkeit auf der Welt gäbe – klug gewesen ist; doch außer Zweifel steht, daß bei denjenigen europäischen Völkern, die während des Krieges die mörderische Bevölkerungspolitik Deutschlands zu spüren bekommen hatten, die bloße Vorstellung, mit Deutschen auf demselben Territorium zusammenleben zu müssen, Entsetzen und nicht bloß Wut auslöste.“ Sie stellt eine seltsame Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung fest. Über Europa liege wegen der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager ein Schatten tiefer Trauer. Doch dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken werde nirgends weniger besprochen als in Deutschland. „Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert.“ Hingegen kursierten zahlreiche Geschichten über die Leiden der Deutschen, die gegen die Leiden der anderen aufgerechnet würden, wobei die „Leidensbilanz“ in Deutschland stillschweigend als ausgeglichen gelte. Die Flucht vor der Verantwortung und die Zuschreibung von Schuld auf die Besatzungsmächte seien weit verbreitet. „Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben.“ Arbeiten zur Existenzphilosophie Nach Kriegsende veröffentlichte Arendt zwei Artikel zur Existenzphilosophie. In The Nation erschien Anfang 1946 der Text French Existentialism, in dem sie vor allem das Denken Albert Camus’ zustimmend und dasjenige Sartres kritisch beleuchtete. Sie äußerte gegenüber Jaspers ihre große Hoffnung auf einen neuen Typus von Menschen, der ohne allen „europäischen Nationalismus“ Europäer ist und sich für einen europäischen Föderalismus einsetzt. Dazu zählte sie Camus aus der französischen Résistance, dem sie in einem Brief Ehrlichkeit und politische Einsicht bescheinigte. Den Artikel Was ist Existenzphilosophie? veröffentlichte sie in den USA 1946 in der Partisan Review, auf Französisch in Paris 1947 und in der Schriftenreihe der von Jaspers und anderen gegründeten Zeitschrift Die Wandlung 1948 zusammen mit fünf weiteren Beiträgen als Essayband. Es handelte sich um die erste Buchveröffentlichung nach ihrer 1929 erschienenen Dissertation. In dieser Schrift entwickelte Arendt eine eigene Position innerhalb der Existenzphilosophie, verfolgte sie in späteren Werken aber nicht weiter. Als Uwe Johnson 1974 anfragte, ob der Text erneut herausgegeben werden dürfe, fand sie diesen zwar akzeptabel, wollte aber den Abschnitt über Heidegger herausnehmen, woran die Veröffentlichung scheiterte. Auch die englische Fassung ließ sie zu Lebzeiten nicht wieder auflegen. Arendt setzt sich in dieser kleinen Arbeit kritisch mit der Philosophie Martin Heideggers auseinander, dem sie eine Nähe zum modernen Nihilismus zuschreibt. Seine Lehre des Seins habe er niemals wirklich vollendet. Mit der Analyse des Daseins vom Tode her begründe Heidegger die Nichtigkeit des Seins. Der Mensch werde gottähnlich beschrieben, zwar nicht als „Welt-erschaffendes“, aber als „Welt-zerstörendes“ Wesen. Arendt wendet dagegen ein, dass „der Mensch Gott nicht ist und mit seinesgleichen zusammen in einer Welt lebt“, ein Gedanke, den sie später noch oft wiederholen wird. Heidegger umgehe die vorläufigen Kantschen Begriffe von Freiheit, Menschenwürde und Vernunft, reduziere den Menschen auf seine Funktionen in der Welt und spreche ihm Existenz allein durch das Philosophieren zu. Darüber hinaus kritisiert sie Heideggers „mythologisierende Unbegriffe“ wie „Volk“ und „Erde“, die er in Vorlesungen der 1930er Jahre seinen „isolierten Selbsten“ nachträglich als gemeinsame Grundlage untergeschoben habe. Es sei evident, dass „derartige Konzeptionen nur aus der Philosophie heraus, und in irgendeinen naturalistischen Aberglauben hineinführen“. Die Existenzphilosophie Karl Jaspers’ hingegen beschreibt sie ausschließlich positiv. Er vollziehe einen Bruch mit allen philosophischen Systemen, mit Weltanschauungen und „Lehren vom Ganzen“, setze sich mit „Grenzsituationen“ auseinander und betrachte die Existenz als eine Form der Freiheit. Der Mensch könne sich „in spielender Metaphysik“ an die Grenzen des Denkbaren herantasten und sie überschreiten. Im Gegensatz zu Heidegger sei für Jaspers das Philosophieren lediglich die Vorbereitung auf das „Tun“ durch die Kommunikation auf der Basis der allen gemeinsamen Vernunft. Jaspers wisse, dass das Denken der Transzendenz zum Scheitern verurteilt ist. Die Jaspersche Philosophie, unterstreicht die Autorin, liegt im Wesentlichen in den Wegen seines Philosophierens. Diese können aus den „Sackgassen eines positivistischen oder nihilistischen Fanatismus“ herausführen. Stellungnahmen zu Palästina und Israel Hannah Arendt schrieb Ende 1948 den Artikel Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten? (veröffentlicht in den USA im Januar 1950). Darin setzt sie sich mit der Geschichte Palästinas und der Gründung des Staates Israel auseinander. Frieden könnte ihr zufolge nur durch Verständigung und faire Vereinbarungen zwischen Arabern und Juden erreicht werden. Sie beschreibt die Einwanderungsgeschichte seit 1907 und betont, dass sich bisher beide Gruppen feindselig gegenüberstanden und sich – auch wegen der Besetzung durch die Türken und später die Briten – niemals als gleichberechtigte Partner oder auch nur als Menschen angesehen haben. Während sie die „Heimatlosigkeit“ und „Weltlosigkeit“ als größte Probleme der Juden beschreibt, kritisiert sie die meisten zionistischen Führer, da sie die Probleme der arabischen Bevölkerung übersehen hätten. Ihre Vision ist ein binationales Palästina auf der Grundlage nicht-nationalistischer Politik, eine Föderation, die möglicherweise andere Staaten des Nahen Ostens umfassen könnte. Die Einwanderung und die Vertreibung eines Teils der arabischstämmigen Bevölkerung stellen eine moralische Hypothek dar, während die auf Gleichheit und Gerechtigkeit beruhenden Kollektivsiedlungen (Kibbuzim) und die Hebräische Universität sowie die Industrialisierung auf der Habenseite stehen. Israel konnte sich Arendt zufolge von den Gesetzen des Kapitalismus befreien, da es durch Spendengelder aus den USA finanziert werde und daher nicht dem Gesetz der Profitmaximierung unterliege. Ihre Sorge nach dem gewonnenen Palästinakrieg, der Unglück über Juden und Araber gebracht und alle jüdisch-arabischen Wirtschaftssektoren zerstört habe, besteht darin, dass Israel eine aggressive expansionistische Politik betreiben könne. Doch hofft sie auf den universalistischen Geist im Judentum und auf verständigungsbereite Kräfte in den arabischen Staaten. Es gab in dieser Zeit nur sehr wenige Persönlichkeiten auf arabischer und jüdischer Seite, die für ein binationales Palästina eintraten. Arendt bezieht sich auf den ersten Präsidenten der Hebräischen Universität Judah Leon Magnes sowie den libanesischen Politiker und Philosophieprofessor Charles Malik und streicht deren Einmaligkeit heraus. Beide setzten sich für eine jüdisch-arabische Übereinkunft zur Lösung des Palästinaproblems ein, Magnes 1946 und Malik vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Mai 1948. Als im Dezember 1948 der ehemalige Führer der zionistischen Terror-Organisation Irgun Menachem Begin New York besuchte, um Spenden für seine neugegründete Cherut-Partei zu sammeln, verfassten 26 Intellektuelle, darunter viele mit jüdischem Hintergrund, einen scharf formulierten Leserbrief, der am 4. Dezember 1948 in der New York Times veröffentlicht wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Arendt u. a. Isidore Abramowitz, Albert Einstein, Sidney Hook und Stefan Wolpe. Sie warnten eindringlich vor dieser Partei und charakterisierten sie als faschistisch und terroristisch. Als schockierendes Beispiel für Charakter und Vorgehensweise der Organisation erwähnen sie auch das von Begin kommandierte Massaker von Deir Yasin. An ihre Freundin, die US-amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy, schrieb Arendt mehr als zwanzig Jahre später, Israel sei ein eindrucksvolles Beispiel für die Gleichheit der Menschen. Für noch wichtiger hielt sie die „Überlebensleidenschaft“ des jüdischen Volkes seit der Antike. Sie befürchtete, dass sich der Holocaust wiederholen könne. Als Rückzugsort und wegen des unausrottbaren Antisemitismus sei Israel notwendig. Arendt betont, dass jede wirkliche Katastrophe in Israel sie mehr berühre als fast alles andere. Formen totaler Herrschaft Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg begann Arendt mit der Arbeit an einer umfassenden Studie über den Nationalsozialismus, 1948 und 1949 ausgeweitet auf den Stalinismus. Das Buch enthält die drei Teile Antisemitismus, Imperialismus und Totale Herrschaft. Während Arendt für die beiden ersten Teile in hohem Maße auf vorhandenes historisches und literarisches Quellenmaterial zurückgreifen konnte, musste sie sich den Hintergrund für den dritten Teil neu erarbeiten. 1951 erschien die US-amerikanische Ausgabe unter dem Titel: The Origins of Totalitarianism. Die von ihr selbst bearbeitete, teilweise vom Original abweichende deutsche Fassung (1955) nannte sie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Ihr Werk bearbeitete und erweiterte sie bis zur Edition der dritten Auflage 1966. Die Arbeit stellt keine reine Geschichtsschreibung dar. Vielmehr kritisiert sie das Kausalitätsdenken der meisten Historiker und bemerkt: Alle Versuche von Geschichtswissenschaftlern, den Antisemitismus zu erklären, seien bisher unzulänglich gewesen. Sie stellt die neuartige und viel diskutierte These auf, dass sich totalitäre Bewegungen jeder Weltanschauung und Ideologie bemächtigen und sie durch Terror in eine neue Staatsform überführen können. Geschichtlich vollständig realisieren konnten dies ihrer Ansicht nach bis 1966 lediglich der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Im Gegensatz zu anderen Autoren sieht Arendt ausschließlich diese beiden Systeme als totalitär an, nicht aber Einparteiendiktaturen wie den italienischen Faschismus, den Franquismus oder die Deutsche Demokratische Republik. Sie stellt die neue Qualität der totalen Herrschaft gegenüber gewöhnlichen Diktaturen heraus. Erstere beziehe sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, nicht nur auf die politischen. Im Zentrum stehe eine Massenbewegung. Im Nationalsozialismus habe eine völlige Verkehrung der Rechtsordnung geherrscht. Verbrechen, Massenmorde seien die Regel gewesen. Neben dem Terror hält sie das Streben nach Weltherrschaft für ein wichtiges Kennzeichen der totalen Herrschaft. Sie arbeitet heraus, wie vor dem Hintergrund der Massengesellschaft und des Zerfalls der Nationalstaaten durch den Imperialismus traditionelle Politikformen, insbesondere die Parteien, den totalitären Bewegungen mit ihren neuen Techniken der Massenpropaganda unterlegen waren. Neben historischen benutzt Arendt auch literarische Quellen wie beispielsweise Marcel Proust und setzt sich mit zahlreichen Denkern seit der Antike auseinander, mit Kant ebenso wie mit Montesquieu. Sie verwendet ihre Methode „des buchstäblichen Ernstnehmens ideologischer Meinungen“. Die Äußerungen totalitärer Ideologen seien von vielen Beobachtern unterschätzt worden. Die Beschreibungen der totalen Herrschaft dienten vor allem Politikwissenschaftlern dazu, Theorien des Totalitarismus zu entwickeln, die z. T. weit über die strenge Definition Arendts hinausgehen. US-Staatsbürgerschaft, berufliche Position und politische Stellungnahmen 1951 wurde Hannah Arendt Staatsbürgerin der USA. Unter dem Status der Staatenlosigkeit hatte sie sehr gelitten, weil sie ihn als einen Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft ansah. Die Staatsbürgerschaft bedeutete für sie „das Recht, Rechte zu haben“. Daher forderte sie eine Ergänzung zur amerikanischen Verfassung, dass niemand seine Staatsangehörigkeit verlieren dürfe, wenn er dadurch staatenlos wird. In Deutschland hatte sich Hannah Arendt Anfang 1933 auf dem Weg zu einer normalen akademischen Karriere mit einer ordentlichen Professur befunden. Der Nationalsozialismus machte diese Pläne zunichte. Arendt betont in ihren Briefen, bis wenige Jahre vor ihrem Tod, sie verfüge weder über Besitz noch über eine Stellung, was nach ihrer Auffassung zur Unabhängigkeit ihres Denkens beitrug. Immer wieder zeigte sie persönlichen Mut, z. B. durch ihre praktischen Tätigkeiten für jüdische Organisationen während der Zeit des Nationalsozialismus. Ihre öffentlichen und persönlichen Stellungnahmen zu politischen Ereignissen waren häufig unter Gegnern, aber auch Freunden umstritten; ihre Zivilcourage wurde oft als Unnachgiebigkeit wahrgenommen und bekämpft. In einer auf 1948 zu datierenden kurzen Aufzeichnung Memo on research benennt Arendt die wichtigsten zeitgenössischen politischen Themen. Sie unterscheidet zentrale politische Probleme der Zeit: „Totalitarismus, die Rassenfrage, der Verfall des europäischen nationalstaatlichen Systems, die Emanzipation der Kolonialvölker, die Liquidierung des Britischen Imperialismus“ und rein jüdische Probleme: „Antisemitismus, die Palästina-Angelegenheit, Fluchtbewegungen, Heimatlosigkeit, etc.“ Etwas früher, 1947, schrieb sie an Jaspers: Im Alter von 47 Jahren bekam sie 1953 endlich eine befristete Professur am Brooklyn College (New York), auch auf Grund des Erfolgs, den sie mit ihrem Totalitarismus-Buch in den USA erzielt hatte. In New York wirkte sie 1955 neben Martin Buber u. a. bei der Gründung des Leo Baeck Institute mit, einer Dokumentations- und Forschungsstätte für die Geschichte der deutschsprachigen Juden. Die Bestände sind in elektronischer Form im Jüdischen Museum Berlin einsehbar. In den 1950er Jahren plante Arendt im Anschluss an die Analyse des Totalitarismus eine Arbeit über den Marxismus. Aus den Vorarbeiten entstanden einige Artikel, Essays und Vorlesungen. 1953 veröffentlichte sie im Aufbau den Text: Gestern waren wir noch Kommunisten … Sie unterscheidet darin zwischen „ehemaligen Kommunisten“ und „Exkommunisten“. Erstere seien entweder als Künstler Aushängeschilder gewesen oder hätten schon früh die Moskauer Prozesse, den Hitler-Stalin-Pakt oder den Mangel an innerparteilicher Demokratie durchschaut und sich danach vielfach ins Privatleben zurückgezogen. Letztere indes hätten ihre Bekenntnisse gegen den Kommunismus zum Sprungbrett einer neuen Karriere als Experten des Antikommunismus und des Kalten Krieges gemacht. Große Sorge bereitete ihr in dieser Zeit die Verfolgung ehemaliger Kommunisten, Intellektueller und Künstler durch Joseph McCarthy und seine Anhänger in den USA, während sie den Volksaufstand in Ungarn 1956 als Beispiel für den Versuch einer friedlichen Revolution mit Ansätzen zu einem Rätesystem bewertete. 1960 erschienen Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus (engl.: als Teil der 2. Auflage von The Origins of Totalitarianism) und 1961 Between Past and Future (sechs Essays über das politische Denken). Schon Mitte der 1950er Jahre hatte Arendt einen Antrag auf Wiedergutmachung des ihr von den Nationalsozialisten zugefügten Unrechts gestellt, der mehrmals abgelehnt wurde. Karl Jaspers schrieb ein Gutachten dazu, dass es sich bei ihrer Schrift über Rahel Varnhagen in der Fassung von 1933 um eine abgeschlossene erfolgreiche Habilitationsarbeit gehandelt habe, die nur wegen der Machtübernahme nicht vorgelegt werden konnte. Sie erhielt zunächst 40.000 DM zugesprochen. Im Jahr 1966 legte sie Verfassungsbeschwerde gegen eine Neufassung des Bundesentschädigungsgesetzes ein. Im Jahr 1971 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass dieses Gesetz wegen Ungleichbehandlung verfassungswidrig ist. Ihr Fall wurde zum Präzedenzfall, so dass auch andere Wissenschaftler, die – trotz Erfüllung der Voraussetzungen – ab 1933 keine Professur an deutschen Universitäten erreichen konnten, in der Folgezeit von ihrer jahrelangen Prozessführung profitierten. Zur Adenauer-Ära in Deutschland äußerte sie sich mehrmals kritisch. Nachdem zunächst NS-Täter kaum bestraft worden seien, wurden nach dem Eichmann-Prozess langsam die schlimmsten vor Gericht gestellt. Im Laufe der Jahre setzte sie sich wiederholt mit der „Geschichte der Afroamerikaner“, der Diskriminierung der Schwarzen in den USA, auseinander; deren Lösung hielt sie für unabdingbar für die Existenz der Republik. Auch zu diesen Äußerungen gab es heftige Kontroversen, da sie zwar die grundsätzliche rechtliche und politische Gleichstellung forderte, aber Quoten oder andere Bevorzugungen vehement ablehnte. Hannah Arendt reagierte mit einem kurzen Brief vom 29. Juli 1965 an Ralph Ellison auf seine Kritik an ihrem Essay Reflections on Little Rock. Der Brief gilt allgemein als Revision ihres Essays. Der oberste Gerichtshof urteilte in Brown v. Board of Education, dass die Trennung von schwarzen und weißen Schülergruppen gegen den 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten verstieß. Im Süden der USA stieß das Urteil auf heftigen Widerstand. In Little Rock wurde der obersten Schulbehörde angeordnet, dass neun Schüler und Schülerinnen zur Schule durften. Der Gouverneur widersetzte sich. Die „Nationalgarde des Bundesstaates Arkansas gemeinsam mit einem »Mob von kreischenden und hysterischen Demonstranten«“ versuchte den Schulbesuch zu verhindern. Liberale in den USA verurteilten dies. Präsident Dwight D. Eisenhower griff ein und setzte den Schulbesuch durch. Arendt beurteilte dies anders als ihre liberalen Freunde. „Sie beunruhigte offensichtlich, dass Eltern ihre Kinder einem weißen Mob aussetzten, und in Anlehnung ihrer normativen Unterscheidung zwischen politischem, sozialem und privatem Bereich aus Vita Activa kritisierte sie die Politik der schwarzen Vertretungsorgane.“ Sie verteidigte die Privatsphäre der Eltern. „Dass auch »Kinder«, in diesem Fall 16-Jährige, politische Subjekte sein können, schien ihr ausgeschlossen.“ Kinder sollten außerdem „nicht die Kämpfe der Erwachsenen ausfechten“. Die Politik kann nach Arendt nur „die Gleichheit aller vor dem Gesetz garantieren“. Marie Luise Knott merkt an, dass Arendt als Kind Rassismus ausgesetzt war und dass Little Rock „offensichtlich Erinnerungen wach gerufen“ hatte. Arendt habe aber übersehen, dass der „Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA“ gleichgesetzt werden konnte. Auch hatten die Juden in Europa keine Sklavengeschichte. Die Kritik von Ellison „war grundsätzlicherer Natur als die ihrer früheren Kritiker“. Er „konstatierte schlicht, sie habe keine Ahnung von der Lage der Schwarzen und keinerlei Ahnung, welche Qualen sich tagtäglich im Kopf einer jeden schwarzen Mutter abspielten“. Nach Knott muss Arendt „bei der Lektüre des Buches »Who Speaks for the Negro« verstanden haben […] in welchen Ausmaß schwarzes Heranwachsen ein tagtäglicher Überlebenskampf war“. Knott schreibt, dass Arendt am Beispiel von Bernard Lazare die „Figur des »bewussten Parias«“ entworfen hatte. Lazare, ähnlich Ellisons Romanfigur, betraten die Bühne der Politik, weil „jeder Jude bzw. jeder Schwarze, der nicht zum Rebell wurde, mitverantwortlich war für die fortgesetzten gesellschaftlichen Lügen, für die eigene Unterdrückung und für die »Schändung der Menschheit« in ihm … Die Schwarzen hatten wie die Juden einen Doppelkampf zu führen – einerseits gegen die fortgesetzte Gewalt der modernen Sklavenhalter und andererseits gegen die Fortsetzung der Sklavenmentalität in den eigenen Köpfen.“ Vielfach verurteilte sie den Vietnamkrieg, z. B. anhand einer Analyse der Pentagon-Papiere, die sie unter dem Titel Lying in Politics (dt. Die Lüge in der Politik) 1971 publizierte. Im Juni 1968 heißt es in einem Brief an Karl Jaspers: „Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848.“ Der weltweiten Studentenbewegung stand sie zwar positiv gegenüber, kritisierte aber von ihr wahrgenommene Auswüchse heftig. In ihrem 1970, gleichzeitig auf Englisch und Deutsch, veröffentlichten Werk Macht und Gewalt legte sie eine ausführliche differenzierte Analyse der Studentenrebellion vor und grenzte zugleich die Begriffe Macht und Gewalt voneinander ab. Unter Macht versteht sie eine bedeutsame Einflussnahme der Bürger auf politische Angelegenheiten im Rahmen von Verfassung und Gesetzen. Keine Herrschaftsform komme ohne Machtbasis aus. Selbst die sehr weitgehend auf Gewalt beruhende totale Herrschaft bedürfe der Unterstützung von vielen. Adelbert Reif gegenüber betonte sie 1970 in einem Interview, sie schätze an den Studenten die „Lust am Handeln“ und „die Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können“. In den USA sei zum ersten Mal seit langer Zeit eine spontane politische Bewegung entstanden, die nicht nur Propaganda betreibe, sondern nahezu ausschließlich aus moralischen Motiven handele. Andererseits lehnte sie die weitere Entwicklung dieser Bewegung zu „Fanatismus“, „Ideologien“ und „Zerstörungswut“ ab. „Die guten Sachen in der Geschichte sind gewöhnlich von sehr kurzer Dauer.“ So würden wir heute noch (1970) von dem kurzen klassischen Zeitalter in Griechenland zehren. Eichmann in Jerusalem Prozessberichterstattung und nachfolgende Kontroversen 1961 nahm Arendt von April bis Juni als Reporterin der Zeitschrift The New Yorker am Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem teil. Daraus gingen zunächst Reportagen hervor und schließlich eines ihrer bekanntesten und damals bis heute sehr umstrittenen Bücher Eichmann in Jerusalem mit dem Untertitel Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Es wurde 1963 zunächst in den USA und kurz darauf in der Bundesrepublik veröffentlicht. Der israelische Geheimdienst hatte Adolf Eichmann 1960 in Argentinien gefasst und nach Jerusalem entführt. Ihre vieldiskutierte Wendung im Hinblick auf Eichmann – „Banalität des Bösen“ – wurde zu einem geflügelten Wort. Um das Werk gab es heftige Kontroversen. Insbesondere der Ausdruck „Banalität“ in Bezug auf einen Massenmörder wurde von verschiedenen Seiten, darunter auch von Hans Jonas, angegriffen. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe 1964 erläutert Arendt ihre Wortwahl: „In dem Bericht kommt die mögliche Banalität des Bösen nur auf der Ebene des Tatsächlichen zur Sprache, als ein Phänomen, das zu übersehen unmöglich war. Eichmann war nicht […] Macbeth […]. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive.“ Niemals hätte er seinen Vorgesetzten umgebracht. Er sei nicht dumm gewesen, sondern „schier gedankenlos“. Dies habe ihn prädestiniert, zu einem der größten Verbrecher seiner Zeit zu werden. Dies sei „banal“, vielleicht sogar „komisch“. Man könne ihm beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen. Trotzdem sei er nicht alltäglich. „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.“ Häufig wurde ihr vorgehalten, es sei völlig unangemessen, überheblich und für die Opfer verletzend, wenn sie Eichmann „komisch“ oder einen „Hanswurst“ nenne, der ohne Motiv lediglich im Sinne seines persönlichen Aufstiegs gehandelt und im Prozess leere Phrasen von sich gegeben habe. Ihre teilweise ironische Ausdrucksweise stieß großenteils auf Ablehnung. Arendt selbst sprach von ihrer Sprach- und Heimatlosigkeit angesichts des beispiellosen Massenmordes. All dies könne sie nur mit einem Lachen bewältigen. 1969 schrieb sie in einem Brief an Mary McCarthy: „Die Wendung ‚Banalität des Bösen‘ als solche steht im Gegensatz zu der vom ‚radikal Bösen‘ [Kant], die ich [A.] im Totalitarismus-Buch benutze.“ Die Art des Verbrechens war Arendt zufolge nicht einfach kategorisierbar. Was in Auschwitz geschah, sei beispiellos gewesen. Den vom „englischen Imperialismus“ herkommenden Ausdruck „Verwaltungsmassenmord“ hielt sie für der Sache angemessener als den Begriff „Völkermord“. Auch wandte sie sich dagegen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sprechen, und prägte den Terminus Verbrechen gegen die Menschheit. Dazu heißt es in ihrem Buch: In der Einleitung der deutschen Ausgabe gibt Arendt an, dass sie für ihren Bericht „durchgängig »Die Endlösung« von Reitlinger herangezogen“, sich aber vor allem „auf das Werk von Raul Hilberg, »The Destruction of the European Jews«, die ausführlichste und auch fundierteste quellenmäßige Darstellung der Judenpolitik des Dritten Reiches“, verlassen hat. Die Arbeit von Raul Hilberg The Destruction of the European Jews war erst 1961 im Druck erschienen. Als Gutachterin hatte sie Hilbergs Dissertation 1959 noch als unbedeutende Fallstudie beurteilt. Nach Avner Werner Less, der Eichmann 275 Stunden lang verhört hatte, haben viele Prozessbeobachter und insbesondere Hannah Arendt völlig verkannt, dass Eichmanns Aussagen ein Lügengewebe gewesen seien, um seine eigene bedeutende Rolle in der Judenvernichtung systematisch zu verschleiern. Er sei kein kleiner, armer und unbedeutender Beamter, der nur seine Pflicht tat und blind an Kadavergehorsam glaubte. Eichmanns Verteidigungsstrategie habe darin bestanden, die Richter von der Unwichtigkeit und Geringfügigkeit seiner eigenen Person zu überzeugen. Dies hätten viele Beobachter nicht durchschaut, sondern seine gespielte Rolle naiv für wahr erachtet. Jacob Robinson warf Arendt bereits 1965 vor, mit ihrem Bild von Eichmann als ideologiefreiem, beflissenem Bürokraten dessen antisemitische Weltanschauung zu ignorieren. Insbesondere die sogenannten Sassen-Protokolle, die zum Zeitpunkt des Prozesses in Teilen bekannt waren und auf die sich auch die Anklage im Eichmann-Prozess stützte, seien ein Beweis für Eichmanns fanatischen Antisemitismus. Diese These wird von der aktuellen Arbeit zu Eichmann von Bettina Stangneth gestützt. Die weitgehende Ablehnung, auf die Arendt mit ihrem Bericht stieß, veranlasste Jaspers zu umfangreichen Aufzeichnungen mit vornehmlich positiver Rezeption von Arendts Arbeiten, die im Marbacher Literaturarchiv unter der Bezeichnung Das Buch Hannah aufbewahrt werden. Seine Absicht, eine Verteidigungsschrift zu veröffentlichen, hat er nicht verwirklicht. Debatte über die Rolle der Judenräte Neben ihren Überlegungen zur Banalität des Bösen führte auch ihre Darstellung der Rolle der Judenräte im Prozess der Vernichtung zu kontroversen Debatten. Laut Arendt habe Eichmann „Kooperation“ von den Juden verlangt und sie in „wahrhaft erstaunlichem Maße“ erhalten. Auf dem Weg in den Tod hätten die Juden nur wenige Deutsche gesehen. Die Mitglieder der Judenräte hätten von den Nationalsozialisten eine „enorme Macht über Leben und Tod“ bekommen, „so lange, bis sie selbst auch deportiert wurden“. So seien beispielsweise die Transportlisten nach Theresienstadt vom Judenrat zusammengestellt worden. Andererseits sah es Arendt als eine „Wohltat“ an, vor Gericht den „ehemaligen jüdischen Widerstandskämpfern“ zu begegnen. „Ihr Auftreten verjagte das Gespenst einer allseitigen Gefügigkeit.“ In den „Todeslagern“ seien „die direkten Handreichungen zur Vernichtung der Opfer im Allgemeinen von jüdischen Kommandos verrichtet“ worden. Leo Baeck, einer der wichtigsten Vertreter der Juden in Deutschland, habe geäußert, es sei besser für die Juden gewesen, über ihr Schicksal nicht Bescheid zu wissen, da diese Erwartung des Todes nur noch härter gewesen wäre. Arendts Ansichten stießen bei vielen jüdischen Organisationen auf vehemente Ablehnung. Demnach hatte sie die Judenräte verkürzt und nicht abgewogen beurteilt. In einer Reaktion auf die Kritik an ihr schrieb Arendt Mary McCarthy am 16. September 1963, sie habe gehört, dass die Anti-Defamation League alle New Yorker Rabbiner per Rundbrief aufgefordert habe, am Neujahrstag (Rosch ha-Schana, 4. Oktober 1963) gegen sie zu predigen. Bei der erfolgreichen politischen Kampagne gehe es darum, ein „Image“ zu schaffen, um das wirkliche Buch zuzudecken. Sie fühle sich machtlos gegenüber der großen Zahl der Kritiker mit Geld, Personal und Verbindungen. Im Radiointerview mit Joachim Fest am 9. November 1964 bekundete Arendt, dass die Judenräte („natürlich“) Opfer seien. Sie seien deshalb nicht hundertprozentig entschuldigt, „aber selbstverständlich stehen sie auf der anderen Seite, das ist ja offenbar.“ Raul Hilberg distanzierte sich in seinen Unerbetenen Erinnerungen sowohl von Arendts Begriff der Banalität des Bösen als auch von ihrer Analyse der Judenräte. Hilberg zufolge sind diese „nicht nur Werkzeuge der Deutschen, sondern auch ein Instrument der jüdischen Gemeinde“ gewesen. Gershom Scholem, der mit Arendt seit 1939 in regelmäßigem Briefwechsel stand, äußerte im Juni 1963 eine scharfe Kritik an dem Buch, die – gemeinsam mit Arendts Replik – wenig später mit ihrer Zustimmung veröffentlicht wurde. Hinsichtlich der Judenräte vermisste er ein abgewogenes Urteil. „In den Lagern wurden Menschen entwürdigt und, wie Sie selber sagen, dazu gebracht, an ihrem eigenen Untergang mitzuarbeiten, bei der Hinrichtung ihrer Mitgefangenen zu assistieren und dergleichen. Und deswegen soll die Grenze zwischen Opfern und Verfolgern verwischt sein? Welche Perversität! Und wir sollen da kommen und sagen, die Juden selber hätten ihren ‚Anteil‘ an dem Judenmord.“ Persönliche Verantwortung gegen Kollektivschuld 1964 und 1965 hielt Arendt in der Bundesrepublik Deutschland mehrmals einen Vortrag unter dem Titel: Persönliche Verantwortung in der Diktatur. Sie betonte erneut, dass ihre Veröffentlichung über den Eichmann-Prozess lediglich ein „Tatsachenbericht“ gewesen sei. Ihre Kritiker hätten dagegen Probleme der „Moralphilosophie“ diskutiert. Mit Entsetzen habe sie u. a. vernommen: „Jetzt wissen wir, dass in jedem von uns ein Eichmann steckt.“ Der Mensch ist jedoch nach Arendt ein frei handelndes, für seine Taten verantwortliches Wesen. Schuld haben demnach bestimmte Personen auf sich geladen. Die Idee einer Kollektivschuld verwarf sie und bezeichnete es als moralische Verwirrung, dass im Nachkriegsdeutschland die Unschuldigen sich schuldig fühlten, während die meisten Verbrecher keine Reue zeigten. Sie stellte heraus, der Prozess gegen Eichmann sei korrekt abgelaufen. Seine Einlassung, er sei nur ein Rädchen im großen bürokratischen Apparat gewesen, bezeichnete sie als irrelevant für das juristische Urteilen. Er wurde, so Arendt, mit Recht hingerichtet. Im Nationalsozialismus waren alle Schichten der offiziellen Gesellschaft an den Verbrechen beteiligt. Als Beispiel nennt sie eine Reihe antijüdischer Maßnahmen, die dem Massenmord vorangegangen waren und die in jedem Einzelfall gebilligt worden waren, „bis eine Stufe erreicht war, daß Schlimmeres überhaupt nicht mehr passieren konnte“. Die Taten wurden nicht von „Gangstern, Monstern oder rasenden Sadisten begangen, sondern von den angesehensten Mitgliedern der ehrenwerten Gesellschaft“. Folglich sollten diejenigen, die mitmachten und Befehlen gehorchten, nie gefragt werden: „Warum hast du gehorcht?“, sondern: „Warum hast du Unterstützung geleistet?“ Hannah Arendt wies selbst darauf hin, dass sie diese hohen Anforderungen eventuell nicht erfüllt hätte: „Wer hat je behauptet, dass ich, indem ich ein Unrecht beurteile, unterstelle, selbst unfähig zu sein, es zu begehen?“ Späte hebräische Ausgabe Als im Sommer 2000 in Tel Aviv eine hebräische Ausgabe von Eichmann in Jerusalem als erstes Werk Arendts veröffentlicht wurde, flammte die Diskussion noch einmal auf. Es ging um ihre Kritik an der Prozessführung. Ihr wurde in diesem Zusammenhang grundsätzlicher Antizionismus vorgeworfen. Außerdem stieß, wie schon bei Erscheinen des Buches, ihre Auffassung über die Rolle der Judenräte und der Begriff der „Banalität des Bösen“ auf Ablehnung. „Wahrheit und Politik“ Auf Grund der zahlreichen negativen Reaktionen auf die Veröffentlichung ihrer Prozessberichte und das daraus entstandene Buch reflektierte Hannah Arendt 1964 in ihrem Essay Wahrheit und Politik, ob es stets richtig sei, die Wahrheit zu sagen, und urteilte über die vielen „Lügen“ hinsichtlich der Tatsachen, die sie berichtet habe. Dieser Text zeigt, wie sie in der US-amerikanischen Fassung von 1967 ausdrücklich anmerkt, dass sie inhaltlich an ihren Ausführungen festhielt und die Methoden ihrer Kontrahenten auch aus der Retrospektive ablehnte. Hauptsächlich handelt der Aufsatz jedoch vom Verhältnis zwischen Philosophie und Politik, von der Beziehung zwischen „Vernunftwahrheit“ und „Tatsachenwahrheit“. Lehre an Universitäten und Auszeichnungen Im Frühjahr 1959 erhielt Hannah Arendt für ein Semester eine Gastprofessur an der renommierten Princeton University. Sie war die erste Frau, die dort lehrte. Von 1963 bis 1967 war sie Professorin an der University of Chicago und von 1967 bis 1975 an der Graduate Faculty der New School for Social Research in New York. Dort befindet sich ein großer Teil ihres Nachlasses. In den USA wurde sie mit zahlreichen Ehrendoktoraten ausgezeichnet. 1962 wurde sie in die American Academy of Arts and Sciences gewählt, 1964 in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen. Auch im westlichen Nachkriegs-Deutschland erhielt sie bedeutende Auszeichnungen: so 1959 den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg und 1967 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, deren Mitglied sie bereits seit 1958 war. 1969 ehrte die Emerson-Thoreau-Medaille der American Academy ihr Schaffen, ihre Dankesrede ist überliefert. Das Bryn Mawr College in Pennsylvania zeichnete sie 1971 mit dem M. Carey Thomas Prize aus. 1975 wurde ihr der Sonning-Preis der dänischen Regierung für Beiträge zur europäischen Kultur verliehen. Entfaltung ihres Denkens in Reden und Essays Anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises äußerte sich Arendt 1959 in ihrer Rede über Lessing Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten zu ihrer „Gesinnung“. Im Sinne Lessings sei Kritik stets das Begreifen und Beurteilen im Interesse der Welt, woraus niemals eine Weltanschauung werden könne, „die sich auf eine mögliche Perspektive festgelegt hat“. Nicht das „Misstrauen“ gegen Aufklärung oder Humanitätsglauben des 18. Jahrhunderts erschwere das Lernen von Lessing, sondern das 19. Jahrhundert stehe mit seiner „Geschichtsbesessenheit“ und „Ideologieverschworenheit“ zwischen uns und Lessing. Ziel sei das freie Denken, mit Intelligenz, Tiefsinn und Mut – „ohne das Gebäude der Tradition“. Eine absolute Wahrheit existiere nicht, da sie sich im Austausch mit anderen sofort in eine „Meinung unter Meinungen“ verwandle und Teil des unendlichen Gesprächs der Menschen sei, in einem Raum, wo es viele Stimmen gibt. Jede einseitige Wahrheit, die auf nur einer Meinung beruht, sei „unmenschlich“. Kurz vor ihrem Tod betonte sie in ihrer Rede zur Verleihung des Sonning-Preises, wie sehr sie die USA als Rechtsstaat schätze. Es handele sich dabei um die Herrschaft der Gesetze (Verfassung der Vereinigten Staaten) und nicht um diejenige der Menschen. Als US-amerikanische Staatsbürgerin halte sie dennoch an der deutschen Sprache fest. Sie unterstrich, wie wichtig die Rolle Dänemarks im Zweiten Weltkrieg gewesen sei, als es gelang, durch politischen Druck (auch durch den König) und Druck der öffentlichen Meinung die Juden, die sich in Dänemark aufhielten, vor der Deportation durch die Nationalsozialisten zu bewahren. „Nirgendwo sonst war das passiert.“ Politisch sprach sich Arendt auf dem Hintergrund des Ungarn-Aufstands wiederholt für einen Rätegedanken auf der Grundlage der Freiheit des Einzelnen aus, ein staatliches Ideal, wie es auch ihr Ehemann Heinrich Blücher, der 1919 selbst als Spartakist an den Kämpfen während der Novemberrevolution und an der Bildung so genannter Arbeiter- und Soldatenräte beteiligt war, vertreten hat. Sie ging davon aus, dass jeder Mensch zum „Denken“ und damit zur Politik befähigt ist und der politische Raum nicht für Spezialisten reserviert werden darf. Arendt verfasste, vielfach als Auftragsarbeiten von Zeitschriften, Essays über Zeitgenossen, die durch ihr Leben und ihr politisches oder literarisches Werk Außergewöhnliches geleistet hatten. Sie legte Porträts unterschiedlicher Persönlichkeiten vor, wie das kurz nach Kriegsende herausgekommene über Franz Kafka, wo sie ihn als wahrheitssuchend, auf Menschenrechten in einer kalten, bürokratischen und unwirklich scheinenden Welt bestehend, charakterisierte. Sie konstatierte eine Verbindung zwischen Kafkas Roman Der Prozess und seinen ausweglosen Erfahrungen mit der österreichischen Bürokratie, als er osteuropäischen Juden zu einer Aufenthaltserlaubnis verhelfen wollte. In den zwanziger Jahren sei aber das Wesen der Bürokratie, die sie zuvor als „bösartige bürokratische Maschine“ bezeichnet, in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt gewesen, so dass das Entsetzen und der Schrecken unerklärlich schienen. Ein weiterer Essay handelte von Papst Johannes XXIII., den sie unter dem Titel Angelo Giuseppe Roncalli. Der christliche Papst beschrieb. Weitere Darstellungen galten unter anderen der dänischen Schriftstellerin Isak Dinesen (in Deutschland bekannt als Karen Blixen), ihren Freunden Hermann Broch, Walter Benjamin und W. H. Auden sowie Bertolt Brecht, dem Freund ihres Mannes, Robert Gilbert, und der französischen Vertreterin des „Nouveau Roman“, Nathalie Sarraute. Diese Essays erschienen in Anspielung auf das Brechtgedicht An die Nachgeborenen 1968 unter dem Titel Men in dark times. 1989 kam die durch weitere Texte ergänzte deutsche Fassung Menschen in finsteren Zeiten heraus. Darin findet sich auch ihr 1966 zuerst veröffentlichtes Porträt A heroine of Revolution (deutsch 1968: Rosa Luxemburg). Arendt würdigt die Revolutionärin als unorthodoxe, selbstständig denkende deutsch-jüdische Marxistin polnischer Herkunft. Niemals habe sie zu den „Gläubigen“ gehört, die „Politik als Religionsersatz“ auffassten. Vielmehr habe Luxemburg gewagt, öffentlich Lenin zu kritisieren, insbesondere seine Instrumentalisierung des Krieges für die Revolution, und von den Gefahren „deformierter Revolutionen“ gesprochen: „Was die Frage der Organisation anging, so glaubte sie nicht an einen Sieg, an dem die breite Masse keinen Anteil und kein Mitspracherecht hatte, ja, sie hielt sowenig davon, um jeden Preis die Macht in den Händen zu halten, daß »sie eine deformierte Revolution weit mehr als eine erfolglose fürchtete« – im Grunde der Hauptunterschied zwischen ihr und den Bolschewiken.“ Arendt schließt sich in der Bewertung Luxemburg an, indem sie fragt: Wegen ihrer Eigenwilligkeit sowie der Verachtung für Karrieristen und Statusgläubige stand Luxemburg, hebt die Publizistin hervor, oft am Rande der kommunistischen Bewegung. Als radikale Kriegsgegnerin, Kämpferin für politische Freiheit und eine uneingeschränkte Demokratie zog sie häufig Kritik auf sich. Ihre moralische Haltung beruhte auf dem Ehrenkodex einer kleinen jüdischen und mehrsprachigen intellektuellen Elite der Ostjuden, die sich selbst als Kosmopoliten betrachteten, tatsächlich aber nach Meinung Arendts „vielmehr europäisch“ waren, so dass „ihr Vaterland in Wahrheit Europa war“. Mit Bitterkeit vergleicht die Autorin die Rechtsauffassung der Weimarer Republik und der Bonner Republik von 1962. Zur Zeit der Ermordung Liebknechts und Luxemburgs habe die Regierungsgewalt „praktisch in den Händen der Freikorps“ gelegen. Dennoch wurden der Häscher und der Mörder Rosa Luxemburgs immerhin zu einer – wenn auch geringen – Gefängnisstrafe verurteilt. Hingegen habe die Bonner Regierung die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg als eine „Hinrichtung in Übereinstimmung mit den Kriegsgesetzen und somit um einen legalen Vorgang“ verstanden. Vergleich von US-amerikanischer und französischer Revolution und Verfassung In ihrem wie Vita activa auf Vorlesungen beruhenden 1963 erschienenen Buch: On Revolution (dt. Über die Revolution) vergleicht Arendt die Französische mit der Amerikanischen Revolution und stellt auch hier das Politische in den Mittelpunkt ihres Denkens. Demnach scheiterte die Französische Revolution am Terror Robespierres, der den Versuch gemacht habe, das soziale Elend zu überwinden und eine egalitäre Gesellschaft auf moralischer Grundlage zu schaffen. Die US-amerikanische Revolution konnte dagegen fast ausschließlich politische Ziele verfolgen, weil die soziale Frage nicht so brennend gewesen sei. So war es möglich, eine freie Republik zu bilden, in der der Bürger in öffentlich-politischen Angelegenheiten bei aller Pluralität mit anderen Bürgern gleichberechtigt war. Philosophischer Fortschrittsglaube dürfe nicht, wie bei der Französischen Revolution, zum Kriterium im politischen Raum werden. Gerade die Umsetzung der philosophischen Ideen habe zur Schreckensherrschaft geführt. In der US-amerikanischen Revolution seien indes die Grundsätze der Antike und daran anschließend diejenigen Montesquieus verwirklicht worden: das Prinzip der Gewaltenteilung oder „Machtteilung“ und das die Macht weiter begrenzende Prinzip des Föderalismus kleiner Republiken mit einer zentralen Gewalt. Die politische Gemeinschaft der Auswanderer habe einen „Bund“ geschlossen, der aus einem „Akt des Sichaneinanderbindens“ bestehe. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 hat laut Arendt diesem Grundsatz der Freiheit im Rahmen einer Verfassung der Vereinigten Staaten entsprochen, während die französische Verfassung von 1791 auf der Grundlage eines zentralistisch organisierten Nationalstaates entstand, der die Bürger nicht mit mehr, sondern mit weniger Macht ausstattete. Somit ist die Französische Revolution aus der absolutistischen Monarchie, die US-amerikanische jedoch aus einer „begrenzten Monarchie“ hervorgegangen. Daher sei in Frankreich nunmehr der „Wille der Nation die Quelle der Gesetze“, während in den Vereinigten Staaten im Anschluss an Montesquieu die Regierungsgewalt durch Gesetze beschränkt worden sei. Zu Fragen der Ethik Arendt postuliert, dass die Menschen von Natur aus weder gut noch böse sind. Allein das Individuum trägt ihrer Auffassung nach die Verantwortung für seine Taten. Daher müssen Verbrechen, aber auch politische „Lügen“ geahndet werden. In Staaten mit einer Verfassung, die das politische Leben regelt, sei es für den Einzelnen leichter, sich nach „moralischen Maßstäben“ zu verhalten, als in „finsteren Zeiten“. Umso schwerwiegender sei das Denken, Urteilen und Handeln gerade in nicht demokratischen Herrschaftsformen. Menschen, die sich politisch interaktiv auf der Grundlage persönlicher Wahrhaftigkeit bewähren, handeln nicht unbedingt moralisch in Bezug auf den privaten Bereich. Sie lehnt den Rückgriff auf Transzendenz oder Gewissen zur Begründung von Moral ab, da sie davon überzeugt ist, dass auf diesen Wegen erzeugte Werte manipulierbar sind. Für sie ist die totale Herrschaft ein System, in dem der bisherige Moralkodex umgedeutet wird. Diejenigen, die im Nationalsozialismus nicht kollaborierten, stellten sich die Frage, inwiefern sie mit sich selbst in Frieden leben könnten, wenn sie bestimmte Taten begangen hätten. Dabei verlief die Trennungslinie quer zu allen sozialen, kulturellen und bildungsmäßigen Unterschieden. Festzustellen war der totale Zusammenbruch der „ehrenwerten Gesellschaft“. Sie zitiert Kants Kategorischen Imperativ und stellt den Egoismus den Anforderungen des Gemeinwesens gegenüber. Dabei entwickelt sie die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Ethik, die immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Den Philosophen lastet Arendt an, sie hätten sich zu wenig mit der Pluralität der Menschen auseinandergesetzt. Darüber hinaus gebe es eine Art von Feindseligkeit der meisten Philosophen gegen alle Politik. Im Gegensatz zu anderen Denkern sieht Arendt auch nach der Zeit des Totalitarismus eine Hoffnung für die Welt durch jeden Menschen, der geboren wird und einen Neuanfang machen kann. Die Schlechtigkeit, d. h. das Böse betrachtet sie als ein Phänomen mangelnder Urteilskraft. Der Mensch ist – auch im Verbrechen – immer auf andere bezogen, entwickelt einen Willen, der mit dem Willen anderer konfrontiert wird, und muss seine Taten reflektieren, sonst wird er zum Getriebenen. In ihrer postum veröffentlichten, 1965 gehaltenen Vorlesung Über das Böse beschäftigt sich Arendt mit einer facettenreichen Definition des Bösen, die das Besondere des Nationalsozialismus mit seinen Vernichtungslagern wie auch das „universal Böse“ (Kant) umfasst. Veröffentlichungen, Auftritte in der Öffentlichkeit, Eintreten für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit Arendts Bücher und Aufsätze sind teilweise in unterschiedlichen Fassungen in englischer und in deutscher Sprache erschienen. Dies trifft z. B. auf Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951, 1955) und auf Macht und Gewalt (1970) zu. Einige ihrer Texte übersetzte sie selbst und verbesserte sie dabei, andere wurden von professionellen Übersetzern übertragen und danach von Arendt korrigiert. Ihre Freundin Mary McCarthy hat ein paar ihrer in englischer Sprache verfassten Werke gegengelesen. Teilweise gab es vor dem Erscheinen vorbereitende Artikel in Zeitschriften, vor allem in den USA, der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Auch in ihren Vorlesungen griff sie Themen ihrer späteren Veröffentlichungen auf, besprach Passagen vor dem Erscheinen mit ihren Studenten, ebenso in der Korrespondenz. Die Einträge in ihr sogenanntes Denktagebuch korrespondieren mit ihren Veröffentlichungen. Vorträge, Interviews, die Teilnahme an Tagungen und Diskussionsveranstaltungen, insbesondere in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, dienten der Verbreitung ihrer Gedanken. Die Ausdrucksweise Hannah Arendts ist rational und nüchtern. Häufig benutzt sie Begriffe mit anderer als der in der Umgangs- oder Wissenschaftssprache üblichen Bedeutung. Zuweilen kehrt sie gängige Verständnisse in ihr Gegenteil. Ihre Thesen erläutert sie klar und direkt. Zeit ihres Lebens scheute Hannah Arendt persönliche Auftritte in der Öffentlichkeit. Dies äußerte sie zuletzt in ihrer Rede zur Verleihung des Sonning-Preises in Dänemark kurz vor ihrem Tod. Heinrich Blücher schrieb sie dazu bereits 1955: „Kein Erfolg hilft mir über das Unglück ‚im öffentlichen Leben‘ zu stehen, hinweg […] Was ich nicht schaffen kann, ist das auf dem Präsentierteller stehen und auf ihm dauernd verbleiben.“ Sie machte einen „radikalen“ Unterschied zwischen „privat und öffentlich.“ Ihre Briefwechsel, in denen sie bisweilen harte Urteile über Zeitgenossen fällte, zählte sie wohl zum Privatleben. Während die Korrespondenz mit Jaspers, Blücher, McCarthy, Blumenfeld, Johnson und Scholem fast vollständig veröffentlicht werden konnte, fehlen zahlreiche Arendt-Briefe an Heidegger und Broch. Einige ihrer Briefe an andere Freunde sind bisher noch unveröffentlicht. Als Karl Jaspers 1958 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, hatte Arendt vor der Laudatio auf ihn zunächst wegen ihrer engen Freundschaft – vielleicht auch wegen ihrer Freundschaft mit Heidegger – Skrupel, die Festrede zu halten. Jaspers bat jedoch darum. Bei dieser Gelegenheit setzte sie sich mit den Vorstellungen von „Öffentlichkeit“, „Person“ und „Werk“ auseinander: Nach Cicero wird mit einer Laudatio die „Würde eines Menschen“ in der „Öffentlichkeit“ und nicht nur von Fachkollegen gefeiert. In der modernen Zeit sei indessen das „Vorurteil“ verbreitet, dass nur „das Werk“ in die Öffentlichkeit gehöre. Aus Arendts Sicht geht zwar der „Arbeitsprozess“ die Öffentlichkeit nichts an, aber in Werken, welche nicht rein akademisch sind, sondern Resultate „lebendigen Handelns und Sprechens“, erscheine eine „Personhaftigkeit“, die römische „humanitas“, die Kant und Jaspers „Humanität“ nennen. Diese Humanität könne nur erreichen, wer seine Person und das damit verbundene Werk „dem Wagnis der Öffentlichkeit“ aussetze. Jaspers habe sich über den akademischen Raum hinaus in der Öffentlichkeit nicht nur philosophisch, sondern auch politisch geäußert. Als Einzelperson habe er den freien Austausch mit anderen gesucht. Nur so sei es möglich, „vernünftig“ zu sein. Der Preisträger habe damit zur „Existenzerhellung“ auch in Zeiten der Gewaltherrschaft beigetragen, nicht als Vertreter Deutschlands, sondern der Vernunft. Arendt vertritt die Vorstellung einer geistig-freiheitlichen Person, wenn sie abschließend sagt: „Es ist das Reich der «humanitas», zu dem ein jeder kommen kann aus dem ihm eigenen Ursprung. Diejenigen, die in es eintreten, erkennen sich.“ Bei der Gedenkfeier der Universität Basel zum Tode von Karl Jaspers im März 1969 kam sie auf dieses Thema zurück: Jaspers habe in seinem Leben exemplarisch die „Dreieinigkeit“ von Vernunft, Freiheit und Kommunikation dargestellt. Hannah Arendt verstand sich nie als Marxistin. Sie betonte vielmehr ihr Herkommen aus der Philosophie. Dennoch bescheinigte sie Marx, anders als den anderen „Ideologen“ des 19. Jahrhunderts, „Mut“ und „Gerechtigkeitssinn“ und schätzte seine Analysen und ihn selbst als „Rebellen und Revolutionär“. Die „Fiktion“ des Kommunismus lehnte sie aber ab, weil ihr jeder Bezug zu utopischem Denken fehle. Die Begriffe „links“ und „rechts“ als politische Kategorien kommen in ihrem Werk nicht vor. Sie legte den Schwerpunkt ihrer Analysen auf politische Weltanschauungen und Ideologien als Grundlagen für Staaten, die sie danach beurteilte, wie viel politische Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dem Einzelnen in der Öffentlichkeit und insbesondere in der Politik zugestanden werden oder er sich mit anderen erkämpfen kann. In einem Brief an Johnson heißt es dementsprechend 1972: von der Freiheit halte sie mehr als von Sozialismus oder Kapitalismus. Sie differenzierte lediglich zwischen drei Herrschaftsformen: der Demokratie, der Republik oder Räterepublik u. Ä. als unterschiedlich freiheitlichen Systemen und der Diktatur bzw. „Tyrannis“ als „normalen“ Unterdrückungsregimes und der „totalen Herrschaft“. Beziehungen und Freundschaften Freundschaften spielten eine sehr große Rolle in Hannah Arendts Leben. Neben ihrer engen Partnerschaft mit ihrem Ehemann Heinrich Blücher, der 1970 starb, pflegte sie geistig intensive Freundschaften u. a. mit Mary McCarthy, Dolf Sternberger, Kurt Blumenfeld, Uwe Johnson, sowie vor allem mit Karl Jaspers und auch bis zuletzt mit Martin Heidegger. Jedoch hatte letztere einen besonderen Charakter. Während sie sich mehrmals abfällig über Heidegger als Menschen äußerte, beispielsweise im Brief an Jaspers vom 29. September 1949 und in den Briefen an Blücher vom 3. Januar 1950 und vom 26. Oktober 1959, betrachtete sie ihn und Karl Jaspers als die größten zeitgenössischen Philosophen. 1950 hatte Arendt die Beziehung zu Heidegger wieder aufleben lassen, allerdings blieb diese zeitlebens ambivalent. Gegenüber Blumenfeld zeigte sie sich Ende 1957 beeindruckt von Heideggers Arbeit über Identität und Differenz, gleichzeitig machte sie sich über seinen Stil lustig: „Er zitiert sich selbst und interpretiert sich, als ob es ein Text aus der Bibel sei.“ Von ihrem philosophischen Hauptwerk Vita activa schickte sie Heidegger ein Exemplar mit der Bemerkung, wenn es zwischen ihnen je mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte sie ihm das Buch gewidmet: Er antwortete darauf nicht und brach den Kontakt für einige Zeit ab. Enttäuscht schrieb sie im November 1961 an Jaspers: In keiner seiner bekannten Schriften hat Heidegger auf die Arbeiten Hannah Arendts Bezug genommen. Anlässlich von Heideggers 80. Geburtstag hielt sie im Herbst 1969, bereits nach Jaspers’ Tod, einen Vortrag im Bayerischen Rundfunk, in dem sie ausführte: Diese Vorliebe nennt sie eine „déformation professionnelle“. Heidegger zitierend, fährt sie fort: nur sehr wenige verfügten über das Vermögen, Diese Passage hätte sie wohl nicht zu Lebzeiten Karl Jaspers’, der sich immer als Demokrat verstanden hatte, verfasst. Sowohl die Veröffentlichung einiger Werke Jaspers’ als auch Heideggers in den USA unterstützte Hannah Arendt tatkräftig. Sie suchte Verlage, teilweise beaufsichtigte sie die Übersetzungen und gab die US-amerikanische Ausgabe von Die großen Philosophen heraus. In der jeweiligen Korrespondenz wird die Hilfe wiederholt thematisiert. Beide waren sehr an der Verbreitung ihrer Arbeiten in den Vereinigten Staaten interessiert und bedankten sich bei ihr. „Denktagebuch“ Hauptsächlich 1950 bis 1960 und weniger intensiv und stringent 1963 bis 1970 führte Hannah Arendt handschriftlich auf Deutsch – abgesehen von Originalzitaten auf Griechisch, Lateinisch, Englisch und Französisch und dem letzten Teil, in dem sie vor allem in englischer Sprache schreibt – ein von ihr gegenüber ihrer Freundin und späteren Nachlassverwalterin, der Germanistin Lotte Köhler, so bezeichnetes „Denktagebuch“. Sie setzt sich in 28 Heften, nach Jahren und Monaten geordnet, mit zahlreichen Philosophen und politischen Denkern auseinander. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der griechischen Antike. Sie behandelt aber auch Denker der Römerzeit, des Mittelalters und besonders zahlreich solche der Neuzeit. Durchgehend debattiert sie die Philosophie und das politische Denken Platons (anhand seiner Begriffe im Original), den sie in der Tradition Aristoteles’ und Heideggers kritisch betrachtet. Häufig befasst sie sich mit Kant, Heidegger und Marx (vor allem mit dessen Arbeitsbegriff), aber auch mit Nietzsche, Hegel und mit vielen anderen politischen Denkern. Hinzu kommen in geringerem Maße Dichter wie Hölderlin, Dickinson, Goethe, Rilke, Dostojewski, Kafka u. a.; außerdem notiert sie einige eigene (zu Lebzeiten unveröffentlichte) Gedichte und äußert sich nur hier zu Freundschaft, Liebe und Leidenschaft. Überdies stellt sie Reflexionen über die Sprache an.Vor diesem Hintergrund entwickelt Arendt im inneren Dialog mit sich selbst ihre eigenen Begriffe, wie beispielsweise die „Gebürtlichkeit“, die „Pluralität“ und das „Zwischen“. Allgemein gebräuchliche Begriffe benutzt sie mit spezieller Bedeutung: so z. B. das Politische, die Freiheit, das Arbeiten, das Herstellen, das Denken, das Handeln, das Urteilen, das Böse, die Macht, die Gewalt, die Wahrheit, die Lüge und die Ideologie. Weiterhin denkt sie über Geschichte, Politik und deutlich weniger über Gesellschaft sowie über Geschichts-, Politik- und Gesellschaftswissenschaften nach und stellt religionsbezogene Überlegungen an. Ihre kurzen, klar strukturierten Eintragungen, jeweils zu einem Thema, bilden eine der Grundlagen für ihre schriftlichen und mündlichen öffentlichen und privaten überlieferten Äußerungen. Unter dem Titel Denktagebuch wurden ihre Aufzeichnungen 2002 zusammen mit einem undatierten (ca. 1964 entstandenen) kleinen Heft über Kant in den USA und in Deutschland herausgebracht. Alter und Tod Hannah Arendt hinterließ kein „Alterswerk“. Sie entfaltete vielmehr stetig ihr politisches Denken und zeigte häufig Zivilcourage. Tiefe Brüche gab es dabei nicht. Trotz der äußeren Umwälzungen, vor allem durch das Auftreten des Totalitarismus, ist ihr Gesamtwerk in sich geschlossen und birgt nur wenige grundsätzliche Korrekturen. So hat sie – auf der Grundlage des Kantschen Begriffs vom „radikal Bösen“, den sie zunächst übernommen hatte – 1961 die These von der „Banalität des Bösen“ aufgestellt und später trotz jahrelanger Anfeindungen verteidigt. In ihren Briefen spricht sie den Wunsch aus, bis zu ihrem Tod leistungsfähig zu bleiben. Nach einem ersten Herzinfarkt 1974 nahm sie ihr Schreiben und ihre Lehrtätigkeit wieder auf. Am 4. Dezember 1975 erlitt sie in Anwesenheit von Freunden einen zweiten, tödlichen Herzinfarkt in ihrem Arbeitszimmer, 370 Riverside Drive, Manhattan. Grabreden hielten u. a. ihr alter Freund Hans Jonas und Vertreter ihrer Studenten. Die Asche von Hannah Arendt wurde neben der ihres Mannes Heinrich Blücher auf dem Friedhof des Bard College, Dutchess County, New York beigesetzt. Hauptwerke „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ Das Manuskript für ihr großes Jugendwerk über Rahel Varnhagen hatte Arendt bereits 1931 bis Anfang 1933 in Berlin verfasst. Die zwei letzten Kapitel zu ihrer Theorie über Paria und Parvenü entstanden im Exil in Paris 1938. Das Werk erschien erst 1958 mit einem aktuellen Vorwort in englischer Sprache, aus dem Deutschen übersetzt, herausgegeben vom Leo Baeck Institut. Die deutsche Fassung kam 1959 auf den Markt. Es stützt sich auf veröffentlichte und unveröffentlichte Briefe sowie Tagebuchaufzeichnungen, die Arendt z. T. erstmals auswertete. Die Autorin bezeichnet ihr Werk Jaspers gegenüber als „Frauenbuch“ und im Vorwort als einen Beitrag zur Geschichte der deutschen Juden. Am Beispiel ihrer 1771 geborenen Protagonistin zeigt sie den am zunehmenden gesellschaftlichen Antisemitismus gescheiterten Assimilationsversuch von wohlhabenden und gebildeten Juden im 19. Jahrhundert. Aufgeklärt und auf Vernunft gestützt, war es Rahel Levin gelungen, in Berlin einen eigenen literarischen Salon zu führen und damit gleichberechtigten Umgang mit Literaten, Wissenschaftlern und Philosophen zu pflegen, nicht aber Eingang in die deutsche Standesgesellschaft zu finden. Um in den Adel oder wenigstens in die höhere Gesellschaft aufzusteigen, versuchte Rahel mehrmals vergeblich, ihr Judentum durch eine Ehe zu überwinden. Dies scheiterte zweimal an ihrer jüdischen Herkunft und einmal an den Vorstellungen über die Unterordnung der Frau unter den Mann. Nach diesen Erfahrungen beschloss sie, den Nachnamen Robert anzunehmen, um die Trennung von der jüdischen Identität auch äußerlich sichtbar zu machen. Anfang des 19. Jahrhunderts erschien die erste moderne „Hetzbroschüre“ Wider die Juden, der eine Welle von Antisemitismus folgte. 1806 wurde der Salon infolge des Einmarsches Napoleons geschlossen. Die neuen Berliner Salons ab 1809 beschreibt Arendt als eher politisch-literarische Zirkel, vom Adel dominiert und patriotisch geprägt mit Statuten, die Frauen, Franzosen, Philistern und Juden den Zutritt verboten. Rahel versuchte nunmehr sogar, eine philosophische Form des Nationalismus von Fichte zu übernehmen, um „dazuzugehören“. Dies konnte ihr, so Arendt, nicht gelingen, „denn der patriotische Antisemitismus, dem auch Fichte nicht fernstand, vergiftete alle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden“. Endlich lernte sie 1808 Karl August Varnhagen von Ense kennen, ließ sich 1814 seinetwegen taufen und kam durch die späte Heirat der ersehnten Assimilation näher. Schon 1815 etablierte sich der Antisemitismus erneut offen und stark. 1819 kam es in Preußen zu Pogromen. Durch beruflichen Aufstieg, einen Adelstitel und steigenden Wohlstand verkehrte August von Varnhagen nunmehr mit den Honoratioren der Gesellschaft. Rahel hatte ihr Ziel erreicht. Sie war „dumm“ und „überschwenglich glücklich“, urteilt Arendt, „daß man ihr gnädigst erlaubt mitzutun“. Trotzdem blieb Rahels Haltung zwiespältig. Sie fühlte sich weiterhin „fremd“ in einer judenfeindlichen Gesellschaft und beklagte sich, dass Frauen am Stand des Mannes und des Sohnes gemessen werden und vielfach nicht als Menschen mit Geist betrachtet werden. Arendt versteht unter einem Parvenü einen Menschen, der sich in eine Gesellschaft hinein „schwindelt“, in die er nicht gehört. Arendt zufolge ist es dieses Lügen, das Rahel und ihr Mann perfekt beherrschen. Sie bezeichnet ihn als Parvenu, während sie Rahel als Person zwischen Paria und Parvenu kennzeichnet, da ihr das Schwindeln und Heucheln für den Aufstieg mehr und mehr als Lüge und Last erschienen. Von 1821 bis 1832 führte Rahel von Varnhagen ihren zweiten Salon wiederum mit illustren Gästen. Doch dieser literarische Kreis blieb – mehr noch als der erste – nur eine Illusion der Gemeinsamkeit und der Integration. Außerhalb des Salons blieben die Varnhagens isoliert und erhielten keine Einladungen zu den angestrebten Kreisen. Daraus schließt Arendt: In einer im Großen und Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft können sich Juden nur assimilieren, wenn sie sich an den Antisemitismus assimilieren. Auch assimilierte Juden in Europa waren demnach Außenseiter, also Parias geblieben, weil sie meistens von großen Teilen des Adels und vor allem vom Bürgertum nicht anerkannt wurden. Zwar konnten Wohlhabende in die Rolle des Parvenüs wechseln; dies war jedoch mit Lüge, Untertanengeist und Heuchelei erkauft. Den Status des unbeliebten Außenseiters konnten sie dadurch nicht überwinden. Einige der Parias wurden zu Rebellen und behielten auf diese Weise ihre Identität bei. Rahel strebte, so Arendt, bis kurz vor ihrem Tod die vollständige Eingliederung in die Gesellschaft als Person an. Erst am Lebensende nahm sie eine klare Haltung ein, war wieder Jüdin und Paria geworden. Nunmehr sah sie die Realität des Antisemitismus klar. Als Anhängerin Saint-Simons forderte sie Gleichheit und Rechte ohne Berücksichtigung der Herkunft. „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ Im ersten Teil ihres fast 1000 Seiten umfassenden Hauptwerkes, das 1951 zunächst in den USA und 1955 in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht wurde, rekonstruiert Arendt die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert, im zweiten Teil den Verlauf und die Funktionsweise des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus. Schließlich beschreibt sie im dritten Teil die beiden Formen totaler Herrschaft – Nationalsozialismus und Stalinismus – vor dem Hintergrund ihrer These der wachsenden Zerstörung des politischen Raums durch die Entfremdung des Individuums in der Massengesellschaft. Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft Arendt verwirft alle Ideologien des 19. Jahrhunderts, wie die bürgerliche Wissenschaftsgläubigkeit, z. B. des Darwinismus. Aber auch den Idealismus lehnt sie als Ursprung des nationalsozialistischen „Gesetzes der Natur“ ab. Ebenso steht sie dem geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus, der sich beispielsweise im Marxismus zeigt, und pessimistischen Geschichtsauffassungen kritisch gegenüber, da sie sich von allen Vorstellungen linearer Entwicklung abgrenzt und stattdessen von der Möglichkeit eines Neuanfangs oder des Scheiterns einer jeden neuen Generation überzeugt ist. Der Antisemitismus wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu einer an den Nationalismus gebundenen irrationalen Ideologie. Eine besondere Bedeutung für die Entwicklung dieser national-völkischen Ideologie sieht Arendt im Imperialismus, den sie mit Bezug auf die Imperialismustheorie Rosa Luxemburgs als Grundlage für die weitere Entwicklung des Antisemitismus und des Rassismus untersucht. Während der „nationale“ Antisemitismus den Ausschluss der Juden aus der Nation fordere, gehe es dem „imperialistischen“ Antisemitismus nationenübergreifend um die Vernichtung der Juden. Der Imperialismus zersetze die politischen Räume der Gesellschaft, indem er in der Innen- und Außenpolitik Hindernisse beseitige, die die Expansion des Kapitals stören. Arendt erweitert den marxistischen Imperialismusbegriff um die Dimension des Rassismus und kritisiert die Reduzierung der Auseinandersetzungen mit dem Kapitalismus auf die rein ökonomischen Fragen. Die politische Triebfeder des Imperialismus sei der Versuch, die Menschheit in „Herren- und Sklavenrassen“, in „Schwarze und Weiße“ einzuteilen. Im Zuge ihrer Welteroberungspolitik haben totalitäre Regierungen die Gruppen von Flüchtlingen und Staatenlosen stark vermehrt und sich bemüht, ihre rechtlichen und moralischen Positionen zu zerstören, um die Nationalstaaten von innen her zu zersetzen. Die Frage, warum die Juden als Opfer ausgewählt wurden, beschäftigt die politische Denkerin durchgehend. Bereits in der Einleitung kritisiert sie Historiker, die das Bild vom „ewigen Juden“, den ewigen natürlichen Antisemitismus nicht hinterfragen oder die Sündenbockthese sowie die „Ventiltheorie“ als Erklärung für die nationalsozialistische Judenvernichtung verbreiten. „Wenn es wahr ist, daß die Menschheit immer darauf bestanden hat, Juden zu ermorden, dann ist Judenmord eine normale, menschliche Betätigung und Judenhaß eine Reaktion, die man noch nicht einmal zu rechtfertigen braucht.“ Tatsächlich sei jedoch nichts so „grauenhaft einprägsam“ wie die vollkommene Unschuld aller, die in der „Terrormaschine“ gefangen wurden. Abgrenzung und Charakterisierung der totalen Herrschaft Den Begriff der totalen Herrschaft grenzt Arendt ein auf den Nationalsozialismus, endend mit Hitlers Tod, und das System des Stalinismus, das sie von 1929 an bis zu Stalins Tod 1953 in der Sowjetunion verwirklicht sieht. Es handelt sich ihrer Auffassung nach um „Variationen des gleichen Modells“. Nicht der Staat und die Nation sind für die totalitäre Politik letztendlich wichtig, sondern die Massenbewegung, die sich auf Ideologien, wie den Rassismus oder den Marxismus stützt. Als Kennzeichen dieser Herrschaftsform sieht sie: die Umwandlung der Klassen – auf der Grundlage von Interessen – in fanatisierte Massenbewegungen, die Beseitigung von Gruppensolidarität, das Führerprinzip, millionenfache Morde, die Passivität der Opfer, Denunziationen sowie die „Bewunderung für das Verbrechen“. Demnach sind Anhänger totalitärer Massenbewegungen Argumenten nicht zugänglich und ignorieren ihren Selbsterhaltungstrieb. Totalitäre Führer rühmen sich begangener Verbrechen und kündigen künftige an. Sie exekutieren „Gesetze von Natur oder Geschichte“. Während jedoch der dialektische Materialismus auf den besten Traditionen basiere, sei der Rassismus kläglich-vulgär. Beide Ideologien liefen auf die Ausscheidung von «Schädlichem» oder Überflüssigem zu Gunsten des reibungslosen Ablaufs einer Bewegung hinaus. Für Arendt ist die totale Herrschaft die einzige Staatsform, mit der es keine Koexistenz und keinen Kompromiss geben kann. Zeitweiliges Bündnis zwischen Mob und Elite Zu diesem Abschnitt ihres Buches stellt der bereits früher veröffentlichte Essay Über den Imperialismus eine Vorstudie dar. Totalitäre Bewegungen sind laut Arendt durch die echte Ergebenheit ihrer Anhänger geprägt. Gerade ein großer Teil der geistigen und künstlerischen Elite hat sich – wenigstens zeitweise – mit den totalitären Regierungen identifiziert. Die Elite habe sich (aus guten Gründen), bevor der „Zusammenbruch des Klassensystems“ die „Massenindividuen“ erzeugte, von der Gesellschaft losgesagt und könne nun die Massen „verstehen“. Ebenso stehe der Mob, der von Verfassungen, Parteien und Moralsystemen nicht berührt werde, die Unterwelt und das Gesindel umfasse, am Rande der Gesellschaft. Er sei erstmals bereit und in der Lage gewesen, die Massen zu organisieren und, da er keine berufliche Karriere anstreben konnte, politische Ämter zu übernehmen. Die Führer der Parteien meinten, dies diskreditiere den Mob, doch es war umgekehrt, da die Lage der Massen so verzweifelt war, dass sie nicht mehr auf die bürgerliche Gesellschaft hofften. Hitlers „hysterischer Fanatismus“ und Stalins „rachsüchtige Grausamkeit“ trugen Arendt zufolge Züge des Pöbels. Die Elite war demnach vom Radikalismus besonders fasziniert, von der Aufhebung der Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem und von der Erfassung des ganzen Menschen durch die jeweilige Weltanschauung. Die Überzeugungen des Mobs betrachtet sie als reine, nicht durch Heuchelei abgeschwächte Verhaltensweisen der Bourgeoisie. Doch die Hoffnungen beider Gruppen wurden nicht erfüllt, da die Führer der totalitären Bewegungen, die zum großen Teil dem Mob entstammten, weder dessen Interessen noch die der intellektuellen Anhänger vertraten, sondern „tausendjährige Reiche“ anstrebten. Initiativen von Mob und Elite wären „beim Aufbau funktionsfähiger Beherrschungs- und Vernichtungsapparate“ eher hinderlich gewesen. Die Machthaber griffen daher lieber auf die „Massen gleichgeschalteter Spießer“ zurück. Totalitäre Propaganda und Indoktrination Während Mob und Elite selbstständig alles Bestehende durch Terror umwälzen wollten, konnten die Massen erst durch Propaganda in totalitäre Organisationen eingebunden werden. Totalitäre Bewegungen verändern die Realitätswahrnehmung der Gesellschaft und fixieren sie auf universelle Bedeutungen. Die Bewegung nahm Ideologien von einer „Rassegesellschaft oder eine(r) klassen- und nationslosen Gesellschaft“ auf und verbreitete Theorien von Verschwörungen gegen die Gesellschaft durch Juden oder Parteifeinde. Für den Nationalsozialismus stellt Arendt die Bedeutung dieses Phänomens anhand der Protokolle der Weisen von Zion heraus. Es müsse gefragt werden, wie diese offensichtliche Fälschung zu der „Bibel einer Massenbewegung“ werden konnte. Mit dem Glauben an die Jüdische Weltverschwörung und ihren modernen Elementen ließen sich Antworten auf Probleme der Moderne vermitteln. „Es sind die eigentümlich modernen Elemente, denen die Protokolle ihre außerordentliche Aktualität verdanken und die stärker wirken als die viel banalere Beimischung uralten Aberglaubens.“ Auch im Stalinismus findet sie antisemitische Züge nach nazistischem Vorbild. Der Bezug auf eine jüdische Weltverschwörung im Sinne der Weisen von Zion, die Umdeutung des Begriffs „Zionismus“, die alle nichtzionistischen Organisationen und damit alle Juden einschloss, eignete sich auf Grund der vorhandenen antisemitischen Ressentiments in der Bevölkerung eher zur Verwirklichung der Ansprüche auf eine Weltherrschaft als der Kapitalismus oder der Imperialismus. Nach der Machtübernahme durch die „Bewegungen“ sei, so die Autorin, die Propaganda durch Indoktrination ersetzt worden. Der Terror richtete sich jetzt nicht allein gegen die angeblichen Feinde, sondern auch gegen die unbequem gewordenen Freunde. Die Ergebenheit der treuen Mitglieder ging dann so weit, dass sie jederzeit bereit waren, den Opfertod für den Führer oder die Partei zu sterben. Arendt belegt dies z. B. mit der Haltung der Angeklagten in den Moskauer Prozessen. Die Lügen über die „Verschwörer“, argumentiert die Verfasserin, seien durch ihre Offensichtlichkeit nicht entkräftet worden: Terror als Wesen totaler Herrschaft In der Zeit des Nationalsozialismus wurde, fährt Arendt fort, der Machtapparat vollständig etabliert, gleichgeschaltet und nach und nach immer radikaler und undurchschaubarer gestaltet. Das „Recht zum Morden“ zusammen mit Methoden, das Wissen aus der Welt zu schaffen, wurde zur sichtbaren Weltanschauung. Während die Nationalsozialisten immer die Fiktion der jüdischen Weltverschwörung aufrechterhielten, änderten die Bolschewisten ihre Fiktion mehrmals: von der trotzkistischen Weltverschwörung über den Imperialismus zur Verschwörung der «wurzellosen Kosmopoliten» usw. Stalins Machtmittel war die Verwandlung der Kommunistischen Parteien in Filialen der von Moskau beherrschten Komintern. Innerhalb der „totalen Welt“ herrschte der Polizeiapparat als Geheimpolizei, GPU oder Gestapo. Die Zahl der in den NS-Vernichtungslagern ermordeten Juden sowie anderer Gruppen und der im „Raubkrieg“ getöteten Menschen sei nachweisbar. Aus Arendts Quellenlage war keine genaue Quantifizierung der Opfer des Stalinismus möglich. Die Morde reichten von der Liquidierung der Kulaken über die Verluste während der Kollektivierung der Landwirtschaft, die Moskauer Prozesse bis zum Großen Terror. Sie stützte sich u. a. auf Angaben zeitgenössischer junger russischer Intellektueller über „Massensäuberungen, Verschleppung und Ausrottung ganzer Völker“. Hannah Arendt beschreibt die Konzentrations- und Vernichtungslager als Versuchsanstalten, die der Ausrottung von Menschen, der Erniedrigung von Individuen dienten und dem Nachweis, dass Menschen total beherrschbar sind. Identität, Pluralität und Spontanität aller Menschen sollten vernichtet werden. Die Lager seien für die Erhaltung des Machtapparats zentral gewesen, die Verbrechen und Gräueltaten so ungeheuerlich, das Grauen so groß, dass sie auf Unbeteiligte leicht unglaubhaft wirkten. Denn die Wahrheit der Opfer beleidige den gesunden Menschenverstand. Hitlers „hundertfach wiederholten Ankündigungen, daß Juden Parasiten seien, die man ausrotten müsse“, wurde nicht geglaubt. Das Grauen vor dem „radikal Bösen“ bringt die Erkenntnis, dass es hierfür keine politischen, geschichtlichen oder moralischen menschlichen Maßstäbe gibt. Konzentrationslager stehen immer außerhalb des normalen Strafsystems. Sie beruhen auf der „Tötung der juristischen Person“. Der Mensch wird reduziert auf „Jude“, „Bazillenträger“, „Exponent(en) absterbender Klassen“. Bei den Verbrechern und Politischen kann die Vernichtung der juristischen Person laut Arendt nicht vollständig gelingen, „weil sie wissen, warum sie dort sind“. Die meisten Insassen seien aber völlig unschuldig gewesen. Gerade diese wurden in den Gaskammern liquidiert, während wirkliche Regimefeinde häufig schon im Vorfeld getötet wurden. Die „Entrechtung“ des Menschen sei „Vorbedingung für sein totales Beherrschtsein“ und gelte für jeden, der in einem totalitären System lebt. Hinzu komme die „Ermordung der moralischen Person“. Es handele sich dabei um ein System des Vergessens, das bis in die Familien- und Freundeskreise der Betroffenen reiche. Der Tod werde anonymisiert. Moralisches Handeln, Gewissensentscheidungen wurden unmöglich. Arendt zitiert den Bericht von Albert Camus über eine Frau, der die Nationalsozialisten die Wahl zuschoben zu entscheiden, welches ihrer drei Kinder getötet werden sollte. Das einzige, was dann noch bleibt, um die Verwandlung von Personen in „lebendige Leichname“ zu verhindern, ist die Beibehaltung der „Differenziertheit, der Identität“. Hannah Arendt führt deutlich vor Augen: die Zustände bei den Transporten in die Lager, das Kahlscheren der Schädel, die Entkleidung, die Tortur und die Ermordung. Während die SA noch mit „Haß“ und „blinder Vertiertheit“ tötete, sei der Mord im Lager ein „mechanisierter Vernichtungsakt“ gewesen, teilweise ohne „individuelle Bestialität“ begangen von normalen Menschen, die zu Mitgliedern der SS erzogen worden seien. Der Terror als Wesen einer totalitären Regierung übt zunächst eine eigentümliche Anziehungskraft auf moderne entwurzelte Menschen aus, presst später die Massen zusammen und zerstört alle Beziehungen zwischen Menschen. Das Prinzip ist die Ideologie, „der innere Zwang“, umgedeutet und so weit angenommen, bis die Menschen voller Furcht, Verzweiflung und Verlassenheit vorwärts in den eigenen Tod getrieben werden, wenn „man“ schließlich selbst zu den «Überflüssigen» und «Schädlingen» gehört. Am Ende betont sie, dass die totale Herrschaft nicht in einem langwierigen Prozess, sondern plötzlich zusammenbricht und anschließend die meisten ihrer Anhänger die Teilnahme an Verbrechen, ja selbst die Zugehörigkeit zur Bewegung leugnen. „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ Im Gegensatz zu Heidegger begründete Arendt ihr Denken von der Geburt des einzelnen Menschen her und nicht vom Tod. In ihrem 1958 veröffentlichten, sich hauptsächlich auf Philosophie beziehenden zweiten Hauptwerk The Human Condition, in deutscher Sprache – von ihr selbst übersetzt – unter dem Titel: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1960 erschienen, führt Arendt diesen Gedanken aus. Mit der Geburt beginnt die Fähigkeit, einen Anfang machen zu können. Das Individuum hat die Aufgabe, in Verbindung mit anderen Personen die Welt zu gestalten. Dabei geht es ihr um die Grundbedingungen aktiven menschlichen Lebens, die sie auf „Arbeiten, Herstellen und Handeln“ beschränkt. Davon unterscheidet sie das „Wesen“ und die „Natur“ des Menschen, die begrifflich nicht zu definieren und menschlicher Erkenntnis nicht zugänglich seien. Versuche, sie zu bestimmen, endeten „zumeist mit irgendwelchen Konstruktionen eines Göttlichen“. Das Handeln ist ihrer Ansicht nach enger an die Gebürtlichkeit gebunden als das Arbeiten und Herstellen. Arbeiten und Herstellen Die Arbeit dient dem Fortbestand des Einzelnen und der Gattung. Daher gehört Arbeit notwendig zum menschlichen Leben, aber auch zu dem jedes anderen Lebewesens. Arbeit ist, so sieht es Arendt, nicht mit Freiheit verbunden, sondern stellt einen Zwang zur Erhaltung des Lebens dar, dem der Mensch von der Geburt bis zum Tod ständig unterliegt. Auf der Grundlage der Arbeit beginnt das Individuum über die Endlichkeit seines Daseins nachzudenken. Um dieser Gewissheit zu entfliehen, baut der Mensch neben der natürlichen eine eigene künstliche Welt auf, für die er Dinge aus unterschiedlichen Materialien herstellt. Arendt geht davon aus, dass diese Welt beständig ist, und das Individuum eine Beziehung zu den hergestellten Dingen und Phänomenen aufbauen kann. Ein Beispiel dafür ist das Gefühl des „nach Hause Kommens“. In einer sich ständig ändernden Welt kann der Mensch sich nicht zu Hause fühlen. Die von Arendt eingeführte Unterscheidung zwischen „Arbeiten“ und „Herstellen“ bezieht sie auch auf die Produktion. Als Produkte der Arbeit bezeichnet sie Konsumgüter, die „verbraucht“ werden, während Produkte des Herstellens oder des Werkens „gebraucht“ werden. Handeln Das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte. Es spielt sich zwischen den Individuen ab und zeigt gleichzeitig die Einzigartigkeit, die Verschiedenheit und Pluralität der Menschen. Der einzelne Mensch kann, argumentiert Arendt, in einer Gesellschaft überleben, ohne jemals selbst zu arbeiten oder selbst etwas herzustellen. Handeln besteht in politischer Interaktion, die für Arendt fundamental ist. Kommunikation, d. h. „Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick“ ist bereits Handeln. „Stumm ist nur die Gewalt, und schon aus diesem Grunde kann die schiere Gewalt niemals Anspruch auf Größe machen.“ Arendt betont: Auch wenn der Einzelne noch weiß, dass er ein Mensch ist, so wird er anderen ohne Handlungen nicht als solcher erscheinen. Der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel: Vita activa beruht auf diesem Gedankengang. Handeln findet im öffentlichen Raum statt. Am klarsten realisiert war dies für Arendt in der griechischen Polis, wo das Arbeiten im privaten Raum des Haushalts – mit allen Folgen einer Zwangsherrschaft – stattfand, während sich das Handeln im öffentlichen Raum auf der Agora abspielte. Dieser öffentliche Platz war der Ort der Vita activa, der politischen Kommunikation, Gestaltung und Freiheit unter Gleichen. Vom Verständigungsprozess im politischen Raum zur Massengesellschaft Demgegenüber kam es, so Arendt, im Mittelalter auf der Grundlage christlicher Dogmatik zu einer Verschiebung. Die höchste Freiheit für den Menschen lag nun in der auf Gott ausgerichteten „Vita contemplativa“. Dabei wurde das Element des handwerklich-künstlerischen Herstellens höher bewertet als das (philosophische) Denken und (politische) Handeln. Der Mensch wurde zum Homo faber, d. h. Erschaffer einer künstlichen Welt. Das „sprachlose Staunen“, welches seit der Antike als „Beginn und Ende aller Philosophie“ galt und nur Wenigen zugänglich war, verlor an Bedeutung zugunsten des „betrachtend anschauenden Blicks der handwerklich-Schaffenden“. Arendt kritisiert die christlich-abendländische Philosophie. Zwar hätten die meisten Philosophen sich zu politischen Fragen geäußert, aber kaum einer habe unmittelbar am politischen Diskurs teilgenommen. Als Ausnahme sah sie lediglich Machiavelli. Auch wenn bei Hegel das Politische eine Aufwertung gefunden habe, wendet sich Arendt vor allem gegen die Vorstellung Hegels von der Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung. Die Idee des Absoluten als Ziel der Geschichte führe zur Ideologie und damit zur Rechtfertigung von undemokratischen Praktiken und schließlich am Ende zu den Formen der totalen Herrschaft. Das moderne Individuum entfernt sich ebenfalls vom Politischen auf Grund der „radikalen Subjektivität seines Gefühlslebens“ durch „endlose innere Konflikte“. Die Einzelnen werden gesellschaftlich normiert, Abweichungen von dieser Norm als asozial oder anormal verbucht. Es kommt zum Phänomen der Massengesellschaft mit der Herrschaft der Bürokratie. Dabei werden die sozialen Klassen und Gruppierungen einander angeglichen und mit gleicher Macht kontrolliert. Das Gleichmachen, der Konformismus in der Öffentlichkeit, führt dazu, dass Auszeichnungen und „Besonderheit“ zu Privatangelegenheiten von Individuen werden. Große Anhäufungen von Menschen entwickeln die Tendenz zur Despotie, entweder eines Einzelnen oder zum „Despotismus der Mehrheit“. Auch in der Vorstellung der Geschichtlichkeit als Grundbedingung der menschlichen Existenz bei Heidegger bleibt für die Autorin das Denken in der Kontemplation verhaftet. Eine „Vita activa“ erfordert aber die Fragen nach den Prinzipien des Politischen und den Bedingungen der Freiheit. Als Ansatz hierzu sah Arendt wie Jaspers die Moralphilosophie Kants, in der die Frage nach den Bedingungen der menschlichen Pluralität im Vordergrund gestanden habe. Kant habe nicht nur Staatsmänner und Philosophen betrachtet, sondern alle Menschen als Gesetzgeber und Richter angesehen und sei so zu der Forderung nach einer Republik gekommen, der sich die Forscherin anschließt. In diesem Werk geht Arendt der historischen Wandlung von Begriffen wie Freiheit, Gleichheit, Glück, Öffentlichkeit, Privatheit, Gesellschaft und Politik nach und beschreibt genau den Bedeutungswandel im jeweiligen historischen Kontext. Dabei ist ihr Bezugspunkt das antike Griechenland, insbesondere zur Zeit des Sokratischen Dialogs. Ihrer Auffassung nach gilt es, die verlorenen Bereiche des Politischen wiederum in der Gegenwart modifiziert zu verankern und damit die Fähigkeiten politisch denkender und handelnder freier Individuen, die versuchen, sich voreinander auszuzeichnen, fruchtbar zu machen. Im Gegensatz dazu sieht sie den verbreiteten Behaviorismus, der darauf abziele, den Menschen in allen seinen Tätigkeiten „auf das Niveau eines allseitig bedingten und sich verhaltenden Lebewesens zu reduzieren“. „Über die Revolution“ Laut ihrem zu Lebzeiten unveröffentlichten Essay Die Freiheit, frei zu sein, der Anfang 2018 erstmals auf Deutsch erschien, sah Arendt für die Entstehung von Revolutionen in der Erosion des bestehenden Herrschaftssystems eine Grundvoraussetzung: In dem Buch On Revolution (1963, deutsche Ausgabe 1965) analysiert und interpretiert Arendt die Französische und die Amerikanische Revolution, wobei auch andere Revolutionen angesprochen werden. Sie kritisiert die Gesellschaften, die aus den Revolutionen hervorgegangen sind. Dabei verwendet sie einen anderen Revolutionsbegriff als gemeinhin üblich. Ihr Hauptanliegen ist es, die wesentlichen Merkmale des „revolutionären Geistes“ zu bestimmen. Diese erkennt sie in der Möglichkeit, etwas neu zu beginnen und im gemeinsamen Handeln von Menschen. Arendt stellt die Frage, warum der „Geist der Revolution“ keine Institutionen fand und daher verloren ging. Dabei geht sie von Thomas Jefferson aus, der nach seiner Amtszeit als dritter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika das Geschehene in Briefen reflektierte. Als Lösungsansatz betrachtet sie Jeffersons ward-system, das sie auch „Elementarrepubliken“ nennt. Laut Jefferson gab es nach der Amerikanischen Revolution und der Einführung der Verfassung keine Institution, in der das Volk einen Beitrag zu öffentlichen Angelegenheiten leisten konnte. Das uralte Verhältnis von Regierten und Regierenden bestand weiter fort. Während und vor der Amerikanischen Revolution konnte das Volk in den townhalls aktiv am politischen Geschehen teilnehmen. Von dieser Möglichkeit machten die Einwanderer regen Gebrauch. Nach der Revolution jedoch bezogen sich die Menschen mehr und mehr auf ihr Privatleben, verfolgten ihre Privatinteressen und interessierten sich weniger für die öffentlichen Angelegenheiten. Als Alternative zur repräsentativen Parteiendemokratie befürwortet Arendt eine Räterepublik. Erstere sei unfähig, das Volk am politischen Leben teilnehmen zu lassen. Auf Grund der Erfahrung nach dem Ersten Weltkrieg bezeichnet sie das Mehrparteiensystem als noch unattraktiver als das englische oder amerikanische Zweiparteiensystem, da es im Wesen die Ein-Partei-Diktatur in sich trage. Elemente des Rätesystems tauchen nach Arendt in fast allen Revolutionen auf, bis auf die Februarrevolution und die Märzrevolution 1848. Die Räte beschreibt sie als friedlich, parteilos und daran interessiert, einen neuen Staat aufzubauen. Die Parteien, ob links, rechts oder revolutionär, sahen in den Räten oder Sowjets eine starke Konkurrenz, agitierten gegen sie und konnten sie mit staatlicher Hilfe letztendlich immer vernichten. Hannah Arendt favorisiert dieses politische System direkter Demokratie, weil die Menschen sich in den Parteiendemokratien als Regierte fühlen – und das war gerade nicht der Sinn der Revolutionen. Dagegen kommt die Möglichkeit der politischen Teilnahme auf unterschiedlichen Ebenen Arendts Vorstellungen des Politischen wesentlich näher. Sie hebt hervor, „daß keiner glücklich genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, daß niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und daß niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht“. „Denken, Wollen, Urteilen“ Die 1989 posthum veröffentlichten Werke Das Denken und Das Wollen erschienen 1998 in dem Sammelband Vom Leben des Geistes. Diese Arbeit beruht wiederum auf Vorlesungen, die sie 1973 und 1974 gehalten hat. Der dritte Teil Das Urteilen wurde nach Vorarbeiten seitens ihrer Nachlassverwalterin Mary McCarthy von dem Politikwissenschaftler Ronald Beiner auf der Grundlage der Manuskripte ihrer Vorlesungen zu Kant, insbesondere aus dem Jahr 1970, zusammengestellt. Arendt will, wie sie in der Einleitung schreibt, mit diesem anspruchsvollen Titel nicht als „Philosoph“, als „Denker von Gewerbe“ (Kant) wirken, aber das Denken auch nicht diesen überlassen. Anlass für ihre Studien war u. a. ihr Eichmann-Buch, in dem sie sich mit den „ungeheuerlichen Taten“ eines „gewöhnlichen“, „gedankenlosen“ Täters beschäftigt hatte. Dies führte zu der Frage, ob das Denken, d. h. die Gewohnheit, alles zu untersuchen, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse, zu den Bedingungen gehört, die die Menschen davor schützen, Böses zu tun. Das Denken In ihrem bereits zur Veröffentlichung fertiggestellten Werk über Das Denken erweiterte Arendt die Ideen aus Vita activa, indem sie nunmehr die „Vita contemplativa“, d. h. geistige Tätigkeiten, als ebenbürtig oder sogar überlegen beschreibt. Sie versucht, ihre Aussage im Eichmann-Buch über die „Banalität des Bösen“ mit der These zu untermauern, diese Art bösen Handelns sei mit dem „Fehlen des Denkens“ mit der „Gedankenlosigkeit“ verknüpft. Sie stellt folgende Frage: Als Motto stellte sie der Einleitung einen kurzen Text aus Heideggers Was heißt Denken? voran, in dem dieser die Bedeutung des Denkens an sich hervorhebt. Wiederum verfolgt sie Begriffe zu ihrem Ursprung zurück. Ethik und Moral, so Arendt, sind die griechischen bzw. lateinischen Ausdrücke für Sitte und Gewohnheit. Gewissen dagegen bedeute „bei sich wissen“ und gehöre zu jedem Denkvorgang. Nur „gute Menschen“ hält sie für fähig, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, während Kriminelle in der Regel über ein gutes Gewissen verfügten. Ethik und Moral (wörtlich: Sitten und Gewohnheiten) seien hauptsächlich von der entgegengesetzten Prämisse ausgegangen. Angelehnt an Sokrates findet sich bereits bei Demokrit die Aussage: „Es ist besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun“, entwickelt sie den Gedanken des inneren Gesprächs, wobei das Individuum sich davor hüten müsse, mit sich selbst in Zwiespalt zu geraten, um seine Selbstachtung zu bewahren, auch wenn viele Menschen sich anders entscheiden. Zum Handeln gehöre seit der Antike das Denken. Arendt grenzt ihr Verständnis vom Denken sowohl von Platon und Aristoteles, die das Denken als passive Betrachtung verstanden hätten, wie auch vom Christentum ab, das die Philosophie zur „Magd der Theologie“ und das Denken zur Meditation und Kontemplation gemacht habe. Auch dem Ansatz der Neuzeit, in der das Denken hauptsächlich der Erfahrungswissenschaft diene, steht sie kritisch gegenüber. Die Mathematik hält sie als reines Denken für die „Königin der Wissenschaften“. Sie kritisiert die Hegemonie der Naturwissenschaften als Erklärungsmodell aller „Erscheinungen“, auch der gesellschaftlichen und politischen, und betont die Wichtigkeit des Nachdenkens über die Bedingtheit des menschlichen Lebens. Die Bedeutung des Denkens im öffentlichen Leben trete in der modernen Gesellschaft, die immer mehr zur Arbeitswelt werde, weitgehend zurück. Die „vita activa“, das Herstellen und Handeln, siege über die „vita contemplativa“, die Suche nach dem Sinn, die einstmals – insbesondere im Mittelalter – vorrangig gewesen sei. Der Mensch gerate in eine Zwickmühle, da einerseits die Individualität gerade in der demokratischen Massengesellschaft betont werde, andererseits die Massengesellschaft den Diskussionen im öffentlichen Raum Grenzen setze. In dieser auf Vorlesungen beruhenden Abhandlung setzte sie sich mit zahlreichen bedeutenden Philosophen auseinander, die über das Denken – als Betrachten des Seins – Auskunft gegeben haben. Dabei behandelte sie die großen Denker lebenslang, genauso wie Jaspers, als wären sie Zeitgenossen. Während das Denken als Unsichtbares in aller Erfahrung gegenwärtig sei und dazu neige, zu verallgemeinern, stünden die anderen beiden geistigen Tätigkeiten der „Erscheinungswelt“ viel näher, weil es immer um „einzelnes“ gehe: um das Urteilen über die Vergangenheit, dessen Ergebnis die Vorbereitung für das Wollen darstelle. Das Wollen Laut Arendt beruht der Wille auf dem kreatürlichen Begehren wie auch auf dem vernünftigen Denken. Sie betont die Bedeutung des Willens als ein dem Menschen eigenes Talent, das Alte zu überwinden, um mit dem Neuen beginnen zu können. Dieser Wille, verbunden mit der Gebürtlichkeit nicht gleicher, sondern voneinander abweichend denkender Menschen („Differenz“), ermögliche einerseits Freiheit, berge aber andererseits die Gefahr des rein spontanen, intuitiven Handelns. Sie stellt fest: „Die freien Handlungen des Menschen sind selten.“ Dem Begriff des Willens geht sie anhand seiner Geschichte nach. Er sei in der griechischen Antike unbekannt gewesen und habe erst in der Neuzeit im Zusammenhang mit dem der Innerlichkeit („die innere Erfahrung“) große Bedeutung gewonnen. Parallel dazu untersucht sie das Wollen als inneres Vermögen der Menschen zu entscheiden, in welcher Gestalt sie sich in der „Erscheinungswelt“ zeigen möchten. Der Wille schafft demnach mit seinen Projekten sozusagen die „Person“, die für ihren Charakter (ihr ganzes „Sein“) verantwortlich gemacht werden kann. Sie grenzt sich hier von den einflussreichen marxistischen und existentialistischen Thesen ab, die den Menschen als Schöpfer seiner selbst darstellen. Dieser Trugschluss entspreche der modernen Betonung des Wollens als Ersatz für das Denken. Das Urteilen Wie bereits dreißig Jahre zuvor in ihrer Arbeit zur Existenzphilosophie Heideggers und Jaspers’ bezieht Arendt Stellung im mittelalterlichen Universalienstreit und zwar wiederum zugunsten des Nominalismus. In ihrem nicht autorisierten posthum veröffentlichten Fragment Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie reflektiert sie das Zustandekommen von Urteilen als subjektiv. Sie setzt sich mit Kants Theorie des „ästhetischen Urteils“ in der Kritik der Urteilskraft auseinander, wobei sie das ästhetische Urteil als Vorbild für das politische Urteilen ansieht. Dieses Urteil beruhe auf dem Denken ohne die Vermittlung durch einen Begriff oder ein System. Als Beispiel führt Arendt an, dass, wenn man eine Rose als schön bezeichne, man zu diesem Urteil komme ohne die Verallgemeinerung, dass alle Rosen schön sind und daher diese eine auch. Es gibt also keine Kategorie „Rosen“ bzw. eine „Natur der Rose“, vielmehr immer nur die einzelne Rose, die von jeder Person aus ihrer eigenen Perspektive beurteilt wird. Die Erkenntnis der unterschiedlichen Standpunkte bezeichnet sie als „repräsentatives Denken“. Dieses Denken setze voraus, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der eigene ist, ohne die eigene Identität aufzugeben. Urteile beruhten danach nicht auf einer bestimmten verinnerlichten Moralvorstellung. Das Urteilsvermögen, zu dem der Mensch im Stande ist, hat nach Arendts Verständnis etwas mit der Fähigkeit zu tun, den Standpunkt des Anderen einzunehmen und dabei vom eigenen Willen abzusehen. Wirkung Berühmt wurde Hannah Arendt mit ihrem Totalitarismusbuch. Dieses Werk, das heute zum Standard politischer Bildung gehört, brachte ihr viel Zustimmung und zahlreiche Vortragseinladungen ein. „Sie war die erste Theoretikerin, die das Phänomen des Totalitarismus als eine in der Menschheitsgeschichte völlig neue Form politischer Macht verstand.“ Es diente teilweise als Grundlage für einen erweiterten Totalitarismusbegriff und als Argument gegen die nachstalinistische Sowjetunion im Kalten Krieg. Sie geriet damit immer wieder in die Kritik von eher orthodoxen Sozialisten. Gleichzeitig wurden in Fachkreisen, aber auch in Teilen der Linken nicht nur ihre Forschungsergebnisse über den Nationalsozialismus geschätzt, sondern auch ihre frühen Analysen des Stalinismus als totalitäres System. Insbesondere in den USA und in Frankreich haben diese Debatten die Entwicklung einer undogmatischen Neuen Linken gefördert. Der amerikanische Literaturwissenschaftler und palästinensische Aktivist Edward Said, der über den Postkolonialismus arbeitete, zählte Hannah Arendt auf Grund ihrer Rezeption des Schriftstellers Joseph Conrad in The Origins of Totalitarianism zu den Theoretikern des Imperialismus, die sich sowohl „imperialistisch als auch antiimperialistisch“ orientieren. Ihr Lehrer Karl Jaspers bezeichnete das Buch im Vorwort zur dritten Auflage als „Geschichtsschreibung im großen Stil“. Es sei mit den Mitteln historischer Forschung und soziologischer Analyse erarbeitet. Das Werk gebe „die Einsicht, durch welche eine philosophische Denkungsart in der politischen Wirklichkeit erst urteilsfähig wird“. Arendt erteile keine Ratschläge, sondern vermittele Erkenntnisse, die der Menschenwürde und Vernunft dienen. Vor allem in den 1960er Jahren verursachte ihre Reportage über den Eichmann-Prozess in Jerusalem heftige Kontroversen. Die Memoiren Eichmanns, die seinen starken eigenständigen Antisemitismus belegen, standen Hannah Arendt bei der Verfassung der Zeitungsberichte und des Buches noch nicht zur Verfügung. Heute wird in einem großen Teil der Rezeption darauf hingewiesen, dass Arendt Eichmanns Antisemitismus als Motiv unterschätzt habe. Auch gegenwärtig wird diese Arbeit oft abgelehnt oder ignoriert, findet jedoch andererseits – wie alle Werke Arendts – mehr und mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit. So hob z. B. Jan Philipp Reemtsma 1998 hervor, dass sich spätestens seit Arendts Eichmann-Buch die „Pathologisierung der Täter“ als untauglicher Erklärungsversuch erwiesen habe. Bis heute gibt es eine kritische Debatte darüber, wie sie Autoren und deren Texte oft nur auf eine Textstelle hin und ohne Kontext rezipiert, vom Augustinus- über das Totalitarismus-Buch bis zu ihren letzten Veröffentlichungen. Manchmal nennt sie die Umstände in Anmerkungen, häufig nicht, fast immer setzt sie Kenntnisse über Autoren voraus. Jürgen Habermas nahm Hannah Arendt in seine philosophisch-politischen Profile bedeutender Autoren des 20. Jahrhunderts auf, die die Richtung seines Denkens bestimmt hätten. Neben Scholem und Bloch spricht er in Bezug auf Arendt von „faszinierende(r) Bewunderung für den wegweisenden Geist“. Seine sowohl positive als auch kritische Haltung kommt zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Von Hannah Arendt habe ich gelernt, wie eine Theorie des kommunikativen Handelns anzugehen ist; was ich nicht zu sehen vermag, ist, daß dieser Zugang im Widerspruch stehen soll zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft.“ Er bezeichnete Jaspers und Arendt als „unerschrockene Radikaldemokraten“ mit „elitärer Mentalität“. Differenziert setzte er sich bereits seit den 1960er Jahren – wie auch in seinem großen Werk Faktizität und Geltung (1992) – mit ihrer politischen Theorie auseinander, indem er ihre Thesen in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, mehr noch in Vita activa und Über die Revolution, aber auch in ihren späteren, zu Lebzeiten noch nicht veröffentlichten Arbeiten darstellte, teilweise adaptierte, teilweise verwarf oder weiterentwickelte. Der Soziologe Hauke Brunkhorst befasste sich 1999 mit dem Verhältnis zwischen Habermas und Arendt. Habermas habe Übereinstimmungen seiner Theorie kommunikativen Handelns mit Arendts Theorie der Macht und Gewalt entdeckt, halte aber Distanz zu ihrem Aristotelismus und zu ihrer Kritik an der Französischen Revolution. Die Habermas-Schüler Helmut Dubiel, Ulrich Rödel und Günter Frankenberg haben in Die demokratische Frage (1990) versucht, „mit Hilfe von Arendt das Demokratiedefizit der älteren kritischen Theorie zu reparieren“. Damit begann nach Brunkhorst die große Wirkung von Hannah Arendt in den achtziger Jahren, als die civil society (Zivilgesellschaft) auf der Tagesordnung stand. Anlass war demnach einerseits die neoliberale Politik Ronald Reagans und Margaret Thatchers und andererseits die Politik der Sowjetunion. Seyla Benhabib fragt sich, wie die Arendt-Renaissance zu erklären ist. „Nach dem Fall des autoritären Kommunismus und seitdem die marxistische Theorie weltweit den Rückzug angetreten hat, erwies sich Hannah Arendts Denken als die kritische politische Theorie des posttotalitären Augenblicks.“ Auch für die moderne Frauenbewegung sei Arendt „ein beeindruckendes und geheimnisvolles Vorbild, eine unserer ‚früheren Mütter‘“. Die feministische Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren hatte sich hingegen kaum auf Arendt bezogen. Im Jahr 1998 kritisierte Walter Laqueur den „Arendt-Kult“, insbesondere in Deutschland. Besonders auf Schriftstellerinnen übe sie eine Faszination aus, werde als Heldin betrachtet, als größte Philosophin unserer Tage oder aller Zeiten, was sie eventuell auch gewesen sei. „Man erkennt eine faszinierende Diskrepanz zwischen Arendt als politischer Philosophin und ihrem mangelnden Urteilsvermögen in Bezug auf die aktuelle politische Situation.“ Er spricht in diesem Zusammenhang von „gewohnheitsmäßigen Fehleinschätzungen“, wirft ihr, wie Scholem, ihre Haltung zu Israel und Palästina vor und konstatiert mit scharfen Worten eine Distanz zum Judentum. 2005 zählte Ralf Dahrendorf Hannah Arendt mit Einschränkungen zu den wenigen eigenständigen humanistischen und freiheitlichen Denkern des vorigen Jahrhunderts. Ihr wurde häufig vorgehalten, sie unterschätze die sozialen Fragen. 1972 entgegnete sie in einem Gespräch mit Freunden darauf, beispielsweise der Wohnungsbau sei eine Frage der Verwaltung, enthalte aber auch politische Aspekte wie das Integrationsproblem. Sie selbst hat ihr – radikal Traditionen und Weltanschauungen in Frage stellendes – Denken immer wieder ausdrücklich auf das Politische beschränkt. Rahel Jaeggi setzte sich 2008 mit dem politischen Denken in Kontrast und in Verbindung zum sozialen auseinander. Elisabeth Young-Bruehl verwies 2006 darauf, dass Arendts politisches Konzept des Vergebens und des Neubeginnens fünfzehn Jahre nach ihrem Tod in der Wahrheits- und Versöhnungskommission von Südafrika umgesetzt wurde: „Her ideas about forgiveness and her book on Eichmann influenced and were reflected in the action, the new beginning, that brought the South African Truth and Reconciliation Commission (TRC), which, for the first time in history, made forgiveness a guiding principle for a state.“ Es existiert keine philosophische oder politologische Schule, die sich auf Hannah Arendt beruft. Ihr weit verzweigtes Werk bietet die Möglichkeit, passende Versatzstücke für die Begründung der eigenen Position herauszugreifen. Nach eigener Auskunft war sie – anders als viele bedeutende intellektuelle Zeitgenossen – niemals Sozialistin oder Kommunistin, andererseits aber auch nicht durchgängig Zionistin und passte auch in kein anderes Schema hinein. Daher gab es lange Zeit nur wenige Wissenschaftler, wie Jürgen Habermas und Ernst Vollrath, die ihr Gesamtwerk ernst nahmen. Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. In den Zeiten der Postmoderne werden ihr individuelles „Denken ohne Geländer“, ihre Ausführungen über Pluralität und Vielstimmigkeit eher geschätzt, auch weil – wie häufig angemerkt wird – ihr Denk- und ihr Lebensweg ein hohes Maß an Übereinstimmung aufweisen. Etwa seit 1945 konnte Arendt in den USA durchgängig in großem Umfang publizieren, seit 1953 akademisch lehren und in der Öffentlichkeit eine bedeutende Stellung als politische Intellektuelle einnehmen, eine Tatsache, die Thomas Wild folgendermaßen kommentiert: „Eine «Karriere» dieser Art wäre für eine Frau in den Ländern des alten Europas zu jener Zeit kaum vorstellbar gewesen.“ Amos Elon, Journalist und Schriftsteller, ordnete ihre Bedeutung ein mit den Worten „Das 20. Jahrhundert ist ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen.“ Nachlass und Einrichtungen Ihre Bibliothek, die nahezu 4000 Bücher und andere Papiere umfasste, befindet sich seit 1976 im Bard College in New York, das eine Übersicht digitalisiert öffentlich zugänglich macht. Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. (HAIT) in Dresden arbeitet seit 1993. Es hat sich zum Ziel gesetzt, „Diktaturen mit totalitärem Verfügungsanspruch“ zu untersuchen. Historiker und Sozialwissenschaftler sollen auf empirischer Grundlage die politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Nationalsozialismus und des SED-Regimes analysieren. Das Institut führt überdies Tagungen zu Hannah Arendt durch und unterstützt posthume Veröffentlichungen. Die 1997 gegründete ungarische Hannah-Arendt-Gesellschaft richtet sich vor allem an pädagogisches Personal und beschäftigt sich u. a. mit einer Neudefinition der Menschenrechte angesichts der Arendt-These, dass die industrielle Massenvernichtung nur möglich war, weil die Menschenrechte weder philosophisch begründet noch politisch durchgesetzt, sondern lediglich proklamiert worden seien. In Zürich, wo Arendt 1958 den Vortrag Freiheit und Politik gehalten hatte, fanden 1996 bis 2000 jährlich Hannah-Arendt-Tage statt, die sich – jeweils unter einem anderen Blickwinkel – mit ihrem politischen Denken befassten. Seit 1998 werden auch in Hannover jeden Sommer ähnliche Veranstaltungen durchgeführt und deren Ergebnisse publiziert. An der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gründete Antonia Grunenberg 1999 das Hannah Arendt-Zentrum sic!]. Es verfügt über Originale und Kopien des größten Teils der Dokumente aus Arendts Nachlass. Außerdem werden die Hannah Arendt Studien als Buchreihe herausgegeben. Hinzu kommen Tagungen und andere Veranstaltungen zu den Werken Arendts und allgemein zur Geistesgeschichte des vorigen Jahrhunderts. Das Hannah Arendt Center an der New School for Social Research in New York – Arendt war dort in ihren letzten Lebensjahren als Professorin tätig – existiert seit dem Jahr 2000. Sein Leiter ist Jerome Kohn, der bei Arendt wissenschaftlicher Mitarbeiter war, über sie publiziert hat und gegenwärtig ihren Nachlass verwaltet. Seit 2005 wird in Berlin der Internationale Hannah-Arendt-Newsletter herausgegeben mit deutschen, englischen und seltener französischen Beiträgen, darunter auch bisher noch unveröffentlichten Arbeiten Arendts. Ehrungen Der 1990 entdeckte Asteroid „(100027) Hannaharendt“ wurde 2006 nach ihr benannt. Seit 1995 wird der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken vergeben und von der Stadt Bremen sowie der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen finanziert. Etwa seit der Jahrtausendwende kann man von einem Arendt-Boom in Deutschland sprechen. Hannover, Marburg und Heidelberg haben Gedenktafeln an den entsprechenden Wohnstätten angebracht, einige Schulen sowie Straßen und Plätze sind nach ihr benannt, öffentliche Veranstaltungen wie Vorträge, Symposien und Ausstellungen durchgeführt. Aus Anlass ihres 30. Todestages 2005 und kurz darauf zu ihrem 100. Geburtstag erschienen zahlreiche Artikel und Bücher. In den Universitäten und anderen Forschungsstätten interessieren sich zunehmend neben Philosophen, Politologen und anderen Sozialwissenschaftlern auch Historiker und Literaturwissenschaftler für Hannah Arendt. In Berlin wurde 2005 die Straße neben dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas nach ihr benannt. In Wien-Donaustadt wurde 2012 der Hannah-Arendt-Platz und der Hannah-Arendt-Park im neu entstehenden Stadtteil Seestadt Aspern nach ihr benannt. 2015 wurde der vor dem Niedersächsischen Landtag in Hannover liegende Hannah-Arendt-Platz nach ihr benannt. Zudem ist seit 1986 in Hannover ein Weg entlang der Leine als Hannah-Arendt-Weg benannt. Im Jahr 2017 wurde in Bozen ein aus der Zeit des Faschismus stammendes und diesen verherrlichendes Monumental-Relief an der Casa Littoria von den Südtiroler Künstlern Michele Bernardi und Arnold Holzknecht mit der Anbringung eines Hannah-Arendt-Zitats – in verkürzter Form – zu einem öffentlichen Mahnmal umgestaltet. Das Deutsche Historische Museum Berlin widmet ihr in Kooperation mit der Bundeskunsthalle in Bonn eine Ausstellung im Winter 2020/21. Alma Zadić, damals Abgeordnete der Liste Pilz im österreichischen Nationalrat, wählte 2018 ein Gastlokal am Hannah-Arendt-Platz, Wien als Ort für ein Interview: „Ich würde mir viel mehr Straßennamen von starken Frauen in der Innenstadt wünschen und nicht ‚nur‘ hier am Stadtrand.“ In Potsdam, Berlin, Krefeld und Erfurt tragen Gymnasien ihren Namen. Eine neue Straße soll 2022 nach ihr benannt werden. Am Wohnhaus in der Babelsberger Merkustraße 3, in dem sie 1929 mit Günther Stern zusammengelebt hat, wurde am 14. Oktober 2021 eine Gedenktafel angebracht. Auch die im Herbst 2021 gegründete Hannah-Arendt-Akademie der Denker in Starnberg, an der verschwörungstheoretische und pseudowissenschaftliche Inhalte unterrichtet werden, wurde nach ihr benannt. Die Redaktion der Zeitschrift für politisches Denken, die den Hannah-Arendt-Newsletter herausgibt, verurteilte diese Form der „Ehrung“. Mit aus den Kontext gerissenen Zitaten werden die Ideen Arendts instrumentalisiert. Eine Vielzahl der Dozenten sei der Neuen Rechte zuzuordnen und dem Institut gehe es um die Einübung einer „demokratiefeindlichen Grundhaltung“. Werke Bücher, Vorlesungen und größere Schriften Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Berlin 1929. Neuausgaben: (mit einer Einleitung und Anmerkungen von F. A. Kurbacher) Philo Verlagsgesellschaft, Berlin / Wien 2003, ISBN 3-86572-343-8; Meiner Verlag, Hamburg 2018, ISBN 978-3-7873-2990-8, (Dissertation) The Origins of Totalitarianism. New York 1951, dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a. M., 1955; 10. Aufl. Piper, München 2003, ISBN 3-492-21032-5. Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953 (Vorwort und abschließende Bemerkungen zur 1. Auflage von The Origins of Totalitarianism und Kontroverse mit Eric Voegelin). Übers. Ursula Ludz, Kommentar Ingeborg Nordmann. Hannah-Arendt-Institut, Dresden 1998, ISBN 3-931648-17-6. Rahel Varnhagen: The Life of a Jewess. London 1958, dt. Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Piper, München 1959; Neuauflagen: 1981–1998, ISBN 3-492-20230-6. The Human Condition. University Press, Chicago 1958; dt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Kohlhammer, Stuttgart 1960; Piper, München 1967, 3. Aufl. 2002, ISBN 3-492-23623-5. Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil. Viking Press, New York 1963. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Von der Autorin durchgesehene und ergänzte deutsche Ausgabe. Übersetzung Brigitte Granzow. Piper, München 1964. On Revolution. New York 1963, dt.: Über die Revolution. Piper, München 1963, 4. Aufl. 2000, ISBN 3-492-21746-X. Some Questions of Moral Philosophy 1965, dt. Einige Fragen der Ethik. Vorlesung in vier Teilen. In: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Piper, München 2006, ISBN 3-492-04694-0, (engl. Responsibility and Judgment) Einleitung, posthum erstmals veröffentlicht. On Violence. New York / London 1970, dt. Macht und Gewalt. Piper, München 1970; 15. Auflage, 2003, ISBN 3-492-20001-X. Anhang: Adelbert Reif: Interview mit Hannah Arendt zu Macht und Gewalt, 1970. Lectures on Kant’s Political Philosophy. Chicago 1982, dt. Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Piper, München 1985, ISBN 3-492-22560-8, Vorlesung 1970, posthum erstmals veröffentlicht. The Life of the Mind. New York 1978, dt. Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. Bd. 2: Das Wollen. Piper, München 1979, ISBN 3-492-22555-1, Vorlesungen 1973 und 1974, posthum erstmals veröffentlicht. Denktagebuch 1950–1973. Hrsg. Ursula Ludz, Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit m. d. Hannah-Arendt-Institut, Dresden. 2 Bände. Piper, München / Zürich 2002, ISBN 3-492-04429-8, posthum erstmals veröffentlicht. The Jewish Writings. Hrsg. Jerome Kohn, Ron H. Feldman, Schocken, New York 2007, ISBN 978-0-8052-4238-6, Rezensionen: Mir ist, als müsste ich mich selbst suchen gehen. Das private Adressbuch 1951–1975. Hrsg. Christine Fischer-Defoy. Koehler & Amelang, Leipzig 2007, ISBN 978-3-7338-0357-5. Sokrates. Apologie der Pluralität. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Matthes & Seitz, Berlin 2015, ISBN 978-3-95757-168-7, Rezension: Essays, Artikel und kleine Schriften Die verborgene Tradition. Acht Essays (1932–1948). Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1976, ISBN 3-518-36803-6; [vergriffen ab 2010] Jüdischer Verlag, 2000, ISBN 3-633-54163-2, darin: Zueignung an Karl Jaspers. 1947, Über den Imperialismus 1946, Organisierte Schuld 1946, Die verborgene Tradition 1948, (Stefan Zweig) Juden in der Welt von gestern 1944, Franz Kafka, (von Neuem gewürdigt) 1946, Aufklärung und Judenfrage 1932, Der Zionismus aus heutiger Sicht (englisch 1945). What is Existenz Philosophy? New York 1946. Was ist Existenzphilosophie? In: Sechs Essays. Schriften der Wandlung. 3, Heidelberg 1948; Neuerscheinung: Verlag Anton Hain, Frankfurt a. M. 1990, ISBN 3-445-06011-8. Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“ 1941–1945. Hrsg. Marie Luise Knott, Piper, München 2004, ISBN 3-492-24178-6. Sammlung von 40 Texten. From the Dreyfus Affair to France Today. In: Essays on Antisemitism. Koppel S. Pinson (Hrsg.); Salo W. Baron (Vorwort). Conference on Jewish Relations, New York 1946 (nur in dieser 2. Auflage enthalten). Reihe: Jewish Social Studies. Publications, Bd. 2, S. 173–217. Reflections on Literature and Culture. Hrsg. und Vorwort Susannah Young-Ah Gottlieb. Stanford University Press SUP, Stanford, Calif. 2007, ISBN 978-0-8047-4499-7 (engl. Das Buch enthält etliche schwer greifbare Aufsätze Arendts, u. a. aus den 1930er Jahren. U. a. über: Duineser Elegien, Gentz, Adam Müller, Käte Hamburger, Dostojewski: Die Dämonen, Emerson-Thoreau-Preisrede, Franz. Existentialismus, Bernard Lazare, Proust, Kipling (dieser Text ist identisch mit dem entsprechenden Kapitel aus Elemente und Ursprünge), den Maler Carl Heidenreich, von dem das Frontispiz stammt, und Herman Melville. Im Anhang werden Arendts unterschiedliche dt.-engl. Versionen verglichen mit Stefan Zweig, Kafka, „Kultur und Politik“, Brecht.) Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze (1943–1964). Hrsg. Eike Geisel, Klaus Bittermann. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1991, ISBN 3-8031-2196-5 (Übers. d. amerikan. Originalfassung). Inhalt: Wir Flüchtlinge (1943); zur Deutschlandfrage (1945); zu den Nachwirkungen des Naziregimes (Besuch in Deutschland 1950); zum wachsenden Antiamerikanismus, der Atombombe und dem Konformismus der MC-Carthy-Ära (1954); zur Negerfrage und den Grenzen der Integration (1957); zum Recht auf Zivilen Ungehorsam (1970) und zur „Kunst des Vergessens“ nach Vietnam und Watergate (1975). Nach Auschwitz. Essays und Kommentare (1944–1965). Hrsg. Eike Geisel, Klaus Bittermann. Edition Tiamat, Berlin 1989, ISBN 3-923118-81-3. Es gibt nur ein einziges Menschenrecht. In: Die Wandlung. Hrsg. Dolf Sternberger. Lambert Schneider, Heidelberg 4. Jg., Dezember 1949, S. 754–770 (Übersetzung von: ›The Rights of Man‹. What Are They? In: Modern Review. NY 1949, 3 (1), S. 24–36). In der Gegenwart. Übungen zum politischen Denken II. Hrsg. Ursula Ludz. Piper, München 2000, ISBN 3-492-22920-4; Texte 1944–1975, darin u. a.: Gestern waren sie noch Kommunisten …. 1953 und Die Lüge in der Politik. Überlegungen zu den Pentagon Papieren 1971. Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass 1950–1959. Vorwort: Kurt Sontheimer, Hg.: Ursula Ludz. Piper, München 1993, ISBN 3-492-23770-3 (TB 2. Auflage. 2005). Un viatique pour lire Machiavel („Kleine Anleitung, M. zu lesen“) Bisher nicht veröff. Texte von 1955, Vorlesungen an der Univ. Berkeley (frz. Übers. von Marie Gaille-Nikodimov) in: Magazine littéraire, Paris, No. 397, April 2001, dito brasilianisch-port. Übers. (aus dem Frz. von Gabriel Cohn) scielo.br Original, als Scan des Ms. (englisch) siehe Weblinks: The Hannah Arendt Papers, in der Library of Congress, 33 S. (ebenfalls über andere polit. Denker der Zeit, u. a. Locke, Rousseau, Hobbes, Montesquieu, Tocqueville). Mehrere Fassungen Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1957, aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Charlotte Beradt; Inhalt: Geschichte und Politik, Natur und Geschichte, Tradition und Neuzeit, Was ist Autorität? Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus. Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Charlotte Beradt. Piper, München 1958. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Texte 1954–1964. Hg. Ursula Ludz. Piper, München 1994, 2. durchges. Aufl. 2000, ISBN 3-492-21421-5; darin u. a.: Die Krise in der Erziehung 1958, Wahrheit und Politik 1967 (Originalfassung: Between Past and Future. 1961, erweitert 1968). Menschen in finsteren Zeiten. Essays u. a. Texte 1955–1975. Hg. von Ursula Ludz. Piper, München 2001, ISBN 3-492-23355-4. (Originalfassung: Men in Dark Times. New York 1968) Zusammen mit Günther Stern: Rilkes „Duineser Elegien“. (1930) Nachdruck in Ulrich Fülleborn, Martin Engel: Materialien zu Rilkes D. E., Bd. 2: Forschungsgeschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-38510-0, S. 45–65. Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. Hg. und Nachwort Irmela von der Lühe. Piper, München 2015, ISBN 978-3-492-05716-5. Wahrheit und Lüge in der Politik. Piper, München 2013, ISBN 978-3-492-30328-6 (zwei Essays, zuerst veröffentlicht 1971 und 1972). Die Freiheit, frei zu sein. Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthensohn. Nachwort von Thomas Meyer. DTV, München 2018, ISBN 978-3-423-14651-7. Dieser im Zusammenhang mit Über die Revolution (engl. 1963, dt. 1965) entstandene englische undatierte Text ist zu Arendts Lebzeiten nicht erschienen. Laut Thomas Meyer (S. 46) ist es wahrscheinlich, dass ihre am 21. April 1967 in Chicago gehaltene Rede Revolution and Freedom eine veränderte Version dieses Manuskripts darstellt. Stark gekürzte Fassung dieses Essays als Vorabdruck: Revolutionen. Die Freiheit, frei zu sein; von Hannah Arendt. In: Die Zeit, Nr. 2/2018, S. 42. Englisches Original: Never-Before-Published Hannah Arendt on What Freedom and Revolution Really Mean. Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? Piper, München 2018, ISBN 978-3-492-23828-1. Reden und Vorträge Karl Jaspers. In: Reden zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1958. Piper, München 1958; wieder in H. A.: Menschen in finsteren Zeiten. Piper, 1968 u. ö., S. 89–98; in Audio-Version: Von Wahrheit und Politik. 5 CDs: Originalaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren. DHV Der Hörverlag, 2006, ISBN 3-89940-906-X. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg. EVA, Hamburg 1999, ISBN 3-434-50127-4. Vortrag aus dem Jahr 1968. Die Sonning-Preis-Rede. Kopenhagen 1975. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Hrsg. Heinz Ludwig Arnold. 166/167, Schwerpunkt: Hannah Arendt, IX/05, ISBN 3-88377-787-0. Interviews und Hörtexte Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus. Zur Person – Porträts in Fragen und Antworten. Gespräch, ZDF, 72 Min., 28. Oktober 1964. Das Fernsehinterview ist verfügbar in der ZDF-Mediathek und auf YouTube (Transkript). Vgl. Besprechung von Matthias Dell: Dem Denken beim Reden und Rauchen zuschauen – Frühe Interviews von Günter Gaus auf zwei DVDs. In: der Freitag, 19. August 2005: „Das schönste Gespräch, hat Günter Gaus […] gesagt, sei das mit Hannah Arendt gewesen.“ Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hrsg. von Ursula Ludz. Piper, München 1996, Neuauflage 2005, ISBN 3-492-24591-9, (darin das Gaus-Interview, ein Interview mit Thilo Koch 1964, und eines mit Roger Errera, Oktober 1973). Gespräche mit Hannah Arendt. Hrsg. Adelbert Reif. Piper, München 1979, ISBN 3-492-00438-5. Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964. Hrsg. von Ursula Ludz und Thomas Wild (Transkription, Vorbemerkung und Anmerkungen), Oktober 2007, . Die Sendung selbst ist verfügbar unter archive.org. Hannah Arendt und Joachim Fest. „Eichmann war von empörender Dummheit“. Gespräche und Briefe. Hrsg. von Ursula Ludz und Thomas Wild. Piper, München 2011, ISBN 978-3-492-05442-3. Hannah Arendt: Das Böse ist immer nur extrem, aber niemals radikal. 25 ausgewählte Texte, gelesen von Axel Grube. Alle Texte und Kommentare stehen auch auf der Verlagsseite. Onomato, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-939511-11-3 (weitere kpl. Aufnahme: Jokers Edition, 2 CDs, ISBN 978-3-939511-43-4). Korrespondenz Mit: Günther Anders: Hannah Arendt – Günther Anders. Schreib doch mal hard facts über Dich. Briefe 1939 bis 1975, Texte und Dokumente. Hrsg. Kerstin Putz. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69910-8. Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen: Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff. Hrsg. Ingeborg Nordmann, Ursula Ludz. Piper, München 2017, ISBN 978-3-492-05858-2. Walter Benjamin: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente. Hrsg. Detlev Schöttker, Erdmut Wizisla. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-29395-8. Kurt Blumenfeld: … in keinem Besitz verwurzelt. Die Korrespondenz (1933–1963). Hrsg. Ingeborg Nordmann, Iris Pilling, Hamburg 1995, ISBN 3-88022-806-X. Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968. Hrsg. Lotte Köhler. Piper, München 1999; 2. Aufl. 2002, ISBN 3-492-03885-9. Hermann Broch: Briefwechsel 1946–1951. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1996; 2. Auflage, 2000, ISBN 3-633-54113-6. Joachim Fest: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Hrsg. Ursula Ludz, Thomas Wild. Piper, München 2011, ISBN 978-3-492-05442-3. Martin Heidegger: Ursula Ludz (Hrsg.): Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Klostermann, Frankfurt am Main 1998; 3., erweiterte Aufl. ebenda 2002, ISBN 3-465-03205-5, darin: H.A. für M.H.: Schatten. April 1925. Karl Jaspers: Correspondence 1926–1969. Hrsg. Lotte Köhler, Hans Saner. New York 1992 (dt.: Briefwechsel 1926–1969. Piper, München 2001, ISBN 3-492-21757-5). Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1967–1975. Hrsg. Eberhard Fahlke, Thomas Wild. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-41595-6. Kazin in: Zs. Samtiden. Oslo, Norge, Nr. 1-2005, Spesialseksjon Hannah Arendt. S. 107–154 (Briefe: S. 120–141, übrige S.: Introduction & Anm. von Helgard Mahrdt, engl.) Universitetsforlaget Oslo, ISBN 82-03-28347-0, . Mary McCarthy: Between Friends: The Correspondence of Hannah Arendt and Mary McCarthy, 1949–1975. Hrsg. Carol Brightman. New York 1995 (dt.: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975. München 1995, ISBN 3-492-22475-X). Gershom Scholem: Eichmann in Jerusalem: Exchange of Letters between Gershom Scholem and Hannah Arendt. In: Encounter. 22/1 (1964), S. 51–56, deutsch in: Neue Zürcher Zeitung, 19. Oktober 1963. Der Briefwechsel. (1939–1964). Hrsg. Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-633-54234-5. Dolf Sternberger: „Was Sentimentalität auch in gutem Sinne anlangt habe ich die Seele eines besseren Schlächterhundes.“ Hannah Arendt erläutert Dolf Sternberger ihre Position. Brief vom 12. Juli 1948, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur. Hrsg. Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur, Michael Brenner. 2013, Jg. 6, H. 2, S. 69–74, (mit anschl. Kommentar von Marie-Luise Knott), , online-Heft, (PDF; 14,42 MB). (PDF; 14 MB) Dolf Sternberger: „Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär“. Briefwechsel 1946 bis 1975. Herausgegeben von Udo Bermbach. Rowohlt, Berlin. Paul Tillich: Briefwechsel. Edition/Source Document. Hrsg. Alf Christophersen, Claudia Schulze. In: ZNThG Zs. für neuere Theologiegeschichte. Bd. 9, de Gruyter, Berlin 2002, S. 131–156. Eric Voegelin: Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. Hrsg. Hannah-Arendt-Institut in Zusammenarbeit mit dem Voegelin-Zentrum. V&R unipress, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8471-0492-6. Mehrere Adressaten: Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde. Hrsg. Ingeborg Nordmann. Piper, München 2013, ISBN 978-3-492-05542-0. Bibliografien Für die Werke und Texte Arendts bis 1996 gibt es die fast vollständige chronologische, deutsch-englische Bibliografie in Ich will verstehen (2005) und bei Young-Bruehl (diese nur bis 1978). Hilfreich sind die Angaben des Internet-Portals www.hannaharendt.net. insbesondere auch fremdsprachige Literatur, nach Erscheinungsjahr geordnet (Sek.-Lit. seit 2000, primäre seit 1929). Nützlich ist ebenfalls die leicht zugängliche Einführung von Wolfgang Heuer, die in der letzten Auflage einen Großteil von Arendt-Texten auflistet, welche bis 2003 erschienen sind. Im „Text & Kritik“-Heft von 2005 hat Sarah Hemmen die Sekundärliteratur gelistet. Eine neueste Auflistung (Primär- und Sekundär-Literatur) bei Thomas Wild (2006), S. 143 ff., der im Text auch die Sekundärliteratur kurz darstellt und kommentiert. Eine weitere, übersichtliche Bibliografie (primär und sekundär) ist online zugänglich. Joan Nordquist hat 1989 eine wissenschaftliche Bibliographie nur englischer Titel vorgelegt: University of Santa Cruz, 63 Seiten. Die ausführlichste Liste gibt es seit 2018 in John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt, Sandra H. Hawrylchak (Hrsg.): Bibliographien. Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler in den USA. Teil 1: A – G. de Gruyter, Berlin 2018, ISBN 978-3-11-097553-6, in Google Bücher, ausführliches Werks- und Rezensionsverzeichnis mit 31 Treffern über die dortige Suchmaschine, etliche davon sind mehrseitig. Sammlungen Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966. Zusammengestellt und herausgegeben von Marie Luise Knott und Ursula Ludz, Piper, München 2019, ISBN 978-3-492-05561-1. Freundschaft in finsteren Zeiten [Die Lessing-Rede mit Erinnerungen von Richard Bernstein, Mary McCarthy, Alfred Kazin und Jerome Kohn]. Matthes & Seitz, Berlin 2018, ISBN 978-3-95757-606-4. Denken ohne Geländer. Texte und Briefe. Piper München, Zürich 2006, ISBN 3-492-24823-3 (Zusammenstellung kurzer Textauszüge zur Philosophie, zum politischen Denken, zum politischen Handeln, zur Situation des Menschen, Lebensgeschichten). Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. Ursula Ludz. Piper, München 1996; Neuauflage 2005, ISBN 3-492-24591-9 (darin u. a. Brief an Scholem 1963, Fernsehgespräche mit Thilo Koch 1964, Günter Gaus 1964, Roger Errera 1973, Diskussion mit Freunden in Toronto 1973). Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964. Hg. Ursula Ludz und Thomas Wild (Vorbemerkung und Anmerkungen), Okt. 2007, . Hannah Arendt und Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969. Piper, München 2001, ISBN 3-492-21757-5. Kritische Gesamtausgabe Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin / The Life of a Jewish Woman, Kritische Gesamtausgabe Band 2, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, ISBN 978-3-8353-3767-1. Sechs Essays: Die verborgene Tradition, Kritische Gesamtausgabe Band 3, Wallstein Verlag, Göttingen 2019, ISBN 978-3-8353-3278-2. The Modern Challenge to Tradition: Fragmente eines Buchs, Kritische Gesamtausgabe Band 6, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, ISBN 978-3-8353-3192-1. Rezension der GA: Marti-Brander Urs: Arendt revisited. Ein Blick auf die ersten beiden Bände der Arendt-Gesamtausgabe. Neue Politische Literatur, Springer 2019. Elke Schmitter: Ende der Lotterie. Der Spiegel, #7, 9. Februar 2019, S. 110f. Literatur Barbara Bechtolsheim: Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Biografie eines Paares. Insel, Berlin 2023, ISBN 978-3-458-64297-8. Delbert Barley: Hannah Arendt. Einführung in ihr Werk (= Alber-Kolleg Philosophie). Alber, Freiburg im Breisgau 1990, ISBN 3-495-47662-8. Monika Boll, Dorlis Blume, Raphael Gross (Herausgeber): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Piper, München 2020, ISBN 978-3-492-07035-5. Karl-Heinz Breier: Hannah Arendt zur Einführung. 4. Auflage. Junius, Hamburg 2011, ISBN 978-3-88506-345-2. Aufsätze zur Aktualität von Arendt. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, 25. September 2006. Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit: Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943). Klett-Cotta, 2020, ISBN 978-3-608-96460-8. Antonia Grunenberg: Arendt. Herder, Freiburg im Breisgau 2003, ISBN 3-451-04954-6. Bruno Heidlberger: Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken. Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien. Transcript, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8376-6658-8. Wolfgang Heuer: Hannah Arendt. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1987, 7. Auflage, 2004, ISBN 3-499-50379-4 (auch in Französisch, ISBN 2-87711-296-9 und in Polnisch, ISBN 83-926276-0-1). Wolfgang Heuer, Bernd Heiter, Stefanie Rosenmüller (Hrsg.): Arendt-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. J.B. Metzler, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-476-02255-4. Derwent May: Hannah Arendt. Eine bedeutende Repräsentantin deutsch-jüdischer Kultur. Heyne, München 1990, ISBN 3-453-03795-2. Alois Prinz: Hannah Arendt oder Die Liebe zur Welt. Insel, Berlin 2012, ISBN 978-3-458-35872-5. Sibylle Quack: Cora Berliner, Gertrud Kolmar, Hannah Arendt. Straßen am „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ehren ihr Andenken (= Jüdische Miniaturen. Band 33). Hentrich & Hentrich, Berlin 2005, ISBN 3-938485-12-4. Philosophie-Magazin: Hannah Arendt – Die Freiheit des Denkens. Sonderausgabe Juni 2016. Judith N. Shklar: Über Hannah Arendt. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hannes Bajohr, Matthes & Seitz, Berlin 2020, ISBN 978-3-95757-797-9. Grit Straßenberger: Hannah Arendt zur Einführung. Junius, Hamburg 2015, ISBN 978-3-88506-089-5. Annette Vowinckel: Arendt (= Grundwissen Philosophie). Reclam, Leipzig 2006, ISBN 3-379-20303-3. Thomas Wild: Hannah Arendt. Leben, Werk, Wirkung (= Suhrkamp-BasisBiographie, Band 17). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-18217-X. Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Fischer, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-596-16010-3 (amerikanische Originalausgabe: Hannah Arendt. For Love of the World, Yale University Press, 1982; umfassende Biografie). Filme Hannah Arendt und die Pflicht zum Ungehorsam. Dokumentarfilm, Deutschland, 2015, 90 Min., Buch und Regie: Ada Ushpiz, Produktion: Intuitive Pictures, arte, WDR, Erstsendung: 1. Februar 2017, 22 Uhr bei arte, Inhaltsangabe von ARD, online-Video. Hannah Arendt – Ihr Denken veränderte die Welt. Spielfilm, Deutschland, Luxemburg, Frankreich, Israel 2012, 113 Min., Buch: Pamela Katz, Margarethe von Trotta, Regie: Margarethe von Trotta. Mit Barbara Sukowa als Hannah Arendt und Axel Milberg als ihr Ehemann Heinrich Blücher. (Der Spielfilm zeichnet Arendts Leben in New York in der Zeit des Eichmann-Prozesses bis zum Erscheinen ihres Buches Eichmann in Jerusalem nach.) Am 8. September 2012 fand auf dem internationalen Filmfestival in Toronto (TIFF) die Welturaufführung des ersten Spielfilms über Hannah Arendt statt; die deutsche Premiere folgte am 8. Januar 2013 in Essen. Das Doku-Drama wurde häufig rezensiert. Denken und Leidenschaft. Hannah Arendt. (Alternativtitel: A Passionate Thinker.) Dokumentarfilm, Deutschland 2006, 67 Min., Buch: Clarissa Ruge und Ursula Ludz, Regie: Jochen Kölsch, Produktion: arte, BR, SWR (Der Dokumentarfilm zeichnet Arendts Leben nach, von der Jugend bis zum Eichmann-Prozess. Eingearbeitet sind Passagen aus dem Gaus-Interview.) Hannah Arendt – Das Mädchen aus der Fremde. Dokumentarfilmreihe in fünf Teilen à 15 Min., 2006, Buch: Carolin Otto, Produktion: Bayerischer Rundfunk, Erstsendungen ab: 5. Oktober 2006 bei BR-alpha, Inhaltsangaben. Deutsche Lebensläufe: Hannah Arendt – Eine Jüdin aus Deutschland. Dokumentation, Deutschland, 60 Min., Simone Reuter und Monika Boll, Produktion: SWR, Erstsendung: 20. Januar 2005 bei SWR Fernsehen, Inhaltsangabe von ARD. Mit Interviews von Elisabeth Young-Bruehl, Joachim Fest, Daniel Cohn-Bendit u. a. Der Film erhielt den LiteraVision-Preis 2006. Hannah Arendt, la jeune fille étrangère. Dokumentarfilm, Frankreich, 1997, 51 Min., Buch und Regie: Eglal Errera und Alain Ferrari, Produktion: Cinétévé, La Sept Arte, INA, Centre Georges-Pompidou. Der Film basiert auf Arendts Korrespondenzen mit Heidegger, Jaspers, Kurt Blumenfeld und Heinrich Blücher. Theaterstücke Totenauberg. Theater- und Tanz-Stück von Elfriede Jelinek. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, ISBN 3-498-03326-3, Hauptpersonen: Heidegger und Arendt. Leidenschaftlich: Hannah Arendt. Freie Theatergruppe klimaelemente, Münster 2005. Die Banalität der Liebe. Theaterstück von Savyon Liebrecht über Arendts Beziehung zu Heidegger. UA: 9. September 2007, Theater Bonn, Regie: Stefan Heiseke. Geburtlichkeit und Sein zum Tode. Theaterstück von Fanny Brunner und Eva Bormann über die Beziehung Arendt – Heidegger. UA: 20. Mai 2012, Hessisches Landestheater Marburg, Regie: Fanny Brunner. Hannah! Das Erwachen eines politischen Bewusstseins. 2022, Hessisches Landestheater Marburg, Regie: Christian Franke, Hannah! Das Erwachen eines politischen Bewusstseins Ausstellungen Hannah Arendt: „Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit.“ Eine Ausstellung über H. A. und die Literatur. Konzept: Barbara Hahn & Marie Luise Knott im Literaturhaus Berlin (dort Archiv, 2007). Katalog: gleicher Titel, Matthes & Seitz, Berlin 2006, ISBN 3-88221-921-1. Hannah Arendt Denkraum. Berlin 2006, in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule, Halberstadt 2008. Kurator: Peter Funken, Idee: Wolfgang Heuer & Sebastian Hefti. Via Activa. Ausstellung sieben bedeutender Autorinnen, darunter Hannah Arendt, im Wiener Stephansdom, Wien 2013, Konzept: Victoria Coeln. Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, Deutsches Historisches Museum, und Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, Rundfunk Berlin-Brandenburg, zu sehen auch in der Bundeskunsthalle Bonn Belletristik Randall Jarrell: Pictures from an Institution. A Comedy. Chicago 1954 (Neuauflage 1986). Jarrell widmete das Buch seiner Frau und H.A., mit der ihn eine Freundschaft verband. Die Figur „Irene“ trägt Arendts Züge. Uwe Johnson: Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Bd. 1. Suhrkamp, Frankfurt 1970. Die entsprechende Romanfigur trägt den Titel „Gräfin Seydlitz“. Arthur Allen Cohen: An Admirable Woman. David R. Godine Publ., Boston/USA 1984 (Neuauflage 1994). Für die Hauptfigur „Erika Herz“ diente H.A. als Vorbild. Catherine Clément: Martin und Hannah. Roman. Rowohlt, Berlin 2000, ISBN 3-87134-400-1 (aus d. Franz.). Leslie Kaplan: Fever. POL, Paris 2005; Berlin Verlag, 2006. (Ein philosophischer Roman nach Hannah Arendts Eichmann-Buch. Kaplan greift Arendts Thesen zu Kommunikation, Freiheit und Schuld auf.) Hildegard Elisabeth Keller: Was wir scheinen. Roman. Eichborn, Köln 2021. Graphic Novel Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt. Übersetzt von Hanns Zischler. dtv, München 2019, ISBN 978-3-423-28208-6. Weblinks Datenbanken The Hannah Arendt Papers. Manuscript Division, Library of Congress; loc.gov (PDF; 203 kB) Biografien Sibylle Duda, Luise F. Pusch: Kritische Gesamtausgabe https://hannah-arendt-edition.net/ bisher: Sechs Essays / Die verborgene Tradition Verschiedenes Linkliste zu Hannah Arendt im Deutschen Bildungsserver Iris Därmann im Gespräch mit René Aguigah: Rassismus bei Hannah Arendt: Blind für den Widerstand der Kolonisierten auf Deutschlandfunk Kultur Interview durch Günter Gaus: Hannah Arendt – die politische Denkerin. In: ZDF (Hrsg.): Zur Person. 28. Oktober 1964. Anmerkungen Politischer Philosoph Philosoph (20. Jahrhundert) Publizist Verlagslektor Kolumnist Sachbuchautor Politische Literatur Literatur (Deutsch) Literatur (Englisch) Essay Brief (Literatur) Person (Judentum) Person (Widerstand gegen den Nationalsozialismus) Person (Aufarbeitung des Nationalsozialismus) NS-Opfer Eichmann-Prozess Hochschullehrer (Princeton University) Hochschullehrer (University of Chicago) Hochschullehrer (The New School) Hochschullehrer (Brooklyn College) Träger des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Person als Namensgeber für einen Asteroiden Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus Deutscher Emigrant in Frankreich Deutscher Emigrant in den Vereinigten Staaten Deutscher Staatenloser US-Amerikaner Geboren 1906 Gestorben 1975 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buch%20der%20Psalmen
Buch der Psalmen
Das Buch der Psalmen, auch der Psalter genannt (), ist eine Zusammenstellung von 150 poetischen, im Original hebräischen Texten innerhalb der Bibel. Als Gesamtkomposition vollzieht der Psalter eine Bewegung von der Klage (ab Psalm 3) zum Lob (gipfelnd in Psalm 150) und von einem Individuum, das die Tora meditierend „murmelt“ (Psalm 1), zu einem großen Gottesdienst mit Musik, in die zuletzt alles Lebendige einstimmt (Ps 150,6). Im Hintergrund vieler Psalmen steht der Jerusalemer Tempel. Die ältere Forschung versuchte, anhand von Psalmen den frühen Jerusalemer Kult zu rekonstruieren. Die neuere Exegese ist hier viel zurückhaltender und sieht die Psalmen mehr als Literatur aus dem Umkreis des Tempels. Viele Psalmen werden durch ihre Überschrift König David zugeschrieben, einige mit Situationen aus seinem Leben verbunden. Dieses Phänomen ist in der griechischen Übersetzung (Septuaginta-Psalter) ausgeprägter als im hebräischen Buch der Psalmen. In einem nächsten Schritt wurde der ganze Psalter in hellenistisch-frührömischer Zeit unter die Verfasserschaft Davids gestellt und als sein „geistliches Tagebuch“ gelesen. Die weitere Rezeptionsgeschichte der biblischen Davidsfigur in Judentum und Christentum kombiniert den Kämpfer und Politiker David, wie er in den Samuelbüchern dargestellt ist, mit dem schwachen und verfolgten Beter-Ich der Psalmen. Im Judentum wie auch im Christentum war der Psalter zunächst ein privater Meditationstext, bevor Psalmen in die Liturgien von Synagogen und Kirchen integriert wurden. Name und Stellung im Kanon Die Bezeichnung war bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. bekannt; der früheste Beleg ist das Qumran-Manuskript 4Q491. Gemeint war damit eine Schriftrolle (sefær) mit einigen Psalmen, nicht unbedingt die Zusammenstellung von 150 poetischen Texten, wie sie der Masoretische Text bietet. Der unregelmäßige männliche Plural geht auf die weibliche Singularform zurück, mit der jedoch allein Psalm 145 überschrieben ist. Zur Wahl der Bezeichnung təhillîm für die gesamte Textsammlung hat möglicherweise der vom selben Wortstamm „preisen“ abgeleitete populäre liturgische Kehrvers Halleluja () beigetragen. Die Charakterisierung der Einzeltexte als „Rühmung, Lobpreis, Lobgesang“ ist nicht unmittelbar plausibel, da der vordere Teil des Buchs viele Klagepsalmen enthält. Er erschließt sich durch die Gesamtkomposition, die nach Bernd Janowski einen „Erfahrungsweg“ von der Klage zum Lob abschreitet. Die in der christlichen Tradition übliche Bezeichnung Buch der Psalmen geht zurück auf „Saitenlied“ vom Verb ψάλλειν psállein, „ein Saiteninstrument spielen“. Als die Hebräische Bibel in hellenistischer Zeit ins Griechische übersetzt wurde (Septuaginta), wählte man dieses Wort zur Wiedergabe von „kantilierender Sprechgesang mit Saitenspielbegleitung“, mit dem 57 der 150 Psalmen überschrieben sind. Unter den großen spätantiken Septuaginta-Handschriften hat der Codex Vaticanus den Buchtitel „Saitenlieder“, der Codex Alexandrinus dagegen , was hier wohl „Sammlung von Saitenliedern“ bedeutet. Hinter diesen Benennungen steht das Bild des ein Saiteninstrument spielenden David (vgl. ). Er galt als Psalmdichter schlechthin. In jüdischen Bibelausgaben befindet sich das Psalmenbuch im dritten Hauptteil, den „Schriften“ (Ketuvim), und dort meist am Anfang – die Abfolge der einzelnen biblischen Bücher ist aber nicht ganz festgelegt. Im christlichen Alten Testament gehört das Psalmenbuch zur Weisheitsliteratur und steht dort nach dem Buch Hiob/Ijob an zweiter Stelle. Entstehungszeit und -ort Die Datierung der Einzelpsalmen ist mit großen Unsicherheiten behaftet. In ihrer jetzigen Textgestalt stammen die meisten Psalmen wahrscheinlich aus der Zeit des Zweiten Tempels (Perserzeit bis hellenistische Zeit bzw. 6.–2. Jahrhundert v. Chr.). Für eine Reihe von Psalmen wird aber eine ältere Vorform vermutet. Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld machen hierzu folgende Vorschläge: Die Königspsalmen (Psalm 2, 18, 21, 45, 72 und 110) könnten aus den Feierlichkeiten bei der Einsetzung eines neuen Königs in Jerusalem stammen. Psalmen, die den Tempel als königliche Residenz JHWHs feiern (Psalm 24, 29, 93) können ebenso aus dem vorexilischen Jerusalemer Kult stammen wie die Zionshymnen (Psalm 46, 47, 48, 76). Die älteste Fassung von Psalm 80 könnte sich auf den Untergang des Nordreichs Israel 722 v. Chr. beziehen, Psalm 74 die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 586 v. Chr. beklagen. Bei anderen Psalmen gibt es Indizien, die für eine späte Entstehung sprechen. So setzen die Psalmen 105 und 106 möglicherweise den Pentateuch in seiner Endgestalt voraus und wären dann erst nach 400 v. Chr. verfasst worden. Einige Psalmen sind Neubearbeitungen von ebenfalls im Psalter vorhandenen Psalmen und entsprechend jünger. Beispielsweise ist Psalm 144 eine Relecture von Psalm 18 unter Benutzung der Psalmen 8 und 139. Psalmen als Poesie Psalmen tragen die Kennzeichen hebräischer Poesie. Diese hat Ähnlichkeit mit ugaritischer, akkadischer und sumerischer Poesie und unterscheidet sich von Lyrik in europäischen Sprachen. Neben lautlichen Phänomenen (Assonanzen, Reime) ist der Parallelismus membrorum (lateinisch: „Parallelität der Versglieder“) ein Strukturmerkmal des Verses. Als „Vers“ gilt dabei eine zwei-, seltener dreigliedrige Einheit. Diese Glieder werden als Kolon (Plural: Kola) bezeichnet (Bikolon: zweigliedrig, Trikolon: dreigliedrig). In der Literatur zu Psalmen begegnet auch der Begriff Stichos, der uneinheitlich für einen Vers oder Halbvers gebraucht wird. Parallelismus membrorum Einen Parallelismus membrorum erkennt man daran, dass einzelne Elemente der Kola einander formal und inhaltlich so entsprechen, dass daraus eine Sinneinheit – der Vers – entsteht. Die Art der Entsprechung kann unterschiedlich sein; diese Beobachtung nutzte Robert Lowth 1778 zu einer Typologie der hebräischen Poesie. Der Parallelismus membrorum ist eine Konvention (nicht nur) der hebräischen Versdichtung, wird aber gern auch anthropologisch gedeutet: Dahinter stehe die Erfahrung, dass sich die Realität nicht direkt erfassen lasse, sondern aus zwei verschiedenen Perspektiven oder durch Hinzunahme des Gegenteils betrachtet werden sollte. Heute unterscheidet man fünf Typen von Parallelismen, die im Psalter vorkommen: synonymer Parallelismus; synthetischer Parallelismus; antithetischer Parallelismus; parabolischer Parallelismus; klimaktischer (auch: repertierender oder tautologischer) Parallelismus. Synonymer Parallelismus Beispiel: () „Mensch“ und „Adamskind“ entsprechen sich ebenso wie „gedenken“ und „sich kümmern.“ Anstelle der Form A B // A’ B’, die hier gewählt wurde, kann der synonyme Parallelismus auch chiastisch gebaut sein: A B // B’ A’. Der poetische Reiz besteht darin, die feinen Unterschiede zwischen beiden Versteilen wahrzunehmen. Synthetischer Parallelismus Beispiel: () Der zweite Versteil führt den ersten ergänzend fort, ohne dass parallele Elemente festgestellt werden können. Es ist also eigentlich kein „Parallelismus“. Trotzdem hat sich die von Lowth begründete Klassifizierung derartiger sequenziell gebauter Verse als Parallelismus bewährt. Antithetischer Parallelismus Beispiel: () „Aufhelfen“ und „erniedrigen“ sind Gegensätze, ebenso wie „Arme“ und „Frevler“. Wer dieses letztere Gegensatzpaar erkennt, hat damit auch eine inhaltliche Botschaft verstanden: Arme Menschen sind moralisch positiv qualifiziert. Parabolischer Parallelismus Beispiel: () Im ersten Kolon findet sich die Bildhälfte, im zweiten die Sachhälfte eines Vergleichs. Klimakterischer Parallelismus Beispiel: () Dieser Parallelismus, meist ein Trikolon, entwickelt einen Gedanken stufenartig weiter und wiederholt dabei das Schlüsselwort (hier: „Wasserströme“). Er ist im Psalter relativ selten, aber in poetischen Texten aus Mesopotamien häufig anzutreffen. Hebräische Metrik Dass der Parallelismus membrorum so hervortritt, liegt auch daran, dass die Lautgestalt der Psalmen und damit Alliteration, Rhythmus und Reim nicht sicher rekonstruierbar sind, da der hebräische Konsonantentext erst im Frühmittelalter mit Vokal- und Akzentzeichen versehen wurde. Man weiß also nicht, wie die Psalmen zur Zeit ihrer Entstehung geklungen haben. Nach Klaus Seybold lassen sich mit Hilfe des akzentuierenden Systems (Hauptakzent auf jedem Wort) in den Psalmen mehrere Rhythmen „leidlich“ wahrnehmen: Metrum des Weisheitsspruchs (Maschal), sehr häufig: 3+3; Staccato-Vers, als Zweier oder Vierer: 2+2/4+4; Metrum der Totenklage (Qina): 3+2. Hier ein Beispiel des „hinkenden“ Qina-Metrums: „Gefallen ist, nicht steht wieder auf / die Jungfrau Israel.“ Klangliche Beobachtungen am Text eines Psalms erhalten dann besonderes Gewicht, wenn sie mit formalen und inhaltlichen Beobachtungen übereinstimmen. So steht inhaltlich und formal im Zentrum von Psalm 90, und ausgerechnet hier begegnen Sprachrhythmus und Endreim: Wer erkennt die Macht deines Zorns und, wie du zu fürchten bist, dein Überwallen! Unsre Tage zu bestimmen, laß es recht kennen, daß ein Herz der Weisheit einkomme uns! (Übersetzung: Buber/Rosenzweig) Struktursignale Innerhalb des Psalms gruppieren sich die Verse (Bi-, seltener Trikola) auf verschiedene Weise. Ein Vers kann mehrmals wiederholt und so zum Refrain werden, der Strophen markiert. Psalm 119 teilt sich in Strophen zu je acht Versen, die jeweils mit dem gleichen Buchstaben beginnen. So geht dieser lange Psalm von Alef bis Taw das gesamte hebräische Alphabet durch. Weitere Beispiele für alphabetische Akrosticha sind die Psalmen 9/10, 25, 111, 112. Den Beginn einer neuen Strophe können Tempuswechsel, Wechsel der Sprechrichtung oder Signalwörter (zum Beispiel: „fürwahr“, „und nun“, „ich aber“) andeuten; oft kommen mehrere dieser Struktursignale zusammen. Musikalische Aufführung Eine Instrumentalbegleitung des Psalmgesangs wird in den Psalmen selbst häufig erwähnt, in erster Linie mit gezupften oder geschlagenen Saiteninstrumenten. Auch Handpauke (mehr für Umzüge und Tänze) und Langflöte kommen vor. Man kann aber nicht direkt von der Nennung der Instrumente auf die Kultmusik im Tempel rückschließen, wie Psalm 150 illustriert. Eröffnet vom Signalton des Schofar, vereinen sich im großen Finale des Psalters kultische und profane Musikinstrumente zu einem imaginären Orchester als Begleitung für das vielstimmige, gesungene Gotteslob. Die Psalmenüberschriften enthalten Angaben zur Aufführungspraxis, diese sind allerdings dunkel. Ansatzpunkt für die Interpretation ist, dass einige der Fachbegriffe im 1. Buch der Chronik in einer Liste des Kultpersonals ebenfalls vorkommen: nennt die Obersänger Heman, Asaf und Etan, die mit bronzenen Zimbeln musizieren, „um zu Gehör zu bringen“ (), und zwei Gruppen von Musikern zweiten Ranges: eine Gruppe mit Harfen „nach Alamot“ (, ebenfalls in der Überschrift von Psalm 46) und eine Gruppe mit Leiern „auf dem achtsaitigen Instrument“ (, ebenfalls in der Überschrift von Psalm 6 und Psalm 12), „zum Leiten“ (). Das zuletzt genannte „Leiten“ des Gesangs begegnet als Partizip in der Überschrift von 55 Psalmen. Der „Leitende“ wird üblicherweise übersetzt als „Musikmeister, Dirigent, Chormeister.“ In 39 Psalmen begegnet, teilweise mehrfach, das Struktursignal Sela (). Es ist wahrscheinlich erst von der Psalterredaktion in den Text eingesetzt worden. Für die Interpretation geht man von dem zugrunde liegenden Verb s-l-h aus, das „aufschütten, erheben“ bedeutet. Versteht man sælāh als musikalischen Fachbegriff, führt dies zu Interpretationen wie: Erheben der Stimme, Pausen- oder Wiederholungszeichen. Der Septuaginta-Übersetzer verstand sælāh als musikalisches Zwischenspiel (). Es ist aber auch möglich, dass es sich um einen Hinweis an den Kopisten handelt, hier einen Zwischenraum zu lassen. Form- und Gattungskritik Die Grundidee der Form- und Gattungskritik ist, dass es kulturtypische Textsorten gibt, die man an ihrem Inhalt und an bestimmten äußeren Merkmalen erkennen kann. Um diese Textsorten verstehen zu können, muss man sie von ihrem Anlass her interpretieren. Dieser „Sitz im Leben“ wurde von der Formkritik bei vielen Psalmen im Tempelkult vermutet. Die neuere Forschung ist zurückhaltender darin, den Gottesdienst im Tempel rekonstruieren und Psalmen darin ihren Platz zuweisen zu können. „Vielmehr dient die Gattungsbestimmung der Erschließung sprachlicher und textlicher Phänomene auf der literarischen Ebene.“ Forschungsgeschichte Johann Gottfried Herder forderte, die Psalmen in ihrer Eigenart und aus ihrer orientalischen Kultur heraus zu verstehen (Vom Geist der ebräischen Poesie, 1782/83). Wilhelm Martin Leberecht de Wette übernahm in seiner Weimarer Zeit Anregungen Herders: Das Buch der Psalmen definierte de Wette als „lyrische Anthologie“, die einzelnen Psalmen zeigten die menschlichen Emotionen als Reaktion auf das Göttliche (Kommentar über die Psalmen, 1811). De Wette las die Psalmen als Einzeltexte mit ästhetischer Fragestellung und vor dem Hintergrund der Romantik. Im späten 19. Jahrhundert wurden poetische Texte aus Mesopotamien und Ägypten neu erschlossen. Dieses reiche Vergleichsmaterial nutzte Hermann Gunkel, der mit seinem Kommentar zum Psalter und mit seiner postum veröffentlichten Einleitung in die Psalmen (1933, abgeschlossen von Joachim Begrich) eine neue Epoche der Psalmenforschung begründete. Gunkels Typenlehre klassifizierte jeden einzelnen Psalm nach drei Kriterien: Welche Formensprache wird verwendet? Von welchen Motiven macht der Verfasser Gebrauch? Für welchen gottesdienstlichen Anlass wurde der Psalm verfasst? Wenn mehrere Psalmen in diesen drei Kriterien übereinstimmen, sind sie im Sinne Gunkels eine Gattung. So wurde für Gunkel hinter der Vielfalt der Psalmen eine relativ begrenzte Anzahl an Gattungen erkennbar: Hymnen Klagelieder des Volkes Königspsalmen Klagelieder des Einzelnen Danklieder des Einzelnen Kleinere Gattungen: Segens- und Fluchworte, Wallfahrtslied, Siegeslied, Danklied Israels, Legende, Tora Prophetische Gattungen Weisheitsdichtung in den Psalmen Mischungen, Wechselgedichte und Liturgien. Gunkel sah im Psalter ein „Andachts- oder Hausbuch für den frommen Laien“, in die ein Grundbestand bekannter und beliebter Lieder aus dem Gottesdienst aufgenommen worden sei. Fast alle Psalmen seien „für den Privatgebrauch geeignet“, und dies sei im Blick auf das Buch der Psalmen insgesamt „der Annahme eines kultischen Zweckes nicht günstig.“ Sigmund Mowinckel, ein akademischer Schüler Gunkels, interpretierte in seinen Psalmenstudien (1921–1924) die Psalmen dagegen größtenteils als Kultlyrik. Er postulierte ein israelitisches Neujahrsfest, das als Kultdrama (Thronbesteigungsfest JHWHs) begangen worden sei. Im deutschsprachigen Raum wurde die kultgeschichtliche Interpretation stark modifiziert vertreten, unter anderem von Artur Weiser und Hans-Joachim Kraus in ihren jeweiligen Kommentarwerken zum Psalter. Im angelsächsischen und skandinavischen Raum dominierte in der Nachfolge Mowinckels die Kultgeschichtliche Schule: Ein Kreis um Jane Ellen Harrison in Cambridge machte anthropologische (James George Frazer) und soziologische (Émile Durkheim) Ansätze für das Verständnis der griechischen Religion fruchtbar. Die Thesen dieser Cambridge Ritualists wurden in der klassischen Philologie wenig rezipiert, sehr stark dagegen in der alttestamentlichen Wissenschaft (Samuel Henry Hooke: Myth and Ritual, 1933). Im gesamten Vorderen Orient und deshalb auch in der israelitischen Religion gebe es ein gemeinsames mythisch-rituelles Muster, dem die Vorstellung des sakralen Königtums zugrunde liege. Im skandinavischen Raum wurden Mowinckels Impulse von der Uppsala-Schule weiterentwickelt (Geo Widengren u. a.). Obwohl die Form- und Gattungskritik in der Art Gunkels stets ihre Vertreter hatte, war die stärker kultische Deutung der Einzelpsalmen und des Psalters im Verlauf des 20. Jahrhunderts einflussreicher. „Das Psalmenbuch wurde so für weite Teile der Forschung und in der theologischen und kirchlichen Wahrnehmung zum Gesangbuch des Tempels in nachexilischer Zeit.“ Ein klassisches Thema der formgeschichtlichen Psalmendeutung ist die Annahme von Toreinzugsliturgien: Man nahm an, dass Priester den Tempelbesuchern Fragen zu ihrem ethischen und religiösen Verhalten stellten und je nachdem wie die Antworten ausfielen, Zugang zum Tempel gewährten oder verweigerten. Heute wird der Jerusalemer Tempel eher als Hintergrund vieler Psalmen gesehen, ohne diese Texte direkt in hypothetischen Tempelliturgien zu verorten. Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger rechnen damit, dass Jerusalemer Tempelmusiker Psalmen schufen, die dann im Tempel aufgeführt wurden. Sie erwägen, dass die in Psalmenüberschriften genannten Asaf und Korach bekannte Psalmkomponisten gewesen seien, nach denen sich Schulen von Tempelmusikern benannten. Ob einige der im Psalter enthaltenen Dichtungen nach dem Vorbild der Jerusalemer Tempelmusik verfasst wurden, ohne aber in ihrer jetzigen Form im Tempel aufgeführt worden zu sein (Hossfeld und Zenger), oder ob sie aus dem Tempelkult stammten, aber im Zug der Überlieferung davon gelöst und mit anderen Psalmen kombiniert wurden (Klaus Seybold), ist umstritten. Viele Exegeten stimmen aber darin überein, dass der Psalter nicht das „Kultliederbuch“ des Zweiten Tempels gewesen sei. Beat Weber bezeichnet dieses literarische, nachkultische Verständnis des Psalters als in Kontinentaleuropa vorherrschend. Es werde aber von Autoren herausgefordert, die die kommunikativ-dialogische Struktur der Psalmen stärker betonen und deshalb für ein liturgisches Verständnis dieser Texte plädieren. Viele Psalmen stammen indes aus dem privaten und familiären Kult. Hier schlagen Hossfeld und Zenger vor, dass „Ritualspezialisten“ für Privatpersonen passende Psalmen schufen, die sie ihnen zur Verfügung stellten, eventuell auch für sie vortrugen und anschließend sammelten. Seybold betont, dass die meisten persönlichen Texte nicht als Formulare verfasst worden seien, sondern von Individuen in konkreten Situationen niedergeschrieben und dann als Votivgabe zum Tempel gebracht worden seien. Dort seien sie gesammelt, bearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Psalmengattungen Einige von Gunkel beschriebene Gattungen werden weiterhin zur Interpretation von Psalmen verwendet; interessant sind hierbei die gattungstypischen Elemente: Hymnus, Klage des Einzelnen (abgekürzt: KE), Dank des Einzelnen (DE) und Klage des Volkes (KV). Davon zu unterscheiden ist die Zusammenstellung formgeschichtlich verschiedener Psalmen mit gemeinsamer Thematik (Königspsalmen, JHWH-Königs-Psalmen, Zionspsalmen, Schöpfungspsalmen usw.) Hymnus Beispiel: (Psalm 117) In diesem kürzesten Psalm des Psalters ist alles beisammen, was einen imperativischen Hymnus ausmacht: dem Lobaufruf folgt der Hauptteil (Corpus hymni), eingeleitet mit „denn“ (). Im Corpus hymni wird das Gotteslob begründet, indem Gottes Wesen beschrieben wird: die Schlüsselbegriffe sind „Güte, Liebe, Freundlichkeit, Wohlwollen, Barmherzigkeit, Gunst“ (Einheitsübersetzung: „Huld“) und „Festigkeit, Beständigkeit; Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Treue“. Ob das abschließende Halleluja als Abgesang zu verstehen ist, kann dabei offen bleiben; einen Abgesang haben nicht alle Hymnen. In den Handschriften wurde dieser kurze Text manchmal Psalm 116 oder Psalm 119 zugeschlagen. Die Gattungsbestimmung liefert dagegen Argumente, den Text als eigenständiges, abgeschlossenes Gedicht zu verstehen. Der „Sitz im Leben“ eines Hymnus ist für die Klassiker der Formkritik der Tempelkult. Man versucht also, einen Anlass zu rekonstruieren, bei dem die Tempelmusiker den kurzen Psalm aufführten. Für die Redaktionskritik (siehe unten) hat Psalm 117 dagegen eine wichtige Funktion in der Psalmkomposition 113–118. Vielleicht wurde er sogar für diesen Zusammenhang geschrieben. Als Hymnus ruft er beim Leser das Bild eines Tempelgottesdienstes auf; dies ist sozusagen sein „literarischer Sitz im Leben“ bzw. „Sitz in der Literatur.“ Klagelied des Einzelnen (Individualklage) Mit rund 40 Psalmen ist die Individualklage im Psalter sehr häufig vertreten. Psalm 13 gilt als Musterbeispiel und zeigt die typischen Elemente: Anrufung Gottes und Klage („Bis wann …?“) Bitte („Schau her, antworte mir!“), oft mit einer Begründung („denn“, „damit nicht“) Stimmungsumschwung Vertrauensbekenntnis und Lobgelübde Der Stimmungsumschwung, typisch für die Individualpsalmen, ist ein abrupter Wechsel von der Klage zum Lob und Dank. An dieser Stelle könnte dem Beter die Erhörung seiner Bitte zugesprochen worden sein (vgl. ); wie man sich das vorstellt, hängt von Hypothesen über den institutionellen Rahmen ab, in dem die Individualklagen gebetet wurden. Uwe Rechberger plädiert dafür, den traditionellen Begriff „Stimmungsumschwung“ durch den offeneren Begriff „Wende“ zu ersetzen: zum einen, weil es nicht um ein punktuelles Ereignis gehe, sondern um einen Weg von der Klage zum Lob, den der Beter des Textes geführt werde (und wozu er den Psalm möglicherweise wiederholt durchbete), zweitens, weil die subjektive Gestimmtheit ein neuzeitliches Phänomen sei. Danklied des Einzelnen Dieser Gattung lassen sich rund 20 Psalmen zuweisen. Im Hintergrund steht, dass mit den Ritualen des Tempels unter anderem eine Reintegration des Einzelnen in die Gemeinschaft ermöglicht wurde: bedeutet sowohl „Danklied“ als auch „Dankopfer.“ Dankbare Einlösung eines Gelübdes, Darbringung eines Opfertiers und anschließendes Festmahl mit dem Fleisch des geschlachteten Tieres bilden eine „kommunikative Situation“, die in einigen Psalmen dieser Gattung anklingt. Gattungstypische Elemente sind: Auf die Anrede Gottes als „Du“ folgt die Erzählung, wie Gott („er“) geholfen hat. Quasi als Zitat aus einem Klagepsalm, kann dabei die frühere Notsituation in Erinnerung gerufen werden. Kollektiver Klage- und Bittpsalm Eine kollektive Größe („Volk“) tritt bei dieser Gattung an die Stelle des Einzelnen und beklagt politische Katastrophen, wie die Zerstörung Jerusalems und des Tempels (Beispiel: Psalm 79). Die Gliederung ist mit der Individualklage vergleichbar: Anrufung Gottes und Klage; Bitte, oft mit einer Begründung; Vertrauensbekenntnis und Lobgelübde. In kollektive Klage- und Bittpsalmen werden verschiedene Strategien verfolgt, um JHWH zum Eingreifen zu bewegen: Die Beter erinnern sich an Gottes machtvolle Taten in der Vergangenheit und kontrastieren sie mit der Gegenwart, schöpfen daraus aber auch Hoffnung auf eine zukünftige Rettung. JHWH handelt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Heilsgeschichte). JHWH wird an seinen Namen und seine Ehre erinnert. Wenn die Feinde über Israel spotten, trifft das auch Israels Gott. Die Gemeinde legt ein Sündenbekenntnis ab oder, alternativ, beteuert ihre Unschuld. Ein Text aus der prophetischen Überlieferung, Joel 1–2, zeigt in wenn auch stilisierter Form, wie eine Klagefeier ablief. In Bezug auf die kollektiven Klagepsalmen wird diskutiert, ob sie auch in eine derartige Liturgie eingebettet waren und ein Prophet nach dem Psalm ein Orakel verkündete. Sumerische, babylonische und hethitische Texte enthalten vergleichbare Liturgien. Themen Gerhard von Rad charakterisierte die Psalmen als „Antwort Israels“ auf seinen Gott. Die Psalmen sprechen im Rahmen dieser „Antwort“ Grundfragen der Anthropologie an sowie die Themenfelder Tempel und Kult, Kosmos und Chaos, Schöpfung und Geschichte. Menschenbild Das Menschenbild der Psalmen ist dadurch gekennzeichnet, dass die großen inneren Organe des Menschen zwar bekannt waren, ihre anatomische Funktion aber nicht. Sie wurden daher als Sitz verschiedener Emotionen verstanden. Das Herz hat eine Sonderstellung. Denn es steht zwar auch für vegetative Prozesse und freudige oder ängstliche Erregung (was durch Wahrnehmung des Herzschlags ja naheliegt), vor allem aber wurden hier Denkprozesse verortet: Erinnern und Erkennen einerseits, Planen und Wollen andererseits. Die Nieren bilden unter den Organen eine Art Gegenpol zum Herzen; sie stehen für die verborgensten Impulse des Menschen. Die Nefesch () ist ein für die Anthropologie der Psalmen zentraler Begriff, der oft mit Seele übersetzt wird, zutreffender aber (nach einem Vorschlag von Horst Seebass) als „die Vitalität, die Lebensenergie, die Lebenskraft“ zu verstehen ist. Besonders deutlich wird dies in Psalm 42, wo die leidende Nefesch metaphorisch mit einer dürstenden Hirschkuh verglichen wird. Es ist beim Lesen der Psalmen oft schwer zu entscheiden, ob da ein kranker Mensch spricht, der deswegen von seinen Mitmenschen missachtet wird, oder ein sozial angefeindeter Mensch, der darauf mit körperlichen Symptomen reagiert. „Leibsphäre und Sozialsphäre, Körperbild und Sozialstruktur entsprechen sich.“ Die Individualklagen thematisieren immer wieder den sozialen Tod: Anfeindung, Missachtung, Einsamkeit. Diese Erfahrung von Desintegration wird in den Klagepsalmen als Todesnähe bezeichnet, und wenn keine Wende zum Besseren eintritt, ist letztlich auch der biologische Tod zu erwarten. Eine individuelle Biografie der klagenden Person wird nicht erkennbar, die Sprache bleibt generalisierend und typisierend. Das unterstützt ihre „Nachsprechbarkeit“. Feinde des Beters Ein Sonderproblem, das vor allem die individuellen Klagepsalmen betrifft, ist die Art, wie in diesen Texten von den Feinden des Beters die Rede ist. Der oder die Feinde wollen nicht irgendetwas vom Beter, was auch teilweise berechtigt sein könnte; sie wollen ihm ans Leben. Das wirkt auf moderne Leser möglicherweise übertrieben. In Zusammenstellungen von Psalmen für den christlichen Gottesdienst (Gesangbücher, Antiphonale) werden Verse mit Feindklagen auch deshalb gern ausgelassen. Exegeten vermuten, dass die antiken Verfasser dieser Texte eine Erlebnisweise hatten, bei der Innen- und Außenwelt ineinanderflossen. Othmar Keel spricht von einem „projektiv-partizipativen Ich“: die äußere Wirklichkeit werde vom Beter nicht objektiv wahrgenommen, sondern auf das hin interpretiert, was sie bei ihm auslöst. Er hat Angst und fürchtet, von etwas Unheimlichen überwältigt zu werden. Hier begegnen mehrere Metapherngruppen: wilde Tiere (Beispiel: Löwen, Wildstiere, streunende Hunde in Psalm 22), verborgene Fallen (Grube, Netz) und Worte, die wie Waffen sind. Der Mensch, der so denkt, ist ganz in die umgebende Natur und in die Gemeinschaft, der er angehört, eingebunden. Das macht ihn besonders verletzlich. Die an Gott gerichtete Klage ist eine Möglichkeit, mit dieser Bedrohtheit umzugehen. Die Interpretation Keels tendiert dahin, die Aggressivität der Feinde als fiktiv zu betrachten; zwar hat das Ich Feinde, aber was die Psalmen ihnen an Absichten zuschreiben, ist Produkt der eigenen Imagination. Dagegen betont Dorothea Erbele-Küster: „Die Feindzitate geben den realen Ängsten und Gewalterfahrungen des Beters Ausdruck.“ Indem er seine Klage JHWH vorträgt, vertraut der Psalmbeter sich der Gerechtigkeit Gottes an und überlässt Gott, auf welche Weise die Feinde unschädlich gemacht werden. Das wird meist nicht ausgemalt und impliziert einen Verzicht auf eigene Vergeltung; insofern ist die Bezeichnung als „Rachepsalmen“ unzutreffend. Rettung vom Tod Da JHWH ein Gott des Lebens ist, müsste es in seinem Interesse sein, den Beter aus dem Bereich des Todes herauszureißen, denn mit ihm verlöre er ja einen Zeugen seiner Güte und Treue. Die Rettung vom Tod, die in den Psalmen teils erhofft, teils erzählt wird, meint die Rückkehr zur Fülle des Lebens und die Reintegration in die Gesellschaft. Auferstehung ist kein Thema der Psalmen, wohl aber ihrer Wirkungsgeschichte. Kosmos und Chaos Das den Menschen bedrohende Chaos hat viele Formen: „Gräber, Zisternen, … Schluchten mit plötzlich hereinbrechenden Wassern, vom Sturm aufgewühlte Meere und weglose, ausgeglühte Wüsten sind Bereiche, aus denen Jahwe den Menschen … zwar herausholen kann, in denen er aber nur beschränkt gegenwärtig ist und die deshalb das Elend abbilden können, das dem Menschen aus irgendeiner Art der Gottverlassenheit erwächst.“ Der Tempel war der Ort der Lebensfülle, wo JHWH als Schöpfer und König erfahrbar wurde. Die Rituale des Tempels wiederholten den urzeitlichen Sieg der Gottheit über das Chaos und festigten so den Kosmos. Wie insbesondere Psalm 72 zeigt, war das Königtum mit einer Aura des Heils umgeben. Als Repräsentant der Gottheit schrieb man dem König zu, soziale Gerechtigkeit zu schaffen und die Natur fruchtbar zu machen. Weisheit und Weisung (Tora) Die Form- und Gattungskritik versuchte seit Gunkel, Weisheitspsalmen als eigene Gattung zu identifizieren, doch wurde hierbei kein Konsens erreicht. Eine weisheitliche Prägung zeigen akrostichische (nach dem Alphabet geordnete) Psalmen, Tora-Psalmen und anthologische Psalmen; letztere stellen Zitate aus der Tora und den Prophetenbüchern zusammen. In persischer und hellenistischer Zeit wurde der Tun-Ergehen-Zusammenhang neu reflektiert und begründet, da er nicht mehr evident war („Krise der Weisheit“); in dieser Zeit wurden auch viele Psalmen verfasst und fanden die Redaktionsprozesse statt, an deren Ende der Psalter stand. Im Psalter finden sich daher auch die Themen der späten Weisheitsliteratur. Ein Trend ist die Konvergenz von Weisheit und Tora. Die mit der Tora identifizierte oder sich in der Tora inkarnierende kosmische Weisheit war für Ben Sira die Brücke zwischen Mensch und Gott. Das Buch der Psalmen ist sozusagen auf dem Weg dorthin. Psalm 1 und Psalm 119 bieten eine „weisheitliche Lesehilfe“ für das Buch der Psalmen als Ganzes. „So wird Weisheit in ihrer späten Form vor allem zur Frömmigkeit: Leben in Weisheit ist Gotteslob (vgl. Ps 119,1–8; Prov 1,1–7; Sir 51,13ff.) und bewährt sich in jeder Lebenssituation.“ Psalm 1 fällt durch seine Position am Buchanfang auf, Psalm 119 durch seine beispiellose Länge (176 Verse). „Im strengen Sinne stellt allein Ps 119 das Torameditiationsbuch dar, das von Ps 1 eingeleitet wird.“ Dabei bleibt dieser überlange Psalm gegenüber seinen Nachbarpsalmen eigentümlich isoliert. Der Beter steht ebenfalls allein da, in beiden Psalmen: von Frevlern und Feinden bedrängt, wendet er sich an seinen Gott, den er häufig als „du“ anredet. Ein Kollektiv, das ihn tragen könnte (Gemeinde, Israel), ist nicht erkennbar. Umso mehr vertieft er sich in die Tora, das Wort Gottes. Das Problem, dass es den Frevlern häufig gut geht und den Gerechten schlecht, lösen viele Psalmen ebenso wie das biblische Buch der Sprichwörter durch „zeitliche Zerdehnung“ des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, so zum Beispiel Psalm 37: Am Ende werde man sehen, dass der Frevler scheitert und der Gerechte Bestand hat. Einige späte Psalmen gelangen zu einer existenziellen Lösung – die Nähe Gottes wiege alles andere auf (Psalm 73). In der späten Weisheit finden sich Reflexionen über den Tod, der auch für den Weisen unausweichlich ist. Einige Spitzensätze in den Psalmen formulieren eine Hoffnung über die Todesgrenze hinaus, weil „weises Leben von JHWH auch über den Tod hinaus anerkannt wird“ (vgl. , , ). Der Psalter als Buch Kompositions- und Redaktionsgeschichte des Psalters Die Entstehungsgeschichte des Psalters ist komplex. Im Folgenden wird das von Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld vertretene Modell referiert. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurden erste kleine Sammlungen von individuellen Klage-, Bitt- und Dankliedern angelegt. Sie teilen die Vorstellung, dass JHWH als Beschützer der Armen in seinem Tempel gegenwärtig sei und der Beter dort wie zu einer Audienz erscheine und ihm seine Notlage vortrage. Diese Sammlungen wurden im späten 6. und frühen 5. Jahrhundert von einer Redaktion im Sinne der „Armenfrömmigkeit“ überarbeitet; „Armut“ bezeichnete nicht mehr (nur) wirtschaftliche Not, sondern vor allem eine religiöse Haltung. Der Aspekt „Vertrauen auf JHWH“ wurde stärker herausgearbeitet. Am Ende dieser Entwicklung steht der Davidspsalter I (Psalm 3–41). Ebenfalls im 6. Jahrhundert entstand eine Psalmensammlung, die durch Kriegsmetaphorik gekennzeichnet ist. Die Bedrohung des Ich durch anstürmende Feinde nimmt dramatisch zu, ebenso das Vertrauen des Ich auf Gott als feste Burg und Retter. Dieser Grundbestand wurde im 5. Jahrhundert in den Asafitischen Psalter (Psalm 50–83) integriert. Ein bereits vorhandener Korachpsalter (Psalm 42–49) wurde davor gesetzt, und dadurch entstand der Elohistische Psalter (Psalm 42–83), benannt nach der Gottesbezeichnung Elohim. Im Vergleich zu Psalmen, die den Gottesnamen JHWH verwenden, kennzeichnet den Elohistischen Psalter ein mehr distanziert-transzendentes, aber auch universalistisches Gottesbild. Im 5. Jahrhundert wurde dann der Davidspsalter I und der Elohistische Psalter vereinigt, am Ende ergänzt um einige weitere Korachpsalmen. Diese Komposition wurde durch Psalm 2 (nur Verse 1–9) und Psalm 89 gerahmt; nach dem Stichwort „Gesalbter“ (), das in beiden Rahmenpsalmen erscheint, bezeichnen Hossfeld und Zenger diese Psalmkomposition als Messianischen Psalter (Psalm 2–89). Doxologien wurden am Ende der Psalmen 41, 72 und 89 hinzugefügt; sie gliedern die Komposition in drei Teile. Zwischen den Psalmen 89 und 90 (im heutigen Psalmbuch) besteht eine tiefe Zäsur. Psalm 89 beklagte das Scheitern der davidischen Dynastie, und mit diesem Schlusspunkt sollte der Psalter nicht enden. So wurden die Psalmen 90–92 sowie 93–100 dagegen gesetzt, die anstelle der gescheiterten Davididen das Königtum JHWHs proklamieren. Psalm 100 ist das Ziel dieser Komposition: zusammen mit Israel ist die ganze Menschheit aufgefordert, JHWH im Jerusalemer Tempel zu huldigen. Diese Komposition (Psalm 2–100) wächst im späten 5. / frühen 4. Jahrhundert weiter durch Anfügung von relativ jungen Psalmgruppen, darunter der Davidspsalter IV (Psalm 108–110), die Zwillingspsalmen 111/112 und 135/136, das Pessach-Hallel (Psalm 113–118), den Wallfahrtspsalter (Psalm 120–134). Um 300 v. Chr. wurde eine Redaktion tätig, die den Psalter ganz auf die ideale Gestalt König Davids ausrichtete. Sie setzte Psalm 1 neu an die Spitze (der seliggepriesene „Mann“ in dieser programmatischen Eröffnung war David) und erweiterte Psalm 2 so, dass der König auf dem Zion zum Toralehrer für alle Völker wurde. Die gesamte Psalmkomposition umfasst nun Psalm 1 bis 145 und wurde in fünf Teile geteilt, analog zur Tora des Mose. Im 2. Jahrhundert v. Chr. fügte die Schlussredaktion das große Finale (Psalmen 146–150) mit seinen wiederkehrenden Halleluja-Rufen hinzu. Die abschließende Form des Psalmbuchs wurde nach Hossfeld und Zenger etwa zur Zeit des Ben Sira (175 v. Chr.) erreicht. Während Hossfeld und Zenger den Psalter als planvolle Komposition verstehen, wird dies von anderen Autoren in Frage gestellt. Beispielsweise urteilt Eva Mroczek, dass die Textvielfalt der Schriftrollen vom Toten Meer das übliche Bild eines strukturierten, stabilen Buchs der Psalmen erschüttere. Viel eher sei der Psalter „eine literarische Landschaft überlappender Textcluster und wachsender Archive.“ „Davidisierung“ des Psalters Zwar könnte eine Autorschaft Davids dadurch historisch plausibel erscheinen, da im Tanach auch außerhalb des Psalters von David als „Leierspieler“ () und „Dichter“ () gesprochen wird; in der Exegese werden diese Überschriften aber meist nicht als historisch auswertbare Hinweise auf Davids Verfasserschaft verstanden. Im Endtext des hebräischen Psalters tragen 73 Psalmen die Überschrift „von/für David“. In der antiken Übersetzung ins Griechische, der Septuaginta, sind 83 Psalmen David zugeschrieben, was einen Trend anzeigt. Bei 13 Psalmen des hebräischen Textes liefert die Überschrift zusätzliche Angaben zur Verbindung des Psalms mit Situationen aus Davids Leben, wie es im Buch Samuel erzählt ist; diese Angaben waren nach Hossfeld und Zenger zunächst Identifikationsangebote für den Leser: David war oft in großer Not und hat gebetet; der (antike) Leser kann es ihm gleichtun und dazu Davids Gebete nutzen. Später wurden sie als Autorenangaben verstanden. In einem nächsten Schritt wurde der ganze Psalter unter die Autorschaft Davids gestellt und als sein „geistliches Tagebuch“ gelesen. Die Psalmen 69 bis 71 am Ende des zweiten Davidspsalters beispielsweise bilden eine kleine Gruppe, die David als leidenden, alten König zeigen, der mit Psalm 72 als eine Art Vermächtnis seinem Sohn Salomo übergibt, was durch das Kolophon unterstrichen wird. Zählung der Psalmen und Verse In der Abschlussphase des Psalters legten die Redaktoren offensichtlich Wert darauf, die Zahl von 150 Psalmen zu erreichen. Die griechische Version (Septuaginta) teilt die Einzelpsalmen mehrfach anders ab als der Masoretische Text, kommt aber am Ende trotzdem auf 150 Psalmen. Sie hat einen Psalm 151 und kennzeichnet diesen explizit als „außerhalb der Zählung“ stehend. Die in der Westkirche im Mittelalter maßgebliche lateinische Vulgata folgt der Septuaginta-Zählung der Psalmen. Die Psalmnummerierung der Vulgata wurde von älteren katholischen Bibelübersetzungen übernommen. Evangelische Bibeln zählen wie der Masoretische Text, den Martin Luther seiner Übersetzung zugrunde legte. Dem schlossen sich die katholische kirchenamtliche Einheitsübersetzung 1980 sowie die 1979 herausgegebene Nova Vulgata an. In offiziellen Büchern der römisch-katholischen Liturgie werden die Psalmnummern meist in der Form Ps 51(50) oder Ps 50(51) angegeben. Die höhere Nummer bezieht sich immer auf die vorlaufende hebräische Zählung. Bei der Nummerierung der Verse eines Psalms unterscheiden sich englischsprachige Bibeln von heutigen deutschen Übersetzungen dadurch, dass sie den Überschriften im Urtext keine Versnummer zuteilen. Ist die Überschrift mindestens einen ganzen Vers lang, bleibt so die Versnummer in der englischen Bibel um 1 oder 2 hinter der anderen Nummerierung zurück. Betroffen sind 62 Psalmen, drei davon (51, 52, 60) mit einer Differenz von 2. Siehe dazu: Bibelvers#Nicht eindeutige Versangaben. Antike Übersetzungen des Psalters Griechisch Wahrscheinlich in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurde das Buch der Psalmen ins Griechische übersetzt. Aktualisierungen im Text sprechen dafür, dass dies im Reich der Hasmonäer geschah und in Kreisen, die ihnen nahestanden. Als Entstehungsort ist daher Jerusalem anzunehmen. Die Unterschiede zum Masoretischen Text sind wohl nicht durch eine abweichende hebräische Vorlage zu erklären. Ob der Septuaginta-Psalter von einem Übersetzer oder eine Gruppe angefertigt wurde, ist nicht entscheidbar. Das Werk wirkt jedenfalls einheitlich. Sprachlich war die bereits vorliegende griechische Übersetzung des Pentateuch vorbildhaft. Der Septuaginta-Psalter gebraucht ein Vorzugsvokabular, indem mehrere hebräische Worte durch das gleiche griechische Wort übersetzt werden. Das ist auch eine Folge davon, dass Bedeutungsnuancen des Hebräischen nicht erkannt wurden. Manchmal scheint dem Übersetzer der Sinn nicht klar gewesen zu sein („Verlegenheitsübersetzung“). Wenn Metaphern wie Fels, Schild, Burg durch Gott, Stärke, Helfer übersetzt werden, zeigt sich darin wohl ein stärker transzendentes Gottesbild. Lateinisch Im westlichen Mittelmeerraum fertigten Christen schon früh lateinische Übersetzungen griechischer Evangelien- und Psalmentexte an. Wie Augustinus von Hippo kritisierte, versuchten sich viele daran, die beide Sprachen mehr schlecht als recht beherrschten. Die Besonderheit des Psalters besteht darin, dass sich die Übersetzung des Hieronymus aus dem Hebräischen in diesem Fall nicht gegen ältere lateinische Übersetzungen aus dem Griechischen (Vetus Latina) durchsetzen konnte, sondern über das ganze lateinische Mittelalter drei Hauptversionen des Psalters koexistierten: Psalterium Romanum: die stadtrömische Version der Vetus Latina; Psalterium Gallicanum: Hieronymus’ Revision des lateinischen Psalters auf Grundlage des griechischen Textes, Psalterium iuxta Hebraeos (auch: Psalterium Hebraicum): Hieronymus’ Neuübersetzung der Psalmen aus dem Hebräischen. Hieronymus fertigte 384 in Rom eine nach eigenen Angaben „flüchtige“ Korrektur des lateinischen Psalters an, indem er ihn mit einem Septuaginta-Psalter abglich. Beim Psalterium Romanum, dem damals an St. Peter in Rom verwendeten Psaltertext, handelt es sich möglicherweise um den Text, der Hieronymus vorlag, aber nicht um das Ergebnis seiner Bearbeitung. Dieses ist vielmehr bis auf einige Zitate in seinem Psalmenkommentar verloren. Hieronymus zog später nach Bethlehem und machte sich hier zwischen 389 und 392 noch einmal an die Korrektur des lateinischen Psalters. Er benutzte jetzt die Hexapla des Origenes als griechische Vorlage. Das Ergebnis dieser Revision ist das später so benannte Psalterium Gallicanum (eigentlich Liber Psalmorum iuxta LXX emendatus). Hieronymus wurde zunehmend auf die Unterschiede zwischen hebräischem und griechischem Bibeltext aufmerksam, die nicht nur mit Irrtümern der Kopisten erklärt werden konnten. Aus Hieronymus’ Sicht war der hebräische Text inspiriert, ein abweichender griechischer Text daher fehlerhaft (Prinzip der Hebraica Veritas), und er begann um 390 damit, die gesamte Hebräische Bibel neu ins Lateinische zu übersetzen. Gegen Kritik an seinem Übersetzungsprojekt betonte Hieronymus, seine um 392 entstandene Neuübersetzung der Psalmen iuxta Hebraeos (auch bezeichnet als Psalterium Hebraicum) sei eher für Gelehrte gedacht als für die Verwendung in der Liturgie. Insbesondere sei dieser Text für die Missionierung von Juden nützlich, die mit dem griechischen Bibeltext nicht von der christlichen Lehre überzeugt werden könnten. Das Psalterium Romanum war in Europa bis in die Karolingerzeit weit verbreitet, mit Ausnahme von Spanien, wo der sogenannte Mozarabische Psalter gebraucht wurde (der dem römischen Psalter sehr nahe steht), und der Gegend von Mailand (Ambrosianischer Psalter). Als Alkuin dann aber im 8. Jahrhundert eine Kollationierung und Korrektur des lateinischen Bibeltextes in Auftrag gab, war es das im gallikanischen Ritus verwendete (und deshalb so benannte) Psalterium Gallicanum, das in die maßgeblichen Vulgata-Codices aufgenommen wurde. Vorbildlich waren insbesondere die in Tours geschriebene Alkuin-Bibeln. Hieronymus’ Psalmenübersetzung aus dem Hebräischen wurde in der Liturgie nicht verwendet, aber in mittelalterlichen Vollbibeln (Pandekten) überliefert. Es gab außerdem Psalterausgaben wie den Eadwine-Psalter (Foto), die die verschiedenen lateinischen Psalmübersetzungen in zwei oder drei Spalten nebeneinander boten. Während sich in Irland das Psalterium Gallicanum wie auf dem Kontinent allgemein durchsetzte, brachte Augustinus von Canterbury († um 604) das Psalterium Romanum nach England, und es blieb dort bis zum 10. Jahrhundert der liturgische Standardtext. Da das Psalterium Romanum in vor-karolingischer Zeit in den Klöstern intensiv gebraucht worden war, blieben davon Spuren, auch nachdem das Psalterium Gallicanum an seine Stelle trat: die älteren Formulierungen hielt sich in Antiphonen und Kollektengebeten, wo die Melodie dazu beitrug, den vertrauten Wortlaut zu bewahren. Die hebräischen Psalmenüberschriften, an sich schon schwer verständlich, waren durch die Übersetzungen ins Griechische und dann ins Lateinische noch kryptischer geworden. Sie galten in einigen christlichen Traditionen nicht als Bibeltext im eigentlichen Sinn, so wurden sie in der syrischen Kirche komplett durch neue Überschriften auf Grundlage des Kommentars von Theodor von Mopsuestia ersetzt. Etwas Ähnliches geschah in der lateinischen Westkirche. In den lateinischen Psaltermanuskripten erhielten die Einzelpsalmen Überschriften (tituli psalmorum), die den Gebrauch der Texte als Gebete erleichtern sollten, indem sie den Sprecher oder das Thema des Psalms benannten. In der Reformationszeit entstanden zwar Psalterübersetzungen in die Volkssprachen, die den hebräischen Text zugrunde legten, doch der Einfluss des lateinischen Psalterium Gallicanum ist sowohl bei Martin Luthers deutschem Psalter von 1524 als auch beim englischen Psalter von Miles Coverdale 1535 (der im ersten Book of Common Prayer verwendet wurde) offensichtlich. In der Römisch-katholischen Kirche blieb das Psalterium Gallicanum bis 1945 der autoritative Psalmentext und wurde dann durch eine Neuübersetzung aus dem Hebräischen ins Lateinische abgelöst. Wirkungsgeschichte Der Psalter ist das gemeinsame Gebetbuch von Juden und Christen. Im Islam wird das Buch der Psalmen Zabur (arabisch زبور, DMG Zabūr) genannt, zu den heiligen Büchern gezählt und im Koran in den Suren 4,163, 17,55 und 21,105 erwähnt. Im Judentum Synagogale Liturgie „Die Lieder und Gebete des Buches Tehillim stellen bis heute einen unverzichtbaren Bestandteil der traditionellen jüdischen Liturgie dar. Dabei kommt den Psalmen 113 bis 118, dem sogenannten Hallel, eine besondere Bedeutung zu. Er wird an den Feiertagen und an Rosch Chodesch jeweils nach Abschluss des Schacharit, d. h. vor dem Ausheben des Sefer Tora, gesungen.“ Günter Stemberger weist darauf hin, dass die Psalmen (mit Ausnahme des Hallel) erst relativ spät in die Liturgie der Synagoge aufgenommen wurden; das gilt auch für die Psalmen, bei denen eine Verwendung im Gottesdienst des Zweiten Tempels bezeugt ist. Beispielsweise überliefert die Mischna (Tamid 7,4), dass die Leviten beim täglichen Opfer im Tempel einen dem Wochentag entsprechenden Psalm vortrugen: am Sonntag Psalm 24, am Montag Psalm 48, am Dienstag Psalm 82, am Mittwoch Psalm 94, am Donnerstag Psalm 81, am Freitag Psalm 93 und am Sabbat Psalm 92. Die Psalmüberschriften der Septuaginta bezeugen die gleichen Wochentagspsalmen und damit das hohe Alter dieser Tradition. Etwa die Hälfte der 150 Psalmen wird heute im jüdischen Gottesdienst verwendet. Die Integration von Psalmen in die synagogale Liturgie war ein langer Weg, bei dem nach Daniel Krochmalnik folgende Motive wirksam wurden: Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. sah man den synagogalen Gebetsgottesdienst auch als symbolische Imitation des Tempelgottesdienstes an. Nachdem liturgische Dichtungen (Pijjutim) sich reich entfaltet hatten, gab es Bestrebungen, ihren Umfang wieder einzuschränken. Die strikte Orientierung der Karäer an den Texten der Hebräischen Bibel beeinflusste auch das rabbinische Judentum; mit den Psalmen wurde die synagogale Liturgie biblischer. Kabbalisten begründeten neue Rituale und erschlossen neue Sinndimensionen von Psalmen. Der letzte Punkt lässt sich am Synagogengottesdienst am Freitagabend illustrieren. Er beginnt mit einem Empfangszeremoniell für die Königin Sabbat (Kabbalat Schabbat). Dies ist zwar schon als Brauch einzelner Rabbinen im Talmud bezeugt, aber das Kabbalat-Schabbat-Ritual wurde im 16. Jahrhundert von Kabbalisten aus Safed gestaltet. Mit weißen Gewändern bekleidet, zogen sie am Freitagabend in die Felder der Umgebung hinaus, um der Königin Sabbat entgegenzugehen und sie nach Safed zu begleiten. Dabei rezitierten sie mit geschlossenen Augen die Psalmen 95 bis 99 und 29. Freudige Erregung und Jubel über den Beginn der Gottesherrschaft kennzeichnet diese Texte inhaltlich. Geblieben ist bis heute die Rezitation dieser Psalmengruppe im Freitagabend-Gottesdienst und der Gesang des Lecha Dodi, wobei sich die Gemeinde zur Tür der Synagoge hin umwendet. Darauf folgt Psalm 92, der schon im biblischen Text als Schabbat-Psalm bezeichnet wird; er „markiert – liturgisch gesehen – den eigentlichen Beginn des Schabbat.“ Mit dem anschließenden kurzen Psalm 93 endet Kabbalat Schabbat, und mit Barchu beginnt daraufhin der Abendgottesdienst. Abgesehen vom Hallel und den Sabbateingangspsalmen ist es im aschkenasischen Ritus üblich, dass nur der Kantor die Psalmen rezitiert, und zwar in hohem Tempo und bis auf die Eingangs- und Schlussverse still. Bei den Sephardim und Mizrachim ist dagegen die gemeinsame, teils responsorische Psalmrezitation üblich, was nach Krochmalnik eine größere Vertrautheit mit den Psalmen in jüdischen Gemeinden dieser Riten zur Folge hat. Die synagogale Psalmodie besteht typischerweise aus einer Eingangsphrase, dem Mittelteil im Rezitationston und der Schlussphrase. Die Ähnlichkeit mit der frühen Kirchenmusik wurde oft bemerkt und veranlasste Eric Werner (The Sacred Bridge, 1959) zu Hypothesen, dass die frühe Kirchenmusik jüdischen Vorbildern folgte. Dies wird von Musikhistorikern aber als spekulativ angesehen. Mangels Quellen lassen sich die Ursprünge des jüdischen und des christlichen Psalmengesangs nicht mehr klären. Privates Gebetbuch Die rabbinische Literatur erwähnt das Psalmenlesen häufig als Element persönlicher Frömmigkeit. Wahrscheinlich gelangten die Psalmen schließlich über die Volksfrömmigkeit und trotz Bedenken der Rabbinen in die synagogale Liturgie. „Es geht wohl kaum auf gegenseitigen Einfluß zurück, sondern ist als analoge Entwicklung aus ähnlichen Voraussetzungen zu betrachten, wenn im Christentum seit den frühen Mönchen und … später auch im Judentum die Psalmen Basistexte einer Volks- und Laienfrömmigkeit wurden,“ so Günter Stemberger. In modernen jüdischen Ausgaben des Psalters findet man eine Einteilung in 30 Abschnitte, die den Tagen eines Monats gemäß dem jüdischen Kalender zugeordnet sind. Außerdem gibt es eine Siebenteilung entsprechend den Wochentagen. Damit besteht die Möglichkeit, das ganze Buch im Lauf eines Monats oder einer Woche durchzubeten. Die Psalmen werden, anders als in der christlichen Tradition, mit ihren Überschriften, aber ohne rahmende Verse (Antiphonen) rezitiert. Dem Psalmbeten werden vielfache positive Effekte zugeschrieben: für die Beter selbst, für die Heilung Kranker, für den Staat Israel usw. Dass Frauen gemeinsam Tehillim beten, hat eine lange Tradition. Üblicherweise werden die 150 Psalmen unter den Mitgliedern einer Gebetsgruppe verteilt. Moderne Technologien ermöglichen es, weltweit Tehillim-Gruppen zu organisieren. Diese Netzwerke erreichen auch Frauen, die in ihrer religiösen Praxis nicht orthodox sind; ein Effekt ist, dass die Verbundenheit mit dem Staat Israel in der Diaspora gestärkt wird. Das Rezitieren von Psalmen ist in besonderer Weise mit dem Jerusalemer Tempelberg verbunden. Menschen, die das Psalmbeten als persönliche Frömmigkeit pflegen, sind an der Klagemauer stets zu finden. In der dortigen Synagoge werden alle 150 Psalmen im Lauf eines Tages gebetet, und vor dem Gedenktag der Tempelzerstörung (Tischa beAv) werden dort drei Tage hindurch fortlaufend Psalmen rezitiert. Hierbei handelt es sich um relativ neue Entwicklungen. Es gibt in der Volksfrömmigkeit auch die Tradition, Psalmen für magische Zwecke einzusetzen. Handbücher wie zum Beispiel das mittelalterliche Werk Sefer Schimmusch Tehillim definieren, welcher Psalm in welcher Situation rezitiert werden sollte oder wie man Amulette mit Psalmzitaten beschriften sollte. Ein kleines hebräisches Psalmbuch, das am Körper getragen oder unter das Kopfkissen gelegt wird, soll zum Beispiel Babys oder Soldaten vor Gefahren schützen. Im Christentum Neues Testament Der Psalter ist das am meisten zitierte alttestamentliche Buch im Neuen Testament, und zwar in der Fassung des Septuaginta-Psalters. Besonders ausgeprägt ist der Bezug auf den Psalter in der Passionsgeschichte der synoptischen Evangelien, dem Johannesevangelium als ganzes, bei Paulus von Tarsus (Römerbrief, beide Korintherbriefe) und im Hebräerbrief. König David ist für neutestamentliche Autoren ein Prophet, der das Leben Jesu, besonders Passion und Auferstehung, in den von ihm verfassten Psalmen ankündigte. Nach den synoptischen Evangelien zeigt Jesus anhand von Psalm 109LXX auf, dass der Messias von David prophetisch als Herr bezeichnet werde. Alte Kirche In der Alten Kirche wurde der Psalter, den man in der Übersetzung der Septuaginta (griechisch) oder in der davon abhängigen Übersetzung der Vetus Latina (lateinisch) las, vielfach als Kompendium der gesamten Bibel verstanden. Athanasius schrieb: „Wie ein Garten trägt er in sich die Früchte auch aller übrigen Bücher der Heiligen Schrift und macht sie zu Liedern.“ Er zeigte beispielhaft, wie das gemeint war: Schöpfung: Psalm 18LXX, Psalm 23LXX Auszug aus Ägypten, Israel in der Wüste: Psalm 77LXX, Psalm 104LXX, Psalm 113LXX Zeltheiligtum: Psalm 28LXX Josua und die Richter: Psalm 106LXX Königreiche Israel und Juda: Psalm 19LXX Esra: Psalm 125LXX. Das ganze Leben Christi fand Athanasius im Psalter prophetisch vorhergesagt: Verkündigung an Maria: Psalm 44LXX (wegen Vers 11f.: „Höre, Tochter, und sieh, und neige dein Ohr, und vergiss dein Volk und das Haus deines Vaters, denn der König begehrte deine Schönheit, denn er ist dein Herr.“) Passion: Psalm 21LXX („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen…“), Psalm 68LXX, Psalm 87LXX (wegen Vers 8: „Auf mich legte sich schwer dein Grimm, und all deine Wogen ließest du auf mich niedergehen.“) Auferstehung: Psalm 15LXX Himmelfahrt: Psalm 23LXX (wegen Vers 9: „Erhebt die Tore, ihr Herrscher über euch, und lasst euch hinaufheben, ihr ewigen Tore, und einziehen wird der König der Herrlichkeit“), Psalm 46LXX Christus sitzend zur Rechten Gottes: Psalm 109LXX (wegen Vers 1: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten.“) Berufung der Heiden: Psalm 46LXX (wegen Vers 2: „Ihr Völkerschaften alle, klatscht in die Hände, jauchzt Gott zu mit Jubelschall!“), Psalm 71LXX (wegen Vers 9–11: „… alle Völkerschaften werden ihm dienen.“) Die bei den Kirchenvätern allgemein übliche christologische Interpretation der Psalmen konnte unterschiedlich eingesetzt werden. Viele Aussagen in den Klageliedern des Einzelnen ließen sich ohne weiteres auf das irdische Leben des Jesus von Nazareth deuten; erwähnten die Psalmen einen Richter und König, so war dies der Auferstandene, der im Himmel thront. Sprach der Psalmbeter dagegen von seiner eigenen Schuld und bat um Vergebung, so war das nur scheinbar für Christus unpassend, führte Augustinus aus. Denn die Kirche wurde als Leib Christi verstanden, und so spreche Christus in diesen Psalmsworten mit und für die Christen. Zwei Metaphern für das Buch der Psalmen wurden in der Alten Kirche geprägt und in der weiteren christlichen Rezeptionsgeschichte wiederholt aufgegriffen: Der Psalter als Seelenspiegel. Alle menschlichen Seelenregungen seien im Psalter enthalten, schrieb Athanasius im Brief an Marcellinus. Entsprechend formulierte Martin Luther in der Zweiten Vorrede auf den Psalter (1529), dass „ein jeglicher … Psalmen und Wort drinnen findet, die sich auf seine Sache reimen und ihm so eben sind, als wären sie allein um seinetwillen also gesetzt“; die Seelenspiegel-Metapher nutzte auch Johannes Calvin im Vorwort zu seinem Psalmenkommentar (1557). Der Psalter als großes Haus oder Tempel aus Worten. Diese Architekturmetaphorik geht auf den Psalmenkommentar des Hieronymus zurück. Sie ist eng verbunden mit der Vorstellung, dass Psalm 1 ein Portal zum Psalter sei, die übrigen Psalmen innere Räume des großen Gebäudes, die vom Psalmleser abgeschritten werden sollten; hier kommt eine Wegmetaphorik hinzu. Hieronymus unterschied einen Hauptschlüssel, mit dem der Leser durch Psalm 1 in den Psalter eintritt, und weitere Schlüssel, die für jeden Psalm nötig seien, ohne Bild gesprochen: Psalterexegese und Einzelpsalmexegese. In der Alten Kirche bildete sich ein zweifacher Umgang mit dem Buch der Psalmen heraus: Fortlaufende Lesung des ganzen Psalters; Auswahl von Psalmen, die als Prophezeiungen christlich interpretiert werden konnten. Der Brauch, Psalmen ebenso wie Cantica und andere Gesänge mit dem Lob des dreieinigen Gottes (Gloria Patri) zu beenden, geht wahrscheinlich auf die arianischen Streitigkeiten in der Spätantike zurück. Er ist seit dem frühen 6. Jahrhundert bezeugt. Frühes Mönchtum und koptische Tradition Für die frühchristlichen Eremiten machte die Psalmenmeditiation einen wesentlichen Teil ihres Tages aus, und zwar bereits bei den einzeln lebenden Eremiten und den später entstehenden koinobitischen, klösterlichen Gemeinschaften. Bei seiner meditativen Übung () sprach der Mönch den Psalter nacheinander – beginnend bei Psalm 1 und endend bei Psalm 150 – halblaut und unabhängig von der persönlichen Stimmungslage. Das begleitete ihn bei der täglichen Arbeit oder bei Wanderungen. Die melétē selbst galt nicht als Gebet. Sie führte zu frei gesprochenen Gebeten oder festen Lobpreis-Formeln hin (später beendete man Psalmen mit dem Gloria Patri). Dieses meditierende Murmeln wurde in der Tradition des Wüstenmönchtums und bei altkirchlichen Autoren wie Augustinus als „Ruminatio“ (von lat. ruminare ‚wiederkäuen‘) bezeichnet. In den ersten Klosterregeln des christlichen Mönchtums, den Anfang des 4. Jhs. in koptischer Sprache geschriebenen Regeln des Pachom, wird von den Neulingen im Klosterverband erwartet, dass sie bei der Aufnahme 20 Psalmen auswendig lernen (Regel 139) und es dann niemanden im Kloster geben soll, der nicht zumindest das Neue Testament und den Psalter auswendig kennt (Regel 140). Im 4. Jahrhundert sah das Stundengebet der ägyptischen Koinobiten folgendermaßen aus: Ein Lektor trug stehend einen Psalm vor, während die übrigen Mönche auf dem Boden kauerten. Dann erhoben sich alle zum stillen, persönlichen Gebet. Anschließend warfen sich alle zu Boden. Der Lektor sprach laut ein Kollektengebet. Diese Sequenz wiederholte sich zwölfmal in jeder Hore; dann folgten Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament. „Der Psalm ist hier nicht Gebet, sondern Schriftlesung, die zum Gebet anregt.“ Die alttestamentlichen Psalmen nahmen nicht nur in der Liturgie einen herausragenden Platz ein, sondern wurden von Mönchen bei allen anfallenden Arbeiten gesungen. Rege Verwendung fanden sie auch auf übelabwehrenden Amuletten und im Bereich der Magie. Mit dem in einem Grab gefundenen Psalter von al-Mudil (5. Jahrhundert) ist der gesamte Psalter im mittelägyptischen Dialekt des Koptischen überliefert (Foto). Der Mudil-Psalter zeigt einen selbstbewussten Umgang des koptischen Übersetzers mit seiner griechischen Vorlage. Einen „Wildwuchs“ an christlichen Zusätzen, die er als nicht authentisch beurteilte, hat er gestrichen. Andererseits erweiterte er den Text vielfach, um den Sinn klarer herauszuarbeiten. Außerdem gibt es Korrekturen aus theologischen Gründen. Bis heute ist das koptische Stundengebet sehr stark von der klösterlichen Tradition geprägt. Es verläuft Tag für Tag in gleicher Form; über sechs Horen verteilt werden dabei rund 110 Psalmen rezitiert – mehr als in allen anderen Riten. Orthodoxe Tradition (Byzantinischer Ritus) Die responsoriale Psalmodie war in Konstantinopel bis ins 13. Jahrhundert, in Thessalonike bis ins 15. Jahrhundert üblich: Ausgewählte Psalmen wurden ebenso wie Cantica und das Gebet des Manasse vom Solisten oder vom Chor vorgetragen (, „gesungen“); die Gemeinde respondierte nach jedem Vers mit Rufen wie „Ehre sei dir, Herr!“, „Erhöre mich, Herr!“ Im byzantinischen Ritus löste die aus dem palästinischen Mönchtum stammende, schlichte Psalmenrezitation allmählich die responsoriale Psalmodie ab. Dieser Psalter ist in 20 Kathismata (καθίσματα) zu je drei Staseis (στάσεις) unterteilt und wird pro Woche einmal, in der Fastenzeit zweimal rezitiert. Dabei sind Kürzungen sowie Einschübe zum Kirchenjahr passender poetischer Texte üblich. Die Kathismata-Psalmodie ist in der griechisch-orthodoxen Kirche heute auf die Klöster beschränkt und in Pfarrkirchen nicht üblich. Darüber hinaus kommen aber rund 60 Psalmen an verschiedenen Stellen der Liturgie vor; hier einige Beispiele aus dem Stundengebet: Als Bußpsalm begegnet immer wieder Psalm 50LXX. Mit dem Schöpfungspsalm 103LXX beginnt die Vesper, mit einer Gruppe von sechs Psalmen (ἑξάψαλμος) der frühmorgendliche Orthros, nämlich Psalm 3, Psalm 37LXX, Psalm 62LXX, Psalm 87LXX, Psalm 102LXX und Psalm 142LXX. Durch die Anordnung der sechs Psalmen in dieser Reihenfolge wird der Leser von der Verzweiflung zum Ausblick auf die erhoffte Rettung geführt. Westkirchliche Tradition Vorreformatorisch In der römischen Liturgie der Spätantike war das Buch der Psalmen das „Textbuch der kirchlichen Gesänge“. In der Messe waren das der Gesang während der Einzugsprozession (Introitus), die Begleitgesänge zur Gabenprozession bei der Gabenbereitung (Offertorium) und Kommunion (Communio) und insbesondere auch der Psalm zwischen den einzelnen Lesungen. Alle diese Gesänge wurden schon früh antiphonal, im Wechsel zweier Chöre oder im Wechsel zwischen dem psalmista ‚Psalmensänger‘ und der Gemeinde, ausgeführt, die Auswahl der Psalmen wechselte mit der Festzeit, dem Tag oder dem Anlass. Während zunächst das Hauptgewicht des Introitus auf dem Psalm gelegen hatte, setzte etwa ab dem 8. Jahrhundert allmählich eine Verkürzung des Introitus auf die Antiphon und einen oder zwei Psalmverse sowie die Doxologie Gloria Patri ein; die Antiphon wurde ab dem 10. Jahrhundert zu Lasten des Psalms durch das Hinzufügen von Tropen melodisch sehr viel reichhaltiger und länger; die Tropen entfielen allerdings bei der Liturgiereform durch Papst Pius V. im 16. Jahrhundert wieder. Ähnlich war die Entwicklung beim Psalm zwischen den Lesungen und den Begleitgesängen zur Gabenprozession und zur Kommunion, wo im 4./5. Jahrhundert in Nordafrika und in Rom Psalmen gesungen wurden, was Augustinus von Hippo gegen Kritiker verteidigte. Die Singweise des Offertoriums verkürzte sich jedoch schon bis zum frühen Mittelalter auf wenige Verse in responsorischer Singweise, aus dem Psalm nach der Lesung wurden die „Zwischengesänge“ (Graduale und Alleluiavers mit einzelnen Psalm- oder Bibelversen); beim Kommuniongesang wurde bis zum 10. Jahrhundert der ganze Psalm – häufig Psalm 34 oder Psalm 145 – gesungen, ab dann verfiel der Psalm, bis nur die Antiphon übrig blieb. Der Text der Antiphonen besteht aus einem Vers des folgenden Psalms oder aber einem Bibelvers aus einer der liturgischen Lesungen des Tages. Insbesondere in asketischen und klösterlichen Kreisen war der Text des gesamten Psalter durch die ständige Beschäftigung damit sehr vertraut. Im Frühmittelalter nahm die Kenntnis des Psalters ab. Er blieb aber als täglicher Lese- und Gebetstext im Stundengebet bis heute verpflichtend für Ordensgemeinschaften und Kleriker. Psalmen wurden immer auch bei der Meditation der Passionsgeschichte genutzt, wodurch der Literalsinn der Psalmtexte in den Hintergrund trat. In den Klosterschulen des Frühmittelalters lernten die Kinder, sobald sie das Alphabet beherrschten, im Alter von etwa sieben Jahren mit dem lateinischen Psalter das Lesen. Für Mönche war es obligatorisch, den Psalter auswendig zu beherrschen, um das Stundengebet vollziehen zu können. Etwa zwei bis drei Jahre wurden veranschlagt, um dieses Ziel zu erreichen. Aus dem Schulbetrieb stammen sechs Wachstafeln mit Psalmzitaten, die 1914 im Springmount-Moor (County Antrim, Nordirland) aufgefunden wurden. Sie wurden etwa 600 n. Chr. beschrieben und befinden sich heute im Irischen Nationalmuseum. Die Benediktsregel machte das Ideal, alle 150 Psalmen im Laufe einer Woche im Stundengebet zu rezitieren, zum „Goldstandard“ mittelalterlicher Klosterpraxis. Dem Mönch oder Kleriker wurde aber nahegelegt, über dieses Pensum hinaus fleißig Psalmen zu beten, die oft in Gruppen für die private Andacht zusammengestellt wurden. Beispielsweise war es üblich, morgens vor der Matutin die sieben Bußpsalmen zu beten, und Benedikt von Aniane empfahl ebenfalls vor der Matutin das Gebet der fünfzehn Wallfahrtspsalmen. Als einziges biblisches Buch wurden Psalter im Mittelalter in größerer Zahl auch für Laien hergestellt. Wie gut diese den lateinischen Text verstanden, ist unbekannt (was für Mönche und Kleriker ebenfalls gilt), aber es gibt Hinweise darauf, dass man sich intensiv um das Verständnis des Textes bemühte: Lateinische Psalter wurden häufig mit Glossen in den Volkssprachen versehen. Der Vespasian-Psalter beispielsweise enthält eine altenglische Interlinearübersetzung (Foto). Im Hochmittelalter wurde kein biblisches Buch an den Universitäten so intensiv auf seinen Wortsinn wie auf seine theologische Bedeutung hin untersucht wie der Psalter. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit wurde der Psalter schließlich zum „Bildungsbuch in der Hand der Laien.“ Illustration mittelalterlicher Psalterhandschriften Die lateinischen Psalter des Mittelalters waren meist für den liturgischen Gebrauch eingerichtete Bücher, die außer dem Text der Psalmen auch Vorreden, Cantica, Litaneien und Kalendarien enthielten. Für die künstlerische Gestaltung der Handschriften wurde die Unterteilung des Textes in Psalmgruppen wichtig, denn die ersten Psalmen dieser Gruppen wurden oft auch optisch hervorgehoben. Verschiedene Gliederungssysteme waren nebeneinander in Gebrauch und konnten auch in einer Psalterhandschrift kombiniert werden. Die Zählung ist im Folgenden die der Vulgata, welche vom hebräischen Text und auch von modernen Übersetzungen abweicht: die schon in der Alten Kirche übliche, trinitarisch gedeutete Dreiteilung; sie hebt Psalm 1, Psalm 51VUL und Psalm 101VUL hervor; die Achtteilung des Psalterium Romanum: hier sind Psalm 1, Psalm 26VUL, Psalm 38VUL, Psalm 52VUL, Psalm 68VUL, Psalm 80VUL, Psalm 97VUL und Psalm 109VUL besonders betont; die Einteilung des Psalters in Zehnergruppen (Dekaden). Die Entwicklung der Illustration geht von Initialen hin zu Bildseiten. Diese waren zunächst nicht direkt mit dem Psalmtext verbunden. So wurde als Autorenporträt oft der musizierende David dargestellt. Dies konnte zu Leben-David-Zyklen erweitert werden. Häufiger sind ab dem 11. Jahrhundert die Leben-Christi-Zyklen. Assoziativ oder typologisch konnten Szenen aus dem Alten und Neuen Testament Psalmversen zugeordnet werden. Ein anderer Typ von Psalterillustration setzte die Metaphern des Psalmtextes in Bilder um. Lutherische und reformierte Tradition Martin Luther ließ für seine Psalmenvorlesung 1513/1515 den Wolfenbütteler Psalter drucken. Darin deutete er die Psalmen christozentrisch. Für Johannes Calvin ist bezeugt, dass er sich selbst mit David identifizierte (seine Anfeindungen durch Gegner, seine göttliche Erwählung) und das zeitgenössische Genf mit Israel. Das geht so weit, dass ein Großteil der autobiografischen Informationen Calvins aus dessen Psalmenkommentar erhoben werden. Nach Herman Selderhuis ist es besonders das Asyl-Motiv, das David mit Calvin verbindet. David musste zweimal fliehen, erst vor Saul und dann vor seinem Sohn Absalom. Calvin sah sich selbst als Flüchtling und hatte unter den aus Frankreich geflohenen Hugenotten seine treueste Anhängerschaft. Ihnen bot er mit dem Psalter David als Identifikationsfigur an. In Genf war im späten 16. Jahrhundert ein großer Teil der Bevölkerung lesekundig. Die Anschaffung privater Liedpsalter wurde gefördert; diese waren wegen des geringeren Umfangs erschwinglicher als Bibeln. Den Quellen zufolge hielten Psalmbücher tatsächlich breiten Einzug in die Haushalte. Unterricht im Psalmsingen erteilten Kantoren, vielfach ehemalige Priester, die damit einen neuen Beruf fanden. Auf diese Kreise gehen auch die Melodien des Genfer Psalters zurück. Im deutschsprachigen Raum war der Genfer Psalter in der Übersetzung von Ambrosius Lobwasser weit verbreitet. Lutherische Autoren, Cornelius Becker (1602) und Johannes Wüstholz (1617), schufen eigene Liedpsalter. Ihr Hauptkritikpunkt am Lobwasser-Psalter war, er bleibe zu eng am alttestamentlichen Text und sei zu wenig auf Christus bezogen. Das betraf besonders die Summarien (Inhaltsangaben), die jedem Psalm vorangestellt waren. Becker und Wüstholz lieferten neue Summarien, ersetzten die „calvinistischen“ Melodien teilweise durch diejenigen von Luther-Chorälen und fügten Doxologien als Schlussstrophen an. Heutige Praxis in den christlichen Konfessionen Die muttersprachliche Psalmodie hat seit dem späten 20. Jahrhundert in mehreren Konfessionen an Bedeutung gewonnen; dabei zeigt sich nach Godehard Joppich, Christa Reich und Johannes Sell folgende Grundproblematik: Das chorische Lesen ermögliche nur ein intellektuelles Erfassen des Textes; seine poetische Qualität gehe „im Bemühen, mit der eigenen Stimme im gemeindlichen Gleichschritt zu bleiben“ verloren. Das antiphonale Psalmodieren erfordere ein Aufeinander-Hören, das kontinuierliches gemeinsames Üben voraussetze, wie es für eine Schola oder eine Kommunität möglich sei. Als weitere Optionen bleiben der Psalmlied-Gesang und die responsoriale Psalmodie, bei dem eine Einzelstimme den Psalm vorträgt und die Gemeinde mit einem gleichbleibenden Ruf nach jedem Vers respondiert. Stundengebet Das Stundengebet der römisch-katholischen, orthodoxen, lutherischen, altkatholischen und anglikanischen Kirche besteht vorwiegend aus Psalmen. Die in der Westkirche traditionelle gregorianische Singweise der Psalmen (antiphonales Psallieren) wird bis heute in Latein oder der Landessprache beim Stundengebet in vielen monastischen Orden, Bruder- und Schwesternschaften praktiziert. Unter liturgischem Psalter versteht man in der Liturgiewissenschaft das Verteilungssystem der Psalmen bzw. der Psalmantiphonen auf die Tagzeiten (Horen) im Stundengebet. Historisch können zwei Typen unterschieden werden: Monastisches Offizium, bei dem die Psalmen der Reihe nach als lectio continua angeordnet sind, und Kathedraloffizium, bei dem die Psalmen anlassbezogen oder der Tageszeit entsprechend ausgewählt werden. Das Kathedraloffizium ist gegenüber der schlichten monastischen Psalmodie durch besondere ästhetische Gestaltung ausgezeichnet, so gibt es abends einen Lichtritus und einen Weihrauchritus (vgl. Psalm 141). Unter den westkirchlichen Liturgien im deutschsprachigen Raum entspricht das Stundengebet der Christkatholischen Kirche der Schweiz am klarsten dem Typ des Kathedraloffiziums, so Liborius Olaf Lumma. Als Verteilungssystem stellt der liturgische Psalter zugleich ein „Psalmpensum“ dar, das heißt, das vorgeschriebene Gebet eines Quantums an Psalmen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes. In der anglikanischen Kirche gelang es, die über den Tag verteilten Horen zu einer Morgen- bzw. Abendhore (morning praise, evensong) zusammenzufassen und als Gemeindegottesdienste zu gestalten. Dabei folgte Thomas Cranmer Reformvorschlägen, die Francisco de Quiñones für das Breviergebet der Kleriker gemacht hatte. Der ganze Psalter wurde in diesen beiden Gebetszeiten im Lauf eines Monats fortlaufend durchgebetet, ohne eine Eignung bestimmter Psalmen für Morgen oder Abend oder für bestimmte Wochentage zu berücksichtigen. Antiphonen, Responsorien und Invitationen entfielen. In der römisch-katholischen Kirche waren seit dem Konzil von Trient die 150 Psalmen auf die Horen einer Woche verteilt. Seit 1970 trat an Stelle des einwöchigen Schemas ein Vierwochenpsalter, bei dem in einzelnen Horen neben den Psalmen auch alt- oder neutestamentliche Cantica berücksichtigt werden. Eine wichtige Neuerung des Vierwochenpsalters ist, dass er die Lectio-continua-Psalmodie in der Vesper weitgehend aufgibt, die diese Gebetszeit seit dem Frühmittelalter (Benediktsregel) in der Westkirche geprägt hatte. An ihre Stelle treten inhaltlich ausgewählte Psalmen. Das Schema der Psalmenverteilung im Monastischen Stundenbuch und im Benediktinischen Antiphonale geht auf Notker Füglister zurück, der stark von der Form- und Gattungskritik geprägt ist. Er regte an, dem Charakter des Wochentags entsprechend, Hymnen und Königspsalmen dem Sonntag, Individualklagen dem Freitag zuzuweisen. Die Haupthoren Laudes und Vesper sollten lyrische Hymnen und dramatische Dankpsalmen kennzeichnen, die Komplet lyrische Vertrauenspsalmen und die Vigilien sowohl epische Geschichts- und Weisheitspsalmen als auch dramatische Klagelieder. Bei der Neuordnung des katholischen Stundengebets nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde auch die zugrunde liegende Psalmenhermeneutik in einem „offiziellen Metatext“ (Harald Buchinger), der Allgemeinen Einführung in das Stundengebet (AES), erläutert. Unter der Überschrift Die Psalmen und ihr Verhältnis zum christlichen Gebet heißt es zunächst: „Die Kirche betet mit jenen großartigen Liedern, die heilige Verfasser im Alten Bund auf Eingebung des Geistes Gottes gedichtet haben.“ (AES 100) Dabei gelte es, als christlicher Beter dem Wortsinn getreu zu folgen, dann aber auch auf den Vollsinn zu achten, vor allem jenen messianischen Sinn, „um dessentwillen die Kirche das ganze Psalmenbuch übernommen hat.“ (AES 109) „Die Tradition der lateinischen Kirche kennt drei Hilfsmittel, um die Psalmen zu verstehen und sie zu christlichen Gebeten zu machen: die Überschriften, die Psalmorationen [im Anhang der Liturgia Horarum] und vor allem die Antiphonen.“ (AES 110) Die neuere liturgiewissenschaftliche Diskussion stellt in diesen Ausführungen ein hermeneutisches Stufenmodell fest (erst die Würdigung des Wortsinns, dann Aufstieg zum Vollsinn) sowie ein offenbarungstheologisches Entwicklungsdenken: von Israel zur Kirche. Heilige Messe nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Als eine der Hauptquellen der Proprien sind Psalmen im Katholizismus Bestandteil der heiligen Messe. Die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat für die heilige Messe im Grundsatz den wichtigen Platz der Psalmen als Begleitgesang zum Einzug, zur Gabenbereitung und zur Kommunion wieder hergestellt, wie er seit der Zeit des Frühchristentums üblich gewesen war, bis diese Praxis ab dem Mittelalter verfiel. In der Agenda der Grundordnung des Römischen Messbuchs (GRM) von 2002 sind Psalmen vorgesehen beim Einzug (Nr. 47f), als Antwortpsalm nach der ersten Lesung (Nr. 61), als Gesang zur Darbringung der Gaben während der Gabenprozession (Nr. 74) und als Gesang zur Kommunion (Nr. 86f). Der Antwortpsalm ist „wesentlicher Bestandteil der Liturgie des Wortes“ und von „großer pastoraler und liturgischer Bedeutung“, weil er die Betrachtung des Wortes Gottes fördert; er vertieft die erste Lesung, wird aber zugleich selbst als biblische Lesung verstanden. Das Lektionar sieht für jede Messfeier einen eigens ausgewählten Psalm nach der ersten Lesung vor. In manchen Gemeinden ist jedoch noch die früher in der Betsingmesse geläufige Praxis üblich, den Antwortpsalm durch eine zum Inhalt der Lesung passende Liedstrophe zu ersetzen; dies ist im Messbuch nur als Ersatz „im Notfall“ vorgesehen, wird jedoch oft praktiziert; auch zum Einzug, zur Gabenbereitung und zur Kommunion hat sich der Psalmengesang im deutschsprachigen Bereich nicht durchsetzen können. Psalmen können außerdem bei der Spendung von Sakramenten und Sakramentalien, bei Prozessionen und Wallfahrten gesungen und gebetet werden. Beim kirchlichen Begräbnis sieht das Graduale Romanum Psalmen im Sterbehaus, während des Ganges vom Sterbehaus zur Kirche, beim Gang zum Friedhof und am Grab vor. Reformierter Liedpsalter In den Reformierten Kirchen ist der Psalmengesang (Genfer Psalter) seit dem 16. Jahrhundert ein Hauptelement des Gemeindegottesdienstes. Traditionell gab es unter anderem in Genf zweimal jährlich einen besonderen Gottesdienst, in dem alle 150 Psalmen, das Zehngebotelied und das Nunc dimittis gesungen wurden. Im Gottesdienst der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz ist heute ein Gebet mit Psalmworten üblich, das auch als Psalm im Wechsel gestaltet sein kann. Die Schweizer reformierten Kirchen entschieden sich für eine Auswahl wichtiger Psalmen, sowohl klassisch-reformierte Liedpsalmen als auch neue Psalmlieder und Lesepsalmen. Vollständige Liedpsalter, teilweise mit Neubereimungen, gibt es beispielsweise in den reformierten Kirchen Ungarns (1948), der Niederlande (1973), Kanadas (1984), Frankreichs (1995), Deutschlands (1996) und Italiens (1999). Evangelisches Gottesdienstbuch Die liturgische Erneuerung in der evangelisch-lutherischen Kirche führte im 20. Jahrhundert zunächst zu einer Rückgewinnung des gesungenen Introituspsalms, der im Mittelalter zu einem Vers verkürzt worden war: nun eine von der Antiphon gerahmte Einheit von 6 bis 8 Psalmversen. In der Regel folgte deren kirchenjahreszeitliche Auswahl der mittelalterlichen Tradition. Die christliche Aneignung des Psalters war für Herbert Goltzen 1963 noch völlig unproblematisch: „Die luth. Kirche jedenfalls hat in ihren Psalmliedern nicht nur biblizistische, alttestamentliche ‚Bereimungen‘ geschaffen, wie sie in den reformierten ‚Psalmen‘ vorliegen, sondern sie hat den in dem at. [= alttestamentlichen] Psalm verborgenen ‚Namen‘ Jesu Christi unbefangen im Psalmlied ausgesprochen.“ Das begründete aus seiner Sicht auch die Auswahl einzelner Psalmverse und deren Neuzusammenstellung für den Introituspsalm. Seit den 1970er Jahren wuchs im Raum der EKD das Interesse an Psalmen im Gottesdienst. Zusammenhängende längere Passagen aus Psalmen traten damit an die Stelle der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten, durch die Preußische Agende geförderten „(Bibel)Spruch-Liturgik.“ Im Eingangsteil des Gottesdienstes einen Psalm im Wechsel zu sprechen, ist seitdem allgemein üblich. Die Psalmen im Evangelischen Gesangbuch waren allerdings für das private Gebet gedacht und wurden dann anders als intendiert vielerorts für die Beteiligung der Gemeinde beim Eingangspsalm genutzt. Somit ist das chorische Sprechen üblicher als der von den liturgischen Kommissionen eigentlich bevorzugte gregorianische Gesang. Der Ausschuss Juden und Christen in der Erneuerten Agende war an den Vorarbeiten zum Evangelischen Gottesdienstbuch von 1999 beteiligt; er problematisierte unter anderem das Gloria Patri nach dem Eingangspsalm und schlug biblische Doxologien als Alternative zu diesem trinitarischen Lobspruch vor. Das Gottesdienstbuch hält aber am Gloria Patri nach dem Psalm fest, da Differenzen im jüdisch-christlichen Dialog (wie die Trinitätslehre) nicht verschleiert werden sollten. Religionspädagogik und Seelsorge Ingo Baldermann regte die Verwendung von Psalmen als „Gebrauchstexten“ in der Religionspädagogik an. Die Bedeutung von Psalmen in der Seelsorge, obwohl wenig untersucht, ist nach Einschätzung von Henning Schröer erheblich, besonders in der Krankenhausseelsorge. Klagepsalmen werden auch in der Trauerbegleitung eingesetzt. Psalmvertonungen Alle Psalmen sind als Psalmodien, Kirchenlieder und liturgische Gesänge vertont. Später wurden die Psalmtexte häufig in eine Reim- und Strophenform überführt. In der reformierten Tradition wird auch das Psalmlied als „Psalm“ bezeichnet; im Luthertum dagegen ist „Psalm“ stets ein biblischer Text. Bis zum Barock war das Publikum von Psalmvertonungen in der Regel die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde. Ihr galten die Kompositionen von Josquin Desprez, Heinrich Schütz, Salamone Rossi. Strenge Vorgaben für die Kultmusik führten besonders in der Orthodoxie dazu, dass Psalmvertonungen als persönliche Bekenntnismusik außerhalb des Gottesdienstes geschaffen wurden (Wassili Polikarpowitsch Titow). Im Konzertsaal der Klassik und Romantik wurden Psalmen auch in einem konfessions- oder religionsübergreifenden Kontext aufgeführt. Beispielsweise legte Louis Spohr seinen Psalmvertonungen die deutsche Übersetzung Moses Mendelssohns zugrunde. Komponisten des 19. Jahrhunderts nutzten Psalmen für unterschiedliche musikalische Formen: von der Orgelsonate (Julius Reubke: Der 94. Psalm) bis zur Sinfonie (Anton Bruckner: 150. Psalm). Im 20. Jahrhundert entstanden, so Gustav A. Krieg, stilistisch eher konservative Werke für das Gemeindepublikum, wobei aber die kompositorischen Möglichkeiten beispielsweise durch Stilmittel des Jazz erweitert wurden (Heinz Werner Zimmermann). Igor Strawinskys Psalmensymphonie oder die Chichester Psalms von Leonard Bernstein sind als Kirchen- oder Synagogenkonzert aufführbar. Größere Experimentierfreiheit biete der Konzertsaal, etwa bei Henri Pousseur, Sept Versets de la Pénitence. Steve Reich bereitete sein Werk Tehillim (1981) durch das Studium nicht-aschkenasischer Kantillationen vor, die er für authentischer hielt. Literatur Textausgaben Biblia Hebraica Stuttgartensia. Deutsche Bibelgesellschaft, 5. Auflage Stuttgart 1997, ISBN 3-438-05219-9. Alfred Rahlfs, Robert Hanhart: Septuaginta: Id Est Vetus Testamentum Graece Iuxta LXX Interpretes. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2006. ISBN 978-3-438-05119-6. Deutsche Psalter-Übersetzungen (Auswahl) Martin Buber: Das Buch der Preisungen. Verdeutscht von Martin Buber. Hegner, Köln 1966, ISBN 978-3-417-00648-3 Romano Guardini: Deutscher Psalter. Nach der lateinischen Ausgabe Papst Pius’ XII. übersetzt. Kösel, 3. Auflage München 1954. Moses Mendelssohn (Übers.): Die Psalmen. Diogenes, Zürich 1998, ISBN 3-257-23020-6. Münsterschwarzacher Psalter. Vier Türme, Münsterschwarzach 2003, ISBN 978-3-87868-236-3. Fachlexika Einführungen, Überblicksdarstellungen Erich Zenger, Frank-Lothar Hossfeld: Das Buch der Psalmen. In: Christian Frevel (Hrsg.): Einleitung in das Alte Testament. 9., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-030351-5, S. 431–455. Markus Witte: Der Psalter. In: Jan Christian Gertz (Hrsg.): Grundinformation Altes Testament. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, ISBN 978-3-8252-5086-7, S. 414–432. Hanna Liss: Das Buch Tehillim (Psalmen). In: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien. Band 8). Universitätsverlag C. Winter, 4., völlig neu überarbeitete Auflage Heidelberg 2019, ISBN 978-3-8253-6850-0, S. 417–428. Johannes Schnocks: Psalmen, Grundwissen Theologie (UTB 3473), Paderborn 2014, ISBN 978-3-8252-3473-7. Klaus Seybold: Die Psalmen. Eine Einführung. 2. Auflage Stuttgart 1991, ISBN 3-17-011122-1 Beat Weber: Werkbuch Psalmen III. Theologie und Spiritualität des Psalters und seiner Psalmen. Kohlhammer, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-018676-7 William P. Brown (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Psalms. Oxford University Press, New York 2014. ISBN 978-0-19-978333-5. Kommentare Walter Brueggemann, William H. Bellinger Jr.: Psalms (= New Cambridge Bible Commentary). Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2014. ISBN 978-0-521-84092-7. Susan Gillingham: Psalms Through the Centuries (= Blackwell Bible Commentaries. Bände 1 bis 3) Band 1: Psalms Through the Centuries. Wiley, Chichester 2012. ISBN 978-0-470-67490-1. Band 2: A Reception History Commentary on Psalms 1 - 72. Wiley, Chichester 2020. ISBN 978-1-119-48018-1. Band 3: A Reception History Commentary on Psalms 73 - 151. Wiley, Chichester 2022. ISBN 978-1-119-54225-4. Frank-Lothar Hossfeld, Erich Zenger: Die Psalmen I. Psalm 1–50. (= Neue Echter Bibel.AT. Band 29) Würzburg 1993. ISBN 3-429-01503-0. Frank-Lothar Hossfeld, Erich Zenger: Die Psalmen II. Psalm 51–100. (= Neue Echter Bibel.AT. Band 40) Würzburg 2002, ISBN 978-3-429-02359-1. Dieter Böhler: Psalmen. Psalm 1–50. (= Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). Herder, Freiburg 2021, ISBN 978-3-451-26825-0. Frank-Lothar Hossfeld, Erich Zenger: Psalmen. Psalm 51–100. (= Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). Herder, 3. Auflage Freiburg 2007, ISBN 978-3-451-26826-7. Frank-Lothar Hossfeld, Erich Zenger: Psalmen. Psalm 101–150. (= Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). Herder, Freiburg 2008, ISBN 978-3-451-26827-4. Hans-Joachim Kraus: Psalmen 1–59 (= Biblischer Kommentar Altes Testament. Band 15/1). Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn (8)2003, ISBN 3-7887-2028-X. Hans-Joachim Kraus: Psalmen 60–150 (= Biblischer Kommentar Altes Testament. Band 15/2). Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn (8)2003, ISBN 3-7887-2028-X. Hans-Joachim Kraus: Theologie der Psalmen (= Biblischer Kommentar Altes Testament. Band 15/3). Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn (8)2003, ISBN 3-7887-2029-8. Beat Weber: Werkbuch Psalmen I. Die Psalmen 1 bis 72. Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 978-3-17-016312-6 (unveränderte Neuauflage: 2008 [als Book on Demand]). Beat Weber: Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73 bis 150. Kohlhammer, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-17-016313-3. Sammelbände Erich Zenger (Hrsg.): Der Psalter in Judentum und Christentum (= Herders Biblische Studien. Band 18). Herder, Freiburg im Breisgau u. a. 1998. ISBN 3-451-26664-4. Erich Zenger (Hrsg.): The Composition of the Book of Psalms (= Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensum. Band 238). Peeters, Leuven 2010. ISBN 978-90-429-2329-4. Monographien und Artikel Egbert Ballhorn: Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90–150) (= Bonner Biblische Beiträge. Band 138). Philosophische Verlagsgesellschaft, Berlin/Wien 2004, ISBN 3-8257-0290-1. Ulrich Dahmen: Psalmen- und Psalterrezeption im Frühjudentum. Rekonstruktion, Textbestand, Struktur und Pragmatik der Psalmengruppe 11QPs aus Qumran. Brill, Leiden 2003, ISBN 90-04-13226-0. Dorothea Erbele-Küster: Lesen als Akt des Betens: Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen (= Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament. Band 87). Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2001, ISBN 978-3-7887-1812-1. Hartmut Gese: Die Entstehung der Büchereinteilung des Psalters. In: Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie. München 1974, S. 159–167. Bernd Janowski: Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. 6., durchgesehene und erweiterte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, ISBN 978-3-7887-2698-0 (1. Auflage: Neukirchen-Vluyn 2003). Bernd Janowski: Die „Kleine Biblia“. Der Psalter als Gebetbuch Israels und der Kirche. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 32 (2017), S. 3–25. (online) Reinhard Gregor Kratz: Die Tora Davids. Psalm 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 93 (1996), Heft 1, S. 1–34. Kathrin Liess: Der Weg des Lebens: Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen. Mohr Siebeck, Tübingen 2004, ISBN 3-16-148306-5. Matthias Millard: Die Komposition des Psalters. Ein formgeschichtlicher Ansatz (= FAT 9). Mohr Siebeck, Tübingen 1994, ISBN 3-16-146214-9. Eckart Otto, Erich Zenger: Mein Sohn bist du (Psalm 2,7). Studien zu den Königspsalmen (= Stuttgarter Bibelstudien. Band 192). Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2001, ISBN 3-460-04921-9. Markus Saur: Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie. de Gruyter, Berlin 2004, ISBN 3-11-018015-4 (zugleich Diss., Universität Erlangen-Nürnberg 2003). Augustinus Friedbert Weber: Der Heilige Geist als Bildhauer. Zur Auslegung des Psalters bei Gregor von Nyssa. In: Erbe und Auftrag, Jg. 80 (2004), S. 308–318. Erich Zenger: Der Psalter als Heiligtum. In: Beate Ego (Hrsg.): Gemeinde ohne Tempel: Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Band 118). Mohr Siebeck, Tübingen 1999, S. 115–130, ISBN 3-16-147050-8. Weblinks Einzelnachweise Buch des Alten Testaments Psalter Tanach
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wetzlar
Wetzlar
Wetzlar ist eine Stadt in Mittelhessen und ehemalige Reichsstadt. Von 1689 bis 1806 war die Stadt der letzte Sitz des Reichskammergerichtes. Wetzlar ist die Kreisstadt des Lahn-Dill-Kreises und – wie sechs weitere größere Mittelstädte im Land Hessen – eine Stadt mit Sonderstatus. Sie übernimmt Aufgaben des Landkreises und gleicht in vielen Bereichen einer kreisfreien Stadt. Sie ist die zwölftgrößte Stadt in Hessen mit Einwohnern (). Die Hochschulstadt ist als wichtiges Kultur-, Industrie- und Handelszentrum eines der zehn Oberzentren im Land Hessen. Wetzlar und das unweit östlich liegende Gießen sind die beiden Kerne des mittelhessischen Verdichtungsraums mit seinen etwa 200.000 Einwohnern; die urbane Agglomeration zählt etwa 275.000 Einwohner. Mit dem nahen Rhein-Main-Gebiet bestehen enge Verflechtungen. Wetzlars wirtschaftliche Bedeutung beruht auf seiner optischen, feinmechanischen, elektrotechnischen und stahlverarbeitenden Industrie. Wetzlar ist als Sportstadt mit bedeutenden Sportlern, Sportveranstaltungen und -vereinen bekannt. Es spielen einige Mannschaften in den jeweiligen Bundesligen. Zur sportlichen Förderung sind mehrere überregionale Leistungszentren und Stützpunkte angesiedelt. Das Stadtgebiet liegt am Zusammenfluss von Dill und Lahn. Geographie Lage Wetzlar liegt an der Lahn knapp oberhalb der Einmündung der Dill. Die Stadt erstreckt sich auf einer Höhe von 148–402 Metern auf meist hügeligem Terrain bis auf die Anhöhen beiderseits des Lahntals. Sie liegt am Trennungspunkt hessischer Mittelgebirge: Südlich der Lahn liegt der Taunus; nördlich der Lahn und westlich der Dill beginnt der Westerwald; nördlich der Lahn und östlich der Dill beginnt das Gladenbacher Bergland, das naturräumlich dem Westerwald zugeordnet wird. Der höchste Punkt des Stadtgebiets ist der Stoppelberg mit einer Höhe von 402 Metern, den tiefsten Punkt bildet die Lahn mit 148 Höhenmetern. Die nächstgelegenen größeren Städte sind nordwestlich Siegen (50 km) und Dillenburg (30 km), nordöstlich Marburg (40 km), östlich Gießen (lahnaufwärts, von Zentrum zu Zentrum etwa 12 km), südlich Frankfurt am Main (60 km) sowie westlich Koblenz (80 km) und lahnabwärts Limburg an der Lahn (40 km). In den Tälern von Lahn (Osten und Westen) und Dill (Norden) grenzen dichtbebaute Nachbargemeinden an, die teilweise in Wetzlar übergehen. Die die Stadt im Nordwesten, Nordosten und Süden umgebenden Mittelgebirge sind waldreich und dünn besiedelt. Geologie Wetzlar liegt am Ostrand des Rheinischen Schiefergebirges. Der Untergrund besteht aus geologisch jungen Sedimenten der Lahn und wesentlich älteren devonischen und karbonischen Gesteinen zweier geologischer Haupteinheiten des Schiefergebirges, der Lahnmulde und im Südosten der sogenannten Gießener Decke. Den nordwestlichen Teil des Stadtgebietes unterlagern im Lahntal Schluffe, Sande und Kiese, die nur wenig verfestigt sind. Sie wurden von der Lahn abgelagert, deren dort noch bis zu einem Kilometer breites Tal nach Westen immer schmaler und zunehmend tiefer wird. Der Hauptteil der Stadt ist auf teilweise intensiv verfalteten, gestörten und geschieferten Tonschiefern, Sandsteinen, Quarziten und Kalksteinen errichtet. Sie wurden in Devon und Karbon in einem von Inselketten, Vulkanen und Atollen geprägten Meer abgelagert, das während der variszischen Gebirgsbildung zusammengeschoben und von einer durch diese verfrachteten tektonischen Decke überlagert wurde. Die aus den Meeresablagerungen entstandenen Gesteine finden sich im Stadtbild wieder, da sie vielfach als Baumaterial verwendet wurden. Nachbargemeinden Wetzlar grenzt im Nordwesten an die Stadt Aßlar (Lahn-Dill-Kreis), im Norden und Nordosten an die Gemeinden Hohenahr (Lahn-Dill-Kreis) und Biebertal (Landkreis Gießen), im Osten an die Gemeinden Lahnau (Lahn-Dill-Kreis) und Heuchelheim an der Lahn (Landkreis Gießen) sowie an die Stadt Gießen, im Süden an die Gemeinden Hüttenberg und Schöffengrund sowie im Westen an die Stadt Solms (alle Lahn-Dill-Kreis). Stadtgliederung Der alte Kernstadtbereich von Wetzlar mit 31.107 Einwohnern ist unterteilt in zwölf Stadtbezirke: Altstadt, Neustadt, Hauserberg, Büblingshausen, Sturzkopf, Stoppelberger Hohl, Nauborner Straße, Silhöfer Aue/Westend, Altenberger Straße, Dalheim, Dillfeld und Niedergirmes. Niedergirmes ist mit über 6000 Einwohnern der größte Stadtbezirk. Weiterhin gibt es acht Stadtteile, die erst mit der Auflösung der Stadt Lahn 1979 zu Wetzlar kamen, aber bis auf Blasbach, Dutenhofen und Münchholzhausen schon lange fest mit der Stadt verwachsen waren. Dies sind östlich der Kernstadt Naunheim (3733), Garbenheim (2241), Münchholzhausen (2344) und Dutenhofen (3071). Nauborn (3987) liegt südlich der Kernstadt und Steindorf (1683) schließt sich westlich an die Kernstadt an. Nördlich der Kernstadt liegen Blasbach (975) und Hermannstein (4085) (Einwohnerzahlen jeweils in Klammern, Stand 31. Dezember 2020). Stadtteile der Stadt Wetzlar Klima Wetzlar weist ganzjährig ein gemäßigtes Klima der mittleren Breiten auf. Aus den Talverläufen und unterschiedlichen Geländehöhen ergeben sich unterschiedliche kleinklimatische Verhältnisse. Die Tagesmitteltemperatur liegt im Sommer bei ungefähr 17 bis 18 °C und im Winter etwa 1 bis 2 °C. Die mittlere Niederschlagshöhe beträgt 600 bis 700 Millimeter und liegt damit leicht unterhalb des Durchschnitts in Deutschland. Auf den Anhöhen südlich und nördlich des Lahntals regnet es mit 800 Millimetern genau den Durchschnittswert. Die niederschlagsreichsten Monate sind Juni und Dezember mit 74 und 73,3 Millimetern, der regenärmste Monat ist der Februar mit 49,1 Millimetern. Geschichte Vor- und Frühgeschichte, Früh- und Hochmittelalter Bereits in der Altsteinzeit war die Wetzlarer Region besiedelt, so auch im Bereich des Stadtteils Dalheim (Wüstungen Dalheim und Wanendorf). Durch die vom Klima begünstigte Lage blieben dort die Menschen auch in der Würmeiszeit vor rund 50.000 Jahren. Ausgrabungen längs der Lahn in Wetzlar-Dalheim haben größere, 7500 bis 7000 Jahre alte Siedlungsreste einer größeren, linearbandkeramischen-Kultur hervorgebracht. Weitere Siedlungen germanischen Ursprungs in der unmittelbaren Nähe wurden freigelegt. Sie stammen zum Teil aus der Zeit um Christi Geburt und waren für die Dauer von zirka 1400 Jahren kontinuierlich besiedelt. Auf der Gemarkung Wetzlars bestanden zudem drei keltische Siedlungen. Weitere Hausgrundrisse sowie Speichergruben einer bronzezeitlichen Siedlung auf dem Gebiet hinter dem Dom wurden dokumentiert, ein Beleg für die frühe vorgeschichtliche Besiedlung um 3500 v. Chr. auf diesem exponierten Gelände. Schon aus der keltischen La-Tène-Zeit ist die Eisenerzgewinnung und -verhüttung in und um Wetzlar nachgewiesen. Somit hat die Eisenverarbeitung dort eine rund 2500-jährige Tradition. Auch für Kupfer, Silber und Gold gab es in und um Wetzlar, wenn auch sehr viel später, Grubenfelder. In Waldgirmes, unmittelbar an der östlichen Stadtgrenze, befand sich eine zivile römische Siedlung im Aufbau, siehe Römisches Forum Lahnau-Waldgirmes und in Dorlar gab es im ersten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts n. Chr. ein römisches Militärlager. Der Name Wetzlar entstand möglicherweise bis zum 3. Jahrhundert, die Endsilbe -lar weist darauf hin (Näheres in der Geschichte der Stadt Wetzlar), nachweislich besteht die Stadt seit dem 8. Jahrhundert. Zu einem unbekannten Zeitpunkt erwarb Wetzlar das Marktrecht und damit das Recht, Marktzoll zu erheben. Im Laufe der Jahre entstand auf einem Hügel, dem ursprünglichen Burgberg und späteren Domhügel mit dem Marienstift, eine Marktsiedlung. Sie war Anziehungspunkt für Händler und Handwerker. Zum ersten Kirchenbau vor 897 war es dann auch möglicher Treffpunkt für gläubige Christen. Jüngste umfangreiche Ausgrabungen in der Altstadt hinter dem Dom zeigen die Existenz einer bisher nur vermuteten früheren Stadtbefestigung aus dem 12. Jahrhundert, eine Turmkonstruktion sowie die Überreste eines an die gut erhaltenen Mauerreste angebauten Gebäudes. Durch die hohe Funddichte und ein großes Fundspektrum wird ein starker Aufschwung der Stadt und der damit verbundene Wohlstand bestätigt. So gibt es nicht nur Keramik- und Glasfragmente, Trachtbestandteile, Handwerksgeräte, sondern auch Speiseabfälle und Münzen, weiterhin die Aufdeckung von mehreren Flachdarren zur Flachsverarbeitung sowie zwei Kalkbrennöfen aus dem 13. Jahrhundert, die zur Herstellung von Mörtel im ehemaligen Stiftsbezirk dienten und auf eine rege Bautätigkeit verweisen. Die alte Reichsburg Kalsmunt: Nach Karl Metz soll diese Burg bzw. dieses Schloss bereits eine frühe römische Gründung gewesen sein. Für Zedler hat dieses Schloss Karl der Große um das Jahr 785 erbaut, um die demnach bereits bestehende Stadt dadurch besser im Zaume halten zu können. Sie soll von ihm „Carols Mons“ (Carlmund oder Carlmont) genannt worden sein, die heutige Benennung wird folgendermaßen gedeutet: Kals- (Karls) und -munt (Vasall), d. h. ein Lehensmann des Fränkischen Hofes. Andere Quellen halten den Namen für vorgermanisch oder keltisch wie: „The name Kalsmunt is of Celtic origin and means ‚barren hill‘“, mit der Bedeutung nutzlos/fruchtlos/unfruchtbarer Hügel. Auf der Reichsburg Kalsmunt wurden die kaiserlichen Münzen für Wetzlar geprägt. König Rudolf von Habsburg bestellte Graf Adolf von Nassau im Jahr 1286 zum Burghauptmann auf der Burg Kalsmunt. Adolf behielt das Amt, bis er selbst zum König des Römisch-Deutschen Reiches gewählt wurde. Bereits 1292 übertrug er das Amt des Burghauptmanns an Gottfried von Merenberg. Als eine frühe urkundliche Ersterwähnung der Stadt gilt eine Schenkung Ingolds an das Kloster Lorsch aus dem Jahre 832 im Lorscher Codex (Urkundenabschrift Nr. 3146). Der Konradiner Gebhard, Graf in der Wetterau und ab 904 Herzog von Lothringen, ließ 897 eine Salvatorkirche (Erlöserkirche) weihen, die frühere Bauten ersetzte. Er stiftete 914/915 das Kloster St. Maria in Wetzlar, dort wurde er auch begraben. Zu Beginn des 10. Jahrhunderts erfolgte die Gründung des Marienstiftes, eines Kollegiatstiftes, durch Gebhards Söhne Hermann I., einen späteren Herzog von Schwaben, und Udo I., Graf in der Wetterau. Spätmittelalter, Reichsstadt, Reichskammergericht Als Freie Reichsstadt stieg Wetzlar vom Ende des 12. Jahrhunderts bis etwa 1350 mit rund 6000 Einwohnern nach Frankfurt zur zweitgrößten Stadt der Region auf, verarmte jedoch bis Anfang des 15. Jahrhunderts. Der Hohenstaufenkaiser Friedrich I. Barbarossa schuf im Wetzlarer Gebiet eine Reichsvogtei und stellte 1180 die Bürger Wetzlars den Bürgern Frankfurts gleich. Wetzlar wurde gleichzeitig Reichsstadt und blieb es bis 1803. Zum Schutz der Stadt und um die Wetterau als Reichsland zu sichern, baute er hoch über Wetzlar die bestehende Reichsburg Kalsmunt weiter aus. König Rudolf von Habsburg bestellte Graf Adolf von Nassau im Jahr 1286 zum Burghauptmann auf der Burg Kalsmunt. Adolf behielt das Amt, bis er selbst zum König des Römisch-Deutschen Reiches gewählt wurde. Die Handelsstraße, die bei Wetzlar die Lahn durchquerte, die Wetzlarer Eisenerzeugnisse, von denen heute noch der Eisenmarkt (forum ferri) zeugt, Wollweberei und Lederverarbeitung waren eine gute Basis für die weitere Entwicklung der Stadt. Am 9. Juli 1277 wurden in einer Königsurkunde erstmals Juden in Wetzlar erwähnt. Der Deutsche Orden ließ sich von 1285 bis 1809 im Deutschordenshof der Stadt nieder. Im Jahre 1285 kam der „falsche Kaiser“ Dietrich Holzschuh, genannt Tile Kolup, der sich als Friedrich II. ausgab (der tatsächlich schon 1250 in Italien gestorben war), nach Wetzlar. Er zog von Neuss kommend dem rechtmäßigen König Rudolf von Habsburg nach Frankfurt entgegen. Als der König daraufhin nach Wetzlar zog, nahmen die Stadtoberhäupter Tile Kolup fest und lieferten ihn aus. Er wurde als Zauberer, Ketzer und Gotteslästerer zum Flammentod verurteilt und am nächsten Tag in Wetzlar hingerichtet. Bis 1250 war der größte Teil der Stadtbefestigung, deren Reste heute noch besichtigt werden können, fertiggestellt. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wird die Einwohnerzahl der Stadt auf 6000 geschätzt. Sie war damit für diese Zeit, im Vergleich zu anderen Städten in Deutschland, bereits eine Großstadt. Um 1350 war der Höhepunkt der mittelalterlichen Stadtentwicklung erreicht. Die jahrzehntelange Fehde mit den Grafen von Solms, die versuchten, Wetzlar zu einer solmsischen Landstadt zu machen, bedrohte die lebenswichtigen Handelsstraßen. Deshalb wurde im Wetzlarer Norden die Burg Hermannstein (1373–1379) zum weiteren Schutz der Stadt errichtet. Der Kaiser unterstützte zwar die Stadt, jedoch nicht sehr erfolgreich. Er übertrug 1378 und 1393 die Erbvogtei an Hermann II. (Hessen), genannt „der Gelehrte“. Seitdem waren die Amtmannschaft und der Schutz Wetzlars mit der Reichsburg Calsmunt landgräflich hessisches Lehen des Reichs. Bei jedem Regierungsantritt eines hessischen Landgrafen mussten danach der Rat und die Bürgerschaft dem Landgraf als Erbvogt und Schutzfürst huldigen. Das Schutzverhältnis blieb über die Jahrhunderte nicht ganz konfliktfrei. Wiederholt musste die Landgrafschaft ihre Rechte, sogar unter Androhung militärischer Gewalt, gegenüber dem Rat und der Bürgerschaft durchsetzen. Die Stadt verschuldete sich und fiel 1387 unter Zwangsverwaltung, wurde aber in den Rheinisch-Schwäbischen Städtebund aufgenommen. Der Niedergang der Stadt führte bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges zu einer Verringerung der Einwohnerzahl auf nur noch 1500. Ein Glücksfall für Wetzlar war 1689 die Verlegung des höchsten Gerichtes des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des Reichskammergerichts, nach Wetzlar. Von Mai bis September 1772 war Johann Wolfgang Goethe am Reichskammergericht als Praktikant eingeschrieben. Seine glücklose Romanze mit Charlotte (Lotte) Buff während dieser Zeit war Stoff für seinen Erstlingsroman Die Leiden des jungen Werther, mit dem er Wetzlar weltweit bekannt machte. Das Lotte-Haus am Deutschordenshof in der Lotte-Straße erinnert noch daran. Mit der Auflösung des Reichs 1806 endete auch die Existenz des Reichskammergerichts. Das französisch besetzte Wetzlar verlor bereits 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluss seine Reichsunmittelbarkeit: Im Zuge der Mediatisierung kam es zusammen mit dem Fürstentum Aschaffenburg und dem Fürstentum Regensburg als Grafschaft Wetzlar zum Staat des Reichserzkanzlers Reichsfreiherr Karl Theodor von Dalberg, 1810 zu dessen Großherzogtum Frankfurt. Nach dem Wiener Kongress fiel das Gebiet 1815 an Preußen, und 1822 wurde es Sitz des Landrates des neu geschaffenen Landkreises Wetzlar. Wetzlar wird Industriestadt Die Eisenerzgewinnung, -verhüttung und -verarbeitung in und um Wetzlar hat bereits eine 2500-jährige Tradition. Die „moderne“ Industrialisierung Wetzlars begann jedoch erst mit der Schiffbarmachung der Lahn durch Schleusen um 1850. Mit der Eröffnung zweier Eisenbahnlinien 1862/63 (Lahntalbahn mit der Strecke Wetzlar–Limburg–Koblenz und Köln-Gießener Eisenbahn), die sich in Wetzlar trafen, sowie der Berlin-Wetzlarer Eisenbahn, der sogenannten Kanonenbahn. Im Jahre 1878 fand die Stadt Anschluss an ferne Rohstoff- und Absatzmärkte und wurde Industriestandort. 1869 waren allein im Stadtgebiet Wetzlar, mit ehemaligem Bergamt und Bergrevier, 100 Erzbergwerke in Betrieb. Der erste Wetzlarer Hochofen der Gebrüder Buderus wurde 1872 in Betrieb genommen. Über 100 Jahre lang wurde in der Sophienhütte das im Bergbau und Hüttenwesen im Lahn-Dill-Gebiet gefundene Eisenerz (Roteisenstein) verarbeitet. Ab 1887 wurden nach und nach Erzbergwerke in Wetzlar stillgelegt, nur kurz unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg. Die danach auf dem Weltmarkt angebotenen, billiger im Tagebau gewonnenen ausländischen Erze beschleunigten den Prozess. 1926 kam der Wetzlarer Bergbau ganz zum Erliegen. Weitere nennenswerte metallverarbeitende Unternehmen waren Röchling, die Hessischen Berg- und Hüttenwerke, die Carolinenhütte und das Herkuleswerk. Das Optische Institut Carl Kellners war Keimzelle für eine optische und feinmechanische Industrie mit Weltruf mit Unternehmen wie Leitz, (Leica), Hensoldt (heute Carl Zeiss Sports Optics), Minox, Pfeiffer, Loh, Christian Kremp, Seibert, Wilhelm Will, Hollmann, Leidolf und viele andere. Diese Unternehmen machten die Stadt zum heutigen Hochtechnologiestandort. Wetzlar im 20. Jahrhundert Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung wuchs die Stadt über ihre mittelalterlichen Stadtgrenzen hinaus. 1903 erfolgte die Eingemeindung von Niedergirmes mit seinen ausgedehnten Industrieanlagen und dem Bahnhofsviertel. Im Ersten Weltkrieg befand sich etwa zwei Kilometer südöstlich des Stadtzentrums, hinter der Spilburg (urkundliche Ersterwähnung 1310), ein Gefangenenlager des XVIII. Armeekorps mit über 15.000 Kriegsgefangenen aus Russland. Es handelte sich vor allem um ukrainische Gefangene, denen bessere Bedingungen als üblich geboten wurden, um sie als mögliche spätere Bündnispartner gegen Russland zu gewinnen. Aus dem Lager entwickelte sich später der Stadtbezirk Büblingshausen. Im Ersten Weltkrieg fielen 540 Wetzlarer Männer. Zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Einwohnerzahl der Stadt von 15.000 überschritten. Wegen zunehmender Verkehrsprobleme wurde eine Ringstraße im Westen der Altstadt gebaut und damit die alte steinerne Lahnbrücke durch eine weitere Brücke entlastet. Bis 1932 war der Landkreis Wetzlar eine Exklave der Rheinprovinz in Hessen, ehe der Kreis und damit auch die Stadt Wetzlar in die preußische Provinz Hessen-Nassau eingegliedert wurden. Nach 1933 wurde an der Straße nach Steindorf ein weitläufiger neuer Kasernenkomplex errichtet. Im Zweiten Weltkrieg war die Stadt als Industrieschwerpunkt (Eisenwerke, optische Industrie) das Ziel schwerer Bombenangriffe, die besonders das Bahnhofsviertel und den Stadtteil Niedergirmes trafen. Die historische Altstadt blieb jedoch, vom Dom abgesehen, von den Angriffen weitgehend verschont. Von 132 Juden, die 1933 in Wetzlar wohnten, lebten 1939 noch 46 in der Stadt. Von den Wetzlarer Juden wurde etwa die Hälfte durch eine Frankfurter Dienststelle der Gestapo in Vernichtungslager deportiert. Die anderen Familien wanderten nach Amerika, Südafrika, Palästina und Frankreich aus. Ernst Leitz II. (1871–1956), Wetzlarer Unternehmer, der mit der Leica die erste international erfolgreiche Großserien-Kleinbildkamera der Welt verwirklichte, rettete als der „Wetzlarer Schindler“ zahllose Juden vor dem Zugriff der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg, indem er sie in internationale Dependancen und befreundete Unternehmen in der ganzen Welt vermittelte. In Dalheim wurde für die kriegsgefangenen alliierten Luftwaffenangehörigen (POW, Prisoners of War) von Mai 1944 bis März 1945 ein sogenanntes Durchgangslager Dulag Luft als „Transit Camp“ unterhalten, wo sie nach dem Verhör auf die sogenannten Stammlager (Stalags) verteilt wurden. Während des Krieges mussten auch in Wetzlar Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie arbeiten, zum Schutz vor Bomben teilweise in unterirdischen Produktionshallen unter dem Hauserberg. Schätzungen zufolge müssen sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs ungefähr 10.000 Ausländer zum Teil als Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Gebiet der Stadt aufgehalten haben. Zusammen mit überlebenden Juden wurden mehrere Tausend ehemalige Zwangsarbeiter in der späteren Sixt-von-Arnim-Kaserne im Wetzlarer Westend bis 1952 als Displaced Persons untergebracht. Im Rahmen der Neugliederung Deutschlands wurde die Stadt dem neu gegründeten Bundesland Hessen zugeordnet. Der gewaltige Zuzug von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen führte zu einer Verdopplung der Einwohnerzahl auf über 30.000 zum Beginn der 1950er Jahre. Es musste dringend neuer Wohnraum geschaffen werden, weshalb die Erschließung und der Ausbau einer Reihe neuer Wohngebiete und ganzer Stadtbezirke vorangetrieben wurde. 1951 bis 1953 entstand eine Siedlung in dichter Geschossbauweise im Westend. Ab 1956 begann der Ausbau der Neuen Wohnstadt, teilweise in Zeilenbauweise und teilweise in Hochhäusern errichtet, die mindestens 4800 Menschen aufnahm. Ab 1957 entstand ein großer Bundeswehr-Standort in den ehemaligen Wehrmacht-Kasernen (Spilburg- und Sixt-von-Armin-Kaserne) aus der NS-Zeit. Dort waren zeitweise rund 6000 Soldaten stationiert. Nach der Auflösung des Standortes 1992 verblieb nur noch das für Mittelhessen zuständige Kreiswehrersatzamt, das 2012 ebenfalls aufgelöst wurde. Als Keimzelle des heutigen Stadtbezirks Dalheim wurde von den Werken Buderus und Röchling-Buderus nach dem Ersten Weltkrieg die sogenannte Altenberger Kolonie entlang der Altenberger Straße gebaut. Diese damals sehr fortschrittlichen Reihenhäuser mit angebauten Schuppen und anschließenden Gartengrundstücken wurden an Beschäftigte der beiden Werke vermietet. Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre ergänzten die Firmen Buderus, Leitz und die Stadt das Gebiet um die Bredow-Siedlung mit Kindergarten, Spiel- und Sportplatz sowie um die Österreicher-Siedlung, benannt nach der dort stattgefundenen siegreichen Schlacht bei Wetzlar (Erzherzog Karl von Österreich gegen Napoleons General Jourdan) inklusive Eichendorff-Schule. In den 1960er Jahren plante die Stadt Wetzlar, auf einem Entwurf der Professoren March und Maurer basierend, das große Neubaugebiet Dalheim. Mit dem Ausbau des neuen Stadtbezirks wurde 1965 begonnen. Am 1. Januar 1977 wurde Wetzlar im Zuge der hessischen Gebietsreform kraft Landesgesetz mit der Nachbarstadt Gießen und 14 Umlandgemeinden zur kreisfreien Stadt Lahn zusammengeschlossen. Die neue Stadt hatte zirka 156.000 Einwohner. Nach scharfen Protesten, vor allem von Wetzlarer Seite, wurde die Neugliederung des Lahn-Dill-Gebiets modifiziert und die Stadt Lahn nach 31 Monaten Existenz wieder aufgelöst. Dadurch wurde Wetzlar am 1. August 1979 wieder als eigenständige Stadt gebildet. Nach der Neugründung entsprach das Stadtgebiet im Wesentlichen dem Stadtbezirk Wetzlar der aufgelösten Stadt Lahn, zuzüglich der im Osten liegenden Orte Dutenhofen und Münchholzhausen. Zugleich mit der Auflösung der Stadt Lahn erlangten die kreisangehörigen Städte mit mehr als 50 000 Einwohnern, also auch Wetzlar, den Rang von Sonderstatusstädten mit zusätzlichen Kompetenzen und dem Privileg, dass die beiden Personen an der Verwaltungsspitze die Amtsbezeichnung Oberbürgermeister und Bürgermeister tragen. Demokratisch gewählte Körperschaften erhielt die Stadt nach den für den 7. Oktober 1979 angesetzten Nachwahlen, bei denen der SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Walter Froneberg die absolute Mehrheit zufiel. Wetzlar ist seither Kreisstadt des eines um die Kommunen des ausgegliederten Landkreises Gießen verkleinerten Lahn-Dill-Kreises. In den 1970er Jahren ging der traditionsreiche Eisenerzabbau im Lahn-Dill-Gebiet durch Erschöpfung der dortigen Vorkommen dem Ende entgegen. Infolgedessen endete 1981 mit dem Ausblasen des letzten Hochofens von Buderus die Epoche der Roheisenerzeugung in Wetzlar: Der immer größere Anteil an importiertem Eisenerz ließ den Betrieb zuletzt unwirtschaftlich werden. Für die Stadt Wetzlar wurde im September 2011 das Ende 1976 im Rahmen der Gebietsreform ausgelaufene Kfz-Kennzeichen WZ neu genehmigt und ab 1. Juli 2012 wieder eingeführt. Bundeswehr Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Wetzlar zunächst Garnison für amerikanische, später auch französische Einheiten, gehörte aber weiterhin zur Amerikanischen Besatzungszone. Mit der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1956 übernahmen die neu eingezogenen Bundeswehrsoldaten die Kasernen Sixt von Armin und Spilburg. Im Laufe der Zeit wuchs der Standort Wetzlar mit rund 6000 Soldaten zum größten Panzer-Standort in Hessen und zum zweitgrößten Bundeswehrstandort, nach Koblenz, in der Bundesrepublik. Die veränderte politische Situation in Deutschland nach der Wiedervereinigung führte zu einem Truppenabbau. Daher wurde der Standort Wetzlar im Jahr 1992 fast vollständig aufgelöst. Geblieben ist lediglich für kurze Zeit das Kreiswehrersatzamt, zuständig für den mittelhessischen Raum. Zweimal wurde dem Standort zu Ehren der Große Zapfenstreich gegeben, zuletzt zur Auflösung der Wetzlarer Bundeswehrgarnisonen. Staats- und Verwaltungsgeschichte im Überblick Die folgende Liste zeigt die Staaten und Verwaltungseinheiten, denen Wetzlar angehörte: 1180–1803: Heiliges Römisches Reich, Reichsstadt Wetzlar (Die Schutzherrschaft übt als Reichslehen zeitweise der Landgraf von Hessen-Darmstadt aus) 1803–1810: Primatialstaat Karl Theodor von Dalbergs, Reichsgrafschaft Wetzlar 1810–1813: Großherzogtum Frankfurt, Departement Frankfurt, Unterpräfektur Wetzlar ab 1816: Königreich Preußen, Rheinprovinz, Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Wetzlar ab 1866: Norddeutscher Bund, Königreich Preußen, Rheinprovinz, Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Wetzlar ab 1871: Deutsches Reich, Königreich Preußen, Rheinprovinz, Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Wetzlar ab 1918: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Rheinprovinz, Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Wetzlar ab 1932: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Wetzlar ab 1944: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Nassau, Kreis Wetzlar ab 1945: Amerikanische Besatzungszone, Groß-Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Wetzlar ab 1946: Amerikanische Besatzungszone, Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Wetzlar ab 1949: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Wetzlar ab 1968: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Darmstadt, Kreis Wetzlar ab 1. Januar 1977: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Darmstadt, Stadt Lahn ab 1. August 1979: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Darmstadt, Lahn-Dill-Kreis ab 1981: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Gießen, Lahn-Dill-Kreis Religionen: Geschichte und Gegenwart Die Stadt Wetzlar und später der umliegende Raum gehörten von den Ursprüngen an bis 1933 zum Bistum Trier / (davor bis 1801) Erzbistum Trier. Der Erzbischof war Stiftspropst des Wetzlarer Domes. Die vier katholischen Pfarreien Wetzlars verfügen über sieben Kirchenbauten und gehören zum Bezirk Wetzlar im nordöstlichen Teil des Bistums Limburg. Der Anteil der Religionsgemeinschaften lag 1939 bei 78,4 Prozent Protestanten, 15,7 Prozent Katholiken sowie einem Prozent sonstiger Christen. Die jüdische Gemeinde in Wetzlar bestand bis in die Zeit des Nationalsozialismus und lebte durch die Displaced Persons (DP) in der Nachkriegszeit wieder auf. Erst seit im März 1949 die letzten DP die Stadt verlassen haben, existiert keine Gemeinde mehr. Die 16 evangelischen Kirchen Wetzlars (einige Gemeindezentren sind für zwei Kirchen zuständig) gehören hauptsächlich zur Evangelischen Kirche im Rheinland, denn Wetzlar ist eine kleine Exklave ganz im Osten dieses Gebietes. Nur die Stadtteile Naunheim und Hermannstein gehören zur Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Für die muslimische Gemeinde Wetzlar stehen zwei Moscheen zur Verfügung. Außerdem besteht eine alevitische Gemeinde. Zahlreiche weitere religiöse Gruppen sind in der Stadt vertreten, so die Zeugen Jehovas, die Mormonen, die Neuapostolische Kirche usw. Einwohnerstatistik Einwohnerentwicklung Infolge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum Wetzlars: 1890 zählte die Stadt 8144 Einwohner, 1925 waren es bereits 16.500. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann das Wachstum weiter an Dynamik; von über 26.250 Einwohnern (1950) wuchs die Stadt – auch infolge weiterer Eingemeindungen – auf über 52.000 Einwohner Ende der siebziger Jahre an. Seitdem waren nur noch geringfügige Änderungen zu registrieren. Wetzlar ist die zwölftgrößte Stadt in Hessen mit aktuell 55.371 Einwohnern Anfang 2019 (inkl. Zweitwohnsitze). Wetzlar hatte am 31.12.2020 nach dem Einwohnermelderegister 54.100 Einwohner, 32.373 davon entfielen auf die Kernstadt und 21.727 auf die Stadtteile. Am 31.12.2018 waren es 53.896 Einwohner (davon waren 26.308 männlich und 27.588 weiblich); Beim Zensus am 9. Mai 2011 zählte die Stadt noch 50.826 Einwohner. Im September 2019 wurden für Wetzlar 2.264 Arbeitslose gemeldet. (nur Hauptwohnsitze, jeweiliger Gebietsstand) Quellen: lagis-hessen.de, mittelhessen.de, verwaltungsgeschichte.de Nationalitäten Der Ausländeranteil betrug 2016 15,3 % (8.109 Einwohner), die sich auf 121 Nationalitäten verteilten. Den größten Anteil bildeten die türkischen Staatsangehörigen mit 21 % der nichtdeutschen Bevölkerung. Es folgen die polnische und die russische Nationalität mit einem Anteil von 10 % sowie 9 %. Gemäß Zensus 2011 hatten 31,6 % der Bewohner von Wetzlar einen Migrationshintergrund, was 16.040 Personen entspricht. Religionsstatistik Derzeit (Stand 31. Dezember 2020) sind von den Einwohnern 36,9 % evangelisch, 16,2 % katholisch und 46,8 % sind konfessionslos oder gehören einer anderen Glaubensgemeinschaft an. Gemäß der Volkszählung 2011 gehörten damals noch fast die Hälfte der Bevölkerung den evangelischen Kirchen an; im Jahr 2011 waren 45,7 % der Einwohner evangelisch, 19,2 % römisch-katholisch und 35,1 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Religionsgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Politik Wahlen in Wetzlar von 2008 bis 2011 Stadtverordnetenversammlung Die Stadtverordnetenversammlung ist das oberste Organ der Stadt. Ihre politische Zusammensetzung wird alle fünf Jahre in der Kommunalwahl durch die Wahlbevölkerung der Stadt bestimmt. Wählen darf, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat und deutscher Staatsbürger im Sinne des Grundgesetzes oder Staatsangehöriger eines der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist. Für alle gilt, dass sie seit mindestens drei Monaten in der Stadt gemeldet sein müssen. Die Kommunalwahl am 14. März 2021 hatte folgendes Ergebnis in Vergleich zu früheren Kommunalwahlen: Es waren 59 Stadtverordnete sowie die Ortsbeiräte der Stadt für die Legislaturperiode vom 1. April 2012 bis 31. März 2026 zu wählen. Von 39.779 Wahlberechtigten gingen 17.138 zur Wahl. Die Wahlbeteiligung stieg von 40,8 % im Jahr 2016 auf 43,1 % im Jahr 2021. Oberbürgermeister und Magistrat Nach der hessischen Kommunalverfassung wird in den Sonderstatusstädten der Oberbürgermeister für eine sechsjährige Amtszeit gewählt, seit 1993 in einer Direktwahl, und ist Vorsitzender des Magistrats, dem in der Stadt Wetzlar neben dem Oberbürgermeister der Bürgermeister als sein hauptamtlicher Vertreter, zwei hauptamtliche Stadträte sowie zwölf ehrenamtliche Stadträte angehören. Oberbürgermeister ist seit dem 27. November 2015 Manfred Wagner (SPD). Er wurde als Nachfolger von Wolfram Dette (FDP), der nach drei Amtszeiten nicht mehr kandidiert hatte, am 14. Juni 2015 im ersten Wahlgang bei einer Wahlbeteiligung von 30,28 Prozent mit 60,65 Prozent der Stimmen gewählt. Eine Wiederwahl folgte 2021. Amtszeiten der Oberbürgermeister 2015–2027 Manfred Wagner (SPD) 1997–2015 Wolfram Dette (FDP) 1979–1997 Walter Froneberg (SPD) Nach Auflösung der Stadt Lahn und Neubildung der Stadt Wetzlar am 1. August 1979 wurde wurde Walter Froneberg von der neu gewählten Stadtverordnetenversammlung zum ersten Oberbürgermeister der Stadt gewählt. Er trat sein Amt am 27. November 1979 an. Vor der Gründung der Stadt Lahn amtierte zuletzt von 1973 bis Ende 1976 Bürgermeister Otto Malfeld (SPD). Die ehrenamtlichen Stadträte werden von der Stadtverordnetenversammlung in oder bald nach der konstituierenden Sitzung für die fünfjährige Wahlperiode bis zur nächsten Kommunalwahl in den Magistrat gewählt. Für die Dauer ihrer Wahlzeit werden sie zu Ehrenbeamten ernannt und können, im Gegensatz zu hauptamtlichen Magistratsmitgliedern, nicht abgewählt werden. Die Stärke der in der Stadtverordnetenversammlung vertretenen Fraktionen spiegelt sich grundsätzlich in der Zusammensetzung des ehrenamtlichen Magistrats wieder. Der Magistrat steht an der Spitze der Stadtverwaltung und wird von dieser unterstützt. Er trifft die Entscheidungen zu laufenden Verwaltungsangelegenheiten, bereitet gemeinsam mit der Verwaltung die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung vor und führt diese aus. Er wirkt mit bei der Ausführung der Gesetze und Verordnungen innerhalb der Stadt, bei der Verwaltung des Vermögens, bei der Erstellung des Haushaltsplanes sowie bei der Überwachung des Kassen- und Rechnungswesens. Auch die Wahrung der Bürgerinteressen ist seine Aufgabe. Er vertritt die Gemeinde nach außen, führt den Schriftwechsel und vollzieht die Gemeindeurkunden. Er tagt unter Vorsitz des Obebürgermeisters in nicht-öffentlichen Sitzungen. An den Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung nehmen die Stadträte ohne Stimmrecht teil. Der hauptamtliche Bürgermeister und die hauptamtlichen Stadträte werden von der Stadtverordnetenversammlung auf die Dauer von sechs Jahren als Wahlbeamte gewählt. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Oberbürgermeisters sind die vier hauptamtlichen Magistratsmitglieder als Dezernenten jeweils für einen Teil der Ämter und Fachbereiche der Stadtverwaltung zuständig. Neben Oberbürgermeister Manfred Wagner handelt es sich um Bürgermeister Andreas Viertelhausen (FWG) sowie die Stadträte Jörg Kratkey (SPD) und Norbert Kortlüke (Grüne). Darüber hinaus haben auch zwei ehrenamtliche Stadträte zwei kleiner zugeschnittene Dezernate übernommen. Wappen, Flagge und Dienstsiegel Am 1. Juni 1965 wurde der Stadt Wetzlar im damaligen Landkreis Wetzlar genehmigt, das bisherige Wappen zu ändern. Flaggenbeschreibung „Zwischen schmalen schwarzen Seitenstreifen eine breite rote Mittelbahn, im oberen Drittel mit dem Stadtwappen belegt.“ Dienstsiegel Die Stadt Wetzlar führt ein Dienstsiegel, in dem das Stadtwappen mit der Umschrift „Stadt Wetzlar“ enthalten ist. Städtepartnerschaften und Patenschaften Wetzlar pflegt bereits seit einigen Jahrzehnten eine Reihe von lebhaften Städtepartnerschaften. Neben den acht Städtepartnerschaften pflegt die Stadt Wetzlar auch noch zahlreiche internationale Freundschaften und Kontakte, als sogenannte Netzwerke, beispielsweise zu Tortosa und Tarragona (Spanien). Die erste internationale Städtepartnerschaft ging Wetzlar mit der französischen Stadt Avignon ein. Bereits im April 1960 unterzeichnet, wurde diese Verbindung zu einer der ersten deutsch-französischen Städtepartnerschaften überhaupt. 1969 kam die englische Partnerstadt Colchester hinzu, gefolgt 1974 von Schladming (Österreich) und 1987 von Siena (Italien). Eine weitere Partnerschaft besteht seit 1980 mit Reith bei Kitzbühel in Österreich als Partnergemeinde des Wetzlarer Stadtteils Garbenheim. Die jüngste internationale Städtepartnerschaft besteht seit 2008 mit der Stadt Písek in Tschechien. Wetzlar übernahm bereits 1959 für den Berliner Stadtbezirk Neukölln eine Patenschaft, die später zur Partnerschaft weiterentwickelt wurde. Nach der politischen Wende im Osten Deutschlands wurden Beziehungen in die Goethestadt Ilmenau in Thüringen geknüpft, aus denen 1990 eine offizielle Städtepartnerschaft entstand. Die Städtepartnerschaften werden intensiv durch gegenseitige Besuche gepflegt, beispielsweise in Form offizieller Delegationen und regelmäßiger Schüleraustausche. Die Partnerstädte werden zudem durch die Namensgebung einer Reihe Wetzlarer Parks gewürdigt, insbesondere wurden die Anlagen rund um die historische Altstadt nach den Partnerstädten benannt. Zur Würdigung ihres großen Engagements in den partnerschaftlichen Beziehungen wurde die Stadt 1990 mit der Ehrenplakette des Europarates ausgezeichnet. Weitere partnerschaftliche Beziehungen bestehen zur namibischen Hauptstadt Windhuk, zur Stadt Point Pedro in Sri Lanka (durch Vermittlung von Humedica) und zur Gemeinde Nossa Senhora Apareçida in São Paulo, Brasilien. Neben den Städtepartnerschaften hat Wetzlar eine Reihe von Paten- und Partnerschaften übernommen. Seit 1975 wird die in der Sahelzone gelegene Stadt Dori (Burkina Faso) unterstützt. Im Rahmen dieser Patenschaft konnte eine Reihe von Projekten wie der Bau von Schulgebäuden und die Ausstattung des Krankenhauses gefördert werden. Eine ähnliche Patenschaft besteht zum 8. Bezirk der Stadt Moskau. Mit der im Jahr 1962 übernommenen Patenschaft für das Ostdeutsche Lied soll das Liedgut der früheren deutschen Siedlungsgebiete in Osteuropa erhalten und gepflegt werden. Die Stadt unterhält in diesem Zusammenhang ein Archiv mit etwa 1.700 Liederbüchern und einer Liedsuchdatei im Umfang von etwa 63.000 Liedtiteleinträgen. Von 1958 bis 1995 war das Minensuchboot Wetzlar, ein Schiff der Lindau-Klasse, ab 1976 umgebaut zum Minenjagdboot, bei der Bundesmarine in Dienst. Seit 1990 trug ein Airbus 310-300 der Lufthansa mit der Kennzeichnung D-AIDH den Namen Wetzlar. Die Maschine wurde 2003 von der Lufthansa an die inzwischen insolvente Air Madrid verkauft. Seit 2007 trägt ein Airbus 321-231 der Lufthansa mit der Kennzeichnung D-AISH den Namen Wetzlar. Aktuelle Wetzlarer Partnerschaftsgesellschaften sind die Deutsch-Französische Gesellschaft e. V., Deutsch-Tschechische Gesellschaft e. V., Deutsch-Italienische Gesellschaft Mittelhessen e. V., Deutsch-Englische Gesellschaft e. V., Deutsch-Österreichische Gesellschaft e. V. zusätzlich mit dem Arbeitskreis Reith-Garbenheim, Deutsch-Weißrussische Gesellschaft Wetzlar e. V. Verweigerung gegen eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts Bundesweites Aufsehen und teils heftige Kritik zog die Stadtverwaltung 2018 auf sich, als sie sich weigerte, der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen, einer vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung Folge zu leisten und die hiesige Stadthalle dem Stadtverband der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands für die Durchführung einer Wahlkampfveranstaltung zu überlassen, was eine neue Form des Widerstands gegen Rechtsextremismus darstellt. Diese verwaltungsgerichtliche Entscheidung erging zuvor durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof, welcher Wetzlar bereits im Zuge einer einstweiligen Anordnung zur Überlassung der Stadthalle an die NPD verurteilte. Als die Verwaltung den Fristen zur Umsetzung der Anordnung nicht nachkam, verhängte das Gericht mehrfach Zwangsgelder gegen die Stadt. Die Stadt hatte zuvor durch mehrere Instanzen bis zum Gerichtshof Berufungen gegen die Urteile zugunsten der NPD eingelegt. Die Stadtverwaltung begründete die Ablehnung gegen den Mietvertrag mit der NPD damit, dass die Mietbedingungen nicht erfüllt worden seien. Die Richter aller Instanzen urteilten allerdings, dass diese hinderlichen Gründe nicht vorlägen und die Stadthalle zur Verfügung gestellt werden müsse. Im Zuge der fortdauernden Verweigerung der Stadtverwaltung gegen die gerichtlichen Entscheidungen, wandte sich die NPD schließlich mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an das Bundesverfassungsgerichts, da sie ihre im Grundgesetz verankerten Recht verletzt sah. Das Bundesgericht urteilte, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts zu befolgen und die Stadthalle zu übergeben sei. Für eine Vollstreckungsanordnung war das Verfassungsgericht nach Angaben der NPD allerdings nicht erreichbar. Karlsruhe sah des Weiteren ein Hauptsacheverfahren für nötig, in dem die Verletzung von in Verbindung mit und durch das rechtswidrige Verhalten der Stadt zu beurteilen sei. In Bezug auf die durch das BVerG angeordnete Stellungnahme erklärte die zuständige Kommunalaufsichtsbehörde, dass bei der Stadt Wetzlar eine "Fehlvorstellungen über die Bindungskraft richterlicher Entscheidungen und den noch verbleibenden Spielraum für eigenes Handeln" bestand. - Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind grundsätzlich bindend. Diese Begründung erscheint rechtswissenschaftlich als fragwürdig, auch in Bezug auf die juristischen Kompetenzen einer Stadtverwaltung, gerichtliche Entscheidungen zu beurteilen und zu befolgen. Der Rechtswissenschaftler Professor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz sah in dem Verhalten der Stadt Wetzlar eine "unsägliche Rechtsverweigerung" und forderte ein energisches Vorgehen des Landes Hessen gegen das Verhalten der Stadt. Der Fall sorgte außerdem für grundlegende verfassungsrechtliche Fragestellungen in Bezug auf die Autorität des Bundesverfassungsgerichts, welche in der Vergangenheit nur selten und nie in einem solchen Maße untergraben wurde. Das Verwaltungsgericht Gießen entschied im September 2019 abschließend, dass die Nichtüberlassung der Stadthalle rechtswidrig war und die Mietbedingungen der Stadt deutlich überzogen waren. Kultur und Sehenswürdigkeiten Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten befinden sich in der historischen Altstadt mit dem romanisch/gotischen Dom, den Museen und den behutsam restaurierten Fachwerkhäusern. Die Altstadt zieht sich mit Gassen und kleinen Plätzen terrassenförmig zur Lahn und zur alten Lahnbrücke hinab. Stellenweise ist noch eine gut erhaltene Stadtmauer zu sehen, deren Verlauf größtenteils von Parkanlagen gesäumt wird. Kulturelle Höhepunkte sind die Wetzlarer Festspiele, die „Internationalen Gitarrentage Wetzlar“ und die Phantastiktage. Der Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar ist ein Literaturpreis, der seit 1983 jährlich vergeben wird. Als kulturelle Einrichtungen sind zu nennen: die Stadthalle mit dem Theatersaal, die Buderus Arena Wetzlar mit Konzerten, Sportveranstaltungen und Shows sowie die Phantastische Bibliothek, die weltweit größte öffentlich zugängliche Bibliothek für Science-Fiction-, Fantasy-, utopische, Horror-, Phantastik-, Reise- und Abenteuerliteratur und Märchen, Sagen bzw. Mythen. Eine Reihe von Institutionen und Vereinen für Geschichte, Heimat und Brauchtum ist engagiert, Bräuche zu erhalten, Geschichte und Geschichten erlebbar zu machen sowie kulturelle Vielfalt zu schaffen. Nach einem Kabinettsbeschluss vom 19. Mai 2009 der Hessischen Landesregierung wurde vom 1. bis 10. Juni 2012 der 52. Hessentag in Wetzlar veranstaltet. Im Jahr 1975 war sie bereits Hessentagsstadt. Historische Altstadt Das nahezu geschlossene Ensemble historischer Bauwerke und Wohnhäuser in der Altstadt mit Fachwerkhäusern und Steinbauten aus der Zeit der Romanik (Dom), der Gotik, aus Renaissance und Barock ist größtenteils in einem Zustand erhalten und weitgehend restauriert, wie er sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts darstellte. Es bestehen die Plätze Buttermarkt/Domplatz, Fischmarkt, Eisenmarkt, Kornmarkt und der ehemalige Franziskanerhof, jetzt Schillerplatz. Zu den rund 50 besonders nennenswerten Gebäuden gehören: Der Wandständerbau am Brodschirm aus dem Jahr 1356, die Alte Münz am Eisenmarkt, der Römische Kaiser (15. Jahrhundert), ein ehemaliges Theater- und Ballhaus; der ehemalige Deutschordenshof, heute Städtisches Museum, das Lottehaus, Wohnhaus der Charlotte Buff, das Jerusalemhaus, in dem sich Karl Wilhelm Jerusalem erschoss und so eine traurige Berühmtheit als Werther erlangte, das fürstliche Palais Papius, in dem sich die Sammlung historischer Möbel, erworben und zusammengestellt von Freiin Irmgard von Lemmers-Danforth, befindet. Seit August 2020 verfügt die Stadt über ein Bronze-Modell der Altstadt, es ist auf einem Sockel vor dem Dom aufgestellt. Die Wetzlarer Mitglieder des Lions-Clubs haben es zu ihrem 50. Jubiläum als besonderes Geschenk der Stadt gespendet. Es wurde von der Glockengießerei Rincker in Sinn gefertigt. Die steinerne Alte Lahnbrücke wurde im Jahre 1288 erstmals erwähnt. Ansehnliche Reste der Stadtbefestigung aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind noch erhalten, zum Beispiel ein als Schneiderturm oder Säuturm bekannter Befestigungsturm, die Kalsmuntpforte als Stadttor zur früheren Vorstadt Silhofen sowie große Teile der Stadtmauer. Die damaligen Wachtürme wurden mit den jeweiligen Mauerbereichen den Wetzlarer Zünften zugeteilt, sie waren dort für den Erhalt und gegebenenfalls für die Verteidigung mitverantwortlich. So war es die Schneiderzunft die zuständig war für den daraus abgeleiteten Schneiderturm mit Mauerbereich. Zu der Bezeichnung Säuturm statt Schneiderturm kam es, weil durch dessen Turmpforte Schweine (Säue) der anwohnenden Bauern auf die Weide außerhalb der Stadtmauer getrieben wurden. Später wurde auf dieser Weide oder Wiese die sogenannte Säuwaadskirmes (Säuwaad: Sauweide), ein altes traditionelles Volksfest gefeiert. Es ist ein altes und lange gepflegtes Volksfest in Wetzlar und bestand dort, später standortverlegt auf das Gelände des Klosterwaldsportplatzes, bis Mitte 1960. Auch in den alten Vorstädten Langgasse und Neustadt, durch die Alte Lahnbrücke mit der Altstadt verbunden, sind noch einige sehenswerte historische Gebäude erhalten. Jedoch hat insbesondere die Neustadt infolge vierspuriger Straßenbauten im 20. Jahrhundert ihren mittelalterlichen Charakter verloren. Ein in der Mitte des 14. Jahrhunderts als Rathaus errichtetes Gebäude wurde nach mehrfachem Umbau vom Reichskammergericht (1689 bis 1806) als Sitz und Kanzlei genutzt. Das Gericht zog später in das gegenüberliegende sogenannte Herzogliche Haus und danach bis zu seiner Auflösung 1806 ins Von Ingelheim’sche Palais. Das Gebäude wurde nach einem weiteren Umbau als Kaserne, später als Hauptpost genutzt. Nach deren Auszug dient es unter anderem als Gaststätte, Büro- und Wohnhaus. Weitere Baudenkmale und Sehenswürdigkeiten In den neueren Stadtvierteln rund um die Altstadt befinden sich eine Reihe gutbürgerlicher Wohnhäuser und Villen. Diese stammen vor allem aus der Blütezeit Wetzlars als Leitz-, später Leica-Stadt (Villen von Leitz, Kellner, Barnack) und als Buderus-Standort (beispielsweise die Weiße Villa). Auch einige für die damalige Zeit moderne Meisterhäuser und Arbeitersiedlungen stammen aus dieser Ära. Die beiden im 14. Jahrhundert auf zwei Höhen östlich und südlich der Stadt erbauten Türme der Landwehren, die Garbenheimer Warte (um 1900 zum Bismarckturm umgebaut) und die Brühlsbacher Warte sind heute Aussichtstürme. Die Reichsburg Kalsmunt wurde möglicherweise um das Jahr 800 gegründet. Zum Schutz der Stadt und um die Wetterau als Reichsland zu sichern, wurde sie im 12. Jahrhundert weiter ausgebaut. Die Herkunft des Namens der Reichsburg Kalsmunt ist nicht eindeutig geklärt. Nicht ausgeschlossen werden kann die folgende Deutung: Kals- = Karls und -munt = Vasall, das heißt ein Lehnsmann des Fränkischen Hofes. Demnach handelte es sich um eine Anlage aus der Zeit Karls des Großen. Auf der Reichsburg Kalsmunt wurden die kaiserlichen Münzen für Wetzlar geprägt. Zur Burg Kalsmunt gehörte schon im späteren Mittelalter der Wirtschaftshof Magdalenenhausen, der seit 1324 auf der stadtabgewandten Seite des Kalsmunts bezeugt ist. Nach dem Verfall der Burg im Zuge häufiger Besitzerwechsel und des Übergangs an Hessen im 16. Jahrhundert kaufte Graf Bernhard III. von Solms-Braunfels das Hofgut. Der Name des Gutes geht auf die gegen Ende des 17. Jahrhunderts lebende Gräfin Magdalena von Solms-Braunfels zurück. Das zweigeschossige, repräsentative Fachwerkhaus wurde im Jahre 1693 für die Gräfin errichtet. 1716 legte Graf Wilhelm Moritz um das Gut herum einen Tiergarten an, der aber schon um 1800 wieder aufgegeben wurde. Nach dem Tod der Gräfin Magdalena 1720 wohnte nur noch ein Förster und Verwalter auf dem Gut. 1810 erwarb der letzte Deutschordensamtmann Georg Buff aus Wetzlar das Anwesen. Seit dem 19. Jahrhundert dient das Haus als Gaststätte und Ausflugslokal. Die Burg Hermannstein ist ein typisches Beispiel einer gotischen Wohnturmanlage nach französischem Vorbild. Sie wurde 1373 bis 1379 für den Landgrafen Hermann I. von Hessen zum Schutz der Stadt errichtet. Die Fürsten von Solms-Braunfels lagen immer wieder, um sich der Stadt zu bemächtigen, in Fehde mit Wetzlar. Wetzlarer Dom Der Dom (Marienstift) ist eines der Wahrzeichen von Wetzlar. Baubeginn des Domes, der noch nicht vollendet ist, war 1230. Er ist Nachfolger einer im Jahre 897 geweihten Salvatorkirche und diese bereits in Nachfolge einer Vorgängerkirche. Dom hieß die Stifts- und Pfarrkirche ab Ende des 17. Jahrhunderts. Die Bezeichnung setzte sich in der Zeit des Reichskammergerichts (1689–1806) durch, als der Kurerzbischof von Trier (im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einer der Kurfürsten) Stiftspropst, der Dom also Bischofskirche war. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude stark beschädigt. Fliegerbomben zerstörten den Chor, den Hochaltar, den Lettner sowie beide Orgeln und die bunten Glasfenster im Dom. Nach Kriegsende konnte man zwar die Schäden zum großen Teil beseitigen, dennoch gingen der Lettner mit der dortigen Orgel der katholischen Gemeinde sowie der Hochaltar endgültig verloren. Solange der Dom zerstört war, wurde die Michaelskapelle ersatzweise als Gottesdienstraum genutzt. Das Bauwerk wirkt wie ein „steingewordenes Buch über mittelalterliche Baustilkunde“. Er bietet trotz seiner über die Jahrhunderte dauernden Bauzeit und trotz eines nicht fertiggestellten Turms heute ein geschlossenes Bild. Der Dom ist heute als Besonderheit die älteste Simultankirche im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland und gehört zu den ältesten Kirchen in Deutschland, die zu gleichen Teilen von Katholiken und Protestanten gemeinsam genutzt wird. Andere Sakralbauten Die Michaelskapelle ist eine Doppelkapelle südlich des Domchores, die etwa um das Jahr 1250 erbaut wurde. Genutzt wurde sie als ehemalige Bauhütte des Domes und später als Karner oder Ossarium. An der Westwand steht eine große Kreuzigungsgruppe (1509). Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Dom zerstört, daher wurde die Michaelskapelle als Gottesdienstraum genutzt, aber hier gab es keine Orgel. Eine Firma aus Lich wurde von der katholischen Domgemeinde beauftragt, für die Michaelskapelle eine Pfeifenorgel mit 871 aktiven Pfeifen zu bauen. Um ein solches neues Instrument bauen zu können, benötigte sie Material. Dies sollte die Domgemeinde beisteuern. Dabei war der im Frühjahr 1945 durch Luftminen zerbombte Chor des Wetzlarer Domes eine wahre Fundgrube. Denn mit der Zerstörung des Lettners, der das Gotteshaus zum katholischen Chor hin abgrenzte, zerfiel auch die auf ihm stehende Orgel in Trümmer. Damit war die im Jahre 1893 erbaute Domorgel aus der Werkstatt des weltbekannten Orgelbauers Johann Klais Bonn zwar Vergangenheit, aber ein wertvolles Ersatzteillager für die neue Orgel. Dem kam zugute, dass der wertvolle Spieltisch und die beiden Manual-Klaviaturen auf den Trümmern lagen und noch brauchbar waren. Es entstand ein Klangkörper aus gesammelten Orgelteilen, die zum Großteil aus zerstörten Kirchen stammten. Die Orgel der Michaelskapelle konnte 1949 geweiht werden. Die Überreste der Theutbirg-Basilika befinden sich nahe dem Stadtteil Nauborn. Die Kirche der Teutbirg in loco qui dicitur Nivora wurde erstmals 778 genannt, sie ist jedoch deutlich vor 778 entstanden. Die Kirche wird wahrscheinlich bis zur Wende zum 9. Jahrhundert bestanden haben. Ihre Mauerreste wurden erst 1927 entdeckt. Auf dem zugehörigen Friedhof wurden neben Knochen einige Gefäßscherben aus der Zeit zwischen 700 und 780 sowie eine Eisenaxt gefunden. Die Franziskanerkirche, eine Klostergründung aus dem Jahr 1263, wird auch als Untere Stadtkirche bezeichnet. Der Chor wird noch für Gottesdienste genutzt. Das Langhaus der Kirche ist profaniert. Kloster Altenberg ist ein ehemaliges Prämonstratenserinnen-Kloster. Die etwa um 1260/1270 durch die selige Gertrud, Tochter der heiligen Elisabeth, gegründete Anlage ist heute Gutshof und Königsberger-Diakonissen-Mutterhaus. Die Hospitalkirche ist eine in den Jahren 1755–1764 von J. L. Splittdorf errichtete Kirche, im Rokoko-Stil erbaut, mit sehenswertem Aufbau von Kanzel, Orgel über dem Altar und dreiseitigen Emporen. Die erste Erwähnung des Hospitals legt die Annahme nahe, dass es mit der dazugehörenden Kapelle in der Mitte des 13. Jahrhunderts erbaut wurde. Parks, Anlagen Die Altstadt wird durch einen nahezu vollständigen Ring von Parks umschlossen, Anlagen genannt, die vornehmlich nach den Wetzlarer Partnerstädten benannt sind. Dies sind die Avignon-Anlage im Süden, die Colchester-Anlage im Westen und die Siena Promenade im Osten. Geschlossen wird der Ring im Norden durch das Rosengärtchen, ein historisches Friedhofsgelände. Hier befindet sich unter anderem die nicht näher bezeichnete Grabstätte des Karl Wilhelm Jerusalem, Vorbild für Goethes Werther sowie die bezeichnete Grabstätte des Optikers Carl Kellner. Das Rosengärtchen ist Standort der Wetzlarer Freilichtbühne. Weitere größere Parks in den Außenbezirken der Stadt sind die Schladming-Anlage, die Neukölln-Anlage, die Ilmenau-Anlage und der Europapark als Standort des Europabades. Denkmale, Kunstwerke, Brunnen Der dreistufige Obelisk aus Lahnmarmor in der Schladming-Anlage in Dalheim erinnert an die Schlacht bei Wetzlar, in der 1796 Erzherzog Karl von Österreich die Truppen der Sambre-und-Maas Armee unter General Jourdan schlug. An Tile Kolup, den falschen Kaiser Friedrich II, wird mit zwei Denkmalen erinnert. Das ältere befindet sich im Stadtwald nahe der Friedenstraße, das jüngere wurde als Flammenthron in der Spilburg errichtet. Die Colchester-Anlage auf der Lahninsel ist aufwendig landschaftsgärtnerisch gestaltet, unter anderem mit einem Stein-Labyrinth und einem Irrgarten. Am alten Friedhof an der Frankfurter Straße befindet sich das Ukrainer-Denkmal, und in Büblingshausen am Pfingstwäldchen ein Kriegsgefangenenfriedhof mit Gedenktafeln, die alle an verstorbene Lagerinsassen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erinnern. Das Jägerdenkmal aus dem Jahr 1877 erinnert in der Hausertorstraße an das Rheinische Jägerbataillon. Im Rosengärtchen, einem heute als Parkanlage genutzten früheren Friedhof, befinden sich eine Reihe alter Grabdenkmale, am bekanntesten ist das der Freifrau von Albini. Einige Denkmäler stehen in Verbindung mit der industriegeschichtlichen Vergangenheit der Stadt. Der Giesser ist eine Buderus-Kunstguss-Skulptur vor der Hauptverwaltung Buderus. Eine andere moderne Guss-Skulptur ist die Familie von Ludwig Leitz am Karl-Kellner-Ring (Ecke Ernst-Leitz-Straße). Im Bereich der Altstadt sind auch eine Reihe bekannter Brunnenbauwerke erhalten. Der Kornmarktbrunnen auf dem gleichnamigen Platz wurde bereits 1341 erstmals erwähnt. Der Eisenmarktbrunnen ist mit einer Figur der heiligen Barbara verziert. Am Philosophenweg, gegenüber dem Wöllbacher Tor, befindet sich der Goethebrunnen. Veranstaltungen Theater und Konzerte Das Theater- und Konzertangebot in Wetzlar ist breit gefächert. Von überregionaler Bedeutung sind die Kultur- und Musikevents der größten Multifunktionshalle der Region, der Buderus Arena Wetzlar (rund 6000 Zuschauerplätze). Ebenso bedeutsam sind die alljährlich in den Monaten Juni, Juli und August stattfindenden Wetzlarer Festspiele mit Opern, Operetten, Musicals, mit Schauspiel, Konzerten und Kleinkunst, die überwiegend im Rosengärtchen, im Lottehof und im Hofgut Hermannstein (derzeit keine regelmäßigen Veranstaltungen) abgehalten werden. Daneben dient die Stadthalle Wetzlar als Kultur-, Kongress- und Tagungszentrum. Hier ist auch das Neue Kellertheater Wetzlar beheimatet, das mit Komödien, Schauspielen oder Musicals unterhält. Weitere kulturelle Höhepunkte sind die Sommermatineen im Rosengärtchen, in der Vergangenheit auch die Wetzlarer Kulturtage und die Internationalen Gitarrentage Wetzlar. Der Theaterring Wetzlar veranstaltet im Winterhalbjahr mit Tourneetheatern monatlich einen Theaterabend. Daneben gibt es regelmäßige Theater- und Konzertveranstaltungen (Rock, Pop, Jazz, Kabarett, Lesungen, Party etc.) im Kulturzentrum Franzis und das Theatersyndikat an der Avignon-Anlage, in der Bunten Katze in der Naunheimer Straße, der KulturStation in der Lahnstraße, im Zentrum für High Tech und Kultur Ernst-Leitz-Saal, Steinbühlstraße und der Kleinen Bühne in der Lahnstraße Ecke Erbsengasse, im Cafe Vinyl am Schillerplatz, im E-Werk in der Garbenheimer Straße, Black Pearl in der Franz-Schubert-Straße sowie in der Eventwerkstatt im Dillfeld. Feste und Veranstaltungsreihen Der traditionsreiche Gallusmarkt ist in Wetzlar seit dem Jahr 1318 bezeugt, mittlerweile seit über 700 Jahren. König Ludwig verlieh der Stadt das Recht, am Tag des heiligen Gallus, also alljährlich am 16. Oktober, einen Jahrmarkt abzuhalten. Heute findet er unter anderem als verkaufsoffener Sonntag mit vielen Aktionen in den Fußgängerzonen statt. Die zahlreichen Karnevalsvereine sorgen in der Fassenacht mit Veranstaltungen und Bällen für Stimmung. Der große Fastnachtsumzug quer durch die Stadt mit meist über hundert Zugnummern und mehreren Kilometern Länge findet unter großer Anteilnahme der Bevölkerung immer am Fastnachtssonntag statt. Das Ochsenfest ist das größte Volksfest in Mittelhessen und wird seit 1852 in dreijährigem Zeitabstand gefeiert. Das eine Woche dauernde Fest mit angeschlossener Landwirtschafts- und Tierschau findet auf dem Festgelände „Finsterloh“ statt. Ein Höhepunkt des Ochsenfestes ist ein Festumzug durch Wetzlar. Weitere regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungen sind das Brückenfest rund um die Alte Lahnbrücke mit dem Brückenlauf, das „Sommernachtsweinfest“ auf dem Schillerplatz in der Altstadt. Im April findet der Autosalon statt, bei dem heimische Händler die neuesten Automodelle präsentieren. In der Vorweihnachtszeit gibt es einen Adventsmarkt mit Handwerkerdorf auf dem Schillerplatz, ein Weihnachtsmarkt mit großer Eisbahn auf dem Domplatz und ein kleinerer Markt mit Buden und historischem Pferdekarussell in Bahnhofsnähe. Zirkus-Zeltaufführungen werden gelegentlich auf der Bachweide geboten. Musik, Gesang, Tanz, Kleinkunst Die Szene in Wetzlar ist besonders im Bereich der Kleinkunst und Independent Music stark vertreten. Neben den Lokalitäten Bunte Katze, Irish Inn, Kleine Bühne und Café Vinyl, früher auch dem Harlekin, ist das Kulturzentrum Franzis ein Standort der freien Musik und das Theatersyndikat. Dort werden aber auch allerlei andere künstlerischen Tätigkeiten gefördert und dargestellt. Vielfältige Angebote zum Zuhören, Zuschauen oder aktiv Mitmachen bieten neben den Musik- und Volkshochschulen derzeit die über 40 Chöre, 12 Orchester (zudem 13 Chöre und Orchester für Kirchenmusik), 16 Musikgruppen, neun Tanzgruppen, zwei Ballettstudios und einige Tanzclubs und Tanzschulen. Es gibt mehrere Blasorchester. Besonders relevant sind das Buderus-Blasorchester Conny Dellner mit seiner Original Kapelle Egerland, den Oberkrainer Express das Wetzlarer Alphornensemble, das City-Winds-Orchesterprojekt 2019 sowie das Egerland-Duo mit den Altstadt-Musikanten. Kultur, Museen, Bibliotheken und Galerien Kultur Das Deutsche Centrum für Chormusik (DCFC) mit 365.000 Chorwerken ist 2020 von Limburg nach Wetzlar umgezogen. Die Stadt Wetzlar sieht darin eine Ergänzung ihrer 1962 übernommenen Patenschaft für das „Ostdeutsche Lied“. Standort des Fundus ist seitdem ein Lager- und Bürogebäude in der Wetzlarer Siegmund-Hiepe-Straße. Der Sammler Manfred Bender ist Besitzer des riesigen Chorbestandes. Museen Das Stadt- und Industriemuseum ist ein äußerst vielfältig ausgestattetes Museum mit Exponaten aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte der Stadt und Zeugnissen der regionalen Industriekultur (Schwerindustrie, Optik und Feinmechanik, Bergbau), darunter die Sammlung Karsten Porezag, eine bundesweit einzigartige Sammlung historischer Grubenlampen. Darüber hinaus eröffnet dieses Museum einen Einblick in die Vor- und Frühgeschichte der Region und präsentiert Zeugnisse der Keltenzeit. Zwei Museen sind dem Umfeld von Goethe gewidmet. Das Lottehaus ist eine Gedenkstätte für Charlotte Kestner geb. Buff als Erinnerung an die Zeit, als Goethe hier oft Gast war. Dank aufwendiger denkmalpflegerischer Untersuchungen war es möglich, das frühere Deutschordenshaus in Wetzlar annähernd in jenen Zustand zu rekonstruieren, in dem Johann Wolfgang Goethe es am Ende des 18. Jahrhunderts vorfand. Jährlich besuchen Tausende Werther-Touristen aus aller Welt dieses Gebäude. Das Jerusalemhaus ist eine weitere Gedenkstätte für Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers. In diesem Gebäude nahm sich einst Karl Wilhelm Jerusalem, vermutlich aus Liebeskummer, das Leben. Jerusalem war eines der realen Vorbilder des Werther. In der Gedenkstätte findet sich heute, wie im Werther beschrieben, „Emilia Galotti auf dem Pulte aufgeschlagen“. Heute beherbergt der restaurierte Altbau neben der Wetzlarer Museumsverwaltung auch die Goethe-Werther-Sammlung. Die Sammlung Irmgard Freiin von Lemmers-Danforth zeigt europäische Wohnkultur aus Renaissance und Barock, zusammengestellt und öffentlich zugänglich gemacht von der Wetzlarer Kinderärztin im fürstlichen Palais, dem sogenannten Palais Papius (benannt nach Franz von Pape, genannt Papius, einem Assessor am Reichskammergericht). Sie gehört zu den weltweit bedeutendsten Sammlungen historischer Möbel aus Renaissance und Barock. Geschichte und Konzept Die Anfänge der Sammlung der Europäischen Wohnkultur der Renaissance und des Barock sind in den späten 1920er-Jahren zu suchen, als der Ankauf von Mobiliar für Wohnung und Arztpraxis zur Leidenschaft Irmgard Freiin von Lemmers-Danforths wurden. Mit dem Wunsch, ein Panorama des bürgerlichen und höfischen Wohnens anzusammeln und zu zeigen, gerieten bald auch die Bereiche des Kunsthandwerks, der Malerei, Plastik und Textilkunst in den Blick der Sammlerin. So trug sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1984 rund 450 Stücke zusammen. 1963 stiftete sie der Stadt Wetzlar große Teile ihrer Sammlung, die vier Jahre später im Adelspalais des ehemaligen Kameralassessors Johann Hermann Franz von Pape (1717–1793), genannt Papius, einzogen. Präsentiert wurden die Objekte dort seither in sogenannten Stilräumen, die sich weitestgehend einer Epoche und einer Kunstlandschaft widmen. Irmgard von Lemmers-Danforth selbst veranlasste diese Ausstellungsanordnung, die sich am Konzept der period rooms orientierte. Geläufig war der Sammlerin dieses Präsentationsschema des 19. Jahrhunderts von ihren Besuchen im ehemaligen Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin (heutiges Bode-Museum). Das Museum des Reichskammergerichts ist bundesweit (neben dem Rechtshistorischen Museum beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe) das einzige rechtsgeschichtliche Museum und deshalb ein Anziehungspunkt für Juristen und an der Geschichte des Rechts und der Justiz in Deutschland Interessierte. Es wird getragen von der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. und der Stadt Wetzlar. Dort wird eine Reihe hochwertiger Exponate zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation präsentiert. Dem Museum ist außerdem eine Forschungsstelle des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte zugeordnet. Mehrere Museen präsentieren den Bereich der Optik. Zunächst soll der Optikparcours, ein einmaliger Wissenschaftsparcours, die optische Kompetenz des Standortes Wetzlar stärken. Er ist ein Gemeinschaftsprojekt von Bürgern, Hochschulen, Schulen, des Stadtmarketings der Stadt Wetzlar, der Industrie- und Handelskammer und 70 Unternehmen. Er wurde im Mai 2008 mit zunächst acht Installationen eröffnet, die vom Einkaufszentrum Forum bis in die Altstadt führen. Insgesamt 20 unterschiedliche Hauptinstallationen sind geplant, im November 2008 wurde ein Dunkelkaufhaus zugefügt. Weiterhin präsentiert das Viseum, das Haus der Optik und Feinmechanik, in einem spätbarocken Gebäude modernste Hightech-Produkte von 14 Wetzlarer und mittelhessischen Unternehmen aus den Bereichen Optik, Sensorik und Feinmechanik. Das Motto dazu lautet: „Sehen verstehen!“. Die Exponate demonstrieren, wie optische und optoelektronische Systeme das Leistungsspektrum unserer Augen, mit Hilfe der technischen Nutzung der Eigenschaften des Lichts, verbessern können. Ein weiteres Museum in diesem Bereich ist die Sammlung historischer Mikroskope Ernst Leitz im Neuen Rathaus. Das Leitz-Haus Friedwart in Wetzlar ist ein einmaliges Jugendstil-Ensemble in Deutschland. Eine neue Stiftung will den früheren Wohnsitz der Unternehmerfamilie Leitz, der die Welt die legendäre Leica verdankt, als Kulturstätte erhalten. An weiteren kleineren und privaten Museen sind das Messingmuseum auf der Spilburg, das Wetzlarer Spielzeug- und Puppenmuseum; im neuen Bundeswehrmuseum in der Niedergirmeser Elisabethenstraße kann man 175 Jahre Wetzlarer Militärgeschichte besichtigen, das Landwirtschaftliche Museum sowie die Heimatmuseen und Dorfstuben sind in den Stadtteilen zu nennen. In der Nähe von Wetzlar, in Oberbiel, befindet sich das Besucherbergwerk Grube Fortuna mit Grubenbahnmuseum. Es handelt sich um eine der zahlreichen ehemaligen Eisenerzgruben im Lahn-Dill-Kreis. Am früheren Erzbergwerk Grube Malapertus ist ein alter Förderturm erhalten, der heute als einer der beiden letzten Fördertürme von der Bergbauvergangenheit im Lahn-Dill-Gebiet zeugt. Derzeit werden große Teile der Grube restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Leica-Welt umfasst neben weiteren Nutzungen ein Museum über die Kameramarke Leica, ihre Technik und Geschichte. Bibliotheken und Archive 1962 wurde in Wetzlar die wissenschaftliche Sammelstelle und Bibliothek für Liedgut der ehemaligen deutschen Ostgebiete mit der Patenschaft für das ostdeutsche Lied gegründet. Die 1989 eröffnete Phantastische Bibliothek Wetzlar entwickelte sich zur weltweit größten öffentlich zugänglichen Sammlung phantastischer Literatur. Sie verfügt über einen Bestand von zirka 150.000 Titeln in den phantastischen Literaturgenres (Science Fiction, Fantasy, klassische Phantastik, Horror, Utopie, Reise- und Abenteuerliteratur, Märchen, Sagen/Mythen). Die Stadtbibliothek verfügt über einen Bestand von derzeit zirka 45.000 Medien. Aus der dazugehörenden Artothek können über 200 Bilder, meist Originale (hauptsächlich von einheimischen Künstlern), und Skulpturen ausgeliehen werden. Das Historische Archiv der Stadt verfügt unter anderem über eine große Urkundensammlung (mehr als 4400 Urkunden) sowie über Akten von der Reichsstadtzeit bis zur Gegenwart. Galerien Ein knappes Dutzend Galerien sind über das Stadtgebiet verteilt. In der Galerie am Dom sind u. a. Werke von Künstlern mit bekannten Namen wie Janosch, Günter Grass, Armin Mueller-Stahl, James Rizzi, Niki de Saint Phalle, Friedensreich Hundertwasser oder Udo Lindenberg ständig vertreten. Des Weiteren sind die Galerie im Stadthaus am Dom, die Galerie Arthaus Genzel am Domplatz, das Atelier Ludwig Leitz mit dem künstlerischen Werken von Ludwig Leitz, die Galerie im Alten Rathaus, die Galerie im neuen Rathaus, die Galerie Atzbach, die Grafiken und Illustrationen beherbergt, sowie die Galerie Kunst+ am Kornmarkt mit dem Schwerpunkt Bronzegüsse der Berliner Bildhauerschule sowie zeitgenössische, junge Kunst mit dem Schwerpunkt Bildhauerei, zu nennen. Daneben werden unter dem Titel Kunst im Krankenhaus regelmäßige wechselnde Fotoausstellungen auf den Stationen der Urologischen Klinik des Klinikums Wetzlar gezeigt. Das Kunstprojekt Atelier Löwenherz bietet Erwachsenen mit geistiger oder körperlicher Behinderung und Nichtbehinderten die Möglichkeit, sich unter Anleitung künstlerisch zu betätigen. In der Ersten Malschule Wetzlar wird Kindern ab sechs Jahren der Spaß am kreativen Tun vermittelt. Gleichzeitig werden Malkurse für Erwachsene, Anfänger und Fortgeschrittene angeboten. Die Vereinigung Form und Farbe (gegründet 1991) ist ein lockerer Zusammenschluss von Freizeitkünstlern mit dem Ziel, Gedanken und Erfahrungen auszutauschen, in kleinen Gruppen gemeinsam zu arbeiten und regelmäßige Ausstellungen zu veranstalten. Der 1931 gegründete Verein FotoFreunde Wetzlar gilt als einer der ältesten Fotoclubs Deutschlands. Er organisiert Ausstellungen, Audiovisions-Schauen sowie Fotowettbewerbe und verkauft mittlerweile weltweit den Wetzlar-Kalender. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte vermutlich der Leica-Erfinder Oskar Barnack. Kulturpreise Die Stadt Wetzlar vergibt seit 1983 jährlich den mit 4000 Euro dotierten Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für deutschsprachige Originalveröffentlichungen aus dem Genre Fantastik. Seit 2006 vergibt die Stadt die Lotte-Plakette als undotierten Kulturpreis, benannt nach Charlotte Buff. Erster Preisträger war der Vorsitzende der Kulturgemeinschaft Hans-Günther Kolb, ihm folgten Georg Schmidt-von Rhein (2007, Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung), Joachim Eichhorn (2008, Kirchenmusikdirektor), Hartmut Schmidt (2009, ehemaliger Leiter der Städtischen Sammlungen) und Martin Knell (2010, Dirigent). Kulinarische Besonderheiten „Dulges“ (auch Rührdulges) ist ein aus geriebenen und entwässerten rohen Kartoffeln, Zwiebeln, Speck, Salz und Gewürzen in einem möglichst gusseisernen Bräter angebratener Teig. Das Gericht wurde möglicherweise von den eingewanderten Hugenotten übernommen und wird als Dulgesfest im gesamten Umland gefeiert. Zum Dulges darf eine trockene Scheibe Graubrot und/oder Apfelmus gereicht werden. Es gibt Varianten, bei denen etwa Hackfleisch-Bällchen im Kartoffelteig mit angebraten werden. Eine andere Spezialität ist der „Schmierchelskuche“, eine Art Kartoffelkuchen mit Zwiebelbelag und süßer Abdeckung (Marmelade, Sahne, Pudding oder ähnliches). In der Vergangenheit wurde in Wetzlar und Umgebung auch Wein angebaut. Urkundlich erwähnt wird der Rebbau an der Lahn erstmals im 12. Jahrhundert, und zwar für Nassau (1159). Weitere Ersterwähnungen für Weinberge sind unter anderem: Kloster Arnstein (um 1200), Wetzlar (1242) oder Laurenburg (1275). Viele Hügel- und Straßennamen in und um Wetzlar verraten noch heute den einstigen Weinanbau. Das Lahntal war jahrhundertelang für seine Rotweine bekannt. Witterungseinflüsse führten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu Frostschäden, Rebkrankheiten und -schädlingen und damit zu einer Verringerung der Rebflächen und zum Niedergang des Weinbaus. Der Lahnwein hat heute kein eigenes Anbaugebiet mehr, sondern gehört zum Weinbaugebiet Mittelrhein. Heute gibt es hier nur noch zwei Weinorte: Obernhof und Weinähr im Gelbachtal. Sport und Freizeit Wetzlar ist mit zahlreichen Spitzensportlern und -vereinen regelmäßig Ort der öffentlichen Berichterstattung. Es werden immer wieder Teilnehmer aus Wetzlar oder aus dortigen Vereinen an Olympia- und Paraolympiaden gestellt. Der Tourismus in Wetzlar verzeichnet seit Jahren ein deutliches Wachstum. Sport Eine Reihe Wetzlarer Vereine ist in den Bundesligen vertreten. Zu nennen sind insbesondere RSV Lahn-Dill (Rollstuhlbasketball-Bundesliga) und HSG Wetzlar (Handball-Bundesliga Männer). Der RSV zählt als Weltpokalsieger 2010, dreizehnfacher deutscher Meister, vierzehnfacher Pokalsieger (davon elfmal das Double aus Meisterschaft und Pokal), siebenfacher Europapokalsieger (IWBF Champions Cup), einmal WBC-Europapokalsieger (Willi-Brinkmann-Cup) sowie Vize-Weltcupsieger 2006 zu den weltbesten Vereinen. In der deutschen Handballnationalmannschaft, die 2016 Europameister wurde, standen mit Steffen Fäth, Jannik Kohlbacher und dem überragenden Torwart Andreas Wolff allein drei Spieler der HSG Wetzlar. Im Fußball wurde die Nationalspielerin Nia Künzer durch ihr Golden Goal beim Sieg im WM-Finale 2003 bekannt. Der FSV Hessen Wetzlar spielte von 2015 bis 2019 in der 2. Bundesliga (Frauen), seitdem in der Regionalliga Süd. Die erste Herrenmannschaft der Eintracht Wetzlar spielte viele Jahre in der Fußball-Oberliga Hessen und war in den vierziger Jahren sogar eine Saison erstklassig in der damaligen Gauliga. Inzwischen, nach mehrmaligem Abstieg, wagt die Mannschaft in der Kreisliga einen Neuanfang. Das Enwag-Stadion wurde zudem vom Herren-Regionalligisten Teutonia Watzenborn-Steinberg für seine Heimspiele in der Saison 2016/17 genutzt. Im Turnen bilden KTV Wetzlar (Kunstturnen-Bundesliga) und TSG Niedergirmes gemeinsam ein Kunstturnleistungszentrum mit DTB-Turnschule. Bekannt wurde die Stadt zudem durch ihre Spitzensportler im Kunstturnen, unter anderem Fabian Hambüchen am Reck als Europameister, Weltmeister und Olympiasieger. Gabriele Weller vom KTV Wetzlar wurde unter anderem viermal Deutsche Meisterin im Kunstturnen, nahm an drei Weltmeisterschaften sowie 1992 an den Olympischen Spielen teil und wurde zweimal FICEP-Europameisterin. Im Rudern stellte die RG Wetzlar 1880 bereits etliche Olympiasieger, Welt-, Europa- und Deutsche Meister, zum Beispiel die Weltmeister und Olympiasieger von 1968 Jörg Siebert, 1972 Hans-Johann Färber und Mareike Adams als 4-malige Ruder-Weltmeisterin. Auch im Tanzsport mit Welt-, Europa- und Deutschen Meistern wie den Tanzpaaren Ursula Breuer und Karl Breuer sowie Ellen Jonas und Volker Schmidt vom Schwarz-Rot-Club Wetzlar, Johanna-Elisabeth und Adrian Klisan holten am 18. November 2013 in Bonn Silber bei der Standard-WM der Professionals. Der Judo-Club (JC) Wetzlar stellte einige Bronzemedaillengewinner bei der Ju-Jutsu-EM 2019. Die Radpolo-Mannschaft RKB Solidarität Wetzlar 1908 spielt aktuell in der 1. Bundesliga und holte mehrere deutsche Meisterschaften. Im Twirling ist die TSG Niedergirmes erfolgreich. Der RSV Büblingshausen mit dem Europapokal 2006 im Eisstockschießen sowie mehreren Deutschen Meisterschaften der Damen- und Herrenmannschaft . Auch die Kegler und Keglerinnen des KSV sowie die Wetzlarer Schützenvereine errangen Meisterschaften auf überregionaler Ebene. Klaus Enders, ein ehemaliger deutscher Motorradrennfahrer, konnte als Pilot zwischen 1967 und 1974, zusammen mit Beifahrer Ralf Engelhardt, auf BMW insgesamt sechsmal Seitenwagen-Weltmeister werden. Emir Ahmatović, deutscher Boxer bosnischer Herkunft vom Boxteam Lahn Wetzlar, lebt und trainiert in Wetzlar. Er wurde GBU-Weltmeister 2021 im Schwergewicht gegen den Spanier Gabriel Enguema in Belgrad. Einer der größten Sportvereine Mittelhessens ist der TV Wetzlar, dessen erfolgreichste Abteilungen im Volleyball (Damen) und im Badminton (Herren) bereits viele Jahre in der Bundesliga spielten. Die Schwimmabteilung des TV Wetzlar stellte mehrmals Deutsche Meister und Olympiateilnehmer, die Fechtabteilung regelmäßig einige Mitglieder bei Deutschen Meisterschaften. Der jüngste Sportverein, das Sprintteam Wetzlar, wurde im November 2016 gegründet. Der Zweck des Vereins ist die Pflege und Förderung des Sports speziell der Leichtathletikdisziplin Sprint. Der Verein ist Verbandsmitglied im Landessportbund Hessen e. V. und seinen zuständigen Verbänden, er finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Sponsoren. Er erfreut sich einer stetig wachsenden Mitgliederzahl. Die Leichtathleten stellen etliche Deutsche- und Europameister. Im Jahr 2004 wurden über das ZDF zwei Wetzlarer unter die besten 100 deutschen Sportler des Jahrhunderts gewählt. In den 82 Wetzlarer Sportvereinen mit 22.000 Mitgliedern, davon 7.300 Jugendliche, wird ein außerordentlich breites Spektrum von Sportarten angeboten. 2013 stieg das Team Destination Wetzlar in die 1. Paintball-Bundesliga auf. Wetzlar ist immer wieder Gastgeber nationaler und internationaler Sportveranstaltungen von Rang. Die Stadt gehörte unter anderem zu den offiziellen Ausrichtungsorten der Handball-Weltmeisterschaft 2007, der Europameisterschaft der Rollstuhlbasketballer 2007, der American-Football-Europameisterschaft 2010, sowie von Welt-, Europa- und deutschen Meisterschaften im Tanzsport, zuletzt Standard-WM der Senioren 2005 und Standard-WM der Amateure (Hauptklasse) 2010 in der Wetzlarer Arena. Jährlich wiederkehrende Veranstaltungen mit internationaler Beteiligung sind unter anderem seit 2005 der Wetzlar Marathon und seit 2006 die Wetzlar Open, ein ATP-Tennisturnier, bei dem Weltranglistenpunkte erzielt werden können. Leichtathleten, unterschiedlicher Disziplinen, starten in mehreren Vereinen erfolgreich überregional. 2017 wurde das Sprintteam Wetzlar gegründet, dem inzwischen mehrere Deutsche Meister angehören. 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Costa Rica ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. In der Delegation befanden sich etwa 150 Athletinnen und Athleten. Bundesinnenministerin und Sportministerin Nancy Faeser begrüßte das Team aus Costa Rica beim dortigen inklusiven Sportfest. Die größte Sportstätte der Stadt ist das 1948 errichtete Stadion Wetzlar, fast unmittelbar an der Lahn gelegen, mit einem Fassungsvermögen von rund 8000 Zuschauern. Das Stadion verfügt über zwei überdachte Tribünen und eine Flutlichtanlage. Seit 2019 trägt es durch ein Sponsoring des lokalen Energieversorgers den Namen enwag-Stadion. Die 2005 eröffnete Mittelhessen-Arena (heute Buderus Arena) mit maximal 6000 Plätzen ist eine Mehrzweckhalle in der Nähe des Bahnhofs und diente seit ihrer Eröffnung bereits mehrfach als Austragungsort internationaler Sportveranstaltungen wie beispielsweise mehrerer Vorrundenspiele der Handball-Weltmeisterschaft 2007. Das Europabad dient seit seiner Eröffnung 1973 als Wettkampfbad mit 50-Meter-Becken und Tribüne. Der größte Sportverein Wetzlars ist mit über 5000 Mitgliedern die Sektion Wetzlar des Deutschen Alpenvereins. Seit Januar 2009 besteht das Cube-Kletterzentrum des Alpenvereins im Sportpark des TV Wetzlar auf dem Spilburg-Gelände. Auf den rund 2300 m² Kletterfläche, bei einer Höhendifferenz von mehr als 13 m, befinden sich auch Schulungs- und Boulderbereiche. Diese künstliche Kletteranlage, mit den Schwierigkeitsgraden (UIAA) 3–10, kann von jedermann gegen Entgelt genutzt werden. Am 31. Oktober 2009 wurde dort die Hessenmeisterschaft ausgetragen. Tourismus Der Tourismus ist von maßgeblicher und wachsender Bedeutung für Wetzlar. Im Jahr 2017 waren 900 Betten in Hotels und Garni-Hotels bei der Tourist-Information registriert. Mit den 2018 eröffneten Häusern „Arcona Living Ernst Leitz Hotel“, inzwischen umbenannt in „Vienna House Ernst Leitz Wetzlar“, und „Trip Inn Goethe Hotel“ wuchs die Kapazität bis Ende 2018 um weitere 500 auf 1800 Betten. Mit dem 2019 eröffneten B&B-Hotel verfügt die Stadt heute über mehr als 2000 Betten in verschiedenen Betriebskategorien. Das Hotel ergänzt sich mit der benachbarten Buderus Arena. Die Zahl der Übernachtungen erreichte 2018 mit 253.820 einen neuen Rekordwert, davon entfielen etwa 17 Prozent auf ausländische Gäste. Dieser wurde 2019 mit 272.771 Übernachtungen noch einmal um 7,5 Prozent gesteigert. Mangel in der Statistik: Betriebe mit weniger als zehn Betten, ebenso die über 60 Ferienwohnungen mit 250 Betten werden bei der Zählung nicht berücksichtigt. Die reale Zahl der Übernachtungen dürfte also über den offiziellen Werten liegen. Wetzlar liegt damit in Mittelhessen an zweiter Stelle hinter Marburg. Wetzlar wirbt mit Barrierefreiheit. Die Zahl der Touristen, die Wetzlar besuchen, steigt jährlich. Die der Tagestouristen und die Übernachtungen sind demnach in den vorangehenden zehn Jahren um gut 25 Prozent angewachsen. Die jeweilige Verweildauer der Besucher lag laut Bericht bei 1,9 Urlaubstagen. Die Hotelbettenkapazität der Stadt ist demnach im Jahresschnitt zu rund 40 Prozent belegt. Seit Juli 2020 darf Wetzlar sich offiziell „Tourismusort“ nennen. Damit hat die Stadt das Recht, bei Übernachtungen eine Tourismusabgabe zu erheben. Touristik-Routen, Wanderwege Die Stadt liegt an folgenden Ferienstraßen: Deutsche Fachwerkstraße, Lahn-Ferien-Straße und Solmser Straße. Auch die Oranier-Route führt über Wetzlarer Stadtgebiet. Die Stadt ist Mitglied im Taunusklub und im Westerwald-Verein und ist Sitz des Lahntal Tourismus Verbandes e. V. Am 18. September 2019 wurde der Wetzlarer Goetheweg vom Deutschen Volkssportverband e. V. (DVV) auf den 2. Platz von „Deutschlands schönsten Wanderwegen 2019“ in der Kategorie „Stadt und Kultur“ gewählt. Erst im vergangenen Jahr wurde der Wetzlarer Goetheweg mit einer Länge von 8 km oder in seiner erweiterten 10 km-Variante als permanenter Wanderweg des DVV von der Tourist-Information ausgewiesen und eröffnet. Der Goetheweg folgt den Spuren von Johann Wolfgang Goethe. Während seines Aufenthaltes im Jahr 1772 wanderte der junge Goethe gerne nach Garbenheim, seinem „Wahlheim“ und genoss den Blick in das romantische Lahntal. Zwei neue Qualitätswege in und um Wetzlar: der 3-Türme-Weg und der Komfortweg Kirschenwäldchen wurden im Januar auf der Reisemesse CMT in Stuttgart vom Deutschen Wanderverband als „Qualitätswege Wanderbares Deutschland“ ausgezeichnet. Es gibt in Wetzlar und Umgebung eine Reihe von Wanderwegen und Möglichkeiten für Wanderungen auf den Lahnhöhenwegen beiderseits der Lahn. Im Herbst 2012 wurde offiziell zusammen mit dem Reststück Lahnwanderweg oberhalb von Diez die Bergmannsroute als eine alternative Tagesetappe von Wetzlar nach Braunfels eröffnet. Die Stadt ist Ausgangspunkt eines vom Taunusklub beschilderten Jakobsweges, dem Lahn-Camino nach Burg Lahneck und zur Hospitalkapelle in Lahnstein. Auch der Elisabethpfad von Frankfurt nach Marburg führt durch Wetzlar. Am 28. August 2015, dem 266. Geburtstag Goethes, wurde ein neuer 7,5 Kilometer langer „Goethewanderweg“ eröffnet. Er führt vom „Lottehaus“ in der Wetzlarer Altstadt zum Goetheplatz im Stadtteil Garbenheim und folgt Pfaden, auf denen der Dichter während seines Aufenthaltes in Wetzlar im Sommer 1772 gewandert ist. Weiter gibt es sehr schöne Wanderwege zum Prämonstratenserinnenkloster Altenberg bei Wetzlar. Hier wuchs Gertrud (1227–1297), die dritte Tochter der Landgräfin Elisabeth von Thüringen (* 7. Juli 1207 auf Burg Sárospatak in Ungarn; † 17. November 1231 in Marburg an der Lahn, auch Elisabeth von Ungarn genannt, ist eine Heilige der Katholischen Kirche). Gertrude, kam erst nach dem Tod ihres Vaters zur Welt. Sie wuchs ab ihrem zweiten Jahr im Kloster Altenberg heran und wurde mit 21 Jahren dessen Äbtissin. Gertrud wurde 1348 von Papst Clemens VI. seliggesprochen. Der Dill-Wanderweg führt von Haiger nach Wetzlar. Die Vier-Türme-Wanderung verläuft komplett im Wetzlarer Stadtgebiet und verbindet vier historische Türme: Die Garbenheimer Warte (heutiger Bismarckturm), Brühlsbacher Warte (Bleistift), Stoppelbergturm und Burgruine Kalsmunt. Die Wegstrecke dieser Wanderung rund um die Altstadt beträgt ungefähr 14 Kilometer, der Höhenunterschied 264 Meter. Eine andere Wanderung verläuft zirka 18 Kilometer durch das südliche Umland und führt von Brandoberndorf durch das Sieben-Mühlen-Tal nach Wetzlar. Der durch Wetzlar führende Lahntalradweg gehört laut ADFC zu den Top 10 der deutschen Radfernwanderwege. Die Lahn ist für Wasserwanderer mit Kanu oder Ruderboot gut geeignet. In der Stadt gibt es fünf offizielle Ein- und Ausstiegsstellen mit Raststätten, Toiletten, Campingplatz, Einkaufsmöglichkeiten, Unterkünften und Busanbindung. Diskotheken, Szenegastronomie und Ausflugslokale Vor Ort gab es einige seit Jahrzehnten bestehende Diskotheken. Zu den ältesten im Kernbereich Wetzlars gehörte das Poco, eine Rock-Disco an der Dill, das seit 1978 existierte und seit März/April 2014 geschlossen ist; bekannt wurde das Poco insbesondere durch seine außergewöhnliche Karnevalsveranstaltung (Fasching Total), bei der von Samstag bis Aschermittwoch rund um die Uhr gefeiert wurde. Auch im Bereich der damaligen Einkaufszeile Lahnhof wurde in den 1990er Jahren sowie 2014 bis 2019 eine Diskothek unter den Namen Supermäx/Lollipop bzw. Mäx betrieben. Die Ebene 3 Skyclub, Zugang über das dritte Parkdeck des ehemaligen Adler Modemarktes, öffnet gelegentlich noch. Auch haben sich einige Szenebars und -lounges im Altstadtbereich etabliert. In jüngerer Zeit entstand auch auf dem Gelände der ehemaligen Spilburg-Kaserne eine Reihe von Lokalitäten. Zu den beliebtesten Ausflugslokalen zählen beispielsweise die Betriebe beiderseits der alten Lahnbrücke, auf dem Kirschenwäldchen, dem Simberg, Magdalenenhausen und der Naunheimer Mühle. Verkehr, Wirtschaft und Infrastruktur Verkehr Ein römisches Wegenetz um Wetzlar war schon früh vorhanden. Bereits vom Mittelalter an war der Knotenpunkt Wetzlar gut an das überregionale Verkehrswegenetz angeschlossen. Unter anderem lag die Stadt an der historischen Handelsstraße Hohe Straße, einem bedeutenden Handelsweg. Sie führte von Antwerpen über Köln, die Reichsstädte Wetzlar und Friedberg nach Frankfurt am Main. Sie wurde auch als Cölnische Hohe Heer- und Geleitstraße bezeichnet. Oder der Weinstraße (Wagenstraße) sie führte von Mainz bzw. Höchst über Usingen und Wetzlar, westlich an Marburg vorbei, nach Hildesheim und weiter Richtung Bremen bzw. Lübeck. Straßenverkehr Wetzlar ist ein Verkehrsknotenpunkt in Mittelhessen. Das Dilltal und das Lahntal bündeln die Verkehrsströme aus Norden (Ruhrgebiet, Siegen) im Osten (Gießen, Fulda und Kassel) sowie im Westen (Limburg, Koblenz). Die Wetterau schafft die Verbindung nach Süden (Friedberg, Bad Homburg und Frankfurt). Wetzlar liegt an der A 45 (Sauerlandlinie Dortmund–Aschaffenburg) bzw. Europastraße E 41 mit den Ausfahrten Wetzlarer Kreuz (zur A 480 nach Wetzlar-Nord, Aßlar und Wetzlar-Blasbach), Wetzlar-Ost (zur B 49 Richtung Stadtmitte) und Wetzlar-Süd (in die südlichen Stadtteile Münchholzhausen, Dutenhofen und Büblingshausen). Die Autobahn A 480 bzw. E 40 sollte eigentlich von der luxemburgischen Grenze bei Trier durch den Westerwald bis zum Hattenbacher Dreieck führen. Diese Strecke war als A 48 geplant. Aus Kostengründen wurde sie nie vollständig realisiert. Den Verkehr soll nun die B 49 aufnehmen. Heute heißt sie A 480 und führt nur von der Abfahrt Wetzlar Nord/Aßlar bis zum Wetzlarer Kreuz und darüber hinaus bis zum derzeitigen Autobahnende mit der Behelfsausfahrt nach Wetzlar-Blasbach. Einige Kilometer nordöstlich Gießens geht der bisher ausgebaute Teil weiter und führt von Heuchelheim-Nord bis zum Reiskirchener Dreieck an der A 5. Die Strecke von dort bis zum Hattenbacher Dreieck ist auch weiterhin die A 5. Folgende Bundesstraßen führen durch die Stadt: die B 49 (Trier–Alsfeld) bzw. E 44 als Ost-West-Verbindung. Des Weiteren die B 277, sie verbindet Aßlar mit dem Knoten Dalheim. Zwischen Wetzlar und Limburg hat an der B 49 der mehrjährige, vierspurige Ausbau in 13 Bauabschnitten begonnen. Die B 49 führte früher mitten durch die Innenstadt und die Stadtteile Dutenhofen und Steindorf in Ost-West-Richtung. Die B 277 verlief von Aßlar kommend in Nord-Süd-Richtung durch die Innenstadt und dann über Rechtenbach nach Butzbach. Die heutige B 49 trug bis 1985 die Bezeichnung B 429. Die Bundesstraßen im Zuge der Ortsdurchfahrten im Stadtgebiet Wetzlar wurden zu Landesstraßen herabgestuft (B 49: 1. Januar 1985, B 277: 1. Januar 1990). Seit der kommunalen Gebietsreform in den 1970er Jahren ist das Kraftfahrzeug-Unterscheidungszeichen bezüglich der Stadt Wetzlar ein Sonderfall. Von 1956 bis zum 31. Dezember 1976 hatte der Kreis Wetzlar mit der gleichnamigen Kreisstadt das Kennzeichen WZ. Mit Gründung der Stadt Lahn zum 1. Januar 1977 wurde zwischenzeitlich das Autokennzeichen L eingeführt, das im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung am 1. November 1990 durch die Kombination LDK ersetzt wurde (siehe auch Kfz-Kennzeichen (Deutschland) #Ausbau des Systems). Das Kennzeichen WZ wurde zum 1. Juli 2012 wieder eingeführt. Bahnverkehr Neben dem Bahnhof Wetzlar in der Kernstadt gibt es einen weiteren Bahnhof im Stadtteil Dutenhofen. Der frühere Bahnhof in Garbenheim wurde mit der Stilllegung der Bahnstrecke Lollar–Wetzlar, Teilstrecke der Kanonenbahn, einschließlich Bahnhof Dorlar, geschlossen und das zugehörige Gleis 1 in Wetzlar 2011 zurückgebaut. Auf dem verkleinerten Güterbahnhof werden seit Februar 2007 wieder die Güterzüge aus Mittelhessen (DB Cargo) zusammengestellt. Wetzlar liegt an der Dillstrecke Siegen–Gießen und der Lahntalbahn Koblenz–Wetzlar, die am Wetzlarer Bahnhof zusammentreffen und von Intercity-Zügen, Regionalbahnen und Regional-Express-Zügen befahren werden. Der Wetzlarer Bahnhof ist ein Keilbahnhof. Zusammen mit dem angrenzenden zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) ist er der wichtigste ÖPNV-Knoten Wetzlars. Bis Mitte der siebziger Jahre passierten hier werktäglich circa 50.000 Pendler und Reisende diese Station. Seit Juli 2021 hat Wetzlar wieder Anschluss an den DB Fernverkehr in Form von Intercity-Verbindungen. Es fahren zunächst an einigen Wochenenden ein bis zwei Zugpaare des IC 2220/2221 nach Norddeich Mole bzw. Frankfurt am Main. Seit Dezember 2021 verkehrt die IC-Linie 34 im Zweistundentakt von Norddeich bzw. Münster über Siegen und Wetzlar nach Frankfurt. Ab 2009 wurde Wetzlar täglich von einem Zugpaar des internationalen Fernzuges Eurocity angefahren, der zum Fahrplanwechsel 2011/12 im Dezember 2011 eingestellt wurde. Der Zug verkehrte von Siegen über Frankfurt, Stuttgart und München nach Klagenfurt am Wörthersee sowie über einen Kurswagen weiter nach Ljubljana und Zagreb. Größere Städte, die von Wetzlar aus direkt angefahren werden, sind unter anderem Frankfurt am Main, Fulda, Koblenz, Limburg an der Lahn, Gießen, Friedberg (Hessen), Marburg und Siegen. Bis 2002 war Wetzlar Haltepunkt für InterRegio-Züge von und nach Norddeich Mole. 2003 erfolgte ein kurzes Intermezzo von Connex-Zügen zwischen Köln und Berlin. Der Regional-Express zwischen Siegen und Frankfurt am Main (Main-Sieg-Express) wird von der Hessischen Landesbahn GmbH (HLB) bedient. Dieser verkehrt stündlich zwischen Siegen und Gießen und ist alle zwei Stunden bis Frankfurt durchgebunden. Um 5:47 Uhr verkehrt der sogenannte „Berufspendelzug“ (RE-Sprinter) von Siegen kommend nach Frankfurt am Main und verbindet Wetzlar – ohne Halt in Gießen – in 54 Minuten mit Frankfurt. Der Spätzug kommt von Frankfurt um 18:20 Uhr an. Dieser hält nur in Frankfurt West und Bad Nauheim und benötigt 50 Minuten vom Frankfurter Hauptbahnhof bis nach Wetzlar. Die HLB verkehrt seit Dezember 2011 auch auf der Lahntalbahn und befährt dort die Strecke Limburg–Weilburg–Wetzlar–Gießen. In Gießen hat ein Teil der Züge einen kurzen Aufenthalt und fährt danach weiter in Richtung Alsfeld und Fulda. Von der Deutschen Bahn werden lediglich zwei Linien bedient: der RE 25 Koblenz–Limburg–Wetzlar–Gießen (Lahntal-Express) sowie die RB 40 zwischen Dillenburg, Wetzlar, Gießen, Friedberg und Frankfurt (Mittelhessen-Express). Dieser hält zwischen Dillenburg und Gießen auf allen Unterwegsbahnhöfen. Öffentlicher Personennahverkehr Der öffentliche Nahverkehr ist im Rahmen des Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV) organisiert. Die Stadt Wetzlar ist selbstständiger Aufgabenträger für den öffentlichen Personennahverkehr und einer der 26 kommunalen Gesellschafter des RMV (15 Landkreise, 4 Großstädte und 7 Sonderstatusstädte). Mit der Durchführung des Busverkehrs hat die Lokale Nahverkehrsorganisation der Stadt Wetzlar ihr eigenes Unternehmen, die Werner-Gimmler-Wetzlarer-Verkehrsbetriebe und Reisebüro GmbH, beauftragt. Die Stadt verfügt über ein gut ausgebautes städtisches Buslinien-Netz mit vierzehn Buslinien im zum Teil 20- bis 30-Minuten-Grundtakt. Diese haben alle Anschluss an die zentrale Haltestelle Bahnhof/ZOB, die in direkter Nachbarschaft des Bahnhofs liegt. Hinzu kommen noch diverse Linien im Überlandverkehr in das Wetzlarer Umland. In den späten Abendstunden fährt die Nachtbuslinie 007, der sogenannte Disco-Bus, der fast alle Stadtteile anfährt. Auf allen Linien gilt der Tarif des Rhein-Main-Verkehrsverbundes. Zusätzlich verknüpft der Citybus zum Einheitstarif von 50 Cent wochentags von 10 bis 19 Uhr und samstags bis 15 Uhr die Altstadt mit dem Bahnhof und dem dortigen Einkaufszentrum Forum Wetzlar im 20-Minuten-Takt. Der Ortsverkehr Naunheim bedient das Wohngebiet am Simberg über die Ortsmitte bis zu den Lebensmittelmärkten im Osten von Naunheim als sog. Marktverkehr. Luftverkehr Die Entfernung zum Frankfurter Flughafen beträgt etwa 70 Kilometer, zum Regionalflughafen Siegerland etwa 40 Kilometer. Direkt auf der Stadtgrenze zwischen Wetzlar und Gießen, zwischen den Stadtteilen Gießen-Lützellinden und Wetzlar-Münchholzhausen, liegt der Sonder-Flugplatz Gießen-Lützellinden für die Allgemeine Luftfahrt. Zudem befindet sich in den Lahnwiesen nördlich des Stadtteils Garbenheim ein Segelflugplatz. Die Spilburg-Kaserne (Bild rechts) war bis nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt, entlang ihrer Ostseite mit einem voll funktionsfähigen Verkehrsflugplatz einschließlich Tower und Hangar versehen. Die Anlage wurde Mitte der 1950er Jahre zurückgebaut. Einzelhandel Nach den Zahlen der Gesellschaft für Konsumforschung gehört Wetzlar zu den attraktivsten Handelsstandorten Deutschlands. Die Stadt weist danach einen hohen Zentralitätskoeffizienten auf und liegt mit einem Einzelhandelsumsatz von etwa 10.000 Euro pro Einwohner deutschlandweit auf Platz drei unter allen Städten mit über 50.000 Einwohnern. Im Frühjahr 2005 wurde in Bahnhofsnähe das neue Einkaufszentrum Forum Wetzlar eröffnet. Es ist mit rund 24.000 m² Verkaufsfläche und knapp 120 Geschäften nach Angaben des Betreibers das größte Einkaufszentrum in der Region Mittelhessen mit einem Einzugsbereich von zirka 540.000 Personen und weit mehr als 7 Millionen Besuchern pro Jahr. Im zugehörigen Parkhaus stehen 1.700 Stellplätze zur Verfügung. Das Forum ist nicht das erste Einkaufszentrum in der Stadt, unweit davon befindet sich das Herkules-Center (die ehemaligen kleineren Coloraden) mit 40 Geschäften, sowie einige weitere große, zusammenhängende Einzelhandelsflächen entlang der Bahnhofstraße und des Karl-Kellner-Rings. Am 4. August 2016 begannen in Bahnhofsnähe die Bauarbeiten für eine Ansiedlung von IKEA, das im Mai 2017 eröffnete. Daneben gibt es viele kleine Einzelhandelsgeschäfte unterschiedlicher Branchen sowie Cafés und Gaststätten in der Wetzlarer Altstadt, die in ungefähr zehn Minuten Fußweg vom Bahnhofsbereich aus oder mit dem Citybus zu erreichen sind. Ansässige Unternehmen Die Wirtschaftsregion Lahn-Dill, mit dem Zentrum in Wetzlar, zeichnet sich durch eine sehr hohe Industriedichte und Hidden Champions aus, insbesondere in der optischen, feinmechanischen, elektrotechnischen und stahlverarbeitenden Industrie. Im industriellen Vergleich aller IHK-Bezirke in Hessen liegt sie mit großem Abstand an der Spitze, auch bundesweit wird ein Spitzenplatz belegt. Die Stadt ist Standort einiger international tätiger und weltweit bekannter Unternehmen. Der Buderus-Konzern wurde im Jahre 1731 gegründet und ist damit europaweit eines der ältesten noch existierenden (Groß-)Unternehmen. Buderus war jahrzehntelang der mit Abstand größte Arbeitgeber im mittelhessischen Raum mit weit mehr als 10.000 Beschäftigten allein in Wetzlar (weltweit über 16.000) in den Bereichen Guss (mit Zement), Edelstahl und Heiztechnik sowie der Hauptverwaltung am Ort. Wirtschaftliche Veränderungen, wiederholte Übernahmen der Aktienmehrheit sowie Schließungen und Verkauf von Betriebsteilen haben den Konzern inzwischen stark verändert, er zählt aber immer noch zu den großen Unternehmen in Hessen. Die bedeutende Heiztechnik-Sparte firmiert inzwischen als Bosch Thermotechnik. 2008 eröffnete das neue, 30.000 m² große Versandlager der Firma Bosch Thermotechnik, vertreten durch den Kontraktlogistiker LGI. Es befindet sich im Gewerbegebiet Dillfeld. Buderus Edelstahl beschäftigt nun als Tochtergesellschaft des österreichischen Stahlkonzerns voestalpine rund 1.500 Mitarbeiter und ist damit der größte industrielle Arbeitgeber in Wetzlar. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist Wetzlar Sitz des Optischen Instituts, der Nachfolgefirma Leitz beziehungsweise deren Nachfolgefirmen Leica Camera und Leica Microsystems. Die von Ernst Leitz besonders mit der Mikroskop-Produktion zur Weltgeltung gebrachten Leitz-Werke beschäftigten in ihren Spitzenzeiten über 7000 Mitarbeiter in der Stadt. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte Oskar Barnack in Wetzlar mit der Leica: Lei (= Leitz) + ca (= Camera) die erste Kleinbildkamera. Im neuen Leitz Park in Wetzlar-Büblingshausen konnte im Februar 2014 ein weiteres Firmengebäude der Leica Camera AG mit einem hochmodernen Fertigungs- und Verwaltungskomplex eröffnet werden. Nach Abschluss der dritten Bauphase wurde der Leitz-Park im Jahr 2018 um die Leica-Welt mit Museum, Archiv, Akademie und Outlet-Store, ein Design-Hotel, ein Gebäude der Leitz Cine (ehemals CW Sonderoptic) sowie ein Bürogebäude erweitert. Zudem sind die Firmen Viaoptic und Weller Feinwerktechnik im Leitz Park vertreten. Leica Microsystems stellt am Standort Mannheim auch Laser-Scanning-Mikroskope her, darunter Konfokalmikroskope, Multiphotonenmikroskope und seit 2007 STED-Mikroskope. Wetzlar bildet neben den Standorten von Carl Zeiss in Jena, Göttingen und Oberkochen ein Zentrum der optischen Industrie in Deutschland, denn neben Leitz/Leica sind Kameras der Firmen Leidolf und Minox (hat den Sitz nach Isny im Allgäu verlegt), die Ferngläser und Fernrohre der Firma Hensoldt AG (jetzt Carl Zeiss Sports Optics), Zeiss-Gruppe (mit in Spitzenzeiten über 2.000 Beschäftigten), die Mikroskope der Firma Seibert, der Wilhelm Loh Optikmaschinenbau (jetzt Satisloh), Oculus Optikgeräte, die Helmut Hund GmbH, die Firma Hexagon Manufacturing Intelligence (ehemals Leitz Messtechnik) und eine Vielzahl weiterer mittelständischer feinmechanischer und optischer Unternehmen zu nennen. Die Messe für Optik, Elektronik und Mechanik W3+Fair in Wetzlar ist der Hauptstandort der deutschen Optik-Fachbetriebe. Andere bekannte Unternehmen, die mit größeren Produktionsstätten verschiedener Sparten in Wetzlar vertreten waren, sind Siemens und Philips (ehemals rund 2.500 Beschäftigte in Wetzlar) sowie die im Juli 2007 an die Continental AG verkaufte VDO Automotive. Ferner die inzwischen im benachbarten Aßlar ansässige Pfeiffer Vacuum GmbH, ehemals Arthur Pfeiffer Vakuumtechnik (durch deren geänderten Kreiselkompass die Nutzung von Raketen für die Raumfahrt verbessert wurde) oder die Sancura BKK, eine überregionale Krankenkasse, die nach einer Fusion mit mehreren anderen Betriebskrankenkassen als DAK-Gesundheit firmiert. Die 1852 gegründete Brauerei Euler stellte zwar ihre Produktion 1992 ein, der von ihr initiierte Brauring sitzt aber noch immer in Wetzlar. Der Gewerbepark Spilburg, eine ehemalige Kaserne, ist für eine Reihe von Unternehmen, vor allem aus den Bereichen Optik/Feinmechanik, Informationstechnik und Dienstleistungen, ein überwiegend positiv bewerteter Standort geworden. Im Januar 2010 errichtete dort auch die Volksbank Mittelhessen einen Verwaltungsgebäudekomplex. Außerdem sind für die Ansiedlung weiterer, neuer Gewerbe verkehrstechnisch gut erschlossene Gebiete im Westend sowie das Hörnsheimer Eck und das Dillfeld vorhanden. Auch zahlreiche kleinere Dienstleister sind in Wetzlar vertreten. So gewann ein Architekturbüro mehrere internationale Auszeichnungen für den Entwurf eines Wohnhauses in Bad Homburg und eine Digitalagentur wurde in San Francisco mit einem Preis für die Betreuung eines Kunden im Hotelgewerbe ausgezeichnet. Medien Die größte Tageszeitung der Region ist die Wetzlarer Neue Zeitung (WNZ), die seit 2018 zur regionalen Verlagsgruppe VRM gehört. Bis dahin war die WNZ die Hauptausgabe der eigenständigen, in Wetzlar ansässigen Zeitungsgruppe Lahn-Dill. Daneben erscheinen wöchentlich die werbefinanzierten Anzeigenblätter KOMPAKT! (ehem. Der gute Sonntag), Lahn-Dill-erleben (ehem. Lahn-Dill-Anzeiger) mit Veranstaltungskalender und Sonntag-Morgenmagazin, sowie monatlich das Stadtmagazin Wetzlar. Der monatlich erscheinende Wetzlar Kurier als CDU-nahe Zeitung für den Lahn-Dill-Kreis nimmt häufig politisch kontrovers diskutierte Positionen ein. Die quartalsweise erscheinende SPD-Zeitung Wetzlarer Nachrichten gilt als Gegenstück. Weitere Medien aus Wetzlar sind unter anderem das Jugendnetz Wetzlar, das Kindernetz Wetzlar und die NETZ Bangladesch Zeitschrift. Inzwischen hat sich ein Cluster aus christlichen Medieneinrichtungen und -unternehmen von überregionaler und teilweise weltweiter Bedeutung etabliert. Hierzu gehören die ERF Medien, ehemals „Evangeliums-Rundfunk“ (ERF), als Partner von Trans World Radio (TWR), die bereits 1959 gegründet wurde und Radio- sowie Fernsehprogramme produziert und weltweit ausstrahlt. Weitere Organisationen dieser Branche sind die Christliche InterNet-Arbeitsgemeinschaft (CINA), der Christliche Medienverbund KEP mit der Christlichen Medienakademie sowie die Evangelische Nachrichtenagentur idea. Die Zentrale des Gideonbundes für Deutschland (die gängige deutsche Bezeichnung für „The Gideons International“) befindet sich in Wetzlar, die internationale Zentrale des Gideonbundes ist Nashville (Tennessee, USA). Öffentliche Einrichtungen Regional bedeutsame öffentliche Einrichtungen in Wetzlar sind die Kreisverwaltung für den Lahn-Dill-Kreis und ein Sitz der IHK Lahn-Dill. Weiter ist Wetzlar Standort eines Finanzamts, eines Hessischen Forstamts, eines staatlichen Umweltamts, der Abteilung Ländlicher Raum, Natur- und Verbraucherschutz des Regierungspräsidiums Gießen, der Baustoff- und Bodenprüfstelle Wetzlar, einer Nebenstelle der Staatsanwaltschaft Limburg a. d. Lahn, eines Amtsgerichtes, einer Geschäftsstelle der Agentur für Arbeit Limburg-Wetzlar, des Bildungs- und Beratungszentrums des Landesbetriebes Landwirtschaft Hessen, des Wasser- und Schifffahrtsamtes für den Außenbezirk Wetzlar und des Zollamtes Wetzlar. Ebenso hat die Obere Flurbereinigungsbehörde des Landes in Wetzlar ihren Hauptsitz. Die Stadt unterhält eine Polizeistation der Polizeidirektion Lahn-Dill, drei Feuerwehrhäuser im Stadtgebiet sowie weitere in den Stadtteilen und mit dem Klinikum Wetzlar (jährlich etwa 25.000 Patienten) eines der größten Krankenhäuser der Region mit mehr als 650 Betten. Außerdem befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Spilburg-Kaserne das Hessische Katastrophenschutz-Zentrallager, wo unter anderem Ausstattung für Katastrophenfälle vorgehalten wird, sowie mit der Baustoff- und Bodenprüfstelle Wetzlar eine Außenstelle der Landesbehörde Hessen Mobil. In jüngerer Zeit aus der Stadt verlegte öffentliche Einrichtungen oder Ämter sind eine Zweigstelle der Landeszentralbank (kurzzeitig in Gießen zusammengefasst, später dort aufgelöst), die Finanzkasse von Wetzlar nach Gießen, die Hauptpost (wie vor), die Polizeidirektion Lahn-Dill (jetzt in Dillenburg), das Regionalstudio Mittelhessen des Hessischen Rundfunks als Anstalt des öffentlichen Rechts (jetzt in Gießen), das Katasteramt (zusammengefasst in Marburg), das Gesundheitsamt (jetzt Herborn), das ehemalige Schulamt (jetzt in Weilburg), die Einsatzstelle der Wasserschutzpolizei (jetzt Weilburg), die Zivildienstschule (ersatzlos gestrichen, Gebäude jetzt in anderer privatschulischer Verwendung), das Kreiswehrersatzamt (aufgelöst, jetzt Karriereberatungsbüro der Bundeswehr in Wetzlar), das Arbeitsgericht (jetzt Gießen), der Hauptsitz des Arbeitsamtes Wetzlar (jetzt Limburg) das Amt für Bodenmanagement (jetzt Marburg) und jetzt auch die übriggebliebene Zweigstelle des Amtes für Bodenmanagement (jetzt Gießen). Die IHK Wetzlar hat im Jahr 2008 ihre Eigenständigkeit aufgegeben und sich mit der IHK Dillenburg zur IHK Lahn-Dill zusammengeschlossen. Die Mehrzahl der Entscheidungsträger der IHK Lahn-Dill hat ihren Dienstsitz in Dillenburg. Bildung Wetzlar ist ein Standort der Technischen Hochschule Mittelhessen. Als Campus dient ein Gebäudekomplex auf dem Gelände der ehemaligen Wetzlarer Spilburg-Kaserne. Am Zentrum Dualer Hochschulstudien (ZDH) wird seit dem 25. April 2001 das stetig wachsende und mehrfach ausgezeichnete StudiumPlus angeboten, ein duales Hochschulstudium, das durch die TH Mittelhessen in Zusammenarbeit mit der Industrie- und Handelskammer und inzwischen über 1000 Partner-Unternehmen der Region angeboten wird. StudiumPlus bietet zurzeit Fachrichtungen in technischen und wirtschaftswissenschaftlichen Bereichen sowie medizinischem Management und in der bestehenden Softwaretechnologie in Vorbereitung Softwareentwicklung, Future Skills und Innovation an. Sie sind in acht Bachelor-Studiengängen und vier Master-Studiengängen möglich. Im Wintersemester 2021/22 sind dort 1.821 Studierende eingeschrieben, davon aktuell 433 Neueinschreibungen (Erstsemester). Seit dem 27. Oktober 2010 ist Wetzlar offizieller Hochschulstandort. Bereits im frühen 19. Jahrhundert gab es in der Stadt eine Hochschule, die Rechtsschule Wetzlar. Als Kaiser Franz II. im Jahre 1806 die Kaiserkrone niederlegte, endete das Heilige Römische Reich deutscher Nation, und das Reichskammergericht wurde aufgelöst. Um die Nachteile für Wetzlar zu mindern, versuchte Karl Theodor von Dalberg, etliche Juristen durch die Gründung einer Rechtsschule an Wetzlar zu binden, aber ihr war kein langes Bestehen beschieden. Bereits 1816 wurde sie wieder aufgelöst. Von 1903 bis 1915 gab es in Wetzlar ein kgl. Lehrerseminar. Im Ersten Weltkrieg wurde das Gebäude als Lazarett genutzt, danach durch das Wetzlarer Kreiskrankenhaus belegt, ein Finanzamtneubau ersetzte 1979 das Gebäude. Des Weiteren bestanden im frühen 20. Jahrhundert ein evangelisches Schullehrerseminar, eine Präparandenanstalt, eine landwirtschaftliche Winterschule und eine Bergvor- und Steigerschule. In der Stadt werden heute alle wichtigen Schultypen angeboten, hauptsächlich jedoch Gesamtschulen (Klassen 5–10) und drei gymnasiale Oberstufenschulen (Klassen 11–13). Darunter befindet sich die Goetheschule, das mit über 1000 Schülern größte Oberstufengymnasium Hessens. Es gibt Gymnasien, Fachgymnasien, Berufsschulen mit Technikerausbildung, ein Hessenkolleg (Erwachsenenabitur), bis 2011 eine Zivildienstschule, eine Krankenpflegeschule, das Berufsbildungs- und Technologiezentrum (BTZ) der hessischen Handwerkskammern, eine Volkshochschule, Tanz-, Ballett-, Gesangs- und Musikschulen. Die Deutsche Fernschule ermöglicht Kindern auch im Ausland höchstmögliches Bildungsniveau für die Klassen 1 bis 5 nach den Lehrplänen der deutschen Kultusministerien. Die Naturschutz-Akademie Hessen ist ein Kooperationsmodell des Landes Hessen mit dem Naturschutz-Zentrum Hessen e. V. und wird getragen von hessischen Verbänden des Natur- und Umweltschutzes, vom Land Hessen, vom Lahn-Dill-Kreis und von der Stadt Wetzlar. Die Akademie ist auf dem Gebiet der Umweltbildung tätig und ist der hessische Vertreter im „Bundesweiten Arbeitskreis der staatlich getragenen Bildungsstätten im Natur- und Umweltschutz“ (BANU). Das Mathematik-Zentrum Wetzlar organisiert Kurse und Wettbewerbe für mathematisch interessierte und begabte Kinder und Jugendliche. Der Junior MatheClub ist für Schüler der Klassen 3 bis 6, der MatheClub für die Klassen 7 bis 13. Außerdem veranstaltet das Zentrum Fortbildungen für Mathematiklehrer. Die Christliche Medienakademie bietet zum einen journalistische Grundkurse für Studenten und Volontäre an. Daneben gibt es Aufbaukurse zur Fortbildung für Redakteure und Medienschaffende. Der Christliche Medienverbundes KEP veranstaltet als Betreiber dieser Schule zudem PR-Workshops für Mitarbeiter von Organisationen, Verbänden und christlichen Gemeinden, die aber auch als ergänzende Weiterbildung für Journalisten und Volontäre geeignet sind. In der Innenstadt von Wetzlar befindet sich außerdem eine von sechs Rettungsdienstschulen in Deutschland, die von der Deutschen Malteser gGmbH unterhalten wird. An dieser Schule, die zu den größten ihrer Art in Hessen gehört und auch eine Außenstelle in Frankenthal (Pfalz) unterhält, wird man in notfallmedizinischen Berufen ausgebildet oder weiterqualifiziert, z. B. als Rettungshelfer, Rettungssanitäter oder (bis 2014) Rettungsassistent. Bereits seit 2014 werden dort auch Notfallsanitäter ausgebildet. Persönlichkeiten Die erste bekannte Persönlichkeit in der Stadt war Graf Gebhard dux regni quod a multis Hlotharii dicitur („Herzog des Königreiches, das von vielen dasjenige Lothars genannt wird“, gemeint ist das Lotharii Regnum, das spätere Lothringen), ließ 897 eine Salvatorkirche (Erlöserkirche) an Stelle einer Vorgängerkirche auf dem späteren „Domberg“ weihen, stiftete 914/915 das Kloster St. Maria in Wetzlar, dort wurde er auch begraben. Als wohl bekannteste Persönlichkeit der Wetzlarer Geschichte wirkte Johann Wolfgang von Goethe 1772 als Jurist am Reichskammergericht. Unter dem Eindruck seiner Liebe zur Wetzlarerin Charlotte Buff und des Suizides Karl Wilhelm Jerusalems machte Goethe die Stadt mit seinem Roman Die Leiden des jungen Werther weltweit bekannt. Buff, „Werthers Lotte“, heiratete den hannoverschen Legationssekretär Johann Christian Kestner, der schon seit 1767 als Kammergerichtssekretär am Reichskammergericht in Wetzlar tätig war. Er wurde später königlich großbritannisch-hannoverscher Hofrat und Vizearchivar in Hannover. Zu großer Bedeutung brachten es später die Pioniere der Optik wie Carl Kellner, Moritz Hensoldt, Ernst Leitz, sein gleichnamiger Sohn sowie Oscar Barnack. Als Wegbereiter und Entwickler technischer Innovationen wie der ersten Kleinbildkamera der Welt, Mikroskopen und Ferngläsern, hatten sie auch einen großen Einfluss auf die Entwicklung Wetzlars zur Industriestadt. Literatur ADAC: ADAC Wanderführer Taunus inklusive Gratis Tour App: Wetzlar Nassau Bad Ems Wiesbaden Bad Homburg Frankfurt am Main, ADAC Medien und Reise GmbH, 2013, ISBN 3-86207-076-X. Magnus Backes, Hans Feldtkeller: Kunstreiseführer Hessen. Sonderausgabe Gondrom Verlag, Bindach 1988, ISBN 3-8112-0588-9. Rolf Beck: Die Leitz-Werke in Wetzlar. 2. Auflage. Sutton, Erfurt 1999, ISBN 3-89702-124-2. Rolf Beck: Mikroskope von Ernst Leitz in Wetzlar. Sutton, Erfurt 2002, ISBN 3-89702-292-3. Eckehart Schubert: Der Bilstein und die Theutbirg-Basilika. Führungsblatt zu der Wallanlage und dem vorromanischen Kirchenbau bei Wetzlar-Nauborn. 1999, ISBN 3-89822-149-0. Gustav Faber: Reisen durch Deutschland. Zwölf Reisen durch deutsche Geschichte und Gegenwart. Insel Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig 1992, ISBN 3-458-33295-2. Herbert Flender, Walter Ebertz: Wetzlar Anno … Herausgeber und Verlag: Schnitzlersche Buchdruckerei, Wetzlar 1975. Herbert Flender, Gerd Scharfscheer: Wetzlarer Stadtchronik. 2. Auflage. Wetzlardruck, Wetzlar 1980. Heinrich Gloël: Goethes Wetzlarer Zeit. Bilder aus der Reichskammergerichts- und Wertherstadt. Nachdr. (Druckerei Will) der Ausgabe Mittler, Berlin 1911. Magistrat der Stadt Wetzlar, Wetzlar 1999. Heinrich Gloël: Der Dom zu Wetzlar. Herausgeber: Stadt Wetzlar, 1. Januar 1925. Herbert Hahn: Untersuchungen zur Geschichte der Reichsstadt Wetzlar im Mittelalter. 1984, ISBN 3-88443-141-2. Irene Jung: Wetzlar, Gestern und Heute. Eine Gegenüberstellung. Herausgeber: Wartberg Verlag, 1998, ISBN 3-86134-459-9. Irene Jung: Wetzlar, wie es früher war. Wartberg Verlag, 2000, ISBN 3-86134-940-X. Irene Jung: Wetzlar. Eine kleine Stadtgeschichte. Sutton Verlag, 2010, ISBN 978-3-86680-715-0. Irene Jung und Wolfgang Wiedl: Ein Blick in die Stadtgeschichte. Wartberg Verlag, 2012, ISBN 3-8313-2262-7. Torsten Krüger und Hans-Georg Waldschmidt: Liebenswertes Wetzlar. Wartberg Verlag, 2014, ISBN 3-8313-2510-3. Wolfram Koeppe: Dr. Irmgard Freiin von Lemmers-Danforth – Europäische Wohnkultur, Renaissance und Barock. W. Bechstein, Buch- und Offsetdruck, Wetzlar 1994, ISBN 3-7954-5742-4. Karl Metz: Der Kalsmunt. Früh- und spätrömische Forschung über die Aliso – Halisin – Solisin und den Ursprung der Stadt Wetzlar. Druck und Verlag: Schnitzlersche Buchdruckerei und Buchhandlung, Wetzlar 1940. Karsten Porezag: Bergbaustadt Wetzlar: Geschichte von Eisenerzbergbau und Hüttenwesen in historischer Stadtgemarkung. Wetzlardruck, Wetzlar 1987, ISBN 3-926617-00-4. Karsten Porezag: Der Luftkrieg über Wetzlar: Luftkämpfe, Bombenangriffe und ihre Auswirkungen – Dokumentation, Verlag Wetzlardruck GmbH 1995, ISBN 3-926617-15-2. Karsten Porezag: Als aus Nachbarn Juden wurden: Die Deportation und Ermordung der letzten Wetzlarer Juden 1938–1943/45, Verlag Wetzlardruck GmbH 1996, ISBN 3-9807950-4-7 Karsten Porezag: Geheime Kommandosache: Geschichte der V-Waffen und geheime Militäraktionen des Zweiten Weltkriegs an Lahn, Dill und im Westerwald, Verlag Wetzlardruck GmbH 1996, ISBN 3-926617-20-9. Karsten Porezag: Hensoldt. Geschichte eines optischen Werkes in Wetzlar: Familien- und Gründungsgeschichte bis 1903, 2001. 1. Edition 2002, ISBN 3-9807950-0-4. Karsten Porezag: Zwangsarbeit in Wetzlar: Der Ausländer-Einsatz 1939–1945. Die Ausländerlager. 1. Edition 2002, ISBN 3-9807950-1-2. Karsten Porezag: Wetzlar – Porträt einer liebenswerten Stadt. Wetzlar 2004, ISBN 3-9807950-3-9. Karsten Porezag: „… edle Gänge an Kupffer Ertz sich reichlich zeigen …“ Kupfererzbergbau und Kupferhüttenwesen um Wetzlar 1607–1897. Verlag: Eigenverlag, Lahnstraße 35, 35578 Wetzlar, ISBN 978-3-87707-117-5. Iris Schulte Renger: Der Lahn Camino Muschelsuche auf den Höhen des Lahntales, 140 km von Wetzlar bis Lahnstein, Imprint: Independently published, ISBN 979-8-6558-0360-2. August Schoenwerk, Herbert Flender: Geschichte von Stadt und Kreis Wetzlar. 2. überarb. u. erw. Auflage. Pegasus Verlag, Wetzlar 1975, ISBN 3-87619-005-3. Eduard Sebald und Jutta Brüdern: Der Dom zu Wetzlar. Die Blauen Bücher, 1989, ISBN 3-7845-5291-9. Friedrich Wilhelm von Ulmenstein: Geschichte und Topographische Beschreibung der Stadt Wetzlar. Erster Theil, welcher die älteste und die mittlere Geschichte der Stadt begreifet. Hadamar 1802 (Google Books, alternativer Scan: Google Books) Zweyter Theil, welcher die neuere und die neueste Geschichte der Stadt begreifet. Wetzlar 1806 (Google Books). Dritter Theil, welcher die Topographie der Stadt enthält. Wetzlar 1810 (Google Books). Hans Georg Waldschmidt: Als die Polizei noch Isetta fuhr. Geschichten aus Wetzlar. Wartberg Verlag, 2009, ISBN 978-3-8313-2089-9. Jürgen Wegmann: Der Wetzlarer Dom. Sichtbares und Verborgenes. Michael Imhof Verlag, 2019, ISBN 3-7319-0894-8. Jürgen Wegmann: Der Wetzlarer Dom. Epitaphien und Grabplatten. Tectum Wissenschaftsverlag, 2018, ISBN 978-3-8288-4142-0. Jürgen Wegmann: Der Wetzlarer Dom – ein Haus für zwei Konfessionen: Eine der ältesten Simultankirchen Deutschlands. Herausgeber : Tectum Wissenschaftsverlag; 25. August 2017, ISBN 978-3-8288-3427-9. Knaurs Kulturführer Deutschland. Weltbild Verlag, Augsburg 1998, ISBN 3-8289-0703-2. Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Kulturdenkmäler in Hessen. Stadt Wetzlar. Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1900-1. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher%20Orden
Deutscher Orden
Der Deutsche Orden, auch Deutschherrenorden, Deutschritterorden oder Deutschorden genannt, ist eine römisch-katholische Ordensgemeinschaft. Mit dem Malteserorden steht er in der (Rechts-)Nachfolge der Ritterorden aus der Zeit der Kreuzzüge. Die Mitglieder des Ordens sind seit der Reform der Ordensregel 1929 regulierte Chorherren. Der Orden hat etwa 1000 Mitglieder (Stand: 2018), darunter 100 Priester und 200 Ordensschwestern, die sich vorwiegend karitativen Aufgaben widmen. Der Hauptsitz befindet sich heute in Wien. Der vollständige Name lautet Orden der Brüder vom Deutschen Hospital Sankt Mariens in Jerusalem, lateinisch Ordo fratrum domus hospitalis Sanctae Mariae Teutonicorum Ierosolimitanorum. Aus der lateinischen Kurzbezeichnung Ordo Theutonicorum bzw. Ordo Teutonicus leitet sich das Ordenskürzel OT ab. Die Ursprünge des Ordens liegen in einem Feldhospital bremischer und lübischer Kaufleute während des Dritten Kreuzzuges um 1190 im Heiligen Land bei der Belagerung der Stadt Akkon. Papst Innozenz III. bestätigte am 19. Februar 1199 die Umwandlung der Spitalgemeinschaft in einen Ritterorden und die Verleihung der Johanniter- und Templerregel für die Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens in Jerusalem. Nach der Erhebung der Spitalgemeinschaft zum geistlichen Ritterorden engagierten sich die Mitglieder der ursprünglich karitativen Gemeinschaft während des 13. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich, im Heiligen Land, dem mediterranen Raum sowie in Siebenbürgen und beteiligten sich an der deutschen Ostkolonisation. Das führte zu einer Reihe von Niederlassungen mit mehr oder weniger langem Bestehen. Eine zentrale Rolle spielte ab dem Ende des 13. Jahrhunderts der im Baltikum begründete Deutschordensstaat. Er umfasste am Ende des 14. Jahrhunderts ein Gebiet von rund 200.000 Quadratkilometern. Durch die schwere militärische Niederlage bei Tannenberg im Sommer 1410 gegen die Polnisch-Litauische Union sowie einen langwierigen Konflikt mit den preußischen Ständen in der Mitte des 15. Jahrhunderts beschleunigte sich der um 1400 einsetzende Niedergang sowohl des Ordens als auch seines Staatswesens. Infolge der Säkularisation des verbliebenen Ordensstaates im Zuge der Reformation im Jahre 1525 und seiner Umwandlung in ein weltliches Herzogtum übte der Orden in Preußen und nach 1561 in Livland keinen nennenswerten Einfluss mehr aus. Er bestand jedoch im Heiligen Römischen Reich mit erheblichem Grundbesitz fort, vor allem in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz. Nach linksrheinischen Gebietsverlusten im späten 18. Jahrhundert infolge der Koalitionskriege und nach der Säkularisation in den Rheinbundstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieben nur noch die Besitzungen im Kaisertum Österreich. Mit dem Zerfall der Habsburger Donaumonarchie und dem österreichischen Adelsaufhebungsgesetz nach dem Ersten Weltkrieg vom April 1919 ging neben dem Verlust erheblicher Besitztümer auch die ritterliche Komponente in der Ordensstruktur verloren. Seit 1929 wird der Orden von Ordenspriestern geleitet und somit nach kanonischem Recht in der Form eines klerikalen Ordens geführt. Die geschichtswissenschaftliche Rezeption befasste sich im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumeist nur mit der Präsenz des damaligen Ritterordens im Baltikum – der Deutschordensstaat wurde mit dem Orden selbst gleichgesetzt. Erforschung und Interpretation der Ordensgeschichte waren dabei in Deutschland, Polen und Russland extrem unterschiedlich, stark national oder sogar nationalistisch geprägt. Eine methodische Aufarbeitung von Geschichte und Strukturen des Ordens setzte international erst nach 1945 ein. Geschichte Gründung und Anfänge im Heiligen Land und Europa Vorgeschichte Nachdem der Erste Kreuzzug 1099 zur Eroberung Jerusalems geführt hatte, etablierten sich in den vier Kreuzfahrerstaaten (in ihrer Gesamtheit Outremer genannt) erste ritterliche Ordensgemeinschaften. Ursprünglich dienten sie der medizinischen bzw. krankenpflegerischen und logistischen Unterstützung von christlichen Pilgern, welche die biblischen Stätten besuchten. Zu diesen Aufgaben kamen bald Schutz und Geleit der Gläubigen im militärisch immer wieder umkämpften Land hinzu. 1099 bildete sich der französisch dominierte Johanniterorden, nach 1119 der stärker nach militärischen Gesichtspunkten ausgerichtete Templerorden. Infolge der vernichtenden Niederlage der Kreuzfahrer 1187 in der Schlacht bei Hattin ging die Hauptstadt des Königreichs Jerusalem an Saladin, den Begründer der Ayyubiden-Dynastie, verloren. Daraufhin begann 1189 der Dritte Kreuzzug. Von verbliebenen Stützpunkten an der Küste aus versuchten die Kreuzfahrer, Jerusalem zurückzuerobern. Das erste Ziel war die Hafenstadt Akkon. Gründung vor Akkon Während der Belagerung von Akkon (1189–1191) herrschten im durch muslimische Truppen weitgehend blockierten Lager der Kreuzfahrer auf der Hochfläche Toron (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen späteren Ordensburg) katastrophale hygienische Zustände. Über See angereiste Kreuzfahrer aus Bremen und Lübeck gründeten daher dort ein Feldhospital. Einer Legende nach soll das über die Kranken gespannte Segel einer Kogge das erste Spital der Deutschen gewesen sein. Das bewährte Hospital blieb auch nach der Eroberung Akkons bestehen. Die dort dienenden Brüder nahmen die karitativen Regeln der Johanniter an und nannten die Einrichtung „St. Marien-Hospital der Deutschen zu Jerusalem“ – in Erinnerung an ein Spital, das bis 1187 in Jerusalem bestanden haben soll. In der Heiligen Stadt sollte nach dem erwarteten Sieg über die Muslime auch das Haupthaus des Ordens errichtet werden. Das Spital gewann durch Schenkungen, vor allem von Heinrich von Champagne, an wirtschaftlicher Bedeutung. Zudem erhielt der Orden neue militärische Aufgaben. Kaiser Heinrich VI. erwirkte schließlich am 6. Februar 1191 die offizielle Anerkennung des Hospitals durch Papst Clemens III. Während des Deutschen Kreuzzugs wurde im März 1198 die Gemeinschaft der einstigen Krankenpfleger auf Betreiben Wolfgers von Erla und Konrads von Querfurt nach dem Vorbild der Templer und Johanniter in den Stand eines Ritterordens erhoben. Die Anerkennung als Ritterorden erfolgte durch Papst Innozenz III. am 19. Februar 1199. Erster Hochmeister war Heinrich Walpot von Bassenheim. Nach dem Tod Heinrichs VI. (1197) und dem erfolglosen Ende des in erster Linie vom deutschen Feudaladel getragenen Kreuzzuges sollte ein vom deutschen Adel geprägter Ritterorden über familiäre Beziehungen und Lehensabhängigkeiten als politischer Verbündeter des künftigen Herrschers im Reich dienen. Bis dahin verfügten die um den vakanten Kaiserthron streitenden Machtgruppen der Staufer und Welfen in Outremer über keine ihre Interessen vertretende klerikale Institution. Deutsche Interessen im nationalen Sinn waren allerdings im Heiligen Römischen Reich unbekannt. Mitgliedsstrukturen und Verbreitung des Ritterordens im Hochmittelalter Die Mitglieder des Ordens waren auf die Gelübde der Armut, der ehelosen Keuschheit und des Gehorsams verpflichtet. Stimmrecht im Generalkapitel wurde hingegen nur Ritter- sowie Priesterbrüdern zugebilligt. Wie alle Ritterorden des Mittelalters bestand der Deutsche Orden zunächst aus: Ritterbrüdern: Die militärische Kraft des Ordens; jeder zum Ritter geschlagene Mann konnte in der Anfangszeit mit der Profess unter dem Beistand eines glaubwürdigen Bürgen zum Ordensritter avancieren. Ab dem späten 15. Jahrhundert war die Würde eines Ritters gebürtigen Adligen vorbehalten. Vorher waren Adlige, Stadtbürger, sowie überwiegend Ministeriale anzutreffen. Obwohl die Ritterbrüder oft mit ritterlichen Mönchen assoziiert wurden, galten sie doch faktisch als Laien. Das Institut der Professritter existierte bis zum Jahr 1929. Priesterbrüdern: Den Ordenspriestern oblag die Einhaltung der Liturgie und die Durchführung sakraler Handlungen. Des Weiteren fanden im Verlauf des Mittelalters die Priesterbrüder aufgrund ihrer schriftkundlichen Bildung Verwendung als Chronisten oder Kanzleibeamte der Ordensgebieter. Ihr Wirkungsspektrum blieb auf diese Tätigkeitsfelder beschränkt, aus ihren Reihen stammten jedoch auch die Bischöfe des Ordens. Sariantbrüdern: Es handelte sich um bewährte nichtadelige Laien, die als leichtbewaffnete Kämpfer, Kuriere oder untergeordnete Verwaltungsbeamte dienten. Sariantbrüder gab es nur bis zum Ende des Mittelalters. Dienenden Halbbrüdern (sogenannte Halbkreuzler): Diese Gruppe erledigte untergeordnete Arbeiten in Hof- und Haushaltung, versah aber auch Wachdienste. Der Zweig der dienenden Halbbrüder existierte bis zum Ende des Mittelalters. Neben militärischen Aufgaben blieben zunächst Krankenpflege und Armenfürsorge wichtige Schwerpunkte der Ordenstätigkeit. Durch Schenkungen und Erbschaften fielen den Ordensrittern beträchtlicher Landbesitz und zahlreiche Hospitäler zu. Letztere wurden von Ordenspriestern und Halbbrüdern weiter betrieben. Die umfassende Spendenbereitschaft des Feudaladels erklärt sich aus dem Weltbild des frühen 13. Jahrhunderts, das „Furcht ums Seelenheil“ sowie eine spirituelle „Endzeitstimmung“ mitprägten. Durch die Stiftungen zugunsten des Ordens versuchte man sich des eigenen Seelenheils zu versichern. Im Jahre 1221 gelang es dem Orden durch ein päpstliches Generalprivileg, seine volle Exemtion von der Diözesangewalt der Bischöfe zu erlangen. Die Einkünfte erhöhten sich durch die Gewährung des Rechts zur umfassenden Kollekte auch in nicht dem Orden zugeordneten Pfarreien. Gegen entsprechende Vergütung (Legat) durften zudem mit Bann oder Interdikt belegte Personen in „geweihter Erde“ auf den Friedhöfen der Ordenskirchen beigesetzt werden, was ihnen sonst verwehrt geblieben wäre. Der Orden war kirchlich papstunmittelbar und somit Johannitern und Templern gleichgestellt. Seitens dieser Gemeinschaften wurde der Deutsche Orden mit zunehmender Skepsis betrachtet, nicht zuletzt wegen seiner Erwerbungen. Die Templer beanspruchten den Weißen Mantel für sich und legten 1210 sogar offiziellen Protest bei Papst Innozenz III. ein. Erst 1220 wurde den Deutschordensrittern das Tragen des strittigen Mantels durch Papst Honorius III. endgültig bestätigt. Die Templer blieben indes erbitterte Rivalen des Deutschen Ordens. In Palästina kam es zu einem förmlichen Krieg. 1241 verjagten die Templer die Deutschen Herren aus fast allen Besitzungen und duldeten selbst ihre Geistlichen nicht mehr in den Kirchen. Bereits am Ende des 12. Jahrhunderts erhielt der Orden erste Besitzungen in Europa. 1197 wurde erstmals ein Hospital des Ordens in Barletta in Süditalien erwähnt. Die erste Niederlassung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches nördlich der Alpen bildete um 1200 ein Spital in Halle. Auf einem durch Schenkung übereigneten Gelände westlich der Stadt gründeten Ordensbrüder St. Kunigunden. Das Spital benannte sich nach der heiliggesprochenen Kaiserin Kunigunde, der Gemahlin Heinrichs II. Der verstreute territoriale Besitz wurde bald so umfangreich, dass schon 1218 ein Landkomtur für Deutschland eingesetzt werden musste. In den kommenden Jahrzehnten breitete sich der Orden im gesamten Reichsgebiet aus, begünstigt durch zahlreiche Stiftungen und den Beitritt prominenter und wohlhabender Adliger. Der Deutsche Orden unterstützte 1228/1229 vorbehaltlos die Kreuzfahrt von Kaiser Friedrich II., an der Hochmeister Hermann von Salza maßgeblich beteiligt war. Dies brachte dem Orden die Lehnsexemtion ein. Dieses wichtige Privileg löste ihn zwar nicht aus dem Lehnsverband des Königreiches Jerusalem, befreite ihn aber von allen Verpflichtungen diesem gegenüber. Dieser Verzicht des Königreichs Jerusalem auf alle königlichen Rechte ist ohne Beispiel. Kaiser Friedrich II., zugleich infolge seiner Hochzeit mit Isabella von Brienne König von Jerusalem, wünschte den Orden an herausragender Stelle in seine imperiale Politik zu integrieren. Die umfassende Privilegierung ist auf das Wirken Hermanns von Salza zurückzuführen, eines der bedeutendsten Berater und Diplomaten des Kaisers. Friedrich gewährte dem Orden noch eine Reihe weiterer Privilegien, so bereits 1226 die Goldbulle von Rimini. Kontingente der Ordensritter unterstützten 1241 die vom Angriff der mongolischen Heere unter Batu Khan betroffenen mitteleuropäischen Herrschaftsgebiete. In der verlorenen Schlacht bei Liegnitz wurde beispielsweise das gesamte zur Verteidigung Schlesiens eingesetzte Aufgebot des Ordens aufgerieben. Entwicklung in Europa und Palästina bis zum Ende des 13. Jahrhunderts Der Orden im Heiligen Land Im Heiligen Land gelang dem Orden nicht nur der Erwerb eines Anteils am Hafenzoll in Akkon, sondern durch Schenkung Ottos von Botenlauben auch der vormaligen Herrschaft Joscelins III. von Edessa im Umland der Stadt (1220). Zudem erwarb man die Burg Montfort (1220), die Herrschaften Toron (1229) und Schuf (1257) und die Burg Toron in der Herrschaft Banyas (1261). Dennoch zeichnete sich ein Ende der Kreuzfahrerherrschaft im Heiligen Lande ab. Das von Kaiser Friedrich II. 1229 auf friedlichem Wege erworbene Jerusalem fiel 1244 endgültig. Nach dem Sieg der ägyptischen Mamelucken über die bis dahin als unbesiegbar geltenden Mongolenheere des Ilchanats in der Schlacht bei ʿAin Dschālūt im Jahre 1260 brachten Mamelukenstreitkräfte die Bastionen der Kreuzfahrer immer mehr in Bedrängnis. Die verbliebenen Festungen der Ritterorden wurden in den folgenden Jahrzehnten systematisch erobert. Mit dem Fall von Akkon 1291 zeichnete sich schließlich ein Ende der „Gewappneten Züge zum Grabe (Christi)“ ab. Beim Endkampf zu Akkon nahm ein bedeutendes Kontingent von Deutschordensrittern teil. Geführt wurde es bis zu dessen abruptem Rücktritt vom Hochmeister Burchard von Schwanden, anschließend vom Kriegskomtur Heinrich von Bouland. Mit dem endgültigen Verlust Akkons endete im Jahr 1291 das militärische Engagement des Deutschen Ordens im Heiligen Land. Anders als bei den multinational ausgerichteten Johannitern und Templern konzentrierte sich die Präsenz des Deutschen Ordens anschließend innerhalb der Grenzen des Reiches sowie in den neuerworbenen Stützpunkten in Preußen. Der Hauptsitz des Hochmeisters befand sich aufgrund der vorübergehend fortbestehenden Hoffnung auf eine Wiedereroberung des Heiligen Landes aber noch bis 1309 in Venedig, einem wichtigen Hafen für die Überfahrt ins Heilige Land. Königreich Sizilien und Levante Im Königreich Sizilien und in der Levante entstanden im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts einige Ordensniederlassungen. Besonders im Königreich Sizilien wurde nach 1222 im Rahmen der Vorbereitungen des Kreuzzuges Friedrichs II. eine Vielzahl kleinerer Ordenshäuser gegründet, deren wichtigste die schon ältere Kommende in Barletta sowie die Häuser zu Palermo und Brindisi waren. Auch in Griechenland, an der Westküste der Peloponnes, bestanden vereinzelte Niederlassungen, die in erster Linie der Versorgung der Pilger auf dem Weg ins Heilige Land und auf dem Rückweg dienten. Gescheiterte Staatsbildung in Siebenbürgen Hochmeister Hermann von Salza scheint angesichts der zersplitterten Besitzungen schon frühzeitig die Errichtung eines zusammenhängenden, vom Deutschen Orden dominierten Territoriums angestrebt zu haben. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass er 1211 bereitwillig ein Hilfeersuchen des Königreichs Ungarn annahm, zu einem Zeitpunkt also, da die verfügbaren Ordenskräfte eigentlich zum Zwecke der Befreiung des Grabes in Outremer gebunden waren. Andreas II. von Ungarn bot dem Orden an, durch Kriegsdienste gegen die Kumanen ein Heimatrecht im Burzenland in Siebenbürgen zu erwerben. Wichtige kirchliche Abgaben, darunter das Zehntrecht, gestand der König dem Orden ebenfalls zu. Überdies war ihm gestattet, Münzen zu prägen sowie seine Burgen mit Steinen zu befestigen. Letzteres galt in Ungarn als besonderes Privileg des Königs. Die Beziehungen Ungarns zum Deutschen Orden trübten sich jedoch alsbald nachhaltig ein. Im Land wuchsen antideutsche Ressentiments, was 1213 auch zum Tod von Gertrud von Andechs führte. Die Königin war deutschstämmige Gattin von Andreas II. 1223 erteilte Papst Honorius III. dem Orden in Form einer Bulle ein Exemtionsprivileg, das sich ausdrücklich auf das Burzenland bezog. Seine Umsetzung hätte die letzten legislativen Bindungen Ungarns an das von ihm beanspruchte Territorium de facto aufgehoben. Der ungarische Adel drängte den König daher massiv zum Widerstand gegen den Orden. Auf Anraten Hermanns von Salza versuchte der Papst 1224, das im Vorjahr verbriefte Privileg administrativ durchzusetzen. Zu diesem Zwecke unterstellte er das Burzenland kurzerhand dem Schutz des Apostolischen Stuhles. Damit sollte der unmittelbar papstunterstellte Deutsche Orden bei der Landnahme und den aufflammenden Feindseligkeiten mit den Ungarn juristisch unterstützt werden. Andreas II. schritt nun militärisch ein. Die zahlenmäßig hoch überlegene ungarische Heeresmacht belagerte und eroberte die wenigen Burgen des Ordens. Der Versuch des Deutschen Ordens, mit Berufung auf das zugebilligte Heimatrecht und mit aktiver Unterstützung des Papstes ein autonomes Herrschaftsgebiet außerhalb des ungarischen Königreiches aufzubauen, endete 1225 mit der Vertreibung des Ordens und der Vernichtung seiner Burgen. Die Besitzungen nördlich der Alpen Eine der bedeutendsten vom Orden übernommenen karitativen Einrichtungen war das von der Landgräfin Elisabeth von Thüringen in Marburg gegründete Hospital. Es wurde nach ihrem Tod im Jahre 1231 durch den Orden weitergeführt und ausgebaut. Mit der Heiligsprechung Elisabeths 1235 erlangten dieses Spital sowie seine Betreiber eine besondere spirituelle Bedeutung. Die sich für den Orden ergebende Reputation stieg noch, als die Heilige im Frühjahr 1236 unter persönlicher Beteiligung des Kaisers Friedrich II. umgebettet wurde. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden die einzelnen Kommenden zu regional gegliederten Balleien zusammengefasst. So entstanden um 1214 die Ballei Sachsen, vor 1221 die Ballei Thüringen, 1222 die Kammerballei Böhmen und Mähren, vor 1228 die Deutschordensballei Alden Biesen sowie 1237 die Ballei Marburg. Später folgten Lothringen (1246), Koblenz (1256), Franken (1268), Westfalen (1287). Diese Besitzungen unterstanden wie die Balleien Österreich und Schwaben-Elsass-Burgund dem Deutschmeister. Auch in Norddeutschland existierten vereinzelte Kommenden nahe den Ostseehäfen Lübeck und Wismar, welche direkt dem Landmeister in Livland unterstellt waren. Diese dienten vorrangig der logistischen Abwicklung von bewaffneten Pilgerzügen ins Baltikum. Dort entwickelte der Orden ein eigenes Staatswesen. Der Staat des Deutschen Ordens Konzentration auf das Baltikum und Ostkolonisation Die Geschichte des Ordens zwischen 1230 und 1525 ist eng mit dem Schicksal des Deutschordensstaats verknüpft, aus dem später das Herzogtum Preußen, Lettland und Estland hervorgingen. Ein zweiter Versuch des Landerwerbs war erfolgreich in einer Region, die dem statuierten Missionierungsgebot des Ritterordens eine weitreichende Perspektive bot, dem Baltikum. Schon 1224 hatte Kaiser Friedrich II. in Catania die heidnischen Einwohner des Preußenlandes östlich der Weichsel und der Nachbargebiete als Reichsfreie der Kirche und dem Kaiserreich direkt unterstellt. Als päpstlicher Legat für Livland und Preußen bestätigte Wilhelm von Modena diesen Schritt noch im selben Jahr. 1226 rief der polnische Herzog aus dem Geschlecht der Piasten, Konrad I. von Masowien, den Deutschen Orden zu Hilfe in seinem Kampf gegen die Prußen um das Kulmerland. Nach den misslichen Erfahrungen mit Ungarn sicherte sich der Deutsche Orden diesmal juristisch ab. Er ließ sich von Kaiser Friedrich II. mit der Goldenen Bulle von Rimini und von Papst Gregor IX. mit der Bulle von Rieti garantieren, dass nach der Unterwerfung und Missionierung des Baltikums, also der Prußen, das eroberte Land an den Orden fallen sollte. Auf sein Drängen erhielt der Orden zudem die Zusicherung, man werde als Souverän dieses Gebietes nur dem Papst, aber keinem weltlichen Lehnsherrn unterstehen. Konrad I. von Masowien überließ dem Orden nach längerem Zögern 1230 im Vertrag von Kruschwitz „auf ewige Zeit“ das Kulmerland. Der Deutsche Orden betrachtete diesen Vertrag als Instrument zur Schaffung eines selbstständigen Herrschaftsgebietes in Preußen. Sein Wortlaut und seine Echtheit wurden von einigen Historikern in Zweifel gezogen. Im Jahre 1231 überschritt Landmeister Hermann von Balk mit sieben Ordensrittern und ungefähr 700 Mann die Weichsel. Er errichtete noch im selben Jahr im Kulmerland eine erste Burg, Thorn. Von hier aus begann der Deutsche Orden die schrittweise Eroberung des Territoriums nördlich der Weichsel. Die Eroberung ging einher mit zielgerichteter Besiedlung, wobei den vom Orden begründeten Ansiedlungen zumeist das in der Kulmer Handfeste verbriefte Recht verliehen wurde. Unterstützt wurde der Orden in den ersten Jahren von Truppen Konrads von Masowien sowie der anderen polnischen Teilfürsten und von Kreuzfahrerheeren aus dem Reich und vielen Ländern Westeuropas. Papst Gregor IX. gewährte den Teilnehmern am Kriegszug gegen die Prußen die für einen Kreuzzug ins Heilige Land übliche umfassende Sündenvergebung und weitere Heilsversprechungen. Die verbliebenen Ritter des Ordens der Brüder von Dobrin (fratribus militiae Christi in Prussia) wurden 1234 in den Deutschen Orden eingegliedert. Der Orden war 1228 auf Initiative Konrads zum Schutz des masowischen Kernlands gegründet worden, konnte sich aber militärisch nicht gegen die Prußen durchsetzen. Der im Jahr 1202 in Riga gegründete Schwertbrüderorden (Ornat: weißer Mantel mit rotem Kreuz) erlitt 1236 in der Schlacht von Schaulen eine vernichtende Niederlage gegen schamaitische Litauer sowie Semgaller. Daraufhin handelte Hermann von Salza persönlich mit der Kurie die Union von Viterbo aus, als deren Ergebnis Deutscher Orden und Schwertbrüderorden vereinigt wurden. So erwarb man mit den livländischen Kommenden ein zweites Kernland, das sogenannte Meistertum Livland, wo nach dem Muster Preußens das bereits bestehende System von Burgen (sogenannte feste Häuser) ausgebaut wurde. Die nachhaltige Expansion der Livländischen Union nach Osten endete am Fluss Narva. Nachdem 1240 Pskow vorübergehend besetzt werden konnte, kam es zu ständigen Gefechten zwischen Rittern des Livländischen Ordenszweiges sowie Gefolgsleuten der livländischen Bischöfe und russischen Abteilungen. Diese gipfelten im April 1242 in der Schlacht auf dem zugefrorenen Peipussee (auch: Schlacht auf dem Eise), deren genauer Verlauf und Umfang unter Historikern umstritten ist. Ein russisches Aufgebot unter Alexander Newski, dem Fürsten von Nowgorod, schlug hier eine größere Heeresabteilung unter Hermann I. von Buxthoeven, dem Bischof von Dorpat. Im Sommer 1242 wurde ein Friedensvertrag geschlossen. Er fixierte faktisch für mehr als 150 Jahre die jeweiligen Einflusssphären. Die Unterwerfung des Siedlungsgebietes der Prußen ging einher mit Christianisierung und deutscher Besiedlung des Landes. Dieses Unterfangen beschäftigte den Orden mehr als 50 Jahre lang und wurde nach schweren Rückschlägen, wie verschiedenen Aufständen der Prußen, erst 1285 abgeschlossen. Die ursprünglich legitimierende Zielsetzung der sogenannten Heidenmission behielt man auch nach der Missionierung Preußens bei. Strukturelle und ökonomische Rationalität Der Orden schuf sich ein Herrschaftsgebiet, dessen organisatorische Strukturen und Modernität im Wirtschaftsdenken im Reich bestenfalls von Nürnberg erreicht wurden und die in vielerlei Hinsicht an die fortgeschrittensten Staatswesen in Oberitalien erinnerten. Er war bereits in seiner nominellen Eigenschaft als Landesherr ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und zog darüber hinaus durch seine effizienten, von Wirtschaftsplanung und -rationalität bestimmten Strukturen größeren Gewinn aus dem Land. Er wurde einziges nichtstädtisches Mitglied der Hanse und unterhielt in Lübeck mit dem Hof des Deutschen Ordens eine Niederlassung. Als ressourcenreicher Anrainer des durch den Städtebund der Hanse florierenden baltischen Wirtschaftsraumes eröffneten sich damit neue Handelsmöglichkeiten und erweiterte Handlungsräume. Der Ordensstaat war in wirtschaftlicher und administrativer Hinsicht eines der modernsten und wohlhabendsten Gemeinwesen, vergleicht man ihn mit den Flächenstaaten des Großraums. Weitreichende Innovationen in der Landwirtschaft sowie pragmatische Neuerungen im Bereich der handwerklichen Produktion in Verbindung mit effizienter Verwaltung und einer hoch entwickelten Geldwirtschaft kennzeichnen eine gegenüber dem traditionellen Lehnswesen überlegene Organisationsstruktur. Fördernd wirkten hierbei der nach 1282 forcierte Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur und die Perfektionierung des Nachrichtenwesens. Litauerkriege und Blütezeit (1303 bis 1410) Der Hochmeister hatte seinen Hauptsitz in Akkon, bis 1291 dieser letzte Kreuzfahrerstützpunkt verloren ging. Konrad von Feuchtwangen residierte daher in Venedig, traditionell ein wichtiger Hafen für die Einschiffung nach Outremer. 1309 verlegte Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen seinen Sitz in die Marienburg an der Nogat. Preußen war damit zum Zentrum des Ordens geworden. In dieser Zeit wurde der Templerorden durch König Philipp IV. von Frankreich verfolgt, den der willfährige Papst Clemens V. unterstützte. Die Ritterorden standen in der ersten Dekade des 14. Jahrhunderts aufgrund des Verlustes des Heiligen Landes im Mittelpunkt der allgemeinen Kritik. So erschien es ratsam, den Sitz des Hochmeisters in das Zentrum der eigenen territorialen Machtbasis zu verlegen. Die Inbesitznahme Danzigs und Pommerellens im Jahr 1308 erfolgte durch militärisches Vorgehen gegen polnische Herzogtümer und auf Grundlage des Vertrages von Soldin mit der Markgrafschaft Brandenburg. In Polen wuchsen nicht zuletzt aufgrund dieser Ereignisse Ressentiments gegen den Orden und auch gegen in Polen ansässige Deutsche. 1312 wurde in Krakau der Aufstand des Vogtes Albert niedergeschlagen und die Deutschen vertrieben. Das durch Territorialherrschaften zersplitterte Polen der Piastenzeit konnte in den folgenden Jahren von Władysław I. Ellenlang wieder als Königreich Polen konsolidiert werden. Dabei vertrat besonders Erzbischof Jakub Świnka von Gnesen eine Politik der Abgrenzung gegenüber den Deutschen. Die infolge des Verlustes Pommerellens und Danzigs erwachsenen Konflikte zwischen dem Orden und lokalen polnischen Machthabern sowie einem vorerst politisch schwachen Königtum weiteten sich in der Folge zu einer Dauerfehde aus. Auch der Friedensvertrag von Kalisz, in dem Polen 1343 offiziell auf Pommerellen und Danzig verzichtete, erbrachte langfristig gesehen keine Entspannung zwischen dem Orden und Polen. Mit Litauen im Südosten stieg zudem allmählich ein Großfürstentum auf, gegen das der Orden aus ideologischen und territorialen Gründen in einen ständigen Krieg verwickelt wurde. Die Litauerkriege des Deutschen Ordens dauerten von 1303 bis 1410 über ein Jahrhundert an. Da dieses östliche Großfürstentum die Taufe vehement ablehnte, galten die Litauer offiziell als Heiden. Die stete Betonung der Heidenmissionierung kaschierte nur unzureichend die territorialen Interessen des Ordens namentlich in Schamaiten (Niederlitauen). Durch andauernde Unterstützung adliger Preußenfahrer wurde der Krieg durch viele kleinere Feldzüge nach Litauen getragen. Die Großfürsten von Litauen gingen ihrerseits ebenso vor und stießen wiederholt auf preußisches und livländisches Gebiet vor. Ein Höhepunkt der Kriege war die Schlacht bei Rudau im Jahre 1370. Nördlich von Königsberg besiegte ein Heer des Ordens unter Befehl des Hochmeisters Winrich von Kniprode und des Ordensmarschalls eine litauische Streitmacht. Dessen ungeachtet konnte das weit nach Osten ausgedehnte Litauen niemals nachhaltig bezwungen werden. Als Ursache dieses erfolgreichen Widerstandes wird die zahlenmäßige Stärke der Litauer im Vergleich mit anderen vom Orden unterworfenen Ethnien wie den Prußen, Kuren und Esten, sowie deren effektive politische Organisation angesehen. Hochmeister Winrich von Kniprode führte den Ordensstaat und somit den Orden zu seiner größten Blüte. Eine konsolidierte Wirtschaft und nachhaltige militärische Erfolge gegen Litauen erwiesen sich als Schlüssel zum Erfolg. Die Zahl der Ritterbrüder blieb dennoch gering, um 1410 gehörten dieser Gruppe rund 1400, um die Mitte des 15. Jahrhunderts nurmehr 780 Ordensleute an. Unter Konrad von Jungingen wurde mit der Eroberung von Gotland, dem friedlichen Erwerb der Neumark und Samaitens die größte Ausdehnung des Ordens erreicht. Die Eroberung Gotlands 1398 bezweckte die Zerschlagung der dort lagernden Vitalienbrüder. Das bedeutete die Befreiung von der zur Plage gewordenen Piraterie innerhalb der hansischen Hauptrouten auf der östlichen Ostsee. Der Orden hielt Gotland in der Folge als Faustpfand militärisch besetzt. Erst 1408 gelang ein Ausgleich mit dem ebenfalls am Besitz der Insel interessierten Königreich Dänemark. Margarethe I. von Dänemark zahlte 9000 Nobel, also etwa 63 Kilogramm Gold. Die Einigung kam allerdings unter dem Aspekt der sich abzeichnenden Eskalation des Konfliktes mit dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen zustande. 1386 hatten sich durch die Heirat von Großfürst Jogaila mit Königin Hedwig von Polen die beiden Hauptgegner des Ordens vereint. Anfang August 1409 übersandte der Hochmeister Ulrich von Jungingen seinen Kontrahenten die „Fehdebriefe“, womit er den Krieg erklärte. Am 15. Juli 1410 schlug eine vereinigte polnisch-litauische Streitmacht das durch preußische Landesaufgebote, Gastritter aus vielen Teilen Westeuropas sowie mit Söldnerabteilungen ergänzte Heer des Ordens in der Schlacht bei Tannenberg vernichtend. Auch der Hochmeister Ulrich von Jungingen fand neben fast allen Ordensgebietern und vielen Ordensrittern den Tod. Den Kern seiner preußischen Territorien samt der Marienburg konnte der Orden durch den Einsatz des Komturs und späteren Hochmeisters Heinrich von Plauen erhalten und im Ersten Frieden von Thorn von 1411 behaupten. Mit diesem Friedensvertrag sowie dessen Ergänzung im Frieden von Melnosee 1422 endeten auch die über hundert Jahre offensiv ausgetragenen Kriegszüge der bei Tannenberg nachhaltig geschwächten Ordensstreitmacht gegen Litauen sowie gegen die spätere Personalunion Polen-Litauen. Allerdings waren im Frieden von Thorn hohe Kontributionen in Höhe von 100.000 Schock böhmische Groschen, unter anderem für die Auslösung von Gefangenen, zu leisten. Die Kontributionen führten zur Einführung einer Sondersteuer, dem sogenannten Schoss, was zu einer bisher unüblich hohen Steuerbelastung der Preußischen Stände beitrug. Preußen (1410 bis 1525) Schon gegen Ende des 14. Jahrhunderts zeichnete sich eine für den Orden und seinen Staat destruktive Entwicklung ab. Während das europäische Rittertum im Spätmittelalter verfiel, wurde der „Kampf für das Kreuz“ zunehmend verklärt und stand für ein Ideal, welches in der damaligen Realität kaum noch Bestand hatte. Der Adel reduzierte die Ritterorden zunehmend zur sicheren Versorgungsbasis nicht erbberechtigter Nachkommen. Entsprechend sank die Motivation der Ritterschaft. Alltägliche Aufgaben in Verwaltung oder Administration des Deutschen Ordens wurden nun als lästige Pflichten wahrgenommen. Zu dieser Sichtweise trug die konservative Liturgie des Ordens bei. Der Tagesablauf in Friedenszeiten war minutiös geregelt. Die Inhalte eines geistlichen Ritterordens mit Missionierungscharakter hatten sich demgegenüber weitgehend überlebt. Zudem wurde dem Orden auf Betreiben des Königs von Polen auf dem Konzil von Konstanz (1414–1418) eine weitere Missionierungstätigkeit im nun offiziell christlichen Litauen förmlich untersagt. In der Krise infolge der schweren Niederlage von 1410 weiteten sich die Missstände aus. Interne Streitigkeiten schwächten sowohl den Orden selbst als auch in der Folge den Ordensstaat. Landsmannschaftliche Gruppen stritten um Einfluss im Orden, der Deutschmeister strebte nach Unabhängigkeit vom Hochmeister. Die Städte Preußens und der im Eidechsenbund zusammengeschlossene Kulmer Landadel forderten Mitbestimmung aufgrund der stark erhöhten Besteuerung zur Begleichung der Kriegskosten und an Polen-Litauen zu entrichtende Kontributionen, welche ihnen jedoch nicht bewilligt wurde. Somit schlossen sie sich 1440 im Preußischen Bund zusammen. Hochmeister Ludwig von Erlichshausen verschärfte durch seine Forderungen an die Stände den Konflikt. Kaiser Friedrich III. stellte sich Ende 1453 auf die Seite des Ordens. Anlässlich der Hochzeit von König Kasimir IV. von Polen mit Elisabeth von Habsburg ging der Preußische Bund Anfang 1454 ein Schutzbündnis mit Polen ein und rebellierte offen gegen die Ordensherrschaft. Daraufhin brach der Dreizehnjährige Krieg aus, der durch Belagerungen und Raubzüge gekennzeichnet war, kaum jedoch durch offene Feldschlachten. Bereits im September 1454 unterlagen die polnischen Truppen in der Schlacht von Konitz und unterstützten den preußischen Aufstand in der Folge nur noch marginal. Schließlich kam es aufgrund allgemeiner Erschöpfung zu einer Pattsituation. Der Orden konnte seine Söldner nicht mehr entlohnen und musste aus diesem Grunde sogar sein Haupthaus, die Marienburg, aufgeben. Die Burg wurde den unbezahlten Söldnern verpfändet, die sie umgehend an den König von Polen verkauften. Letztlich gab so die höhere Finanzkraft der aufständischen Städte, welche alle Kriegskosten selber bezahlten, darunter insbesondere Danzigs, den Ausschlag. Im Zweiten Frieden von Thorn verlor der Orden 1466 nun auch Pommerellen, das Kulmerland, das Ermland und die Marienburg. Dieser Vertrag wurde weder vom Kaiser noch vom Papst anerkannt. Doch der Orden musste für sich als Gesamtheit die polnische Lehnshoheit anerkennen, was fortan allerdings jeder neu ernannte Hochmeister durch Herauszögerung oder gar Nichterbringung des Lehnseides zu vermeiden suchte. Ein großer Teil der preußischen Städte und Gebiete im Westen konnte sich infolge des II. Thorner Kontraktes von der Ordensherrschaft lösen. Zum Erhalt des territorial geschrumpften Ordensstaates wurden nun Subventionen aus den Balleien im Heiligen Römischen Reich benötigt, was viele der dortigen Kommenden in eine schwierige finanzielle Lage brachte. Deutschmeister Ulrich von Lentersheim versuchte sich dieser Pflichten zu entbinden, erbat in der Folge eigenmächtig Unterstützung des Kaisers und unterstellte sich zu diesem Zweck 1494 der Lehnshoheit Maximilians I. Dieses Vorgehen widersprach allerdings den Verträgen von Kujawisch Brest und Thorn mit Polen, was Proteste seitens des preußischen Ordenszweiges und besonders des Königreiches Polen zur Folge hatte. Der Hochmeister Albrecht I. von Brandenburg-Ansbach versuchte erfolglos im sogenannten Reiterkrieg (1519–1521), Unabhängigkeit von der polnischen Krone zu erlangen. In der Hoffnung, dadurch Unterstützung aus dem Heiligen Römischen Reich zu erhalten, unterstellte er 1524 das preußische Ordensgebiet der Lehnshoheit des Reiches und unternahm selbst eine Reise ins Reich, blieb allerdings damit erfolglos. Inzwischen hatte er jedoch eine persönliche Kehrtwende vollzogen und sich 1522 der Lehre Martin Luthers und damit der Reformation angeschlossen, woraus sich sofort die Frage ergab, was mit dem bisher geistlichen Ordensstaat werden sollte. Deshalb suchte er den Rat des Reformators, über den noch wenig zuvor die Reichsacht verhängt worden war. Auf dessen Anraten hin ließ er seiner persönlichen Kehrtwende eine politische folgen, indem er den Ordensstaat säkularisierte, sein Hochmeisteramt aufgab und Preußen in ein weltliches Herzogtum umwandelte. Er ging somit auf Distanz zum Reich und gewann Unterstützung beim König von Polen, den er im Reiterkrieg noch bekämpft hatte. Albrecht war ohnehin durch seine Mutter Sofia ein Neffe des polnischen Königs Sigismund I. und leistete ihm 1525 den Lehnseid; dafür wurde er mit der erblichen Herzogswürde in Preußen belehnt („in“ und nicht „von“ Preußen, weil der westliche Teil Preußens ja direkt der Schutzherrschaft des Königs von Polen unterstand). Der ehemalige Hochmeister residierte ab dem 9. Mai 1525 als Herzog Albrecht I. in Königsberg. Die Institutionen des Heiligen Römischen Reiches erkannten das weltliche Herzogtum Preußen nicht an, sondern setzten bis zum Ende des 17. Jahrhunderts formal Administratoren für Preußen ein. Der Ordenszweig im Reich fand sich mit der Umwandlung „seines“ Ordensstaates Preußen in ein weltliches Herzogtum nicht ab. Ein hastig einberufenes Generalkapitel setzte den bisherigen Deutschmeister Walther von Cronberg am 16. Dezember 1526 als neues Oberhaupt ein. Vom Kaiser erhielt er 1527 die Belehnung mit den Regalien und die Berechtigung, sich Administrator des Hochmeistertums zu nennen und damit den Besitzanspruch auf Preußen aufrechtzuerhalten. Erst 1530 erlaubte ein kaiserliches Dekret Cronberg, sich nun auch Hochmeister zu nennen. Aus dieser Bezeichnung entstand später der Kurztitel Hoch- und Deutschmeister. Cronberg wurde gleichzeitig zum Administrator Preußens ausgerufen und auf dem kaiserlichen Reichstag zu Augsburg im Jahr 1530 durch Kaiser Karl V. mit dem Preußenland belehnt. Anschließend verklagte Cronberg seinen ehemaligen Hochmeister, Herzog Albrecht, vor dem Reichskammergericht. Der Prozess endete 1531 mit der Verhängung der kaiserlichen Reichsacht gegen Herzog Albrecht sowie der Weisung an Albrecht und den Preußischen Bund, dem Orden die angestammten Rechte in Preußen wieder einzuräumen. Im außerhalb des Reiches gelegenen Preußen blieben die Schritte ohne Wirkung. Es erhielt eine lutherische Landeskirche. Das Ermland dagegen, der Hoheit des Ordens schon seit 1466 entzogen, blieb als Fürstbistum ein geistliches Territorium und wurde zum Ausgangspunkt der Gegenreformation in Polen. Livland bis 1629 1561 wurden die Besitzungen des Livländischen Ordenszweiges, also Kurland und Semgallen zum weltlichen Herzogtum unter dem ehemaligen Landmeister, Herzog Gotthard von Kettler, umgewandelt. Das eigentliche Livland kam direkt zu Litauen und bildete im späteren Staat Polen-Litauen eine Art Kondominium der beiden Staatsteile. Die Herzogtümer Preußen, Livland, Kurland und Semgallen unterstanden nun der polnischen Lehnshoheit. Das nördliche Estland mit Reval (Tallinn) und die Insel Ösel (Saaremaa) unterstellten sich angesichts der russischen Bedrohung und vertreten durch ihre Ritterschaften dänischer bzw. schwedischer Oberhoheit. 1629 kam der größte Teil Livlands durch Eroberungen Gustav II. Adolfs zu Schweden; nur das südöstliche Livland (Lettgallen) um Dünaburg (Daugavpils) blieb polnisch und wurde zur Woiwodschaft Livland, auch „Polnisch-Livland“ genannt. Nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges wurde Livland mit Riga und Estland 1721 dem Russischen Reich in Form der sogenannten Ostseegouvernements eingegliedert. Lettgallen kam 1772, Kurland und Semgallen erst 1795 im Zuge der Polnischen Teilungen zum Russischen Reich. Der Orden im Reich Nach 1525 beschränkte sich das Wirkungsfeld des Deutschen Ordens abgesehen vom Streubesitz in Livland auf seine Besitzungen im Heiligen Römischen Reich. Seit der Reformation war der Orden trikonfessionell; es existierten katholische, lutherische (Sachsen, Thüringen) und gemischte (Hessen) Balleien. Nach dem Verlust seiner preußischen Besitzungen gelang dem Orden unter Walther von Cronberg eine äußere und innere Konsolidierung. Auf dem Frankfurter Generalkapitel 1529 wurde die Cronbergsche Konstitution erlassen, das zukünftige Verfassungsgesetz der Adelskorporation. Residenz des Ordensoberhauptes und zugleich Sitz der Zentralbehörden der dem Hochmeister unmittelbar unterstellten Gebiete (das Meistertum Mergentheim) wurde Mergentheim. Außerhalb dieser sich den neuen Bedingungen anpassenden Territorialherrschaft entwickelten sich die von den Landkomturen geführten Balleien zu weitgehend selbständigen Gebilden. Einige von ihnen hatten den Rang von Reichsständen und rangierten innerhalb der Reichsmatrikel in der Gruppe der Prälaten. Oft gerieten sie in die Abhängigkeit benachbarter Adelsfamilien, die ihre Söhne in den Orden entsandten. In Thüringen, Sachsen, Hessen und Utrecht, wo sich die neuen Glaubenslehren fest etabliert hatten, gab es auch lutherische und reformierte Ordensbrüder, die sich – dem korporativen Denken des Adels folgend – dem Hochmeister gegenüber loyal verhielten, auch im Zölibat lebten und nur die Gelübdeformel durch einen Eid ersetzten. Nach 1590 wählte man den Hoch- und Deutschmeister aus führenden Geschlechtern katholischer Territorialstaaten, vor allem aus dem Haus Habsburg. Dies schuf neue familiäre und politische Querverbindungen zum deutschen Hochadel, ließ den Orden aber auch mehr und mehr zu einem Instrument habsburgischer Hausmachtpolitik werden. Vor diesem Hintergrund begann im 16. Jahrhundert ein innerer Wandel des Ordens. Eine katholisch geprägte Reform führte zur Rückbesinnung auf seine ursprüngliche Ausrichtung, die Ordensregeln wurden den neuen Verhältnissen angepasst. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts drängte das eher auf Exklusivität drängende Standesdenken des Adels die Bedeutung der zumeist nichtadligen Priesterbrüder zurück. Im Generalkapitel verfügten sie in der Neuzeit weder über Sitz noch Stimme. Die Seelsorge in den Kommenden lag oft in den Händen von Angehörigen anderer geistlicher Orden. Seitdem Laien mit juristischer Ausbildung in den Kanzleien des Ordens arbeiteten, fiel auch diese Betätigung für Priesterbrüder weg. Infolgedessen war ihre Zahl stark gesunken. Die Ordensleitung folgte den Forderungen des Konzils von Trient und beschloss, neue Priesterseminare zu stiften. Das geschah 1574 in Köln sowie 1606 in Mergentheim. Gründer des letzteren Seminars war Hochmeister Erzherzog Maximilian von Österreich, auf dessen Initiative hin auch Tirol katholisch geblieben war. Generell ist zu verzeichnen, dass zum Deutschen Orden gehörende Besitzungen auch in vorwiegend reformierten Gebieten katholisch blieben, was sich bis in die Gegenwart auswirkt. Externe Ordensniederlassungen in evangelischen Gebieten spielten bei der Seelsorge für durchreisende Katholiken oder für die wenigen dort verbliebenen Altgläubigen eine wichtige Rolle. In einigen Kommenden kam zudem erneut der Gedanke der Hospitalsbruderschaft auf. Der Orden errichtete unter anderem 1568 ein Spital in Frankfurt-Sachsenhausen. Als wichtigste Aufgabe betrachtete der noch immer vom Adel und dessen Wertvorstellungen geprägte Orden jedoch den kriegerischen Einsatz der Ritterbrüder, die sich seit dem 17. Jahrhundert nach italienischem Vorbild auch Cavaliere nannten. Einer satzungsgemäßen Verteidigung des christlichen Glaubens boten die seit dem 16. Jahrhundert eskalierenden Türkenkriege ein umfangreiches Betätigungsfeld. Trotz finanzieller Notlagen leistete der Orden auf diese Weise erhebliche Beiträge für die – im Sprachgebrauch der Zeit sogenannte – Verteidigung des Abendlandes gegen das Osmanische Reich. Professritter dienten zumeist als Offiziere in Regimentern von katholischen Reichsfürsten und in der kaiserlichen Armee. Insbesondere das kaiserliche Infanterieregiment No. 3 und das k.u.k. Infanterieregiment „Hoch- und Deutschmeister“ Nr. 4 bezogen ihre Rekruten aus den deutschen Ordensgebieten. Alle tauglichen Ritterbrüder hatten ein sogenanntes exercitium militare abzuleisten. Sie dienten für den Zeitraum von drei Jahren im Offiziersrang in den durch Kriegszüge besonders gefährdeten Grenzfestungen, ehe sie weiterführende Ordensämter übernehmen durften. Nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelte sich in den Kommenden des Ordens eine rege Bautätigkeit. Schlösser, oft verbunden mit bemerkenswerten Schlosskirchen, und repräsentative Kommendenhäuser wurden errichtet. Solche Bauten entstanden in Ellingen, Nürnberg, Frankfurt-Sachsenhausen, Altshausen, Beuggen, Altenbiesen und an vielen anderen Orten. Daneben entstanden zahlreiche neue, reich ausgestattete Dorf- und Stadtkirchen sowie profane Zweckbauten. Territoriale Verluste und Umstrukturierungen im 19. und 20. Jahrhundert Die Koalitionskriege infolge der Französischen Revolution während des ausgehenden 18. Jahrhunderts waren Ursache für eine weitere große Krise des Ordens. Mit der Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich gingen die Balleien Elsass und Lothringen vollständig, Koblenz und Biesen zu großen Teil verloren. Der Frieden von Pressburg mit Frankreich nach der schweren Niederlage der österreichisch-russischen Koalition bei Austerlitz gegen Napoléon 1805 verfügte, dass die Besitzungen des Deutschen Ordens und das Amt des Hoch- und Deutschmeisters erblich an das Haus Österreich, also Habsburg, übergehen sollten. Das Amt des Hochmeisters und mit ihm der Orden wurden in die Souveränität des Kaiserreichs Österreich integriert. Kaiser Franz I. von Österreich ließ den nominellen Status des Ordens jedoch weiterhin bestehen. Hochmeister war zu diesem Zeitpunkt sein Bruder Anton Viktor von Österreich. Der nächste Schlag erfolgte mit dem Ausbruch eines neuen kriegerischen Konfliktes im Frühjahr 1809. Am 24. April erklärte Napoléon nach dem Einmarsch der Österreicher in das Königreich Bayern infolge des Fünften Koalitionskrieges den Orden in den Rheinbundstaaten für aufgelöst. Der Ordensbesitz wurde an die Fürsten des Rheinbundes abgetreten. Napoléon bezweckte auf diesem Wege, den Kriegseinsatz seiner Verbündeten im Krieg gegen die Koalition materiell zu entschädigen sowie die Fürsten somit enger an das französische Kaiserreich zu binden. Dem Orden verblieben jetzt nur noch die Besitzungen in Schlesien und Böhmen sowie die Ballei Österreich mit Ausnahme der an die illyrischen Provinzen abgetretenen Kommenden um Krain. Die Ballei An der Etsch in Tirol war an die französischen Vasallen-Königreiche Bayern und das 1805 aus der Cisalpinischen Republik Napoléons hervorgegangene Königreich in Nordostitalien gefallen. Im Rahmen der Säkularisation im frühen 19. Jahrhundert verlor der Orden die meisten seiner Gebiete, obwohl er im Reichsdeputationshauptschluss noch als Souverän anerkannt worden war. Aber schon im Jahr 1805 wurde in Artikel XII des Friedens von Pressburg festgelegt, dass „Die Würde eines Großmeisters des deutschen Ordens, die Gerechtsame, Domainen und Einkunfte … demjenigen Prinzen des kaiserlichen Hauses, welches Se. Majestät der Kaiser von Deutschland und Oesterreich ernennen wird, in der Person und in gerader männlicher Linie nach dem Erstgeburtsrechte erblich überlassen werden“ sollten. Der Orden war damit ein Teil Österreichs bzw. der Habsburgermonarchie geworden. Zwar fielen als Folge des Wiener Kongresses 1815 die Balleien Krain und Tirol zu Österreich und somit in den Verfügungsbereich des Ordens; eine Wiederherstellung der vollen Souveränität des Ordens war aber angesichts der nun unzureichenden Vermögenswerte nicht mehr möglich. Im Jahr 1834 verzichtete Franz I. erneut auf alle Rechte aus dem Pressburger Frieden und setzte den Orden wieder in seine alten Rechte und Pflichten ein: der Orden wurde durch Kabinettsorder vom 8. März 1843 juristisch zu einem selbständigen geistlich-militärischen Institut unter der Bande eines kaiserlichen unmittelbaren Lehens. Es bestanden nur noch die Ballei Österreich, das Meistertum in Böhmen und Mähren sowie eine kleine Ballei in Bozen. Nach dem Untergang der Donaumonarchie in der Folge des Ersten Weltkrieges wurde der Orden in den Nachfolgestaaten der Vielvölkermonarchie zunächst als Kaiserlich Habsburger Ehrenorden betrachtet. Deshalb erwogen die verantwortlichen Behörden eine Beschlagnahmung des Ordensvermögens als nominelles Eigentum des Habsburger Kaiserhauses. Aus diesem Grund verzichtete Hochmeister Erzherzog Eugen von Österreich-Teschen 1923 auf sein Amt. Er ließ den Ordenspriester und Bischof von Brünn Norbert Johann Klein zum Koadjutor wählen und dankte gleichzeitig ab. Diese Zäsur erwies sich als erfolgreich: Bis Ende 1927 erkannten die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie den Deutschen Orden als geistlichen Orden an. Der Orden umfasste noch die vier Balleien (später Provinzen genannt) im Königreich Italien, in der Tschechoslowakischen Republik, in der Republik Österreich und im Königreich Jugoslawien. Am 6. September 1938 erließ die nationalsozialistische deutsche Reichsregierung ein Dekret zur Auflösung des Deutschen Ordens. Im selben Jahr wurde der Deutsche Orden infolge dieses Dekretes im an das Deutsche Reich als Ostmark angegliederten Österreich aufgelöst. 1939 kam das gleiche Edikt in der vom Deutschen Reich annektierten, sogenannten Rest-Tschechei, dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, zur Anwendung. Im italienischen Südtirol gab es bis 1945 ideologisch begründete Übergriffe örtlich ansässiger Faschisten auf Einrichtungen und Mitglieder. Im „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ beziehungsweise dem „Königreich Jugoslawien“ (1918–1941) wurde der Orden in den zwanziger und dreißiger Jahren geduldet. Im Zweiten Weltkrieg dienten seine zumeist im slowenischen Gebiet angesiedelten Besitzungen als Lazarett. Nach 1945 wurden Mitglieder des Deutschen Ordens in der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien nicht zuletzt infolge des Namens aufgrund der Kriegs- und Nachkriegsereignisse verfolgt. Im Zuge der 1947 hier erfolgenden Aufhebung aller geistlichen Orden säkularisierten die jugoslawischen Staatsorgane das Eigentum des Deutschen Ordens und verwiesen seine Mitglieder des Landes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Österreich 1947 das Aufhebungsdekret von 1938 staatsrechtlich annulliert und das verbliebene Vermögen dem Orden zurückerstattet. Auch aus der Tschechoslowakei wurden die Angehörigen des Ordens ausgewiesen. In Darmstadt gründeten diese Ordensmitglieder 1949 einen Konvent, der 2014 aufgegeben wurde. Für Ordensschwestern wurde 1953 in Passau, im ehemaligen Augustiner Chorherrenstift St. Nikola ein Mutterhaus geschaffen (Juristisch betreut wurde der Schwesternanteil des Ordens in Passau von Franz Zdralek). 1957 erwarb der Orden in Rom ein Haus als Sitz des Generalprokurators, das zugleich als Pilgerhaus dient. 1970 und 1988 wurden die Ordensregeln – auch im Hinblick auf eine bessere Partizipation der weiblichen Mitglieder – modifiziert. Der Deutsche Orden in der Gegenwart Heute ist der Deutsche Orden mit dem offiziellen Titel „Orden der Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens in Jerusalem“ ein geistlicher Orden. Aktuell hat er etwa 1000 Mitglieder: rund 100 Priester, 200 Schwestern und 700 Familiaren. Die räumlichen Bezirke des Ordens werden als Provinzen bezeichnet. Sie besitzen eigene Provinzialate, welche man als Regionalverwaltungen des Ordens verstehen kann. Diese befinden sich für Deutschland in Weyarn, für Österreich in Wien, für Südtirol/Italien in Lana, für Slowenien in Laibach und für Tschechien und die Slowakei in Troppau. Die deutsche Ordensprovinz ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert. Entsprechend seinem ursprünglichen Ideal, „den hilfsbedürftigen Menschen um Christi willen in selbstloser Liebe zu dienen“, betätigt sich der Orden heute karitativ und im Bildungsbereich. Schwerpunkte bilden die Bereiche Alten- und Behindertenhilfe sowie die Suchthilfe. In Deutschland betreiben die ca. 3000 Mitarbeiter der Ordenswerke 60 gemeinnützige Einrichtungen, darunter 10 Fachkliniken für Suchtrehabilitation. Daneben unterhält er Gästehäuser in Wien, Rom und Gumpoldskirchen. Darüber hinaus sind Ordenspriester als Pfarrer in verschiedenen Pfarreien eingesetzt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Erforschung der ordenseigenen Geschichte. Seit 1966 gibt der Orden – unter staats- und konfessionsübergreifender Mitarbeit von Autoren – die inzwischen 60-bändige Buchreihe Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens heraus. 1999 kam es in der Deutschordensprovinz Deutschland infolge von Missmanagement zu eklatanten finanziellen Engpässen, in deren Folge die Provinz im November 2000 ihre Zahlungsunfähigkeit erklären musste. Durch die Einsetzung einer neuen Leitung wurde eine Liquidation der Körperschaft des öffentlichen Rechts im Einvernehmen mit den Gläubigern in letzter Instanz abgewendet. Insgesamt beliefen sich die Verbindlichkeiten des Deutschen Ordens Anfang 2001 auf ca. 364 Millionen DM gegenüber den Banken. Ordensleitung Quelle: Generalrat: Mitglieder sind neben dem Hochmeister der Generalprokurator, vier aus den Provinzen gewählte Generalräte, der Generalsekretär, der Generalökonom, neben der Generalassistentin eine weitere Repräsentantin der Ordensschwestern, sowie ein Sachverständiger aus dem Familiareninstitut. Alle zur Leitung des Ordens wichtigen Angelegenheiten werden vom Hochmeister mit seinem Rat auf turnusmäßigen Generalratssitzungen beraten und entschieden. Der Generalprokurator in Rom vertritt die Angelegenheiten des Deutschen Ordens beim Heiligen Stuhl. Generalsekretär: Administrativer Bevollmächtigter des Hochmeisters im Tagesgeschäft sowie Stellvertreter des Hochmeisters bei Unpässlichkeit. Generalökonom: Verantwortlich für Finanzen und Logistik. Die Generalassistentin vertritt die Schwestern aller Provinzen im Generalrat. Als Vertreterin des Hochmeisters nimmt sie auch an den Konferenzen und Tagungen der Generaloberinnen teil und bespricht die dabei gefassten Beschlüsse mit dem Hochmeister, der die einzelnen Provinzoberinnen davon in Kenntnis setzt. Die Generalassistentin nimmt nicht die Stelle einer Generaloberin im Sinne des Ordensrechts ein. Ordenspriester und Laienbrüder Den ersten Zweig des Ordens bilden die Priester (Abkürzung hinter dem Namen: „OT“ für „Ordo Teutonicus“). Sie legen ein feierliches ewiges Gelübde (Profess) ab, sind als Nachfolger der Ordensritter allein zur Leitung des Ordens berechtigt und vornehmlich in der Pfarrseelsorge tätig. Zu diesem Zweig gehören auch Laienbrüder, die ein einfaches ewiges Gelübde ablegen. Die Konvente sind in fünf Provinzen organisiert: Deutschland mit Sitz im ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift in Weyarn und Konventen in Weyarn, Frankfurt am Main, Wetter, Maria Birnbaum bei Sielenbach und Koblenz-Ehrenbreitstein. 1998 wurde der deutschen Provinz vom Freistaat Bayern der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen. Prior ist seit 2015 Pater Christoph Kehr. Österreich mit Sitz in Wien im Deutschordenshaus. Südtirol mit Sitz in Lana; Prior ist Pater Arnold Wieland Tschechien (Řád bratří domu Panny Marie v Jeruzalémě) und Slowakei (Rehola bratov domu Panny Márie Jeruzalemskej) mit Sitz in Troppau mit Konvent in Topoltschan Slowenien (Križniški red v Sloveniji) mit Sitz in Laibach. An der Spitze steht jeweils ein Provinzial, der den Titel „Prior“ oder „Landkomtur“ führt. Ordensschwestern Den zweiten Zweig bildet die Kongregation der Ordensschwestern. Sie legen die einfachen ewigen Gelübde ab. Innerhalb des Ordens regeln sie ihre Angelegenheiten selbständig und widmen sich der Kranken- und Altenpflege. Sie sind ebenfalls in fünf Provinzen organisiert Deutschland mit Sitz in Passau Österreich mit Sitz in Friesach Italien mit Sitz in Lana Tschechien (Milosrdné sestry Panny Marie Jeruzalémské Province sester) und Slowakei (Milosrdné sestry Panny Márie Jeruzalemskej Provincia sestier) mit Sitz in Troppau Slowenien (Sestre Križniškega Reda (SKR)) mit Sitz in Luttenberg. Familiaren und Ehrenritter Den dritten Zweig bildet das Institut der Familiaren (Abkürzung hinter dem Namen „FamOT“), auch Marianer genannt. Diese legen ein Versprechen (kein Gelübde) auf den Orden ab und regeln innerhalb des Ordens ihre Angelegenheiten ebenfalls selbständig. Bei feierlichen Anlässen tragen sie einen schwarzen Umhang mit dem Wappen des Deutschen Ordens an der linken Seite. Sie gliedern sich in die Balleien Deutschland mit Sitz in Frankfurt am Main und den Komtureien „An Isar, Lech und Donau“, „An der Donau“, „Franken“, „Am Oberrhein“, „An Tauber, Neckar und Bodensee“, „An Rhein und Main“, „An Rhein und Ruhr“, „An Weser und Ems“ und „An Elbe und Ostsee“, Österreich mit den Komtureien „An der Drau“, „An Enns und Salzach“ und „An Mur und Mürz“. Die Komturei „Am Inn und Hohen Rhein“ gehört seit Februar 2009 zur Ballei An der Etsch und im Gebirge Ad Tiberim (Italien), An der Etsch und im Gebirge (Südtirol), Ballivia in Bohemia, Moravia et Silesia (Tschechien) und die selbständige Deutschordensballei Alden Biesen in Belgien. Bekannte Familiaren sind oder waren beispielsweise Franz Josef Strauß oder Edmund Stoiber. Eine besondere Kategorie innerhalb der Familiaren bildet die Klasse der Ehrenritter, die auf zwölf Mitglieder beschränkt ist. Sie tragen einen weißen Mantel mit dem Ordenswappen sowie das Ritterkreuz des Ordens am Halsband. Bekannte Ehrenritter sind oder waren zum Beispiel Konrad Adenauer, Otto von Habsburg, der Kardinal Joachim Meisner (Köln), der Kardinal Christoph Schönborn (Wien), Peter Kohlgraf (Mainz), der Erzbischof Stefan Heße (Hamburg), Udo Arnold oder Carl Herzog von Württemberg. Generalprokurator in Rom Der Generalprokurator in Rom vertritt die Angelegenheiten des Deutschen Ordens beim Heiligen Stuhl. Sitz des Generalprokurator ist in der Via Nomentana 421 in Rom. … Alfred Bacher OT (1982–2012) Laurentius Meißner OT (2012–2022) Christian Blümel OT, seit 2022 Organisatorische Strukturen des Ordens Zeichen und Ornat Die Form des Ordenszeichens wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte vom einfachen Balkenkreuz zum schwarzen Tatzenkreuz auf weißem Grund. Die Kleidung der Mitglieder des Ordens entsprach der jeweiligen Zeit, seit der Gründung des Ordens ist der Weiße Mantel mit dem schwarzen Kreuz auf der rechten Seite (vom Betrachter aus gesehen) jedoch immer ein Wahrzeichen des Ordens. Neben dem zu feierlichen Anlässen obligaten Mantel gehören zur typischen Ordenskleidung heute für die Geistlichen die Soutane, Halskreuz und Brustkreuz. Der Wahlspruch des Ordens lautet „Helfen, Wehren, Heilen“. Innere Verfassung Ursprünglich hatte der Orden für seine militärischen Tätigkeiten die Regeln der Templer, für seine karitativ Tätigen die der Johanniter übernommen. Ab dem 13. Jahrhundert bildete der Orden 1244 von Papst Innozenz IV. bestätigte Regeln aus, die in einem sogenannten „Ordensbuch“ festgehalten wurden. Die älteste erhaltene Abschrift eines Ordensbuches stammt aus dem Jahre 1264. Der Deutsche Orden pflegte ursprünglich eine eigene Form des Ritus der Liturgie. In der Entstehungszeit feierten die Brüder den Gottesdienst nach dem Ritus der Kanoniker vom Heiligen Grab in Jerusalem. Durch eine Approbation Papst Innozenz IV. wurde die Liturgie der Dominikaner im Orden eingeführt. Obwohl im Konzil von Trient die Beibehaltung dieser alten Liturgieform gestattet wurde, setzte sich die Form der Tridentinischen Messe im Orden langsam durch und wurde 1624 endgültig übernommen. Seitdem gilt auch im Deutschen Orden der jeweils gültige römische Ritus der katholischen Kirche. Als Patronin des Ordens gilt neben der Jungfrau Maria die 1235 heiliggesprochene Elisabeth von Thüringen. Die Konstitution des Ordens, auch Statuten genannt, wurde und wird durch das Generalkapitel / Großkapitel beschlossen und früher vom Kaiser, heute vom Papst genehmigt. Wichtige Beschlüsse waren die „Cronbergsche Konstitution“, auf dem Frankfurter Generalkapitel 1529 erlassen; die „Statuten des Deutschen Ritterordens“ (1840 von Kaiser Ferdinand I. bestätigt) die „Regel der Konventsbrüder des deutschen Hauses und Hospitals Unserer lieben Frau zu Jerusalem für die dem Hochmeister unmittelbar unterstehenden Priesterkonvente von 1865 für die neuen Priesterkonvente“ (1866 vom Kaiser anerkannt und 1871 von Papst Pius IX. bestätigt); Im Jahre 1929 approbierte das Großkapitel des Deutschen Ordens die beiden überarbeiteten Ordensregeln der Brüder und der Schwestern, die beide am 27. November 1929 von Papst Pius XI. bestätigt wurden. Die Deutschordensschwestern sind als Kongregation päpstlichen Rechts dem Orden der Brüder beigeordnet. Die Generalleitung liegt beim Hochmeister; Vertreterinnen der Schwestern nehmen am Generalkapitel und am Generalrat teil. Diese Form des Ordenslebens ist solitär in der römisch-katholischen Kirche. Nach vorläufigen Approbationen wurden am 11. Oktober 1993 die Regeln der Brüder vom Deutschen Haus Sankt Mariens in Jerusalem und die Lebensregeln der Schwestern vom Deutschen Haus Sankt Mariens in Jerusalem vom Apostolischen Stuhl bestätigt. Beide waren nach den Weisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils bereits genehmigt worden und zuletzt auch den Normen des kirchlichen Gesetzbuches von 1983 angepasst. Alle Satzungen des Ordens sind in Regeln und Statuten des Deutschen Ordens „Das Ordensbuch. Wien 2001“ veröffentlicht. Ämter und Institutionen Generalkapitel Das Generalkapitel bildete ursprünglich die richtungsweisend beschlussfassende Versammlung aller Vollmitglieder des Ordens (Ritter, Priester, Graumäntler). Da dies logistisch nicht möglich war, beschränkte man sich auf Deputationen der einzelnen Kommenden und Balleien unter Vorsitz der jeweiligen Landmeister. Ursprünglich als jährlich durchzuführende Versammlung angestrebt, trat in der Praxis ein Generalkapitel im Hoch- und Spätmittelalter fast ausschließlich zur Wahl der jeweiligen Hochmeister zusammen. Die Beschlüsse waren für die Gebietiger des Ordens formal bindend. Hochmeister Der Hochmeister ist das höchste Amt im Deutschen Orden und untersteht nur dem Papst in Rom. Bis 1525 gewählt durch das Generalkapitel, hatte er im Heiligen Römischen Reich den Rang eines Geistlichen Reichsstandes. In Preußen galt der Hochmeister bis 1466 zugleich als souveräner Landesfürst. Dennoch muss er hierarchisch gesehen als Erster unter Gleichen betrachtet werden. Das bedeutete, dass er auf Intentionen und Verlangen der einzelnen Gruppierungen im Orden Rücksicht nehmen musste. Inwieweit dies geschah, hing eng mit der Persönlichkeit des jeweiligen Hochmeisters zusammen. Von 1530 bis 1929 hieß das Amt umgangssprachlich „Hoch- und Deutschmeister“. Letzter Hoch- und Deutschmeister war von 1894 bis 1923 der k.u.k. Feldmarschall Erzherzog Eugen von Österreich aus dem Haus Habsburg. Als 65. Hochmeister des Ordens wurde am 25. August 2000 Bruno Platter gewählt, er empfing durch den Bischof von Bozen-Brixen Wilhelm Egger am 29. Oktober 2000 die Abtsbenediktion. Zum derzeitigen 66. Hochmeister des Ordens wurde am 22. August 2018 Frank Bayard gewählt. Großgebietiger Quellen: Für den Bereich des ganzen Ordens waren bis 1525 die vom Hochmeister selbst bestimmten sogenannten „Großgebietiger“ zuständig. Ihre jeweiligen Amtssitze befanden sich in Preußen. Neben administrativen Aufgaben nahmen die Großgebietiger auch repräsentative Pflichten bei der Landesverwaltung wahr und erfüllten häufig wichtige diplomatische Missionen im Dienste des Hochmeisters. Es existierten bis 1525 fünf amtsspezifische Großgebietiger: Großkomtur (Stellvertreter des Hochmeisters) zu Marienburg: Hatte die Aufsicht über den Ordensschatz und alle Vorräte. Insbesondere unterstand ihnen die Firmarie (Altersheim) und das Kriegswesen der Marienburg. Daneben kontrollierte er die Rechnungslegung des Tresslers und führte das Schuldenregister des Ordens. Außerdem vertrat er den Hochmeister bei längerer Krankheit oder Abwesenheit. Ordensmarschall (seit 1330 zugleich Komtur von Königsberg): War zuständig für das Kriegswesen (Burgen, Kriegsgerät, Waffenherstellung, Pferde und Wagen) und führte im Kriegsfall das Ordensheer. Großspittler zu Elbing: Leitete das Krankenpflege- und das gesamte Spitalwesen im Machtbereich des Ordens. Im Spätmittelalter wurde es ein repräsentatives Ehrenamt. Ordenstressler zu Marienburg: Verwaltete das Finanzwesen. Ordenstrappier zu Christburg: Sein Zuständigkeitsbereich für die Beschaffung und Verteilung aller Kleidung (unter den Bedingungen des Mittelalters sehr wichtig). Später reduzierte sich die Bedeutung auf ein bloßes Ehrenamt. Die deutschsprachigen Bezeichnungen für die Ämter der Großgebietiger stammen ursprünglich aus der Organisationsform des Templerordens. Landmeister Landmeister war ein hohes Amt und Titel im Deutschen Orden. Der Landmeister war eine Stellung zwischen dem Hochmeister und den Landkomturen der Balleien. Einem Landmeister unterstanden im Reich die Balleien, in Preußen und Livland jeweils die Kommenden. So galt der Landmeister faktisch als Stellvertreter des Hochmeisters. Die Landmeister konnten diese autonome Funktion schon bald erweitern, so dass auch der Hochmeister nicht mehr gegen ihre Intentionen entscheiden konnte. Sie wurden von den regionalen Kapiteln gewählt und vom Hochmeister lediglich bestätigt. In der Mitte des 15. Jahrhunderts sprach man zu den Zeiten des Niedergangs der Ordensherrschaft in Preußen sogar bereits von den drei Zweigen des Ordens, wobei dem Hochmeister nur noch die gleichgestellte Rolle des Landmeisters von Preußen zukam. Innerhalb des Ordens gab es zunächst drei, später nur noch zwei Landmeister. Für Deutschland und Italien fungierte der Deutschmeister sowie ein Landmeister in Livland. Das Amt des Landmeisters von Preußen wurde 1309 infolge der Verlegung des Hauptsitzes nach Preußen durch den Hochmeister aufgelöst. Der letzte in Elbing residierende Landmeister von Preußen war Heinrich von Plötzke. Nach der Reformation und der Auflösung des Hochmeisteramtes in Preußen wurde der Deutschmeister zugleich Administrator des Hochmeistertums und seine Kompetenzen auf Preußen erweitert, was sich in der Praxis nur als formeller Akt erwies. Der bedeutendste Landmeister in Livland war Wolter von Plettenberg. Er blieb, wie seine Nachfolger bis 1561, katholisch. Aber unter ihm setzte sich in Livland unter Deutschbalten, Esten und Letten die Reformation durch. Der evangelische Glaube blieb bis heute in den Staaten Estland und Lettland erhalten. Mitte des 16. Jahrhunderts ging auch Livland verloren. So fand das Amt eines Landmeisters in der Folge faktisch sein Ende, da der verbliebene Landmeister als Hoch- und Deutschmeister die Funktionen des Hochmeisteramtes ausfüllte. Quellen: Landkomtur Der Landkomtur war der Leiter einer Ballei. In einer Ballei waren verschiedene Kommenden zusammengefasst. Einige der deutschen Balleien hatten den Rang von Reichsständen und rangierten in der Matrikel des Reiches in der Gruppe der Prälaten. Mit der Umwandlung des Ordens in einen Klerikerorden gingen die Balleien des Ordens in den Provinzen / Prioraten des heutigen klerikalen Deutschen Orden auf, deren Provinzial sich Prior nennt. In seiner Amtsführung wurde der Landkomtur unterstützt von einem Ratsgebietiger. Das war ein Ritterbruder, der aus dem Kreis der Ritterbrüder einer Ballei gewählt wurde. Der Ratsgebietiger hatte ein Mitspracherecht bei Ordensaufnahmen, Versetzungen und der Vergabe von Kommenden. Komtur Der Komtur war der Leiter einer Niederlassung des Ordens, einer Kommende. Er übte alle Verwaltungsbefugnisse aus und beaufsichtigte die seiner Deutschordenskommende unterstellten Vogteien und Zehnthöfe. Eine Kontrolle war durch sogenannten Ämterwandel, bei dem bei turnusgemäßer Aufgabe des Amtes eine Generalinventur erfolgte, sowie durch Visitationen gegeben. Bis in das 19. Jahrhundert hinein hießen die Ordenskonvente des Ordens Kommenden. In diesen Verwaltungseinheiten lebten sowohl Ritterbrüder wie auch Priesterbrüder. Unter Leitung des Komturs formte sich in den Kommenden ein klösterliches Leben mit Chorgebet. Erst nach der Reformation löste sich im Deutschen Orden das gemeinschaftliche Leben auf und die Kommenden wurden zu reinen Einkommensquellen der Ritterbrüder des Ordens, welche für gewöhnlich im Militärdienst eines Landesherren standen. Die Größe der Kommenden war sehr unterschiedlich. Im Gegensatz zu den Kommenden in Preußen waren die im Deutschen Reich kleiner und bestanden schon im 13. Jahrhundert nur aus einem Komtur, zwei bis sechs Konventualen und einem Priester. Mit der Umwandlung des Ordens in einen Klerikerorden wurden die Kommenden in Konvente gewandelt, deren Leiter nun Superior, der lateinischen Form von „Oberer“, und nicht mehr Komtur genannt wird. Weitere Ämter Kanzler des Hochmeisters und Kanzler des Deutschmeisters. Der Kanzler verwahrte Schlüssel und Siegel und war Protokollant bei Ordenskapiteln. Münzmeister in Thorn. 1246 verlieh Kaiser Friedrich II. dem Orden das Recht zur Prägung eigener Münzen, den so genannten Moneta Dominorum Prussiae – Schillingen. Pfundmeister in Danzig. Das Pfundgeld war ein von der Hanse eingeführter Zoll. Generalprokurator als Vertreter des Ordens beim Vatikan. Großschäffer. Mit besonderen Vollmachten ausgestattete Handelsbeauftragte des Ordens in Preußen mit Sitz in Marienburg und Königsberg Ordensmarschall, der für das Kriegswesen des Ordens zuständig war. Innerhalb einer Kommende konnte es weitere Ämter geben, die jedoch nicht zu allen Zeiten oder in allen Kommenden bestanden: Hauskomtur Pfleger Ratsgebietiger Baumeister gab es in den Balleien Elsaß-Burgund und Franken. Karwansherr Schäffer Küchenmeister Kellermeister Überreiter, „so über die einkünfte der landgüter bestellt“ Trappierer Verwaltungsstruktur in der Mitte des 14. Jahrhunderts Quellen: Hauptsitze und Archive des Ordens Der ursprüngliche Sitz des Hochmeisters und damit zugleich des Ordens war dessen Spital in Akkon. 1220 erwarb der Orden die Burg Montfort, die nach ihrem Wiederaufbau Sitz des Hochmeisters wurde. 1271 wurde die Burg von den Mamluken erobert, der Hochmeister kehrte nach Akkon zurück. Nach dem Fall Akkons im Jahr 1291 wurde unter dem Hochmeister Konrad von Feuchtwangen zunächst Venedig Hauptsitz, ab 1309 dann unter dem Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen die Marienburg. Nach deren Verlust wurde 1457 Königsberg Hauptsitz des Ordens. Ab 1525/27 war zumeist Mergentheim offizieller Amtssitz des Hoch- und Deutschmeisters. Nachdem der Orden durch die Bestimmungen des Friedens von Pressburg seine Souveränität verloren hatte, befand sich die zentrale Residenz des Ordens von 1805 bis 1923 in Wien. Der damalige Koadjutor und spätere Hochmeister Norbert Johann Klein verlegte 1923 den Sitz nach Freudenthal. Seit 1948 ist der Sitz des Hochmeisters wieder in Wien. Das Deutschordenshaus in Wien, hinter dem Stephansdom gelegen, ist zugleich Sitz des Deutsch-Ordens-Zentralarchivs und der für die Öffentlichkeit zugänglichen Schatzkammer des Deutschen Ordens. Die vollständig erhaltenen Urkunden des Preußischen Staatsarchivs Königsberg aus der Zeit des Ordensstaates befinden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Die Urkunden aus Mergentheim sind im Staatsarchiv Ludwigsburg. Weitere Akten befinden sich im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. und im Staatsarchiv Nürnberg. Das Land Baden-Württemberg und die Stadt Bad Mergentheim sind die Träger des Deutschordensmuseums in Bad Mergentheim. Am 4. Juli 2014 wurde in Würzburg die Forschungsstelle Deutscher Orden eingerichtet. Quellenlage und frühe Historiographie Die Quellenlage zum Orden und der Geschichte der betroffenen Regionen ist aufgrund zweier Tatsachen als gut zu bezeichnen: Da die Gebiete des Ordensstaates im Vergleich zu vielen übrigen deutschen Regionen weniger von Verwüstungen betroffen waren, z. B. im Laufe des Dreißigjährigen Krieges, des Siebenjährigen Krieges oder der Napoleonischen Kriege, konnten die meisten Archivbestände die Jahrhunderte relativ unbeschadet überstehen. Die moderne, fortgeschrittene Schriftlichkeit der Verwaltungspraxis des Ordens hat umfangreiche, systematisch zusammengestellte Urkundenbestände, Inventarlisten, Rechnungen und andere Quellen erzeugt, wie sie in mittelalterlicher Zeit in keinem anderen deutschen Land anzutreffen sind. Sehr ausführlich ist auch die Korrespondenz der jeweiligen Hochmeister. Daneben betreffen auch die Aufzeichnungen von Städten, Klöstern, und Domstiften teilweise die Geschichte des Ordens. Aus der Frühzeit des Ordens bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts existieren fast keine chronikalen Quellen. Umso reichhaltiger ist die urkundliche Überlieferung z. B. von Schenkungen oder der Gewährung von Privilegien durch den Papst. Trotzdem lässt sich die Eroberung des Landes mithilfe zeitgenössischer Zeugnisse fast nicht beschreiben. Von 1324 bis 1331 schrieb der Priesterbruder Peter von Dusburg das Chronicon Prussiae. Er berichtete von den Anfängen des Ordens in Preußen, dem Kampf gegen die Prußen, von deren Glauben und von ihren Gewohnheiten. Das meiste, was von der Frühzeit des Ordens bekannt ist, beruht auf seinem Werk, das wiederum aus einer verlorengegangenen Fassung der im 19. Jahrhundert gefundenen Narratio de primordiis Ordinis Theutonici als Quelle schöpfte. Nikolaus von Jeroschin übertrug dieses lateinische Chronicon Prussiae später im Auftrag Luthers von Braunschweig in Versform ins Deutsche. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts zeichneten sich mit dem Humanismus erste Ansätze eines stärkeren Interesses für die Geschichtswissenschaft ab. Seit 1517 schrieb der Dominikaner Simon Grunau seine umfangreiche Preußische Chronik. Da die quellenkritische Methode noch unbekannt war, erfand Grunau kurzerhand Urkunden und spekulierte, wo er nichts Genaueres wusste. Seine Schriften sind von einem negativen Standpunkt gegenüber dem Orden geprägt. Grunau äußerte sich ausführlich über seine Quellen und deren Zugänglichkeit. Er wurde später von anderen Historikern – die ihn allerdings auch als zu sehr im polnischen Sinne schreibend kritisierten – als Quelle verwandt. Caspar Schütz verfasste 1592 im Auftrag Albrechts von Brandenburg die mehrbändige Historia rerum Prussicarum. Christoph Hartknoch beschrieb 1679 in seinem Geschichtswerk Altes und Neues Preussen sowohl die heidnische als auch die durch den Orden geprägte Zeit. Zwischen 1722 und 1725 erschien die neunbändige Geschichte der preußischen Lande von Gottfried Lengnich. Johannes Voigt verfasste zwischen 1827 und 1829 eine neunbändige Geschichte Preußens. Seine Darstellung beruhte erstmals auf systematischer Auswertung originaler Quellen, vor allem Urkunden und Akten. Voigts Arbeiten zur Geschichte Preußens waren bahnbrechend und gelten auch heute noch als Standardliteratur. Neuzeitliche Rezeption Die geschichtswissenschaftliche Rezeption des Deutschen Ordens befasste sich im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumeist nur mit der Präsenz des damaligen Ritterordens im Baltikum – der Deutschordensstaat wurde mit dem Orden selbst gleichgesetzt. So fanden die Eigenheiten des Ordens als Träger der Administration nur geringe Berücksichtigung. Als Ganzes blieb der im Reich fortbestehende Orden kaum beachtet. Eine Aufarbeitung seiner Geschichte und Strukturen setzte in Deutschland und international erst nach 1945 ein. Erforschung und Interpretation der Geschichte des Ordens waren dabei in Deutschland, Polen, und Russland – abhängig von den jeweiligen Regierungen/Regimes – extrem unterschiedlich, stark national oder sogar nationalistisch geprägt und oft wenig auf die reale Geschichte des Ordens bezogen. Deutsch-polnische Kontroversen Eine kontroverse Bewertung des Deutschen Ordens begann in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts mit der Wiederentdeckung und Romantisierung des Mittelalters einerseits, der Besetzung und andauernden Teilung Polens andererseits. Dies mündete ab 1850 in einen „stellvertretenden Kulturkampf“. Die Auseinandersetzung nahm ihren Anfang zwischen polnischen Intellektuellen und preußisch-deutschen Historikern. Nach 1860 brachten sich offiziell auch polnische Geschichtsgelehrte ein. Während polnische Publikationen dem Orden unter anderem einen Genozid an den Prußen und eine hemmungslose Eroberungspolitik unterstellten, stilisierten deutsche Historiker den Orden zum germanischen Kulturträger. Dieser Streit setzte sich auf deutscher Seite bis 1945, auf polnischer Seite in abgeschwächter Form bis 1989 fort. Der polnische Historiker Tomasz Torbus charakterisiert die Kontroverse so: „Das Heranziehen des Deutschen Ordens in geisteswissenschaftlichen Fächern, in der Propaganda und als Symbol in der aktuellen Politik lässt sich in Deutschland mit Unterbrechungen von der Reichsgründung bis zum Zusammenbruch des NS-Staates, in Polen bis zum Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 nachverfolgen.“ Die erste Phase der Auseinandersetzung polnischer Intellektueller mit den Besatzern fand auf literarischem Gebiet statt. Bereits 1826 veröffentlichte Adam Mickiewicz sein Versepos Konrad Wallenrod. Der Autor verwendete hier ein historisches Gleichnis, um Kritik an der restriktiven russischen Polenpolitik zu verschleiern und auf diesem Wege die russische Zensur zu umgehen. Mickiewicz verlegte den polnisch-russischen Konflikt ins Mittelalter und zeichnete ein düsteres Bild der deutschen Ordensritter anstelle der russischen Besatzer. Mitte des 19. Jahrhunderts verfasste der Lemberger Historiker Karol Szajnocha die Geschichtserzählung Jagiełło und Jadwiga, die Generationen von Lesern die polnische Sicht auf den Konflikt mit dem Deutschen Orden nahebrachte. In Krzyżacy (Kreuzritter) von Henryk Sienkiewicz schließlich, das 1874 erschien, wurden die Ordensritter durchweg dämonisiert. Wojciech Kętrzyński (eigentlich Adalbert von Winkler), Mitbegründer einer eigenständigen polnischen Geschichtswissenschaft, vertrat ab 1865 die Ansicht, dass die deutsche Herrschaft den unterworfenen Slawen nichts als „Elend und Unfreiheit“ gebracht habe. Diese Sichtweise eines „von krimineller Energie getriebenen und sich gewaltsam oder unter Ausnutzung der Naivität lokaler slawischer Herrscher nach Osten dahinwälzenden Teutonismus“ führte später zu einer Interpretation der Ordenskriege als Völkermord bzw. Ausrottung in der nationalistisch-polnischen Publizistik (wytępienie; in Polnisch aber oft auch unübersetzt gelassen). Insbesondere die Germanisierungspolitik in den preußischen Gebieten nach der Reichsgründung 1871 stieß bei der polnischen Bevölkerung auf Widerstand. Der zunehmende Nationalstolz orientierte sich auch an der Geschichte und verklärte vor allem die siegreiche Schlacht bei Tannenberg zum Mythos, was sich im großen Zulauf zu den Gedenkkundgebungen an Jahrestagen der Schlacht zeigte. Zugleich begann der Aufschwung der polnischen Historienmalerei, die die ruhmreichen Episoden der polnischen Geschichte darstellte, insbesondere die polnischen Siege über den Deutschen Orden. So stilisierte das überdimensionale Gemälde des bedeutendsten Repräsentanten dieses Genres, Jan Matejko, die Schlacht bei Tannenberg zum Triumph über den Deutschen Orden und das anmaßende Deutschtum. Historisierend ist auch der Roman Krzyżacy (dt. Titel: Die Kreuzritter) von Henryk Sienkiewicz, der in viele Sprachen übersetzt wurde und den Deutschen Orden durch das moralisch abstoßende Auftreten seiner Repräsentanten negativ beschrieb. Nach der Errichtung der Zweiten Polnischen Republik 1918 nahmen sich polnische Geschichtswissenschaftler verstärkt der Geschichte des Deutschen Ordens an. Veröffentlichungen stellten die Authentizität des Vertrages von Kruschwitz und die Legitimation der Ritter des Ordens im Baltikum in Frage. Das Vorgehen der Ordensritter bei der Missionierung der Prußen wurde unter Berufung auf den preußischen Historiker Heinrich von Treitschke als Völkermord betrachtet und die Besetzung Pommerellens 1308 mit der Okkupation angestammten polnischen Bodens gleichgesetzt. Vereinzelte, meist populärwissenschaftliche und im Rahmen der deutsch-polnischen Spannungen des 20. Jahrhunderts auftretende Versuche, das Verschwinden der Prußen unter dem neuzeitlichen Begriff des Völkermordes zu subsumieren, werden von der Forschung heutzutage meist als ahistorisch, sachlich nicht begründbar und quellenmäßig nicht belegbar zurückgewiesen. So sind genaue Zahlen über den Anteil der direkt im Kampf umgekommenen oder erst später abgewanderten Prußen, sowie die Gründe für die Aufgabe von Sprache und Identität nicht verfügbar. Auch kann keine bewusste und planmäßig durchgeführte Ausrottung seitens des Ordens konstatiert werden. Nach der fast sechsjährigen Besetzung Polens und dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte die polnische Propaganda die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland mit dem Sieg von Tannenberg gleich: „Grunwald 1410/Berlin 1945“ hieß es auf einem Plakat. In der Zeit des Kalten Krieges galt der Deutsche Orden offiziell als Symbol der Furcht vor einer Grenzrevision durch die in die NATO integrierte Bundesrepublik Deutschland. Bereits in den 1950er-Jahren verglichen die polnischen Kommunisten die vorgeblich expansionslüsternen Ordensritter mit der als revanchistisch eingestuften Bundesrepublik Deutschland. Die Anbindung der kommunistischen Volksrepublik Polen an die Sowjetunion wurde in die Tradition eines panslawischen Bündnisses gegen den so genannten deutschen Drang nach Osten gestellt und die polnisch-nationale Geschichte zur Legitimierung der eigenen Herrschaft genutzt. Der polnische Historiker Janusz A. Majcherek schreibt hierzu: Nach 1972 kam es im Rahmen der auf Entspannung abzielenden Ostpolitik Willy Brandts und seiner Nachfolger zu vermehrten Kontakten zwischen deutscher und polnischer Seite, die 1977 in einer gemeinsamen UNESCO-Schulbuchkommission mündeten. Mit den von diesem Gremium erbrachten Relativierungen in der gegenseitigen Geschichtsbewertung wurde auch von polnischer Seite zunehmend die Präsenz des Deutschen Ordens in objektiverem Kontext bewertet. Das Gedenken an den Sieg über den Orden im Jahr 1410 ist in Polen bis heute lebendig. So wurde seitens der polnischen Boulevardpresse wiederholt versucht, mit knappen Anspielungen an die Schlacht bei Grunwald unterschwellige antideutsche Ressentiments zu bedienen. Während der Fußball-Europameisterschaft 2008 vor einem Vorrundenspiel zwischen der deutschen und polnischen Nationalmannschaft stellte die polnische Boulevardzeitung Fakt, die zur deutschen Springer-Verlagsgruppe gehört, den besiegten Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft Michael Ballack im Ordensmantel und Pickelhaube dar. Solch provokative Methoden der Geschichtsdarstellung gehören im heutigen Polen zur Ausnahme. Jedes Jahr findet am Samstag um das historische Datum der Schlacht bei Tannenberg im Juli des Jahres 1410 auf dem historischen Schlachtfeld eine Reenactmentveranstaltung zum Gedenken an die damaligen Ereignisse statt. Dabei sind auch deutsche Gruppen vertreten, die dieses Ereignis zur Völkerverständigung und zum freundschaftlichen Austausch mit den polnischen und litauischen ehemaligen „Feinden“ nutzen. Im Jahr 2010 war im Rahmen der 600-Jahr-Feier der Schlacht auch Hochmeister Bruno Platter anwesend, der eine Rede hielt und einen Kranz niederlegte. Der russische Blick In Russland geschah die Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte unter besonderen Vorzeichen. Ausgangspunkt war hierbei die direkte Konfrontation mit den Ordensrittern im nördlichen Baltikum, die 1242 in der Schlacht auf dem Peipussee gipfelte. Schon im Mittelalter stilisierten russische Chroniken dieses – in der Einschätzung moderner Historiker – größere Scharmützel zur Entscheidungsschlacht zwischen römisch-katholischer Kirche und russischer Orthodoxie. Durch diese Deutung der Geschichte konnten auch die Niederlagen der russischen Fürstentümer gegen die Mongolen der Goldenen Horde kaschiert werden. Allerdings war der erbitterte Widerstand der Russen gegen die Deutschen im Vergleich zu den Mongolen dadurch zu erklären, dass die Mongolen die russische Lebensweise und die Glaubensfragen nicht antasteten und lediglich Tributzahlungen forderten. Der Deutsche Orden war dagegen ideologisch-religiös zur Bekehrung oder Vernichtung der orthodoxen „Häretiker“ motiviert und wurde dabei vom Papsttum unterstützt. Eine nicht geringere Bedeutung als die Schlacht auf dem Peipussee hatte der russische Sieg bei Wesenberg im Jahr 1268. Auch die Schlacht bei Tannenberg 1410 fand bei russischen Chronisten Beachtung, da hier weißrussische Regimenter beteiligt waren. Diesen Truppenteilen wurde von der russischen Geschichtsschreibung stets schlachtentscheidende Bedeutung zugemessen. In den 1930er-Jahren gewann die Rezeption infolge der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschen Reich eine neue Dimension. Der Deutsche Orden wurde als rücksichtsloser Aggressor auf russischem Terrain und als früher Vorläufer des Nationalsozialismus betrachtet. Bekanntes Beispiel für eine künstlerische Verarbeitung dieser Deutung ist der Film Alexander Newski des Regisseurs Sergej Eisenstein, der im Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 zur antideutschen Propaganda diente. Bis zum Ende der Sowjetunion blieb die Sicht auf den Deutschen Orden von dieser Geschichtsauffassung geprägt. Auch heute beharren nationalrussische Kreise auf der Deutung, der Orden sei ein aggressives Instrument der römisch-katholischen Kirche sowie der deutschen Feudalherren zur Eroberung russischen Bodens und der Vernichtung der russisch-orthodoxen Kirche gewesen. Rezeptionen in Österreich Unter Kaiser Leopold I. wurde im Jahr 1696 durch die Benennung eines Regiments der kaiserlich-habsburgischen Streitkräfte ein Bezug auf die Traditionen des Deutschen Ordens gepflegt, der später unter anderem durch das K.u.k. Infanterie-Regiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 fortgesetzt wurde. Im heutigen Bundesheer führt das Jägerbataillon Wien 1, das den Beinamen Hoch- und Deutschmeister trägt, diese historische Linie fort. Preußische und deutsche Perspektiven Der Deutsche Orden wurde im protestantischen Preußen nicht zuletzt aufgrund des Dreizehnjährigen Krieges mit den preußischen Ständen in der Mitte des 15. Jahrhunderts distanziert bis negativ betrachtet. Nationale Vereinnahmung nach 1815 Erst infolge der napoleonischen Kriege setzte unter maßgeblicher Beteiligung des Historikers Heinrich von Treitschke ein Umschwung ein. Der Orden verkörperte fortan die „deutsche Mission im Osten“ und übernahm in der Geschichtsschreibung die Rolle eines „Kulturträgers gegen das Slawentum“. Den Ordensstaat interpretierte Treitschke als „festen Hafendamm, verwegen hinausgebaut vom deutschen Ufer in die wilde See der östlichen Völker“ und die Niederlage des Ordens bei Tannenberg gleichzeitig als Niederlage des Abendlandes gegen den „barbarischen“ Osten. Der Orden selbst verkörperte „Züge des deutschen Wesen, die aggressive Kraft und die herrische gemüthlose Härte“. Unter dem Eindruck der identitätsstiftenden Bewertung der Schlacht bei Tannenberg von 1410 auf polnischer Seite wurde Ende des 19. Jahrhunderts dazu übergegangen, den polnischen Gedenkfeiern eine „deutsche Komponente“ entgegenzusetzen. Folge war eine Glorifizierung des Ordens als „Kolonisator des deutschen Ostens“ durch nationalistische Kreise im wilhelminischen Preußen. Diese Sicht spiegelt sich in den Romanen Heinrich von Plauen sowie Der Bürgermeister von Thorn von Ernst Wichert wider. Der Historiker Adolf Koch behauptete 1894: „Die Könige Preußens erheben sich auf den Schultern der Hochmeister des Deutschen Ordens.“ Weimarer Republik Aufgrund der territorialen Abtretungen vor allem in Westpreußen an den neugeschaffenen polnischen Staat entwickelte sich eine überparteilich getragene Propaganda, welche an die Deutschordenstradition dieser Gebiete anknüpfte. Die nunmehr vom Reich isolierte Lage Ostpreußens ließ Assoziationen zum Deutschordensstaat als „deutschem Bollwerk in der slawischen Flut“ erwachsen und Parallelen zur außenpolitischen Lage des Ordensstaates im Jahre 1466 ziehen. Bei der Volksabstimmung in Ostpreußen im Abstimmungsbezirk Allenstein am 11. Juli 1920 wurde aufgrund von Grenzstreitigkeiten mit Polen über die nationale Zugehörigkeit des südlichen Ostpreußens abgestimmt. Im Rahmen dieser Abstimmungen wurde von deutscher Seite intensiv an die „Ostlandtradition“ des Deutschen Ordens erinnert. Ganze Straßenzüge wurden mit Ordenskreuzen auf Wimpeln und Fahnen geschmückt. In der Weimarer Republik bedienten sich etliche Freikorps im Osten des Ordenssymbols in ihren Abzeichen. Beispiele hierfür sind der Grenzschutz Ost oder die Baltische Landeswehr. Der neben dem Stahlhelm bedeutendste nationale Verband – der Jungdeutsche Orden – lehnte sich in Benennung, Organisationsform, und bei Amtsträgerbezeichnungen unmittelbar an das Vorbild des Deutschen Ordens an. Zeit des Nationalsozialismus In der Zeit des Nationalsozialismus war die Einstellung zum Deutschen Orden und seiner Vergangenheit auch innerhalb der Führung zwiespältig. Das allgemeine Bewusstsein, insbesondere Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg pflegten das aus preußisch-deutscher Sicht positiv besetzte Bild des Ordens aus dem 19. Jahrhundert. Adolf Hitler verherrlichte schon 1924 in seinem Buch Mein Kampf die Deutsche Ostsiedlung und entwickelte weitreichende Pläne zu Eroberungen „auf der Straße der einstigen Ordensritter“. Anlässlich der Beisetzung des 1934 verstorbenen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg im Tannenberg-Denkmal wurde der Verstorbene als kaiserlicher Feldherr in der Zweiten Schlacht bei Tannenberg 1914 geehrt, die schon im Ersten Weltkrieg zur Revanche für die Niederlage von 1410 erklärt wurde. Dagegen hatte Himmler im Rahmen seiner Rassentheorien andere Vorstellungen. Er wollte einen eigenen „Deutschen Orden“ als Genspender eines neuen deutschen Weltreiches gründen, wozu auch die neu geschaffenen Ordensburgen dienten. Deshalb musste der rechtmäßige sakrale Namensträger verschwinden. Im Jahr 1938 wurde der Orden dann durch ein Aufhebungsdekret aufgelöst. Im Reich gelang es dem Propagandaapparat von Joseph Goebbels, die bisherige Bewusstseinstradition zu verdrängen und Platz für einen neuen Ordensgedanken zu schaffen. In Ostpreußen, dem ehemaligen Kernland des Ordensstaates, war diese Propaganda wenig erfolgreich. So verband beispielsweise der Reichsarbeitsdienst in seinem Abzeichen für den Gau 25 Hakenkreuz und Ordenskreuz. Während des Zweiten Weltkrieges trug dieser Bestrebungen ungeachtet eine Panzer-Abteilung der SS-Panzergrenadier-Division „Nordland“ den Namen des Hochmeisters Hermann von Salza. Nach 1945 Nach 1945 nahm die Rückschau auf den Ordensstaat in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Verlustes der Ostgebiete ab. Eine Glorifizierung des Deutschen Ordens fand im Gegensatz zu den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr statt. Das Thema war gesellschaftlich eher tabuisiert. Eine Ausnahme machten revanchistische Verbände. Die Verbindungen zwischen den Vertriebenenverbänden und den historischen Kommissionen – wie z. B. dem Herder-Rat – waren von Anfang an wenig ausgeprägt. Allerdings überwog in der Ostforschung bis in die frühen 1960er-Jahre die Anzahl der Forscher, welche programmatisch den traditionellen Nationalismus und „historischen Abwehrkampf im Osten“ – von völkischen Entgleisungen gereinigt und europäisch eingefärbt – fortgeführt sehen wollten. Dies änderte sich in den frühen 1960er-Jahren, bedingt auch durch einen Generationswechsel bei den Forschern. 1985 wurde in Wien die „Internationale Historische Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens“ gegründet, die den Orden unter ideengeschichtlichen, regionalen und europäischen Fragestellungen untersucht. In der DDR blieb das Bild des Ordens als „Hort der Aggression sowie Revision“. Ein Militärlexikon von 1985 gibt die offizielle Lesart wieder: „… Der blutbefleckte Orden existierte weiter und wurde schließlich im 20. Jahrhundert zu einer vorwiegend karitativ tätigen kirchlichen Organisation umgewandelt. Gegenwärtig spielt er in Österreich und der BRD eine Rolle als klerikal–militaristischer Traditionsverband.“ Am 4. September 1991 gab die Bundesrepublik Deutschland anlässlich des Jubiläums eine Gedenkmünze „800 Jahre Deutscher Orden“ im Nennwert von 10 Deutschen Mark aus. Auch Briefmarken mit Motiven des Deutschen Ordens sind erschienen. Ebenfalls anlässlich des Jubiläums wurde 1990 eine Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg in Zusammenarbeit mit der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens unter dem Titel: 800 Jahre Deutscher Orden eröffnet. Über die Farben Preußens fanden die Farben des Deutschen Ordens Eingang in die Trikotfarben der deutschen Fußballnationalmannschaft. Verwendung des Ordenswappens Das vom Deutschen Orden im Wappen geführte Schwarze Kreuz auf weißem Grund fand in späterer Zeit von den preußischen und kaiserlichen Streitkräften als Hoheitsabzeichen und militärische Auszeichnung Verwendung. Während von der deutschen Wehrmacht das Kreuz in Form von einfach weiß umrahmten Balken genutzt wurde, benutzt die Bundeswehr bis heute das traditionelle Symbol in abgewandelter Weise, als stilisiertes weiß umrahmtes Tatzenkreuz. Das Ordenswappen wird beispielsweise auch als Geschwaderwappen des 7. Schnellbootgeschwaders der Deutschen Marine verwendet. Die deutschen Marineoffiziere werden weiterhin an der Marineschule Mürwik ausgebildet, deren ab 1907 errichteter Bau in Flensburg-Mürwik der Marienburg nachempfunden ist. Das Schulwappen zeigt den roten Burgbau mit dem schwarzen Kreuz auf weißem Grund im Hintergrund. Siehe auch Liste der Hochmeister des Deutschen Ordens Großkomtur des Deutschen Ordens (mit Liste) Ordensmarschall des Deutschen Ordens (mit Liste) Liste der Deutschmeister Liste der Landmeister in Livland Liste der Landmeister von Preußen Liste von Mitgliedern des Deutschen Ordens Liste von Bischöfen des Deutschen Ordens Liste der Balleien des Deutschen Ordens Liste der Kommenden des Deutschen Ordens Liste von Pfarreien des Deutschen Ordens Literatur Zeitgenössische Chroniken Peter von Dusburg: Chronicon Terrae Prussiae, (um 1326). Nikolaus von Jeroschin: Di Kronike von Pruzinlant, (Übertragung des Chronicon Terrae Prussae ins Niederdeutsche mit Ergänzungen, um 1340). Hermann von Wartenberg: Chronicon Livoniae, (um 1378). Peter Suchenwirt: Von Herzog Albrechts Ritterschaft, um 1377, umbenannt 1395 nach dem Tod des Herzogs zu: Vom Zuge Herzog Albrechts -selig-. Wigand von Marburg: Chronica nova Prutenica, (in Fragmenten überliefert, um 1400). Johann von Posilge: Chronik des Landes Preußen, um 1420. Matthaeus Waissel: Chronica Alter Preusscher / Eifflendischer / vnd Curlendischer Historien. Von dem Lande Preussen / vnd seiner Gelegenheit: … Item: Von dem Anfang des Ordens der Ritterbrueder des Hispitals S. Marien / Deudtsches Hauses zu Jerusalem: vnd / Wie dieselben erstmals in Preussen gekomen sind: … – Aus alten geschriebenen Historien / ordendlich verfasset / vnd menniglich zu nutz in den Druck gegeben, (Beschreibung der einzelnen Hochmeister), Gedruckt zu Königsberg in Preussen / bey Georgen Osterbergern / Anno: 1599. () Wigand von Marburg: Nowa kronika pruska, hrsg. von Sławomir Zonenberg und Krzysztof Kwiatkowski, Toruń 2019. ISBN 978-83-65127-28-0. Übersicht zur Chronistik des Orden bei Marcus Wüst: Studien zum Selbstverständnis des Deutschen Ordens im Mittelalter. (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens Bd. 73) Weimar 2013, ISBN 978-3-89739-771-2. Pascal Paul Schneller: 800 Jahre Deutscher Orden an Ober-, Hochrhein und in der Schweiz, 2021 Quelleneditionen Theodor Hirsch, Max Toeppen, Ernst Strehlke: Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergang der Ordensherrschaft. Band 1–5. Hirzel, Leipzig 1861–1874. Eduard Gaston von Pettenegg: Die Urkunden des Deutsch-Ordens-Centralchives zu Wien. In Regestenform herausgegeben. Band 1 (1170–1809), Prag/Leipzig 1887 (Google Books). Klaus Scholz, Dieter Wojtecki: Peter von Dusburg. Chronik des Preußenlandes. Übersetzung und Erläuterung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1984, ISBN 3-534-00604-6 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. 25). Ēvalds Mugurēvičs: Vartberges Hermaņa Livonijas Hronika. = Hermanni de Wartberge Chronicon Livoniae. = Die Livländische Chronik Hermanns von Wartberge. Latvijas Vēstures Institūta Apgāds, Rīga 2005, ISBN 9984-601-44-7, kommentierte Übersetzung von Chronicon Livoniae. 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Weblinks zum heutigen Deutschen Orden: Website des Deutschen Ordens in Deutschland Website des Deutschen Ordens in Österreich Website des Deutschen Ordens in Südtirol/Tirol Website des Deutschen Ordens in Tschechien Weblinks zur Rezeption: Deutschordensmuseum im ehemaligen Residenzschloss der Hoch- und Deutschmeister in Bad Mergentheim Aktuelle Bilder der Burgen und Städte im ehemaligen Ordensland (Ostpreußen, Westpreußen, Danzig & Memelland) (private Seite) 196 Burgen im Deutschordensland Preußen und Livland sowie im Burzenland mit aktuellen Bildern (2007–2010) (private Seite) Abhandlung zur Geschichte des Deutschen Ordens und seine Niederlassungen in Franken (private Seite) Darstellung und Nachbau der Kleidung und Rüstung eines Deutschordensritters um 1250 und Bilder verschiedener Burgen (private Seite) Einzelnachweise und Anmerkungen Geistlicher Ritterorden Krankenpflegeorden Regularkanoniker Preußischer Ritterorden Deutsche Geschichte (Heiliges Römisches Reich) Preußische Geschichte Belarussische Geschichte Geschichte Litauens im Mittelalter Lettische Geschichte Christentum in Lettland Estnische Geschichte Körperschaft des öffentlichen Rechts Organisation (Hanse) Gegründet in den 1190er Jahren Militärgeschichte (12. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Eratosthenes
Eratosthenes
Eratosthenes von Kyrene ( Eratosthénēs; * zwischen 276 und 273 v. Chr. in Kyrene; † um 194 v. Chr. in Alexandria) war ein außergewöhnlich vielseitiger griechischer Gelehrter in der Blütezeit der hellenistischen Wissenschaften. Er betätigte sich als Mathematiker, Geograph, Astronom, Historiker, Philologe, Philosoph und Dichter. Im Auftrag der ägyptischen Könige aus der Dynastie der Ptolemäer leitete er rund ein halbes Jahrhundert lang die Bibliothek von Alexandria, die bedeutendste Bibliothek der Antike. Mit ihrer hervorragenden Ausstattung bot ihm die Bibliothek ausgezeichnete Arbeitsbedingungen. Berühmt ist er vor allem als Begründer der wissenschaftlichen Geographie. Seine auf sorgfältigen Messungen beruhende Bestimmung des Erdumfangs gehört zu den bekanntesten wissenschaftlichen Leistungen des Altertums. Neben der Forschungstätigkeit gehörte das Sammeln und Ordnen von bereits vorhandenem Wissensstoff zu seinen Hauptanliegen. Von seinen zahlreichen verlorenen Werken ist nur ein winziger Bruchteil aus Zitaten und Berichten späterer Autoren bekannt, was eine Würdigung seines Lebenswerks sehr erschwert. Als erster antiker Gelehrter bezeichnete sich Eratosthenes als „Philologe“. Unter Philologie verstand er nicht nur Beschäftigung mit Sprach- und Literaturwissenschaft, sondern in einem allgemeineren Sinne eine vielseitige Gelehrsamkeit. Kennzeichnend für seine unbefangene Haltung gegenüber eingewurzelten Überzeugungen ist seine Kritik an den Dichtern, die auch eine höchstrangige Autorität wie Homer nicht verschonte. Den Schilderungen der Dichter billigte er keinen Wahrheitsgehalt zu, da ihr Ziel nur Unterhaltung und nicht Belehrung sei. Leben Eratosthenes stammte aus der Stadt Kyrene im heutigen Libyen. Seine Geburt lässt sich auf den Zeitraum zwischen 276 und 273 v. Chr. eingrenzen. Zum Studium ging er nach Athen. Seine Lehrer waren der Grammatiker Lysanias von Kyrene, der stoische Philosoph Ariston von Chios und der Platoniker Arkesilaos. Ariston, der sich nur für Ethik interessierte und naturwissenschaftliche Studien für unwichtig hielt, scheint Eratosthenes nicht nachhaltig beeinflusst zu haben. Weit stärker waren offenbar die Eindrücke, die Eratosthenes von den Denkern der Platonischen Akademie empfing, denn seine späteren Äußerungen zu philosophischen Themen erweisen ihn als Platoniker. Ein reguläres Mitglied der Akademie scheint er aber nicht gewesen zu sein. Außerdem wird in der antiken Überlieferung auch der berühmte Gelehrte Kallimachos von Kyrene als Lehrer des Eratosthenes genannt, doch ist diese Angabe kaum glaubwürdig. Weitere Philosophen, die Eratosthenes beeindruckten, waren Arkesilaos' Schüler Apelles von Chios und der Kyniker Bion von Borysthenes. Eine unklare und umstrittene, chronologisch problematische Bemerkung Strabons über eine Beziehung des Eratosthenes zu dem Stoiker Zenon von Kition muss nicht im Sinne eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses gedeutet werden. Aus Athen holte der ägyptische König Ptolemaios III. Euergetes bald nach seinem Regierungsantritt, wahrscheinlich um 245, den erst etwa dreißigjährigen Eratosthenes in seine Residenzstadt Alexandria. Offenbar genoss der junge Gelehrte schon damals einen ausgezeichneten Ruf, wobei seine dichterischen und mathematisch-philosophischen Leistungen im Vordergrund standen; seine geographischen, philologischen und historischen Arbeiten entstanden erst später. Der König ernannte ihn zum Leiter der Bibliothek von Alexandria, nachdem sein Vorgänger in diesem Amt, Apollonios von Rhodos, wegen Meinungsverschiedenheiten mit Ptolemaios III. zurückgetreten war. Ab etwa der Mitte der dreißiger Jahre unterrichtete Eratosthenes den Sohn und künftigen Nachfolger des Königs, Ptolemaios IV. Philopator, der im Jahr 222 den Thron bestieg. Über das spätere Leben des Eratosthenes fehlt es an zuverlässigen Nachrichten. Die Leitung der Bibliothek behielt er bis zu seinem Lebensende. Über seinen Tod liegen unterschiedliche Angaben vor. Die Suda, eine byzantinische Enzyklopädie, berichtet, er habe wegen Erblindung seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, indem er die Nahrungsaufnahme verweigerte. Ein solcher Tod galt damals als eines Philosophen würdig. Der Dichter Dionysios von Kyzikos hingegen, der kurz nach dem Tod des Eratosthenes ein Gedicht auf den Verstorbenen – wohl als Grabinschrift (Epitaph) – verfasste, schrieb: „Ganz mildes Greisenalter löschte dich aus, nicht schwächende Krankheit“. Dionysios ging also von Altersschwäche des rund Achtzigjährigen als Todesursache aus; vielleicht wollte er dem Gerücht entgegentreten, es habe sich um einen Freitod gehandelt. Eratosthenes wurde in Alexandria bestattet. Trotz seines Ruhmes und seiner außerordentlichen Gelehrsamkeit wurde Eratosthenes nicht zum Gründer einer eigenen Schulrichtung. Von den vier Personen, die in der Suda als seine Schüler genannt werden, sind drei nicht sicher identifizierbar, waren also kaum bedeutende Wissenschaftler. Der vierte ist der prominente Grammatiker Aristophanes von Byzanz, der als Nachfolger des Eratosthenes die Leitung der Bibliothek von Alexandria übernahm. Werke und Leistungen Eratosthenes verfasste zahlreiche Werke, von denen aber nur Fragmente erhalten geblieben sind. Seine Ansichten und Leistungen sind daher nur aus diesen Bruchstücken und sonstigen Angaben in der antiken Literatur bekannt. In seiner geistigen Entwicklung lassen sich grob drei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase setzte er sich intensiv mit Philosophie (vor allem dem Platonismus) auseinander, in der zweiten trat die Naturwissenschaft in den Vordergrund, in der dritten verschob sich sein Interessenschwerpunkt zur Philologie. Konstanten seines Wirkens waren die Beschäftigung mit fachwissenschaftlichen Problemen und die besondere Beachtung kulturgeschichtlicher Aspekte seiner Forschungsgebiete. Astronomie Schriften Drei astronomische Schriften des Eratosthenes sind bekannt, aber nur fragmentarisch erhalten: Das Sternbuch, das in der Suda mit dem Titel Astronomie oder Katasterismen angeführt wird. Der ursprüngliche Titel lautete vermutlich Über die Ordnung der Sterne und den Ursprung der Himmelszeichen. Das Sternbuch enthielt einen Sternenkatalog mit Helligkeitsangaben für einzelne Sterne. Es diente aber nicht nur einem astronomischen, sondern auch einem mythographischen Zweck, denn es umfasste auch eine Sammlung von Sagen, die sich auf einzelne Gestirne und Sternbilder beziehen. Von diesem Werk, das nicht erhalten ist, wurde im 2. Jahrhundert n. Chr. eine bearbeitete Fassung angefertigt, die Katasterismen, die dann unter dem Namen des Eratosthenes Verbreitung fand. Diese Neufassung ist ebenfalls nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten, lässt sich aber aus einem erhaltenen Auszug (Epitome) sowie Angaben bei Hygin und in Scholien zu Aratos von Soloi und Germanicus rekonstruieren. Die Katasterismen behandelten – ebenso wie schon das Originalwerk – Mythen über 44 Sternbilder und Himmelskörper, wobei die fünf damals bekannten Planeten und die Milchstraße als je ein Sternbild gezählt wurden. Die Schrift Über die Vermessung der Erde, die eine Reihe von astronomischen und geographischen Themen behandelte. Dazu gehörten die Bestimmung des Erdumfangs und die Messung der Schiefe der Ekliptik, die Größe von Mond und Sonne und ihre Entfernung von der Erde, die Unterschiede der Tageslängen in Abhängigkeit von der geographischen Breite und der Jahreszeit, die Abstände der Wendekreise und Polarkreise sowie Fragen der totalen und partiellen Sonnen- und Mondfinsternisse. Ein weiteres Thema waren die Winde; Eratosthenes soll eine Windrose eingeführt haben. Eine angeblich antike Schrift, in der ihm die Erfindung einer gleichgeteilten achtstrichigen Windrose zugeschrieben wird, ist eine Fälschung aus der Zeit der Renaissance. Bei dem spätantiken Autor Oreibasios finden sich aber Angaben, die möglicherweise auf eine authentische Windrose des Eratosthenes hindeuten. Über den achtjährigen Zyklus, eine Untersuchung über die Kalenderrechnung, wobei es um die Bestimmung des Verhältnisses von Sonnen- und Mondjahr und um ein spezielles Problem des Sonnenjahrs ging. Man hatte herausgefunden, dass ein Zyklus von acht Kalenderjahren (Oktaeteris), nämlich fünf normalen Jahren zu zwölf Monaten und drei Schaltjahren zu dreizehn Monaten, etwa acht Sonnenjahren entsprach, so dass nach acht Jahren Sonne und Mond wieder ungefähr dieselben Positionen hinsichtlich der Äquinoktien und Solstitien einnahmen. Diese ungenaue Kalenderrechnung – der Fehler betrug anderthalb Tage pro Zyklus – war das allgemeine Thema der Untersuchung. Den Ausgangspunkt für die speziellen Erörterungen des Eratosthenes bildete das Problem, dass ein Fest der Göttin Isis wegen des Fehlens von Schalttagen alle vier Jahre um einen Tag zurückfiel und so im Lauf der Jahrhunderte rückwärts durch das Jahr wanderte. Vermutlich schlug Eratosthenes vor, das Problem durch Einfügung eines Schalttags zu beheben. Im Jahr 238 v. Chr. ordnete Ptolemaios III. eine Kalenderreform an, mit der alle vier Jahre ein Schalttag eingefügt wurde. Die Vermutung, dass dies auf Empfehlung des Eratosthenes geschah, ist naheliegend. Die Reform, die das Prinzip des Julianischen Kalenders vorwegnahm, setzte sich allerdings nicht dauerhaft durch. Bestimmung des Erdumfangs Die Griechen gingen schon lange vor Eratosthenes von einer Kugelgestalt der Erde aus. Bereits Aristoteles befasste sich mit der Frage ihres Umfangs. Er berief sich auf nicht namentlich genannte „Mathematiker“, die einen Umfang von 400.000 Stadien ermittelt hatten, eine wohl eher geschätzte als berechnete Zahl. Die genaue Länge des von den „Mathematikern“ verwendeten Längenmaßes Stadion ist unklar, daher werden bei der Umrechnung in Kilometer unterschiedliche Zahlen genannt. Wenige Jahrzehnte später (nach 309 v. Chr.) ermittelte ein Forscher – möglicherweise war es Dikaiarchos – einen Umfang von 300.000 Stadien. Eratosthenes ist der einzige Gelehrte der Antike, für den eine wissenschaftlich fundierte Messung bezeugt ist. Die Voraussetzungen dafür waren ausgezeichnet: Er verfügte über vorzügliche Kenntnisse sowohl auf mathematischem als auch auf geographischem Gebiet, hatte in der Bibliothek Zugang zur bereits vorhandenen einschlägigen Literatur und konnte sich bei der Durchführung der aufwändigen Messungen auf die Unterstützung des Königs verlassen. Das Ergebnis betrug 250.000 Stadien; später änderte er es auf 252.000. Das Verfahren des Eratosthenes ist in einer zusammenfassenden und vereinfachenden Beschreibung des kaiserzeitlichen Astronomen Kleomedes überliefert. Es bestand, wenn man dieser Darstellung folgt, aus folgenden Schritten: Er nahm an, dass die ägyptischen Städte Alexandria (an der Mittelmeerküste) und Syene (das heutige Assuan, die südlichste Stadt des Landes) auf demselben Meridian (Längengrad) liegen. Der Abstand zwischen zwei von Eratosthenes festgelegten Messpunkten in den beiden Städten betrug nach seiner Kenntnis 5000 Stadien. Da Alexandria erst im 4. Jahrhundert gegründet worden war, konnte er sich für die Distanz nicht auf Angaben in der altägyptischen Literatur verlassen, sondern ließ wahrscheinlich den Abstand seiner beiden Messpunkte von königlichen Schrittzählern genau ausmessen. An beiden Orten stellte er ein Gnomon auf, eine innen mit einer Gradeinteilung ausgestattete metallene Halbkugel mit einem senkrechten Zeiger zur Ablesung des entstehenden Schattens. Die Messung der Sonnenhöhe über dem Horizont wurde mit diesen Geräten mittags am Tag der Sommersonnenwende durchgeführt. Sie ergab, dass der Schattenzeiger in Syene keinen Schatten warf, die Sonne also dort genau im Zenit stand. In Alexandria war die Sonne zu diesem Zeitpunkt den „fünfzigsten Teil“ eines Vollkreises vom Zenit entfernt, also nach der heutigen Kreiseinteilung in 360 Winkelgrade 7° 12′. Somit musste man 5000 Stadien nach Süden wandern, um ein Fünfzigstel des Erdumfangs zurückzulegen. Daraus ergab sich für den Erdumfang ein Wert von 50 × 5000 = 250.000 Stadien. Eine erhebliche Ungenauigkeit resultiert aus dem Umstand, dass Alexandria und Syene in Wirklichkeit nicht auf demselben Meridian liegen; Syene befindet sich etwa 3° östlich von Alexandria. Da für die Distanz zwischen den beiden Städten ein Wert von 5000 Stadien gemessen wurde, hätte sich für einen genau auf dem Meridianbogen von Alexandria liegenden Punkt ein Abstand von 4615 Stadien und damit für den Erdumfang ein Betrag von 50 × 4615 = 230.750 Stadien ergeben. Der Fehler dadurch ist 7,7 %. Unklar ist, wie lang das für die Messung verwendete Längenmaß „Stadion“ war. Es kann sich wohl kaum um das rund 185 Meter lange „olympische“ Stadion handeln, denn dann hätten sich die Schrittzähler bei der Bestimmung des Abstands der beiden Städte, der tatsächlich in der Luftlinie 835 km beträgt, um mehrere Tagesreisen geirrt. Daher nehmen zahlreiche Forscher an, dass das verwendete Längenmaß deutlich kürzer war. Die Vermutungen schwanken zwischen 148,8 und 180 Metern. Eine besonders oft genannte Zahl, die aus einer Angabe in der Naturalis historia Plinius’ des Älteren abgeleitet wird, ist 157,5 m. Geht man von der tatsächlichen Distanz von 835 km aus, so kommt man für das Stadion auf 835.000 m : 5000 = 167 m. Für die Genauigkeit der Bestimmung des Erdumfanges spielt die verwendete Längeneinheit allerdings keine Rolle: Nach dem Versuchskonzept und der Messung handelt es sich um das Fünfzigfache der Entfernung von Alexandria nach Assuan, nach heutigen Einheiten also um 835 km mal 50 gleich 41.750 km, was dem tatsächlichen Wert (40.075 km am Äquator, 40.008 km über die Pole) sehr nahe kommt. Der Fehler beträgt rund 4,2 %. Zwei Ungenauigkeiten in den Annahmen, die der Berechnung zugrunde liegen, fallen nicht ins Gewicht: Eratosthenes ging davon aus, dass die Strahlen, die von verschiedenen Teilen der Sonne auf verschiedene Teile der Erde treffen, parallel sind. Dies war eine wesentliche Voraussetzung für seinen Versuch, denn der Unterschied im Sonneneinfallswinkel entspricht nur dann dem Breitenunterschied der beiden Orte, wenn die Sonne so weit von der Erde entfernt ist, dass von ihr ausgehende Strahlen an verschiedenen Orten auf der Erde nahezu parallel auftreffen. Dies trifft zwar nicht genau zu, doch kann dieser Umstand vernachlässigt werden, da die Abweichung nur etwa eine Bogensekunde beträgt. Syene lag nicht, wie Eratosthenes meinte, genau auf dem nördlichen Wendekreis, auf dem die Sonne am Tag ihrer Wende den Zenit erreicht, sondern damals rund ein halbes Grad nördlich von ihm, doch beeinträchtigte dieser Unterschied das Messresultat nur geringfügig. Schiefe der Ekliptik Eratosthenes bestimmte die Schiefe der Ekliptik. Die Ekliptik ist die scheinbare, auf die gedachte Himmelskugel projizierte Kreisbahn der Sonne im Verlauf eines Jahres; ihre Schiefe ist die Neigung ihrer Ebene gegen die Ebene des Äquators. Der Wert dieses Winkels (ε) ist nicht konstant; zur Zeit des Eratosthenes betrug er 23° 43′ 40″. Schon im 5. Jahrhundert v. Chr. war Oinopides von Chios auf 24° gekommen; Eratosthenes verbesserte die Messgenauigkeit. Er ermittelte als Winkeldistanz zwischen den beiden Wendekreisen des Vollkreises (360°), also 47° 42′ 40″, woraus sich für ε durch Halbierung ein Wert von 23° 51′ 20″ ergibt. Wie er zu diesem Ergebnis kam, ist unbekannt, die dazu in der Forschung erwogenen Hypothesen sind spekulativ. Geographie Eratosthenes verfasste nur eine einzige geographische Schrift, die Geographie (Geōgraphiká) in drei Büchern. Auch diese während der gesamten Antike als Standardwerk geltende Schrift ist nur fragmentarisch erhalten. Sie war das berühmteste und einflussreichste seiner Werke, da mit ihr die wissenschaftliche Geographie begann. Vermutlich war er es, der diesen früher nicht bezeugten Begriff prägte. Geographie bedeutete für ihn wörtlich „das Zeichnen (gráphein) der Erde“, womit er über das bloße Beschreiben der Erdoberfläche hinaus auch ein kartographisches Erfassen, Messen, Einteilen und Lokalisieren meinte. Dabei baute er auf den Erkenntnissen auf, die er bereits in der Abhandlung Über die Vermessung der Erde, welche die Erdkunde unter astronomischen Gesichtspunkten behandelte, dargelegt hatte. Zunächst beschrieb er die Grundlagen der Geographie einschließlich ihrer Geschichte. In seiner Auseinandersetzung mit den Auffassungen früherer Naturforscher ließ er nur die mathematisch-physikalischen Ansätze gelten und verwarf die Behauptungen der Dichter. Den Dichtern unterstellte er, dass sie nur auf Unterhaltung und nicht auf Belehrung abzielten. Daher hielt er ihre geographischen Angaben für wertlos. Diese Kritik richtete sich besonders gegen die Autorität Homers, der sich in den geographischen Verhältnissen außerhalb Griechenlands nicht ausgekannt habe. Dann legte Eratosthenes seine eigenen Ansichten vor. Anscheinend erläuterte er die geographischen Konsequenzen aus den in seiner Abhandlung über die Erdvermessung dargelegten Erkenntnissen. Er präsentierte wohl alle bekannten Beweisführungen für die Kugelgestalt der Erde und erörterte die Verteilung von Wasser und Land auf der Erdoberfläche. Dass das Verhältnis von Wasser und Land nicht konstant ist, war ihm dank geologischer Beobachtungen klar; aus Funden versteinerter Muschelschalen folgerte er, dass die Libysche Wüste einst ein Meer war. Er teilte die schon zur Zeit der Vorsokratiker verbreitete Vorstellung, die Oikumene (der bekannte, besiedelte Teil der Erdoberfläche) sei eine riesige, vom Ozean umgebene Insel. Daraus schloss er, dass man theoretisch auf dem Seeweg von der Iberischen Halbinsel über den Atlantik nach Indien gelangen könnte, wenn die Größe des Ozeans eine solche Fahrt zuließe. Die Länge und Breite der Insel versuchte er zu ermitteln. Für die maximale Länge kam er durch Addition von bekannten oder geschätzten Streckenabschnitten auf 77.800 Stadien, für die maximale Breite auf 38.000 Stadien. Er entwarf ein Koordinatensystem mit Meridianen und Parallelkreisen, das die Basis für seine Karte der bewohnten Welt lieferte, die er im dritten Buch vorlegte und erläuterte. Seine Kenntnisse ferner Länder bezog er aus den Fahrtenberichten, die ihm vorlagen. Deren oft ungenaue oder irrige Angaben sichtete er kritisch, um sie dann, soweit sie ihm glaubwürdig und stimmig vorkamen, für sein kartographisches Vorhaben auszuwerten. Seine Stellung als Leiter der außerordentlich gut ausgestatteten Bibliothek von Alexandria – der besten der antiken Welt – verschaffte ihm die einzigartige Gelegenheit, die ganze Informationsfülle der damals vorhandenen Seefahrten- und Länderbeschreibungen zu nutzen. Er teilte die Oikumene durch das Diaphragma, eine Parallele zum Äquator, die durch die Säulen des Herakles verlief, in einen Nord- und einen Südteil. Damit gab er die herkömmliche Einteilung in drei Kontinente auf. Bei der weiteren Aufteilung unterschied er mindestens vier große Landeskomplexe, die er „Siegel“ (sphragídes, plinthía) nannte. Afrika betrachtete er als rechtwinkliges Dreieck. Über Südwesteuropa war er schlechter informiert als über den Orient, über den seit den Feldzügen Alexanders des Großen und der Diadochen relativ detaillierte Informationen vorlagen. Für den Nordwesten stützte er sich auf den Reisebericht des Pytheas, was ihm von antiken Kritikern verübelt wurde, denn Pytheas galt als wenig glaubwürdig. Als Ursache für den Mangel an zuverlässigen Berichten über den Westen bezeichnete er die Fremdenfeindlichkeit der Karthager. Unzulänglich waren seine Kenntnisse über den Norden und Nordosten; das Kaspische Meer hielt er für einen Meerbusen des nördlichen Weltozeans. Seine Erdbeschreibung beschränkte er nicht auf topographische Fakten, sondern bezog Kultur- und Wirtschaftsgeographie sowie historische und politische Gegebenheiten mit ein. Mathematik, Musiktheorie und Metaphysik Der Philosoph und Mathematiker Theon von Smyrna zitiert zwei Stellen aus einem Werk des Eratosthenes mit dem Titel Platōnikós, das nicht erhalten ist. Zu welcher Literaturgattung der Platonikos gehörte, ist umstritten. Einige Forscher haben an einen Kommentar zu Platons Dialog Timaios gedacht, doch scheint sich Eratosthenes nicht auf eine Besprechung nur eines einzelnen Werkes Platons beschränkt zu haben. Oft wurde angenommen, es habe sich um einen Dialog gehandelt, in dem Platon als Hauptunterredner auftrat, doch müsste die Schrift dann nach antiker Gepflogenheit Platon und nicht Platonikos heißen. Wahrscheinlich ist Platonikos im Sinne von Platonikos logos (Schrift über Platon) zu verstehen. Es war wohl ein Handbuch, das einem breiteren Publikum den Zugang zu Platons Werken durch Klärung von Begriffen und Erläuterung schwieriger Passagen erleichtern sollte. Behandelt wurden in erster Linie mathematische Fragen; zu den erörterten Begriffen gehörten Abstand, Verhältnis, kontinuierliche und diskontinuierliche Proportion, mathematisches Mittel, Primzahl und Punkt. Im Mittelpunkt stand die Proportionenlehre, in der Eratosthenes den Schlüssel zur platonischen Philosophie sah. Mathematische Erkenntnis bedeutete für ihn zugleich philosophische. Das Hilfsmittel der Verhältnisgleichung („a verhält sich zu b wie c zu d“), die er „Analogie“ nannte, sollte auch zu außermathematischem Erkenntnisgewinn verhelfen. Er erstrebte generell Problemlösungen durch das Aufsuchen von Analogien im Sinne von Verhältnisgleichungen. In der Proportion meinte er das verbindende Band der „mathematischen“ Wissenschaften (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musiktheorie) gefunden zu haben, da alle Aussagen dieser Wissenschaften letztlich auf Aussagen über Proportionen zurückführbar seien. So wie die Eins der Ausgangspunkt (archḗ) und das Urelement (stoicheíon) der Zahlen und damit der Quantität ist und wie der Punkt das nicht auflösbare, nicht zurückführbare Element der Länge ist, ist für Eratosthenes die Gleichheit (als Urverhältnis 1 : 1) das Element und der Ursprung aller Verhältnisse und Proportionen. Die Zahlen entstehen durch Addition und die verschiedenen Verhältnisse durch Vergrößerung der Glieder des Ausgangsverhältnisses; die Linie hingegen kann nicht als Zusammenfügung einzelner Punkte hervorgebracht werden, da der einzelne Punkt keine Ausdehnung hat, sondern sie entsteht durch eine kontinuierliche Bewegung eines Punktes. Diese Auffassung wurde später von dem Skeptiker Sextus Empiricus kritisiert. Für das mit Zirkel und Lineal unlösbare Problem der Würfelverdoppelung, das „Delische Problem“, schlug Eratosthenes eine mathematische Näherungslösung vor. Für die Primzahlforschung verwendete er einen Algorithmus, der es gestattet, aus der Menge aller ungeraden natürlichen Zahlen, die kleiner als eine vorgegebene Zahl oder ihr gleich sind, alle Primzahlen auszusondern. Diese Methode ist unter dem Namen Sieb des Eratosthenes bekannt. Er hat sie aber nicht – wie man früher glaubte – erfunden; sie war vielmehr bereits bekannt, von ihm stammt nur die Bezeichnung „Sieb“. Ein Nebenthema des Platonikos war die Musiktheorie, in der Eratosthenes die Proportionenlehre auf die Musik übertrug. Das gelang ihm so überzeugend, dass er in der Antike zu den bedeutendsten Autoritäten auf musikalischem Gebiet gezählt wurde. Der Gelehrte Ptolemaios überliefert die Berechnungen des Eratosthenes für das Tetrachord, die zeigen, dass er sich der „pythagoreischen“ Einstimmung bediente, die er verfeinerte. Eratosthenes kannte und berücksichtigte auch das System des Musiktheoretikers Aristoxenos. Wie er bei seinen Berechnungen vorging, teilt Ptolemaios allerdings nicht mit. Ferner ging Eratosthenes im Platonikos auch auf Metaphysisches wie die Seelenlehre ein. Dabei vertrat er ebenso wie der Platoniker Krantor, von dem er wohl beeinflusst war, die Auffassung, die Seele könne nicht rein immateriell sein, sondern müsse auch etwas Körperhaftes an sich haben, denn sie halte sich ja in der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Dinge auf; außerdem sei sie stets in einem Körper. Dem liegt die Überlegung zugrunde, die Seele könne sinnlich wahrnehmbare Objekte nur erfassen, wenn sie eine entsprechende Disposition in ihrer eigenen Struktur aufweist. Demnach sei sie eine Mischung aus zwei Bestandteilen, einem unkörperlichen und einem körperhaften. Der spätantike Mathematiker Pappos erwähnt eine mathematische Schrift des Eratosthenes mit dem Titel Über Mittelglieder (Peri mesotḗtōn). Da dieses Werk sonst nirgends in antiken Quellen genannt ist, ist zu vermuten, dass es mit dem Platonikos identisch ist. 1981 wurde eine mittelalterliche arabische Übersetzung eines Textes von „Aristanes“ (Eratosthenes) über mittlere Proportionale veröffentlicht. Dabei handelt es sich aber nicht um das von Pappos erwähnte verlorene Werk Über Mittelglieder, sondern um einen auch im griechischen Originaltext erhaltenen angeblichen Brief des Eratosthenes an König Ptolemaios III. über die Würfelverdoppelung. Die Echtheit des Briefs ist umstritten. Kleinere philosophische Schriften Neben dem Platonikos verfasste Eratosthenes eine Anzahl von kleineren philosophischen Werken, teilweise in Dialogform, von denen nur die Titel und zum Teil vereinzelte Zitate überliefert sind: Arsinoë, anscheinend ein Dialog; erhalten ist nur ein einziges, von Athenaios überliefertes Fragment. Bei der titelgebenden Gestalt handelt es sich wahrscheinlich um die ägyptische Königin Arsinoë II., nicht – wie man früher glaubte – Arsinoë III. In dem Fragment äußert sich die Königin abfällig über ein ägyptisches Volksfest. Ariston, ein ebenfalls nur bei Athenaios ausdrücklich erwähnter Dialog, der wohl von der Tugendlehre des Stoikers Ariston, der Eratosthenes’ Lehrer war, handelte. In dem Dialog wird berichtet, Ariston sei ertappt worden, als er „die Mauer zwischen Lust und Tugend durchbrach und auf der Seite der Lust auftauchte“, also die philosophische Askese nicht einhielt. Über Reichtum und Armut, wohl ein Dialog, bekannt durch eine Erwähnung bei dem Doxographen Diogenes Laertios. Über Reichtum, ein mehrbändiges Werk, das Plutarch erwähnt. Über Schmerzlosigkeit, ein in der Suda erwähntes, anscheinend populäres Werk, vermutlich in Dialogform. An Baton, vermutlich ein Dialog; ein Fragment ist bei Diogenes Laertios überliefert. Über Gutes und Böses, eine Abhandlung über Ethik, aus der vier kleinere Fragmente erhalten sind. Sie enthielt biographisches Material, mit dem Aussagen über Tugend und Schlechtigkeit veranschaulicht wurden. In diesem Zusammenhang war von Todesarten prominenter Persönlichkeiten und von philosophischer Standhaftigkeit die Rede. Ein weiteres Thema war die Personalpolitik Alexanders des Großen, an der Eratosthenes lobte, dass der König tugendhafte Männer unabhängig von ihrer Herkunft geschätzt und gefördert habe, statt sich nur auf Griechen zu stützen und die „Barbaren“ als unterworfene Feinde zu behandeln. Damit kritisierte Eratosthenes die verbreitete Vorstellung eines naturgegebenen Rangunterschieds zwischen Griechen und Nichtgriechen, zu deren Vertretern Aristoteles gehörte. Über die Schulen in der Philosophie, ein nur in der Suda genanntes doxographisches, philosophiegeschichtliches Werk. Wenn die Angabe der Suda zutrifft, handelt es sich um die älteste bekannte Schrift dieser Art. Geschichtliche Werke Der Suda zufolge verfasste Eratosthenes Geschichtswerke (historíai). Nur ein namentlich bekanntes Werk lässt sich ihm möglicherweise zuordnen: die Geschichte der Galater (Galatiká). Erhalten sind nur spärliche Fragmente. Dieses Werk wird Eratosthenes gewöhnlich abgesprochen, doch ist seine Verfasserschaft nicht auszuschließen. Da die Abfassung nicht vor 205 erfolgt sein kann, müsste es sich, falls er der Autor ist, um ein Alterswerk handeln. Eratosthenes gilt als erster Chronograph und Begründer der wissenschaftlichen Chronographie (Erstellung eines zeitlichen Rahmens, in den historische Ereignisse eingeordnet werden). Sein Interesse richtete sich aber anscheinend mehr auf das Sammeln kulturhistorisch interessanter Nachrichten als auf die Bestimmung einer absoluten Chronologie. Daher ist seine Rolle auf diesem Gebiet nicht so herausragend, wie in der älteren Forschung öfters angenommen wurde. Drei einschlägige Schriften von ihm werden in den Quellen genannt: Die Könige der Thebaner, eine Liste der ägyptischen Herrscher von Theben, die er in königlichem Auftrag aus dem Ägyptischen ins Griechische übersetzt haben soll. Eine solche Liste ist erhalten, kann aber in der vorliegenden Fassung nicht von ihm stammen. Inwieweit sie Material enthält, das auf ihn zurückgeht, ist unklar. Über Chronographien, eine Abhandlung über Epochengliederung, aus der Fragmente erhalten sind. Eratosthenes setzte sich mit älteren Ansätzen auseinander. Dabei begann er mit der Eroberung Trojas, die er für ein historisches Ereignis hielt. Früheres berücksichtigte er nicht, da er der Überlieferung wegen ihres sagenhaften Charakters nicht traute. Auch hier zeigt sich seine kritische, wissenschaftliche Denkweise. Er kam zum Ergebnis, dass zwischen der Eroberung Trojas und dem Tod Alexanders des Großen 860 Jahre liegen. Diesen Zeitraum unterteilte er in zehn unterschiedlich lange „Epochen“, die er mit markanten militärischen, kulturgeschichtlichen oder politischen Ereignissen beginnen und enden ließ. Die Abstände zwischen diesen Fixpunkten berechnete er anhand von chronologischen Angaben der Geschichtsschreiber. Ein absolutes zeitliches Gerüst scheint er dabei nicht verwendet zu haben. Olympiasieger (Olympioníkai), eine aus Zitaten in späterer Literatur bekannte mehrbändige Schrift über die Sieger in den Olympischen Spielen und die Geschichte des Sports mit besonderer Berücksichtigung der Chronologie. Die Zählung der Olympiaden zum Zweck der Datierung von Ereignissen war von Timaios von Tauromenion eingeführt worden und diente schon vor der Zeit des Eratosthenes als Gerüst für die Zeitrechnung. Eratosthenes wertete die ihm vorliegende Literatur aus; inschriftliche Quellen zog er nicht heran. Sein Werk war zugleich eine Sammlung von kulturhistorischen Informationen. Dichtung Während Eratosthenes heute nur als Wissenschaftler berühmt ist, wurde er in der Antike auch als Dichter geschätzt und sogar mit dem Lyriker Archilochos verglichen. Anerkennung fand er auf diesem Gebiet wegen der Eleganz und formalen Makellosigkeit seiner Verse, angekreidet wurde ihm aber ein gewisser Mangel an Inspiration. Sechs Gedichte werden in den Quellen genannt: Erigone, eine in der Antike wegen ihrer formalen Perfektion berühmte Elegie in ionischem Dialekt, aus der nur wenige Verse erhalten sind. Geschildert wird das Schicksal der Athenerin Erigone, der Tochter des Bauern Ikarios, einer mythischen Gestalt. Ikarios erhält von dem Gott Dionysos den Auftrag, den bisher unbekannten Weinbau zu verbreiten. Dabei wird Ikarios von Bauern ermordet, die den Wein wegen seiner neuartigen berauschenden Wirkung für ein Gift halten. Aus Verzweiflung darüber erhängt sich Erigone. Ihre Hündin Maira harrt bei der Toten aus, bis sie selbst stirbt. Später werden Ikarios, Erigone und Maira von den Göttern unter die Sterne versetzt. Berühmt ist ein in Antike und Neuzeit viel erörterter Vers der Erigone, in dem von der Einführung eines Tanzes die Rede ist, der erstmals getanzt wurde, nachdem Ikarios einen Bock (griechisch trágos) getötet hatte, der in seinen Weingarten eingedrungen war. Dieser Tanz wird mit der Entstehung der Tragödie als „Bocksgesang“ in Zusammenhang gebracht. Der Vers ist fehlerhaft überliefert, sein Wortlaut und seine Interpretation ist strittig. Hermes, ein umfangreiches episches, von der Naturphilosophie Platons geprägtes Gedicht, das Taten und Erlebnisse des Götterboten Hermes schilderte und etwa 1600 Verse umfasste. Zwar sind daraus mindestens 19 Fragmente überliefert, doch ergibt sich kein klares Bild vom Aufbau und Inhalt. Das Motiv von Hermes’ Aufstieg zu den himmlischen Sphären nutzte der Dichter zur Darstellung einer kosmologischen Thematik, die ihm als Astronomen und Platoniker vertraut war: Er beschrieb die Struktur des Universums und besonders das pythagoreisch-platonische Konzept der Sphärenharmonie. Dadurch erhielt der Hermes passagenweise den Charakter eines naturwissenschaftlich ausgerichteten Lehrgedichts. Hermes, der Erfinder der Lyra, steigt zum Himmel empor, wobei er die acht Himmelssphären vom Mond bis zu den Fixsternen durchschreitet. Dabei erkennt er staunend, dass die Sphären Töne hervorbringen, die denen des von ihm geschaffenen Instruments entsprechen. Jeder der acht Sphären ist ein Ton zugeordnet, woraus sich eine Tonleiter von Oktavumfang ergibt. Die unbewegte Erde im Zentrum des Kosmos erzeugt keinen Ton. Hesiod oder Anterinys, ein rein hexametrisches Gedicht, aus dem wenige Fragmente erhalten sind. Das Thema ist ein Racheakt. Der berühmte Dichter Hesiod wird verdächtigt, eine Frau verführt zu haben, die sich nach ihrer Entehrung erhängt hat. Deren Brüder töten Hesiod, werfen seine Leiche ins Meer und flüchten. Später werden sie durch das Gebell des Hundes des Ermordeten entlarvt und hingerichtet. Es stellt sich heraus, dass Hesiod an der ihm zur Last gelegten Tat unschuldig war. Dionysos mit dem offenen Mund, ein Gedicht über den mythischen Samier Elpis, der zunächst vor einem Löwen flüchtet, dann aber dem Raubtier zu Hilfe kommt. Daraufhin teilt der dankbare Löwe seine Beute mit dem Menschen. Ein nicht erhaltenes Hochzeitslied (Epithalamion). Das „Widmungsepigramm“, das einzige vollständig erhaltene Gedicht des Eratosthenes. Es war an König Ptolemaios III. gerichtet und begleitete ein später „Mesolabos“ genanntes Gerät, das Eratosthenes für den König konstruiert hatte. Das Instrument funktionierte mechanisch nach dem Prinzip des Rechenschiebers. Es bestand aus einem rechteckigen Rahmen, der in Rillen bewegliche Plättchen enthielt. Der Mesolabos diente der mechanischen Ermittlung der zwei mittleren Proportionalen zweier gegebener Strecken und damit der Verdoppelung des Würfels auf mechanischem Weg. Philologie Neben seinem geographischen Werk fanden Eratosthenes’ philologische Arbeiten in der Antike am meisten Beachtung. Sie sind aber nur in (relativ zahlreichen) Fragmenten erhalten geblieben. Er galt als Autorität auf diesem Gebiet und war der erste antike Gelehrte, der sich selbst als „Philologe“ bezeichnete, womit aber nicht nur Philologie im modernen Sinne, sondern generell Gelehrsamkeit gemeint war. Sein umfangreiches philologisches Hauptwerk trug den Titel Über die Alte Komödie. Darin erörterte er Fragen der Textkritik, der Autorschaft einzelner Stücke, der Aufführungszeit und Aufführungspraxis und erläuterte historische Hintergründe. In erster Linie befasste er sich mit sprachlichen Phänomenen, mit der Untersuchung einzelner Wörter und Ausdrücke und dialektaler Besonderheiten, die ihm Kriterien für die Klärung von Echtheits- und Zuschreibungsfragen lieferten. Mit den Ansichten früherer Autoren setzte er sich kritisch und teils scharf auseinander. Über die Alte Komödie wurde ein Standardwerk. Eine weitere Schrift trug den Titel Grammatiká (Grammatisches). Ferner verfasste er eine Abhandlung über Begriffe aus der Welt des Handwerks, den Architektonikós (Handwerkskunst), und eine über die Namen der Haushaltsgeräte, den Skeuographikós (Ausstattungswesen), sowie einen Kommentar zu Homers Ilias unter einem besonderen, nicht überlieferten Gesichtspunkt. Der Suda zufolge waren seine grammatischen Werke zahlreich. Eratosthenes schrieb auch Briefe, in denen er auf philologische und kulturhistorische Fragen einging. Zwei Fragmente sind erhalten. Rezeption Antike Der berühmte Mathematiker Archimedes stand mit Eratosthenes in Briefkontakt. Er ehrte ihn, indem er ihm seine Schrift Methodenlehre widmete, sein einziges Werk über Methodologie. Dort bezeichnete er ihn als hervorragenden Gelehrten, wobei er seine philosophischen Verdienste stark hervorhob und damit zugleich andeutete, dass er die mathematischen Leistungen für weniger bedeutend hielt. Ferner sandte Archimedes anscheinend Eratosthenes das aus 22 Distichen bestehende Gedicht Das Rinderproblem über ein schwieriges mathematisches Problem, das er den Mathematikern in Alexandria vorlegen wollte; die Echtheit der Verse steht allerdings nicht zweifelsfrei fest. Die Vielseitigkeit des Eratosthenes fiel den Zeitgenossen und der Nachwelt auf, doch wurde sie nicht nur positiv gewertet. Kritiker waren der Meinung, er habe sich mehr durch die Breite seiner Interessen und seine Gelehrsamkeit ausgezeichnet als durch Tiefe des Verständnisses oder bahnbrechende Leistungen auf den einzelnen Gebieten. Diese Einschätzung kam auch in seinen Spitznamen oder Beinamen zum Ausdruck, die wohl schon zu seinen Lebzeiten in seiner Umwelt verbreitet waren; die Bewohner Alexandrias waren für ihre Spottlust berühmt. Bei seinen Gegnern galt er als „Vielwisser“ (im Gegensatz zu einem echten Philosophen). In diesem Sinne nannten sie ihn „Fünfkämpfer“ (Péntathlos) – jemand, der zwar auf mehreren Gebieten Beachtliches leistet, aber in keiner der einzelnen Disziplinen der Beste ist. Auch der Spitzname Beta – „der Zweite“ im Sinne von „zweitrangig“ – war gebräuchlich. Angesichts dieses Hintergrundes ist es möglich, dass die Bezeichnung als „Zweiter Platon“ oder „Neuer Platon“ nicht nur positiv gemeint war, sondern zugleich einen Mangel an Originalität andeuten sollte. Anscheinend zollte man ihm in weiten Kreisen nur widerwillig Anerkennung. Fachgelehrte suchten und fanden Schwachpunkte, die sie zu teils überzogener Kritik nutzten. Strabon und Plinius der Ältere lobten allgemein seine Kompetenz in verschiedenen Wissensgebieten, doch wenn es um konkrete Einzelfragen ging, hatte Strabon an seiner Sachkenntnis und Urteilskraft viel auszusetzen. Scharfe Kritik an Eratosthenes übte Polemon von Ilion, der zu diesem Zweck eine mehrbändige Kampfschrift Über die Anwesenheit des Eratosthenes in Athen verfasste. Die erhaltenen Fragmente lassen erkennen, dass Polemon dem Gegner mangelnde Kenntnis der Kulturgeschichte Athens vorwarf. Weitere Eratosthenes-Kritiker waren der berühmte Astronom und Geograph Hipparch von Nikaia und der Mathematiker Nikomedes. Hipparch tadelte die Unzuverlässigkeit der Weltkarte, Nikomedes verfasste ein Buch Über Konchoiden gegen Eratosthenes, in dem er gegen Eratosthenes polemisierte und dessen Erfindungen (wie den Mesolabos) als unpraktisch hinstellte. Polybios warf ihm heftig vor, dem Bericht des Pytheas Vertrauen geschenkt zu haben, kritisierte seine Lokalisierungen und Distanzangaben im Mittelmeerraum und verteidigte die von Eratosthenes aufgegebene Einteilung der Oikumene in drei Kontinente. Auch der in der Antike sehr beliebte Vorwurf des Plagiats wurde gegen Eratosthenes erhoben. Inwieweit ungünstige Bewertungen durch antike Kritiker, die einen strengen Maßstab anlegten, trotz seiner zweifellos bedeutenden Leistungen berechtigt waren, ist schwer zu beurteilen, da von seinen Werken nur wenig erhalten geblieben ist. Er polemisierte gern, drückte sich sarkastisch aus und wurde seinerseits zur Zielscheibe von Angriffen. Im 2. Jahrhundert verfasste der Geograph Dionysios von Alexandria (Dionysios Periegetes) ein Lehrgedicht, das eine Weltbeschreibung bietet, für die sich der Dichter unter anderem auf Angaben des Eratosthenes stützt. Das Gedicht fand in der Antike, im mittelalterlichen Byzantinischen Reich und in der Frühen Neuzeit viel Beachtung. Ob Dionysios Zugang zum Originaltext der Geographika des Eratosthenes hatte oder sein Wissen aus einer Mittelquelle bezog, ist unbekannt. Die Gedichte Hermes und Erigone waren in der Antike berühmt. Die Nachwirkung des Hermes war beträchtlich, auch bei römischen Autoren. Ciceros Somnium Scipionis war wohl vom Hermes inspiriert, Vergil verwertete in seinen Georgica Eratosthenes’ Darstellung der fünf Himmelszonen, die Hermes bei seinem Aufstieg wahrnahm. Ein Zeitgenosse des Eratosthenes namens Timarchos verfasste einen mindestens vierbändigen Kommentar zum Hermes. Ob eine bildliche Darstellung des Eratosthenes aus der Antike erhalten ist, ist unklar. In der Villa Boscoreale wurde ein Fresko gefunden, auf dem ein alter Philosoph abgebildet ist, bei dem es sich vermutlich um Eratosthenes handelt. Einer umstrittenen Hypothese zufolge sind die um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. entstandenen Fresken von Boscoreale Kopien eines Bilderzyklus, der im Auftrag von Ptolemaios III. angefertigt worden war, und basieren somit auf zeitgenössischen Porträts der abgebildeten Personen. Spekulativ ist eine Vermutung von Konrad Gaiser, der meint, Eratosthenes auf einem berühmten Mosaik aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. erkennen zu können, das 1897 in Torre Annunziata gefunden wurde und sich heute im Archäologischen Nationalmuseum von Neapel befindet. Gaiser glaubt, es handle sich wohl um eine Kopie eines Bildes, das in Alexandria bald nach dem Tod des Eratosthenes entstanden war und dort entweder sein Grab oder einen Raum des Museions schmückte. Neuzeit Als im 17. Jahrhundert der niederländische Astronom und Mathematiker Willebrord Snel van Royen eine neue Methode der Bestimmung des Erdumfangs veröffentlichte, wählte er für sein 1617 erschienenes Werk den Titel Eratosthenes Batavus (Der niederländische Eratosthenes). Sein Zeitgenosse Claude de Saumaise (Claudius Salmasius), ein bedeutender Altertumswissenschaftler, wurde als der Eratosthenes seiner Zeit gerühmt. Der Philologe Gottfried Bernhardy veröffentlichte 1822, im Jahr seiner Promotion, die erste und bis heute einzige auf Vollständigkeit abzielende Sammlung der Eratosthenes-Fragmente. In der Folgezeit und auch noch im 20. Jahrhundert konzentrierte sich die Forschung auf Einzelfragen. Bernhardys Jugendarbeit, damals eine glanzvolle Leistung, ist heute völlig überholt, wurde aber nicht ersetzt. Aus heutiger Sicht fällt vor allem die konsequent wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweise des Eratosthenes auf, die ihm in der Moderne besondere Wertschätzung eingebracht hat. In der Forschungsliteratur werden seine Pionierleistungen und seine Unbefangenheit, Gewissenhaftigkeit und umfassende Bildung gewürdigt. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass Eratosthenes nicht auf allen Gebieten, denen er sich zuwandte, Überragendes vollbrachte; in einem Teil seiner Werke zeigt er sich vorwiegend als Material zusammentragender Buchgelehrter. Nach Eratosthenes sind der Asteroid (3251) Eratosthenes und ein Mondkrater benannt. Zudem trägt seit April 2021 der Eratosthenes Point in der Antarktis seinen Namen. Eine von Eratosthenes beauftragte Vermessungsexpedition ist Gegenstand von Arno Schmidts Erzählung Enthymesis oder W.I.E.H. Der Förderkreis Vermessungstechnisches Museum verleiht den Eratosthenes-Preis für herausragende Arbeiten auf dem Gebiet der geschichtlichen Forschungen im Vermessungswesen, insbesondere für Studienabschlussarbeiten und Dissertationen, sowie den Eratosthenes-Ehrenpreis für herausragende Buchveröffentlichungen. Ausgaben und Übersetzungen Astronomisches, Geographisches und Mythographisches Hugo Berger (Hrsg.): Die geographischen Fragmente des Eratosthenes. Teubner, Leipzig 1880 (online). Jordi Pàmias, Klaus Geus (Hrsg.): Eratosthenes: Sternsagen (Catasterismi). Utopica, Oberhaid 2007, ISBN 978-3-938083-05-5 (Text, Übersetzung und Kommentar). Jordi Pàmias i Massana, Arnaud Zucker (Hrsg.): Ératosthène de Cyrène: Catastérismes. Les Belles Lettres, Paris 2013, ISBN 978-2-251-00582-9 (kritische Edition mit französischer Übersetzung und Kommentar) Duane W. Roller: Eratosthenes’ Geography. Fragments collected and translated, with commentary and additional material. Princeton University Press, Princeton/Oxford 2010, ISBN 978-0-691-14267-8 (englische Übersetzung, Kommentar, Karten). Dichtung John U. Powell (Hrsg.): Collectanea Alexandrina. Clarendon Press, Oxford 1925 (enthält S. 58–64 Fragmente der Dichtungen). Alexandra Rosokoki (Hrsg.): Die Erigone des Eratosthenes. Eine kommentierte Ausgabe der Fragmente. Winter, Heidelberg 1995, ISBN 3-8253-0299-7. Geschichtliches Felix Jacoby (Hrsg.): Die Fragmente der griechischen Historiker. 2. Teil, Band B, Weidmann, Berlin 1929 (enthält S. 1010–1021, Nr. 241 Eratosthenes-Fragmente). Mathematisches und Philosophisches Heinrich Dörrie (Hrsg.): Der Platonismus in der Antike, Band 1: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, ISBN 3-7728-1153-1, S. 116–133 (griechische Texte mit deutscher Übersetzung) und S. 350–382 (Kommentar). Philologisches Andreas Bagordo (Hrsg.): Die antiken Traktate über das Drama. Mit einer Sammlung der Fragmente. Teubner, Stuttgart 1998, ISBN 3-519-07660-8, S. 127–136 (kritische Edition der Fragmente von Über die Alte Komödie), S. 37–40 (Einführung zu den Fragmenten). Literatur Pedro Pablo Fuentes González: Ératosthène de Cyrène. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 3, CNRS Éditions, Paris 2000, ISBN 2-271-05748-5, S. 188–236 (reichhaltige Forschungsübersicht). Klaus Geus: Eratosthenes von Kyrene. Studien zur hellenistischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Beck, München 2002, ISBN 3-406-48976-1. Dieter Lelgemann: Eratosthenes von Kyrene und die Messtechnik der alten Kulturen, Chmielorz Verlag, Wiesbaden, 2001, ISBN 978-3-87124-260-1 Doris Meyer: Eratosthenes. In: Bernhard Zimmermann, Antonios Rengakos (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 2: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit. C. H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-61818-5, S. 100–109 Alexandra Rosokoki, Die Erigone des Eratosthenes. Eine kommentierte Ausgabe der Fragmente, Heidelberg: C. Winter-Verlag 1995 Rudolf Pfeiffer: Geschichte der Klassischen Philologie. 2. Auflage. Beck, München 1978, ISBN 3-406-03751-8, S. 191–212. Eduard Schwartz: Charakterköpfe aus der Antike. 4. Auflage. Koehler & Amelang, Leipzig 1956, S. 183–209 (Gesamtwürdigung). Weblinks D. R. Dicks: Eratosthenes, Dictionary of Scientific Biography Daniela Friedl: Wie Eratosthenes die Erde vermessen hat Michael Fowler: Measuring the Solar System [biographische Angaben teilweise veraltet] Anmerkungen Mathematiker der Antike Astronom der Antike Geograph der Antike Geodät Philologe der Antike Historiker der Antike Universalgelehrter Bibliothekar Literatur (Altgriechisch) Person (Alexandria) Musiktheoretiker Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Geboren im 3. Jahrhundert v. Chr. Gestorben im 2. Jahrhundert v. Chr. Mann Person (Kyrene)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich%20V.%20%28HRR%29
Heinrich V. (HRR)
Heinrich V. (* 1081 oder 1086 möglicherweise am 11. August; † 23. Mai 1125 in Utrecht) aus der Familie der Salier war ab 1098 Mitkönig seines Vaters, Kaiser Heinrichs IV., ab 1106 römisch-deutscher König und von 1111 bis 1125 römisch-deutscher Kaiser. In den Konflikten Kaiser Heinrichs IV. mit den Großen des Reiches und dem Reformpapsttum um die Anerkennung seiner Königsherrschaft verbündete sich Heinrich V. mit den Gegnern seines Vaters. Nach dessen Sturz im Jahr 1106 herrschte Heinrich V. fünf Jahre lang im Konsens mit den Großen. Das Jahr 1111 gilt als Wendepunkt seiner Königsherrschaft. Kurz vor seiner Kaiserkrönung versuchte Heinrich vergeblich, den Bischöfen ihre Regalien zu entziehen. Um wenigstens das bisherige Investiturrecht, also die Amtseinsetzung Geistlicher, zu wahren, nahm er Papst Paschalis II. gefangen und erzwang seine Kaiserkrönung. Nach 1111 wandte sich der König von einer gemeinsamen Herrschaft mit den Fürsten ab und wieder früheren autokratischen Herrschaftsformen der Salier zu. Heinrich focht seine Konflikte mit den Großen zunehmend kompromisslos aus, scheiterte aber mit dem Versuch, die Herrschaftsmöglichkeiten gegenüber Kirche und Fürsten in Sachsen, am Mittel- und am Niederrhein zu vergrößern. Die Fürsten übernahmen die Verantwortung für den Frieden im Reich. Sie zwangen Heinrich im Würzburger Fürstenspruch von 1121 zum Ausgleich mit dem Papsttum, der zum Wormser Konkordat führte, mit dem 1122 der Investiturstreit endete. In seinen letzten Lebensjahren fand der König kaum noch Unterstützung bei den Großen. Das Itinerar, also die „Reiseroute“ des Königs in einem Reich ohne Hauptstadt, beschränkte sich fortan auf den Westen des Reiches. Heinrich war seit 1114 mit Mathilde von England verheiratet. Da die Ehe ohne männlichen Nachkommen blieb, war Heinrich V. der letzte Kaiser aus dem Geschlecht der Salier. Leben Krise des Reiches Heinrich V. wurde wohl am 11. August im Jahr 1081 oder 1086 geboren. Gesichert ist lediglich seine Schwertleite zu Ostern 1101; diese Zeremonie erfolgte gewöhnlich beim Erreichen des 15. Lebensjahres. Heinrich war der Sohn von Heinrich IV. und Bertha von Savoyen, die bereits Ende 1087 starb. Mit Konrad und Agnes hatte er zwei ältere Geschwister, zwei weitere Geschwister waren früh verstorben. Die ersten Jahre seines Lebens scheint Heinrich vor allem in Regensburg verbracht zu haben. Sein Erzieher war Bischof Konrad von Utrecht. Zum Zeitpunkt von Heinrichs Geburt kämpfte sein gleichnamiger Vater bereits seit mehreren Jahren mit Päpsten, Bischöfen und Fürsten um den Erhalt seiner Herrschaft. Heinrich IV. nahm in seiner Regierungszeit wenig Rücksicht auf den Rat und das Rangbewusstsein des Adels. Zentren des dadurch hervorgerufenen Widerstands wurden außer Sachsen die süddeutschen Herzogtümer Bayern, Schwaben und Kärnten. Diese süddeutschen Herzöge suchten wiederum die Unterstützung von Papst Gregor VII., einem Verfechter kirchenreformerischer Ideen. Gregors zentrale Forderung bestand darin, dass der Kaiser auf die Investitur von Äbten und Bischöfen verzichten sollte. Er exkommunizierte Heinrich IV. 1076. Durch seinen Bußgang nach Canossa gelang es dem Salier, die Lösung vom Kirchenbann zu erreichen. 1080 und 1094 wurde Heinrich IV. jedoch erneut exkommuniziert, 1102 wurde über ihn und seine Parteigänger und damit auch über seinen Sohn Heinrich V. wiederum der Kirchenbann ausgesprochen. Der Konflikt spaltete Reich und Kirche. Heinrich suchte daher seinen Einfluss im Süden zu stärken. Seine Tochter Agnes wurde mit Friedrich verlobt, der 1079 dadurch das Herzogtum Schwaben erlangte. Außerdem versuchte der Kaiser seine Nachfolge zu sichern. Als Nachfolger für das Königtum bestimmte Heinrich IV. seinen ältesten Sohn Konrad, der 1087 in Aachen zum König geweiht wurde. Doch 1093 lief Konrad in Italien zur Partei der Kirchenreformer über. Daher wurden ihm im Mai 1098 auf einem Hoftag in Mainz Königtum und Erbe aberkannt und seinem jüngeren Bruder Heinrich V. übertragen. Dieser musste dabei den Eid leisten, niemals gegen den Vater die Herrschaft zu ergreifen. Am 6. Januar 1099 wurde Heinrich in Aachen zum König gesalbt und gekrönt. Dort musste er den Eid wiederholen. Sein Bruder Konrad starb am 27. Juli 1101 in Florenz. Der Fortbestand der salischen Dynastie hing nun von Heinrich V. ab, dem einzigen noch lebenden Sohn des Kaisers. Die Mitregentschaft des Sohnes mit dem Vater scheint sechs Jahre lang problemlos verlaufen zu sein. Anders als bei früheren Königssöhnen wurde Heinrich V. nicht am Regierungsgeschehen beteiligt. Das Verhalten des Vaters gegenüber seinem Sohn war vermutlich seit dem Abfall seines älteren Sohnes Konrad von äußerster Vorsicht geprägt. Entmachtung des Vaters (1104–1106) Die Ursachen und Motive, die zur Entmachtung des Vaters durch den Sohn führten, sind in der jüngeren Forschung umstritten. So sieht Stefan Weinfurter reformreligiöse Motive der Verschwörer im Umfeld des Königs als dafür entscheidend an. In den Quellen wird der Einfluss von jungen bayerischen Grafen als Motiv für den Abfall genannt. Als Beteiligte sind Markgraf Diepold III. von Vohburg, Graf Berengar von Sulzbach und Graf Otto von Habsburg-Kastl namentlich überliefert. Die bayerischen Adligen gehörten zum Gründerkreis des Reformklosters Kastl und der Reformstifte Berchtesgaden und Baumburg in Bayern. Durch Gelage (convivia) und Jagdvergnügungen hatten sie den Königssohn an sich gebunden und ihm vermittelt, dass er die Herrschaft verlieren werde, wenn er sich nicht bald gegen den Vater stelle. Denn wartete er mit der Thronbesteigung bis zum Tod seines Vaters, würde ihm ein anderer zuvorkommen, der wiederum gleich viele Unterstützer fände – so groß sei im ganzen Reich der Hass auf seinen gebannten Vater. Aus Sorge um sein Seelenheil habe Heinrich dann den gebannten Vater verlassen und sich mit den jungen bayerischen Adligen zu einer „Heilsgemeinschaft“ zusammengeschlossen. Heinrich sei davon ausgegangen, dass er sich nur durch ein Bündnis mit diesen Reformkräften die Nachfolge sichern konnte. Eine andere Forschungsmeinung gewichtet für den Sturz Heinrichs IV. stärker die Ermordung Sieghards von Burghausen im Februar 1104 durch Ministeriale und Bürger von Regensburg. Sieghard habe sich über die königliche Zurücksetzung Bayerns gegenüber Sachsen und Franken beschwert. Seine Ermordung habe die Verwandten des Toten und alle Adligen verbittert, weil der Kaiser gegen die schuldigen Ministerialen nicht energisch eingeschritten sei. Durch diesen Vorfall wären demnach wieder die alten Vorwürfe gegen Heinrich IV. aufgekommen, er bevorzuge Leute niedrigen Standes. Heinrich V. hätte vergeblich versucht, zwischen dem Grafen Sieghard und den Ministerialen einen gütlichen Ausgleich zu vermitteln, und daher einen Grund gehabt, seinem Vater die Untätigkeit zu verübeln. Bemerkenswert für diese Schlussfolgerung ist jedoch der große zeitliche Abstand zwischen der Ermordung des Sieghard von Burghausen und der Loslösung Heinrichs vom Vater. Im November 1104 zog Heinrich V. im Heer seines Vaters Heinrich IV. gegen sächsische Reformadelige, die sich gegen die Wahl des Erzbischofs von Magdeburg gewandt hatten. Während dieser Strafexpedition nach Sachsen sagte er sich am 12. Dezember 1104 von seinem Vater los und brach damit den Treueid am regierenden König. Im Anschluss daran machte sich Heinrich V. auf den Weg nach Regensburg, wo er mit seinen Anhängern erst noch das Weihnachtsfest feierte. Zum Jahreswechsel 1104/05 schickte er dann Boten nach Rom, um sich durch den Papst vom Bann und vom Eid befreien zu lassen – galt der Bruch eines Eids doch auch nach dem damaligen Glaubensverständnis als eine der größten Verfehlungen, für die man nach seinem Tod das Urteil vor Gottes Jüngstem Gericht zu fürchten hatte. Der Papst sagte Heinrich V. unter der Auflage, dass er als Nachfolger dann ein gerechter König und Lenker der Kirche sein solle, nicht nur die Absolution für diese Sünde, sondern auch die Unterstützung im Kampf gegen seinen Vater zu. Zwischen 1105 und 1106 ließen beide Parteien ihre Argumente in Briefen und historiographischen Texten verbreiten, um das Reich an sich zu binden: Vater und Sohn warfen sich gegenseitig vor, die gottgewollte Ordnung zu missachten und die irdische Ordnung zu zerstören. Heinrich V. begann sich intensiv um Sachsen zu bemühen. Sein Vater hatte Sachsen, wo die Opposition gegen ihn besonders stark war, nach 1089 nicht mehr betreten. Im Frühjahr 1105 hielt Heinrich V. sich zwei Monate dort auf. Dabei zeigte er seinen Willen zur Zusammenarbeit mit der Kirche auf der Basis der gregorianischen Vorstellungen, indem er die von seinem Vater eingesetzten Bischöfe Friedrich von Halberstadt, Udo von Hildesheim und Heinrich von Paderborn absetzte. In Quedlinburg zog er am Palmsonntag zur Feier des Osterfestes barfuß ein. Damit demonstrierte er seine Demut (humilitas), eine elementare christliche Herrschertugend. Der Aufenthalt wurde durch die Feier des Pfingstfestes in Merseburg und die Bestätigung des Magdeburger Metropoliten abgeschlossen. Heinrich V. gelang es, den Babenberger Leopold III. zum Abfall von seinem Vater zu bewegen, indem er ihm seine Schwester Agnes zur Frau versprach. Ende Oktober 1105 besetzte Heinrich V. Speyer, den zentralen Ort salischer Herrschaft. Mit Gebhard setzte er einen vehementen Gegner seines Vaters als Bischof von Speyer ein. Im Herbst 1105 standen sich die Heere von Vater und Sohn am Fluss Regen gegenüber. Eine Schlacht wurde jedoch durch die Fürsten beider Seiten verhindert, die eine friedliche Lösung erzielen wollten. Zu Weihnachten 1105 sollte auf einem Hoftag zu Mainz eine Einigung erzielt werden. Heinrich IV. zog zum angekündigten Hoftag nach Mainz. Am 20. Dezember 1105 soll laut der Vita Heinrici IV. Heinrich V. in Koblenz dem Vater „um den Hals gefallen“ sein und dabei „Tränen vergossen und ihn geküsst“ haben. Fußfall, Tränen und Küsse als öffentliche Bekundungen einer Versöhnung waren nach damaliger Auffassung bindend. Heinrich IV. entließ daraufhin sein Heer. Vater und Sohn brachen am 21. Dezember gemeinsam zum Hoftag in Mainz auf. In Bingen überredete Heinrich am 23. Dezember seinen Vater, sich zum eigenen Schutz auf eine Burg zu begeben, denn Erzbischof Ruthard von Mainz werde ihn nicht in die Stadt lassen. Heinrich willigte ein und wurde nicht zu seinem Schutz, sondern in festen Gewahrsam auf die Burg Böckelheim gebracht, die Bischof Gebhard gehörte. Heinrich wurde in den Kerker geworfen und verblieb dort „ungewaschen und unrasiert und jeglichen Gottesdienstes beraubt“ über die Weihnachtstage. Auf dem Reichstag von Mainz zu Weihnachten 1105 forderte Heinrich seinen Vater auf, ihm die Insignien (Krone, Zepter, Reichskreuz, Heilige Lanze und Reichsschwert) zu überlassen. Um die Jahreswende wurde Heinrich IV. nach Ingelheim gebracht und am 31. Dezember 1105 zur Abdankung gezwungen. In Ingelheim wurden ihm auch die Reichsinsignien abgepresst. Im Besitz der Insignien ließ Heinrich V. die Version verbreiten, sein Vater habe ihm die Herrschaft freiwillig abgetreten. Diese Darstellung der Vorgänge war Ausdruck seines Bemühens um dynastische Kontinuität. Am 5. oder 6. Januar 1106 wurde Heinrich V. zum neuen König gesalbt und gekrönt. Der Mainzer Erzbischof Ruthard überreichte ihm die Reichsinsignien mit den mahnenden Worten: „Wenn er sich nicht wie ein gerechter Lenker des Reiches und Verteidiger der Kirchen erweise, dann würde es ihm wie dem Vater ergehen“. Der Herrschaftsbeginn war von einer seit langer Zeit ungewohnten Harmonie zwischen König und Großen geprägt. Mehr als fünfzig Reichsfürsten waren bei Heinrichs Herrschaftsübernahme anwesend. Anders als seine salischen Vorgänger zählte Heinrich seine Herrscherjahre erst von dem Tag, an dem er die Reichsinsignien übernahm und die Königsherrschaft durch die Wahl der Fürsten erhielt. Für die salische Herrschaft war nicht mehr die Berufung auf die heilige Maria und den göttlichen Auftrag entscheidend. Doch Heinrich IV. konnte aus der Haft in Ingelheim entkommen und nach Lüttich fliehen. Sein Sohn befürchtete eine Umkehrung der Machtverhältnisse und berief einen Reichstag zu Ostern 1106 dorthin ein. Heinrich IV. begann zwar den Widerstand gegen seinen Sohn zu organisieren, doch der alte Kaiser starb am 7. August 1106 in Lüttich und erhielt dort ein ehrenvolles Begräbnis. Die Fürsten untersagten zwar eine Beerdigung in Speyer, aber Heinrich widersetzte sich diesem Beschluss. Er ließ den Leichnam seines Vaters am 24. August wieder aus der Erde holen und nach Speyer überführen, denn in Lüttich bahnte sich eine Verehrung des Verstorbenen als Heiligen an. Die Überführung nach Speyer sollte zur Stabilisierung der Herrschaft des aufständischen Sohnes beitragen. In Speyer konnte er sich „so als legitimer Bewahrer und Fortsetzer präsentieren“. Der Leichnam wurde am 3. September 1106 in eine noch ungeweihte Seitenkapelle (die spätere Afrakapelle) nördlich des Domes gebettet. Eine angemessene Beerdigung an der Seite seiner Vorfahren wurde durch die Exkommunikation verhindert. Erst 1111 konnte Heinrich IV. nach Aufhebung der Exkommunikation neben seinen Ahnen im Dom zu Speyer beigesetzt werden. Jahre der konsensualen Herrschaft Heinrich V. scheint aus den Fehlern seines Vaters gelernt zu haben; seinen eigenen Worten im Frühjahr 1106 zufolge hat er verstanden, dass „die Mißachtung der Fürsten […] der Untergang des Reiches“ war. Die folgenden Jahre der Königsherrschaft standen unter dem Eindruck der Kirchenreform und größerer Mitverantwortung der Fürsten. Urkunden und Annalenwerke belegen die konsensuale Herrschaftspraxis. Die Erwähnung der Großen als Intervenienten und Zeugen in den königlichen Urkunden nahm zu. In Urkunden stellte Heinrich fest, er habe seine Handlungen „mit Urteil und Rat der Fürsten getätigt“. Hoftage hielt er häufiger als sein Vater ab, um bei Entscheidungen einen Konsens mit den Großen zu finden. Die zahlreiche Teilnahme der Fürsten an den Hoftagen und die starke Zunahme an Hoftagsberichten der Chronisten zeigen das neue Bewusstsein von der Verantwortung der Großen für das Reich. Bischöfen, die unter seinem Vater ihre Bischofssitze nicht mehr betreten konnten, ermöglichte Heinrich V. die Rückkehr. Verhandlungen mit dem Papst wurden mit Delegationen aus geistlichen und weltlichen Großen geführt. Graf Berengar von Sulzbach und Pfalzgraf Gottfried von Calw standen dem jungen König besonders nahe. Sie werden von den weltlichen Großen am häufigsten in den Königsurkunden genannt. Beide gehörten zu der Gruppe, die den Sturz Heinrichs IV. maßgeblich betrieben hatte. Außerdem traten die Erzbischöfe Friedrich von Köln und Bruno von Trier, die Bischöfe Burchhard von Münster, Otto von Bamberg und Erlung von Würzburg sowie Graf Hermann von Winzenburg in den königlichen Urkunden besonders hervor. Dazu kamen ab 1108 auch der Stauferherzog Friedrich II. und ab 1111 Markgraf Hermann von Baden. Besonders königsnah war bis zu seinem frühen Tod 1112 auch Bischof Eberhard von Eichstätt. Durch die konsensuale Zusammenarbeit zwischen Großen und König hatte ein salischer Herrscher nach langer Zeit wieder ungehinderten Zugang zu allen Teilen des Reiches und konnte in die politischen Verhältnisse sowohl der westlichen als auch der östlichen Gebiete eingreifen. Auch zu den Sachsen blieb sein Verhältnis in den kommenden Jahren gut; Heinrich hielt sich bis 1112 mehrmals dort auf. Nach dem Tod des Magnus Billung, mit dem das sächsische Geschlecht der Billunger ausstarb, wurde das Herzogtum Sachsen 1106 nicht an einen der beiden letzten verbliebenen Schwiegersöhne des Verstorbenen, Heinrich den Schwarzen oder Otto von Ballenstedt, sondern an Lothar von Süpplingenburg vergeben. Damit wurde der Amtscharakter des Herzogtums gegen die dynastische Gewohnheit durchgesetzt. Feldzüge gegen Ungarn und Polen brachten in den Jahren 1108 und 1109 keinen großen Erfolg. In Böhmen gelang es Heinrich, seinen Kandidaten Swatopluk als Herzog zu installieren. Allerdings war in Reichsitalien durch den Sturz des Vaters die Herrschaft eingebrochen. Von Oktober 1095 bis Oktober 1110 haben Heinrich IV. und Heinrich V. keine Urkunden für italienische Empfänger ausgestellt. Italienische Empfänger machten sich außerdem kaum noch die Mühe, für den Erhalt einer Königsurkunde in den nördlichen Reichsteil zu reisen. Unter Heinrich V. erreichte die Abwendung der Metropole Mailand von der salischen Herrschaft ihren Höhepunkt. Heinrich V. übte die Investitur mit Ring und Stab (per anulum et baculum) weiter aus und konnte dabei die Zusammenarbeit auch mit den geistlichen Großen fortsetzen. Neben dem Stab wurde der Ring, das geistliche Zeichen, das die Vermählung des Bischofs mit seiner Kirche symbolisierte, übergeben. Diese Art der Bischofseinsetzung hatte erst Heinrich III. eingeführt. Unter Heinrich IV. war sie eine der Ursachen für den Konflikt mit dem Papst gewesen. So wurde am 7. Januar 1106 in Mainz Konrad I. zum neuen Erzbischof von Salzburg mit Ring und Stab erhoben. Im Jahr 1107 besetzte der Salier unter Mitwirkung der Großen die Bischofsstühle in Halberstadt, Magdeburg, Speyer und Verdun. Für die Bischofserhebungen waren nicht mehr die Hofkapelle oder die Domschulen und Domkapitel Speyer, Bamberg oder Lüttich entscheidend, sondern die verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Großen. Der König suchte bei der Auswahl der Bischöfe die Zustimmung ebendieser Großen. Diese setzten sich für Anwärter ein, die für den Ausbau ihrer jeweiligen Territorien wichtig werden konnten. Bei dieser Besetzungspraxis bestand die Gefahr, dass die Loyalität der Bischöfe gegenüber Verwandten und Freunden stärker ausgeprägt war als gegenüber dem König. Die demonstrative Erhebung der Bischöfe mit Ring und Stab ließ die Konflikte mit dem Papsttum fortbestehen. Papst Paschalis II. forderte den vollständigen Verzicht Heinrichs auf die Investitur geistlicher Amtsträger. Könige und Bischöfe agierten jedoch bei der Investitur gemeinsam. Diese Handlungsgemeinschaft konnte der Papst nicht brechen. Einigungsversuche mit dem Papst in der Investiturfrage scheiterten 1106 auf der Synode von Guastalla und 1107 in Châlons-en-Champagne. Erster Italienzug (1111) Im August 1110 fasste ein Hoftag den Beschluss, zur Beendigung des Investiturstreits nach Rom aufzubrechen. Das Heer wählte den kürzesten Weg über den Großen Sankt Bernhard, erreichte Piacenza und Parma, zog dann nach Roncaglia und Florenz, schließlich bis zum Februar 1111 nach Sutri und von dort nach Rom. Heinrich war beim Aufbruch zum Italienzug „erfüllt vom Gedanken eines epochalen Ereignisses“ (Weinfurter). Für die Vorbereitung ließ er ein neues Königssiegel anfertigen. Herzog Welf V. von Bayern führte ein zweites Heer vom Südosten des Reiches nach Italien, das sich in Roncaglia mit dem Hauptheer vereinte. Auch dies zeigte, dass in dieser Zeit selbst die Familie, mit der Heinrichs Vater so heftig gestritten hatte, nun auf salischer Seite stand. Welfs Anwesenheit war für Heinrich zudem insofern von Bedeutung, als er 1089–1095 mit Mathilde von Tuszien verheiratet gewesen war, was ihn zum potentiellen Erben ihres Besitzes machte. Sie gestattete daher dem Heer den Durchzug, während sie das Heer Heinrichs IV. noch bekämpft hatte, da sie auf Seiten des Papstes stritt. Heinrich V. schickte Gesandte zu ihr, um „de pace […] de regis honore suoque“ zu verhandeln, also um Frieden und die Ehre des Königs. Diese Ehre bestimmte über den Rang des Königs, sie begann sich unter den letzten Saliern zu einem Herrschaftskonzept zu entwickeln, aus dem später Ansprüche des Reiches auf Unteritalien und auf die Mathildischen Güter abgeleitet wurden. Tatsächlich setzte Mathilde, die 1079 im Falle ihrer Kinderlosigkeit den Papst als Erben ihrer Güter vorgesehen hatte und nun auf ein Einvernehmen zwischen Papst und König hoffte, Heinrich V. ein. Damit war für den König der Weg nach Rom frei. Heinrich legte großen Wert auf die Dokumentation und die Inszenierung der Ereignisse aus der Perspektive des Königshofes. Ihn begleitete angeblich ein gewaltiges Heer von 30.000 Rittern aus dem ganzen Reich nach Italien. Nach Otto von Freising bot das Heerlager im nächtlichen Schein der Fackeln „eine eindrucksvolle Zurschaustellung weltlicher Macht“. Über ein derart großes Heer konnte Heinrich nur gebieten, weil seine Herrschaft auf dem Konsens mit den Fürsten beruhte. Zu den Teilnehmern des Italienzuges gehörte Heinrichs Hofkapellan David, der als Chronist alle wichtigen Ereignisse in drei Büchern in so einfachem Stil dokumentieren sollte, dass auch weniger gelehrte Leute es verstehen würden. Somit hatte Heinrich die Dokumentations- und Propagandafunktion der Historiographie schon im Voraus eingeplant, um sich in eventuellen späteren Auseinandersetzungen mit dem Papst darauf stützen zu können. Davids Schilderung ist nicht erhalten, doch wurde das Werk von anderen Geschichtsschreibern herangezogen. Paschalis seinerseits, der auf Mathilde von Tuszien nur noch bedingt rechnen konnte, suchte Rückhalt bei den Normannen, die Süditalien beherrschten, und mit denen die Päpste immer wieder ein Gegengewicht gegen die römisch-deutschen Herrscher aufzubauen versuchten. Die Normannen hatten schon 1084 gegen Heinrich IV. Rom besetzt. Nun sicherten Roger von Apulien und Robert I. von Capua Papst Paschalis eidlich Hilfe zu, falls er in eine Notlage geraten sollte. Auch in Rom fand er Unterstützung beim städtischen Adel. Der Papst unternahm jedoch keinen Versuch, Unterstützung in Norditalien zu gewinnen, dessen Kommunen begannen, sich dem Zugriff des Reiches zu entziehen. Mit der Besetzung Lodis 1111 begann Mailand, sich ein eigenes Territorium aufzubauen. Heinrich beharrte auch weiterhin auf seinem Investiturrecht mit Ring und Stab sowie auf Treueid und Mannschaftsleistung von Bischöfen und Reichsäbten. Papst Paschalis schlug ihm vor, ganz auf die Investitur – die Einsetzung in das Bischofsamt – zu verzichten, um dafür alle aus königlicher Verleihung stammenden Hoheitsrechte (Regalien) wie Herzogtümer, Markgrafschaften, Münz-, Markt- und Zollrechte zurückzuerhalten. Dies hielten Herrscher und Papst in einem Vorvertrag am 4. Februar 1111 fest. Den Bischöfen sollten damit Rechte und Einkünfte entzogen werden, die ihnen schon seit der Karolingerzeit zustanden und mit denen traditionell ihre Aktivität im Dienst des Königs ermöglicht und zugleich belohnt wurde. Bei Rückgabe dieser Regalien an das Reich hätten die Bischöfe nur noch von ihrem Eigenbesitz, vom Zehnten und von Almosen leben können. Sie wären auf ihr geistliches Amt beschränkt worden, was ihre Abhängigkeit vom Papst vergrößert hätte. Das Recht auf Mitsprache und Mitverantwortung im Reich hätten sie eingebüßt; sie wären wieder weitgehend auf den weltlichen Schutz angewiesen gewesen. Damit wären sie letztlich aus der gemeinsamen Verantwortung der Großen für das Reich ausgeschlossen worden. Am 9. Februar nahm Heinrich im Vergleich von Sutri den päpstlichen Vorschlag an. Für Papst Paschalis war die Ursache der Simonie und Amtserschleichung in der Kirche nicht die Investitur, sondern die Verweltlichung der Bischöfe. Am 12. Februar 1111 begannen die Feierlichkeiten zur Kaiserkrönung. Heinrich küsste dabei in großer Öffentlichkeit vor der Peterskirche die Füße des Papstes. Damit machte er seine Unterordnung unter den geistlichen Vater als dessen gehorsamer Sohn symbolisch kund. Das Ritual ist 1111 erstmals bei einer Kaiserkrönung überliefert und ging vor dem Eintritt in die Peterskirche in das Zeremoniell mittelalterlicher Kaiser ein. Unmittelbar vor dem Krönungsakt wurde die päpstliche Urkunde über die zuvor getroffene Vereinbarung innerhalb des Vorvertrages von Turri und Sutri verlesen. Somit erfuhren die Bischöfe erstmals von der königlich-päpstlichen Absprache. Es brach starker Protest aus. Es ist davon auszugehen, dass Heinrich sich dessen im Vorfeld bewusst war. Die Kaiserkrönung in Rom musste abgebrochen werden und in der Stadt selbst kam es zu Aufruhr. Heinrich forderte daraufhin wiederum das Investiturrecht und die Kaiserkrönung. Als Paschalis dies verweigerte, nahm Heinrich ihn in der Peterskirche gefangen. Heinrich konnte zwei Monate später von Paschalis im Vertrag von Ponte Mammolo am 12. April 1111 die Lösung des verstorbenen Vaters vom Bann erwirken und auch weiterhin die Investitur der Bischöfe mit Ring und Stab erzwingen. Am 13. April vollzog Paschalis die Kaiserkrönung. Außerdem musste sich Paschalis eidlich verpflichten, Heinrich nie zu exkommunizieren, was er in der Folgezeit auch nicht tat. Durch die Gefangennahme des Papstes verlor Heinrich jedoch rasch an Anerkennung, denn er hatte den Stellvertreter Christi auf Erden und damit die höchste Autorität in der lateinisch-christlichen Welt gefangen genommen. Als Reaktion darauf wurde er bereits im Sommer 1111 auf einer Synode in Jerusalem durch den Kardinallegaten Kuno von Praeneste gebannt. Im September 1112 exkommunizierte ihn eine burgundische Synode unter der Leitung des Erzbischofs Guido von Vienne, des späteren Papstes Calixt II. In den folgenden Jahren wurde die Exkommunikation des Kaisers mehrfach wiederholt. Das Jahr 1111 war nach Ansicht von Stefan Weinfurter ein Wendepunkt der Herrschaftszeit Heinrichs V. Die neue Einheit zwischen Kirchenreform und Königtum in den ersten Jahren der Königsherrschaft Heinrichs zerbrach und mit ihr die reformerische „Heilsgemeinschaft“ zwischen dem König und den Großen. Im März 1112 wurde das Investiturprivileg von der Kurie auf einer Lateransynode widerrufen und als Pravileg („üble Urkunde“) bezeichnet. Nach der Kaiserkrönung zog sich Heinrich rasch in den nördlichen Reichsteil zurück. Auf dem Rückweg aus Italien wurde er vom 6. bis 8. Mai 1111 von Mathilde von Tuszien auf der Burg Bianello empfangen. Mathilde und Heinrich schlossen dabei einen Vertrag, der von der Forschung als Erbeinsetzung Heinrichs V. im Todesfall der Markgräfin gedeutet worden ist. Nach seiner Rückkehr konnte Heinrich die Beisetzung des Vaters endgültig herbeiführen. Der Sarg seines Vaters befand sich bislang in einer ungeweihte Seitenkapelle des Speyerer Doms. Am 7. August 1111 fand im Dom zu Speyer die Begräbnisfeier statt. Im August erließ Heinrich zwei Privilegien, die den Speyerer Bürgern wichtige stadtbürgerliche Freiheitsrechte brachten. Das erste Privileg datiert vom 7. August, dem Beisetzungstag Kaiser Heinrichs IV., das andere vom 14. August 1111, dem für das liturgische Totengedenken wichtigen siebten Tag danach. Im ersten Privileg werden die Vorstellungen über das Totengedenken für den Vater festgehalten. Die Privilegien für die Bürger der Stadt Speyer gelten als „Meilenstein“ in der Entstehungsgeschichte bürgerlicher Freiheitsrechte. Den Bewohnern wurden zahlreiche Rechte und Vergünstigungen (unter anderem Befreiung von Erbschaftsabgaben und der Abgabe des Bannpfennigs sowie des Schosspfennigs) zugesichert. Keiner anderen Stadt im Reich wurden zu Beginn des 12. Jahrhunderts solch umfassende und weitreichende Freiheiten gewährt. In den beiden Privilegien Heinrichs V. für die Bürger von Speyer werden die Veränderungen im salischen Herrschaftsverständnis gegenüber den drei ersten salischen Herrschern deutlich. Die Zuwendungen galten nicht mehr allein dem Klerus, sondern eine ganze Stadtgemeinde wurde für die salische Memoria verpflichtet. Speyerer Bürgerfreiheit, Rechtsprivilegien und Wirtschaftsaufschwung wurden mit der Erinnerung an Heinrich IV. verknüpft. Das Bestattungsritual besaß für Heinrich eine besondere Bedeutung im Rahmen der Legitimierung seiner Herrschaft. Mit den Begräbnisfeierlichkeiten konnte er sich als loyaler Sohn und legitimer Erbe des verstorbenen Kaisers präsentieren und die dynastische Kontinuität demonstrieren. Zugleich stellte er damit klar, dass sein Königtum nicht nur auf seiner erfolgreichen Rebellion gegen den Vater und der Zustimmung der Fürsten beruhte, sondern auch auf seinem Erbanspruch auf den Thron. Neben Speyer wurde 1114 auch Worms mit Privilegien bedacht, jedoch wurden den Einwohnern, anders als in Speyer, keine persönlichen Freiheiten gewährt. Bruch der konsensualen Ordnung Nach 1111 unterließ Heinrich es zunehmend, für sein königliches Handeln um den herrschaftlichen Konsens zu werben, und erhielt kaum noch Zustimmung. Er ging sogar zur früheren autokratischen Herrschaftspraxis seines Vaters über und verschärfte dadurch den Konflikt. Nach den Ereignissen von 1111 fielen zahlreiche Geistliche von ihm ab, darunter zuerst der Erzbischof Konrad von Salzburg und der Bischof Reinhard von Halberstadt. Zum Bruch kam es auch mit Heinrichs langjährigem Vertrauten Adalbert von Saarbrücken, der seit dem 14. Februar 1106 als Kanzler fungierte. Er übte wesentlichen Einfluss auf die Reichspolitik aus. Adalbert wurde 1109 zum Erzbischof von Mainz bestimmt und begleitete Heinrich auf dem Italienzug 1110/11. Am 15. August 1111 wurde er als Erzbischof von Mainz eingesetzt. Bis 1111 blieb Adalbert der engste Vertraute Heinrichs. Im Prozess der Herrschaftsverdichtung und -expansion überschnitten sich die Besitzungen der Mainzer Kirche mit dem salischen Haus- und Reichsgut am Mittelrhein. Zum Konflikt mit Adalbert kam es anscheinend wegen der königlichen Burg Trifels. Ohne den Konsens der Großen einzuholen, wurde der Erzbischof gefangen genommen und über drei Jahre in strenger Haft gehalten. Erst mit Gewaltandrohung gelang es den Mainzer Bürgern und Vasallen im November 1115, die Freilassung des Erzbischofs zu erzwingen. Nach seiner Freilassung bestand Adalbert nur noch aus Haut und Knochen. Die aus ottonischer Zeit praktizierten Gewohnheiten gütlicher Konfliktbeilegung mit demonstrativer Milde verloren unter Heinrich IV. und Heinrich V. an Bedeutung. Vielmehr versuchten sich diese salischen Herrscher der Milde zu entledigen und eine stärkere königliche Strafgewalt zu etablieren. Adalbert wurde zum großen Gegenspieler der salischen Königsherrschaft. Besitzstreitigkeiten führten auch in Sachsen zu Konflikten. Heinrich versuchte den salischen Herrschaftsbereich wieder auszudehnen und kam damit der fürstlichen Territorialpolitik in die Quere. Nach dem Tod des kinderlosen Grafen Ulrich von Weimar-Orlamünde erhoben zahlreiche sächsische Adlige Ansprüche auf sein Erbe. Heinrich ging jedoch anscheinend davon aus, dass das Erbe an das Reich falle, wenn es keine Nachkommen gebe. Die königliche Auffassung stand der sächsischen Rechtsauffassung entgegen. Heinrich ließ sich zwar die Güter per Fürstenzuspruch zusichern, traf jedoch mit den betroffenen sächsischen Großen keine Absprachen. Zum Bruch kam es auch mit Erzbischof Friedrich von Köln auf einem Feldzug gegen die Friesen, die die Zahlung des jährlichen Tributes verweigerten. Heinrich soll ein Kölner Aufgebot an die Friesen verraten haben. Die Kölner beschwerten sich auch über das strenge Regiment eines seiner Ministerialen. Der Kölner Erzbischof Friedrich beklagte in einem Brief den katastrophalen Zustand der Kirche. Die Bischofssitze in Worms und Mainz waren jahrelang vakant und die weltlichen Rechte der Bischöfe wurden von königlichen Gutsverwaltern (villici) ausgeübt. Doch auch die weltlichen Großen beklagten sich, denn seit 1113 griff Heinrich auf die salische Besetzungspraxis zurück. So wurde erstmals mit Burchhard 1113 im Bistum Cambrai ein Hofkaplan eingesetzt. Auch die Erhebungen Brunings zum Bischof von Hildesheim und Gerhards von Merseburg fanden keinen Konsens beim sächsischen Adel. Die Großen wurden nicht mehr an der Kandidatenfindung beteiligt und ihre Zustimmung wurde vom Kaiser nicht mehr eingeholt. Der Kölner Erzbischof vereinte die Aufständischen im Reich und fiel im Frühjahr 1114 vom Kaiser ab. Zwei kaiserliche Züge gegen die Kölner scheiterten. Die Niederlage in Andernach im Oktober 1114 beendete Heinrichs Präsenz am Niederrhein. Zu Weihnachten 1114 spitzte sich auch in Sachsen die Unruhe gegen den König zu. Der sächsische Herzog Lothar wandte sich erneut von Heinrich ab. Am 11. Februar 1115 besiegte er in der Schlacht am Welfesholz Heinrich vernichtend und beendete damit die salische Herrschaft in Sachsen. Lothar entfaltete fortan eine nahezu königsgleiche Herzogsherrschaft, und die Integrationsfähigkeit von Heinrichs Königtum ging mehr und mehr zurück. Zu dem am 1. November 1115 in Mainz anberaumten Hoftag kam keiner der Fürsten. So schlug sich die mangelnde Akzeptanz des Königtums selbst am Hof nieder. Anberaumte Hoftage mussten mangels Teilnehmern abgesagt werden, was den weiteren Ansehensverlust des Königs verdeutlicht. Das Weihnachtsfest als wichtigen Akt königlicher Herrschaftsrepräsentation feierte Heinrich 1115 in Speyer, umgeben von nur wenigen Getreuen. Dafür gewann der Stauferherzog Friedrich II. zunehmend am Königshof Bedeutung. Währenddessen versammelten sich auf Einladung Adalberts von Mainz zahlreiche Gegner des Kaisers in Köln, um über kirchliche Fragen zu beraten. Die Vorfälle in Rom von 1111 und die Niederlage 1115 gegen die sächsische Opposition lösten die Bindungen zwischen Bischöfen und Herrscher fast völlig auf. Hatte Heinrich IV. noch ein Drittel seiner Urkunden für Bischofskirchen ausgestellt, war es unter Heinrich V. nur noch jede zwölfte, und von den insgesamt 38 Bischofskirchen wurden lediglich 13 bedacht. Anders gestaltete sich Heinrichs Königsherrschaft in Bayern. Nach einem kurzen Aufenthalt 1111 auf dem Rückweg aus Italien war Heinrich bis 1121 nicht mehr in Bayern gewesen. Seine Konflikte in Sachsen und im Rheinland erforderten in diesen Regionen eine stärkere Präsenz. Trotzdem blieb das bayerische Herzogtum „königsnah“. Heinrichs Gegner konnten sich in Bayern nicht behaupten, und die bayerischen Großen suchten den Königshof in anderen Teilen des Reiches auf. Trotz der Ereignisse von 1111 und der Auseinandersetzungen 1115 standen Berengar I. von Sulzbach, Markgraf Diepold von Cham-Vohburg, der Spanheimer Graf Engelbert II. sowie sein Bruder Bischof Hartwig I. von Regensburg und der rapotonische Bischof von Augsburg Hermann zu Heinrich V. als ihrem rechtmäßigen König. Für ihren Königsdienst konnten diese Adeligen auch außergewöhnliche Gegenleistungen erwarten. So stieg der Spanheimer Engelbert II. in der Regierungszeit Heinrichs V. 1108 zum Markgrafen von Istrien und 1124 zum Herzog von Kärnten auf. Hochzeit mit Mathilde von England (1114) Ab 1108 führte Heinrich V. intensive Verhandlungen über eine Ehe mit einer Tochter aus dem englischen Königshaus. Die geplante Eheschließung sollte die Autorität des salischen Königs vermehren und seinen Thron sichern. Zu Ostern 1110 fand in Utrecht seine Verlobung mit der achtjährigen englischen Prinzessin Mathilde statt. Der anglonormannische König Heinrich I. von England zahlte als Mitgift die außerordentlich hohe Summe von 10.000 oder 15.000 Pfund Silber. Dafür brachte ihm die Ehe seiner Tochter mit Heinrich V. einen enormen Prestigegewinn. Am 25. Juli 1110 wurde Mathilde in Mainz von dem Kölner Erzbischof Friedrich zur römisch-deutschen Königin gekrönt. Die Hochzeit wurde am 7. Januar 1114 in Mainz mit größter Prachtentfaltung gefeiert; aus dem ganzen Reich kamen die Fürsten nach Mainz. Nach den Konflikten der vergangenen Jahre schien es dem Salier wieder zu gelingen, die Einmütigkeit mit den Großen zu bekräftigen. Während der Hochzeitsfeier erschien der sächsische Herzog Lothar von Süpplingenburg barfuß und im Büßergewand. Er erhielt für seine Teilnahme an den Erbstreitigkeiten um das Orlamünder Erbe nach einer deditio („Unterwerfung“) die Verzeihung. Es ist in der Königsherrschaft Heinrichs V. der einzige überlieferte Fall einer deditio, die mit den gütlichen Spielregeln der Konfliktführung und -beilegung aus ottonischer Zeit vergleichbar ist. Hingegen ließ er bei den Hochzeitsfeierlichkeiten Graf Ludwig von Thüringen wegen seiner Beteiligung an der sächsischen Opposition gefangen nehmen und einkerkern, „was viele Fürsten gegen den Kaiser aufbrachte“. Wegen der Machtdemonstrationen Heinrichs kam bei den Fürsten keine Feststimmung auf. Ohne Erlaubnis verließen einige Fürsten das Fest, andere nutzten die Gelegenheit zur Verschwörung. Die Ehe mit Mathilde blieb ohne männliche Nachkommen. Eine einzige Quelle überliefert eine Tochter Bertha. Sie wurde 1117 mit dem Grafen Ptolemeo II. von Tusculum verheiratet. Die Verbindung des Kaisers mit der führenden Adelsschicht Roms durch eine Heirat war einzigartig. In der Auseinandersetzung mit dem Papst und im Kampf um die Vorherrschaft in Italien sollten die Tuskulaner als kaiserliche Parteigänger durch diese Ehebindung besonders geehrt werden. Zweiter Italienzug (1116–1118) Der Tod der Markgräfin Mathilde von Tuszien am 24. Juli 1115 veranlasste Heinrich im Februar 1116 nach Italien aufzubrechen, um sich als Erbe den riesigen Güterkomplex in Ober- und Mittelitalien zu sichern. Außerdem sollte die Salierherrschaft in Oberitalien stabilisiert werden. Damit wollte er sich gegenüber der übermächtigen Opposition im nördlichen Reichsteil eine neue Machtbasis schaffen. Für die Zeit seiner Abwesenheit machte Heinrich die staufischen Brüder Friedrich II. und Konrad zu seinen Sachwaltern im deutschen Reichsteil. Nach Italien wurde er nur von einer kleinen Gefolgschaft begleitet. Der zweite Italienzug begann mit einer ganzen Reihe von Gerichtsurkunden, mit denen sich Heinrich in Oberitalien als Gewährsmann für Recht und Gerechtigkeit präsentieren wollte. Die mathildischen Güter konnte Heinrich problemlos übernehmen und auch in den Kommunen Italiens wurde seine Herrschaft weitgehend akzeptiert. Rom hatte für Heinrich bei seinen Italienaufenthalten besondere Bedeutung. Mit fünf Besuchen hat sich kein salischer Herrscher so oft in Rom aufgehalten wie er. Am 21. Januar 1118 starb Papst Paschalis. Daraufhin wurde sein Kanzler Johannes zum Nachfolger gewählt, der sich fortan Gelasius II. nannte. Heinrich ließ den Erzbischof Mauritius von Braga als Gregor VIII. zum Gegenpapst erheben. Braga war damals die Residenzstadt des gerade erst entstehenden Portugal, das dortige Erzbistum war erst kurz zuvor gegründet worden. Die Erhebung des Gegenpapstes führte aber zu einer Verhärtung der Fronten zwischen Heinrich und Gelasius II., der durchaus kompromissbereit war. Gegen seinen Konkurrenten Gelasius II. konnte Gegenpapst Gregor VIII. sich jedoch nicht durchsetzen. Gregor hatte wenig Anhänger und wurde vom Volk auf den Namen „Burdinus“ (dt. „Spanischer Esel“) getauft. Nachdem eine Bannung Heinrichs durch päpstliche Legaten nur begrenzte Wirkung gezeigt hatte, bannte Gelasius II. 1118 selbst den Kaiser. In Würzburg wollten während Heinrichs Abwesenheit die Fürsten den Frieden im Reich wiederherstellen und den König im Falle weiterer Abwesenheit absetzen. Den Italienzug brach Heinrich im Herbst 1118 daraufhin abrupt ab und kehrte ins Reich zurück. Als Stellvertreterin verblieb seine Gemahlin Mathilde in Italien. Den Hoftag in Würzburg konnte der Herrscher verhindern. Seine weitere Aktivität ist jedoch wegen des Fehlens von Königsurkunden bis zum September/Oktober 1119 nicht näher zu bestimmen. Die geringe Akzeptanz seines Königtums belegen der Mangel an königlichen Urkunden und das nahezu unbekannt gebliebene Itinerar des Königshofes, da offenbar niemand Urkunden von ihm erbat. Wormser Konkordat Am 2. Februar 1119 übernahm mit Calixt II. ein neuer Papst das Pontifikat. Am 24. Oktober 1119 verhandelten Papst und Kaiser in Mouzon an der Maas erneut über einen Ausgleich im Investiturstreit. Heinrich wollte weitgehende Zusagen jedoch nur mit der Zustimmung der Fürsten machen. Die Verhandlungen scheiterten daher. Die Begegnung mit dem Papst im Oktober 1119 in Reims gilt als „Schluss- und Wendepunkt in der mittelalterlichen Herrscherbuße“. Bei den Verhandlungen mit der päpstlichen Seite über die Lösung des Banns erschien es Heinrich V. als „hart, ja unerträglich“, sich einem Versöhnungsritual zu unterwerfen, bei dem er vor dem Papst mit nackten Füßen hätte erscheinen müssen. Bußgesinnung und standesgemäße Selbstdarstellung waren nach dem Bußgang seines Vaters nach Canossa von 1077 zur Lösung des päpstlichen Banns nicht mehr miteinander zu vereinbaren, weil sie mit Bedeutungen unterlegt waren, die die Unterordnung unter den Papst symbolisierten. Ob die Verhandlungen an dieser Forderung scheiterten, ist jedoch ungewiss. Erst beim Abschluss des Wormser Konkordats 1122 wurde Heinrich ohne Buß- und Unterwerfungsakt durch einen päpstlichen Legaten wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen. Nach dem Fehlschlag der Verhandlungen stärkte Calixt die Opposition gegen Heinrich V., indem er dem Mainzer Erzbischof Adalbert die päpstliche Legatenwürde verlieh. 1121 drohten die Auseinandersetzungen erneut militärisch zu eskalieren. Heinrich beschloss eine große Heerfahrt gegen Adalbert von Mainz. Der Erzbischof mobilisierte für die Verteidigung von Mainz besonders aus Sachsen ein großes Heer. Die Heere standen sich in Mainz gegenüber. Es waren die Fürsten beider Heere, die Verhandlungen begannen und den Kaiser im Herbst 1121 zum Frieden und Ausgleich mit dem Papst drängten. Der Vorgang gilt als wichtige Entwicklung zur Durchsetzung konsensualer Herrschaftsformen. Die Fürsten begannen als Handlungsgemeinschaft über ein Ende der Konflikte zu verhandeln. Eine Fürstenkommission, die sich aus je zwölf Anhängern und Gegnern Heinrichs V. zusammensetzte, vertrat die Interessen des ganzen Reiches und sollte einen Frieden herbeiführen. Die Fürstenversammlung am 29. September 1121 von Würzburg nannte der Chronist Ekkehard von Aura eine Zusammenkunft von vielen „Häuptern des Staates“ (tot capita rei publicae). Das paritätisch besetzte Gremium zwang den Kaiser zum Frieden mit dem Papst. Am 23. September 1122 kam es auf diese Weise zum später so genannten Wormser Konkordat. Die Bestimmungen des Wormser Konkordats wurden unter den Fürsten ausgehandelt. Mit dem Austausch zweier Urkunden, einer kaiserlichen (Heinricianum) und einer päpstlichen (Calixtinum), wurde der Investiturstreit beendet. Bei der künftigen Einsetzung von Bischöfen sollte zwischen den Temporalien (den weltlichen Gütern und Befugnissen des Bischofs) und den Spiritualien (dessen geistlicher Autorität) unterschieden werden. Die Bischofswahl sollte von „Klerus und Volk“ vorgenommen werden. Heinrich musste im Heinricianum auf das Investiturrecht mit den geistlichen Symbolen von Ring und Stab verzichten. Die Urkunde weist den Vertrag ausdrücklich als politisches Werk der Fürsten aus. Das Reich repräsentierte der König nicht mehr allein, sondern zusammen mit den Fürsten. Das Calixtinum gestattete dem Kaiser die Anwesenheit bei der Wahl der Bischöfe und Äbte. Die Verleihung der Königsrechte („Regalien“) an den Neugewählten durfte Heinrich nur noch mit dem Zepter vornehmen. Am Ende stand die Weihe durch den Metropoliten und die Mitbischöfe. Gescheiterter Frankreichfeldzug Die engen verwandtschaftlichen Beziehungen zum englischen Königshaus zogen Heinrich 1123 in die französisch-normannischen Auseinandersetzungen hinein. Heinrich I. von England bat seinen Schwiegersohn um militärische Unterstützung beim Kampf um die Vorherrschaft in der Normandie. Heinrich V. bereitete im August 1124 mit nur geringer fürstlicher Unterstützung einen Frankreichfeldzug vor. Der Angriff führte in Frankreich zu einem bis dato ungekannten patriotischen Einheitsgefühl, das der französische König Ludwig VI. nutzte, um ein gewaltiges Heer aufzubieten, dem Heinrich nichts entgegenzusetzen hatte. Der Feldzug musste 1124 bei Metz ergebnislos abgebrochen werden. Heinrich kehrte ins Reich zurück. Tod und Nachfolge In der Folgezeit hielt sich Heinrich im Westen des Reiches auf. Das Osterfest 1125 beging er in Lüttich. Am 23. Mai starb er im Alter von etwa 39 Jahren in Utrecht an einer Krebserkrankung. Auf dem Sterbebett vertraute er die Sorge für seine Gemahlin Mathilde und sein Eigentum dem Staufer Friedrich als seinem Erben an. Heinrichs Eingeweide wurden in Utrecht und seine Gebeine im Speyerer Dom bestattet. Speyer verlor als salischer Memorialort an Bedeutung, so dass es mehrere Generationen dauerte, bis Könige die Stadt wieder als Grablege wählten. Die langjährige Exkommunikation des Kaisers war wohl dafür verantwortlich, dass ihn mit Gladbach, einem Reformkloster Siegburger Observanz, und der Reichsabtei Niederaltaich nur zwei Klöster in ihr Totengedächtnis aufnahmen. Mathilde übergab die Reichsinsignien an den Erzbischof von Mainz. Im September 1126 kehrte sie nach England zurück. Der Stauferherzog Friedrich II. galt durch seine verwandtschaftliche Nähe zu Heinrich V. und seine in den letzten Jahren gezeigte Mitwirkung an den Einigungsbemühungen im Reich als aussichtsreicher Kandidat für die Königsnachfolge. Seine Kandidatur auf der Mainzer Wahlversammlung am 24. August 1125 blieb jedoch erfolglos, da er die freie Wahl (libera electio) der Fürsten nicht akzeptieren wollte und sich durch sein allzu siegesgewisses, als hochmütig (ambicone cecatus) empfundenes Auftreten seine Chancen zunichtemachte. Als weitere Anwärter auf die Königswürde galten Markgraf Leopold von Österreich, der Graf von Flandern Karl der Gute und der Sachsenherzog Lothar III., der schließlich gewählt wurde. Nicht mehr erbrechtliche Legitimation bestimmte die Thronfolge im römisch-deutschen Reich, sondern die Wahl der Fürsten. Wirkung Zeitgenössische Urteile Das gewaltsame Vorgehen des Königs gegen den Papst im Jahr 1111 führte einen Stimmungsumschwung herbei. Nun galt die Gefangennahme des Vaters nicht mehr als lobenswerte Entmachtung eines schismatischen Herrschers, sondern wurde unter dem Aspekt des Verrats am leiblichen Vater beurteilt. Erzbischof Adalbert von Mainz empfand die unmittelbar zurückliegende Königsherrschaft Heinrichs V. als „Bedrückung“ von „Kirche und Reich“, die anstehende „Wahl“ solle der Kirche „Freiheit“ und den Menschen „Frieden“ bringen. Besonders französische Quellen beurteilten Heinrich durchweg negativ. Sie stilisierten ihn als Unruhestifter in Kirche und Reich, als Verräter oder als Tyrannen. Für den französischen Abt Suger von Saint-Denis war Heinrich ein Unruhestifter im Reich und in der Kirche, der wegen seines Überfalles auf Frankreich 1124 innerhalb eines Jahres den gerechten Tod gefunden habe. Für Suger waren nicht nationale Maßstäbe, sondern das Verhalten des Herrschers gegenüber dem Papst die entscheidende Beurteilungskomponente. Für Gottfried von Vendôme war Heinrich ein zweiter Judas. Für Richard von Cluny war die Kinderlosigkeit Heinrichs die gerechte Strafe für den Verrat am Vater. Für Hermann von Tournai hat der Deutsche sich in Rom des lange vorher geplanten Verrates und der Treulosigkeit schuldig gemacht („proditio et perfidia diu premeditata“) und sich wie ein Tyrann verhalten. Die Vorgänge in Rom 1111 wurden in der gesamten lateinischen Christenheit diskutiert. Die französischen Annalen überliefern über Heinrich vielfach nur die Gefangennahme des Papstes. Die Ereignisse von 1111 fanden bis in das äußerste westliche Europa ein Echo. Das bretonische Chronicon Kemperlegiense des Klosters Quimperlé erwähnte mit der Gefangennahme des Papstes zum ersten Mal überhaupt einen Kaiser: „Kaiser Heinrich kam nach Rom, nahm Paschalis durch Verrat gefangen und zwang ihn zu einem Eid“. Forschungsgeschichte Die Historiker des 19. Jahrhunderts suchten nach den Gründen für die verspätete Entstehung des deutschen Nationalstaats im Mittelalter. Die Könige und Kaiser des Mittelalters identifizierten sie als frühe Repräsentanten der auch für die Gegenwart ersehnten starken monarchischen Gewalt. In dem Geschichtsbild, das im 19. und bis tief ins 20. Jahrhundert vorherrschte, galt das Kaiserreich in seinen Anfängen unter den Ottonen, Saliern und Staufern als überaus mächtig und dominierend in Europa. Diese Stellung sei den Kaisern aber im Laufe des Mittelalters verloren gegangen und das habe in die Kleinstaaterei des Alten Reiches geführt. Erst mit der Gründung des Nationalstaates 1871 habe die einstige Macht wieder errungen werden können. Nach dieser Ansicht begann die Herrschaft der Könige und Kaiser bereits im 11. Jahrhundert zu bröckeln. Die deutschen Fürsten mit ihren partikularen Interessen und das Papsttum mit seinem Streben nach Vorrangstellung galten als „Totengräber“ der Kaisermacht. In dieser Meistererzählung wurde die Zeit Heinrichs V. als wichtiger Abschnitt des beklagenswerten Verlusts der monarchischen Gewalt angesehen. Die Forschung charakterisierte Heinrich als bösartig und hinterlistig. Maßgeblich für dieses Urteil waren zwei Schlüsselereignisse: Die Empörung Heinrichs gegen seinen Vater von 1104 bis 1106, die zur Absetzung des Kaisers führte, und die Gefangennahme des Papstes 1111. Die Absetzung Heinrichs IV. wurde von der Forschung als Tragödie für das Salierhaus gedeutet und der kaltblütigen Machtgier des Königssohnes zugeschrieben. Ausgerechnet in dem Moment, als Heinrich IV. gegen die eigensüchtigen Fürsten seine Königsherrschaft stabilisieren konnte, ließ sich sein Sohn Heinrich V. durch junge Adlige zum Aufstand verleiten und schwächte dadurch entscheidend das Königtum. Die listvolle Entmachtung des Vaters wurde von Karl Hampe gar als „die teuflischste Tat der ganzen deutschen Geschichte“ bezeichnet. Noch in den 1980er Jahren hob Carlo Servatius Heinrichs „skrupellose Brutalität, verborgen unter dem Deckmantel kirchlicher Gesinnung und hinter der Maske eines gewinnenden Äußeren“ hervor. Seit den 1980er Jahren ist die Mittelalterforschung zu zahlreichen neuen Einsichten über das 12. Jahrhundert gelangt. Königsherrschaft wird seither als ein Miteinander von Großen und Herrschern verstanden. Hagen Keller zeigte anhand der schwäbischen Herzöge als Thronbewerber, wie die Idee der Fürstenverantwortung seit dem Investiturstreit stärker hervortrat. Stefan Weinfurter beschrieb die Salierzeit als einen Prozess zunehmender fürstlicher Mitsprache an der Königsherrschaft. Bernd Schneidmüller ordnete das Verhältnis der Großen zum Herrscher im Mittelalter in das Konzept der „konsensualen Herrschaft“ ein. Die Königsherrschaft Heinrichs V. wurde im gesamten 20. Jahrhundert wenig erforscht. Seine Urkunden liegen bislang noch nicht in kritischer Edition vor; ihre im Rahmen des Editionsprojekts erarbeiteten Texte und Regesten sind jedoch bereits digital verfügbar. 1992 sparte die erste Speyerer Salier-Ausstellung Heinrich und den Ausgang der salischen Epoche weitgehend aus. Erst in jüngster Zeit fand Heinrich verstärkte Beachtung. Die Sonderausstellung im „Salierjahr 2011“ griff die Erinnerung an seine Kaiserkrönung von 1111 und seine Privilegierung der Speyerer Bürger im selben Jahr auf. 2013 wurden die Ergebnisse einer Fachtagung über Heinrich V. in einem von Gerhard Lubich herausgegebenen Sammelband veröffentlicht. Eine umfassende Gesamtdarstellung der Zeit Heinrichs V. bleibt allerdings weiterhin ein Desiderat in der Mediävistik. Quellen Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Band 15). Lateinisch und deutsch, herausgegeben und übersetzt von Franz-Josef Schmale und Irene Schmale-Ott. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972, ISBN 3-534-01429-4. Otto von Freising, Walther Lammers (Hrsg.): Chronik oder Die Geschichte der zwei Staaten (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Band 16). Lateinisch und deutsch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960. Literatur Allgemeine Darstellungen Egon Boshof: Die Salier. 5. aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2008, ISBN 3-17-020183-2. Johannes Laudage: Die Salier. Beck, München 2006, ISBN 3-406-53597-6. Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Salisches Kaisertum und neues Europa: die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-20871-5. Stefan Weinfurter: Das Jahrhundert der Salier 1024–1125: Kaiser oder Papst? Thorbecke, Ostfildern 2004, ISBN 3-7995-0140-1. Stefan Weinfurter: Herrschaft und Reich der Salier. Thorbecke, Sigmaringen 1992, ISBN 3-7995-4131-4. Lexikonartikel Monografien und Aufsätze Gerd Althoff: Heinrich V. (1106–1125). In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4, S. 181–200. Jürgen Dendorfer: Heinrich V. Könige und Große am Ende der Salierzeit. In: Tilman Struve (Hrsg.): Die Salier, das Reich und der Niederrhein. Böhlau, Wien 2008, ISBN 978-3-412-20201-9, S. 115–170. (online) Gerhard Lubich (Hrsg.): Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Band 34). Böhlau, Köln. u. a. 2013, ISBN 3-412-21010-2. (online). Gerold Meyer von Knonau: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. 7 Bände, Duncker & Humblot, Berlin 1964, Nachdruck von 1890 bis 1909. (Unentbehrliches Monumentalwerk aus den Jahrbücher der Deutschen Geschichte, die Bände VI bis VII befassen sich mit dem Leben Heinrichs V.) Bernd Schneidmüller: Regni aut ecclesie turbator. Kaiser Heinrich V. in der zeitgenössischen französischen Geschichtsschreibung. In: Franz Staab (Hrsg.): Auslandsbeziehungen unter den salischen Kaisern. Geistige Auseinandersetzung und Politik. Pfälzische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Speyer 1994, S. 195–222. (online) Adolf Waas: Heinrich V. Gestalt und Verhängnis des letzten salischen Kaisers. München 1967. (veralteter Forschungsstand und im Ansatz verfehlt) Stefan Weinfurter: Reformidee und Königtum im spätsalischen Reich. Überlegungen zu einer Neubewertung Kaiser Heinrichs V. In: Stefan Weinfurter: Gelebte Ordnung – Gedachte Ordnung. Thorbecke, Ostfildern 2005, ISBN 3-7995-7082-9, S. 289–333. (grundlegender Aufsatz) Stefan Weinfurter: Salisches Herrschaftsverständnis im Wandel. Heinrich V. und sein Privileg für die Bürger von Speyer. In: Frühmittelalterliche Studien. Bd. 36 (2002), S. 317–335. Weblinks Veröffentlichungen zu Heinrich V. im Opac der Regesta Imperii Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae, Bd. 7: Die Urkunden Heinrichs V. und der Königin Mathilde. Herausgegeben von Matthias Thiel unter Mitwirkung von Alfred Gawlik (digitale Vorab-Edition) Herwig Katzer: 23.05.1125 - Todestag von Kaiser Heinrich V. WDR ZeitZeichen vom 23. Mai 2020. (Podcast) Anmerkungen Kaiser (HRR) Familienmitglied der Salier Heinrich IV. (HRR) Herrscher (12. Jahrhundert) Geboren im 11. Jahrhundert Gestorben 1125 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/DFB-Pokal
DFB-Pokal
Der DFB-Pokal (bis 1943 Tschammer-Pokal) ist ein seit 1935 ausgetragener Fußball-Pokalwettbewerb für deutsche Vereinsmannschaften. Er wird jährlich vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) veranstaltet und ist nach der deutschen Meisterschaft der zweitwichtigste Titel im nationalen Vereinsfußball. Der Sieger des DFB-Pokals wird im K.-o.-System ermittelt. Für die erste Hauptrunde sind jeweils 18 Vereine der Bundesliga und 2. Bundesliga qualifiziert sowie die ersten vier Mannschaften der 3. Liga zum Ende der Vorsaison. Dazu kommen 24 Mannschaften aus den unteren Ligen, in der Regel die Verbandspokalsieger. Die Paarungen werden vor jeder Runde öffentlich ausgelost. Mannschaften, die unterhalb der 2. Bundesliga spielen, erhalten für Partien gegen höherklassige Gegner Heimrecht. Seit 1985 wird das Finale des DFB-Pokals im Berliner Olympiastadion ausgetragen. In der Saison 2022/23 lief die 80. Austragung des Wettbewerbs. Im Endspiel setzte sich RB Leipzig gegen Eintracht Frankfurt durch und gewann damit zum zweiten Mal den Pokal. Geschichte Tschammerpokal Vorgänger des heutigen DFB-Pokals als nationaler Pokalwettbewerb im deutschen Fußball war die 1935 erstmals ausgetragene Deutsche Vereinspokalmeisterschaft, die im Juni 1936 – nach dem damaligen Reichssportführer, Initiator des Wettbewerbs und Stifter der Trophäe, Hans von Tschammer und Osten – den Namen von Tschammer-Pokal erhielt und im Volksmund als Tschammerpokal bezeichnet wurde. Vorbild war der englische Fußball mit seinem alljährlichen Pokalendspiel, das seit 1872 ausgetragen wurde. Der Pokal war als Wanderpokal ausgelegt und sollte in den endgültigen Besitz des Vereins gehen, der diesen erstmals dreimal hintereinander oder viermal insgesamt gewinnt. Am ersten Tschammerpokal, der vom 6. Januar 1935 an ausgespielt wurde, nahmen mehr als 4000 Mannschaften teil. Für die in Gauliga und Bezirksklasse (den höchsten Spielklassen jener Jahre) spielenden Klubs bestand Teilnahmepflicht. Den anderen Vereinen des Reichsfachamts für Fußball war die Teilnahme freigestellt. Die Mannschaften spielten zunächst in Vor-, Zwischen- und Hauptrundenspielen um die Teilnahme an der Schlussrunde, an der die besten 64 Klubs teilnahmen. Die Gauligisten mussten zum Großteil erst in der Hauptrunde in den Wettbewerb eingreifen. Erster Favoritenschreck der deutschen Pokalgeschichte war der Bezirksligist Berolina Berlin, der die Gauligaklubs SC Victoria Hamburg und Vorwärts-Rasensport Gleiwitz besiegen konnte und erst das Achtelfinale gegen den in der Gauliga Hessen spielenden FC Hanau 93 verlor. Die Zuschauer besuchten die Vorrunden-Spiele zunächst verhalten; ab dem Viertelfinale füllten sich die Stadien zufriedenstellend. Am 8. Dezember 1935 wurde im ausverkauften Düsseldorfer Rheinstadion vor 60.000 Zuschauern das erste Endspiel um den deutschen Vereinspokal ausgetragen: der FC Schalke 04 (Vorjahres-Meister) spielte gegen den damaligen Rekordmeister 1. FC Nürnberg. Nürnberg gewann das Spiel mit 2:0. Die Schalker standen auch in den folgenden beiden Jahren jeweils im Endspiel; ihnen gelang im dritten Anlauf der erste Sieg. Nachdem man im Jahr zuvor am VfB Leipzig gescheitert war, konnte Schalke im Januar 1938 durch einen Sieg über Fortuna Düsseldorf erstmals den Pokal gewinnen. Dem Verein gelang damit außerdem als erstem – und lange Zeit einzigem – das Double aus Meisterschaft und Pokal. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich (März 1938) wurden die österreichischen Vereine in Meisterschaft und Pokal in den deutschen Spielbetrieb überführt. Bereits im ersten Jahr zeigte der SK Rapid Wien sein Potential: Er besiegte am 8. Januar 1939 im ausverkauften Berliner Olympiastadion den FSV Frankfurt mit 3:1. Dies war das letzte Pokalendspiel vor dem Zweiten Weltkrieg. Nachdem im Folgejahr der 1. FC Nürnberg erneut Pokalsieger geworden war, gelang dem Dresdner SC um Nationalspieler Helmut Schön 1941 als erster Mannschaft die Titelverteidigung. Der Tschammerpokal wurde 1943 letztmals an einen „Großdeutschen Fußballpokalsieger“ vergeben: Gewinner war die Wiener Vienna, die den Luftwaffen-Sportverein Hamburg in der Stuttgarter Adolf-Hitler-Kampfbahn – der heutigen MHPArena – mit 3:2 nach Verlängerung bezwang. Wegen des Zweiten Weltkriegs blieb es das letzte Pokalendspiel bis 1953. Wiedereinführung als DFB-Pokal nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bis Herbst 1963 noch keine eingleisige Bundesliga als höchste Spielklasse. Andere Wettbewerbe hatten deshalb mehr Gewicht. 1952 rief der Deutsche Fußball-Bund (DFB) den Vereinspokal für Westdeutschland wieder ins Leben. Die Bezeichnung DFB-Vereinspokal war bis in die 1980er Jahre – zur Abgrenzung vom Länderpokal – üblich. Inzwischen hat sich die Kurzform DFB-Pokal durchgesetzt. Als Trophäe diente bis 1964 der Tschammer-Pokal, bei dem das zuvor aufgebrachte Hakenkreuz durch eine Platte mit DFB-Symbolik ersetzt war. In den ersten Jahren des neuen Pokalwettbewerbs wurden der nationalen Endrunde die Pokalwettbewerbe der Regionalverbände, also Berliner Pokal, Norddeutscher Pokal, Süddeutscher Pokal, Südwestdeutscher Pokal sowie Westdeutscher Pokal, vorgeschaltet. Teilweise qualifizierten sich auch die Teilnehmer am Endspiel um die deutsche Meisterschaft sowie der Deutsche Amateurmeister für die Endrunde des DFB-Pokals. Erster Gewinner des Nachkriegs-Vereinspokals war Rot-Weiss Essen um Weltmeister Helmut Rahn, das Alemannia Aachen im Finale in Düsseldorf mit 2:1 besiegte. In den Jahren 1956 bis 1963 wurde der Wettbewerb innerhalb eines Kalenderjahres ausgetragen. Beim Pokal von 1956 fand zunächst nur das Finale in der zweiten Jahreshälfte statt. Bis 1963 fanden alle nationalen Hauptrunden im zweiten Kalenderhalbjahr statt. Ab 1963/64 wurde der Wettbewerb wieder in die Fußballsaison integriert, was nicht unbedingt ein eigener DFB-Entschluss war. Vielmehr verlangte die UEFA in der Saison erstmals, dass die Mitgliedsverbände ihre Meister und Pokalsieger bis spätestens 24. Juni zur Teilnahme an den Europapokalwettbewerben melden sollten. Darüber wird in der Fachpresse im Frühjahr 1963 des Öfteren diskutiert und es wird einhellig daraus geschlossen, dass man den Pokal nun halt terminlich anders organisieren müsse. In den elf Jahren von der Wiederbelebung des deutschen Vereinspokals bis zur Einführung der Fußball-Bundesliga im Jahr 1963 wurden insgesamt neun verschiedene Mannschaften Pokalsieger. Zwei Mannschaften gelang es in diesen Jahren, den Titel zweimal zu gewinnen: dem Karlsruher SC (1955 und 1956) und dem VfB Stuttgart (1954 und 1958). In diese Zeit fällt außerdem der erste, damals noch sehr überraschende, Pokalsieg des heutigen Rekordsiegers FC Bayern München. Der DFB-Pokalsieg von Schwarz-Weiß Essen im Jahr 1959 war eine große Überraschung. Die Essener, die erst zur Saison 1959/60 aus der 2. Liga in die Oberliga West aufgestiegen waren, schlugen im Dezember im Halbfinale den Hamburger SV mit 2:1 nach Verlängerung. Das am 27. Dezember 1959 stattfindende Endspiel gewannen sie mit 5:2 gegen Borussia Neunkirchen. Am 26. Dezember 1952 wurde mit dem Achtelfinal-Spiel FC St. Pauli gegen den Duisburger Stadtteilverein Hamborn 07 auf dem Hamburger Heiligengeistfeld (im damaligen, später verlegten Millerntor-Stadion) das erste Fußballspiel im deutschen Fernsehen live übertragen. Die Hamborner gewannen die torreiche Partie mit 4:3. Der DFB-Pokal nach Einführung der Bundesliga Mit Einführung der Bundesliga im Jahr 1963 durften die Bundesligisten automatisch am Pokalwettbewerb teilnehmen. Eine weitere Neuerung bestand darin, dass der DFB-Pokal nun mit der Saison synchronisiert wurde und das Endspiel, quasi als krönender Abschluss, im Mai oder Juni nach Ende der Meisterschaft stattfand. Hierdurch wurde der Wettbewerb stark aufgewertet, nachdem er lange Zeit als so genanntes „Stiefkind des DFB“ ein Schattendasein geführt hatte, mit Endspielen im Winter oder Herbst (zum Beispiel 1961 an einem Mittwochabend vor kaum 10.000 Zuschauern, selbst die Fachpresse berichtete nur knapp). In der Saison 1965/66 wurde der gerade erst in die Bundesliga aufgestiegene FC Bayern München überraschend Pokalsieger. Auf dem Weg zum Titelgewinn bezwang er dabei in der Qualifikationsrunde des DFB-Pokals den Titelverteidiger Borussia Dortmund, der in derselben Saison als erster deutscher Klub Europapokalsieger werden konnte, mit 2:0. Ein Jahr später konnten die Münchner ihren Triumph wiederholen und den Pokal verteidigen. Nachdem der Pokal 1968 vom 1. FC Köln im Endspiel gegen den damaligen Regionalligisten VfL Bochum gewonnen wurde, erreichte der FC Bayern München 1969 den vierten DFB-Pokalsieg. Damit wurde der Verein alleiniger Rekord-Pokalsieger und löste den vorherigen Rekordhalter 1. FC Nürnberg mit seinen drei gewonnenen Titeln (darunter zwei Tschammer-Pokalsiege) ab. Ein Jahr darauf wurde mit den Offenbacher Kickers erstmals ein Zweitligist Pokalsieger. Da die Fußball-Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko bereits am 31. Mai begann, entschied sich der DFB dafür, das Achtelfinale und die folgenden Spiele des DFB-Pokal-Wettbewerbs 1969/70 erst in der Sommerpause nach dem WM-Turnier auszutragen. Da die Offenbacher Kickers in der Saison 1969/70 in die Bundesliga aufstiegen, waren sie zum Zeitpunkt des Endspiels (zwischen dem 3. und 4. Spieltag der Saison 1970/71) jedoch schon Bundesligist. Zu einem der denkwürdigsten Pokalendspiele entwickelte sich das Finale 1973, in dem sich Borussia Mönchengladbach und der 1. FC Köln gegenüberstanden. Im Vorfeld stand der bevorstehende Wechsel des Gladbacher Spielers Günter Netzer zu Real Madrid im Vordergrund. Trainer Hennes Weisweiler war über den Wechsel so verärgert, dass er seinen Spielmacher auf die Bank setzte. Als es nach der regulären Spielzeit 1:1 unentschieden stand, wechselte sich Netzer – wie er später zugab – zu Beginn der Verlängerung jedoch selbst ein und erzielte bei seinem zweiten Ballkontakt nach nur drei Minuten das entscheidende 2:1. Der Siegtreffer wurde später zum „Tor des Jahres“ gewählt. Mit Einführung der zweigeteilten 2. Bundesliga in der Saison 1974/75 wurde das Qualifikationssystem für die Teilnahme am DFB-Pokal geändert. Neben den Teilnehmern aus der Bundesliga und 2. Bundesliga waren fortan die Landesverbände für die Ermittlung und Benennung der „Amateurteilnehmer“ über die Austragung eines Verbandspokals zuständig. Zudem wurde das Teilnehmerfeld des DFB-Pokals auf 128 Mannschaften ausgedehnt. Die erfolgreichen Vereine ab Mitte der 1970er Jahre waren Eintracht Frankfurt mit Pokalsiegen 1974 und 1975, der 1976 erfolgreiche Hamburger SV sowie der 1. FC Köln, dem nach dem Pokalgewinn 1977 und der Titelverteidigung 1978 sogar das Double aus Pokalsieg und Meisterschaft gelang. Der Pokal etabliert sich Gegen Ende der 1970er Jahre entwickelte sich Fortuna Düsseldorf zu einer typischen „Pokalmannschaft“. Nachdem 1978 noch das Finale des DFB-Pokals mit 0:2 gegen den Deutschen Meister 1. FC Köln verloren wurde, gewann man den Pokal ein Jahr darauf durch ein 1:0 nach Verlängerung gegen Hertha BSC. Es war Düsseldorfs erster Sieg im sechsten Finale nach den Niederlagen 1937, 1957, 1958, 1962 und 1978. Da der 1. FC Köln 1978/79 im Europapokal der Landesmeister antrat, wurde die Fortuna als Teilnehmer für den Europapokal der Pokalsieger nominiert, wo sie erst im Finale gegen den FC Barcelona mit 3:4 nach Verlängerung scheiterte. Auch im Jahr 1980 hielt die Erfolgsserie von Fortuna Düsseldorf an, und man konnte den Titelerfolg durch einen 2:1-Sieg im Endspiel gegen den 1. FC Köln wiederholen. Ab 1982/83 nahmen nur noch 64 (vorher 128) Mannschaften am DFB-Pokal teil: die jeweils 18 Erst- und Zweitligisten des Vorjahres, die 16 Verbandspokalsieger, sowie 12 weitere Vereine (unterschiedlich: Zweitliga-Aufsteiger, Teilnahme der Zweitliga-Aufstiegsrunde, Platz 1–4 der 3. Liga, Sieger der Amateurmeisterschaft, weitere Vertreter der mitgliedsstärksten Verbände). Eine besondere Kuriosität prägte den DFB-Pokalwettbewerb in der Saison 1982/83: Zum bislang einzigen Mal kamen beide Finalisten aus derselben Stadt. Im Müngersdorfer Stadion standen sich der Bundesligist 1. FC Köln und der Zweitligist SC Fortuna Köln gegenüber. Der FC als favorisierter Bundesligist gewann das Finale mit 1:0. 1984 wurde nach äußerst spektakulären und torreichen Halbfinalspielen zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen (5:4 n. V.) sowie FC Schalke 04 gegen FC Bayern München (6:6 n. V., 2:3) im Endspiel der DFB-Pokalsieger erstmals in einem Elfmeterschießen ermittelt, nachdem es auch nach Verlängerung 1:1 gestanden hatte. Zum tragischen Helden wurde der noch für Borussia Mönchengladbach spielende Lothar Matthäus, dessen bevorstehende Wechsel zum Endspielgegner Bayern München kurz zuvor bekannt gegeben worden war. Matthäus verschoss als erster Schütze seinen Elfmeter und die Münchener gewannen nach einem weiteren Fehlschuss des Gladbachers Norbert Ringels das Finale mit 7:6 im Elfmeterschießen. Auch in den nächsten beiden Jahren stand der FC Bayern München im Finale um den DFB-Pokal, welches seit 1985 alljährlich im Berliner Olympiastadion ausgetragen wird. Nachdem 1985 noch der Außenseiter Bayer 05 Uerdingen mit 2:1 die Oberhand behalten hatte, holten die Münchener 1986 ihren achten Pokaltitel durch ein 5:2 über den VfB Stuttgart. In der Folgesaison stand mit Zweitligist Stuttgarter Kickers erneut eine Stuttgarter Mannschaft im Endspiel. Die Kickers unterlagen dem Bundesligisten Hamburger SV trotz 1:0-Führung mit 1:3. Wiedervereinigung bis 2011 In der Saison 1989/90 wurden die Achtelfinals am 9. November 1989 ausgetragen. Nachdem zunächst die Viertelfinalteilnehmer des DFB-Pokals ermittelt worden waren und beispielsweise der VfB Stuttgart den FC Bayern München im Südderby mit 3:0 aus dem Pokal geworfen hatte, wurde im späteren Verlauf des Abends die Berliner Mauer geöffnet. Trotz Wiedervereinigung wurde der DFB-Pokal in der Saison 1990/91 noch ausschließlich mit Vereinen aus den alten Bundesländern und West-Berlin ausgetragen, da die Vereine des Fußballverbands der DDR erst danach in den DFB-Spielbetrieb eingegliedert wurden. Im Endspiel jener Saison besiegte Werder Bremen den 1. FC Köln mit 4:3 im Elfmeterschießen, nachdem es 1:1 nach Verlängerung gestanden hatte. Mit der Saison 1991/92 nahmen die ostdeutschen Vereine erstmals am DFB-Pokal teil. In der Deutschen Demokratischen Republik war zuvor seit 1949 mit dem FDGB-Pokal ein eigener Pokalwettbewerb ausgespielt worden. Für die Teilnahme am ersten gesamtdeutschen Pokalwettbewerb gab es für die Vereine des Nordostdeutschen Fußballverbandes zunächst eine über drei Runden gehende Qualifikation. Das Finale um den Pokal 1992 gewann Zweitligist Hannover 96 nach einem torlosen Remis mit 4:3 im Elfmeterschießen gegen die Mannschaft von Borussia Mönchengladbach. In der Zeit von 1992 bis 2011 gelang es neben Hannover 96 insgesamt sieben anderen unterklassigen Mannschaften, ins DFB-Pokalfinale vorzustoßen: den Amateuren von Hertha BSC 1993, Rot-Weiss Essen 1994, VfL Wolfsburg 1995, Energie Cottbus 1997, 1. FC Union Berlin 2001, Alemannia Aachen 2004, MSV Duisburg 2011. Mit Ausnahme von Hannover 96 gingen jedoch alle als Verlierer vom Platz. Nach dem Pokalsieg des VfB Stuttgart im Endspiel gegen Energie Cottbus in der Saison 1996/97 dominierten in den Folgejahren bis 2011 mit Bayern München (acht Titel), dem FC Schalke 04 und Werder Bremen (je drei Titel) drei Vereine maßgeblich den Wettbewerb. Mehrfach trafen diese Mannschaften in verschiedenen Konstellationen im Halbfinale oder im Endspiel aufeinander. Zudem gewannen in dieser Zeit einmal Werder Bremen (2004) und sechsmal der FC Bayern München (2000, 2003, 2005, 2006, 2008 und 2010) das Double aus Meisterschaft und Pokalsieg. Lediglich 2007 gewann mit dem 1. FC Nürnberg (3:2 n. V. gegen den VfB Stuttgart) ein anderer Verein den DFB-Pokal. Im November 2011 verhandelte das Sportgericht des DFB die Ausschreitungen von Dynamo-Dresden-Fans und fällte das Urteil, dass der DFB-Pokal 2012/13 ohne den Zweitligisten stattfinden solle, hob diese Strafe aber wieder auf, nachdem Dynamo Dresden gegen das Urteil in Berufung gegangen war. Bei einem Spiel gegen Borussia Dortmund am 25. Oktober hatten Fans bzw. Ultras Böller und Raketen gezündet und so mehrfach eine Spielunterbrechung provoziert. Insgesamt hatte es 17 Verletzte, 15 Festnahmen und einen Sachschaden von 150.000 Euro gegeben. Jüngere Vergangenheit Die folgenden Jahre war der DFB-Pokal vor allem ein Titelkampf zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund: Zunächst schaffte 2012 mit Borussia Dortmund (5:2 gegen Bayern München) ein weiterer Verein das Double. Im Jahr darauf unterlag Dortmund im Viertelfinale mit 1:0 dem späteren Triple-Gewinner (Meisterschaft, DFB-Pokal, Champions League) Bayern München. 2014 gewann der FC Bayern München das Endspiel gegen den BVB mit 2:0 n. V. und holte damit das 10. Double seiner Vereinsgeschichte. Im folgenden Jahr trafen die beiden Vereine im Halbfinale aufeinander, das Dortmund nach einem kuriosen Elfmeterschießen, in dem alle vier ausführenden Bayern-Spieler ihre Elfmeter vergaben, gewann. Im Finale unterlag Dortmund schließlich mit 1:3 dem VfL Wolfsburg, der seinerseits in den zwei Jahren zuvor jeweils im Halbfinale noch gegen Bayern München sowie Borussia Dortmund ausgeschieden war. Wolfsburg feierte so den ersten Pokalsieg seiner Vereinsgeschichte. Ein Jahr später holte sich der FC Bayern München sein elftes Double nach einem 4:3-Sieg im Elfmeterschießen gegen Borussia Dortmund. 2017 wurde wieder Borussia Dortmund Pokalsieger im Endspiel gegen Eintracht Frankfurt, nachdem der BVB im Halbfinale Bayern München besiegt hatte. Im folgenden Pokalwettbewerb trafen zum Abschluss des Fußballjahres 2017 Bayern München und Borussia Dortmund bereits im Achtelfinale aufeinander. Es war das siebte Jahr in Folge, dass es zu dieser Begegnung im Pokalwettbewerb kam. Bayern München gewann gegen den BVB mit 2:1. Eintracht Frankfurt wiederum schaffte es 2018 erneut ins Finale und triumphierte dort über München mit 3:1 und sicherte sich dadurch den ersten Pokal-Titel nach 30 Jahren. Nach zwei weiteren Pokalsiegen des FC Bayern München (2019 und 2020) sowie einem Dortmunder Titel (2021) gewann RB Leipzig zweimal in Folge den Pokal, nachdem sie bereits 2019 und 2021 das Pokalfinale erreicht hatten. Regelwerk Wettbewerbsregelungen Alle Spiele im DFB-Pokal werden nach aktuellem Regelwerk über eine reguläre Spielzeit von 2 × 45 Minuten ausgetragen. Der Sieger eines Spiels zieht in die nächste Runde ein. Steht es nach der regulären Spielzeit unentschieden, wird das Spiel um 2 × 15 Minuten verlängert. Steht es auch nach der Verlängerung noch remis, wird der Sieger in einem Elfmeterschießen ermittelt. Die zeitweilig bei anderen Wettbewerben geltenden Modi Golden Goal und Silver Goal wurden im DFB-Pokal nicht angewandt. Bis 1991 wurde bei einem Unentschieden nach Verlängerung zunächst kein Elfmeterschießen durchgeführt, sondern ein Wiederholungsspiel angesetzt. Dabei kehrte sich das Heimrecht um. Erst wenn es auch im Wiederholungsspiel nach Verlängerung unentschieden stand, kam es zum Elfmeterschießen. In den Spielzeiten 1971/72 sowie 1972/73 wurde der Pokal generell mit Hin- und Rückspiel ausgetragen. Nachdem das Endspiel im Jahre 1977 zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Köln nach Verlängerung 1:1 endete und erstmals in der Geschichte des DFB-Pokals binnen zwei Tagen ein Wiederholungsspiel angesetzt werden musste, modifizierte man diese Regelung, da eine so kurzfristige Spielansetzung erhebliche logistische Probleme mit sich brachte. Ab der Saison 1977/78 wurden zunächst die Endspiele bei unentschiedenem Spielstand nach Verlängerung sofort per Elfmeterschießen entschieden. Dies war bisher 1984, 1991, 1992, 1999, 2016 und 2022 der Fall. Nach Verlängerung waren die Endspiele der Jahre 1979, 2007, 2008 und 2014 entschieden. Seit der Saison 1991/92 wird in jeder Runde bei unentschiedenem Spielstand nach Verlängerung sofort ein Elfmeterschießen durchgeführt. Seit dem Achtelfinale der Spielzeit 2016/17 ist im Falle einer Verlängerung eine vierte Auswechslung möglich. Eine weitere regeltechnische Änderung wurde 2017/18 eingeführt: Als zusätzliche Hilfe für die Schiedsrichter wird seither der Video-Assistent eingesetzt. Dabei werden nicht sämtliche strittige Szenen vom Video-Assistenten bewertet, sondern nur solche, bei denen es um mögliche Tore, Rote Karten (nicht aber Gelb-Rote Karten), Elfmeter oder Spielerverwechslungen geht. Zudem musste eine eindeutige und offensichtliche Fehlentscheidung des Schiedsrichters vorliegen. Ein Einsatz des Video-Assistenten galt in den ersten drei Runden aufgrund des großen technischen Aufwands als nicht machbar; er kam daher erst ab dem Viertelfinale zum Einsatz. In der Spielzeit 2019/20 wurde der Video-Assistent erstmals bereits im Achtelfinale genutzt. Teilnehmer Seit der Saison 2000/01 sind die Vereine der Bundesliga wieder verpflichtet, geschlossen an der ersten Hauptrunde teilzunehmen. Dies beschloss der Beirat des Deutschen Fußball-Bundes auf seiner Sitzung am 23. Oktober 1999. Der Titelverteidiger ist nicht explizit als solcher qualifiziert, auch wenn er sich in der Regel unter den 64 Qualifikanten befindet. Qualifiziert sind die 40 Mannschaften, die in der Vorsaison in der ersten und zweiten Bundesliga spielten bzw. die ersten vier Plätze in der 3. Liga belegt haben. Weiterhin qualifizieren sich 24 Mannschaften über die Pokalwettbewerbe der Landesverbände des DFB. Dies sind die 21 Verbandspokalsieger sowie drei weitere Vertreter aus den drei Landesverbänden, denen die meisten Herrenmannschaften angehören. Das sind aktuell Bayern, Westfalen und Niedersachsen. Meist handelt es sich bei diesen Mannschaften um die Zweitplatzierten des jeweiligen Landespokals. Allerdings darf sich seit 2008 jeder Verein beziehungsweise jede Kapitalgesellschaft nur mit einer Mannschaft für den DFB-Pokal qualifizieren, was insbesondere Zweitmannschaften von Bundesligisten von der Teilnahme am DFB-Pokal ausschließt. Nicht nutzbare Qualifikationsplätze aus der 3. Liga gehen infolgedessen an die in der Tabelle nächstplatzierte teilnahmeberechtigte Mannschaft und die aus den Verbandspokalwettbewerben an die im Wettbewerb nächstplatzierte teilnahmeberechtigte Mannschaft. Belegt ein Verein im Verbandspokalwettbewerb einen Qualifikationsplatz, obwohl er sich schon über die 3. Liga für den DFB-Pokal qualifiziert hat, so rückt der nächstplatzierte Teilnahmeberechtigte dieses Pokalwettbewerbs nach. Bei den meisten Verbandspokalwettbewerben sind die Gewinner der Kreispokalwettbewerbe direkt qualifiziert, aber es gibt in einigen Regionen zwischen dem Kreis- und Verbandspokal zusätzliche Bezirkspokalwettbewerbe, die der Kreispokalsieger ebenfalls gewinnen muss, um beim Verbandspokal antreten zu dürfen. Das bedeutet, dass für die erste Herrenmannschaft jedes Vereins, selbst wenn sie in der untersten Liga spielt, die theoretische Möglichkeit besteht, beim DFB-Pokal antreten zu dürfen. Bis zur Saison 2007/08 war es möglich, dass zwei Mannschaften eines Vereins im DFB-Pokal aufeinandertreffen. In der Saison 1976/77 spielten im Achtelfinale die Profi- und die Amateurmannschaft des FC Bayern München gegeneinander; die Profis gewannen das Spiel mit 5:3. Nachdem die Amateure des VfB Stuttgart in der 2. Runde des Wettbewerbs 2000/01 die eigene Lizenzspielermannschaft zugelost bekamen (und 0:3 verloren), reagierte der DFB mit der Einführung einer Neuregelung, die seitdem das Aufeinandertreffen von Profi- und Amateurmannschaften desselben Vereins vor dem Finale verhinderte. Mit der Einführung der 3. Liga zur Saison 2008/09 wurde die Teilnahme von Zweitmannschaften von Lizenzvereinen am Pokal ausgesetzt. Seitdem darf grundsätzlich nur eine Mannschaft eines Vereins bzw. einer Kapitalgesellschaft am DFB-Pokal teilnehmen. Jeder der 64 Teilnehmer an der ersten DFB-Pokalhauptrunde erhält mindestens 109.000 Euro aus dem Fernseh-Einnahme-Pool. Mit dem Vordringen in jede weitere Runde verdoppelt sich dieser Betrag jeweils. Bei jedem live übertragenen Pokalspiel wurden zudem 650.000 Euro ausgeschüttet, die im Verhältnis 60:40 zwischen Gastgeber und Gast aufgeteilt werden. Für die Saison 2011/12 wurden die Übertragungsrechte für den DFB-Pokal von dem Pay-TV-Sender Sky und den öffentlich-rechtlichen ARD und ZDF erworben. Bei Sky werden alle 63 Spiele live sowie in der Konferenz übertragen, ARD und ZDF präsentieren jeweils ein Spiel pro Pokalrunde. Darüber hinaus erhalten die Pokalteilnehmer Einnahmen aus dem Verkauf von Eintrittskarten und der Bandenwerbung, die sich Gastgeber und Gäste nach Abzug der Kosten jeweils zur Hälfte teilen. Besonders für kleinere Vereine ist die Teilnahme am DFB-Pokal somit finanziell lukrativ. Jedoch ist die Teilnahme auch mit hohen Auflagen insbesondere an die Organisation und die Spielstätte verbunden. Dies kann für kleinere Vereine eine Belastung darstellen und in manchen Fällen auch die Austragung des eigenen Heimspiels in einem fremden Stadion nötig machen, was wiederum oft mit hohen Kosten verbunden ist. Zudem müssen Amateurvereine in der ersten Runde meist eine hohe Solidaritätsabgabe an ihren jeweiligen Landesverband tätigen. Da Amateurvereine häufig bereits nach der ersten Runde ausscheiden, bleibt ihnen daher nicht selten nur ein relativ kleiner Gewinn oder gar ein finanzieller Verlust. Auslosung Die Paarungen der ersten Runde werden aus zwei Lostöpfen gezogen. Der erste enthält die Mannschaften der Bundesliga und die 14 Bestplatzierten der 2. Bundesliga der Vorsaison. Im zweiten Lostopf befinden sich 24 Landesverbandsvertreter, die vier letztplatzierten Teams der 2. Bundesliga sowie die vier bestplatzierten Mannschaften der 3. Liga der Vorsaison. Mannschaften des zweiten Lostopfs haben Heimrecht. Ein Tausch des Heimrechts ist laut § 49 der Durchführungsbestimmungen grundsätzlich nicht zulässig; aufgrund des hohen wirtschaftlichen und organisatorischen Aufwands infolge der Covid-19-Pandemie wurde diese Regel in der Pokalsaison 2020/21 aber ausgesetzt und den Amateurvereinen ausnahmsweise die Abtretung des Heimrechts erlaubt. Bei der Auslosung zur zweiten Hauptrunde wird wiederum aus zwei Töpfen gelost. Im ersten sind die Vereine der 1. und 2. Liga enthalten, im zweiten die übrigen Mannschaften. Ihnen fällt gegen Erst- und Zweitligisten wieder das Heimrecht zu. Dabei gilt der Status im Spieljahr des auszulosenden Wettbewerbs. Überzählige Mannschaften aus einem der beiden Lostöpfe werden danach untereinander gepaart. Ab dem Achtelfinale wird nur noch aus einem Lostopf gezogen. Wie in der zweiten Runde haben Vereine unterhalb der 2. Liga gegen Erst- und Zweitligisten das Heimrecht. Seit der Saison 2017/18 finden die Auslosungen grundsätzlich am Sonntag nach der jeweiligen Pokalrunde ab 18 Uhr im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund statt und werden live in der Sportschau übertragen. Obwohl das Finale auf neutralem Platz stattfindet, wird einer Mannschaft für dieses Spiel das „Heimrecht“ zugelost, allerdings ohne Öffentlichkeit. Das Ergebnis der Auslosung entscheidet im Regelfall über die Zuteilung der Kabinen, der Fankurven und des Areals für das Fanfest. Endspielorte Die Sieger der beiden Halbfinalspiele treffen seit 1985 im Berliner Olympiastadion im Finale aufeinander. Bis 1984 wurde der Endspielort relativ kurzfristig festgelegt, nachdem die Finalisten festgestanden hatten. Gewählt wurde zumeist ein Ort, der geografisch so lag, dass die Fangruppen beider Vereine einen möglichst gleich weiten Anreiseweg hatten. Die häufigsten Austragungsorte bis 1985 waren Hannover (achtmal), Berlin (sechsmal) sowie Düsseldorf, Stuttgart und Frankfurt (je fünfmal). Im Rahmen der Bewerbung um die Austragung der Europameisterschaft 1988 verzichtete der Deutsche Fußball-Bund aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen über die Zugehörigkeit (West-)Berlins zur Bundesrepublik Deutschland bereits frühzeitig auf die Austragung von Spielen in Berlin, um so eine Zustimmung der osteuropäischen UEFA-Verbände für die deutsche EM-Bewerbung zu ermöglichen. Im Gegenzug wurde beschlossen, zukünftige Endspiele des DFB-Pokals zunächst für die nächsten fünf Jahre dort stattfinden zu lassen. Die Entscheidung, das Pokalfinale unabhängig von der Finalpaarung fest in das Olympiastadion im seinerzeit noch geteilten und vom Gebiet der alten Bundesrepublik abgetrennten Berlin zu vergeben, war seinerzeit nicht unumstritten, bewährte sich jedoch schnell. Befürchtungen, viele Fans würden wegen der notwendigen Transitreisen durch die DDR auf einen Besuch des Endspiels verzichten, bewahrheiteten sich nicht. Daher wurde nach Ablauf der ersten Jahre entschieden, das Pokalfinale dauerhaft in Berlin stattfinden zu lassen. Das Berliner Olympiastadion wurde schnell zum „deutschen Wembley“. Der Schlachtruf „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ ist bei den Fans sehr beliebt. Auch fanden die dort ausgetragenen Finals stets vor vollen Rängen statt. Heute ist die Attraktivität des Endspiels so groß, dass viele Fans unabhängig von der Finalpaarung frühzeitig Eintrittskarten bestellen und die zur Verfügung stehenden Kontingente bei weitem nicht ausreichen, um die Nachfrage zu befriedigen. Auch die beteiligten Vereine, die eigene Kartenkontingente für ihre Anhänger erhalten, beklagen zum Teil heftig, dass die riesige Nachfrage nicht angemessen bedient werden könne. Am 3. Juli 2020 unterzeichneten der DFB-Präsident Fritz Keller und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller einen neuen Rahmenvertrag zur Austragung des DFB-Pokalendspiels. Demnach findet das Endspiel weiterhin in Berlin statt. Der neue Vertrag trat am 1. Januar 2021 in Kraft und endet am 31. Dezember 2025. Internationale Qualifikation Ab 1960 qualifizierte sich der Gewinner des DFB-Pokals für den zur Saison 1960/61 eingeführten Europapokal der Pokalsieger. Konnte sich ein nationaler Pokalsieger für die UEFA Champions League (bis 1992 Europapokal der Landesmeister) qualifizieren, nahm der unterlegene Pokalfinalist den Platz im Europapokal der Pokalsieger ein. 1966 konnte Borussia Dortmund als erster deutscher Verein den Europapokal der Pokalsieger gewinnen. Insgesamt gab es vier Siege durch DFB-Pokalsieger: Nach Dortmund konnten noch Bayern München (1967), der Hamburger SV (1977) und Werder Bremen (1992) den Europapokal gewinnen. Zudem erreichten 1860 München (1965, als erster deutscher Verein) und der VfB Stuttgart (1998) als Pokalsieger sowie der HSV (1968) und Fortuna Düsseldorf (1979) als Pokalfinalisten das Endspiel des Europapokals. In den Jahren 1971 bis 1976 nahmen die unterliegenden Pokalfinalisten am UEFA-Cup teil. Seit der Abschaffung des Pokalsieger-Wettbewerbs auf europäischer Ebene aufgrund der nachlassenden Attraktivität für Publikum und Vereine qualifiziert sich der Sieger des DFB-Pokals seit der Saison 1998/99 grundsätzlich für die UEFA Europa League (bis 2009 UEFA-Pokal genannt). Bis zum Pokalwettbewerb der Saison 2010/11 musste der Pokalsieger zunächst an der letzten Qualifikationsrunde (sogenannte Play-off-Runde) zur Hauptrunde der Europa League teilnehmen. Ab der darauf folgenden Saison war die Teilnahme an dieser Play-off-Runde hingegen nicht mehr notwendig, da sich der Pokalsieger direkt für die Hauptrunde der Europa League qualifizierte. Ist der DFB-Pokalsieger bereits anderweitig für einen europäischen Wettbewerb qualifiziert, so gelten Besonderheiten. Bis zur Saison 2014/15 qualifizierte sich der unterlegene Pokalfinalist für die Europa League, wenn der Pokalsieger die Champions League (einschließlich Qualifikation) erreichte. Diese Regelung wurde von der UEFA wieder geändert; es ist nun in jedem Fall notwendig, den DFB-Pokal zu gewinnen, um sich über diesen Wettbewerb für die Europa League zu qualifizieren. Für den bereits qualifizierten Pokalsieger rückt seither nicht mehr der unterlegene Pokalfinalist, sondern der Tabellensiebte der Bundesliga nach und darf zusätzlich am Europapokal teilnehmen. Bis 2020 war dies die zweite Qualifikationsrunde der Europa League, seit 2021 nimmt dieser an den Playoffs zur Europa Conference League teil. Die Trophäe Der Sieger des von 1935 bis 1943 ausgetragenen Tschammerpokals erhielt als offizielle Siegertrophäe den „Goldfasanen-Pokal“. Nachdem der nationale Pokalwettbewerb als DFB-Pokal in den 1950er Jahren wiederbelebt worden war, erinnerte der bisherige Pokal den damaligen Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, Peco Bauwens, zu sehr an die Zeit des Nationalsozialismus. Die Trophäe wurde bis 1964 beibehalten, jedoch wurde das Hakenkreuz entfernt und durch eine Platte mit DFB-Symbolik ersetzt. Der Pokal ist seit Sommer 2015 im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund zu sehen. 1964 wurde der Kölner Künstler Wilhelm Nagel, ein Dozent für Goldschmiedekunst an den Kölner Werkschulen, beauftragt, einen neuen Pokal zu schaffen. Als erste Mannschaft gewann diesen Borussia Dortmund nach dem 2:0 gegen Alemannia Aachen im Endspiel 1965. Die noch heute als Wanderpokal an den DFB-Pokalsieger überreichte Trophäe ist rund 52 Zentimeter hoch, 5,7 Kilogramm schwer und hat ein Fassungsvermögen von acht Litern. Der Pokal besteht aus mit 250 Gramm Feingold feuervergoldetem Sterlingsilber. Dekoriert ist der Pokal mit zwölf Turmalinen, zwölf Bergkristallen und achtzehn Nephriten. Kernstück ist das aus grünem Nephrit geformte DFB-Emblem. Der Sockel der Trophäe bietet Platz für die Eingravierung der siegreichen Mannschaften. Nachdem bis 1991 etwa 700 Buchstaben und Ziffern mit den Jahreszahlen und Namen der Pokalsieger in den Sockel graviert worden waren, musste die Basis des Pokals um fünf Zentimeter erhöht werden, um Platz für weitere Siegergravuren zu schaffen. Die jetzige Sockelfläche reicht mindestens bis zum Jahr 2030. Im Jahr 2002 wurde der DFB-Pokal generalüberholt, nachdem ihn der damalige Schalke-Manager Rudi Assauer nach eigenen Angaben aus Leichtsinn hatte fallen lassen und er dadurch beschädigt wurde. Wochenlang war „der schiefe Pokal zu Schalke“ im Vereinsmuseum ausgestellt, bis er für rund 32.000 Euro repariert wurde; Assauer übernahm die Kosten. Der materielle Wert der Trophäe wird von Kunstexperten auf etwa 35.000 Euro geschätzt. Pokalendspiele und Pokalsieger In der Geschichte des deutschen Vereinspokals errangen 26 verschiedene Vereine den Titel. Erfolgreichster Klub ist der FC Bayern München mit 20 Pokalsiegen, gefolgt von Werder Bremen mit sechs sowie dem FC Schalke 04, Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt mit je fünf Erfolgen. Der 1. FC Nürnberg und der 1. FC Köln können jeweils vier gewonnene Titel aufweisen. Insgesamt 16 Vereine gewannen den Pokal mehrfach. Fünf Mannschaften haben den Pokal als Teil des Doubles aus Pokalsieg und Meisterschaft gewonnen. Als erste Mannschaft siegte 1937 der FC Schalke 04 im gleichen Jahr im Pokalwettbewerb und der deutschen Meisterschaft, die bis 1963 ebenfalls in einem Endspiel entschieden wurde. Seit Einführung der Fußball-Bundesliga gewann Rekordmeister und ‑Pokalsieger Bayern München 13-mal das Double (1969, 1986, 2000, 2003, 2005, 2006, 2008, 2010, 2013, 2014, 2016, 2019 und 2020). Die Bayern konnten zudem als einziger Verein das Double verteidigen (2006, 2014 und 2020) und im Rahmen eines europäischen Triples – bestehend aus nationalem Double und Gewinn der Champions League – gewinnen (2013, 2020). Die weiteren drei Double-Gewinner waren der 1. FC Köln (1978), Werder Bremen (2004) und Borussia Dortmund (2012). Der FC Schalke 04, Fortuna Düsseldorf, Werder Bremen, RB Leipzig und Bayern München (4×) konnten je dreimal hintereinander ins Endspiel um den DFB-Pokal einziehen. Keiner von ihnen konnte jedoch alle drei Spiele gewinnen. Borussia Dortmund erreichte sogar vier Finals (2014–2017) in Folge, verlor davon allerdings drei (2014–2016: zweimal gegen Bayern, einmal gegen den VfL Wolfsburg). Insgesamt achtmal konnten Mannschaften ihren Titel im Folgejahr verteidigen; dem FC Bayern München gelang dieses gleich viermal (1967, 2006, 2014 und 2020). Die häufigste Finalpaarung war bislang das Duell Bayern München – Borussia Dortmund mit vier Partien (2008, 2012, 2014 und 2016), von denen Bayern drei gewinnen konnte. Dreimal (1999, 2000 und 2010) bestritten Bayern München und Werder Bremen die Endspiele gegeneinander, hier waren die Münchener zweimal siegreich. Jeweils zweimal spielte Bayern München im Finale gegen den FC Schalke (1969, 2005), den VfB Stuttgart (1986, 2013), den MSV Duisburg (1966, 1998) und gegen Eintracht Frankfurt (2006, 2018). Ebenso zweimal gab es die Paarung 1. FC Köln – Fortuna Düsseldorf (1978, 1980) sowie Kaiserslautern – Werder Bremen (1961, 1990). Den ersten Titel holte Fortuna Düsseldorf 1979 nach zuvor fünf verlorenen Finalspielen erst im sechsten Anlauf, der 1. FC Kaiserslautern 1990 im fünften Endspiel nach vier Pleiten. Erfolglosester Finalist ist der MSV Duisburg, der sich in seinen vier Endspielen stets geschlagen geben musste. Mit RB Leipzig gewann 2022 erstmals wieder ein Team ohne vorherigen Pokalsieg (zuletzt VfL Wolfsburg im Jahr 2015) die Trophäe. Mit sieben Niederlagen verlor der FC Schalke 04 am häufigsten ein Pokal-Endspiel. Die Gelsenkirchener erreichten insgesamt 12 Endspiele, was nach dem FC Bayern München (24 Endspiele) Platz 2 bei den häufigsten Finalteilnahmen bedeutet. Jeweils zehn Mal erreichten Werder Bremen, Borussia Dortmund und der 1. FC Köln das Finale um den DFB-Pokal. Der Karlsruher SC (1956) und der 1. FC Köln (1983) sind die einzigen Vereine, die ein Endspiel vor heimischer Kulisse gewinnen konnten. Rekordpokalsieger Alleiniger Rekordsieger im DFB-Pokal ist seit 1969 der FC Bayern München mit mittlerweile 20 errungenen Titeln. Zuvor teilte sich der FCB den Titel des Rekordpokalsiegers zwei Jahre lang mit dem 1. FC Nürnberg. Dieser war über 34 Jahre lang deutscher Rekordpokalsieger, darunter mit dem SK Rapid Wien (ein Jahr lang), dem FC Schalke 04 sowie dem FC Bayern München (beide zwei Jahre), dem VfB Leipzig (drei Jahre), dem VfB Stuttgart (vier Jahre), dem Karlsruher SC (sechs Jahre) und dem Dresdner SC über 21 Jahre lang zusammen. Pokalüberraschungen Ein besonderer Reiz des Pokalwettbewerbs ist, dass unterklassige Mannschaften favorisierte Gegner aus der ersten oder zweiten Bundesliga „aus dem Pokal werfen“ können. Daher lautet eine oft zu hörende Floskel: „Der Pokal hat seine eigenen Gesetze.“ Diese Floskel, meist erweitert um das Wort „bekanntlich“, lässt sich bis in die 1960er Jahre dokumentieren, ohne dass auf die Art der „Gesetze“ eingegangen wird. Als Urheber wird häufig der ehemalige Fußballspieler und -trainer Otto Rehhagel genannt, ohne dass diese Aussage für ihn belegt werden kann. Besonders für Amateurvereine kann ein überraschender Sieg gegen einen höherklassigen Gegner zu überregionaler Bekanntheit führen. Erfolge niederklassiger Mannschaften Hannover 96 gewann im Jahr 1992 als Zweitligist den DFB-Pokal, nachdem die Mannschaft mit Borussia Dortmund, dem Karlsruher SC, Werder Bremen, dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach fünf Bundesligisten geschlagen hatte, darunter mit Werder sogar den Titelverteidiger und späteren Gewinner des Europapokals der Pokalsieger. Dies ist bis heute das einzige Mal, dass ein Nicht-Erstligist den DFB-Pokal gewann. Hannover 96-Torwart Jörg Sievers hielt im Halbfinale und im Finale insgesamt vier Elfmeter und verwandelte einen selbst. Zuvor hatte Kickers Offenbach schon als Aufsteiger aus der zweiten Liga den Pokal gewonnen, war aber zur Zeit der Finalrunde bereits in die Bundesliga aufgestiegen. Aufgrund des frühen Beginns der Weltmeisterschaft 1970 war der Pokalwettbewerb größtenteils in den Spätsommer verschoben worden. Weitere Zweitligisten im DFB-Pokalfinale waren Alemannia Aachen 1965 sowie erneut 2004, der VfL Bochum 1968, SC Fortuna Köln 1983, die Stuttgarter Kickers 1987, Rot-Weiss Essen 1994, der VfL Wolfsburg 1995 und der MSV Duisburg 2011. Der SC Fortuna Köln war dabei sogar Teilnehmer beim bislang einzigen Stadtderby im Endspiel, das er gegen den 1. FC Köln mit 0:1 verlor. Der 1. FC Kaiserslautern gewann 1996 den DFB-Pokal, nachdem er eine Woche vorher erstmals aus der Bundesliga abgestiegen war. Der 1. FC Magdeburg erreichte in der Saison 2000/01 das Viertelfinale, nachdem unter anderem in der 2. Hauptrunde der FC Bayern nach Elfmeterschießen ausgeschaltet werden konnte, und war somit der erste Viertligist in der Runde der letzten Acht. Holstein Kiel, 1. FC Saarbrücken und Rot-Weiss Essen wiederholten die Leistung, als Viertligist das Pokal-Viertelfinale zu erreichen 2011/12, 2019/20 und 2020/21. Der 1. FC Saarbrücken stand in der Saison 2019/20 als erster Viertligist im Halbfinale. Zweimal siegte Eintracht Trier im DFB-Pokal der Saison 1997/98 gegen deutlich höherklassige Gegner. Der damalige Regionalligist schlug in der zweiten Runde zunächst den amtierenden UEFA-Pokal-Sieger FC Schalke 04 sowie eine Runde später Champions-League-Sieger Borussia Dortmund. Durch die 10:11-Niederlage im Elfmeterschießen gegen den MSV Duisburg wurde Trier erst im Halbfinale geschlagen. In der Saison 2009/10 schlugen sie Bundesligist Hannover 96 und Zweitligist Arminia Bielefeld, ehe der 1. FC Köln im Achtelfinale Endstation war. Auch in der Saison 2011/12 machte der Pokalschreck seinem Namen alle Ehre, indem er in der ersten Runde den Zweitligisten FC St. Pauli schlug und in der zweiten Runde nur knapp mit 1:2 nach Verlängerung am Hamburger SV scheiterte. 2001/02 bezwang der SSV Ulm 1846 als Verbandsligist den Erstligisten 1. FC Nürnberg mit 2:1. Dies war der bislang einzige Pokalspielsieg eines fünftklassigen Vereines gegen einen Erstligisten. In der Saison 2018/19 gelang es dem SSV Ulm als Viertligisten, Titelverteidiger Eintracht Frankfurt in der 1. Pokalrunde aus dem Turnier zu werfen. Mit der Amateurmannschaft von Hertha BSC (1993) sowie Energie Cottbus (1997) und dem 1. FC Union Berlin (2001) schafften es bisher drei Drittligisten, ein Endspiel zu erreichen. In der ersten Runde des Pokalwettbewerbs 2011/12 holte der Zweitligaaufsteiger Dynamo Dresden zunächst einen 0:3-Rückstand gegen den Vizemeister Bayer 04 Leverkusen auf und drehte in der Verlängerung das Spiel sogar zu einem 4:3-Sieg. Noch nie zuvor in der Historie des DFB-Pokals konnte ein Zweitligist einen so hohen Rückstand gegen einen Bundesligisten wettmachen. Im Achtelfinale desselben Wettbewerbs bezwang der Viertligist Holstein Kiel den Bundesligisten 1. FSV Mainz 05 mit 2:0. In der Saison 2014/15 schaffte der Drittligist Arminia Bielefeld einen Durchmarsch ins Halbfinale. Zuvor hatten die Ostwestfalen drei Erstligisten geschlagen: In der 2. Hauptrunde besiegten sie Hertha BSC im Elfmeterschießen (0:0 n. V., 4:2 i. E.) und schlugen Werder Bremen mit 3:1 im Achtelfinale. Anschließend siegten sie im Viertelfinale gegen Borussia Mönchengladbach mit 5:4 im Elfmeterschießen (1:1 stand es nach Verlängerung) und scheiterten erst im Halbfinale mit einer 0:4-Heimniederlage am späteren Pokalsieger VfL Wolfsburg. In der Saison 2019/20 erreichte der 1. FC Saarbrücken als erster Viertligist in der Geschichte des DFB-Pokals das Halbfinale. In der ersten und zweiten Runde siegten die Saarländer jeweils in letzter Minute mit 3:2 gegen Jahn Regensburg und den 1. FC Köln. Im Achtelfinale konnte man sich mit 5:3 im Elfmeterschießen gegen den Zweitligisten Karlsruher SC durchsetzen. Im Viertelfinale traf man auf den Bundesligisten Fortuna Düsseldorf. Nach regulärer Spielzeit und Verlängerung ging es beim Stand von 1:1 erneut ins Elfmeterschießen, das man mit 7:6 für sich entscheiden konnte. Überragender Mann des Abends war der Saarbrücker Torwart Daniel Batz. Er hielt im gesamten Spiel fünf Elfmeter, einen während der regulären Spielzeit und vier im Elfmeterschießen. Debakel höherklassiger Mannschaften Die höchste Niederlage eines Bundesligisten gegen eine Amateurmannschaft widerfuhr Eintracht Frankfurt in der Saison 2000/01, als man gegen die zweite Mannschaft des VfB Stuttgart mit 1:6 unterlag. Eine klare Niederlage gegen einen niederklassigen Verein hinnehmen musste auch der Bundesligist TSG 1899 Hoffenheim, als er in der ersten Runde der Saison 2012/13 gegen den damaligen Viertligisten Berliner AK 07 mit 0:4 ausschied. Gleich sechs Bundesligisten schieden in der 1. Hauptrunde der Saison 2012/13 gegen unterklassige Vereine aus (Werder Bremen gegen Preußen Münster 2:4 n. V., Eintracht Frankfurt gegen den FC Erzgebirge Aue 0:3, die SpVgg Greuther Fürth gegen Kickers Offenbach 0:2, der Hamburger SV gegen den Karlsruher SC 2:4, die TSG 1899 Hoffenheim gegen den Berliner AK 07 0:4 und der 1. FC Nürnberg gegen den TSV Havelse 2:3 n. V.). Bemerkenswert ist auch, dass keine dieser Partien ins Elfmeterschießen ging. Bereits in der Saison 1987/88 waren sechs Bundesligisten in der 1. Runde ausgeschieden. Dies ist allerdings auch dem Reglement geschuldet, weil damals bereits in der 1. Hauptrunde Bundesligisten einander zugelost werden konnten. Damit schieden zwangsläufig 5 Bundesligisten aus. Dazu kam Hannover 96, das als einziger Erstligist gegen eine unterklassige Mannschaft ausschied (0:3 gegen den damals drittklassigen VfL Wolfsburg). In der ersten Runde des DFB-Pokals 2018/19 besiegte der Fünftligist Chemie Leipzig den Zweitligisten SSV Jahn Regensburg mit 2:1. Auch Titelverteidiger Eintracht Frankfurt schied mit einem 1:2 beim Viertligisten SSV Ulm 1846 aus. Werder Bremen schied von 2011/12 bis 2013/14 dreimal hintereinander in der ersten Runde aus. Als „Mutter aller Pokalsensationen“ gilt der 2:1-Erfolg des nordbadischen Amateurvereines VfB Eppingen in der 2. Runde des Pokalwettbewerbes 1974/75 gegen den damaligen Bundesliga-Spitzenreiter Hamburger SV. Zehn Jahre später unterlagen die Hamburger in der 1. Runde dem württembergischen Oberligisten SC Geislingen mit 0:2. Auch Rekord-Pokalsieger Bayern München musste sich mehrfach unterklassigen Vereinen geschlagen geben. 1978 verlor man zuhause 4:5 gegen den VfL Osnabrück; die meisten Gegentore in einer Pokal-Heimpartie der Bayern bis heute. Zweimal, 1977/78 und 1991/92 sogar zuhause, schied man gegen den Zweitligisten FC 08 Homburg aus. Nachdem der FC Bayern 1990/91 gegen die Mannschaft des nordbadischen FV 09 Weinheim verloren hatte, folgte 1994/95 unter Trainer Giovanni Trapattoni eine 0:1-Niederlage gegen den Regionalligisten TSV Vestenbergsgreuth. In der zweiten Runde behielten die Franken mit 5:1 gegen den FC 08 Homburg die Oberhand; im Achtelfinale scheiterte die Mannschaft dann mit 4:5 nach Elfmeterschießen am Zweitligisten VfL Wolfsburg. Die bislang letzte Niederlage der Bayern gegen einen Amateurverein war in der Spielzeit 2000/01: Nachdem es im Spiel der 2. Hauptrunde gegen den damals viertklassigen 1. FC Magdeburg nach regulärer Spielzeit und Verlängerung 1:1 gestanden hatte, gelang es den Magdeburgern, durch ein 4:2 im Elfmeterschießen in die nächste Runde zu kommen. Statistik Vereinsrekorde Die längste Siegesserie in aufeinanderfolgenden Pokalspielen hält Fortuna Düsseldorf. Zwischen dem 4. August 1978 und dem 28. Februar 1981 gelangen der Fortuna 18 Siege in Folge. Unter anderem wurde sie dadurch 1979 und 1980 Pokalsieger. Erst eine 1:2-Niederlage im Viertelfinale 1981 bei Hertha BSC beendete die Serie. Bisher konnte keine Mannschaft den Pokal in drei aufeinanderfolgenden Saisons gewinnen, einer Mannschaft gelang es aber viermal hintereinander, das Finale zu erreichen: Borussia Dortmund (2013/14 bis 2016/17). Fünf Mannschaften konnten sich jeweils dreimal in Folge für das Finale qualifizieren: FC Schalke 04 (1935 bis 1937), Fortuna Düsseldorf (1977/78 bis 1979/80), FC Bayern München (1983/84 bis 1985/86, 1997/98 bis 1999/2000, 2011/12 bis 2013/14 und 2017/18 bis 2019/20), Werder Bremen (1988/89 bis 1990/91) und RB Leipzig (2020/21 bis 2022/23). Häufigste Finalpaarung ist bisher FC Bayern München gegen Borussia Dortmund (2008, 2012, 2014, 2016). Dann folgt FC Bayern München gegen Werder Bremen (1999, 2000 und 2010) – dies ist auch die einzige Finalpaarung, die zweimal nacheinander stattfand. Mit insgesamt sieben Niederlagen hat der FC Schalke 04 die meisten Endspiele verloren, konnte aber auch fünfmal gewinnen. Der 1. FC Köln verlor von allen Vereinen die meisten Endspiele in der Verlängerung (vier, davon eines im Elfmeterschießen). Bayern München gewann dagegen die meisten Endspiele in der Verlängerung (fünf, davon zwei im Elfmeterschießen) und zusammen mit Werder Bremen die meisten Finals durch Elfmeterschießen (zwei), während Borussia Mönchengladbach die meisten Endspiele auf diese Weise (ebenfalls zwei) verlor. In der Saison 2008/09 gewann mit Werder Bremen erstmals eine Mannschaft den DFB-Pokal, die im Turnierverlauf kein einziges Heimspiel bestritt. Werder Bremen war zwischen dem 6. August 1988 und dem 24. April 2019 in 37 Heimspielen in Folge ungeschlagen, die Serie endete mit einer 2:3-Niederlage im Halbfinale gegen den FC Bayern München. Der FC Bayern München war zwischen dem 2. August 2009 und dem 25. August 2021 in 36 Auswärtsspielen in Serie unbesiegt (ohne Berücksichtigung von Finalspielen und Niederlagen im Elfmeterschießen). Den höchsten Heimsieg in einem Hauptrundenspiel um den deutschen Vereinspokal erzielte der damalige Meister der Gauliga Württemberg, die Stuttgarter Kickers, mit 17:0 im Tschammerpokal 1940/41 gegen den damaligen badischen Zweitligisten VfB 05 Knielingen (heute Landesliga Mittelbaden). Den höchsten Auswärtssieg landete der FC Bayern München gegen die Amateure der DJK Waldberg mit 16:1 am 15. August 1997. Mehr als zwei Dutzend weitere Spiele endeten ebenfalls mit einem zweistelligen Ergebnis. Meist wurden auch hier Amateurmannschaften besiegt. Den höchsten Finalsieg schaffte die Mannschaft von Schalke 04 im Jahr 1972 mit einem 5:0 gegen den 1. FC Kaiserslautern. 2011 konnte derselbe Verein dieses Ergebnis gegen den MSV Duisburg wiederholen. Bislang wurden 262 Partien im DFB-Pokal durch ein Elfmeterschießen entschieden. Vier Mannschaften erlebten die meisten Elfmeterschießen: Der FC Bayern München bestritt in der zweiten Runde der Saison 2020/21 sein 16. Elfmeterschießen, Borussia Mönchengladbach sein 16. im Halbfinale 2016/17 sowie der 1. FC Köln und der 1. FC Nürnberg in der Saison 2022/23. Der FC Bayern München gewann von allen Mannschaften mit 11 Elfmeterschießen auch bislang am häufigsten diese Art der Siegerermittlung. Die längste Serie an gewonnenen Elfmeterschießen hält Arminia Bielefeld mit sieben Siegen hintereinander (seit 2006). Das längste Elfmeterschießen im Wettbewerb fand im August 1995 statt. Der Regionalligist SV Sandhausen schlug im heimischen Hardtwaldstadion den Bundesligisten VfB Stuttgart mit 13:12. Nach regulärer Spielzeit und der torlosen Verlängerung hatte es 2:2 gestanden. Die Partie Rot-Weiss Essen gegen Energie Cottbus wurde in drei aufeinander folgenden Saisons (2005/06, 2006/07 und 2007/08) in der ersten Hauptrunde ausgetragen. 2005/06 gewann dabei Energie Cottbus, während die Essener die beiden folgenden Partien für sich entscheiden konnten. Ebenso traf Hansa Rostock in den Saisons 2018/19, 2019/20 und 2020/21 in der ersten Runde immer auf den VfB Stuttgart, wobei Rostock das erste und Stuttgart die zwei folgenden Spiele gewann. Der klassenniedrigste Verein im DFB-Pokal war der TSV Gerbrunn. Die Franken spielten im August 2003 als Neuntligist die erste Runde gegen Wacker Burghausen, sie hatten sich in der Saison zuvor als Viertligist qualifiziert. Das bestbesuchte Pokalspiel war das Achtelfinale der Saison 2018/19 bei der Niederlage von Borussia Dortmund im heimischen Stadion gegen Werder Bremen (5:7 n. E.), das vor 81.365 Zuschauern im ausverkauften Signal Iduna Park stattfand. Höchste Siege Spielerrekorde und Ranglisten Mirko Votava ist mit 79 Pokaleinsätzen für Borussia Dortmund und Werder Bremen Rekordspieler vor Karl-Heinz Körbel von Eintracht Frankfurt mit 70 Einsätzen. Oliver Kahn, mit 67 Spielen Dritter in dieser Kategorie, ist der Torhüter mit den meisten Einsätzen. Gerd Müller ist mit 78 Toren in 62 Spielen für den FC Bayern München der Rekordtorschütze in diesem Wettbewerb. Claudio Pizarro ist mit 58 Spielen der am häufigsten eingesetzte ausländische Spieler und mit 34 Toren der zweiterfolgreichste ausländische Torschütze hinter Robert Lewandowski (39 Tore) in diesem Wettbewerb. (Stand: 4. Juli 2020) Den Rekord für die meisten Tore eines Spielers in einem DFB-Pokalspiel teilen sich drei Spieler mit jeweils sieben Treffern: Am 28. August 1938 traf Helmut Schön siebenmal beim 13:0 für den Dresdner SC gegen Preußen Greppin, am 30. August 1942 erzielte Ernst Willimowski sieben Treffer für den TSV 1860 München beim 15:1 gegen SG SS Straßburg, und Dieter Hoeneß traf am 5. August 1978 sieben Tore beim 12:0 für den VfB Stuttgart im Spiel gegen den Spandauer SV. Der mit sieben Titeln erfolgreichste Spieler im DFB-Pokal ist Bastian Schweinsteiger, gefolgt von Oliver Kahn, Claudio Pizarro, Philipp Lahm, Franck Ribéry, David Alaba, Thomas Müller und Manuel Neuer, die jeweils sechs Titel gewannen. Schweinsteiger war nur fünfmal im Pokalfinale eingesetzt (03,05,08,10,12,13), Pizarro, Ribéry und Müller standen dabei achtmal, Kahn, Lahm, Neuer und Mats Hummels jeweils siebenmal im Endspiel. Oliver Reck, Dieter Eilts, Heinz Flohe, Alaba und Robert Lewandowski bestritten jeweils sechs Endspiele; 13 weitere Spieler jeweils fünf. Mit den beiden Pokalsiegen von 1955 und 1956 im Trikot des Karlsruher SC und dem erneuten Titelgewinn 1957 nach seinem Wechsel zum FC Bayern München ist Kurt Sommerlatt als einziger Spieler dreimal in Folge DFB-Pokal-Sieger geworden. Vier Akteuren gelang es, mit jeweils drei verschiedenen Vereinen Pokalsieger zu werden: Klaus Allofs (2× Fortuna Düsseldorf, 1. FC Köln, Werder Bremen), Thomas Kroth (1. FC Köln, Hamburger SV, Borussia Dortmund), Thorsten Legat (Werder Bremen, VfB Stuttgart, FC Schalke 04) und Ivan Perišić (Borussia Dortmund, VfL Wolfsburg, FC Bayern). Zudem gewannen Andreas Möller und Franco Foda jeweils zweimal den Titel und standen bei einem möglichen dritten Titelgewinn zu Saisonbeginn im Kader des jeweils am Saisonende erfolgreichen Vereins, waren aber beim Endspiel bereits zu einem anderen Klub gewechselt: Möller – 1989 mit Borussia Dortmund sowie 2001 und 2002 jeweils mit dem FC Schalke 04 Titelträger – hatte im Wettbewerb 1987/88 zwar vier Spiele für den späteren Sieger Eintracht Frankfurt bestritten, war aber während der laufenden Saison zu Borussia Dortmund gewechselt. Foda – zuvor 1990 und 1993 Sieger im DFB-Pokal mit dem 1. FC Kaiserslautern bzw. Bayer Leverkusen – verließ nach drei Pokalspielen bis zum Viertelfinale im November 1996, in dem er als Schütze im Elfmeterschießen zum Weiterkommen beigetragen hatte, den im folgenden Mai im Finalspiel erfolgreichen VfB Stuttgart in Richtung FC Basel. Manuel Neuer war der erste Spieler, der in vier Endspielen in Folge eingesetzt wurde (2011 beim FC Schalke 04, 2012 bis 2014 beim FC Bayern). Bislang schafften dies noch vier weitere Akteure: Pierre-Emerick Aubameyang, Łukasz Piszczek, Marco Reus und Marcel Schmelzer. Alle vier erreichten die Endspiele mit Borussia Dortmund (2014–2017). Nur Neuer, Reus und Schmelzer standen jeweils von Spielbeginn an auf dem Feld. Trainerrekorde Rekordtrainer sind Karl-Heinz Feldkamp, Hennes Weisweiler, Ottmar Hitzfeld, Udo Lattek, Otto Rehhagel und Thomas Schaaf, die jeweils drei Titel gewannen. Den Pokal als Spieler und Trainer gewannen bisher Ludwig Janda (1942/TSV 1860 München und 1956/Karlsruher SC), Aki Schmidt (1965/Borussia Dortmund und 1970/Kickers Offenbach), Thomas Schaaf (1991, 1994 und 1999, 2004, 2009/alle Werder Bremen), Jupp Heynckes (1973/Borussia Mönchengladbach und 2013/FC Bayern München), Niko Kovač (2003/FC Bayern München und 2018/Eintracht Frankfurt, 2019/FC Bayern München) sowie Hansi Flick (1986 und 2020/beide FC Bayern München). Thomas Schaaf ist somit der einzige Spieler bzw. Trainer, der in beiden Rollen jeweils mehrfach den DFB-Pokal gewann. Fernsehübertragungen Auch in der Saison 2019/20 sollen alle Spiele des DFB-Pokals live vom Pay-TV-Sender Sky Deutschland übertragen werden. Frei empfangbar werden voraussichtlich zusätzlich neun Partien des Wettbewerbs im ersten Programm der ARD sowie vier Partien auf Sport1 zu sehen sein. Neu ab der Saison 2017/18 ist ein fester Sendeplatz für die Live-Übertragung der Auslosung ab der zweiten Runde in der Sportschau und zwar grundsätzlich am Sonntag nach der jeweiligen Pokalrunde ab 18 Uhr. Die Auslosung bekommt mit dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund zudem einen festen Ort. Fernsehgelder und Prämien aus den Vermarktungserlösen Saison 2019/20 Die 24 Vereine (Amateure) der 21 Landesverbände erhalten für ihren Erstrunden-Auftritt jeweils 130.500 Euro. Die restlichen 45.000 Euro gehen an den jeweiligen DFB-Landesverband, der das Geld unter allen Teilnehmern seines Landespokal-Wettbewerbs ausschüttet. Die Prämien für die Finalteilnehmer werden gesondert festgelegt. Die Zuschauereinnahmen werden zwischen der Heim- und der Gastmannschaft zu jeweils 45 Prozent aufgeteilt. Die restlichen 10 Prozent gehen an den DFB und werden für organisatorische Kosten genutzt wie z. B. die Platzmiete, Ordnungsdienst, Sanitätsdienst oder Schiedsrichter. Stand: Saison 2019/20 Saison 2021/22 Der Anteil an den Vermarktungserlösen je Teilnehmer beträgt für die erste Runde 128.757 Euro. Klubs, die in die zweite Runde einziehen, können mit Einnahmen in Höhe von 257.514 Euro planen. Für das Erreichen des Achtelfinales werden 515.028 Euro ausgezahlt. Die Viertelfinalisten erhalten 1.003.805 Euro, die Halbfinalisten 2.007.610 Euro. Das Finale wird gesondert abgerechnet. Wie in der Saison 2020/21 behält der DFB 20 Prozent der Erlöse aus der zentralen Verwertung der Medien- und Marketingrechte ein, um eventuelle Engpässe gegenüber Sponsoren auszuschließen. Für die 24 Amateur Teilnehmer, welche sich über den Landesverband qualifiziert haben, gelten weitere Sonderregelungen. Je nach Landesverband wird ein Teil der Prämie unter allen Teilnehmern des jeweiligen Landespokal-Wettbewerbs ausgeschüttet. Wie zuvor werden die Zuschauereinnahmen zwischen der Heim- und der Gastmannschaft zu jeweils 45 Prozent aufgeteilt. Die restlichen 10 Prozent gehen an den DFB und werden für organisatorische Kosten genutzt wie z. B. die Platzmiete, Ordnungsdienst, Sanitätsdienst oder Schiedsrichter. Saison 2022/23 Ab der Saison 2022/23 greift ein neuer Fernsehvertrag und somit Verteilungsschlüssel, wodurch die Erlöse bis zur Saison 2025/26 um mehr als 20 Prozent steigen. Siehe auch Liste von nationalen Fußball-Pokalwettbewerben (UEFA) Ewige Tabelle des DFB-Pokals DFB-Pokal der Junioren Literatur Tom Bender, Ulrich Kühne-Hellmessen: Sternstunden des Sports, DFB-Pokal. Sportverlag, Berlin 2001, ISBN 3-328-00913-2. Ralf Grengel: Das Deutsche Wembley. 60 Jahre Vereinspokal 1935–1994. Berlin 1994, ISBN 3-87088-833-4. Matthias Kropp: DFB-Pokal, Vereinsalmanach. Agon-Sportverlag, Kassel 2000, ISBN 3-89784-187-8. Matthias Weinrich, Hardy Grüne: Enzyklopädie des deutschen Ligafußballs. Band 6: Deutsche Pokalgeschichte seit 1935. Bilder, Statistiken, Geschichten, Aufstellungen. Agon-Sportverlag, Kassel 2000, ISBN 3-89784-146-0. kicker Edition: Mythos Pokal. Nürnberg 2013. Weblinks Der Modus des DFB-Pokals im Netzauftritt des DFB Einzelnachweise Fußballwettbewerb in Deutschland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Holstentor
Holstentor
Das Holstentor („Holstein-Tor“) ist ein Stadttor, das die Altstadt der Hansestadt Lübeck nach Westen begrenzt. Es ist das Wahrzeichen der Stadt und wurde 1478 fertiggestellt. Das spätgotische Gebäude gehört zu den Überresten der Lübecker Stadtbefestigung. Das Holstentor ist neben dem Burgtor das einzige erhaltene Stadttor Lübecks. Mehr als 300 Jahre lang stand es als „Mittleres Holstentor“ in einer Reihe mit drei weiteren Holstentoren, die im 19. Jahrhundert abgerissen wurden. Das Mittlere Holstentor, das heute als „Holstentor“ bekannt ist, wurde hingegen mehrmals restauriert, zuletzt in den Jahren 2005/2006. Seit 1950 befindet sich in den Räumen des Holstentores das Stadtgeschichtliche Museum von Lübeck. Lage und Umgebung Das Holstentor liegt auf einer (Sicht-)Achse mit dem Hauptbahnhof in der Vorstadt St. Lorenz, der Puppenbrücke (an den Lübecker Wallanlagen), der Holstenbrücke und der Holstenstraße, die direkt in das Zentrum der Innenstadt führt. Der Holstentorplatz liegt von der Altstadt gesehen hinter dem Holstentor. Er ist umgeben von der ehemaligen Filiale der Deutschen Bundesbank, die sich im früheren Reichsbankgebäude befand und um einen rückwärtigen Neubau ergänzt wurde. Die Lübecker Niederlassung wurde 2015 geschlossen. Auf der anderen Seite liegt zwischen den historischen Salzspeichern und dem Gewerkschaftshaus des DGB die backsteinexpressionistische Holstentorhalle, welche zwischen 2005 und 2007 mit Mitteln der Possehl-Stiftung zu einem Übungs- und Unterrichtsgebäude der Musikhochschule Lübeck umgebaut wurde. Zur Verbindung mit dem Hauptgebäudekomplex der Hochschule in der Altstadt wurde im Frühjahr 2007 eine weitere Fußgängerbrücke über die Obertrave fertig gestellt. Aussehen Aufbau Das Holstentor besteht aus Südturm, Nordturm und Mittelbau. Es hat vier Stockwerke, wobei das Erdgeschoss im Mittelbau entfällt, da sich hier der Durchgang (das Tor) befindet. Die nach Westen (stadtauswärts) zeigende Seite wird als die Feldseite bezeichnet; die stadteinwärts weisende Seite ist die Stadtseite. Die beiden Türme und der Mittelbau bilden von der Stadtseite gesehen eine Einheit mit einer durchgängigen, geraden Front. Zur Feldseite sind die Gebäudeteile deutlich voneinander abgesetzt. Die beiden Türme stehen hier halbkreisförmig vor und liegen am weitesten Punkt ihres Radius 3,5 Meter vor dem Mittelbau. Auf den Türmen sitzt je ein kegelförmiges Dach; der Mittelbau ist von einem Giebel besetzt. Der Durchgang und die Inschriften Der Durchgang war früher zur Feldseite mit zwei Torflügeln versehen, die nicht erhalten sind. Ein „Fallgatter“ wurde erst 1934 angebracht und entspricht nicht den ursprünglichen Sicherungsanlagen. An dieser Stelle befand sich einst ein so genanntes Orgelwerk, bei dem die Eisenstangen einzeln und nicht als Ganzes heruntergelassen wurden. So war es möglich, alle Stangen bis auf eine oder zwei bereits zu senken und dann abzuwarten, um den eigenen Männern noch ein Hindurchkommen zu ermöglichen oder durch die Verengung des Durchganges ein Einfallen feindlicher Kavallerie oder Fahrzeuge unter geringstem Aufwand zu verhindern. Über dem Durchgang ist auf der Stadt- wie auf der Feldseite je eine Inschrift angebracht. Auf der Stadtseite lautet die Inschrift S.P.Q.L., eingerahmt von den Jahreszahlen 1477 und 1871; ersteres war das vermeintliche Datum der Erbauung (korrektes Datum ist allerdings, wie man inzwischen weiß, 1478), letzteres das Datum der Restaurierung sowie der Gründung des Deutschen Reiches. Diese Inschrift hatte das römische S.P.Q.R. (lateinisch Senatus populusque Romanus – Senat und Volk Roms) zum Vorbild und sollte entsprechend für Senatus populusque Lubecensis stehen. Sie wurde allerdings erst 1871 angebracht. Vorher gab es an dieser Stelle keine Inschrift. Sie hätte auch wenig Sinn ergeben, da der Blick auf die unteren Bereiche des Holstentors von der Stadtseite aus durch hohe Mauern versperrt war. Eine andere Inschrift befindet sich auf der Feldseite. Dort steht Concordia domi foris pax („Eintracht innen, draußen Friede“). Auch dieser Schriftzug stammt von 1871 und ist eine verkürzte Form der Inschrift, die zuvor auf dem (nicht erhaltenen) Vortor gestanden hatte: Concordia domi et foris pax sane res est omnium pulcherrima („Eintracht innen und Friede draußen sind in der Tat für alle am besten“, siehe Äußeres Holstentor). Befestigungen der Feldseite Funktionsgemäß sind die Feld- und die Stadtseite sehr unterschiedlich gestaltet. Während die Stadtseite reich mit Fenstern geschmückt ist, wäre eine solche Ausstattung zur Feldseite angesichts der erwarteten Gefechtssituationen unpassend gewesen. Zur Feldseite zeigen daher nur wenige kleine Fenster. Außerdem ist das Mauerwerk von Schießscharten durchsetzt. Auch sind die Mauern zur Feldseite mit 3,5 Metern dicker als zur Stadtseite (dort unter 1 Meter). Möglicherweise war auch geplant, das Tor von der Stadtseite im Notfall schnell zu zerstören, damit es einem Feind nicht in die Hände fiele. Zur Feldseite zeigen die Schießscharten sowie die Öffnungen der Geschützkammern. In jedem Turm befanden sich im Erdgeschoss, im ersten und im zweiten Obergeschoss je drei Geschützkammern. Diese sind im Erdgeschoss nicht erhalten. Da das Bauwerk im Laufe der Jahrhunderte im Erdboden eingesunken ist, liegen sie mittlerweile 50 Zentimeter unter dem Erdboden und noch unterhalb des neuen Fußbodens. Im ersten Obergeschoss gibt es zusätzlich zu den erwähnten Kammern noch zwei Schießscharten für kleinere Geschütze, die über und zwischen den drei genannten Kammern lagen. Kleinere Öffnungen gibt es auch im dritten Obergeschoss, wo für Handfeuerwaffen nach vorne und nach unten weisende Scharten eingelassen sind. Der Mittelbau hat keine Schießscharten. Die über dem Durchgang liegenden Fenster waren auch dazu ausgerichtet, einen eindringenden Feind mit Pech oder kochendem Wasser zu übergießen. Materialien und Verzierungen Die auffälligsten nicht unter praktischen Gesichtspunkten angebrachten Ausschmückungen sind die zwei so genannten Terrakottabänder, die rund um das Gebäude laufen. Diese bestehen aus einzelnen Platten, die meist quadratisch sind und eine Kantenlänge von 55 Zentimetern haben. Auf den einzelnen Platten ist jeweils eines von drei unterschiedlichen Ornamenten zu sehen: eine Anordnung vierer heraldischer Lilien, ein symmetrisches Gitter und eine Darstellung von vier Distelblättern. Es gibt keine erkennbare Reihenfolge dieser immer wiederkehrenden Symbole, jedoch folgt stets nach acht Platten eine anders gestaltete Platte. Diese hat die Form eines Wappenschildes und trägt entweder den Lübschen Wappenadler oder einen stilisierten Baum. Diese Schilde sind von zwei Männerfiguren als Wappenträgern eingerahmt. Die Terrakottabänder sind während der Restaurierung zwischen 1865 und 1870 wiederhergestellt worden. Nur drei der ursprünglichen Platten sind als Museumsexemplare erhalten. Die neuen Platten geben die einstigen Motive ungefähr wieder, wenn man sich auch bei der Restaurierung viel Freiheit erlaubt hat. So ist zum Beispiel bei der Gestaltung des Wappenadlers das Ursprungsmotiv keineswegs exakt wiedergegeben. Der Giebel wurde bei der Restaurierung ebenfalls nicht originalgetreu gestaltet; hier trifft die Restauratoren aber keine Schuld, denn im 19. Jahrhundert war der Giebel längst nicht mehr erhalten und dessen ursprüngliches Erscheinungsbild unbekannt. Eine alte Darstellung auf einem Altarbild des Lübschen Burgklosters zeigt ein Holstentor mit fünf Giebeltürmen; da in diesem Bild das Holstentor allerdings inmitten einer Phantasielandschaft aus Bergen und Wäldern steht, ist die Glaubwürdigkeit der Darstellung umstritten. Heute sitzen dem Giebel drei Türme auf, die aber nur von der Stadtseite zu sehen sind. Das Innere Die Innenräume der Türme sind gleichartig gestaltet. Erdgeschoss und das erste Obergeschoss haben die höchsten Decken, während die darüber liegenden Stockwerke deutlich niedriger sind. Zwei enge Wendeltreppen winden sich aufwärts, und zwar jeweils zwischen dem Mittelbau und dem angrenzenden Turm. Gänge verbinden in jedem Geschoss den Raum des Mittelbaus mit den auf gleicher Höhe liegenden Räumen der Türme. Heute ist im Nordturm die Decke des zweiten Obergeschosses herausgebrochen, sodass zweites und drittes Obergeschoss hier einen gemeinsamen Raum bilden. Diese Umgestaltung war 1934 vorgenommen worden und entspricht nicht der ursprünglichen Anlage. Vor den Schießscharten liegen die Geschützkammern. Im zweiten Obergeschoss findet man heute noch Kanonen in den Kammern, die allerdings nachträglich hier ausgestellt wurden und keine Originale sind. Über den Geschützkammern befinden sich Haken, von denen Ketten mit den Kanonen verbunden waren, um deren Rückstoß abzufedern. Die oberen Geschützkammern des ersten Obergeschosses waren nur über Leitern zu erreichen. Grünanlage mit Lübecker Löwen Das Innere des Holstentorplatzes ist eine langgestreckte Grünanlage, die von Harry Maasz angelegt wurde. An der westlichen, dem Holstentor gegenüberliegenden Schmalseite der Grünanlage sind zwei monumentale Lübecker Löwen aus Eisenguss aufgestellt. Die liegenden Löwen von 1823 sind unsigniert, sie werden Christian Daniel Rauch zugeschrieben und entstanden möglicherweise unter Mitwirkung von Rauchs Werkstattmitarbeiter Theodor Kalide. Einer der beiden Löwen schläft, der andere richtet seinen Blick aufmerksam auf den schlafenden Löwen. Ursprünglich befanden sich die Lübecker Löwen seit 1840 vor dem Wohnhaus des Kaufmanns und Kunstsammlers Johann Daniel Jacobj (1798–1847) in der Großen Petersgrube 19. Seit 1873 standen die beiden Löwen vor dem Hotel Stadt Hamburg in Lübeck am Klingenberg, bis dieses im Zweiten Weltkrieg 1942 zerstört wurde. Erst später wurden die Löwen vor dem Holstentor aufgestellt. Dazu passend steht schräg gegenüber, auf einem Grünstreifen in der Willy-Brandt-Allee, die Bronzestatue Schreitende Antilope des Bildhauers Fritz Behn. Weitere Abgüsse der gleichen Löwen befinden sich vor dem Schloss Philippsruhe in Hanau. Museum Holstentor Themenräume Die linke Holzpforte an der Stadtseite des Holstentors führt in das Museum. Eine enge Wendeltreppe verbindet die Stockwerke. Im ersten bis dritten Geschoss des Holstentores sind neun Themenräume eingerichtet. Im ersten Geschoss werden der Fernhandel, die ursprüngliche Wehranlage und die Entwicklung zum heutigen nationalen Denkmal dargestellt. Im zweiten Geschoss werden die Schifffahrt und die Schifffahrtswege, das schildkrötenartige Modell der Innenstadt von Lübeck und der Markt gezeigt. Im dritten Obergeschoss werden das Lübische Recht und die lübische Stadtrechtsfamilie aus 80 bis 100 Städten und die Strafausübung inklusive Folter und Scharfrichter erklärt. Entstehung des Museums Bereits die Nationalsozialisten hatten das Holstentor als Museum genutzt (siehe unten). Seit 1950 dient das Holstentor wieder als Museum, nun für Stadtgeschichte. Funde aus Alt-Lübeck wurden präsentiert, die Entwicklung des mittelalterlichen Lübecks in Modellen und Bildern dargestellt und Modelle der Schiffe der Hanse wie das Flaggschiff Adler von Lübeck ausgestellt. Auch dieses Museum war historisch nicht exakt. So beinhaltete es auch eine Folterkammer mit einem Verlies, einer Streckbank und weiteren Foltergeräten. Eine solche hatte sich aber in Wahrheit im Holstentor nie befunden. 2002 wurde das Holstentormuseum modernisiert. Dabei wurde nicht nur die Folterkammer beseitigt, sondern alle Räume nach einem neuen Konzept ausgestattet, das auch Bild- und Tondokumente einbezieht. Seit 2006 liegt die Leitung des Museums bei der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck. Geschichte Die Stadttore von Lübeck Die reiche und wohlhabende Hansestadt Lübeck sah sich im Laufe der Jahrhunderte genötigt, sich mit immer stärkeren Mauern und Befestigungsanlagen gegen Bedrohungen von außen zu schützen. Dabei erlaubten drei Stadttore den Zugang zur Stadt: Das Burgtor im Norden, das Mühlentor im Süden und das Holstentor im Westen. Nach Osten war die Stadt durch die aufgestaute Wakenitz geschützt. Hier führte das weniger martialische Hüxtertor aus der Stadt hinaus. Diese Stadttore waren anfangs einfache Tore und wurden immer weiter verstärkt, so dass es letztlich in alle Richtungen drei bis vier hintereinander liegende Tore gab. Heute ist nur noch wenig davon erhalten: das Innere Burgtor sowie das Mittlere Holstentor, das heute einfach „Holstentor“ genannt wird. Die vier Holstentore Zwischen dem Mittleren Holstentor und der Stadt lag früher das Innere Holstentor, das älteste der Holstentore. Nach außen folgten das Äußere Holstentor sowie ein viertes Tor, das als „Zweites Äußeres Holstentor“ bezeichnet wurde. Die Bezeichnungen der einzelnen Tore wechselten mit dem Entstehen und Verschwinden der Komponenten. So hieß das Mittlere Holstentor „Äußeres Holstentor“, ehe die zwei davor liegenden Tore errichtet wurden. Auch heute findet man eine ziemliche Verwirrung der Namen, wenn man geschichtliche Rückblicke sichtet. Inneres Holstentor Das älteste Holstentor wachte direkt am Ufer der Trave. Von der Stadt aus musste man durch dieses Tor, um auf die über den Fluss führende Holstenbrücke zu gelangen. Wann hier erstmals ein Tor errichtet wurde, ist unbekannt. Die Holstenbrücke wurde erstmals 1216 in einer Schenkungsurkunde des dänischen Königs genannt. Es ist wahrscheinlich, dass es zu jener Zeit bereits ein Tor und eine Mauer entlang der Trave gab. Die Benennung als Holstenbrücke (und Holstentor) hat den einfachen Hintergrund, dass der westliche Ausgang der Stadt nach Holstein zeigte. Aus den Chroniken geht hervor, dass 1376 die Holstenbrücke und das Tor erneuert wurden. Das Aussehen des hierbei errichteten Tors ist durch den Holzschnitt der Lübecker Stadtansicht des Elias Diebel gut überliefert. Es ist zwar eine Stadtansicht von der östlichen Wakenitzseite des Altstadthügels, der Künstler klappt aber wesentliche Bestandteile der Westseite hoch, sodass auch sie sichtbar werden. Es war ein rechteckiger Turm mit einer hölzernen Galerie im oberen Teil. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt des 17. Jahrhunderts wurde das Innere Holstentor durch ein kleineres, schlichtes Fachwerktor ersetzt – womöglich sah man wegen der inzwischen starken Außenbefestigungen keinen Sinn mehr in einem starken inneren Tor. Verbunden war das Innere Holstentor mit dem Haus des Zöllners, der an dieser Stelle über den Zugang zur Stadt wachte. Das Fachwerktor wurde 1794 durch ein einfaches Gittertor ersetzt; dies wurde wiederum 1828 abgerissen, gemeinsam mit dem Zöllnerhaus und der Stadtmauer entlang der Trave. Es ist wahrscheinlich, dass es auch am entgegengesetzten Ufer der Trave frühzeitig ein Tor gab. Sein Aussehen ist aber nicht überliefert. Wenn es existiert hat, wurde es vor oder nach dem Bau des Mittleren Holstentors abgerissen. Mittleres Holstentor Im 15. Jahrhundert hielt man die Toranlagen nicht mehr für ausreichend. Schusswaffen und Kanonen machten stärkere Befestigungen nötig. Man beschloss, ein weiteres Tor zu bauen – das Äußere Holstentor, später als Mittleres Holstentor und heute nur noch als das Holstentor bekannt. Die Finanzierung war durch ein Vermächtnis des Ratsherrn Johann Broling über 4.000 Mark lübisch sichergestellt. 1464 begann der Ratsbaumeister Hinrich Helmstede mit dem Bau, der 1478 vollendet wurde. Errichtet wurde es auf einem sieben Meter hohen, eigens aufgeschütteten Hügel. Bereits während der Bauzeit erwies sich diese Unterlage als instabil. Im morastigen Grund sackte der Südturm ab, sodass man schon beim Weiterbau versuchte, einen Ausgleich für die Neigung zu schaffen. Zur weiteren Geschichte des Mittleren Holstentors siehe unten: Restaurierungen des Mittleren Holstentors. Äußeres Holstentor Das Äußere Holstentor war auch unter den Namen Renaissancetor, Vortor oder Krummes Tor bekannt. Es wurde im 16. Jahrhundert errichtet, als man westlich des Mittleren Holstentores einen Wall aufschüttete und in diesen ein weiteres Tor einließ. Das Äußere Holstentor wurde 1585 vollendet. Sein östlicher Ausgang war nur 20 Meter vom Mittleren Holstentor entfernt, sodass dieses neue Tor den Blick darauf versperrte. Zwischen den Toren wurde ein ummauerter Bereich geschaffen, der als Zwinger bezeichnet wurde. Verglichen mit dem rund hundert Jahre älteren Mittleren Holstentor war sein Vortor klein, jedoch an der Front der Feldseite viel reichhaltiger verziert. Die Stadtseite war dagegen schlicht gehalten. Als erstes der Tore trug das Äußere Holstentor eine Inschrift. Sie war an der Stadtseite angebracht und lautete: Pulchra res est pax foris et domi concordia – MDLXXXV („Schön sind der Friede draußen und die Eintracht innen – 1585“). Später wurde sie auf die Feldseite verlegt und leicht abgeändert: Concordia domi et foris pax sane res est omnium pulcherrima („Eintracht innen und Friede draußen sind in der Tat für alle am besten“). Mit dem Tor verbunden war das Wohnhaus des Wallmeisters, der für die Instandhaltung der Befestigungsanlagen zu sorgen hatte. Der Erbauer des Renaissancetors war vermutlich Ratsbaumeister Hermann von Rode, der sich für die Gestaltung der Front an niederländischen Vorbildern orientierte. Direkt vergleichbar ist beispielsweise die Nieuwe Oosterpoort in Hoorn. Das Tor bestand rund 250 Jahre und fiel letztlich der Eisenbahn zum Opfer: Es wurde 1853 abgerissen, um Platz für den ersten Lübschen Bahnhof und die Gleise zu schaffen. Heute besteht auch dieser Bahnhof nicht mehr; der jetzige Hauptbahnhof liegt etwa 500 Meter weiter westlich. Zweites Äußeres Holstentor Am Anfang des 17. Jahrhunderts wurden vor dem Stadtgraben neue Wallanlagen unter der Aufsicht des Festungsbaumeisters Johann von Brüssel errichtet. Im Rahmen dieser Bauten wurde 1621 ein viertes Holstentor errichtet. Es war vollkommen in die hohen Wälle eingebettet und von einem achteckigen Turm gekrönt. Die Torbögen trugen die Inschriften Si deus pro nobis, quis contra nos („Wenn Gott für uns ist, wer wird dann gegen uns sein?“, Stadtseite) und Sub alis altissimi („Unter dem Schutz des Höchsten“, Feldseite). Das Tor, als letztes der vier Holstentore entstanden, verschwand auch als erstes, nämlich im Jahre 1808. Über den Stadtgraben führt als älteste Lübecker Steinbrücke die Puppenbrücke nach Holstein. Abbruch dreier Tore im 19. Jahrhundert Im Zuge der Industrialisierung sah man die Befestigungsanlagen nur noch als lästige Hindernisse. 1808 wurde das Zweite Äußere Holstentor, 1828 das Innere Holstentor und 1853 das Äußere Holstentor abgerissen. Es galt damals nur als eine Frage der Zeit, bis auch das Mittlere Holstentor, das einzig verbliebene der vier Tore, niedergerissen würde. Restaurierungen des Mittleren Holstentors Restaurierung 1863–71 1855 gab es eine Eingabe lübscher Bürger an den Senat, endlich das verbliebene Tor abzureißen, da es einem Ausbau der Bahnanlagen im Wege stehe. 683 Unterschriften stützten diese Eingabe. Allerdings gab es in jener Zeit auch Widerstände gegen die Zerstörung der alten Bausubstanz. So schrieb 1852 August Reichensperger: „Selbst Lübeck, einst das stolze Haupt der Hanse, scheint den Abglanz seiner früheren Herrlichkeit nicht ertragen zu können. Es verstümmelt, beschneidet und übertüncht so unverdrossen, daß die ‚moderne Aufklärung‘ sich bald seiner nicht mehr zu schämen haben wird.“ Als König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen davon hörte, entsandte er den damaligen Konservator für Kunstdenkmäler im Königreich Preußen, Ferdinand von Quast, um „zu retten was zu retten ist“. Der Streit um den Abbruch zog sich lange hin. Erst 1863 kam es zu einer Entscheidung, in der die Lübecker Bürgerschaft mit nur einer Stimme Mehrheit beschloss, das Gebäude nicht abzureißen und stattdessen umfassend zu restaurieren. Inzwischen war das Tor in einem sehr schlechten Zustand, da es jedes Jahr einige Zentimeter im Erdboden versank. Die tiefsten Schießscharten befanden sich bereits 50 Zentimeter unter dem Erdboden, und die Neigung des gesamten Tores nahm gefährliche Ausmaße an. Dadurch veränderte sich die Statik des Gebäudes drastisch, sodass man den Einsturz befürchtete. Bis ins Jahr 1871 wurde das Holstentor von Grund auf restauriert. Hiernach änderte sich die Beziehung der Lübecker zum Holstentor. Es wurde nicht mehr als lästige Ruine wahrgenommen, sondern als Erkennungszeichen einer stolzen Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert integrierten lübsche Firmen und der Deutsche Städtetag das Holstentor in ihre Signets (siehe unten). Restaurierung 1933/34 Da sich die Neigung der Türme fortsetzte und ein Einsturz letztlich noch immer nicht ausgeschlossen werden konnte, wurde eine zweite Restaurierung erforderlich. Zu dieser kam es in den Jahren 1933/34, in denen das Holstentor derart befestigt wurde, dass es endlich sicher stand. Bei dieser Restaurierung wurden Stahlbetonanker zur Sicherung der Türme eingesetzt, die von eisernen Ringen umgeben wurden. Es wurden aber auch Umgestaltungen vorgenommen, die nicht dem ursprünglichen Charakter des Tores entsprachen, unter anderem die erwähnte Zusammenlegung der Geschosse des Nordturms. Die Nationalsozialisten machten das Holstentor zum Museum. Dieses wurde „Ruhmes- und Ehrenhalle“ genannt und sollte lübsche und deutsche Geschichte aus Sicht der nationalsozialistischen Ideologie darstellen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden – bauhistorisch heute nicht mehr vollständig nachvollziehbar – kleinere Ausbesserungsarbeiten am Holstentor durchgeführt. Restaurierung 2005/06 Von März 2005 bis Dezember 2006 wurde das Holstentor erneut restauriert. Die Restaurierungskosten wurden auf etwa eine Million Euro geschätzt, wobei eine Summe von 498.000 Euro (ursprünglich geplante Kosten) von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und der Possehl-Stiftung aufgebracht wurde. Der Rest der Kosten wurde hauptsächlich über Spenden von Privatpersonen, Firmen und wissenschaftlichen Einrichtungen übernommen. Wenige Tage nach dem Gerüstaufbau wurde ein 1934 angebrachtes Hakenkreuz von Unbekannten herausgeschnitten und mitgenommen. Es galt als letztes an einem öffentlichen Gebäude in Deutschland und sollte im Laufe der Arbeiten mit einem Blech überdeckt werden. Anstelle des gestohlenen Hakenkreuzes wurde eine Platte mit der Jahreszahl 2006 zur Erinnerung an den Abschluss der Restaurierungsarbeiten angebracht. Während der Arbeiten war das Tor aus Sicherheitsgründen mit einer Gerüstplane verhüllt. Auf der bedruckten Plane war das Aussehen des Tores vor dem Beginn der Arbeiten in hoher Auflösung abgebildet. Am 2. Dezember 2006 wurde das Holstentor im Rahmen einer Lichtershow des Künstlers Michael Batz der Bevölkerung wieder zugänglich gemacht. Holstentor als Motiv und Symbol Schon 1901 übernahm der Marzipanhersteller Niederegger das Holstentor in sein Firmenwappen. Andere lübsche Firmen taten es ihm gleich. 1925 integrierte der Deutsche Städtetag das Holstentor in sein Signet. 1948 erschien es auf den vier höchsten Werten (1 DM, 2 DM, 3 DM und 5 DM) der Bautenserie, der ersten Serie von Dauerbriefmarken in D-Mark-Währung. 2000 folgte eine weitere Briefmarke zu 5,10 DM in der Serie „Sehenswürdigkeiten“. Ein Stich der Westansicht (Feldseite) des Holstentors ist auf der Rückseite der von 1960 bis 1991 produzierten 50-DM-Scheine. Im Jahre 2016 erschien ein so genannter 0-Euro-Schein als Souvenir. Das Holstentor ist auf der deutschen 2-Euro-Münze von 2006 zu sehen, da Schleswig-Holstein damals turnusgemäß den Vorsitz im Bundesrat führte. Das pinkfarbene Gemälde Holstentor des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol aus dem Jahr 1980 befindet sich im Besitz der Museen für Kunst und Kulturgeschichte. Trivia Im Hansa-Park in Sierksdorf wurde 2008 ein verkleinerter und vereinfachter Nachbau des Holstentors als Entrée für die Besucher errichtet. Im Sommer 2010 wurde an der Feldseite des Holstentors durch die Stadt Lübeck ein gelbes Banner mit der Aufschrift „Lübeck kämpft für seine Uni“ angebracht, um auch an prominenter Stelle auf die aktuelle Lage der Universität zu Lübeck aufmerksam zu machen. Literatur Jonas Geist: Versuch, das Holstentor zu Lübeck im Geiste etwas anzuheben. Wagenbach, Berlin 1976, ISBN 3-8031-2012-8 Wulf Schadendorf: Das Holstentor. Weiland, Lübeck 1977, 1985, ISBN 3-87890-023-6 Heinz-Joachim Draeger: Lübeck anschaulich – Geschichte erleben in einer alten Stadt. Convent, Hamburg 2003, ISBN 3-934613-48-9 Hans Pieper: Die bauliche Sicherung des Holstentores zu Lübeck und die Neugestaltung seiner Umgebung. in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, Heft 9, Deutscher Kunstverlag und Anton Schroll, Berlin und Wien 1934 Manfred Eickhölter: Als sie in Lübeck ein neues Holstentor bauten, in: Lübeckische Blätter, 2. Juli 2016, S. 229–231 Weblinks Holstentor luebeck.de Wissenswertes zum Holstentor monumente-online.de Modelle der alten Stadttore und anderer Gebäude Lübecks hanseschiff-luebeck.de Museum Holstentor 3D und Animation Die Geschichte des Holstentores und der Stadt als Animation Literatur Suche nach Holstentor in Lübeck im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Einzelnachweise Stadttor in Lübeck Museum in Lübeck Backsteingotik in Lübeck Erbaut im 15. Jahrhundert Kulturdenkmal in Lübeck-Innere Stadt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert%20Hoover
Herbert Hoover
Herbert Clark Hoover (* 10. August 1874 in West Branch, Iowa; † 20. Oktober 1964 in New York City, New York) war ein amerikanischer Politiker der Republikanischen Partei und von 1929 bis 1933 der 31. Präsident der Vereinigten Staaten. Als Bergbauingenieur und Unternehmer wohlhabend geworden, gründete er zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Kommission für das Belgische Hilfswerk und wurde bald darauf von Woodrow Wilson zum Leiter der United States Food Administration berufen, womit erhebliche exekutive Vollmachten verbunden waren. Nach dem Krieg unterstützte er mit der American Relief Administration den Wiederaufbau und die Lebensmittelversorgung in Europa. Im Jahr 1921 wurde er Handelsminister unter Warren G. Harding und später Calvin Coolidge. Nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl 1928 waren mit seinem Amtsantritt optimistische Erwartungen verbunden. Mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise, die in Amerika zur Great Depression und Massenverelendung führte, und seinen als mitleidlos wahrgenommenen politischen Gegenmaßnahmen sank seine Popularität rapide, so dass er bei der Präsidentschaftswahl 1932 gegen Franklin D. Roosevelt keine Chance hatte. Er schied als einer der unbeliebtesten Präsidenten der amerikanischen Geschichte aus dem Amt. Nach seiner Präsidentschaft engagierte er sich wieder in der Lebensmittelhilfe und war unter anderem maßgeblich an der Einführung der Hoover-Speisung und Gründung der UNICEF beteiligt. Leben Elternhaus und Bildung Herbert Hoover kam in West Branch, Iowa zur Welt. Seine Vorfahren waren seit sechs Generationen Quäker und hatten überwiegend britische und zu einem Teil Schweizer Wurzeln. In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren sie aus unterschiedlichen Gründen in die Dreizehn Kolonien ausgewandert. Der Vater Jessie Clark Hoover (1846–1880) stammte aus dem Miami County, Ohio und hatte schweizerische Vorfahren, die den ursprünglichen Namen Huber getragen hatten. Die Mutter, geborene Huldah Randall Minthorn (1848–1884) kam aus einer Quäker-Siedlung in der Provinz Kanada und hatte englische Vorfahren. Herbert Hoover hatte einen älteren Bruder, Theodor, und eine jüngere Schwester, Mary. Als der Vater seine Schmiede verkaufte und einen Laden für landwirtschaftlichen Bedarf eröffnete, hatte er damit geschäftlichen Erfolg, bezog mit seiner Familie ein größeres Haus und wurde in den Stadtrat gewählt. Als Hoover sechs Jahre alt war, starb sein Vater an Typhus. 1884 erlag seine Mutter Huldah einer Lungenentzündung, in der Folge wurde er von unterschiedlichen Verwandten aufgenommen. 1885 kam er schließlich zu seinem Onkel John Minthorn nach Newberg, Oregon. Dort besuchte Hoover die Friends Pacific Academy, die heutige George Fox University, deren Leiter und Begründer sein Onkel war. 1888 verließ Hoover die Schule, um Minthorn zu unterstützen, der nun als Grundstücksmakler in Salem arbeitete und den Geschäftssinn seines Neffen früh erkannte. Abends besuchte er ein Business College, wo er Mathematik lernte. Durch eine zufällige Begegnung mit einem Bergbauingenieur erwachte Hoovers Interesse an einem derartigen Studium an der neu gegründeten Leland Stanford University. Obwohl er die Highschool nicht abgeschlossen hatte und durch die Aufnahmeprüfung fiel, wurde er vorbehaltlich einer erfolgreichen Testwiederholung als jüngster Student für den ersten Jahrgang der Universität zugelassen. Hoover finanzierte seine akademische Ausbildung mit Gelegenheitsarbeiten. Noch als Freshman lernte er den Leiter des Geologischen Instituts John Casper Branner kennen, für den er in der Folge arbeitete. Unter anderem kartierte Hoover geologische Aufschlüsse und unterstützte Branner beim Erstellen einer Reliefkarte von Arkansas für die Chicago World’s Fair, die mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Mit Waldemar Lindgren war er für das United States Geological Survey in der Wüste von Nevada und der Sierra Nevada tätig. In den späteren Semestern wurde er zur Führungsperson der barbarians, die Außenseiter wie ihn als Mitglied hatten, und trat mit ihnen bei den Campuswahlen gegen die elitären griechischen Fraternities und Sororities an. Außerdem wurde Hoover Hauptverantwortlicher für die Finanzen der Baseball- und American Footballmannschaft der Universität sowie zum Kassenwart seines Semesters gewählt. Im vierten und letzten Jahr seines Studiums lernte er in Stanford seine spätere Gattin, die Bankierstochter Lou Henry kennen, die dort ihr Geologiestudium begann. Da er immer noch weitgehend mittellos war, stellte er ihr keinen Heiratsantrag. Ingenieurstätigkeit Nach dem Studium im Jahr 1895 arbeitete er erst als einfacher Arbeiter in einer Goldmine, später als Kopist und dann in der leitenden Verwaltung und Inspektion neuer Minen und Abbaugebiete im New-Mexico-Territorium und Colorado. Um für das renommierte Londoner Unternehmen Bewick, Moreing & Co, welches einen mindestens 35-jährigen Ingenieur für Minenerkundung in Australien suchte, arbeiten zu können, ließ sich Hoover einen Bart wachsen, um älter auszusehen, bauschte seine Qualifikationen auf und stellte sich in London erfolgreich Charles Algernon Moreing vor. Trotz der harten klimatischen Bedingungen und strapaziösen Wüstentouren zu entlegenen Minen ging Hoover in dieser neuen Tätigkeit auf. Als die ergiebigste Mine, welche Hoover empfahl, stellte sich die Sons of Gwalia heraus. Hoover wurde zum Manager dieser und sieben weiterer Bergwerke. Als Vorgesetzter ordnete er alles der Wirtschaftlichkeit unter, lehnte Mindestlohn ab und entließ bei besonderen Gehaltsforderungen zum Beispiel für Sonntagsarbeit die entsprechenden Mitarbeiter. Im Herbst 1898 erhielt Hoover, der bereits zum Juniorpartner bei Bewick, Moreing & Co aufgestiegen war, das lukrative Angebot, in China ausgedehnte Erkundungs- und Minenarbeiten zu beaufsichtigen. Finanziell nun abgesichert, heiratete er am 10. Februar 1899 in Monterey Lou Henry nach römischem Ritus, weil es kein Meeting House in der Nähe gab. Aus der Ehe gingen die zwei Söhne Herbert Jr. und Allan hervor. Während des Boxeraufstands im Jahr 1900 erlebten die Hoovers in Tianjin die Belagerung ihrer ausländischen Enklave. Hoover hielt sich im Hintergrund und organisierte die Nahrungsmittelversorgung und Instandhaltung der Barrikaden, was ihm später von politischen Gegnern als Feigheit vorgeworfen wurde. Nach der Befreiung durch die Allianz der Vereinigten acht Staaten gelang es Hoover mit einem belgischen Geschäftspartner, den einheimischen Vorstand der Chinese Engineering Company, der größten chinesischen Firma, zu entmachten, was ihm 200.000 US-Dollar einbrachte. 1901 erwarb er für seine Firma nach strittigen Verhandlungen die Minen von Kaiping, welches der bis dahin größte Eigentumserwerb durch Ausländer in der chinesischen Geschichte war. Noch im gleichen Jahr stieg Hoover zu einem der vier Seniorpartner bei Bewick, Moreing & Co auf und residierte fortan bis 1917 in London. Bis 1908 erhöhte er die Effizienz des Unternehmens, erkundete, gründete und reorganisierte in 16 Ländern Minen, welche 25.000 Arbeiter beschäftigten. Schon zu dieser Zeit hatte sich Hoover weltweit einen hervorragenden Ruf in der Bergbauindustrie erworben. Außerdem investierte Hoover mit seinem Privatvermögen in Bergwerke. 1908 beendete er die Partnerschaft mit Bewick, Moreing & Co und verkaufte seine Teilhaberschaft, womit er annähernd Millionär wurde. Vor diesem Hintergrund ist das folgende bekannte Zitat Hoovers zu sehen: Hoovers eigene Consultingfirma unterstützte wirtschaftlich ums Überleben kämpfende Bergwerke gegen spätere Gewinnbeteiligung. Als besonders lukrativ erwiesen sich Blei-, Silber- und Zinkminen in Myanmar, dem damaligen Britisch-Indien. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs zog er sich als mehrfacher Millionär aus dem Geschäft zurück. 1909 veröffentlichte Hoover eine Zusammenfassung seiner Vorlesungen an der Columbia University und in Stanford als Buch unter dem Titel Principles of Mining, das zu einem Standardwerk der Montanwissenschaften wurde. Mit Lou Henry brachte er 1912 eine kommentierte Übersetzung von Georgius Agricolas De re metallica heraus. In beiden Werken äußerte Hoover liberalere soziale Ansichten und akzeptierte Arbeitsschutz- und Gewerkschaftsrechte. Politisch identifizierte sich Hoover mit dem progressiven Flügel der Republikaner und unterstützte 1912 die Abspaltung der Progressive Party unter Theodore Roosevelt. Im gleichen Jahr wurde Hoover zum Trustee der Stanford University gewählt, wo er mit eigenen Mitteln Bauprojekte in Auftrag gab und das Gehalt des Lehrpersonals deutlich erhöhte. Im Jahr 1919 stiftete Hoover das Dokumentenarchiv Hoover Library on War, Revolution, and Peace, aus dem die Hoover Institution hervorging. Kommission für das Belgische Hilfswerk Am 6. August 1914 gründete er mit Geschäftsleuten im Savoy das Commitee of American Residents in London for Assistance of American Travellers. Diese Gruppe brachte 400.000 US-Dollar auf, um aus Europa fliehenden Amerikanern, die knapp an Geldmitteln waren, mit kleinen Krediten auszuhelfen. Mitte Oktober erreichte Hoover ein dringender Ruf vom amerikanischen Botschafter Walter Hines Page, gegen eine drohende Hungerkatastrophe in Belgien zu helfen, wo Kriegszerstörungen und Seeblockade zu einer dramatischen Versorgungslage geführt hatten. Mit wohlhabenden Freunden gründete Hoover die Kommission für das Belgische Hilfswerk (Commission for Relief in Belgium; CRB) zur Organisation der Lebensmittelhilfe. Hoover brachte einen Großteil seines Vermögens ein und kaufte direkt nach dem Treffen mit dem Botschafter eine erste Schiffsladung für den Import über Rotterdam. Die Kommission arbeitete effektiv in der Katastrophenhilfe und wuchs zu einer mächtigen Organisation an, der viele Fabriken, Warenhäuser und eine Kanalflotte für die Binnenschifffahrt gehörten. In Verhandlungen mit David Lloyd George, Raymond Poincaré und Theobald von Bethmann Hollweg konnte Hoover häufig Vereinbarungen erreichen. Während die Briten durch die Hilfsmaßnahmen ihre Blockade beeinträchtigt sahen, stand das Deutsche Kaiserreich der CRB nachgiebiger gegenüber. Die Kommission für das Belgische Hilfswerk versorgte bis zu neun Millionen Menschen in Belgien und Frankreich und sammelte insgesamt über 900 Millionen US-Dollar ein, wovon knapp 700 Millionen Staatsgelder waren. Wichtig für den Erfolg der Operation war in Belgien die Zusammenarbeit mit der nationalen Hilfsorganisation unter Lucien Emile Francqui. Da die Führung der über 130.000 freiwilligen Helfer durch 60 meist unbezahlt in Vollzeit arbeitende Amerikaner erfolgte, waren die Verwaltungskosten äußerst niedrig. Hoover folgerte aus dem Wirken der Kommission, dass in Notlagen staatliche Unterstützung weitaus weniger verlässlich ist als freiwilliges Engagement der Bürger. United States Food Administration und American Relief Administration Kurz nach dem Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg ernannte Präsident Woodrow Wilson am 19. Mai 1917 Hoover zum Food Administrator. Sofort darauf initiierte er die unter seiner exklusiven Kontrolle befindliche United States Food Administration als eine Freiwilligenorganisation mit dem Ziel, die heimatlichen Lebensmittelpreise stabil zu halten und die Alliierten mit Nahrung zu versorgen. Die landwirtschaftliche Produktion wurde gefördert und die Binnennachfrage gebremst, um höhere Überschüsse für den Export zu erzielen. So wurde unter dem Leitmotto Food Will Win the War ein sparsamer Umgang mit Lebensmitteln propagiert und beispielsweise zu fleischlosen Dienstagen und brotfreien Mittwochen aufgerufen, während hohe Produktionszahlen prämiert wurden. Zu dieser Zeit wurde der Ausdruck to Hooverize bekannt, der die freiwillige, aber auch erzwungene Rationierung von Lebensmitteln bezeichnete. Die United States Food Administration hatte über 700.000 Mitglieder, die vor allem Angehörige der lokalen Eliten waren. Hoover forcierte im August 1917 die Verabschiedung des Lever Act, der Rationierungsmaßnahmen in Restaurants vorschrieb und die Alkoholproduktion zugunsten der Nahrungsmittelerzeugung einschränkte. Er nutzte gesetzliche Zwangsmaßnahmen wie Konfiszierung und staatliche Wirtschaftskartelle, die eine Verletzung der festgelegten Abnehmerpreise empfindlich bestraften. Seine außergewöhnlichen exekutiven Vollmachten, die den Kongress außen vor ließen, stießen auf Kritik. International genoss Hoover hohes Ansehen für seine Arbeit. Im Sommer 1918 empfingen ihn unter anderem die Könige Georg V. und Albert I., um ihm ihren Dank auszusprechen. In den 12 Monaten zuvor hatte die United States Food Administration Nahrungsmittel im Wert von 1,4 Milliarden US-Dollar nach Europa geliefert. Nach dem Waffenstillstand von Compiègne reiste Hoover im Auftrag des Präsidenten nach Europa. Er transformierte die United States Food Administration in die American Relief Administration (ARA), die neben der Lebensmittelversorgung den Wiederaufbau unterstützte. Die ARA koordinierte den Schiffs- und Zugverkehr, initiierte die Bekämpfung von Typhus und stellte die Lebensmittelversorgung von knapp 400 Millionen Menschen in Europa sicher. Als die staatlichen Gelder im Sommer 1919 ausliefen, wandelte Hoover die ARA in eine private Spendenorganisation um. Die hohen amerikanischen Lebensmittelüberschüsse nutzte Hoover teilweise als politisches Druckmittel, so bei der Entmachtung von Joseph August von Österreich als Reichsverweser in Ungarn. Als Hoover als möglicher Kandidat für die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1920 gehandelt wurde, nahm er dazu widersprüchlich Stellung. Als Gegner des aufkommenden Sozialdarwinismus und der grassierenden Roten Angst, der mit dem Gewerkschaftsführer Samuel Gompers freundschaftlichen Umgang pflegte, erhielt er besonders Sympathien von Seiten des progressiven Parteiflügels der Republikaner und der liberalen Presse wie The New Republic und The Nation. Trotz seiner republikanischen Prägung sahen viele Demokraten in Hoover einen möglichen Kandidaten für ihre Partei, darunter Edward Mandell House und Franklin D. Roosevelt. Am 30. März 1920 bekannte er sich zu den Republikanern und äußerte seine Bereitschaft für eine Präsidentschaftskandidatur gegen die absehbar chancenlosen Demokraten. Die programmatischen Forderungen Hoovers an die Partei, sein schwerer Stand als ehemaliger Food Administrator bei den Farmern sowie sein langer Auslandsaufenthalt und die Zusammenarbeit mit dem Internationalisten Wilson erwiesen sich als hinderlich. Bei den Primaries in Kalifornien trat er gegen Senator Hiram Johnson an, der nahezu doppelt so viel Stimmen erhielt wie Hoover. Am Ende wurde mit Warren G. Harding ein Vertreter der Konservativen Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Handelsminister Noch vor dem Sieg der Republikaner bei der Präsidentschaftswahl von 1920, die eine klare Mehrheit gegen eine Fortsetzung der Politik Wilsons und des internationalen Engagements erbrachte, bot Harding trotz innerparteilicher Kritik Hoover den Posten des Handels- oder Innenministers an. Nach anfänglichem Zögern entschied sich Hoover knapp zwei Wochen vor Amtseinführung des Präsidenten für das Handelsministerium und forderte, es mit mehr Vollmachten auszustatten. Dieses Ministerium sollte er unter der nachfolgenden Präsidentschaft von Calvin Coolidge bis zum 21. August 1928 behalten. Hoover erweiterte die Zuständigkeiten und somit die Bedeutung des Ministeriums auch auf Kosten anderer Ressorts erheblich, so entstanden drei neue Abteilungen für Bau, Radio und Luftfahrt. Eine Schlüsselstellung nahm das Bureau of Foreign and Domestic Commerce unter Julius Klein ein, dessen Haushalt Hoover um das sechsfache erhöhte. Mitarbeiter dieser Abteilung wurden weltweit in bedeutende Städte entsandt, um im Ausland energisch bestehende amerikanische Handels- und Geschäftsmöglichkeiten voranzutreiben, und das Marktgeschehen wurde in regelmäßigen öffentlichen Berichten wie dem Survey of Current Business statistisch so genau erfasst, wie es in Europa erst drei Jahrzehnte später erfolgte. Besonders förderte er die Luftfahrt, führte Fluglizenzen und regelmäßige Sicherheitsinspektionen ein und schrieb für alle Landebahnen Beleuchtung und Funkleitstrahl vor. Dieses Engagement führte dazu, dass der erste Flugplatz der Hauptstadt 1926 den Namen Hoover Field erhielt. Der Flut an Radiosendern, die binnen eines Jahres von 2 auf über 300 angewachsen war, begegnete er mit Lizenzierung, dem Ausschluss von Amateuren und Zuweisung von Sendefrequenzen, beließ es aber bei einem reinen Privatsendermarkt. Neben staatlicher Regulierung neuer Industrien wie Luftfahrt und Radio führte Hoover über das Bureau of Standards die Normung von Bauteilen, Geräten und Werkzeugen über mehr als hundert unterschiedliche Branchen hinweg ein. Um bessere Standards im Bau zu entwickeln, aber auch um bestehende Vorschriften zu deregulieren, gründete Hoover das American Construction Council unter dem Vorsitz von Franklin D. Roosevelt. Als dieser von Hoover forderte, mehr Druck auf die Industrie auszuüben, um Vereinbarungen zu erreichen, weigerte sich der Handelsminister und das Gremium scheiterte. Mehrfach warnte er als Handelsminister vor dem Entstehen einer Spekulationsblase, bat Coolidge darum, etwas gegen Insiderhandel zu unternehmen, und sprach sich für eine Erhöhung des Zinssatzes des Federal Reserve Systems aus, damit ein Absturz des Bullenmarkts verhindert werde. Trotzdem wurde er später allgemein für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht und von den Demokraten jahrzehntelang als Schreckgespenst präsentiert, das die Nation im Falle eines republikanischen Präsidenten erwarte. Als Handelsminister positionierte er sich politisch auch in Konkurrenz zu Außenminister Charles Evans Hughes und Finanzminister Andrew W. Mellon und mitunter zum Präsidenten. Er kritisierte die Militärintervention in Nicaragua und die Währungspolitik gegenüber Mexiko und befürwortete, auch aus ethnischen Vorurteilen heraus, strikte Zuwanderungsregeln für Japaner und Lateinamerikaner. In der grundsätzlichen Frage, ob amerikanische Investitionen weltweit notfalls militärisch zu schützen sind, stand er in Opposition zu Hughes, Mellon und Harding. Anstatt zu intervenieren, sah er die Lösung darin, derartige wirtschaftliche Risiken überhaupt zu vermeiden, weshalb er auch ein Gegner von Rüstungskrediten ins Ausland war. Obwohl Hoover eigene Schutzzölle wie den von Fordney-McCumber aus dem Jahr 1922 auf europäische Importe nicht ablehnte, bekämpfte er Schutzzölle und Subventionen anderer Staaten, wobei er auch einen Preiskrieg mit dem Colonial Office unter Winston Churchill um den Weltmarktpreis von Gummi führte. Er setzte Hungerhilfe für die Sowjetunion von 1921 bis 1923 durch, obwohl er ihre staatliche Anerkennung sein Leben lang bekämpfte. Die American Relief Administration, der Hoover vorstand, versorgte dort mit wenigen freiwilligen amerikanischen Helfern 15 Millionen Menschen. Obwohl eigentlich in Zuständigkeit des Innenministeriums entwickelte Hoover im Naturschutz Initiativen, unter anderem zur Bewahrung der Niagarafälle und der Chesapeake Bay. Besonders erbitterte Auseinandersetzungen führte er mit Landwirtschaftsminister Henry Cantwell Wallace, der kein Verständnis für die wirtschaftliche Bedrängnis der Farmer bei Hoover erkennen konnte, trotz dessen Unterstützung für den Agricultural Credits Act, der die Kreditvergabe an landwirtschaftliche Banken und Genossenschaften förderte. Vor allem aus Gründen der Effizienz sah Hoover neben Modernisierung und Technisierung die Gründung von landwirtschaftlichen Kooperativen als einen Weg aus der Krise der Farmer. Die Förderung solcher Genossenschaften zur Produktion und Vermarktung wurde 1925 Grundlage des Cooperative Marketing Act. Den Gesetzesvorschlag des Repräsentanten Gilbert N. Haugen und des Senators Charles L. McNary, welcher die staatliche Festlegung von Mindestpreisen für einheimische landwirtschaftliche Produkte vorsah und von Wallace besonders forciert wurde, bekämpfte Hoover energisch. Eine Verabschiedung des McNary–Haugen Bill scheiterte später an zwei Vetos des Präsidenten Calvin Coolidge. Gleichfalls sehr intensiv agierte Hoover im Zuständigkeitsbereich des Arbeitsministers James J. Davis. Als es 1922 zu einem Streik im Kohlenbergbau kam, ernannte ihn Harding zum Streitschlichter. Bei den Gewerkschaften genoss Hoover anfangs Sympathien, weil er zur Stärkung des Binnenkonsums für eine angemessene Lohnhöhe und Repräsentation der Arbeiter in Gremien eintrat sowie ein Gegner des Union Busting war. Allerdings differenzierte er nicht zwischen freien Gewerkschaften und abhängigen Betriebsgewerkschaften, so dass er nicht opponierte, als mit deren Gründung die Unternehmer zusehends das Closed-Shop-Prinzip aushebelten. Als im August 1921 die Arbeitslosenzahl auf über 4 Millionen angewachsen war, bewegte er Harding dazu, eine Konferenz unter seinem Vorsitz einzuberufen. Obwohl letztendlich nur die Hürden für öffentliche Bauprojekte auf kommunaler Ebene gesenkt wurden und ohne Beweis schrieb Hoover später das Ende der Rezession von 1921 bis 1923 vor allem dieser Konferenz zu. In den Stahlwerken konnte Hoover mit Unterstützung des Präsidenten den Widerstand von US Steel und anderen Unternehmen brechen und ein Ende der 84-Stunden-Woche durchsetzen. In der Kohleindustrie erzwang er 1924 in Kooperation mit dem Gewerkschafter John L. Lewis eine Einigung, ohne jedoch später auf die Verletzung der Bedingungen durch die Unternehmer zu reagieren. Er geriet zeitweilig in Konflikt mit Justizminister Harry M. Daugherty, der die Förderung von Handelsverbänden durch Hoover nach dem Antitrust Act untersuchen wollte. Sein außergewöhnliches Engagement jenseits seines Ressorts führte öffentlich zu der Stichelei, Hoover sei nicht nur Handelsminister, sondern auch Staatssekretär in allen anderen Ministerien. 1922 veröffentlichte Hoover die Monographie American Individualism, in der er seine wesentliche Überzeugung vom Individualismus als dem überlegenen Wertesystem im Vergleich zu anderen, wie zum Beispiel dem europäischen Kapitalismus und Kommunismus, aus philosophischen Werken und seinen eigenen Auslandserfahrungen analytisch ableitete. Im privaten Unternehmertum Amerikas lag demnach die beste Möglichkeit, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit für den Einzelnen zu erreichen. Hoover war kein Anhänger einer Politik des Laissez-faire, sondern sah in einer Abstimmung von staatlichem Handeln mit privatwirtschaftlichen Interessen, wie sie zum Beispiel in Wirtschaftsverbänden und Aufsichtsbehörden erfolgt, ein Mittel zum Allgemeinwohl. American Individualism wurde überwiegend positiv rezensiert und als bedeutsamer Beitrag zur Sozialtheorie bewertet. Obwohl Hoover in diesem Werk den Sozialismus am schärfsten kritisierte, weil dieser den Menschen als rein altruistisch motiviert ansehe, hob er sich mit den darin geäußerten progressiven Ansichten von der damals vorherrschenden reaktionären Grundstimmung ab und vergrößerte sein Ansehen. Als Minister aus dem progressiven Parteiflügel der Republikaner galt Hoover als ein möglicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft an der Seite von Coolidge bei der Präsidentschaftswahl 1924. Für diese Position wurde von den Delegierten der Republican National Convention aber Charles Gates Dawes ausgewählt. Coolidge hatte Hoover zuvor damit betraut, für ihn den Vorwahlkampf in Kalifornien gegen seinen Herausforderer, Senator Hiram Johnson, zu leiten. Im Kabinett behielt Hoover nach der Wahl von Coolidge seinen Ministerposten. Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte Hoover, als Präsident Coolidge ihn zum Krisenmanager bei der Mississippiflut 1927 ernannte. Hoover schlug für die nächsten Monate sein Hauptquartier in Memphis auf und bereiste unablässig den Mississippi zwischen Cairo und New Orleans, um die Bevölkerung vor Ort zur Unterstützung der obdachlos gewordenen Mitbürger aufzurufen. Es gelang ihm 17 Millionen US-Dollar Spenden einzusammeln sowie 600 Schiffe und 150 Zeltstädte zur Nothilfe zu organisieren. Wie es für ihn typisch war, betonte Hoover, der zu dieser Zeit prominenter war als der Präsident, auch hier allein den Erfolg der durch ihn initiierten lokalen Improvisation und unterschlug, dass ein gutes Drittel der finanziellen und anderen Mittel von Behörden wie dem Public Health Service, dem Landwirtschaftsministerium und der Nationalgarde stammte. Präsidentschaftswahl 1928 Als Präsident Coolidge 1927 überraschend verkündete, nicht zur Wiederwahl anzutreten, galt Hoover als aussichtsreichster Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaftswahl 1928. Die Kandidatur verlief nicht problemlos, denn zum einen kamen Zweifel auf, ob er, wie im Wahlrecht gefordert, seit 14 Jahren Einwohner der Vereinigten Staaten sei, zum anderen trug ihm der wirtschaftskonservative Parteiflügel noch seine direktive Politik als Food Administrator nach. Am Ende gewann er bei den Vorwahlen alle Bundesstaaten bis auf West Virginia, Ohio und Indiana. Hoover wurde bereits im ersten Wahlgang auf der Republican National Convention in Kansas City, Missouri im Juni 1928 nominiert und entschied sich als Running Mate für den unterlegenen Gegenkandidaten Senator Charles Curtis aus Kansas, der später der erste und bisher einzige Vizepräsident mit indianischem Elternteil wurde. Wenige Tage nach der Convention trat Hoover als Minister zurück, um sich voll auf den Wahlkampf zu konzentrieren. Die Rede zur formalen Annahme der Nominierung, welche der Kandidat bis dahin traditionell von der Frontseite seines Privathauses gehalten hatte, hielt Hoover dank des Einsatzes von Ray Lyman Wilbur im Stanford Stadium vor 70.000 Zuschauern. Bei diesem Auftritt, der seinen Präsidentschaftswahlkampf eröffnete, identifizierte sich Hoover mit Harding und Coolidge, versprach ihre Politik fortzuführen und prognostizierte, dass der Tag, an dem das Ende der Armut in Amerika in Sicht sei, bald kommen werde. Das Wahlprogramm umfasste niedrigere Steuern, Schutzzölle, die Ablehnung landwirtschaftlicher Subventionen und Aufrechterhaltung der Prohibition. Sein Wahlslogan A chicken in every pot and a car in every garage entsprach der Konsumorientierung der fordistischen Gesellschaft. Hoover profitierte von seiner Biographie und dem Ruf, ein effizienter Technokrat und weltweit gerühmter Wohltäter zu sein. Hinzu kam, dass der wirtschaftliche Erfolg der Roaring Twenties den Republikanern Harding und Coolidge zugerechnet wurde, denen er als Minister gedient hatte. Hoover galt als schwacher Redner und scheute die Präsenz im Wahlkampf, die sich am Ende auf sechs Auftritte unter anderem in seinem Geburtsort, in Boston und New York City beschränkte. Außerdem hielt er sieben Radioansprachen an die Nation, in denen er seinen demokratischen Konkurrenten, den Gouverneur von New York, Al Smith, kein einziges Mal erwähnte. Hoover organisierte und administrierte vor allem den Wahlkampf und bereitete sich tagelang akribisch auf seine wenigen Reden vor. Die Republikaner drehten den Film Master of Emergencies, welcher Hoovers Stärken als effizienten Verwalter und Krisenmanager akzentuierte. Die politische Indifferenz und Zurückhaltung des technokratischen Hoover wurde im Wahlkampf als eine Tugend dargestellt, die ein neues Zeitalter ankündige, in dem technische Experten den Staat verwalten und keine Berufspolitiker mehr. Um die kühle und starre Wirkung seiner Persönlichkeit sympathischer zu gestalten, die als seine wesentliche Schwäche identifiziert wurde, versendeten die Wahlkampfmanager mehrere tausend von Hoover unterschriebene Fotos, die ihn lächelnd mit seinem Lieblingshund King Tut, einem belgischen Schäferhund, zeigten. Es gab vor allem im ländlichen Amerika teilweise heftige Ressentiments gegen den Demokraten Smith, da dieser Katholik und Gegner der Prohibition war. Der Ku-Klux-Klan gab Pamphlete gegen Smith heraus und organisierte Kundgebungen gegen ihn. Auch dass Smith zur Seilschaft Tammany Hall gehörte, gereichte ihm zum Nachteil. Um die Stimmen der weißen Wähler in den Südstaaten zu erhalten, verneinte Hoover seine Gegnerschaft zu den Jim-Crow-Gesetzen und vermied eine Verurteilung des Ku-Klux-Klans. Mit einem Popular Vote von mehr als 58 Prozent entschied Hoover die Wahl für sich, wobei er seinem Konkurrenten mit New York den eigenen Bundesstaat und fünf weitere im demokratischen Solid South abnahm. Präsidentschaft Hoover wurde am Nachmittag des 4. März 1929 als 31. Präsident der Vereinigten Staaten von Chief Justice William Howard Taft vereidigt. Dies ist bis heute die letzte Amtseinführung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, bei der ein früherer Präsident einen seiner Nachfolger vereidigte. Mit seiner Antrittsrede, die von annähernd 100.000 Zuschauern vor dem Kapitol und 63 Millionen Zuhörern am Radio verfolgt wurde, entsprach Hoover den optimistischen Erwartungen, die mit ihm als erfolgreichem Technokraten verbunden waren und dem Zeitgeist der Roaring Twenties entsprachen. Hoovers extreme Zuversicht und seine Überzeugung von der Überlegenheit des American Individualism mündete in dem während der Weltwirtschaftskrise oft kritisiertem Satz Als Problem sprach er die Zunahme der Kriminalität rund um den 18. Zusatzartikel zur Alkoholprohibition an, für die er nicht individuelles oder staatliches Versagen verantwortlich machte, sondern eine ineffiziente Organisation des Rechtssystems. In sein Kabinett berief er mit Andrew W. Mellon (Finanzen) und James J. Davis (Arbeit) zwei Minister, mit denen er bereits im Kabinett Coolidge amtiert hatte. Vor allem die Ernennung von Mellon sollte die alte Parteigarde zufriedenstellen. Als Geste an den Parteiflügel, der sich für den Schutz der Einkommen der Farmer einsetzte, bot Hoover Senator Charles L. McNary den Posten als Landwirtschaftsminister an. Dieser lehnte jedoch ab. An seiner Stelle übernahm Arthur M. Hyde dieses Amt, in dessen Ressortbereich vor allem der Präsident selbst politisch initiativ wurde. Als leistungsstarke Minister erwiesen sich in den folgenden Jahren Außenminister Henry Stimson, Innenminister Ray Lyman Wilbur, der ein enger Freund Hoovers war, Marineminister Charles Francis Adams und Justizminister William D. Mitchell. Als Berater in wirtschaftlichen Fragen griff Hoover meist auf den Unterstaatssekretär im Finanzministerium, Ogden L. Mills, zurück und umging somit Mellon. Sein Mitarbeiterstab im Weißen Haus war für die damalige Zeit von geringem Umfang und stand Hoover sehr loyal gegenüber. Einige Mitarbeiter, zum Beispiel Lawrence Richey, George Akerson und French Strother, hatten ihm bereits bei den Vorwahlen 1928 zugearbeitet. Als Hoovers Privatsekretär fungierte Walter Newton. Die beginnende Regierungszeit des Präsidenten gestaltete sich positiv. Bei seiner Amtseinführung stiegen die Börsenkurse, er hatte Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus und die Presse war ihm seit seiner Zeit als Minister sehr gewogen, als er regelmäßig Reporter zu offenen Gesprächen in sein Büro eingeladen hatte. Eine seiner ersten Handlungen als Präsident war die Lockerung der Pressegesetze zur wörtlichen Wiedergabe durch Journalisten, welche unter Coolidge verschärft worden waren. Anfängliche Initiativen Hoovers im Kongress, bei denen er auf die Unterstützung durch den Sprecher Nicholas Longworth zählen konnte, betrafen die Zollpolitik und Krisenhilfe für die Landwirtschaft. Zudem unterstützte er die Gründung der National Institutes of Health, die 1930 mittels des Ransdell Act erfolgte, sowie die Schaffung der Veterans Administration im gleichen Jahr. Gesetzesprogramme versuchte Hoover vor allem durch 64 Konferenzen und Kommissionen zu initiieren, welche häufig privat finanziert wurden. Am Abend des 24. Dezember 1929 beschädigte ein Brand den West Wing des Weißen Hauses erheblich. Hoover nutzte seitdem Arbeitszimmer im Hauptgebäude oder nahegelegenen Ministerien. Innenpolitik Smoot-Hawley Tariff Act Die Frage, ob Freihandel oder Protektionismus in der amerikanischen Außenhandelspolitik dominieren sollte, wurde schon seit langem diskutiert. Hoover war kein Anhänger hoher Schutzzölle, glaubte aber, vor allem die heimische Landwirtschaft müsse vor billigen Produkten und Niedriglöhnen des Auslands geschützt werden, zumal sein ökonomisches Leitbild der prosperity hohe Löhne einschloss („high-wage economy“). Er schlug dem Kongress im April 1929 mit Unterstützung des progressiven Flügels der Republikaner unter William Borah ein Zollgesetz vor, das am 28. Mai 1929 vom Repräsentantenhaus als Smoot-Hawley Tariff Act angenommen wurde. Über das Gesetz entspann sich eine kontroverse Debatte in der amerikanischen Öffentlichkeit; die Mehrheitsfindung im Senat gestaltete sich schwierig, zumal Hoover passiv blieb und keinen Versuch unternahm, einen Kompromiss auszuhandeln oder im Rahmen des politischen Klientelismus Druck auf den Kongress auszuüben. Am Ende des Gesetzgebungsprozesses im Kongress enthielt der Smoot-Hawley Tariff Act keinen einzigen der Vorschläge mehr, die Hoover im April 1929 mit Unterstützung der progressiven Republikaner im Repräsentantenhaus eingebracht hatte. Im Juni 1930 unterschrieb Hoover schließlich trotz seiner Opposition den vom Senat im Sinne des Protektionismus erheblich verschärften Smoot-Hawley Tariff Act, was sein bis dahin gutes Verhältnis zum progressiven Parteiflügel stark belastete und als größte politische Niederlage der ersten beiden Amtsjahre gilt. Daneben hatten über 1.000 neoklassische Wirtschaftswissenschaftler von 179 Universitäten den Präsidenten in einem Aufruf aufgefordert, sein Veto einzulegen. Stattdessen wurde aber das Gesetzespaket sogar erweitert und erhöhte die Zölle über den landwirtschaftlichen Sektor hinaus für industrielle Produkte auf ein historisches Rekordniveau, während landwirtschaftliche Exportsubventionen verworfen wurden. Die von Hoover gewünschte unabhängige Expertenkommission, die Einfluss auf die Zolltarife nehmen sollte, fand zwar Eingang in das Gesetz, kam aber in der Praxis nicht zum Tragen. In der Folge reagierten 25 Handelspartner der Vereinigten Staaten mit Gegenmaßnahmen und erhöhten die Einfuhrzölle auf amerikanische Produkte. In diesem Zusammenhang verstärkten einige Staaten die Kontrolle der Wechselkurse und werteten die eigene Währung ab, um Handelsüberschüsse zu erzielen. Innerhalb von zwei Jahren nach Verabschiedung des Smoot-Hawley Tariff Act sanken die amerikanischen Exporte um annähernd zwei Drittel. Agrarpolitik Die amerikanischen Farmer befanden sich in den 1920er Jahren in einer schlechten wirtschaftlichen Lage. Durch neue Technologien konnten die Erträge zwar gesteigert werden, wegen Überproduktion und der starken ausländischen Konkurrenz sanken die Preise. Der republikanische Senator Charles L. McNary und der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses des Repräsentantenhauses, Gilbert N. Haugen, hatten Gesetzesvorschläge zur Subventionierung der Landwirtschaft vorgelegt, doch die McNary–Haugen Farm Relief Bill war bis 1928 viermal an der Ablehnung Coolidges gescheitert. Dieser hatte sich stattdessen für die Ideen seiner damaligen Minister Hoover und William Marion Jardine entschieden, die Elektrifizierung, besseres Saatgut und effizientere Anbau- und Verkaufsmethoden, auch mittels wirtschaftlicher Kooperativen, vorsahen. Als Präsident legte Hoover nun dem Kongress ein im Wesentlichen auf Jardine beruhendes Gesetz zur Schaffung eines Federal Farm Board vor, das mit 500 Millionen Dollar die Bildung landwirtschaftlicher Kooperativen fördern sollte, um so eine Preisstabilisierung zu erreichen. Widerstände im Kongress führten zu einer Kompromisslösung, dem Agricultural Marketing Act, der am 15. Juni von Hoover unterzeichnet wurde. Landwirtschaftliche Produkte konnten nun über nationale Agenturen wie die Farmers National Grain Corporation vermarktet werden. Diese Organisationen sollten zudem große Überproduktion aufkaufen, um die Preise stabil zu halten. Des Weiteren waren Kredite für die Gründung und Stabilisierung landwirtschaftlicher Kooperativen vorgesehen. Das Federal Farm Board besetzte Hoover mit Industriellen, wie zum Beispiel dem Konzernchef von International Harvester, die von vielen Farmern als ihre Ausbeuter wahrgenommen wurden. Er gab zudem die Weisung, den finanziellen Spielraum für Hilfsleistungen möglichst eng auszulegen. Als die Agenturen im Oktober 1929 ihre Arbeit begannen, nahm kurze Zeit später die Weltwirtschaftskrise ihren Anfang. Das Federal Farm Board war schließlich nur noch mit vergeblicher Marktstabilisierung beschäftigt und wurde im Juni 1931, nach dem Verlust von 345 Millionen US-Dollar und der Weigerung Hoovers, Produktionskontrollen durchzusetzen, eingestellt. Nationalparks Zum Vorsitzenden des National Park Service ernannte Hoover den bekannten Naturschützer Horace M. Albright. Während seiner Präsidentschaft nahmen die Schutzflächen um 3 Millionen Acres und somit 40 Prozent zu. Mit den Great Smoky Mountains und den Everglades wurden die ersten Nationalparks im Osten Amerikas geschaffen. Die von Hoover im Oktober 1929 geschaffene Commission on the Conservation and Administration of the Public Domain beabsichtigte, nicht reservierte öffentliche Ländereien und Landgewinnung in die Verantwortung der Bundesstaaten zu geben und so den Naturschutz potenziell anderen Interessen auf lokaler Ebene unterzuordnen. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der westlichen Bundesstaaten, die sich weigerten, die Verwaltung der großen Weideflächen auf ihren Gebieten zu übernehmen, und weiterhin Washington in dieser Pflicht sahen. Minderheitenpolitik Im Alter von sechs Jahren hatte Hoover ein halbes Jahr lang bei einem Onkel in der Indianerreservation Osage County in Oklahoma gelebt. Er erwähnt in seinen Memoiren, dass er in dieser Zeit Schule und Sonntagsschule im Reservat besuchte. Der Onkel und verschiedene andere Verwandte arbeiteten beim Bureau of Indian Affairs. Hoover ist der einzige US-Präsident, der in einer Reservation gelebt hat. Hoover ernannte die Quäker Charles Rhoads und Henry Scattergood, die als Bürgerrechtler in der Indian Rights Association engagiert waren, zu Leitern des Bureau of Indian Affairs. Dabei gab nach seinen Memoiren der Einsatz der Quäker für die Indianerbevölkerung den Ausschlag. Beide definierten eine neue Indianerpolitik. Bis dahin war der Umgang mit den Indianern durch Segregation in Reservate einerseits, das Streben nach völliger Assimilation in die amerikanische Gesellschaft andererseits gekennzeichnet, wie Hoover in seinen Memoiren schrieb. Hoover kritisierte die Absicht der bisherigen Politik, die Indianer auch gegen ihren Willen zu „zivilisieren“. Auch die Aufteilung des Reservatslands in Parzellen durch den Dawes Act lehnte er ab. Sein Plan, der sich auf den 1928 veröffentlichten Meriam Report über die Lage in den Indianerreservationen stützte, sah vor, den Indianern zu ökonomischer Selbständigkeit und Stolz und Respekt für ihre eigenständige Kultur zu verhelfen. Sie schlugen zu diesem Zweck ein Indian Arts and Crafts Board innerhalb des Innenministeriums vor, das eine bessere Vermarktung indianischer Kunsthandwerksprodukte und ihren urheberrechtlichen Schutz garantieren sollte. Weil Hoover stattdessen eine privatwirtschaftliche Finanzierung und Besetzung des Indian Cooperative Marketing Board of Directors vorzog, wurde es erst 1934 unter Hoovers Nachfolger Franklin D. Roosevelt eingerichtet. Auch durch Investitionen in Bildung und Gesundheit sollte die Möglichkeit für Indianer, ein Leben als integrierte amerikanische Staatsbürger zu führen, verbessert werden. Die Lebensmittelhilfe wurde verdreifacht und moderne Krankenhäuser mit besser ausgebildetem Personal konnten gebaut werden. Obwohl Hoovers Ziel die Assimilation der Indianer blieb, legte seine Regierung die Grundlage für eine neue Indianerpolitik, die in den nächsten vierzig Jahren verfolgt wurde. 1931 legte Hoover sein Veto gegen ein Entschädigungsgesetz ein, das den Choctaw, Cheyenne, Chickasaw und Arapaho finanziellen Ausgleich für ihre durch den amerikanischen Staat beschlagnahmten Ländereien in Aussicht stellte. Das Veto begründete er mit der Wertsteigerung des Bodens in den letzten fünfzig Jahren und der Notwendigkeit, Verträge einzuhalten. Er setzte sich aber für eine Erhöhung der Ausgaben für Indianerreservate um 3 Millionen Dollar ein. Hinsichtlich der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung unterstützte er privat die Urban League mit Spenden. Als Präsident förderte er die Howard University und gewann die Stiftung von Julius Rosenwald dafür, die Conference on the Economic Status of the Negro zu finanzieren. Besondere Beachtung und rassistische Proteste durch Politiker aus den Südstaaten löste Lou Hoover aus, als sie die Frau des afroamerikanischen Repräsentanten Oscar Stanton De Priest zum Tee im Weißen Haus empfing. Hoovers Politik in den Südstaaten insgesamt war für die Afroamerikaner enttäuschend und führte dazu, dass sich ihre traditionelle Wählerbindung an die Republikaner als der Partei Abraham Lincolns zu lösen begann. So weigerte er sich, Lynchmorde an Afroamerikanern zu verurteilen und beharrte darauf, dass diese ihr Wohl weiterhin den lokalen weißen Eliten anvertrauen sollten. Justiz Auf der White House Conference on Health and the Protection of Children im Jahr 1930 wurde eine 19 Artikel umfassende (gesetzlich nicht bindende) und von Hoover entworfene Charta zu Kinderrechten, die Child’s Bill of Rights, beschlossen. Die Ergebnisse der vielen Untersuchungen, welche die aus mehreren tausend Delegierten bestehende Konferenz zusammenführte und in 35 Bänden veröffentlichte, prägten die Sozialarbeit im Bereich der Kindererziehung und des Gesundheitsschutzes in den nächsten Jahrzehnten. Die Konferenz empfahl unter anderem ein Verbot der Kinderarbeit und die Schaffung staatlicher Wohlfahrt in diesem Bereich. Den Hinweis der Kommission, dass 10 Millionen Kinder in Armut lebten oder körperlich behindert seien, beschönigte Hoover mit der Feststellung, dass mit 35 Millionen die Mehrheit der Kinder unter gesunden Bedingungen aufwachse. Als Reaktion auf das Valentinstag-Massaker gründete Hoover die elfköpfige National Commission on Law Observance and Enforcement unter Vorsitz von George W. Wickersham. Diese untersuchte das Rechtssystem und konzentrierte sich dabei auf die Auswirkungen der Prohibition und adäquate Reformen. Besondere nationale Beachtung fanden dabei die Ergebnisse der Kommission zur Verbreitung von Polizeigewalt und Bestechlichkeit. Ihre Empfehlung im Abschlussbericht vom Januar 1931 jedoch, die Prohibition beizubehalten, obwohl nur zwei der elf Mitglieder an ihre Wirksamkeit glaubten, wurde allgemein als Lachnummer wahrgenommen. Diese in den Augen der Öffentlichkeit absichtlich falsche Ergebnisdarstellung durch den Präsidenten, der seit seinem Wahlkampf von 1928 der Abstinenzbewegung verpflichtet war, ließ Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufkommen. Hoover betraute William Fielding Ogburn mit der Leitung des Committee on Recent Social Trends, dem Sozialwissenschaftler wie Charles Edward Merriam, Wesley Clair Mitchell und Howard Washington Odum angehörten. Mehrere Variablen der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Bevölkerungszusammensetzung und Ernährung, wurden statistisch erfasst und der 1600 Seiten umfassende Bericht im Jahr 1933 abschließend veröffentlicht. Alle Studien und Konferenzen hatten gemeinsam, dass sie keine aktive Rolle des Staats bei der Lösung der Probleme vorsahen, weshalb der Report kaum politische Auswirkungen hatte. Zum Ende seiner Amtszeit setzte Hoover mit seiner Unterschrift den Norris-LaGuardia Act in Kraft. Dieser schränkte Yellow-dog contracts (Arbeitsverträge, die eine Mitgliedschaft in Gewerkschaften verbieten) und die Möglichkeit ein, Streiks per gerichtlicher Verfügung zu beenden. Am 14. und 27. Mai 1930 bestätigte Hoover zwei Gesetze, auf deren Grundlage das System der Bundesgefängnisse stark ausgebaut werden sollte, um die überfüllten Haftanstalten der Kommunen und Bundesstaaten zu entlasten. Dazu stellte er im Justizministerium mit dem Federal Bureau of Prisons eine eigene Behörde auf. Zu deren erstem Leiter ernannte Hoover Sanford Bates. Der Bau notwendiger neuer Gefängnisse sowie die Verbesserung der Versorgung der Häftlinge und Ausbildung der Wärter wurde mit 5 Milliarden US-Dollar budgetiert. Nach dem Tod von Edward Sanford, einem Angehörigen des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, stand Hoover in der Pflicht, einen Nachfolger zu benennen. Trotz der bereits einsetzenden Great Depression band diese Personalentscheidung sehr viel Aufmerksamkeit des Präsidenten in der ersten Hälfte des Jahres 1930. Hoover entschied sich am 21. März 1930 für John Johnston Parker, der jedoch wegen seiner positiven Urteile im Appellationsgericht zu Yellow-dog contracts auf erheblichen Widerstand der American Federation of Labor stieß. Zudem wurde Parker eine Äußerung aus seinem Gouverneurswahlkampf von 1920 in North Carolina vorgeworfen, in welcher er sich gegen eine aktive Beteiligung der Afroamerikaner an der Politik ausgesprochen hatte. Die National Association for the Advancement of Colored People (NACCP) hielt ihm deswegen Voreingenommenheit gegenüber Schwarzen vor. Die progressiven Republikaner unter der Führung von William Borah verhinderten am 7. Mai im Senat mit einer knappen Mehrheit von 41 zu 39 seine Ernennung. Dies war das erste Mal seit über 30 Jahren, dass ein Präsident bei einer derartigen Nominierung mit seinem Kandidaten scheiterte. Zur Freude des progressiven Parteiflügels konnte Hoover im Jahr 1932 Benjamin N. Cardozo als Nachfolger von Oliver Wendell Holmes, Jr. am Obersten Gerichtshof durchsetzen. Neben antisemitischen Stimmen hatte es regionale Bedenken gegen diese Personalie gegeben, da somit drei der Obersten Richter aus dem Bundesstaat New York stammten. Mit Charles Evans Hughes und Owen Roberts nominierte Hoover während seiner Amtszeit zwei weitere Richter erfolgreich für den Obersten Gerichtshof. Hoover Dam und andere Bauprojekte 1922 hatte Hoover als Minister die Colorado River Commission geleitet, bei der es um die Verteilung der Wasserrechte zwischen den anliegenden Bundesstaaten ging, um einen Stausee zu bauen. Am 24. November 1922 hatte er eine Einigung von sieben der acht beteiligten Staaten erreichen können. Im Juni 1929 erreichte Hoover im Kongress den Boulder Canyon Project Act, der neben der Wasserversorgung in Südkalifornien die Flutkontrolle im Imperial Valley sowie die Stromgewinnung von 3 Millionen Kilowattstunden zum Ziel hatte. Trotz der in diesem Gesetz vorgesehenen Bevorzugung von Gemeinden und anderen öffentlichen Körperschaften bei der Aufteilung des gewonnenen Stroms wurden unter Hoovers Präsidentschaft tatsächlich die Privatunternehmen bevorzugt. Als Präsident stellte er am 3. Juli 1930 die Mittel zum Bau des Boulder Dam zur Verfügung. Der mit einer Firma aus San Francisco vereinbarte Staatsauftrag zur Konstruktion war mit knapp 49 Millionen Dollar der bis dahin teuerste in der amerikanischen Geschichte. Als Innenminister Wilbur am 17. September 1930 bei der Eröffnungsfeier einer Bahnverbindung zwischen Las Vegas und der im Bau befindlichen Talsperre diese Hoover Dam nannte, wurde dies kritisch aufgenommen. Zum einen war eine solche Benennung bei noch amtierenden Präsidenten unüblich, zum anderen war Hoover mit Einbruch der Weltwirtschaftskrise in Teilen der Presse äußerst unbeliebt geworden. Unter Hoovers Amtsnachfolger Roosevelt verfügte Innenminister Harold L. Ickes am 8. Mai 1933 die Streichung dieser Ehrung und Einführung von Boulder Dam als offizieller Bezeichnung für das Bauwerk. Erst im Jahr 1947 beschloss der Kongress die Rückbenennung in Hoover Dam. Am 1. Mai 1931 eröffnete Hoover das Empire State Building in New York, das damals höchste Gebäude der Welt. Dazu schaltete er von Washington aus die Beleuchtung des Wolkenkratzers ein. Als nationales Ereignis erfuhr es eine breite Berichterstattung im Radio. Der bereits durch den Kongress gebilligte Muscle Shoals Bill, welcher von Senator George W. Norris eingebracht worden war und die staatliche Inbetriebnahme einer Talsperre nahe Muscle Shoals vorsah, wurde 1931 von Hoover mit einem Veto verhindert. Aus ideologischen Gründen lehnte er es ab, mit einem Staatsunternehmen in Konkurrenz zur Privatwirtschaft zu treten. Unter seinem Nachfolger wurde das Projekt wieder aufgenommen und bildete die Grundlage der Tennessee Valley Authority. Bonus Army Während der Senat am 17. Juni 1932 über einen auf Wright Patman zurückgehenden und im Repräsentantenhaus bereits verabschiedeten Gesetzesvorschlag, der eine sofortige Auszahlung erworbener Boni an Veteranen des Ersten Weltkriegs vorsah, debattierte und am Abend mit deutlicher Mehrheit ablehnte, wurde das Kapitol von 6000 Angehörigen der Bonus Army belagert. Im Laufe des Tages strömten weitere 13.000 Mitglieder der Bonus Army auf den Capitol Hill. Insgesamt 43.000 Veteranen und ihre Familien aus einem nahegelegenen Elendsviertel – den während der Weltwirtschaftskrise überall aufwachsenden sogenannten Hoovervilles – harrten in den folgenden Wochen dort, in leerstehenden Gebäuden auf der Pennsylvania Avenue oder behelfsmäßigen Lagern aus und warteten auf eine Entscheidung Hoovers. Als es am 28. Juli zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und den Demonstranten kam, bei der zwei Veteranen den Tod fanden, befahl Hoover dem Militär das Gelände zu räumen. Der kommandierende General Douglas MacArthur setzte sich über die anderslautende Weisung des Präsidenten hinweg und ließ mit sechs Panzern sowie Kavallerie- und Infanterieeinheiten mit aufgepflanzten Bajonetten die Bonus Army gegen Mitternacht zusätzlich aus ihren Elendsquartieren am Anacostia River vertreiben, die dabei aus ungeklärter Ursache abbrannten. Kein anderes Ereignis während seiner Präsidentschaft schädigte Hoovers Reputation derart wie dieser Vorgang und festigte die öffentliche Überzeugung, er sei ein kalter und herzloser Mensch. Außenpolitik Good Neighbor Policy Kurz nach der Präsidentschaftswahl bereiste Hoover zehn Staaten in Lateinamerika und kündigte politische und militärische Zurückhaltung der Vereinigten Staaten in dieser Region sowie ein Bemühen um gute Nachbarschaft an. Hoover ließ 1930 das Clark Memorandum veröffentlichen, das die Unvereinbarkeit von Roosevelt-Corollary und Monroe-Doktrin feststellte, wodurch die Legalität interventionistischer Maßnahmen in Frage gestellt wurde. Bis auf eine Interventionsdrohung gegenüber der Dominikanischen Republik enthielt sich Hoover jeder Einmischung, auch als während der 20 Umstürze in Lateinamerika in seiner Amtsperiode antiamerikanische Regime an die Macht kamen. Er beendete nach der Wahl von Juan Bautista Sacasa die US-Militärintervention in Nicaragua. In einem Vertrag sicherte er Haiti das Ende der amerikanischen Besatzung zum 1. Januar 1935 zu. Hoover legte somit die Grundlagen für die spätere Good Neighbor Policy seines Nachfolgers gegenüber Lateinamerika. Auf einer Konferenz in Washington vermittelte Hoover im Januar 1929 einen Kompromiss zwischen Chile und Peru hinsichtlich der offenen Fragen des Vertrages von Ancón. Des Weiteren wurden dort Verhandlungsprotokolle für den Ablauf von Schiedsverfahren sowie ein allgemeines Abkommen zur Schlichtung beschlossen. Diese Vereinbarungen wurden zu den zentralen Grundlagen für zwischenstaatliche Konflikte auf dem amerikanischen Kontinent, erwiesen sich aber in den nächsten Jahren als wenig wirkungsvoll. Hoover-Moratorium Seit dem Herbst 1930 machte Hoover die internationale wirtschaftliche Lage, vor allem in Europa, für die Depression in Amerika verantwortlich. Aus der deutschen Botschaft in Washington wurde das Gerücht nach Berlin gemeldet, er wolle durch eine spektakuläre Initiative die Weltwirtschaftskrise beenden, um als „great president“ in die Geschichte einzugehen. Der deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning regte daraufhin bei Botschafter Frederic M. Sackett an, Amerika solle eine Weltwirtschaftskonferenz einberufen, auf der Abrüstung, die politische Verschuldung und eine internationale Wirtschaftsförderung beraten werden könne. Finanzminister Mellon besprach bereits mit dem ehemaligen deutschen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht die Möglichkeit eines Zahlungsaufschubs sowohl für die deutschen Reparationsverpflichtungen als auch für die interalliierten Kriegsschulden, die die europäischen Siegermächte an Amerika zurückzahlen mussten. Doch Hoover lehnte ab: Er hatte sich stets gegen die europäische Haltung gewehrt, die einen direkten Zusammenhang zwischen den deutschen Reparationsverpflichtungen und den interalliierten Kriegsschulden sah. Diese Haltung begann sich im Frühjahr 1931 zu ändern, als nach dem Zusammenbruch des renommierten österreichischen Creditanstalt-Bankvereins immer mehr kurzfristige Privatkredite aus Deutschland abgezogen wurden und Brüning im Juni im Rahmen einer Notverordnung, die harte Sparmaßnahmen vorsah, eine baldige Einstellung der Zahlung seiner Reparationsverpflichtungen andeutete. Wenn Deutschland ein Zahlungsmoratorium erklärte, wozu es nach den Bestimmungen des Young-Plans berechtigt war, drohte es eine internationale Debatte auch über die interalliierten Kriegsschulden auszulösen. Dies wollte Washington unbedingt verhindern. In der Regierung Hoover sprach sich insbesondere Ogden Mills dafür aus, ein Zahlungsmoratorium für Reparationen und Kriegsschulden vorzuschlagen. Auch von den Banken der Wall Street wurde der Präsident in diese Richtung gedrängt, denn eine deutsche Moratoriumserklärung für seine politischen Schulden drohte einen Schaltersturm auf Privatbanken auszulösen, der in einer allgemeinen Zahlungsunfähigkeit des Landes hätte enden können. Die amerikanischen Banken, die Kredite im Wert von über drei Milliarden Reichsmark an deutschen Firmen geliehen hatten, hofften, dass ein zeitweiliger Verzicht auf die Rückzahlung der politischen Schulden Deutschlands ihre Kredite sichern würde. Auch die britische Regierung unter Premierminister Ramsay MacDonald drängte. Hoover hatte lange gezögert, denn ein einjähriger Verzicht auf die Kriegsschuldenrückzahlung minderte die Staatseinnahmen um etwa 250 Millionen Dollar. Zudem fürchtete er den Widerstand des isolationistischen Vorsitzenden des United States Senate Committee on Foreign Relations William Borah. Als am 18. Juni 1931 ein deutsches Moratorium unmittelbar bevorzustehen schien, entschloss sich Hoover zu handeln. Statt der ursprünglich vorgesehenen zwei Jahre sollte das Moratorium aber nur ein Jahr dauern. Er informierte die britische Regierung und wies Botschafter Sackett an, in Berlin um ein Telegramm des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zu bitten, in dem dieser wiederum um amerikanische Hilfe bat. Auf Grund von Presseindiskretionen konnte Hoover diesen Hilferuf nicht abwarten und veröffentlichte seinen Vorschlag am 20. Juni 1931. Diese Erklärung kam wie ein Paukenschlag. In Deutschland wurde sie allgemein bejubelt, nur die Nationalsozialisten waren verärgert: „Das Hoover-Angebot [...] wird unseren Sieg um etwa 4 Monate verschieben. Es ist zum Kotzen!“, notierte Joseph Goebbels am 24. Juni 1931 in sein Tagebuch. Umso empörter reagierten öffentliche Meinung und Regierung in Frankreich, da diese als größter Reparationsgläubiger nicht konsultiert worden waren. Das empfand Paris als klaren Affront. Angesichts der weltweiten Zustimmung zu Hoovers Plan erschien er aber nicht ablehnbar. Die Regierung des liberalkonservativen französischen Ministerpräsidenten Pierre Laval knüpfte ihre Zustimmung daher daran, dass das Hoover-Moratorium mit den rechtlichen Bestimmungen des Young-Plans kompatibel gemacht würde. Dies wurde in komplizierten Verhandlungen erreicht, die sich bis zum 8. Juli 1931 hinzogen. Durch diesen Zeitverlust verlor Hoovers Vorschlag viel von seiner psychologischen Wirkung. Die Kreditabzüge aus Deutschland wuchsen sich zu einer verheerenden Bankenkrise aus, am 13. Juli 1931 erklärte Deutschland seine Zahlungsunfähigkeit für sämtliche Auslandsschulden. Damit war das eingetreten, was Hoover mit seiner Initiative hatte vermeiden wollen. Abrüstungskonferenzen Hoover, der als Quäker eine pazifistischere Gesinnung hatte als die meisten anderen Präsidenten in der amerikanischen Geschichte, bemühte sich beharrlich um internationale Abkommen zur Abrüstung, wobei er vom britischen Premier Ramsay MacDonald unterstützt wurde. Für ihn war Moral das Mittel der Wahl, um Frieden zu schaffen; nicht Militär. Innenpolitisch hatte er bereits im Sommer 1929 eine Kommission zum Personalabbau in der Armee geschaffen und Rüstungsprojekte der US Navy auf Eis gelegt. Im Jahr 1930 nahm Außenminister Stimson mit einer Delegation angesehener Republikaner und Demokraten an der Londoner Flottenkonferenz teil, die über Maßnahmen zur Rüstungskontrolle im Bereich der Marine verhandelte. Dort konnte Stimson mit dem Vereinigten Königreich und Japan, jedoch nicht mit Frankreich und Italien, Beschränkungen bei Anzahl und Größe von Kriegsschiffen vereinbaren. Der Senat stimmte diesem Abkommen im Juli 1930 zu. Auf der Genfer Abrüstungskonferenz im Jahr 1932 hatte die Delegation des Präsidenten mit der Abschaffung aller U-Boote, Kampfflugzeuge und Panzer sowie einer deutlichen Kürzung aller anderen Rüstungsausgaben wirklichkeitsfremde Forderungen. Ohne Einfühlungsvermögen für dessen Geschichte und Bedrohungslage schalt Hoover Frankreich für sein hohes Verteidigungsbudget. Bis zum Ende seiner Amtszeit hatte die Konferenz keine Ergebnisse vorzuweisen. Hoover-Stimson-Doktrin Während der Mandschurei-Krise im September 1931 reagierte Hoover zurückhaltend, zumal er als Ingenieur in Tianjin Vorurteile gegenüber China entwickelt hatte, eher mit der Industrienation Japan sympathisierte und innenpolitisch mit der Weltwirtschaftskrise vollauf beschäftigt war. Um nicht in diesen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden, sprach sich Hoover gegen einen Boykott Japans aus und wehrte Versuche des Völkerbunds ab, Washington gegen Tokio in Stellung zu bringen. Im Januar 1932 kam es zur offiziellen Erklärung der Hoover-Stimson-Doktrin durch den Außenminister. Demnach erkannte Amerika keine territorialen Veränderungen in diesem Konflikt an, die den Bestimmungen des von Japan 1928 unterzeichneten Briand-Kellogg-Pakt zuwiderliefen. Weltwirtschaftskrise Die Erwartungen an Hoover, den ersten Präsidenten, der westlich des Mississippi geboren wurde, waren sehr groß. Von der Öffentlichkeit wurde er als erfolgreicher Technokrat angesehen, der die Wirtschaft effizient handhaben und dem gesamten Land zu weiterem Wohlstand verhelfen sollte. Prosperity („Wohlstand“) war daher auch der Kernbegriff seiner Rede zum Amtsantritt gewesen. Die im Oktober 1929 mit dem Schwarzen Donnerstag beginnende Weltwirtschaftskrise bestimmte Hoovers restliche Präsidentschaft und seine anfänglich große Popularität kehrte sich in ihr Gegenteil. Er hatte die Krise nicht kommen sehen und optimistisch kurz vor dem Crash gesagt . Im weiteren Ereignisverlauf mied Hoover die Bezeichnung Krise und sprach stets von einer Depression, was seine Reputation nachhaltig schädigte. Diese Aussage wurden von den Auswirkungen der Great Depression, die sich ab Oktober 1929 rasch zuspitzte, widerlegt. In den ersten öffentlichen Reaktionen äußerte sich Hoover zwar weiterhin optimistisch zur wirtschaftlichen Lage, sorgte sich aber, es könnte sich um eine beginnende Rezession handeln, und arbeitete mit seiner Regierung an Gegenmaßnahmen. Die Vorschläge seiner Berater sahen Steuersenkungen, eine Lockerung der Zinspolitik der Federal Reserve und einen Ausbau öffentlicher Arbeiten vor, wozu der Präsident die Bundesstaaten und Kommunen gleichfalls aufforderte. Seinem Stil entsprechend setzte Hoover auf Kooperation, freiwillige Verpflichtungen, wissenschaftliche Expertise und statistische Datenerfassung sowie begrenzte staatliche Maßnahmen. So ließ er das Handels- und das Arbeitsministerium beauftragen, die Entwicklung der wirtschaftlichen Kennwerte statistisch genau zu erfassen und zu dokumentieren. Im November 1929 hielt er mehrere Konferenzen mit Gewerkschaften, Unternehmen und Regierungsvertretern ab und erreichte Zusagen, es würde weder Streiks für Lohnerhöhungen noch Entlassungen von Arbeitnehmern mehr geben. Henry Ford versprach nach einer dieser Konferenzen im gleichen Monat Lohnerhöhungen und weitere Investitionen. Für mehr als ein Jahr sollte ein beachtlicher Anteil der Zusagen, die auch Preisstabilisierung durch das Federal Farm Board, eine Zinssenkung der Federal Reserve und öffentliche Investitionen von 150 Millionen US-Dollar durch den Kongress umfassten, von den beteiligten Organisationen eingehalten werden, was am rapiden Rückgang der Investitionen aber nichts änderte. Viele Unternehmen senkten zwar nicht die Löhne, fuhren aber die Produktion zurück und schmälerten so die Gehälter. Der so entstehende Einbruch in der privaten Nachfrage führte in einem Teufelskreis dazu, dass wiederum die Wirtschaft Produktion und Lohnkosten weiter absenkte. Eine Depression setzte ein und vertiefte sich, was unter anderem dazu führte, dass trotz der Vereinbarungen und Zusagen der Konferenz die Arbeitslosenzahl allein in den zehn Tagen vor Weihnachten 1929 um eine Million stieg. Zu dieser Zeit lud auf Vorschlag Hoovers die Chamber of Commerce unter Vorsitz von Julius H. Barnes Wirtschaftsverbände zur National Business Survey Conference ein, welche zentrale Geschäftshindernisse entdecken und beheben sollte. Sie beruhte auf freiwilliger Mitarbeit und konnte auf das Fachwissen von 170 teilnehmenden Organisationen zurückgreifen. Die National Business Survey Conference leistete laut dem Historiker Robert S. McElvaine nichts weiter als Optimismus zu verbreiten und stellte sich als ein solcher Fehler heraus, dass sie bereits 1931 aufgelöst und von Hoover, der sie anfangs mit Enthusiasmus begleitet hatte, in seinen späteren, ausführlichen Memoiren nicht erwähnt wurde. Im März 1930 teilten das Arbeits- und das Handelsministerium entgegen der weit verbreiteten Ansicht dem Präsidenten mit, dass der Tiefpunkt der Krise durchschritten sei. Hoover lehnte auf dieser Grundlage weitergehende staatsfinanzierte Programme ab, korrigierte die durch das United States Census Bureau gemeldete Arbeitslosenzahl von über drei auf unter zwei Millionen und verkündete am 1. Mai 1930 öffentlich, dass bei Fortführen der Anstrengungen eine rasche Erholung in Sicht sei. Im gleichen Monat wendete sich die wirtschaftliche Lage wieder zum Schlechteren. Auch, um mit dieser Initiative die zunehmenden Forderungen nach einem staatlichen Arbeitslosengeld hinzuhalten, gründete Hoover im Herbst 1930 das President’s Emergency Committee on Employment (PECE), zu dessen Vorsitzenden er seinen Freund Colonel Arthur Woods ernannte. Die PECE koordinierte die Arbeitslosenhilfe privater Wohltätigkeitsorganisationen. Der Historiker Robert S. McElvaine bewertet die optimistische Namensgebung als typisch für Hoovers Präsidentenkommissionen: Die lückenhafte Auswahl und Betonung der Ideen und Informationen sowie das fehlende Bemühen, verlässliche Arbeitslosigkeitsstatistiken zu erheben, geschweige denn lokale Unterstützung zu finanzieren, schufen ein positives Bild der Lage, dessen Wert mehr anekdotisch als exakt gewesen sei. Für Hoovers Grundüberzeugung bezeichnenderweise setzte das PECE gleichfalls auf freiwillige Mitarbeit und Kooperation mit dem Staat, wozu Hoover sich später wie folgt äußerte: Die Depression vertiefte sich im Jahresverlauf 1930 weiter; so sanken die Bruttoinvestitionen um 35 Prozent. und die Bauwirtschaft schrumpfte um 26 Prozent. Insgesamt gingen 1930 mehr als 1300 Banken in den Konkurs, allein in den letzten beiden Monaten waren es mehr als 600. Es kam zu Bankanstürmen. Im Dezember verkündete die private Bank of United States ihre Insolvenz, was in der Geschichte den bis dahin größten Bankenausfall darstellte. Da die Federal Reserve eine Rettung ablehnte, versuchten verunsicherte Anleger ihre Wertpapiere zu verkaufen, was die Preise weiter destabilisierte. Anders als bei der Panik von 1907 versorgten die großen Privatbanken den Markt nicht mit Kapital, weil sie sich auf die Federal Reserve als Kreditgeber verließen. 1931 appellierte Hoover an die Öffentlichkeit, den Optimismus nicht zu verlieren. Anfang des Jahres äußerte er: Im Februar 1931, wenige Monate nach den großen Verlusten seiner Partei bei den Wahlen zum Kongress von 1930, der somit erstmals seit 1919 wieder eine Mehrheit der Demokraten hatte, unterzeichnete Hoover einen Gesetzesvorschlag des demokratischen Senators Robert F. Wagner. Der Wagner-Graham Stabilization Act sah die Planung öffentlicher Beschäftigungsprogramme in Phasen wirtschaftlicher Rezession vor. Das somit geschaffene Federal Employment Stabilization Board blieb aber nach dem Willen der präsidialen Verwaltung eine unbedeutende, mit statistischer Analyse befasste Behörde, die bis zu ihrer Auflösung im Juni 1933 so gut wie nichts erreicht hatte. Ein weiteres Gesetz zur Stärkung der weitgehend wirkungslosen staatlichen Arbeitsagentur United States Employment Service blockierte Hoover Anfang 1931 mit einem Pocket Veto. Im August 1931 transformierte Hoover die PECE in die President’s Organization for Unemployment Relief (POUR), zu deren Leiter er Walter S. Gifford ernannte, den Chef von AT&T. Die auf öffentliche Spendenwerbung und ähnliches Marketing setzende POUR erwies sich als genauso kraftlos wie die PECE. Die im Oktober 1931 gegründete National Credit Corporation (NCC) war Hoovers letzter Versuch, auf freiwillige Mitarbeit und Vereinbarungen zu setzen. Die NCC hatte zum Ziel, dass sich die Banken regional anhand der Federal Reserve Districts in Verbänden zusammenschließen, und verfügte über eine Milliarde US-Dollar Kreditsumme, um diese Organisationen zu beleihen. Nach zwei Monaten war dieses Projekt gescheitert, da die Banken nicht bereit waren, sich gemeinsam in Verbänden zu organisieren und untereinander Kredite zu gewähren. Des Weiteren waren die Darlehen der NCC beschränkt und betrugen in den zwei Monaten ihrer Existenz nicht mehr als zehn Millionen US-Dollar. Im Herbst 1931 begannen große Industriebetriebe wie Ford und General Motors sich von ihren im November 1929 getroffenen Zusagen, die Löhne nicht zu senken, zu distanzieren. Grund für diese Entscheidung war Hoovers Weigerung, den Unternehmen angesichts Deflation und gleichbleibenden Nominallöhnen Mindestprofite zu garantieren. In der State of the Union Address am 8. Dezember 1931 kündigte Hoover neben Austerität und Haushaltskonsolidierung die Wiederbelebung der im Ersten Weltkrieg gegründeten War Finance Corporation an. Diese ab Januar 1932 in Reconstruction Finance Corporation (RFC) umbenannte unabhängige Behörde wurde mit 500 Millionen US-Dollar ausgestattet und versorgte vor allem Banken, Bahngesellschaften und Versicherungsunternehmen gegen ausreichende Sicherheiten mit Krediten. Noch während Hoovers Amtszeit wurde das Kapital der RFC auf 2 Milliarden erhöht. Die RFC stellte die wichtigste von Hoover gegründete Initiative zur Bekämpfung der Great Depression dar und wurde unter seinem Amtsnachfolger mit höheren Kreditsummen fortgeführt. Die RFC wurde ein Symbol für die negative öffentliche Wahrnehmung des Präsidenten, da sie kaum Direkthilfen für Arbeitslose oder das Kleingewerbe vorsah. Bezüglich der Bank Runs blieb die RFC erfolglos, noch 1933 fielen über 4.000 Banken aus. Als Schritt in Richtung der späteren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des New Deal erwiesen sich die 700 Millionen US-Dollar, die Hoover 1931 zur Schaffung von Jobs in den öffentlichen Sektor investierte. Die Great Depression vertiefte sich 1931 weiter; bei steigenden Arbeitslosenzahlen sanken im Jahresverlauf die Bruttoinvestitionen um 35 Prozent und die Bauwirtschaft schrumpfte um weitere 29 Prozent, während über 2000 Banken Konkurs anmeldeten. Die Verelendung wurde nun im öffentlichen Raum sichtbar. Mehr als eine Million obdachlos gewordene Bürger lebten in leeren Güterwaggons, die als Hoover-Schlafwagen bekannt wurden, oder in Slums, den sogenannten Hoovervilles. Der Präsident selbst war immer mehr als Ebenezer Scrooge verrufen. Mit 60 Prozent war das Haushaltsdefizit für das Jahr 1932 das größte zu Friedenszeiten der amerikanischen Geschichte, während die Arbeitslosigkeit auf 12 Millionen anstieg und seit 1929 jeder vierte Farmer sein Land an Gläubiger verloren hatte. Republikaner und Demokraten verständigten sich daraufhin auf den Revenue Act von 1932, der Steuererhöhungen und Zusatzabgaben vorsah, um den Haushalt auszugleichen. Hoover, der persönlich wahrscheinlich bereit dazu war, in Phasen der Depression Defizite hinzunehmen, erkannte, dass seine Position politisch nicht haltbar war, und stimmte zu. Gegen die im Gesetz vorgesehene Verkaufssteuer, welche die gesamte Bevölkerung getroffen hätte, erreichte den Kongress eine nie gesehene Flut von Protestschreiben, die Wirkung zeigten. Bei den Abstimmungen schlossen sich progressive Republikaner und Demokraten gegen ihre Parteiführer zusammen, so dass am Ende der Revenue Act Immobilien-, Zusatz- und Einkommensteuer­erhöhungen für gut Verdienende enthielt, aber keine Verkaufssteuer. Obwohl er nur 15 Prozent aller amerikanischen Haushalte betraf, stellte er die größte Steuererhöhung in der amerikanischen Geschichte zu Friedenszeiten dar. Im gleichen Jahr verabschiedete der Kongress auf Vorschlag Hoovers den Federal Home Loan Bank Act. Die durch ihn geschaffenen Federal Home Loan Banks (FHL-Banken) sollten Hausbesitzer bei Hypotheken unterstützen. Dazu verliehen die FHL-Banken Kapital vor allem an die saving and loan associations (S&Ls) und auch an Versicherungsunternehmen. Die FHL-Banken vergaben keine direkten Hypothekendarlehen, sondern finanzierten den Markt über Rediskontierung. Die Maßnahme kam jedoch zu spät und die Kredite waren mit zu hohen Auflagen verbunden, so dass das FHL-System nicht mehr effektiv wirken konnte, worunter insbesondere die S&Ls zu leiden hatten. Das Momentum des erfolgreichen öffentlichen Protests gegen die Einführung von Umsatzsteuern machte es für Republikaner und Demokraten unvermeidlich, sich für direkte Armen- und Arbeitslosenunterstützung einzusetzen. Gegen einen ersten Gesetzesvorschlag dieser Richtung, der mit breiter Mehrheit im Kongress verabschiedet wurde, legte Hoover sein Veto ein, das er wie folgt begründete: Einen geänderten Entwurf des Emergency Relief and Construction Act, der den prinzipiellen Überzeugungen Hoovers immer noch widersprach, unterzeichnete der Präsident im Juli 1932. Da die Hoover-Anhänger in den entscheidenden Positionen dieses Hilfsprogramms staatlicher Wohlfahrt genauso ablehnend gegenüberstanden, erfolgte die Kreditvergabe sehr sparsam und nach kleinlichen, teilweise erniedrigenden Prozeduren, denen sich sowohl die anfragenden Bürger als auch Bundesstaaten respektive deren Gouverneure zu unterziehen hatten. So wurden von den 322 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellten Mitteln bis Januar 1933 lediglich sechs Millionen bewilligt. Dass die im Dezember zuvor von Hoover geschaffene RFC sich bei der finanziellen Unterstützung von Banken im Gegensatz dazu als freigiebiger erwies, wurde von den Demokraten im Präsidentschaftswahl 1932 dankbar als Thema aufgenommen. Im Fiskaljahr 1932 bewilligte Hoover weitere 750 Millionen US-Dollar Investitionen im öffentlichen Sektor, vor allem für Bauprojekte wie unter anderem Häfen, Docks, Hochwasserschutz, Schifffahrtswege, militärische Einrichtung und die Fortführung des Hoover-Damms. Im Jahresverlauf verschärfte sich die Situation nichtsdestoweniger immer stärker. So verkündete Hoover im Oktober 1932, kurz vor der Präsidentschaftswahl, für Nevada ein Banken-Moratorium, dem im Februar 1933 der Zusammenbruch des Finanzsystems in Michigan folgte. Am stärksten getroffen von Bank Runs wurden die Städte Chicago, Detroit und Cleveland. Präsidentschaftswahl 1932 Da es Hoover nicht gelang, die Vereinigten Staaten aus der größten Staatskrise seit dem Bürgerkrieg zu führen, und er keine öffentliche Geste des Mitgefühls für die zunehmende Verelendung fand, wurden ihm Mitleidlosigkeit und Härte und durch die linksliberale Zeitschrift The Nation sogar „kaltblütiger Mord“ vorgeworfen. Hoover hatte bei der Präsidentschaftswahl 1932 keine Chance gegen den Kandidaten der Demokraten, Franklin D. Roosevelt, der mit dem New Deal neue Hoffnung für die Bevölkerung versprach. Die anfangs mit Hoover sympathisierende Presse hatte sich seit Ende 1929 immer mehr von ihm abgewendet, nicht zuletzt, da er die meisten ihrer Anfragen für Interviews unbeantwortet ließ und darauf bestand, diese vor dem Druck zu lesen und erst dann freizugeben. Bis 1932 entwickelte sich daraus in weiten Teilen ein Verhältnis gegenseitiger nahezu feindseliger Ablehnung. Am Ende verlor Hoover mit einem Popular Vote von knapp 40 Prozent gegenüber Roosevelts 57 Prozent und gewann nur sechs Bundesstaaten in Neuengland. Er schied als der unbeliebteste Präsident seit Rutherford B. Hayes 52 Jahre zuvor aus dem Amt. Bei einem Treffen mit seinem gewählten Nachfolger Roosevelt am 22. November 1932 im Weißen Haus drängte Hoover ihn dazu, den Goldstandard beizubehalten und durch entsprechende Konzessionen das Vereinigte Königreich zu einer Rückkehr in diese Währungsordnung zu bewegen. Zudem mahnte er Roosevelt, eine klare Position hinsichtlich der Kriegsschuldenfrage zu beziehen, obwohl seine Administration selbst hinsichtlich der Ergebnisse der Konferenz von Lausanne dies versäumt hatte. Hoover erreichte von Roosevelt jedoch keine verbindlichen Zusagen, auch nicht in den folgenden Wochen, in denen sie ihre Verhandlungen fortführten. Hoovers Amtszeit endete turnusgemäß am 4. März 1933. Zeit nach der Präsidentschaft Nach seiner Wahlniederlage und dem Amtsantritt seines Nachfolgers zog sich Hoover verbittert aus der Öffentlichkeit zurück. Zu Unrecht von der Allgemeinheit für das Einsetzen der Weltwirtschaftskrise verantwortlich und als Lakai der Wall Street verächtlich gemacht, hielt selbst die eigene Partei zu ihm Distanz. Hoover wehrte sich gegen die Vorwürfe, indem er in den nächsten Jahren mehr als zwei Dutzend Bücher veröffentlichte. Er attackierte darin die Politik des New Deal scharf und bezeichnete sie unter anderem als faschistisch und sozialistisch. Roosevelt warf er vor, eine Zentralverwaltungswirtschaft anzustreben, und verdächtigte ihn, totalitäre Ziele zu verfolgen. Obwohl er sich weiterhin für einen strikten Libertarismus aussprach, stellte er sich andererseits als geistiger Vater der Maßnahmen des New Deal dar, die Erfolge zeigten. Bei der Präsidentschaftswahl von 1936 unterstützte er den Republikaner Alf Landon, nachdem seine eigenen Hoffnungen auf eine Nominierung klar scheiterten. Im Jahr 1938 bereiste Hoover Europa, wo er, anders als in der Heimat, sehr populär war. In Belgien feierten ihn die Massen auf seiner Reise durch das Land; König Leopold III. zeichnete ihn aus, und die Université Lille Nord de France verlieh Hoover seine erste Ehrendoktorwürde, der noch ein Dutzend weitere folgten. Im Deutschen Reich gab Hoover erst auf Druck des amerikanischen Botschafters Hugh Robert Wilson hin nach und folgte am 8. März einer Einladung Adolf Hitlers. An einer Stelle ihrer Unterredung bat er laut einem Bericht Hitler zu schweigen und sich wieder hinzusetzen, als dieser im Stehen eine mehrminütige Tirade über Juden hielt. Später besuchte Hoover Hermann Göring in Carinhall. Seine Haltung gegenüber Juden war ambivalent; zum einen war Hoover von der Judenverfolgung im Dritten Reich erschüttert, zum anderen hatten sie seiner Ansicht nach zu viel Einfluss auf die Außenpolitik Amerikas. Dass Berlin Kriegspläne habe, schloss Hoover noch im Juli 1939 aus, und selbst nach dem Überfall auf Polen hielt er einen deutschen Angriff gegen Frankreich für eine absurde Annahme. Einen Eintritt Amerikas in die Kampfhandlungen lehnte Hoover ab. Auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner zur Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1940 brachte sich Hoover als Kandidat ins Spiel, obwohl ihm seine Anhänger angesichts von parteiinternen Zustimmungsraten von zwei Prozent laut Gallup-Umfrage davon abrieten. Er konnte kaum Delegierte für sich gewinnen und am Ende wurde der politische Quereinsteiger Wendell Willkie, ein liberaler Republikaner, Herausforderer des späteren Wahlsiegers Roosevelt. Selbst seine Wahlkampfunterstützung für Willkie war in einigen Bundesstaaten unerwünscht und wurde zum Beispiel in Connecticut grob zurückgewiesen. Hoover blieb ein unerbittlicher Gegner des wiedergewählten Roosevelt und verwarf die Four Freedoms als nutzlos ohne eine fünfte Freiheit, die freies Unternehmertum und das Recht auf Anhäufung von Eigentum betreffen sollte. Obwohl Roosevelt nach dem Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg dazu geraten wurde, Hoover aufgrund seiner Verdienste als Leiter der United States Food Administration um Unterstützung zu bitten, entschied er sich angesichts Hoovers unversöhnlicher Haltung dagegen. Im Januar 1944 starb Hoovers Gattin Lou, was ihn dazu bewog, ihr Haus in Kalifornien zu verlassen und fortan im Waldorf Astoria in New York City zu residieren. In der Partei blieb Hoover isoliert und wurde auf der Beerdigung Willkies im Oktober 1944 durch Thomas E. Dewey, den republikanischen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 1944, ignoriert. Während des Kriegs engagierte er sich in der Lebensmittelhilfe und sammelte in großem Umfang Spenden, die der Bevölkerung von Finnland und Polen zugutekamen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste Hoover einen viel beachteten Vorschlag, der zur Gründung des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) führte. Am 1. März 1946 kontaktierte Roosevelts Nachfolger, Harry S. Truman, Hoover und betraute ihn mit einer Auslandsmission in den vom Krieg betroffenen Nationen in Europa und Asien. In den kommenden knapp drei Monaten besuchte er 38 Staaten, um die Hungersnöte vor Ort einzuschätzen, und traf 36 Premierminister sowie Papst Pius XII. und Mahatma Gandhi. Zurück in Amerika schilderte er in einer Radioansprache, die als seine beste Rede gilt, seine Eindrücke. In seinem im März 1947 veröffentlichten Bericht zu Nachkriegsdeutschland empfahl Hoover dem Präsidenten die Demontage der Industrieanlagen zu beenden und konstatierte, dass die militärische Schwächung Deutschlands erreicht werden könne, ohne die Versorgung seiner Bevölkerung zu behindern. Der Report Hoovers wurde kontrovers diskutiert und fand insbesondere bei John R. Steelman, dem Stabschef des Weißen Hauses, positive Resonanz. 1947 ernannte ihn der republikanisch kontrollierte 80. Kongress zum Vorsitzenden der Commission on Organization of the Executive Branch of the Government, der sogenannten Hoover Commission, die Maßnahmen vorschlug, um bürokratische und administrative Hürden zu senken und die exekutive Gewalt zu stärken. Hoover setzte sich für die Einführung der Schulspeisung, die sogenannte Hoover-Speisung, in der Bizone ein. Diese kam über sechs Millionen Deutschen zugute, die so eine warme Mahlzeit am Tag erhielten. Abseits dieser Zusammenarbeit mit Truman vertrat er außenpolitisch entgegengesetzte Positionen. Hoover war ein Gegner von Amerikas Intervention in den Koreakrieg und lehnte das Bretton-Woods-System und die NATO ab, deren Gründung er für einen großen Fehler hielt. Seiner Meinung nach sollten außerdem alle kommunistischen Staaten aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen werden. Trotz dieser Differenzen war Hoovers Verhältnis zu Truman wesentlich besser als zu dessen Nachfolger Dwight D. Eisenhower. Dieser richtete im Jahr 1953 eine zweite, konservativer ausgerichtete Hoover Commission ein, der erneut Hoover vorstand. Mit Verblassen der Erinnerung an die Great Depression stieg das Ansehen von Hoover als Staatsmann. So hielt bei einem Bankett zu Ehren Hoovers im Jahr 1957 John F. Kennedy die Laudatio; sein Buch The Ordeal of Woodrow Wilson wurde im folgenden Jahr zu einem Bestseller. Er arbeitete bis zuletzt an einer Biographie über Franklin D. Roosevelt und den New Deal, die jedoch so einseitig war, dass sie nie veröffentlicht wurde, um seinem Ruf nicht zu schaden. An Hoovers 90. Geburtstag erklärten 16 Bundesstaaten diesen Tag zum Herbert Hoover Day. Hoover starb am 20. Oktober 1964 in New York City an Blutungen im oberen Gastrointestinaltrakt und wurde am 25. Oktober in seinem Geburtsort West Branch beerdigt. Der Trauerzug von Cedar Rapids zum Ort seiner Bestattung wurde von knapp 80.000 Menschen begleitet, auf Wunsch der Familie wurde auf ein Ehrensalut verzichtet. Nachleben Historische Bewertung und Persönlichkeit Das Urteil über Hoover war in den über 30 Lebensjahren nach seiner Präsidentschaft trotz weltweiter Popularität als Wohltäter von den abwertenden und düsteren Stereotypen geprägt, die während der Great Depression über ihn entstanden waren. Sinnbildlich stehen dafür die nach ihm benannten Hoovervilles. Erst nach Eröffnung der Präsidentenbibliothek im Jahr 1966 untersuchte die Geschichtswissenschaft seine Persönlichkeit und Handlungsmotive detaillierter und tiefergehend. Hoover gilt bis heute als ein eher schwacher Präsident, obwohl die Ursachen für die Great Depression auf seine Amtsvorgänger zurückgingen. Allgemein haftet ihm das Stereotyp an, ein Präsident des Laissez-faire gewesen zu sein, was die historischen Fakten nicht bestätigen. Während der Weltwirtschaftskrise verfolgte er eine aktivere Politik als alle anderen amerikanischen Präsidenten, die bis dahin mit einer Depression konfrontiert gewesen waren. Laut Jürgen Heideking hat die jüngere Forschung verdeutlicht, dass Hoover nicht der schwache Präsident war, als der er lange Zeit überzeichnet wurde, sondern zum Teil innovative Impulse setzen konnte. Während die Geschichtswissenschaft früher starr eine Grenze zwischen der informellen Wirtschaftsregulierung Hoovers und der obligatorischen unter Roosevelt zog, wird heute diese Unterscheidung weniger strikt betrachtet. Obwohl Herbert Hoover als Erwachsener kaum Gottesdienste besuchte, nach römischem Ritus heiratete und nicht alkoholabstinent lebte, prägte ihn sein Leben lang die in der Familie vor allem durch die fromme Mutter vermittelte Quäkertheologie und ihre Wertschätzung der Eigenverantwortlichkeit des Individuums, der Bedeutung von Freiheit, Wohltätigkeit sowie pflichtbewusster Arbeit. Sein Vertrauen in die nachbarschaftliche Gemeinschaft als bestes Mittel, um Bedürftigen Unterstützung zukommen zu lassen, entstand gleichfalls aus dieser Erfahrung. Schon in jungen Jahren spendete er daher einen Großteil seines Vermögens an Freunde, Verwandte und an mittellose Studenten oder Dozenten, später initiierte er auf eigene Kosten sehr erfolgreich karitative Freiwilligenorganisationen. Da er einen Großteil der Spenden, darunter sein gesamtes Gehalt als Präsident, anonym tätigte, ist der Umfang seiner Wohltätigkeit bis heute unbekannt. Sein Biograph George H. Nash vertrat die Ansicht, es sei in der Geschichte bisher niemandem gelungen, mehr Menschen vor dem Tod zu retten als Hoover. Hoovers philosophische Überzeugung von der Bedeutung des Individuums spiegelt sich in der Monographie American Individualism von 1922 wider. Als von allen Präsidenten bisher größter Anhänger von Efficiency Movement und Taylorismus, der bereits als Student mit entsprechender Programmatik Wahlkampf geführt hatte, glaubte Hoover daran, mit einer besser organisierten Wirtschaft Krisen vermeiden und größere Wachstumsraten erzielen zu können. Selbst mitten in der Weltwirtschaftskrise während des Wahlkampfes von 1932 warb Hoover auf der Republican National Convention vor allem für Scientific Management als einen Weg zu neuem Fortschritt. Als weitere inhaltliche Elemente dieser Bewegung gehörten zu seinem politischen Ansatz eine höhere Effizienz, das Beseitigen von Verschwendung sowie die Kooperation von Wirtschaftsführern, Staatsvertretern und Sozialwissenschaftlern, um sich bei der Planung abzustimmen. Um letzteren Aspekt zu fördern, unterstützte Hoover die Gründung von Wirtschaftsverbänden. Die Lehre einer freien Marktwirtschaft ohne staatliche Regulierung lehnte er ab. Seine sozialen Ideen orientierten sich an Thorstein Veblen. Wie er sah Hoover im Erfindungsreichtum der immer zahlreicher werdenden Ingenieure den Hauptträger des industriellen Fortschritts. Obwohl ihn seine Erfahrung eines Besseren belehrte, hielt er Freiwilligenorganisation und Eigeninitiative für besser geeignete Mittel zur Krisenbewältigung als staatliches Eingreifen, welches die Hilfeempfänger korrumpiere. John Mark Dempdey und Eric Gruver (2009) machen hingegen geltend, dass sich Hoover in dieser Einstellung durch die Erfolge der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat im Zuge der United States Food Administration und American Relief Administration bestätigt sah. Dieser als Associationalism bezeichnete, in Zügen fromme Glaube an die Effektivität von Verbänden, Genossenschaften und Komitees im Vergleich zur Direkthilfe wurde später vielfach kritisiert, auch von Joan Hoff Wilson, einem Biographen, der sich für die Rehabilitierung von Hoover einsetzte. Laut dem Biographen Jeansonne zeigte Hoover mit vorsichtigen Erweiterungen staatlicher Kompetenzen ein moderates Verhalten in dieser Frage, so dass er von beiden Seiten angegriffen wurde. Obwohl Hoover für Konferenzen als Mittel zur Vermeidung reiner Top-down-Prozesse warb, nutzte er sie oft einfach nur dazu, seinen eigenen Willen durchzusetzen, indem er die Teilnehmer festlegte, den Vorsitz führte und die Abschlussberichte und Handlungsempfehlungen alleine verfasste. Direkte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft lehnte er grundsätzlich als bürokratisch ab, obwohl gerade er selbst in seiner politischen Laufbahn sehr viele Behörden schaffen sollte . Hoover reagierte auf Widerspruch sowie auf Smalltalk und unbedeutende politische Detailfragen ungeduldig. Im menschlichen Umgang agierte er wortkarg, rechthaberisch, herrisch sowie aufbrausend und wirkte auf seine Umwelt daher gefühlskalt, überheblich und einzelgängerisch. Bis auf sehr wenige Freunde, die Hoover sein Leben lang stets nur unter Gleichgestellten fand, standen ihm seine Mitmenschen meist misstrauisch gegenüber. Schon vor seiner Präsidentschaft fiel es ihm schwer, sich zu vernetzen und politische Unterstützung abzusichern. Als Handelsminister hatte er sich im Kabinett durch übereifrigen ressortübergreifenden Aktivismus und Streitsucht isoliert und zu Präsident Coolidge wegen seiner Vermessenheit in Form ständiger unaufgeforderter Ratschläge eine gespannte Beziehung. Bei Widerständen im Kongress suchte er nicht Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern zog sich zurück und ließ die Initiative bei Senat und Repräsentantenhaus. Trotz einer republikanischen Mehrheit in beiden Häusern zu Beginn seiner Präsidentschaft verlor er daher schnell Unterstützung, zumal er den Kongressmitgliedern gegenüber geringschätzig auftrat und sich insgesamt weigerte, klientelpolitisch aktiv zu sein oder Patronage auszuüben, was er als erniedrigend empfand. Die Getreuen in der eigenen Partei verärgerte Hoover, als er öffentlich vorschlug, den Demokraten die Führung des Senats im 72. Kongress Amerikas und somit den Vorsitz in Kongressausschüssen zu überlassen, obwohl die Republikaner dort eine knappe Mehrheit hatten. Verglichen mit seinen Amtsvorgängern in ähnlichen Krisensituationen zeigte Hoover außergewöhnlich viel politische Initiative, vor allem bei der Gründung von Kommissionen, Konferenzen und Untersuchungsausschüssen. Bei der Wahl staatlicher Mittel überschritt er jedoch nicht eine gewisse Grenze. Hoover sah die Rolle der Regierung vor allem als Vermittler von freiwilligen Vereinbarungen in der Privatwirtschaft, womit er als Minister Erfolge erzielt hatte. Hoover selbst sah sich weniger als Politiker, sondern als effizienter Ingenieur und Manager und verfolgte als Präsident diesen Stil weiter, indem er Organisationen wie zum Beispiel das Federal Farm Board oder die National Credit Corporation gründete. Entsprechend wurde er von seinen Zeitgenossen weniger als Führungskraft, sondern mehr als ein beratender Verwalter wahrgenommen, dem es nicht gelang, eigene Ideen zu entwickeln und mutig umzusetzen. Hoover zeigte sich in der Weltwirtschaftskrise trotz seines ausgeprägten Selbstvertrauens nicht in der Lage, in der Bevölkerung mehr Zuversicht zu wecken. Laut dem Historiker Piers Brendon wirkte Hoover gerade zu dieser Zeit, als sei er in erster Linie Ingenieur und erst in zweiter Mensch. Schon bald nach seiner Amtszeit war unter Historikern umstritten, ob Hoover angesichts seiner Erfolge im ersten Amtsjahr beim Ausbleiben der Weltwirtschaftskrise ein guter Präsident geworden wäre. Entgegen dem geschichtswissenschaftlichen Mainstream regte Murray Rothbard in seinem 1963 erschienenen Werk America’s great depression eine Revision des negativen Bilds von Hoovers Politik während der Great Depression an. In seiner umfangreichen ökonomischen Analyse kam er zu dem Fazit, dass Hoover ein Interventionist gewesen sei, und folgert: “Herbert Clark Hoover must be considered the Founder of the New Deal in America” (deutsch: „Herbert Clark Hoover muss als Begründer des New Deal in Amerika angesehen werden.“). Ähnlich argumentieren einige wenige konservative Historiker wie zum Beispiel Amity Shlaes, die den New Deal jedoch negativ als eine Form bürokratischen Sozialismus bewertet und neben Roosevelt auch Hoover dafür kritisiert, der Kraft des freien Marktes misstraut zu haben. Über die Widerstände in seinem Kabinett gegen expansive Fiskalpolitik als Mittel der Krisenintervention, die insbesondere Andrew W. Mellon formulierte, beklagte sich Hoover in seinen späteren Memoiren. Zur damaligen Zeit hatte diese liquidationistische Linie, nach der die Regierung passiv die Krise sich selbst liquidieren lassen sollte, die führenden Ökonomen auf ihrer Seite, darunter Seymour Harris, Friedrich Hayek, Lionel Robbins und Joseph Schumpeter. Zwei maßgebliche Architekten des New Deal, Raymond Moley und Rexford Tugwell, schrieben Jahrzehnte später Hoover das Verdienst zu, die meisten der Methoden erfunden zu haben, die sie unter Roosevelt zur Bekämpfung der Great Depression eingesetzt hatten. Trotzdem fielen historische Vergleiche von Hoover mit anderen Präsidenten zumeist negativ aus. Wenn es um Ähnlichkeiten im Politikstil geht, wurden im Zusammenhang mit Hoover meistens die Amtsvorgänger William McKinley und Calvin Coolidge sowie bei den Nachfolgern Richard Nixon und ab den 1980er Jahren Ronald Reagan genannt. Im Unterschied dazu sieht McElvaine etliche Parallelen zwischen Jimmy Carter und Hoover: Beide präsentierten sich weniger als Politiker denn als Experten, arbeiteten mit hoher Detailtiefe, hatten eine Vorliebe für Statistiken und Effizienz als besondere Begabung. Beide hatten gespannte Beziehungen zu entscheidenden Senatoren der eigenen Partei, waren schwache Redner und präferierten rationale Problemlösungen gegenüber politischen. Nicht zuletzt hatten sowohl Hoover als auch Carter starke humanitäre Motive und scheiterten als Präsidenten daran, die Öffentlichkeit von ihrer Politik überzeugen zu können. Vielfach wurde in den folgenden Jahrzehnten von Ökonomen der Revenue Act von 1932 als eine große Fehlentscheidung Hoovers bezeichnet. Auf eine Depression mit Steuererhöhungen zu reagieren, galt als schlechte Option. Etliche Ökonomen sahen dieses Gesetz als ursächlich für die weitere Verschärfung der Krise in den Jahren 1932–1933 an. Jude Wanniski macht den Revenue Act konkret verantwortlich für die Bankenkrise von Anfang 1933. McElvaine hält diese Argumentation für sehr zweifelhaft, da die Steuermaßnahmen nur 15 Prozent der Haushalte belasteten, das Gesetz 1935 und 1936 unter Franklin D. Roosevelt nur geringfügige Änderungen erfuhr und in seiner Grundstruktur die Steuergesetzgebung bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmte. Er sieht den wesentlichen Fehler Hoovers darin, die Staatsausgaben nicht genügend erhöht zu haben. Der Ökonom Peter Temin sieht im unbeirrten Festhalten von Hoover und der Federal Reserve am Goldstandard den wichtigsten Grund für die Beschleunigung und Vertiefung der Deflation. Ehrungen und Denkmäler Am 10. August 1965, knapp ein Jahr nach seinem Tod und an seinem Geburtsdatum, brachte der United States Postal Service 4c-Briefmarken mit seinem Porträt heraus. Der Hoover Dam, der den Colorado River zum Lake Mead aufstaut und die Grenze zwischen den Bundesstaaten Arizona und Nevada ist, wurde nach ihm benannt, ebenso die Hooverstrasse im Schweizer Oberkulm, da seine Vorfahren in dieser Gemeinde heimatberechtigt waren. Des Weiteren trägt der Hauptsitz des Handelsministeriums der Vereinigten Staaten, das Herbert C. Hoover Building, seinen Namen. Sein Geburtshaus in West Branch und mehrere andere Gebäude in dem Ort mit Bezug zu seiner Person – zum Beispiel seine Schule, die Schmiede seines Vaters sowie das Meetinghouse der Quäker –, bilden seit 1965 die Herbert Hoover National Historic Site. Südwestlich des Geburtshauses wurde 1962 das Herbert Hoover Presidential Library and Museum errichtet, in dem sich die Präsidentenbibliothek befindet. Gleichfalls auf dem Gelände der National Historic Site liegen die Gräber von Hoover und seiner Frau. Das Hoover-Minthorn House, in dem Hoover von 1885 bis 1889 lebte, ist seit 2003 im National Register of Historic Places gelistet und wird von der National Society of The Colonial Dames of America als Museum betrieben. In der Geisterstadt Gwalia in West-Australien sind das von Hoover entworfene Büro und Wohngebäude des leitenden Ingenieurs des Bergwerksunternehmens und Untersuchungsräume aus seinem damaligen Arbeitsaufenthalt erhalten. Das von Lou Henry geplante Haus, das die Hoovers ab 1920 bewohnten, ist seit dem 4. Februar 1985 als Lou Henry and Herbert Hoover House ein National Historic Landmark. Nach ihrem Tod im Jahr 1944 hatte es Hoover der Stanford University als Residenz für Professoren vermacht. Das von ihm und seiner Frau erbaute und im Shenandoah-Nationalpark gelegene Camp Hoover, auch als Rapidan Camp bekannt, bestand aus mehreren einfachen Holzhäusern und diente als präsidialer Rückzugsort im Sommer und Erholungsanlage. Filme Im Dokumentarfilm Prohibition (2011) von Ken Burns werden der Wahlkampf 1928 und die antikatholischen Ressentiments gegen Al Smith thematisiert. Über Hoovers Wahlsiege wurde der Dokumentarfilm Landslide – A Portrait of President Herbert Hoover (2009) von Chip Duncan gedreht. Life Portrait of Herbert Hoover auf C-SPAN, 4. Oktober 1999, 160 Min. (Dokumentation und Diskussion mit Timothy G. Walch und Richard Norton Smith) Schriften Agricola’s De Re Metallica. Übersetzt aus dem Lateinischen und bearbeitet von Herbert Hoover und seiner Frau L. H. Hoover (englisch). The Mining Magazine, London 1912, . American individualism. Garden City 1922 (auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Das Wesen Amerikas – Bekenntnisse eines Staatsmannes, übersetzt von Jonas Simon, Berlin 1928). The challenge to liberty. Garden City 1934. American ideals versus the new deal: a series of ten addresses upon pressing national problems. New York 1936. The problems of lasting peace. Garden City 1942. Herbert Hoover’s 1946–1947 factfinding mission to Germany. Report No. 1, Report No. 3 The Memoirs Of Herbert Hoover. 3 Bände. New York 1951–1952 (PDF) (auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Memoiren. 3 Bände: 1. Jahre der Abenteuer; 2. Das Kabinett und die Präsidentschaft; 3. Die große Wirtschaftskrise; Mainz 1951–1953). 40 key questions about our foreign policy, answered in important addresses and statements delivered between 1941 and 1952. Scarsdale 1952. The ordeal of Woodrow Wilson. New York 1958. An American epic. 4 Bände. Chicago 1959–1964. George H. Nash (Hrsg.): Freedom Betrayed: Herbert Hoover’s secret history of the Second World War and its aftermath. Stanford 2011. Literatur John Q. Barrett: Herbert Hoover. In Ken Gormley (Hrsg.): The Presidents and the Constitution. Volume 2 (= From World War I to the Trump Era). New York State University Press, New York 2022, ISBN 978-1-4798-2009-2, S. 41–54. Glen Jeansonne: Herbert Hoover: A Life. 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Simon & Schuster, New York 1984, Kenneth Whyte: Hoover: An Extraordinary Life in Extraordinary Times. Knopf, New York City 2017, ISBN 978-0-307-59796-0 Weblinks Biografie auf der archivierten Webpräsenz Weißes Haus (englisch) Kurzbiographie auf Webpräsenz Hoover Institution (englisch) The Herbert Hoover Presidential Library (englisch) American President: Herbert Hoover (1874–1964). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: David E. Hamilton) The American Presidency Project: Herbert Hoover. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) Anmerkungen Präsident der Vereinigten Staaten Handelsminister (Vereinigte Staaten) Mitglied der Republikanischen Partei Mitglied im Council on Foreign Relations American Relief Administration Angehöriger der Hoover-Institution on War, Revolution, and Peace Mitglied der National Academy of Sciences Mitglied der American Philosophical Society Ehrenbürger von Reutlingen Ehrenbürger von Warschau Ehrendoktor der Universität Warschau Quäker US-Amerikaner Geboren 1874 Gestorben 1964 Mann Absolvent der Stanford University
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Lucius Cornelius Sulla Felix
Lucius Cornelius Sulla Felix (* um 138 v. Chr.; † 78 v. Chr. bei Puteoli); kurz Sulla, manchmal auch Sylla oder Silla geschrieben war ein römischer Politiker, Feldherr und Diktator in der Spätphase der Republik. Korruption sowie Konflikte um die Landverteilung und das Bürgerrecht hatten die römische Republik in einen Zustand innerer Gewalt geführt. In dieser Krise stieg Sulla als bedeutender Kommandeur auf. Als Quästor des Feldherrn Gaius Marius beendete er den Jugurthinischen Krieg und wurde nach seinen Erfolgen im Bundesgenossenkrieg zum Konsul des Jahres 88 v. Chr. gewählt. In den folgenden Jahren drängte er Mithridates VI. von Pontos zurück. Als führender Vertreter der konservativen Adelspartei (Optimaten) marschierte er in den Jahren 88 und 83 v. Chr. auf Rom, um seine popularen Gegenspieler zu beseitigen. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg ließ Sulla sich 82 v. Chr. zum Diktator ernennen. Auf der Grundlage seiner zeitlich unbeschränkten Kompetenz legibus scribundis et rei publicae constituendae („Gesetze zu geben und den Staat zu ordnen“) führte er die ersten Proskriptionen der römischen Geschichte durch und ließ tausende römische Adlige töten. Seine Verfassungsreformen zielten auf nachhaltige Restauration der Senatsherrschaft und die Schwächung demokratischer Institutionen wie des Volkstribunats. Im Jahre 79 v. Chr. legte Sulla die Diktatur nieder und zog sich in das Privatleben zurück. Seine Schreckensherrschaft konnte den Bürgerkrieg und den Untergang der alten Republik indes nur kurzzeitig aufhalten. Sullas Name steht bis zur Gegenwart für Grausamkeit und Terror. Leben bis zur Diktatur Frühe Jahre Sulla entstammte dem patrizischen Geschlecht der Cornelier. Im Gegensatz zu den erfolgreichen Zweigen der Scipionen und Lentuli war seit der Bekleidung des zweiten Konsulats durch Publius Cornelius Rufinus im Jahre 277 v. Chr. niemand mehr aus dem Zweig der Familie der Cornelier, dem Sulla angehörte, zum höchsten Staatsamt aufgestiegen. Rufinus’ Sohn, der als Erster das Cognomen Sulla geführt haben soll, war flamen Dialis (Priester des Jupiter), was eine politische und militärische Karriere ausschloss. Sullas Großvater bekleidete die Prätur im Jahre 186 v. Chr., während es strittig ist, ob auch sein Vater, Lucius Cornelius, Prätor war. Sulla wuchs mit seinem Bruder Servius Cornelius und einer Schwester auf. Da seine Mutter schon früh starb, stand Sulla überwiegend unter der Obhut einer Amme. Sein Vater ging eine weitere Ehe mit einer wohlhabenden Frau ein. Von ihm ist nur bekannt, dass er Sulla so wenig hinterließ, dass dieser als junger Mann in einem Mietshaus mit freigelassenen Sklaven lebte. Als Fünfzehnjähriger erhielt Sulla die toga virilis. Als Kind und junger Mann wurde Sulla Zeitzeuge der gracchischen Reformversuche, die seine späteren politischen Ziele entscheidend prägen sollten. Anlass der Reformen waren die Veränderungen, die sich mit der bäuerlichen Wirtschaftsweise und der Aneignung des Staatslandes – des sogenannten ager publicus – vollzogen hatten. Der ager publicus war durch die großen Eroberungen entstanden. Jeder römische Bürger war befugt, Land in Besitz zu nehmen, wenn er eine kleine Nutzungsgebühr bezahlte. Die kleinen Bauern wurden daher von den Großgrundbesitzern, die sich mehr Land aneignen konnten, verdrängt. Die beiden Gracchen, Tiberius und Gaius Sempronius Gracchus, versuchten eine Agrarreform gegen den Senat durchzuführen, um den Kleinbauern wieder mehr Land zu verschaffen. Eine Familie sollte nicht mehr als 1.000 Joch Land besitzen. Ein Gesetz dazu legte der Volkstribun Tiberius Gracchus dem Senat gar nicht erst vor, sondern wandte sich sofort an die Volksversammlung. Es kam zum Verfassungsbruch, indem Tiberius einen Volkstribunen, der gegen das Gesetz interzedierte, absetzen ließ. Um Geld für neue Siedler zu beschaffen, beschlagnahmte Tiberius das den Römern vermachte Erbe des Königs Attalos von Pergamon, was einen weiteren Verfassungsbruch und einen Eingriff in die Finanzhoheit des Senates darstellte. Als Tiberius sich entgegen der römischen Tradition auch im nächsten Jahr für das Volkstribunat bewerben wollte, kam es am Wahltag zu Tumulten. Tiberius Gracchus und seine Anhänger wurden erschlagen, die Leichen in den Tiber geworfen. Als Gaius Gracchus einige Jahre später das Reformvorhaben seines Bruders wieder aufnahm, erklärte der Senat den Staatsnotstand. Erstmals wurde Militär gegen die eigene Bürgerschaft eingesetzt. Gaius floh und ließ sich in auswegloser Lage von einem Sklaven töten. Es bildeten sich parteianaloge Gruppierungen, die Optimaten, die sich für die Interessen der konservativen nobilitas, meist des patrizischen Adels, einsetzten und vor allem eine Stärkung des Senats im Kräftespiel der römischen Institutionen betrieben, und die Popularen, die die Interessen des Volkes vertraten. Mit den Ereignissen in den Jahren 133/132 v. Chr. begann das Zeitalter der Bürgerkriege, das etwa einhundert Jahre später durch die Transformation der Republik in das Kaiserreich beendet werden sollte. Seine Jugendjahre verbrachte Sulla abseits dieser politischen Auseinandersetzungen. Im Umfeld des Theaterwesens und im Umgang mit Gauklern und Schauspielern pflegte er einen freizügigen Lebenswandel. Neben der Ehe mit einer Ilia, die früh verstarb, und einer Aelia, von der nur der Name bekannt ist, hatte Sulla ein Verhältnis mit der Prostituierten Nikopolis, die ihn sogar als Erben einsetzte. Aber erst als er das Vermögen seiner Stiefmutter erbte, verfügte Sulla über die Mittel, eine standesgemäße Laufbahn einschlagen zu können. Der Jugurthinische Krieg Nach einem intensiven Wahlkampf wurde Sulla 107 v. Chr. zum Quästor gewählt. Er wurde dem Heer des Gaius Marius zugeteilt, das in Nordafrika operierte und den Krieg gegen die Numidier, der durch die Bestechlichkeit der Senatoren überschattet wurde, zu einem erfolgreichen Ende bringen sollte. Der Konflikt mit Numidien, einem römischen Vasallenkönigreich, begann nach dem Tod des Königs Micipsa im Jahr 118 v. Chr., als zwischen den beiden leiblichen Söhnen Adherbal und Hiempsal I. Thronstreitigkeiten ausbrachen. Jugurtha, der als unehelicher Sohn in der Thronfolge die geringsten Ansprüche hatte, suchte diesen Streit zu nutzen und die ganze Macht in Numidien an sich zu reißen. Als Jugurtha gegen Adherbal Krieg führte und ihn bei Cirta schlug, wurde er zum Feind Roms, da auch eine größere Anzahl Römer und Italiker beim Angriff getötet worden waren. Bald darauf folgende Vertragsverhandlungen in Rom scheiterten. Im nunmehr beschlossenen Krieg gegen Jugurtha konnte Quintus Caecilius Metellus Numidicus zwar einige Erfolge, doch keine endgültige Entscheidung herbeiführen, da sich Jugurthas schnelle Kavallerie immer wieder dem Kampf mit den Römern entzog. Auch war es Jugurtha gelungen, Bocchus von Mauretanien auf seine Seite zu ziehen. In dieser Situation konnte sich Sulla bei den ersten ihm zufallenden militärischen Kommandos bewähren. Er führte der sehr schwachen und unterlegenen römischen Reiterei Verstärkung von den Bundesgenossen und aus Latium zu und übergab sie dem Feldherrn Marius. Nachdem schließlich Cirta von römischen Truppen erobert worden war, fürchtete Bocchus um seine Herrschaft und nahm Verhandlungen mit den Römern auf. Diese Friedensverhandlungen führte auf römischer Seite Sulla, der bereits früher das Vertrauen des Bocchus gewinnen konnte, als er eine mauretanische Gesandtschaft während ihrer Romreise beriet und großzügig unterstützte. Dank dieses Vertrauens konnte mittels einer inszenierten Verhandlung der ahnungs- und waffenlose Jugurtha in einen Hinterhalt gelockt und gefangen genommen und somit der Krieg beendet werden. Indem Sulla offen durch die Anfertigung eines Siegelringes und die Prägung eines römischen Denars die Beendigung des Jugurthinischen Krieges für sich beanspruchte, erlangte er einige Berühmtheit, die sowohl seine gesellschaftliche Stellung in Rom als auch seine weitere Laufbahn sicherte. Allerdings verschlechterte er durch dieses Verhalten seine Beziehungen zu Marius, dem eigentlichen Feldherrn des Krieges, nachhaltig. Gleichwohl wurde Marius in Rom als Sieger angesehen und es wurde ihm ein Triumph gewährt, in dem er Jugurtha mitführen ließ. Der Sieg befähigte Marius in den Augen des Senats, die drohende Germaneninvasion aufzuhalten, und er wurde deshalb für das Jahr 104 v. Chr. und die folgenden vier Jahre zum Konsul gewählt. Die bereits im Jugurthinischen Krieg in Ansätzen eingeleitete Heeresreform des Quintus Caecilius Metellus führte Marius zum Abschluss, indem er das römische Militär in ein Berufsheer umwandelte. Bereits seit den Kriegen gegen Karthago war es aus dem Krieg heimkehrenden italischen Bauern immer seltener möglich, auf den inzwischen verödeten Familienbesitzungen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die gleichzeitig an Größe zunehmenden Latifundien wurden hingegen meist von Sklaven bewirtschaftet. Nach einer mittlerweile zwanzigjährigen Dienstzeit war die Altersversorgung der Veteranen folglich nur gewährleistet, wenn ihr Feldherr sie mit Land versorgte. Als Folge war die Loyalität der Soldaten permanent an den Feldherrn und nicht an die Res Publica gebunden. Die daraus folgende Konzentration von Macht war ein wichtiger Faktor in der Genese des Bürgerkrieges. Kimbern und Teutonen Der Konflikt mit den germanischen Völkerschaften war schon während des numidischen Krieges ausgebrochen. Als Folge verheerender Fluten suchte eine Reihe von Stämmen, die in Jütland und in den norddeutschen Tiefebenen ansässig waren, neue Siedlungsräume. Zu diesen Stämmen gehörten die Kimbern, die Teutonen, die Ambronen und die Haruden. Gegen die machtvollen germanischen Wanderstämme, die durch ganz Gallien und selbst Teile Spaniens zogen, musste das römische Heer zahlreiche Niederlagen hinnehmen, so verloren in einer Schlacht bei Arausio am 6. Oktober 105 v. Chr. angeblich 80.000 Römer ihr Leben. Im Germanenkrieg des Jahres 104 v. Chr. konnte Sulla, der als Legat und Militärtribun unter Marius diente, Copillus, den Anführer der Tektosagen, gefangen nehmen und die römische Vormacht sichern. Als Militärtribun zog er 103 v. Chr. durch Verhandlungen den Stamm der Marser auf die Seite der Römer. Aufgrund der immer schlechter werdenden Beziehungen zu Marius ließ sich Sulla zu den zwei Legionen des Quintus Lutatius Catulus nach Norditalien versetzen. Doch während Marius im Sommer 102 v. Chr. die Ambronen und die Teutonen vernichtend schlug, konnte das Heer des Catulus und Sulla seine Stellung nicht halten und musste sich bis hinter den Po zurückziehen. Die Jahreszeit war zu weit fortgeschritten, als dass römische Truppen ihre Gegner in Oberitalien noch hätten schlagen können. Für das Jahr 101 v. Chr. sammelte Marius alle verfügbaren Truppen und stieß im Sommer des Jahres mit 55.000 Mann gegen die Kimbern vor, die auf den Raudischen Feldern bei Vercellae vernichtend geschlagen wurden. Durch den Germanenkrieg und seinen Dienst unter Catulus stärkte Sulla die Verbindung zu den Optimaten. Provinzialpolitik Die Fortführung der politischen Laufbahn gestaltete sich für Sulla zunächst schwierig. Die Quästur hatte er zum frühestmöglichen Zeitpunkt erreicht. Zum Amt des Ädils habe Sulla selbst bemerkt (so Plutarch), dass das Volk sich von ihm gewünscht hätte, dass er die Ädilität bekleide, weil man auf prachtvolle Spiele, insbesondere mit wilden Tieren aus Afrika, gehofft habe; deshalb sei er auch bei der ersten Bewerbung um die Prätur gescheitert. Wann dieser erste Versuch stattfand, und wann Sulla dann im zweiten Versuch tatsächlich die Prätur erreichte, ist der Quellenlage wegen unsicher. Erwogen werden von der Forschung für den letztendlichen Erfolg die Jahre 97, 95 und 93 v. Chr. Stimmenkauf und Versprechungen an das Volk, als künftiger Prätor Spiele abzuhalten, sollen die Wahl zum praetor urbanus positiv beeinflusst haben. Großzügig ließ er nun die ludi Apollinares – Spiele zu Ehren des von Sulla stets bevorzugten Gottes Apollo – abhalten. Als Prätor erhielt er Einblick in Rechtsprechung und Administration. Als mit dem Amt verbundene Statthalterschaft wurde ihm im folgenden Jahr Kilikien übertragen, ob als Proprätor oder als Legat mit prokonsularischer Amtsgewalt, bleibt strittig. Sullas Aufgabenbereich dort kreuzte sich mit dem Interessenfeld des pontischen Königs Mithridates VI., der damals seinen Einfluss in jenem Gebiet erweitern wollte. Nach dem Untergang der kappadokischen Königsdynastie der Ariarathiden hatte Mithridates Ariobarzanes I. von Kappadokien vertrieben und seinen Vertrauensmann Gordius als Machthaber installiert. Ariobarzanes floh nach Rom und bat den Senat um Beistand. Im Sommer des Jahres 96 v. Chr. stellte Sulla ein Heer auf, das die Rückführung des kappadokischen Königs erzwingen sollte. In Kappadokien traf er auf das aus kappadokischen und armenischen Einheiten bestehende Heer von Mithridates VI., das er noch im selben Jahr bis zum Euphrat zurückdrängte. Dort erreichte ihn Orobazos, ein Gesandter des Partherkönigs Mithridates II., der mit Sulla eine grundlegende Regelung zwischen beiden Staaten auf friedlicher Basis herbeiführen wollte. Es war die erste Kontaktaufnahme zwischen den beiden Großreichen. Sulla konnte sich hierbei geschickt in Szene setzen, indem er bei den Verhandlungen in der Mitte Platz nahm, so dass für Ariobarzanes und den parthischen Gesandten nur die beiden seitlichen Plätze übrig blieben. Während dieser Ereignisse soll ihm ein chaldäischer Seher eine große Zukunft vorhergesagt haben. Das erste Konsulat Als Promagistrat in Kappadokien hatte Sulla erhebliche Geldsummen eingezogen und sah sich dem Verdacht der widerrechtlichen persönlichen Bereicherung ausgesetzt. Nach seiner Rückkehr nach Rom erhob wohl im Jahr 92 v. Chr. ein gewisser Censorinus formell Anklage gegen ihn. Eine gerichtliche Verfolgung blieb allerdings erfolglos, vermutlich weil eine Senatsmehrheit Sulla als Gegenspieler zu Marius aufbauen wollte. Dennoch hatte das Verfahren Sullas Chancen auf ein Konsulat drastisch gemindert, so dass er zunächst auf eine Bewerbung verzichtete. Auf Bitten Sullas und wohl nach Einwilligung des Senates stellte Sullas Vertrauter im Jugurthinischen Krieg, Bocchus I., im Jahr 91 v. Chr. ein aufwändiges Monument als Weihegeschenk auf dem Kapitolshügel auf, das Sulla als Sieger im Numidischen Krieg darstellte. Obwohl Marius Sulla vorwarf, jener schmücke sich zu Unrecht mit dem Ruhm des Sieges, blieb eine ernsthafte Auseinandersetzung aufgrund des sich ankündigenden Bundesgenossenkrieges zunächst aus. Marcus Livius Drusus hatte sich 91 v. Chr. zum Volkstribunen wählen lassen, um sich der Probleme der so vielfach benachteiligten Italiker anzunehmen und ihnen das Bürgerrecht zu verschaffen. Ferner sollten die Geschworenengerichte wieder formell dem Senat zugeordnet und mit 300 Rittern aufgefüllt werden. Daneben wollte er alte populare Forderungen durchsetzen, wie die Verbilligung der Getreideverteilungen an römische Bürger, neue Ansiedlungen und die Gründung von Kolonien. Der Senat und die Anhänger der Nobilität widersetzten sich diesem Vorhaben auf das Schärfste. Schließlich erklärte der Konsul Lucius Marcius Philippus die Gesetze für rechtswidrig. Wenig später wurde Drusus ermordet. Der Tod des Drusus führte zum Ausbruch des Bundesgenossenkrieges. Sulla trat als Legat im Heer des Lucius Iulius Caesar an, wobei er den Kampf gegen die Samniten, die eine der Hauptrollen in diesem Konflikt spielten, wie seine Vorfahren zu seiner persönlichen Sache machte. Roms Feldherrn erlitten zahlreiche Misserfolge. So gelang es Marcus Claudius Marcellus nicht, die Stadt Venafrum daran zu hindern, von Rom abzufallen. Auch Sulla war nicht vor Fehlschlägen gefeit, als er von den Samniten und ihren Verbündeten überrascht wurde und sich mit seinem Heer zurückziehen musste. Die römischen Misserfolge bewogen, abgesehen von Nuceria und Accerae, zahlreiche Städte zum Abfall von Rom. Angesichts der sich zuspitzenden Lage brachte Lucius Iulius Caesar, der im Spätherbst 90 v. Chr. nach Rom zurückgekehrt war, die lex Iulia de civitate sociis danda ein, mit der allen bislang treu gebliebenen Bundesgenossen das römische Bürgerrecht zugesprochen wurde. Um die Aufständischen für die römische Sache zu gewinnen, brachten die Volkstribunen Marcus Plautius Silvanus und Gaius Papirius Carbo bald nach ihrem Amtsantritt im Jahre 89 v. Chr. die lex Plautia Papiria ein, durch die alle Aufständischen, die sich binnen 60 Tagen meldeten, das Bürgerrecht erhielten. Im selben Jahr ordnete sich die militärische Führung neu. Sulla übernahm das militärische Kommando von Lucius Iulius Caesar, der zum Censor gewählt wurde, während Marius aufgrund seines Alters und seiner geringen Entschlussfreudigkeit bei der Kriegsführung durch Lucius Porcius Cato ersetzt wurde. Durch Sullas Eroberungen der Orte Stabiae und Herculaneum war er in die Lage versetzt, die stark befestigte Stadt Pompeji anzugreifen. Der Befehlshaber des Bundesheeres Gaius Papius Mutilus schickte ein Entsatzheer unter der Leitung von Lucius Cluentius gegen die Truppen Sullas. In der folgenden Schlacht wurde Cluentius vernichtend geschlagen. Für seine militärischen Erfolge verlieh das Heer Sulla den Graskranz. Pompeji, das nun keine Hilfe von außen zu erwarten hatte, ergab sich im Herbst des Jahres 89 v. Chr. Schließlich nahm Sulla Bovianum, die Hauptstadt der Samniten, ein. Seine militärischen Erfolge im Bürgerkrieg und seine gute Kenntnis Kilikiens befähigten Sulla für den Krieg gegen Mithridates VI. von Pontos, und er wurde daher problemlos im Jahre 88 v. Chr. zum Konsul gewählt, zusammen mit Quintus Pompeius Rufus, dessen gleichnamiger Sohn Sullas Tochter aus erster Ehe geheiratet hatte. Nach seiner Wahl verband Sulla sich mit der mächtigen Familie der Meteller, indem er sich von seiner dritten Frau Cloelia wegen Unfruchtbarkeit trennte und in vierter Ehe Caecilia Metella Dalmatica heiratete, die Witwe des Marcus Aemilius Scaurus, der zu den führenden Köpfen der Republik zählte. Aus Sicht der Meteller war eine Verbindung mit Sulla interessant, da er dank seiner militärischen Fähigkeiten ein Gegengewicht zu Marius und den Popularen bildete. Durch das Konsulat erhielt Sulla per Los die Provinz Asia und damit den Oberbefehl im Krieg gegen Mithridates. Der Erste Marsch auf Rom Für seine Kriegspläne benötigte Sulla Finanzmittel. Daneben war der Bundesgenossenkrieg noch nicht vollständig erloschen und Sulla sah sich gezwungen, erneut die Belagerung von Nola aufzunehmen, in deren Verlauf er auch das samnitische Lager eroberte. Doch die Neubürgerfrage zwang Sulla dazu, nach Rom zurückzukehren. Publius Sulpicius Rufus nahm sich der Interessen der Bundesgenossen an und wollte die Neubürger sowie Freigelassenen, die auf römischer Seite gekämpft hatten, in die bereits bestehenden 35 Tribus eingliedern. Der Senat hingegen wollte die Neubürger einem eigenen Tribus mit ungleichem Stimmrecht zuweisen. Weiterhin forderte Sulpicius nicht nur die Ausschließung überschuldeter Senatsmitglieder, sondern auch, Sulla das Kommando im Mithridatischen Krieg zu entziehen und dem mittlerweile als Privatmann lebenden Popularen Marius zu übertragen. Die Konsuln Sulla und Pompeius Rufus versuchten vergeblich, durch einen religiös begründeten Geschäftsstillstand die Abhaltung einer Volksversammlung, in der über die Gesetze des Sulpicius abgestimmt werden sollte, zu verhindern. Es kam zu Tumulten. Beide Konsuln mussten fliehen. Sulla suchte Schutz im Haus des Marius und musste unter Gewaltandrohung den sulpicischen Gesetzen zustimmen. Er zog sich daraufhin zu seinem Heer, das schon im Bundesgenossenkrieg unter seinem Kommando stand, nach Nola zurück. Unterdessen hatte Marius durch Sulpicius’ Initiative den Oberbefehl über dieses Heer für den Krieg gegen Mithridates erhalten. Als zwei Militärtribunen Sullas Heer bei Nola gemäß dem Beschluss der Volksversammlung übernehmen wollten, wurden sie von Sullas Soldaten gesteinigt. Sulla soll zuvor seine Soldaten in einer Rede daran erinnert haben, dass Marius mit einem anderen Heer in den Krieg ziehen und ihnen selbst, die im Bundesgenossenkrieg treu gedient hätten, die reiche Beute im Osten vorenthalten könne. Nach dem Tod der Militärtribunen appellierten seine Soldaten an Sulla, gegen Rom zu marschieren, woraufhin abgesehen von einem Quästor alle Offiziere die Gefolgschaft versagten. Sulla führte somit als erster Römer (seit dem sagenhaften Coriolanus) ein Heer gegen die Hauptstadt. Die Stadt Rom mit ihren weitgehend veralteten Verteidigungsanlagen konnte einem so großen Heer, das Sulla in mehrere Gruppen zum Angriff gegliedert hatte, kaum Widerstand leisten. Die Einnahme Roms stellte Sulla als Rettung des Staates dar. Er befahl dem Senat, zwölf Personen der politischen und militärischen Führung der Popularen zu Staatsfeinden zu erklären und zur Fahndung und Hinrichtung auszurufen, obgleich er, ohne das Volk zu fragen und Geschworene einzusetzen, nicht dazu befugt war. Auch das Provokationsrecht wurde den Verfolgten verwehrt. Sämtliche Gesetze und Anordnungen des Sulpicius wurden annulliert. Dieser selbst wurde ergriffen und getötet, während es Marius gelang, in die Provinz Africa zu entkommen. Sulla brachte nun einige Gesetze zur Verabschiedung, um den Senat als letzte Entscheidungsinstanz zu installieren und den Einfluss des Volkstribunats zu beschneiden. So musste der Senat seine Zustimmung zu Gesetzesvorlagen der Volkstribunen geben, Entscheidungsfindungen wurden von den Tributkomitien zu den Zenturiatskomitien verlagert. Damit wurde nicht nur der Einfluss der Ritter und Senatsangehörigen bei Wahlen und Abstimmungen maßgeblich erhöht, sondern auch ein nach heftigen Auseinandersetzungen im Jahr 241 v. Chr. verabschiedetes Abstimmungsverfahren kurzerhand zurückgenommen. Der Senat wurde zudem um 300 optimatische Mitglieder erweitert. Neben diesen drei von Appian erwähnten Gesetzen wird noch ein Gesetz über die Anlage von Kolonien und ein Schuldengesetz genannt. Sullas weiteres Vorgehen war wohl provisorischer Natur, da ein sofortiges Handeln gegen Mithridates unbedingt erforderlich war, um die Glaubwürdigkeit Roms im Osten zu wahren. Allerdings erkannte er, dass die politischen Strukturen einer zeitintensiven Neuordnung bedurften. Auch auf Druck seiner Anhänger ließ Sulla Konsulwahlen für das Jahr 87 v. Chr. durchführen, die allerdings seine sinkende Popularität beim römischen Volk und bei seinen Anhängern zeigten. Denn neben dem von Sulla favorisierten Gnaeus Octavius setzte sich mit Lucius Cornelius Cinna ein erklärter Anhänger des Sulpicius durch. Im Scheitern des Versuchs, das Heer des Prokonsuls Gnaeus Pompeius Strabo an seinen Amtskollegen Quintus Pompeius Rufus übergeben zu lassen, spiegelte sich gleichermaßen Sullas sinkender Rückhalt, da Pompeius Rufus wenige Tage nach Übernahme der Befehlsgewalt von den Soldaten getötet wurde. Im Konflikt mit Cinna begnügte sich Sulla mit dessen Eid, keine feindseligen Handlungen zu begehen, und setzte als Prokonsul mit seinem Heer von Brundisium nach Epirus über. Rom und Italien 87–84 v. Chr. Cinna brach seinen Eid und holte die Gesetzesinitiative des Sulpicius über die Zuweisung der Neubürger in die Tribus wieder hervor. Sein Mitkonsul Octavius mobilisierte das Volk gegen die Pläne Cinnas. In Straßenschlachten unterlagen die Anhänger Cinnas denen des Octavius, und Cinna wurde zum hostis, zum Staatsfeind, erklärt. Er floh über Praeneste nach Nola, wo er durch hohe Bestechungssummen die Truppen und die Neubürger für seine Sache gewinnen konnte und den greisen Marius aus dem nordafrikanischen Exil zurückrief. Gegen Ende des Jahres 87 v. Chr. nahmen Cinna und Marius Rom ein. Dem sich anschließenden Terror fiel eine ganze Reihe von Aristokraten zum Opfer, so wurde Octavius ebenso wie Marcus Antonius ermordet, während Quintus Lutatius Catulus der Rachsucht des Marius durch Selbstmord entging. Sullas Frau Caecilia Metella konnte sich mit Aemilia, ihrer Tochter aus erster Ehe, und den neugeborenen Zwillingen Cornelia Fausta und Faustus Cornelius Sulla nach Griechenland in das Feldlager ihres Gatten absetzen. Sullas Haus wurde zerstört, sein Besitz eingezogen und er selbst geächtet. Das Siegesmonument auf dem Kapitol wurde dem Erdboden gleichgemacht. Im Jahr 86 v. Chr. wurden Cinna und Marius zu Konsuln gewählt. Marius konnte sein siebtes Konsulat noch antreten, bevor er wenige Tage später einer Lungenentzündung erlag und durch Lucius Valerius Flaccus ersetzt wurde. Cinna wurde für die nächsten drei Jahre zur mächtigsten Persönlichkeit in Rom: Gesetze wurden nicht mehr durch Einberufung der Volksversammlung, sondern durch Cinnas Entscheidung erlassen. Seine Mitkonsuln ernannte Cinna direkt. Er selbst bekleidete das Konsulat ununterbrochen von 87 bis 84 v. Chr. Aber Cinna wusste, dass seine Zukunft vom Ergebnis der Kämpfe Sullas im Osten abhing. Er ließ ein zwei Legionen starkes Heer aufstellen und unter dem Befehl des Valerius Flaccus im Sommer 86 v. Chr. nach Griechenland schicken. Nachdem Flaccus von seinen Truppen ermordet worden war, setzte dessen Nachfolger Gaius Flavius Fimbria seine Operationen gegen Mithridates unabhängig von Sulla fort. Cinna selbst wurde 84 v. Chr. von meuternden Verbänden in Ancona erschlagen. Der Erste Mithridatische Krieg Mithridates VI., König von Pontos, setzte die Expansionspolitik seines Vaters zielstrebig und in noch größeren Rahmen fort. Da die Bewohner der Provinz Asia von der römischen Verwaltung ausgebeutet wurden und der Bundesgenossenkrieg sowie der Bürgerkrieg die römische Schlagkraft lähmten, sah Mithridates den Zeitpunkt gekommen, seine Großoffensive zu beginnen. Zur Rechtfertigung ernannte er sich zum Befreier der Griechen vom römischen Joch. Um seine Kriegskassen zu füllen, befahl Mithridates per Erlass die Ermordung aller Italiker und Römer. Laut Valerius Maximus, dem Memnon von Herakleia folgt, verloren 80.000 Italiker und Römer durch diesen Blutbefehl von Ephesos ihr Leben. Der Bruch mit Rom war damit endgültig. Mithridates VI. bot zu Anfang des Jahres 88 v. Chr. ein Heer von 250.000 Infanteristen, 40.000 Reitern und 130 Sichelwagen auf. Es bestand aus unkoordinierten, ethnisch nicht homogenen Verbänden. Im Frühjahr des Jahres 87 v. Chr. setzte Sulla mit fünf Legionen und einer kleinen Zahl an Reitern nach Epirus über. Sulla zog langsam durch Ätolien nach Thessalien, um die abgefallenen griechischen Städte durch die Präsenz eines großen Heeres zur Aufgabe zu bewegen. Noch vor dem Sommer 87 v. Chr. hatte Sulla weite Teile Griechenlands wieder unter Kontrolle und zwang die Kommandeure des Mithridates, Aristion und Archelaos, dazu, sich nach Athen und Peiraieus zurückzuziehen. Ein erster Angriff Sullas auf die pontische Basis Peiraieus scheiterte jedoch. Um die Stadt einnehmen zu können, ließ Sulla einen Belagerungsring um den Peiraieus ziehen. Auf weniger Widerstand traf Sulla in Athen, wo er erfuhr, dass ein Mauerabschnitt nicht mehr ausreichend besetzt war. Durch diese Bresche konnten die Truppen Sullas im März 86 v. Chr. ungehindert in die Stadt eindringen. Aristion gelang die Flucht. Erst als einigen römischen Senatoren das Morden und Plündern der Stadt zu weit ging, gebot Sulla seinen Soldaten Einhalt. In der Zwischenzeit drang das populare Heer unter Fimbria weiter nach Kleinasien vor, unterwarf einzelne Verbände des Mithridates von Pontos und plünderte Ilion. Es gelang Fimbria sogar, Mithridates selbst bei Pitane einzuschließen, doch auf Anweisung Sullas ließ der Flottenkommandant Lucullus ihn zur See entkommen. Nachdem Athen eingenommen war, gelang Sulla schließlich mit einer größeren Truppenanzahl unter erheblichen römischen Verlusten auch die Eroberung des Peiraieus. Damit konnte er die Operationsbasis der pontischen Truppen auf dem griechischen Festland unter seine Kontrolle bringen. Im Frühjahr und im Herbst des Jahres 86 v. Chr. trat Sulla den pontischen Truppen bei Chaironeia und Orchomenos entgegen. In beiden Schlachten ließ er breite Gräben ziehen, welche die pontische Kavallerie und die Kampfwagen behindern sollten. Dank seiner großen militärischen Erfahrung und der Disziplin in seinem Heer konnte Sulla den zahlenmäßig überlegenen Feind in erbitterten Kämpfen schlagen. Neuordnung Kleinasiens und Auseinandersetzung mit Fimbria Mit der Schlacht von Orchomenos war die römische Herrschaft über die griechischen Stadtstaaten verteidigt. Die Reste des pontischen Heeres befanden sich in Euböa und Chalkis. Da Sulla jedoch über keine Flotte verfügte, war es ihm nicht möglich, Euböa einzunehmen. Unter diesen Umständen hätte eine Fortführung des Krieges gegen Mithridates in Kleinasien und besonders in dessen pontischer Basis Jahre dauern können und Sulla somit aus Rom ferngehalten. Andererseits bildete sich in vielen kleinasiatischen Städten eine entschiedene Opposition gegen Mithridates, die Rom für sich nutzen konnte. In dieser Pattsituation wurde der Krieg durch den Friedensvertrag von Dardanos im Jahr 85 v. Chr. beendet. Sulla gewährte dem pontischen Herrscher einen günstigen Frieden: Er hatte seine Eroberungen aufzugeben, 2.000 Talente zu zahlen und 70 voll ausgerüstete Kriegsschiffe zu übergeben. Mithridates wurde dabei sogar durch Umarmung und Kuss als römischer Bundesgenosse geehrt, während Sulla von den Städten in Asia, die sich jenem angeschlossen hatten, 20.000 Talente forderte. Besonders hart wurde Ephesos bestraft, das Mithridates zu bereitwillig gefolgt war. Die Stadt verlor Teile ihres Territoriums, die Anführer der antirömischen Partei wurden hingerichtet und die Stadt gebrandschatzt. Klazomenai, Milet und Phokaia verloren ihre Freiheit, und auch Pergamon, die Residenz des pontischen Königs, hatte schwer unter Sulla zu leiden. Neben den Gewaltmaßnahmen Sullas wurden die Städte auch finanziell stark belastet. Zunächst quartierte Sulla sein Heer in den Städten ein und verpflichtete sie, für den Unterhalt der Soldaten zu sorgen. Der gewöhnliche Soldat kostete die Bürger pro Tag 16 Drachmen, ein Centurio erhielt eine Löhnung von 50 Drachmen pro Tag. Weiterhin mussten die Städte zunächst binnen eines Jahres die rückständigen Steuern für die Jahre 88–84 v. Chr. zahlen. Darüber hinaus mussten die kleinasiatischen Städte die Kosten für den Krieg und die Reorganisation der Provinz übernehmen, die mit 20.000 Talenten veranschlagt wurden. So massiv Sulla die griechischen Städte strafte, die am Krieg gegen Rom teilgenommen hatten, so großzügig wurden die loyalen Städte belohnt. Ilion, Chios und Gemeinden in Lykien sowie Rhodos wurden mit erheblichen Privilegien bedacht. Nach der Neuordnung Kleinasiens zog Sulla gegen Fimbria und traf ihn bei Thyateira. Sulla forderte ihn auf, ihm sein Heer zu übergeben, da er sein Kommando nicht rechtmäßig innehabe. Als Fimbria im Gegenzug die Legalität der Befehlsgewalt Sullas in Zweifel zog, ließ Sulla die Belagerung von Thyateira vorbereiten. Die Größe seines Heeres und sein Ansehen veranlassten die Soldaten Fimbrias, in Sullas Lager überzulaufen. Fimbria, der seine Soldaten nicht mehr zur Treue anhalten konnte und dessen Mordversuch an Sulla scheiterte, floh nach Pergamon, wo er Selbstmord beging. Der Zweite Marsch auf Rom Nach dem Friedensschluss von Dardanos und seinem Sieg über das populare Heer des Fimbria, aber auch dank des Besitzes großer Geldsummen und Ressourcen, welche die Loyalität des Heeres zum Feldherrn sicherten, war es Sulla nunmehr möglich, sich mit dem innenpolitischen Gegner auseinanderzusetzen. Laut Appian hatte das Heer, mit dem Sulla sich Anfang 83 v. Chr. auf angeblich 1.600 Kriegsschiffen nach Brundisium einschiffen ließ, eine Stärke von 40.000 Mann. Die gegnerischen Befehlshaber, der Prokonsul Papirius Carbo sowie die amtierenden Konsuln des Jahres 83 v. Chr., Gaius Norbanus und Lucius Cornelius Scipio Asiaticus, leisteten mit ihren Streitkräften mit 100.000 Soldaten bei der Landung Sullas keinen Widerstand. Damit vergaben sie die Möglichkeit, den Invasoren schon in Kalabrien, Apulien und Lukanien entgegenzutreten und noch während deren Formierung in Sullas Angriffsverbände hineinzustoßen. Viele Soldaten liefen zu Sullas Heer über. Einen Heeresverband aus Africa bot Marcus Licinius Crassus auf, der spätere Triumvir und reichste Mann Roms, und auch Gaius Verres, Gnaeus Pompeius Magnus sowie Lucius Sergius Catilina schlossen sich der Sache Sullas an. Selbst ehemalige Gegner suchten ihr Heil im Überlaufen, so Publius Cornelius Cethegus, der Konsular Lucius Marcius Philippus und der Ritter Quintus Lucretius Ofella. In Rom organisierten die Konsuln des Jahres 83 v. Chr., Lucius Cornelius Scipio Asiaticus und Gaius Norbanus, den Abwehrkampf gegen Sulla. Zum ersten größeren Gefecht kam es im Frühjahr 83 v. Chr. beim Berg Tifata nördlich von Capua. In der folgenden Schlacht unterlag Norbanus und musste sich mit den Resten seines Heeres nach Capua zurückziehen. Auch von anderen Fronten wurden Sulla günstige Nachrichten gemeldet. Pompeius hatte in Picenum seine Truppen verstärken und in mehreren Schlachten populare Heere schlagen können, darunter das Heer des Carbo bei Ariminum, das eine zentrale Stellung in der Gallia cisalpina besetzt hatte. Indes verlor Scipio sein Heer durch Desertation, und Crassus konnte im Stammesgebiet der Marser Rekrutierungen für Sullas Heer durchführen. Neben dem Mangel an Soldaten stand die populare Führung vor finanziellen Problemen, da die lange Kriegsperiode die Staatskassen geleert hatte und nunmehr die Tempelschätze zur Finanzierung des Krieges herangezogen werden mussten. Im Jahr 82 v. Chr. wurden Carbo und Gaius Marius der Jüngere zu Konsuln gewählt, da man sich von ihnen neue Akzente in den Kämpfen gegen Sulla erhoffte. Der jüngere Marius trat Sulla bei Sacriportus gegenüber und wurde in der folgenden Schlacht in der Nähe von Signia geschlagen und nach Praeneste zurückgedrängt. Mit der Blockade der Stadt wurde Quintus Lucretius Ofella beauftragt, die Kämpfe breiteten sich vor allem in Etrurien bis nach Gallien aus. In zahlreichen weiteren Gefechten konnten sich die sullanischen Befehlshaber Crassus, Metellus und Pompeius durchsetzen. Nach ihren Niederlagen gaben Carbo und Norbanus auf und flohen, Carbo nach Africa und Norbanos nach Rhodos. Die führerlos gewordenen Verbände lösten sich auf oder wurden von Pompeius vernichtet. Die Samniten und Lukaner, Verbündete der Popularen, erkannten, dass sie nun ernsthaft gefährdet waren. Sie marschierten von ihrer Stellung in Praeneste aus nach Rom und bezogen in der Nähe der Porta Collina ein Lager. Sulla, der die feindlichen Bewegungen beobachtete, zog nach Rom und trat ihnen an der Porta Collina entgegen. In erbitterten Kämpfen brach der linke Flügel unter der Führung Sullas ein, und es blieb Sullas einziger Erfolg, die demoralisierten Truppen im Lager zu sammeln. Hingegen konnte der rechte Flügel unter Crassus einen vollständigen Sieg erringen und die Samniten und Lukanier bis nach Antemnae zurückwerfen. Aufgrund von Sullas militärischer Überlegenheit kamen die versammelten Senatoren nicht umhin, ihn in seinem prokonsularischen Amt zu bestätigen. Zugleich wurden alle Beschlüsse Sullas im Osten und alle seine Maßnahmen gegen innenpolitische Gegner gebilligt. Am 3. November wurden auf dem Marsfeld in Rom mehrere Tausend Samniten eingeschlossen und mit Speerwürfen getötet. Die Abschlachtung der Gegner auf dem sakralen Grund des Marsfeldes könnte religiös motiviert und somit als Menschenopfer gedacht gewesen sein, das erst wenige Jahre zuvor offiziell verboten worden war. Wenige Jahre zuvor hatte Marius innenpolitische Gegner rituell töten lassen, später sollten Caesar und Augustus dies in Bürgerkriegssituationen wiederholen. Nach dem Sieg Sullas an der Porta Collina war Praeneste als letzte Basis der Popularen unter dem Befehl des jüngeren Marius nicht mehr zu halten. Marius selbst wählte nach einem gescheiterten Fluchtversuch den Freitod. Die Eingeschlossenen in Praeneste, die schließlich kapitulierten, wurden meist umgebracht, die Stadt geplündert. Diktatur Errichtung der Diktatur Durch den Tod der beiden Konsuln Gaius Marius des Jüngeren und Gnaeus Papirius Carbo im Jahr 82 v. Chr. war der Staat seiner Führung beraubt. Als ordnendes Organ gab es für diesen Fall das Amt des Interrex („Zwischenkönig“), in dessen Verantwortung es lag, schnellstmöglich Konsulatswahlen durchzuführen. Für Sulla war es entscheidend, dass der gewählte Interrex seine Interessen vollständig bedienen würde. In der Senatssitzung vom 5. November verhalf Sulla aus diesem Grund Lucius Valerius Flaccus zum Amt des Interrex. In einem Brief, der einzig von Appian überliefert ist, teilte Sulla dem Interrex Flaccus mit, dass derjenige, der gewählt werden würde, solange im Amt bleiben dürfe, bis die Verhältnisse in Rom und Italien neu geordnet seien. Zum Ende des Briefes erklärte Sulla sich bereit, dieses wichtige Amt zu übernehmen. Während dieser Vorgänge hielt Sulla sich außerhalb Roms auf, um den Schein aufrechtzuerhalten, das Volk wähle die Diktatur freiwillig. Der Interrex war schon aufgrund des vorübergehenden Charakters seines Amtes nicht dazu befähigt, eine politische Ausnahmegewalt ohne zeitliche Begrenzung zu schaffen. Deshalb brachte der Interrex vor der Volksversammlung mit der lex Valeria ein Gesetz zur Einrichtung der Diktatur ein. Nach der Annahme des Gesetzes durch die Volksversammlung wurde Sulla von dem Interrex Lucius Valerius Flaccus zum dictator ernannt. Die lex Valeria regelte Kompetenz und Dauer des Amtes. Hinsichtlich der Kompetenz überliefert Appian das, was im Lateinischen als legibus scribundis et rei publicae constituendae („Gesetze zu geben und den Staat zu ordnen“) bekannt ist, hinsichtlich der Dauer der Diktatur, dass sie zeitlich unbeschränkt war. Kritik an dieser nicht mit altem römischen Recht zu vereinbarenden Amtsbefugnis strafte Sulla selbst in der eigenen Familie hart. So zwang er 82 v. Chr. seine jungverheiratete und schwangere Stieftochter Aemilia zur Scheidung, weil ihr Ehemann Manius Acilius Glabrio sich kritisch über seine Politik geäußert hatte, und verheiratete sie mit seinem Protegé Pompeius. Legitimität der Diktatur Sulla hat sein zukünftiges Handeln vor und während seiner Diktatur durch unvergleichliche Ehrungen zu legitimieren versucht. Dazu zählt die Verleihung des Cognomens Felix an Sulla. Umstritten ist die genaue Datierung der Verleihung: Appian überliefert, Sulla habe den Beinamen noch vor seiner Ernennung zum Diktator erhalten; nach Plutarch dagegen soll sich Sulla diesen Beinamen als Diktator per Edikt zugelegt haben. Mit dem Cognomen Felix wollte Sulla seine Diktatur mehr als die logische Konsequenz göttlichen Willens verstanden wissen und weniger als das Resultat eines planmäßig darauf gerichteten Handelns. Da ihm von den Göttern die felicitas gegeben wurde, sollte er imstande sein, das Gemeinwesen zu retten und den Staat zu festigen. Weiterhin konnte er durch diesen Beinamen nicht nur auf zurückliegende militärische, sondern auch auf noch zu erbringende innenpolitische Leistungen anspielen, die infolge seines „Glücks“ absehbar wurden. Als Schutzgöttin Roms wurde Felicitas wegen ihrer Verantwortung für die Größe und Sicherheit der res publica seit der Königszeit verehrt. Diese Selbsteinschätzung als Günstling des göttlichen Glücks hatte sich auch in der Namensgebung seiner vor 86 v. Chr. geborenen Zwillinge aus vierter Ehe niedergeschlagen, deren Beinamen Fausta und Faustus ebenfalls „glücklich“ bedeuten. Als weitere Ehrung ließ Sulla eine goldene Reiterstatue auf dem Forum aufstellen; diese Auszeichnung wurde auch auf Münzbildern verbreitet. Jene Statue wurde in der Nähe der Standbilder des Diktators Marcus Furius Camillus und des Samnitensiegers im 4. Jahrhundert v. Chr., Quintus Marcius Tremulus, errichtet. Formal wurde diese Ehrung mit dem Sieg über die Samniten vor der Porta Collina begründet, wobei Material, Gestus und der traditionsreiche Standort der Statue Sullas Führungsanspruch unterstreichen sollten. Ende Januar des Jahres 81 v. Chr. feierte Sulla einen Triumphzug über Mithridates VI., der zugleich als Triumph über die im Bürgerkrieg besiegten Gegner verstanden werden konnte – ein bis dahin einmaliger Vorgang, wurde der kultisch gebundene und durch Rituale geprägte Triumph doch nur für einen Sieg in einem gerechten Krieg, einem bellum iustum, gewährt. Der Triumph war ebenso wie die anderen Ehrungen Teil von Sullas propagandistischem Konzept, da Mithridates in der Schlacht weder überwunden noch im Triumph mitgeführt wurde. Mit dem Triumph wurde dem römischen Volk allerdings suggeriert, dass das Abkommen mit dem pontischen Herrscher einem Sieg gleichzusetzen war. Durch den Triumph wurde Sulla vom Volk als „Retter und Vater“ gepriesen. Auch lenkte der Triumph von den laufenden Proskriptionen ab und präsentierte der Bevölkerung die reiche Beute des Krieges. Trotz aller Ehrungen wusste Sulla allerdings, dass das römische Volk, die plebs urbana, wankelmütig war und keineswegs hinter seiner Politik stehen würde. Er erinnerte sich, welchen Nutzen er in früherer Zeit aus der Durchführung der ludi Apollinares gezogen hatte. Damals hatte Sulla großzügig die Spiele gefeiert, um Prätor zu werden. So setzte er auch jetzt die Spiele für seine Zwecke ein und ließ die ludi victoriae Sullanae abhalten, die, was ein Novum war, nicht nur einmal, sondern in Zukunft jährlich in der Zeit vom 26. Oktober bis zum 1. November gefeiert werden sollten. Um das römische Volk zu begeistern, wurden diese Spiele besonders aufwändig zelebriert und Sulla soll sich außerordentlich spendabel gezeigt haben. Er ließ Speisen und Getränke im Überfluss heranschaffen, so dass man später die Überreste in den Tiber werfen musste. Sulla wollte mit diesen Spielen gleichermaßen an seine Siege über die Italiker und Mithridates VI. erinnern. Proskriptionen Bereits vor seiner Ernennung zum Diktator hatte Sulla die Proskriptionen eingeleitet. Die rechtliche Grundlage der Proskriptionen wurde mit der lex Valeria, die auch die Ernennung Sullas zum Diktator regelte, nachträglich geschaffen. Sie enthielt sowohl die Billigung der bereits erfolgten Proskriptionen als auch die Ermächtigung zur Weiterführung der Massentötung politischer Gegner. Als eine seiner ersten Amtshandlungen als Diktator brachte Sulla Ende Dezember ein Gesetz ein, das die Rechtsfolgen der Proskriptionen im Einzelnen regeln sollte. Inhaltlich bestimmte das Gesetz, dass die Proskribierten von jedermann getötet werden durften. Auf den Kopf eines Proskribierten wurde eine Belohnung von 12.000 Denaren ausgesetzt. Die Hilfeleistung an einen Proskribierten stand unter Todesstrafe. Die Proskriptionen endeten am 1. Juni 81 v. Chr. Die Zahl der Getöteten beziffert die Überlieferung auf 4.700 römische Bürger. Die listenmäßige Erfassung bot keine Rechtssicherheit, da die Listen nicht kontrolliert und somit beliebig ergänzt wurden. Auch manche Personen, die einem Raubmord zum Opfer gefallen waren, wurden nachträglich auf die Liste gesetzt. Den verstorbenen Marius sah Sulla als Hauptverantwortlichen für die ihm widerfahrene Demütigung an. Das Grab des Marius wurde geschändet und seine sterblichen Überreste in den Anio geworfen. Die Siegesmonumente des Marius ließ Sulla abreißen. Auch der spätere Diktator Caesar wurde von Sulla verfolgt und erst durch die Vermittlungsversuche der Vestalinnen und der Freunde Sullas begnadigt. Die Verfolgung der politischen Gegner beschränkte sich indes nicht nur auf ihre Person, vielmehr machte Sullas Rache auch nicht vor den Kindern und Enkeln der Geächteten halt, welche die politischen Privilegien ihres Standes verloren; die gesamte Familie sollte aus dem politischen Leben ausgelöscht werden. Die Proskriptionen Sullas veränderten auch die Eigentumsverhältnisse. Die Güter der getöteten Proskribierten und Feinde Sullas wurden verkauft. Bei den Versteigerungen kam so viel Land unter den Hammer, dass die Preise ins Bodenlose fielen. Dadurch konnten Sullas Anhänger große Vermögenswerte und riesigen Landbesitz anhäufen. Einer der erfolgreichsten war Marcus Licinius Crassus, der durch die Proskriptionen zum reichsten Römer aufstieg. Auch Chrysogonos, ein Freigelassener Sullas, bereicherte sich erheblich. Er konnte etwa die Güter des Sextus Roscius für den dreitausendsten Teil ihres Wertes erwerben. Wie aus der Verteidigungsrede des jungen Redners Marcus Tullius Cicero für Sextus Roscius hervorgeht, war auch in diesem Fall allein die Geldgier des Chrysogonos für Mord und Enteignung verantwortlich. Plutarch urteilte: „Und die aus Hass und Feindschaft umgebracht wurden, waren nur eine verschwindende Minderzahl, verglichen mit denen, die wegen Geldes ermordet wurden; ja, die Mörder unterstanden sich, zu sagen, dem einen habe sein großes Haus den Tod bereitet, dem sein Garten, einem anderen seine heißen Bäder.“ Insgesamt gelangten durch die Versteigerungen 350 Millionen Sesterzen in die Staatskasse. Verfassungswerk Sullas Gesetzeswerk war auf die Stärkung des Senats, die Schwächung aller anderen Institutionen und schließlich die flächendeckende Absicherung des Systems gerichtet. Es sollte die gracchischen Reformversuche zurücknehmen. Sulla übergab die Gerichtshöfe für Straftatbestände den Senatoren und schuf sieben neue quaestiones, die als ständige Gerichtshöfe tagen sollten. Er wandte sich strikt gegen jede Form der von Gaius Gracchus eingeleiteten Politisierung des Ritterstandes, die das Ziel verfolgt hatte, einen mit dem Senat rivalisierenden Stand aufzubauen. Vielmehr wollte Sulla loyale Angehörige des Ritterstandes in die Führungsschicht integrieren, indem er diese relativ großzügig in den Senat aufnahm. Die Schwächung des Senats infolge der im Bürgerkrieg und durch die Proskriptionen erlittenen Verluste, die im Widerspruch zu der tragenden Rolle stand, die dem Senat in Sullas Verfassungsentwurf zugedacht war, versuchte er durch eine Erhöhung der Anzahl der Senatoren von 300 auf 600 auszugleichen. Die Vergrößerung des Senates war auch notwendig, um genügend Senatoren für die Besetzung der Gerichtshöfe verfügbar zu haben. Nach der personellen Vergrößerung des Senates bestand das Gremium zu fast drei Vierteln aus politischen Neulingen, deren Familien nicht traditionell zu den führenden der Republik gehörten. Die Änderungen Sullas waren eine epochale Umwälzung in der personalen Struktur des Senats, wie es bisher nicht vorgekommen war. Sulla veränderte auch die Modalitäten der Aufnahme in den Senat. Bisher hatten die Zensoren anhand des Lebenswandels und der Vermögenslage über die Aufnahme in den Senat entschieden und konnten dank der nota censoria („Rüge der Zensoren“) auch jemanden wieder aus dem Gremium entfernen. Da dieses Verfahren jedoch ein äußerst subjektives Vorgehen war, bestimmte Sulla, dass der Zugang zum Senat automatisch erlaubt werden sollte, wenn der Kandidat die Quästur bekleidete. Gleichzeitig erhöhte er die Zahl der Quästoren von etwa 10 auf 20. Da die Zensoren damit fast aller Kompetenzen beraubt waren, wurden in der Zeit von 86 bis 70 v. Chr. keine Amtsträger mehr ernannt. Sulla maß dem Konsulat eine wichtige Rolle zu. In seinem Verfassungswerk legte er die Ämterlaufbahn Quästur – Prätur – Konsulat verbindlich fest. Denn die Kandidaten hatten häufig versucht, die Prätur zu überspringen, um das Konsulat schnellstmöglich zu erreichen und der unbeliebten Prätur aus dem Weg zu gehen, für die eine Vielzahl von Spruchformeln und Gesetzen zu beherrschen war. Ein Überspringen der Prätur war nun nicht mehr möglich. Dafür wurde die Anzahl der jährlichen Amtsinhaber der Quästur und Prätur erhöht. Ferner legte Sulla das Mindestalter für die Ämter verbindlich fest. Die Quästur als Eingangsamt konnte ab dem vollendeten 30. Lebensjahr besetzt werden, die Prätur ab dem 40. und das Konsulat ab dem 43. Lebensjahr. Eine Wiederbewerbung um das Amt des Konsuls (Iteration) war erst nach 10 Jahren möglich. Das erste Opfer dieser neuen Regelung war Quintus Lucretius Ofella. Dieser hatte sich militärisch bei der Belagerung von Praeneste verdient gemacht und bewarb sich für das Konsulat, obwohl er weder die Quästur noch die Prätur bekleidet hatte. Als Ofella Sullas Veto nicht akzeptieren wollte, ließ der Diktator ihn töten. In der Provinzialverwaltung legte Sulla verbindlich fest, dass die beiden Konsuln und die nun auf acht Stellen vermehrten Prätoren ihren einjährigen Dienst in der Hauptstadt versahen und im Anschluss als Prokonsuln bzw. Proprätoren eine Statthalterschaft übernahmen. Die Proprätoren wurden dabei für ein Jahr mit der Statthalterschaft einer der kleineren Provinzen beauftragt. Sulla wollte einen Machtmissbrauch der Statthalter verhindern. Der Senat regelte daher die Verteilung der Provinzen. Die Statthalter mussten binnen 30 Tagen nach Eintreffen des Nachfolgers die Provinz verlassen. Ein Überschreiten der Provinzgrenzen und damit eine nicht vom Senat gebilligte Kriegsführung war ihnen ebenso verboten wie ein irreguläres Verlassen des Aufgabenbereiches. Mit der Stärkung des Senats schränkte Sulla zugleich die Kompetenzen des Volkstribunats stark ein. Ab sofort verhinderte die Übernahme der Position des Volkstribuns einen weiteren Aufstieg im System der Magistraturen, und die Volkstribunen mussten jeden Gesetzesantrag, den sie der Volksversammlung vorlegen wollten, vom Senat bestätigen lassen. Auch konnten die Volkstribunen nicht mehr gegen jede staatliche Maßnahme ihr Veto einlegen, sondern nur noch dann, wenn ein Bürger Unterstützung gegen die Anordnung eines Magistraten brauchte. Durch diese Maßnahmen wurde das Volkstribunat wieder auf die Basis der direkten Hilfeleistung für die Mitbürger beschränkt, wie es zu Beginn der Ständekämpfe im 5. Jahrhundert v. Chr. der Fall war. Die Regelung sollte verhindern, dass politisch ehrgeizige und talentierte Bewerber das Volkstribunat als Plattform ihrer weiteren Politik nutzen konnten. Nur sein – stark von einer optimatischen Einstellung geprägter – Respekt vor den Institutionen der res publica und seine Angst vor Ausschreitungen der stadtrömischen Bevölkerung hinderten Sulla wohl an einer kompletten Abschaffung des Amtes. Obwohl Sulla als Diktator dictator legibus scribundis et rei publicae constituendae (Diktator für die Abfassung von Gesetzen und die Neuordnung des Staates) angetreten war, ließ er entsprechend der römischen Verfassung die Comitia centuriata über alle seine Leges Corneliae abstimmen. Doch war nach der radikalen Ausschaltung der politischen Gegner Widerstand gegen Sullas Gesetzesinitiativen kaum zu erwarten. Konstituierung der Ordnung Sulla traf zahlreiche Maßnahmen, um sein Reformwerk abzusichern. Er brachte viele politische Freunde in einflussreiche Positionen. Vor allem durch eine gezielte Heiratspolitik beabsichtigte Sulla, ganze Familien und ihre Macht an seine eigene Person zu binden. Diese Personen wurden wegen ihrer engen Bindung zum Diktator auch Sullani genannt. Die militärische und soziale Absicherung sollte durch Veteranensiedlungen erfolgen. Nach Appian wurden 23 Legionen mit Land versorgt. Durch die Veteranensiedlungen wurden Sullas Soldaten für ihre Taten belohnt. Sulla verzichtete dabei weitgehend auf Koloniegründungen, da er seine Soldaten in jenen italischen Städten ansiedelte, die ihn bei seinem Eroberungszug bekämpft hatten. Die Soldaten wurden mit dem Land und den Häusern der Gegner Sullas versorgt, die vertrieben, enteignet oder getötet worden waren. Das Land wurde den Veteranen wohl nicht als Privateigentum (ager privatus optimo iure) übergeben, sondern es besaß vermutlich den Rechtsstatus des ager publicus und unterlag somit einem Verkaufsverbot. Um das System weiter zu stützen, verlieh Sulla über 10.000 jungen Sklaven der Proskribierten das Bürgerrecht. Sie trugen fortan seinen Namen und waren als Cornelii bekannt. Damit verfügte Sulla über zahlreiche Gefolgsleute unter der freien Bevölkerung. Abdankung und Tod Am Anfang des Jahres 79 v. Chr. legte Sulla vor der römischen Volksversammlung die Diktatur nieder. Er teilte seinen Entschluss dem versammelten Volk mit und erklärte sich bereit, Rechenschaft abzulegen. Über die konkreten Gründe der Ämterniederlegung wurden in der Forschung unterschiedliche Überlegungen angestellt. In Betracht kommen politische, persönliche und religiös-spirituelle Motive. Zum einen wird angenommen, Sullas Rücktritt sei im Einklang mit der Verfassungstradition erfolgt, weil er seinen Auftrag, die Restauration der Verfassung, als erfolgreich abgeschlossen ansah. Auch Karl Christ nimmt an, Sulla wollte durch seine Abdankung den negativen Präzedenzfall einer allzu langen Diktatur vermeiden. Darüber hinaus argumentiert er, die langen Jahre des Bürgerkrieges und die anschließenden innenpolitischen Querelen haben auch angesichts seines hohen Alters eine Politikverdrossenheit Sullas bewirkt, so dass er sich dem Landleben zuwandte. Laut Plutarch soll ihm einst ein Chaldäer vorausgesagt haben, er müsse nach einem ruhmvollen Leben auf dem Gipfel des Glücks sterben, woraus Sulla nach Hans Volkmann die Mahnung herausgehört habe, sein Werk so rasch wie möglich zu beenden, wenn er noch Tage der Ruhe haben wolle. Nach der Abdankung verließ Sulla gemeinsam mit seiner fünften Ehefrau Valeria Rom, um auf seinem Besitz am Posillipo bei Puteoli noch einmal zu der freizügigen Lebensweise der Anfangsjahre zurückzukehren. Neben der Jagd und dem Fischfang verfasste er dort in 22 Büchern seine Memoiren, die nicht erhalten sind, aber von späteren Autoren als Quelle genutzt wurden. Daneben beendete er die Auseinandersetzungen in Puteoli zwischen den Altbürgern und den dort angesiedelten Veteranen, indem er der Stadt eine neue Verfassung gab. Im Jahr 78 v. Chr. starb Sulla an der Folge eines Blutsturzes, angeblich aufgrund seines Konflikts mit Granius, dem Duumvir von Puteoli. Auf Initiative des Konsuls Quintus Lutatius Catulus und des Pompeius wurde vom Senat das erste Staatsbegräbnis der späten Römischen Republik beschlossen. Sein Begräbnis diente nach Karl Christ teilweise als Vorbild für die späteren Beisetzungen Caesars und der römischen Principes. Wirkung Bereits acht Jahre nach seinem Tod wurden wichtige Gesetze Sullas wieder zurückgenommen. So wurde die Gesetzesinitiative der Volkstribune in vollem Umfang wiederhergestellt. Das Volkstribunat, das seit den Gracchen vielfach Auslöser sozial motivierter Gewalt gewesen war und sich seitdem zu einem Machtinstrument popularer Politiker entwickelt hatte, stellte somit wieder eine Opposition zum Senat dar. Die ausschließliche Bestellung der Gerichtshöfe mit Senatoren wurde aufgehoben. Ebenfalls wurde die Censur wiederhergestellt, wodurch Umstrukturierungen der Senatorenschicht ermöglicht wurden. Das drängende innenpolitische Problem der Veteranenversorgung löste Sulla zwar zu seinen Gunsten, schuf allerdings keine dauerhafte Regelung; denn das eingebrachte Verkaufsverbot, das den Zweck verfolgte, die Nutznießer der sullanischen Ordnung auf Dauer abzusichern, schlug fehl. Viele Veteranen gerieten in Schulden und fanden Mittel und Wege, das zugewiesene Land wieder zu veräußern. Sullas Reform der senatorischen Ämterlaufbahn hatte in größeren Teilen Bestand. Die Quästur blieb als Eintritt zum Senat ebenso verbindlich wie die an die beiden höchsten Ämter gekoppelte Statthalterschaft. Augustus nahm nur wenige Veränderungen an der von Sulla überkommenen Senatsordnung vor, und er reduzierte die Anzahl der Senatoren wieder auf 600, nachdem Caesar sie kurzfristig auf 900 erhöht hatte. Sullas systematische Ordnung der Strafrechtspflege und einzelne seiner Gesetze wirkten bis weit in die Kaiserzeit. Antikes Bild Sullas Das Bild Sullas in der Antike wurde durch seine Memoiren geprägt, die mit ihrer Selbstdarstellung und Rechtfertigung bis in das 2. Jahrhundert n. Chr. hinein wirkten. Allerdings verstärkte die von Caesar initiierte neue Aktivierung der Marianer alte antisullanische Tendenzen. Diese gegensätzlichen Positionen spiegeln sich in den antiken Quellen insofern, als bis zu Sullas Sieg an der Porta Collina positive Elemente und Leistungen durchaus anerkannt werden, danach aber der Diktator als die klassische Verkörperung der crudelitas (Grausamkeit) eines Tyrannen diskreditiert wurde. Die lateinisch schreibenden Historiker bieten kein umfassendes und geschlossenes Sullabild. Die beiden Hauptquellen über die sullanische Epoche sind die griechischsprachigen Werke von Appian und Plutarch. Sulla wird bei Plutarch in den Parallelbiographien, in der die moralischen und sittlichen Kriterien klassischer und griechischer Philosophie überwiegen, vielfach als typischer griechischer Tyrann angesehen, wobei seine Tapferkeit und Kriegskunst positiv gewürdigt werden. Durchweg günstig ist hingegen die Darstellung Sullas bei Appian, der sich aus Überzeugung mit Prinzipat und Imperium identifizierte. In der Forschung ist Ciceros Verhältnis zu Sulla häufig diskutiert worden. Eine Gruppe sah ihn als Parteigänger, während andere ihn als neutralen Beobachter erkannten. Cicero lehnte einerseits die absolute Machtstellung eines Einzelnen entschieden ab, da sie zwangsläufig zu ihrem Missbrauch führen müsse, andererseits anerkannte er, dass Sullas Diktatur als Mittel zur Neuordnung und Rettung der res publica unvermeidlich war. Als 49 v. Chr. der neue Bürgerkrieg ausbrach, war die Erinnerung an Sulla wieder präsent. Der Konsul Lucius Cornelius Lentulus Crus rühmte sich, ein anderer Sulla zu werden, die Wortbildung sullaturire – „den Sulla nachahmen“ – wurde ein üblicher Ausdruck. Caesar distanzierte sich von der Politik Sullas. So bezeichnete er Sulla wegen der Niederlegung der Diktatur als politischen Analphabeten. Er stellte auch dessen Politik seine Milde, die sprichwörtliche clementia Caesaris, gegenüber, mit der er sich von der Grausamkeit Sullas distanzierte. Doch Caesars Politik der Milde bewährte sich nicht. Die Triumvirn Marcus Aemilius Lepidus, Marcus Antonius und Octavian griffen mit den Proskriptionen erneut auf Sullas Methoden zurück und begründeten ihr Vorgehen mit den Folgen von Caesars großzügiger Politik der clementia. Im späteren Prinzipat des Augustus wurde die Feindschaft zwischen Optimaten und Popularen aufgelöst. Strabon, der drei Generationen später durch die Landschaften Samniums wanderte, hielt fest, was der sullanische Kreuzzug diesem Land angetan hatte: „Sulla ruhte nicht eher, bis er alle, die den Namen Samniten führten, ermordet oder aus Italien vertrieben hatte; denen aber, die einen so weit getriebenen Zorn tadelten, sagte er, er habe sich durch die Erfahrung überzeugt, dass auch nicht ein Römer jemals Frieden haben werde, solange die Samniten als ein selbständiges Volk weiterbestünden“. Für Strabon war dieses Ziel so konsequent erreicht worden, dass er keiner einzigen der noch verbliebenen Ortschaften Samniums den Namen „Stadt“ zubilligen wollte. Der Philosoph Seneca zog Sulla in seinen Abhandlungen über die Milde des Herrschers als abschreckendes Beispiel heran und bezeichnete ihn wegen seiner Massentötungen als Tyrann. Plutarch warf Sulla vor, sich selbst zum Diktator ernannt und somit einen Verfassungsbruch begangen zu haben. Unter Octavian, Galba, Vitellius, Vespasian, Septimius Severus, und besonders in der Zeit der Soldatenkaiser und in der Spätantike kam es zu neuen Märschen auf Rom. Offen bekannte sich jedoch nur Septimius Severus im Jahre 197 n. Chr. zu Sullas Politik der Härte und Gewalt. Sein Sohn Caracalla, der diese Überzeugung teilte, ließ Sullas Grabmal erneuern. Im 5. Jahrhundert rechtfertigte Augustinus von Hippo den militärischen Untergang des christianisierten Reiches und wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Proskriptionen Sullas das gegenwärtige Morden der Gallier und Goten übertroffen hätten. Forschungsgeschichte In der Forschung wurden zwar eine Vielzahl von Spezialstudien vorgelegt, jedoch nur wenige zusammenfassende Biographien. Eine Bewertung Sullas fand daher in erster Linie in den allgemeinen Darstellungen der römischen Geschichte statt. Theodor Mommsen war fasziniert von Sulla, der konsequent für die Sache seines Standes handelte und dabei nicht dem individuellen Machtgenuss verfiel. Mommsens Urteil über Sulla war dementsprechend in seiner Römischen Geschichte Mitte des 19. Jahrhunderts schon zu Beginn positiv. Er rühmte Sulla als „adligsten und tapfersten Offizier“. Mommsen unterschied seine Diktatur konsequent von der bisherigen Form der Diktatur und urteilte abschließend: „In der Tat ist Sulla eine von den wunderbarsten, man darf vielleicht sagen eine einzige Erscheinung in der Geschichte.“ Leopold von Ranke hingegen würdigte in seiner Weltgeschichte Marius im höheren Maße als Sulla und sah Letzteren als ersten Monarchen im republikanischen Rom an. In den 1930er Jahren erschienen Publikationen in besonderer Häufigkeit und mit sehr unterschiedlichen Wertungen. Jérôme Carcopino vertrat 1931 in seinem Werk Sylla ou la monarchie manquée die Auffassung, dass Sulla von Anfang an eine Militärmonarchie angestrebt habe. Die Niederlegung der Diktatur sei in einer neuen innenpolitischen Krise, besonders unter dem Druck der Konsuln Appius Claudius Pulcher und Publius Servilius Vatia, aber auch des Pompeius und einer Senatorengruppe erzwungen worden. Helmut Berve versuchte 1931, Sullas Wesen und Bedeutung der Kaste stadtrömischer Aristokraten aufzuzeigen. Er entwarf sein Sulla-Bild in bewusster Auseinandersetzung mit Theodor Mommsen und zog ein negatives Fazit: „In der kalten Unpersönlichkeit und starren Monumentalität seines Wirkens, in seiner standesgemäßen und politischen Befangenheit erscheint er als der letzte Altrömer.“ Dagegen gab Hugh Last 1932 in der Handbuch-Reihe Cambridge Ancient History eine Schilderung der Ereignisgeschichte in enger Anlehnung an die Darstellungen Appians und Plutarchs. Last rühmte einerseits die gesellschaftliche Brillanz des Lebemannes, verschwieg andererseits jedoch auch dessen Verachtung aller menschlichen Werte nicht. Während des Nationalsozialismus wurde Sulla von Wilhelm Weber in der Neuen Propyläen-Weltgeschichte mit Wörtern wie „Rasse“, „Blut“, und „Lebensraum“ in die nationalsozialistische Ideologie eingeordnet. Im englischsprachigen Raum trat seit den 1950er Jahren besonders Ernst Badian mit mehreren Spezialuntersuchungen hervor, in denen er vor allem prosopographische und chronologische Fragen behandelte. Badian wies darauf hin, dass die römische Innenpolitik ohnehin lediglich in Umrissen bekannt sei. Alfred Heuß stellte in den 1960er Jahren nüchterne verfassungsrechtliche Aspekte in den Mittelpunkt seiner Darstellungen. Seinem Schüler Jochen Bleicken zufolge unterzog Sulla die Verfassung der Römischen Republik einer gründlichen Analyse. Unter Zuhilfenahme „eine[r] völlig neue[n] Form von Diktatur“ setzte er zur Beseitigung von Verfassungsmissständen an. Im Geschichtsbild der Deutschen Demokratischen Republik kam der Person Sullas nur geringes Interesse zu, da der Spartacusaufstand die Bedeutung der senatorischen Restauration unter Sulla überschattete. Im französischsprachigen Raum wurden die wichtigsten Arbeiten von François Hinard in den 1980er Jahren veröffentlicht. Hinard verfasste eine Biographie Sullas und beschrieb die Eigenart von seiner Diktatur durch Vergleiche auch mit modernen Diktaturen. Der Althistoriker Karl Christ (2002) wandte sich in seiner Monographie gegen eine einseitige typologische Klassifizierung (der „letzte Altrömer“, „Monarch“, „Revolutionär“ „restaurativer Reformer“ oder „Restaurationsterrorist“) Sullas. Christ setzte für eine Charakterisierung die Schwerpunkte auf Sulla als Militär und als Politiker sowie auf sein Verhältnis zum transzendentalen Bereich. Christ bescheinigte Sulla eine „nie angefochtene militärische Autorität“ und würdigte ihn als einen der erfolgreichsten militärischen Feldherrn Roms. In der Politik stellte Christ zahlreiche Verbesserungen in Administration und Rechtsprechung fest. Dennoch war Sulla für Christ kein „überragender Staatsmann und Politiker“. In seiner Diktatur ging Sulla von „zwei kardinalen Fehleinschätzungen aus“. Die Herrschaftsstruktur als Senats- und Standesherrschaft konnte nicht mehr dauerhaft den Anforderungen der Größe des Römischen Reiches im ersten Jahrhundert v. Chr. entsprechen. Außerdem war die römische Führungsschicht innerlich zerrissen und wies nicht mehr die Geschlossenheit der klassischen Republik auf. In Sullas Beziehungen im transzendentalen Bereich stellte Christ fest, dass sich die Münzgestaltungen in die republikanische Tradition einordnen und nicht auf eine Alleinherrschaft hindeuten. Ein isolierter Blick auf Sullas politisches Reformwerk lässt ernsthafte Bemühung um die republikanische Verfassung erkennen und Sulla als „letzten Republikaner“ erscheinen. Viele Studien über Sulla tragen jedoch dem Aspekt Rechnung, dass die Gewaltexzesse der Proskriptionen nicht von dessen politischem Wirken abkoppelbar sind. Künstlerische Rezeption Die bekannteste Bearbeitung des Sulla-Stoffes ist Mozarts Oper Lucio Silla, die den Großmut eines absoluten Herrschers im römischen Gewand verdeutlicht. Auch Georg Friedrich Händel behandelte in seiner Oper Lucio Cornelio Silla die historische Person. Christian Dietrich Grabbe schilderte in seinem Jugendfragment Marius und Sulla (1813–1827) Sullas Zweifel am eigenen Werk, die Verachtung der Menschen wie der Welt und schließlich dessen Niederlegung der Macht und den Rückzug in die Einsamkeit. Grabbe bewunderte in Napoleon den Typus eines Machtmenschen und sah die Despotie des großen Individuums auch in Marius und Sulla verkörpert. Der noch 1945 ermordete Widerstandskämpfer Albrecht Haushofer inszenierte in seinem Drama Sulla von 1938 das Leben in einer Diktatur und stellte die Entwicklung des selbstsicheren Feldherrn und Diktators zum irritierenden Herrscher dar. Belletristische Bearbeitungen nach 1945 stammen etwa von Colleen McCullough in ihren Romanen Die Macht und die Liebe und Eine Krone aus Gras, die auf dem Konflikt zwischen Marius und Sulla basieren, sowie Günstlinge der Götter über Sullas Diktatur. Jutta Deegener schrieb den Roman Sulla. Roman über die Spätzeit der Römischen Republik. Porträt Die erste aus der literarischen Überlieferung bekannte bildliche Darstellung Sullas war eine Statue, die König Bocchus von Mauretanien 91 v. Chr. auf dem Kapitol in Rom errichten ließ. Zahlreiche Statuen erhielt Sulla während seiner Zeit im Osten, nach seinem Sieg im Bürgerkrieg auch in Italien. Die bekannteste war eine vergoldete Reiterstatue auf dem Forum Romanum. Keine dieser Statuen hat sich erhalten. Das einzige inschriftlich gesicherte Porträt befindet sich auf einer Münze, die Sullas Enkel Quintus Pompeius Rufus wohl 55 v. Chr., also mehr als 20 Jahre nach dem Tod des Diktators, prägen ließ. Zahlreiche Versuche wurden unternommen, durch Vergleich mit dem Münzporträt eine anonym überlieferte Darstellung mit Sulla zu identifizieren. Zuletzt hat sich Volker Michael Strocka eingehend mit der Frage beschäftigt und schlägt, wie schon Klaus Fittschen, vor, einen Porträtkopf in der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen als Porträt Sullas anzusehen, das aus dem östlichen Mittelmeerraum stammen dürfte. Repliken sieht Strocka in einer Statue im Vatikan, einem Bronzekopf aus Verona und mehreren spätrepublikanischen Gemmen. Weitere von einzelnen Wissenschaftlern mit Sulla identifizierte Porträts befinden sich wiederum in der Ny Carlsberg Glyptotek („Sulla Barberini“ und ein weiterer Kopf), der Glyptothek München (siehe Artikelanfang; Identifizierung vertreten zuletzt vor allem von Götz Lahusen), wiederum im Vatikan (zwei verschiedene Köpfe), Venedig und Malibu. Quellen Appian: Bürgerkriege. Deutsche Übersetzung: Römische Geschichte, Teil 2: Die Bürgerkriege. Herausgegeben von Otto Veh und Wolfgang Will, Stuttgart 1989, ISBN 3-7772-8915-9. Englische Übersetzung bei LacusCurtius Plutarch: Sulla. Deutsche Übersetzung: Große Griechen und Römer. Übersetzt von Konrat Ziegler. Band 3. dtv, München 1980, ISBN 3-423-02070-9. (englische Übersetzung) Sallust: Bellum Iugurthinum/ Der Krieg mit Jugurtha. Lateinisch/ Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Josef Lindauer, Düsseldorf 2003, ISBN 3-7608-1374-7. Velleius Paterculus: Römische Geschichte. Historia Romana. Übersetzt und lateinisch/deutsch herausgegeben von Marion Giebel, Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-008566-7, (lateinischer Text mit englischer Übersetzung). Literatur Holger Behr: Die Selbstdarstellung Sullas. Ein aristokratischer Politiker zwischen persönlichem Führungsanspruch und Standessolidarität (= Europäische Hochschulschriften Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Band 539). Lang, Frankfurt am Main u. a. 1993, ISBN 3-631-45692-1 (Zugleich: Frankfurt am Main, Universität, Dissertation 1991). Karl Christ: Sulla. Eine römische Karriere. Beck, München 2002. Unveränderter Nachdruck, 4. Auflage 2011, ISBN 978-3-406-61724-9. Hermann Diehl: Sulla und seine Zeit im Urteil Ciceros (= Beiträge zur Altertumswissenschaft. Band 7). Olms u. a., Hildesheim u. a. 1988, ISBN 3-487-09110-0 (Zugleich: Göttingen, Universität, Dissertation, 1987). Alexandra Eckert: Lucius Cornelius Sulla in der antiken Erinnerung. Jener Mörder, der sich Felix nannte (= Millennium-Studien. Band 60). De Gruyter, Berlin 2016, ISBN 978-3-11-045413-0. Alexandra Eckert, Alexander Thein: Sulla. Politics and reception. De Gruyter, Berlin u. a. 2019, ISBN 978-3-11-061809-9 Jörg Fündling: Sulla. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-15415-9. (Rezension) Ursula Hackl: Senat und Magistratur in Rom von der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis zur Diktatur Sullas (= Regensburger historische Forschungen. Band 9). Lassleben, Kallmünz 1982, ISBN 3-7847-4009-X (Zugleich: Regensburg, Universität, Habilitations-Schrift, 1979). Theodora Hantos: Res publica constituta. Die Verfassung des Dictators Sulla (= Hermes Einzelschriften. Band 50). Steiner, Stuttgart 1988, ISBN 3-515-04617-8. Karl-Joachim Hölkeskamp: Lucius Cornelius Sulla – Revolutionär und restaurativer Reformer. In: Karl-Joachim Hölkeskamp, Elke Stein-Hölkeskamp (Hrsg.): Von Romulus zu Augustus. Große Gestalten der römischen Republik. 2. Auflage, unveränderter Nachdruck. 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Mann
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Fender Stratocaster
Die Stratocaster (oft verkürzend auch „Strat“ benannt) ist ein E-Gitarren-Modell, das seit 1954 von der US-amerikanischen Firma Fender hergestellt wird. Die Stratocaster wirkte bei ihrem Erscheinen revolutionär und gilt bis heute als beliebteste, meistverkaufte und meistkopierte E-Gitarre weltweit. Die Stratocaster wird neben dem Herkunftsland USA auch in Mexiko, Japan, Korea und weiteren Staaten produziert. Geschichte Nachdem mit der Fender Telecaster erfolgreich die erste E-Gitarre und mit dem Precision Bass der erste E-Bass der Firma auf den Markt gebracht worden waren, begann Erfinder und Firmengründer Leo Fender 1952 mit der Entwicklung einer neuen E-Gitarre. Leo Fender war in seinen Ideen stark von der US-amerikanischen Automobilindustrie inspiriert. Hersteller wie Cadillac oder Chevrolet brachten in den 1950ern fast jährlich neue Modelle auf den Markt, um den technischen Fortschritt zu symbolisieren. Folgerichtig betrachtete Fender die Entwicklung der Telecaster nach ihrem Erscheinen im Jahr 1950 als abgeschlossen und plante ein komplett neues Nachfolgemodell. Bei diesem neuen Instrument sollten alle Erfahrungen und Anregungen einfließen, die man mit der Telecaster gesammelt hatte. Händler verlangten von Fender ein höherwertiges, besser ausgestattetes Instrument, um der teuren Gibson Les Paul entgegentreten zu können. Musiker forderten eine Gitarre mit mehr Klangmöglichkeiten und Vibrato. Außerdem sollte das Instrument bequemer zu bespielen sein als die kantige, brettartige Telecaster. Zusammen mit den Angestellten Freddie Tavares (Produktionsleiter bei Fender und Hobbymusiker), George Fullerton (Mitbegründer von Fender Musical Instruments) sowie den Gitarristen Bill Carson und Rex Gallion wurden die Eckpunkte der neuen Gitarre festgelegt: Der Korpus sollte dem des Precision Bass nachempfunden werden. Der Precision Bass hatte einen auf der mit einem unteren Cutaway bereits asymmetrischen Telecaster aufbauenden Korpus, der auf der Oberseite mit einem hervorstehenden „Horn“ stark verlängert wurde um den vorderen Gurtaufnahmepunkt günstiger platzieren zu können. Dies war gemäß form follows function nötig, um dem mit längerem Hals und großer Kopfplatte mit schweren Bass-Stimmmechaniken recht kopflastigen Instrument eine bessere Balance und Bespielbarkeit im Stehen zu geben. Außerdem entsprachen die futuristisch geschwungenen Formen dem Nierentisch-Zeitgeschmack der 1950er Jahre und erinnerten unter anderem an die Heckflossen großer Limousinen. Gitarrist Rex Gallion regte darüber hinaus an, dass der Korpus zusätzlich Aussparungen für den Rippenbogen (heute wegen der meist tieferen Spielhaltung oft scherzhaft „Bierbauchfräsung“ genannt) und den rechten Unterarm haben sollte. Bei der eher eckigen Telecaster störten die Korpuskanten bei längerem Spielen; einige Gitarristen hatten bereits selbst mit Raspel und Schmirgelpapier die gröbsten Kanten ihrer Gitarren verrundet. Darüber hinaus vergrößerte Leo Fender die Kopfplatte und glich sie noch stärker dem Design des Konkurrenten Paul Bigsby an. Das Klangspektrum der Gitarre sollte durch den Einbau eines Vibratos und Hinzufügen weiterer Tonabnehmer erweitert werden. Gitarrist Bill Carson schlug für die neue Gitarre eine Anzahl von vier bis fünf Tonabnehmern vor; Fender hielt dies für überflüssigen Ballast und bestand wie bei den vorherigen Instrumenten auf einem (Fender Esquire, Precision Bass), maximal zwei Tonabnehmern (Telecaster). Nach langen Diskussionen einigte man sich nach dem Vorbild der Gibson ES-5 auf drei Tonabnehmer. Das Vibrato sollte im Stil des Bigsby-Vibratos ein von der Brücke getrennter, beweglicher Saitenhalter sein, der jedoch im Gegensatz zu Bigsbys massiver Aluminiumkonstruktion aus gestanzten Blechteilen bestehen sollte. Die geplante Brückenkonstruktion war ebenfalls ein gebogenes Blech, bei dem die Saiten zur Reduzierung der Reibung über kleine Rollen liefen. So ausgestattet wurden 1953 die ersten Prototypen gefertigt und zu Testzwecken an verschiedene Musiker ausgeliehen. Die Reaktionen waren durchweg enttäuschend bis niederschmetternd: Die Blechkonstruktion des Vibratos schluckte einen Großteil der Saitenschwingung, weshalb die Prototypen sehr schrill und metallisch klangen. Gitarrist Carson beschrieb den Klang als „den eines billigen Banjos in einer Blechtonne“. Leo Fender war von seiner Konstruktion jedoch so überzeugt, dass er bereits zuvor etwa 5000 Rollen für eine geplante Serienfertigung der Blechbrücke bestellt hatte. Nach Angaben von Fabrikarbeitern verstaubte die Lieferung Rollen noch jahrelang im Lager der Firma. Nach langer Überzeugungsarbeit von Testgitarristen und Mitarbeitern konstruierte Leo für die Stratocaster widerwillig ein neues Vibrato. Den schlechten Erfahrungen zum Trotz setzte Leo Fender bei den Folgemodellen Jazzmaster und Jaguar eine überarbeitete Version des ursprünglichen Vibratos ein. Die Neukonstruktion des Vibratos verzögerte die Markteinführung der Stratocaster um ein ganzes Jahr. Leo Fender konstruierte schließlich als Erster eine kombinierte Saitenhalter/Brückenkonstruktion, die durch einen Hebel beweglich gemacht wurde. Dieses System war klein, optisch unauffällig und erlaubte durch das Kippen der Brücke ein Herunterstimmen der Saiten bis hin zum völligen Erschlaffen. Weiter verbesserte es den Klang des Instruments im Gegensatz zu den Prototypen erheblich. Aus ungeklärten Gründen meldete Fender das System nach ersten positiven Rückmeldungen im April 1954 nicht unter dem korrekten Terminus „Vibrato“, sondern mit dem irreführenden Namen „Tremolo“ zum Patent an. Diese Verwechslung zieht sich seitdem durch das gesamte Programm der Firma, da die Verstärker der Marke Fender, die tatsächlich über ein „Tremolo“ (im Sinne möglicher kontinuierlicher Lautstärkeschwankungen) verfügen, mit dem falschen Zusatz „Vibrato“ bezeichnet werden. Als letztes Konstruktionsmerkmal versetzte Fender die Klinkenbuchse für das Gitarrenkabel von der Korpuszarge in ein ovales Blech auf die Gitarrendecke. Diese Maßnahme erschien ihm sinnvoll, da viele Telecasters mit ausgerissenen Klinkenbuchsen zur Reparatur in die Werkstatt zurückkamen. Gitarrenständer waren noch nicht erfunden und viele Gitarristen lehnten ihre Instrumente nach dem Konzert einfach an die Verstärker oder herumstehende Stühle. Fiel dabei eine Gitarre aus Unachtsamkeit um, konnte aufgrund der Hebelwirkung des Gitarrenkabel-Klinkensteckers die Eingangsbuchse aus der Zarge gerissen werden, und Reparaturen wurden notwendig. Um beim Namen einem erneuten Rechtsstreit aus dem Weg zu gehen – die als Broadcaster erschienene Telecaster hatte schnell umbenannt werden müssen, da die Firma Gretsch bereits ein gleichnamiges Schlagzeug im Programm hatte – beauftragte Leo Fender seine Rechtsanwälte mit der Namensfindung und rechtlichen Überprüfung. Gitarrist Bill Carson schlug vor, das Instrument in Anlehnung an die Gibson Les Paul „Fender Bill Carson Modell“ zu benennen. Fender lehnte dies zur Enttäuschung des Gitarristen schnell ab und gab dem Modell stattdessen den futuristisch klingenden Namen „Stratocaster“. Das Kunstwort setzt sich zusammen aus dem Begriff Stratosphäre und dem Namen des Vorgängermodells Telecaster. Fenders Rechtsanwälte gaben diesem Kunstwort ihre Zustimmung und übersahen dabei, dass der Hersteller Harmony bereits eine E-Gitarre mit dem Namen „Stratotone“ auf den Markt gebracht hatte. Harmony legte jedoch keine Widersprüche ein, und die neue Gitarre konnte wie geplant erscheinen. Die Produktion begann im Laufe des Jahres 1954, die erste Werbeanzeige für die neue Gitarre wurde im April 1954 in der Zeitschrift „International Musician“ gedruckt. Der Erstverkaufspreis betrug 249,00 US-Dollar zuzüglich 39,00 Dollar für den Instrumentenkoffer. Die Telecaster kostete im Vergleich 189,00 Dollar. Auch wenn die Stratocaster in der Fachwelt wegen ihres futuristischen Aussehens und des neuen Vibratos großes Aufsehen erregte, verdrängte sie entgegen den Erwartungen Leo Fenders die Telecaster nicht vom Markt. Trotz großen Werbeaufwandes überstiegen die Stückzahlen der Telecaster noch über Jahre die der Stratocaster, weshalb beide Instrumente bis heute parallel hergestellt werden. Dennoch entwickelte sich die Stratocaster im Laufe der Zeit zur weltweit erfolgreichsten und meistgespielten E-Gitarre und wurde Vorbild einer ganzen Gitarrenbaugeneration. Nach offiziellen Schätzungen der Firma Fender wurden bis zum 40. Geburtstag im Jahr 1994 allein von Fender zwischen 1 und 1,5 Millionen Stratocasters produziert und verkauft. Konstruktion Der Korpus der Stratocaster besteht meist aus Esche (leichte Sumpfesche „Swamp-Ash“) oder aus Rot-Erle (American Red Alder), seltener aus Pappelholz (Poplar), selten auch vom Sassafrasbaum. Der Hals wird aus Ahorn gefertigt und besitzt je nach Modell ein Griffbrett aus Ahorn oder Palisander, in das 21 oder 22 Bünde eingelassen sind. Die Mensur beträgt 648 mm, die Stimmmechaniken befinden sich in einer Linie auf der oberen Seite der asymmetrischen Kopfplatte. Als Bundmarkierungen fungieren in der Regel schwarze Punkte (bei Ahorngriffbrettern) oder bei den dunkleren Palisandergriffbrettern helle Punkte aus verschiedenen Materialien. Neu an der Stratocaster waren die sogenannten Body-Shapings des Korpus: an der Rückseite in der oberen Zarge und auf der Decke ist der Korpus ergonomisch ausgekehlt, beziehungsweise schräg abgeflacht, um dem Spieler höheren Spielkomfort zu bieten. Die elektrischen Bauteile, wie Tonabnehmer und Potentiometer, sind auf ein aus Kunststoff bestehendes Schlagbrett (pickguard) montiert, das sich unter den Saiten auf dem Korpus befindet. Das Schlagbrett, früher mit acht, heute meist mit elf Schrauben befestigt, besteht üblicherweise aus dreilagigem Kunststoff, beispielsweise weiß-schwarz-weiß, seltener aus Metall (Messing, eloxiertes Aluminium). Das bestückte und beschaltete Schlagbrett (loaded pickguard) stellt die elektrische „Zentraleinheit“ der Stratocaster dar und lässt sich problemlos in Gänze austauschen. Das Tremolo besteht aus einem Saitenhalter, bei dem die Saiten in einen Stahlblock unter der Brücke von der Rückseite der Gitarre aus eingefädelt werden. Die Saiten laufen aus dem Stahlblock direkt über die Brückenkonstruktion. Die Brücke wird nur an einer Seite von Schrauben gehalten, so dass es mittels des Tremolohebels möglich ist, sie in Richtung Hals zu kippen. Auf der Rückseite des Korpus sind Federn eingebaut, die dem Saitenzug entgegenwirken und die Brücke in die Waagerechte ziehen. Diese einfache, aber effektive Konstruktion hat entscheidend zur Entwicklung neuer Spieltechniken und neuer Systeme, aber auch zur Namensverwechslung des „Tremolo“ mit dem „Vibrato“ beigetragen (siehe bereits oben). Für die Einstellung des Tremolo gibt es drei Varianten. Die am weitesten verbreitete ist die Standard-Einstellung, bei der die Tonhöhe nur nach unten verändert werden kann. Je nach verwendeter Saitenstärke oder Vorliebe des Spielers kann das System mit 2 bis 5 Federn bestückt werden (Stevie Ray Vaughan, der oft extrem dicke Saiten benutzte, brauchte 5, um den nötigen Gegenzug zu erzeugen). Die zweite ist das „Lahmlegen“ des Systems. Hier werden die Halteschrauben komplett festgezogen, der Saitenhalter-Block mit einem passenden Stück Holz gegen den Korpus fixiert. Spieler wie z. B. Eric Clapton, die so verfahren, könnten theoretisch auch zu einer „Hardtail“-Strat greifen (ohne Tremolo bzw. Vibrato ausgestatteter Steg, Saiten wie bei der Telecaster von hinten fixiert), wollen aber nicht auf die klangbeeinflussende Wirkung der mitschwingenden Federn verzichten. Die dritte und diffizilste Variante ist die „schwebende“. Hier wird das System so eingestellt, dass es Auslenkung nach unten UND oben zulässt. Diese Einstellung erfordert eine extrem genaue Balance von Federspannung und Saitenstärke, denn schon geringe Abweichungen in der Saitenspannung – z. B. bei Bendings oder gerissener Saite – bringen das Ganze aus der Stimmung. Deshalb wird diese heikle Variante auch nur von wenigen Spielern genutzt. Der bekannteste von ihnen ist Jeff Beck, der mit dieser Einstellung die hochgradig vokale Qualität seines Spiels unterstützt. Wenn man ihn spielen sieht, ist gut zu erkennen, wie er mit dem Handballen permanent sein Tremolo „im Zaum“ hält, um Verstimmungen zu verhindern. Die Elektrik besteht aus drei Single-Coil-Tonabnehmern, die über einen Kippschalter angewählt werden können. Besaßen die ersten Stratocaster einen Dreiwegschalter, mit denen die Tonabnehmer einzeln angewählt werden konnten, wurde in den 1970ern der Fünfwegschalter eingeführt. Mit diesem lassen sich auch die beliebten Kombinationen des Hals- oder Stegtonabnehmers mit dem mittleren Pickup anwählen oder, durch Modifikation der Schaltung, ein Out-of-Phase-Sound, also ein durch Phasenverdrehung bedingter, „hohler“ Klang in den Kombinationsstellungen erzeugen. Diesen Ton – den Leo Fender schrecklich fand – mussten die Musiker mit dem Dreiwegschalter gefühlvoll „hinfummeln“, weil er in der Zwischenposition nicht einrastete, was mit dem Fünfwegschalter möglich wurde. Weiter sind ein Lautstärkeregler und zwei Tonregler (je einer für den Hals- und einer für den Mittel-Tonabnehmer) für den Klang verantwortlich. Diese Schaltung lässt viel Spielraum für Modifikationen und Veränderungen, die im Laufe der Jahre in die Produktion von Serien- und Sondermodellen eingeflossen sind. Bauphasen, Modelle und Entwicklungen Obwohl in ihrer Grundkonstruktion unverändert, hat die Firma Fender im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer wieder Änderungen an Details des Instruments vorgenommen. Hinzu kommt, dass sowohl auf Wunsch von Musikern, aber auch aus produktionstechnischen Gründen ständig neue Modelle mit abweichenden Detaillösungen angeboten wurden und werden. Seit den 1980er Jahren bietet Fender neben den modernen Instrumenten verstärkt auch Nachbauten alter Modelle an. Dies führt dazu, dass unter dem Namen Stratocaster mittlerweile weit über 50 verschiedene Varianten erhältlich sind. Diese unterscheiden sich zum Teil nur in Details oder dem Produktionsstandort. Eine durchgehende Modellpolitik ist meist nur schwer erkennbar. Bauphasen Produktionsbeginn 1954–1958 Zu Beginn der Produktion im April 1954 wurde der Korpus der Stratocaster aus zwei Teilen, meist aus Esche, gefertigt. Ab Mitte 1956 wurde für den Korpus auch die leichtere Erle verwendet. Die Standardlackierung war „2-Tone Sunburst“ (ein helles, fast transparentes Honiggelb, welches zu den Rändern hin in ein dunkles, deckendes Braun-Schwarz verlief). Andere Farben oder eine Vergoldung der Metallteile waren nur auf Sonderwunsch erhältlich. Der Hals war einteilig aus Ahorn, er besaß kein separates Griffbrett, die Bünde waren direkt in den Hals eingesetzt. Der Halsspannstab wurde von hinten eingesetzt und die Nut mit Nussholz verschlossen. Da die Spannschraube am Halsfuß angebracht wurde, kann die Krümmung bei diesen Gitarren nur bei abgeschraubtem Hals eingestellt werden. Der Kippschalter für die Tonabnehmer besaß nur drei Stellungen (Hals, Mitte, Brücke), Kombinationen der Tonabnehmer waren nicht vorgesehen. Zweite Phase 1958–1965 Mit der Einführung der Jazzmaster im Jahr 1958 wurden auch bei der Stratocaster die ersten größeren Änderungen vorgenommen. Zum einen besaßen nun alle Hälse der Stratocaster analog zur Jazzmaster ein Griffbrett aus Palisander. Da die Hälse der Stratocaster und Jazzmaster identisch waren, sparte man sich so den Produktionsaufwand für zwei verschiedene Halskonstruktionen; die Produktion der einteiligen Ahornhälse wurde im Jahr 1959 vorübergehend eingestellt. Nach anfänglichen Problemen mit Rissen im Palisander variierte die Dicke des aufgeleimten Griffbretts im Laufe der Jahre. Einige Sammler behaupten heute, die Dicke des Griffbretts am Klang erkennen zu können. Dies wird noch unterstützt von Änderungen bei den Tonabnehmern, die gegenüber den ersten Modellen eine leicht gesteigerte Ausgangsleistung und einen etwas wärmeren Klang besaßen. Weiter begann mit der Einführung der Jazzmaster die Zusammenarbeit zwischen Fender und dem Chemiekonzern DuPont. Dieser war zu der Zeit unter anderem für seine bunten Autolacke bekannt. Durch die Zusammenarbeit wurde es möglich, Instrumente neben den traditionellen Holzfarben auch in allen anderen von Dupont angebotenen Farben zu lackieren. Gleichzeitig wurden die Sonderlackierungen nun systematisiert und als sogenannte „Custom Colors“ im Prospekt offiziell zur Wahl angeboten. Besonders beliebt wurden schnell die deckenden Lackierungen wie etwa „Fiesta Red“ (ein kräftiges Korallenrot, auch verwendet als Lack des 1956er Ford Thunderbird), „Lake Placid Blue“ (ein kräftiges, metallicfarbenes Blau) oder „Surf Green“ (ein helles, fast türkisfarbenes Grün, beispielsweise eingesetzt bei Chevrolet). Fender und CBS 1965–1985 Im Jahr 1965 verkaufte Leo Fender die Firma an den Medienkonzern Columbia Broadcasting System, kurz CBS. Da die Stratocaster mittlerweile das erfolgreichste Modell des Herstellers war, wurden hier die Ideen der neuen Besitzer am konsequentesten durchgesetzt. Einige der eingeführten Innovationen stellten lang geforderte Verbesserungen dar, die zuvor am Widerstand Leo Fenders scheiterten. Dies betraf vor allem die serienmäßige Einführung des neuen Fünfweg-Tonabnehmerschalters im Jahre 1977, der nun auch die sichere Kombination der Tonabnehmer ermöglichte. Musiker, die den Dreiwegschalter vorher mit Pappe oder Klebeband in den Zwischenstellungen hielten, forderten diese Modifikation schon lange. Leo Fender hielt die so erzeugbaren glockigen Töne für „unsauber“ und lehnte die Modifikation bis zu seinem Ausscheiden aus der Firma ab. Hier ist interessanterweise ein Beispiel dafür zu finden, dass Plagiate auch das Original verbessern können: zunächst realisierte nämlich die Firma Ibanez bei ihren Stratocaster-Nachbauten den Fünfwegschalter, der erst daraufhin auch in die echte Stratocaster eingebaut wurde. Auch die Halskonstruktion ließ CBS überarbeiten und ermöglichte den Zugang zum Halsspannstab zur Einstellung der Halskrümmung nun von der Kopfplatte her. Bei der ursprünglichen Konstruktion war der Einstellstab nur vom Korpus aus zugänglich, weshalb für die ansonsten einfache Einstellung der Halskrümmung zunächst die Saiten entfernt werden mussten und der Hals abzuschrauben war. Ab 1969 gab es optional wieder Hälse ganz aus Ahorn, jedoch nicht mehr einteilig, sondern mit aufgeleimtem Ahorngriffbrett gefertigt. Da die neuen Manager von CBS vor allem bei der populären Stratocaster zusätzlich versuchten, den Produktionsablauf kostengünstiger und effizienter zu gestalten, führten viele der zum Teil einschneidenden Veränderungen zu deutlichen Klang- und Qualitätsschwankungen der Instrumente. Fertigungstoleranzen wurden vergrößert, der Materialeinkauf richtete sich stärker nach Kostengesichtspunkten und die Qualitätskontrolle erfolgte unter größerem Zeitdruck. Eine Idee zur Kosteneinsparung war die Verwendung eines neuen Spulendrahtes zur Wicklung der Tonabnehmer. Die Isolierung des billigeren Drahtes schmolz jedoch in dem heißen Wachsbad, in das die Tonabnehmer nach der Wicklung eingetaucht wurden. Dieses Wachsbad festigt gewöhnlich die Drahtwicklung und verhindert Rückkopplungen und Störgeräusche durch lose Drähte. CBS verzichtete kurzerhand auf das Wachsbad, was laut pfeifende, rückkopplungsanfällige Tonabnehmer zur Folge hatte. CBS reduzierte die Halsbefestigung von vier auf drei Schrauben. Diese Idee stammte zwar noch von Leo Fender selbst, bedingte jedoch eine exakt ausgeführte Fräsung für die Halsbefestigung im Korpus. Da CBS nach Leos Weggang größere Fertigungstoleranzen zuließ und die Wartungsintervalle der Maschinen verlängerte, waren die Fräsungen nicht immer hinreichend exakt. In der Folgezeit wurden viele Instrumente produziert, bei denen der Hals bei starker Beanspruchung am Korpus hin- und herrutschte. Unterstützt wurde das Problem noch von der von CBS gewünschten Vergrößerung der Kopfplatte. Auf dieser konnte zwar werbewirksam ein größerer Fender-Schriftzug angebracht werden, sie machte den Hals aber gleichzeitig schwerer. Die Produktionsmängel offenbarten sich beispielsweise bei einer in den Verkauf gelangten Gitarre mit durchscheinender Sunburst-Lackierung, bei der durch den transparenten Lack auf dem Holz eine Bleistiftnachricht der Qualitätskontrolle mit der Mitteilung „Achtung! Astloch!“ und einem Kreis um die unschöne Stelle zu erkennen ist. Diese gilt als Höhepunkt des schleichenden Qualitätsverlusts. Erst zum Ende der 1970er Jahre versuchte CBS, dem schlechten Image entgegenzusteuern. Um an alte Traditionen anzuknüpfen, erschien eine Gitarre mit dem prägnanten Namen The Strat, die die alte Vierpunkt-Verschraubung des Halses und eine verkleinerte Kopfplatte besaß. Da für die Fräsung der Kopfplatte die alten, verschlissenen Formen aus den 1950er Jahren verwendet wurden, war die Kopfplatte nun jedoch eher zu klein als zu groß. Auch das für die Gitarre neu konstruierte Vibrato entsprach nicht den Erwartungen der Musiker. Versuche, mit hochwertigen Neukonstruktionen wie der Elite Stratocaster, einem Instrument mit aktiver Elektronik und massivem Messingtremolo, zusätzliche Marktanteile zu erobern, hatten ebenfalls nur mäßigen Erfolg. Stratocaster 1982 Redesign Dan Smith sollte als Direktor Qualitätskontrolle und Marketing die Qualität der Instrumente verbessern; er kam von Yamaha. Ende 1981 wurde dann die neue Stratocaster im pre-CBS Styling herausgebracht und auf der NAMM Show Januar 1982 vorgestellt. Ihr Hals war nun wieder mit 4 Schrauben befestigt, die Kopfplatte verkleinert und die truss-rod Einstellung erfolgte korpusseitig. Lackierung, Finish, Chrom und die gesamte Verarbeitung wurden deutlich verbessert. Inoffiziell wird dieses Modell heute als „Dan Smith Stratocaster“ bezeichnet. Man erkennt sie am klassischen Tremolo-Design und der verchromten Klinkenbuchse auf der Korpusdecke. Im nachfolgenden Jahr 1983 entfielen genau diese Elemente wieder aus Kostengründen. Sie entsprach nun weniger der ursprünglichen Intention Dan Smiths, gleichwohl sie in seine Ära fällt. Einen Tiefpunkt in der Strat-Historie markiert die sogenannte „Smith-Era-Strat“ der frühen 80er. Hier versuchte Fender-Manager Dan Smith, durch den Verzicht auf das charakteristische separate Chrom-Gehäuse für die Klinkenbuchse (sie wurde anstelle des 3. Reglers ins Pickguard verlegt) und ein obskures Top-Loading Tremolo Herstellungskosten zu sparen. Heute genießen diese Instrumente aufgrund ihrer Seltenheit – kaum einer wollte damals so eine „Spar-Strat“ – einen gewissen Kultstatus. Umbruch und Neuorganisation 1985 Im Jahr 1985 verkaufte CBS Fender an eine Investorengruppe um Geschäftsführer William C. Schultz. Der Verkauf umfasste jedoch lediglich den Namen und die verbliebenen Lagerbestände, die Fabrikgebäude der Stratocaster in Fullerton (Kalifornien) wurden anderweitig veräußert. Zwangsläufig kam die Gitarrenproduktion in den USA kurzzeitig zum Erliegen, Stratocasters wurden nur noch von Fremdfirmen in Japan aus Restbeständen der USA-Produktion hergestellt. Erst mit Bezug der neuen Fabrikräume in Corona (Kalifornien) besserte sich die Situation merklich. Die neuen Fabrikräume umfassten nun auch einen „Custom Shop“, in dem hochwertige Kleinserien und spezielle Kundenaufträge durchgeführt werden können. Gegenwart (ab 1985) Die Stratocaster stellt heute das finanzielle Standbein der Firma Fender Musical Instruments Corporation dar. Entsprechend vielfältig ist die Auswahl an Instrumenten des Typs Stratocaster: Neben Nachbauten nahezu jeder Produktionsphase sind neu entwickelte Modelle und zahlreiche Sonderanfertigungen hinzugekommen. Weiter wird die Modellpalette neben Ausstattungsmerkmalen auch bestimmt von den Produktionsstandorten USA, Mexiko und Japan, die ebenfalls differenzierte Instrumententypen hervorbringen. Aktuelle Modelle Die heutige Modellpalette von Instrumenten des Typs „Stratocaster“ ist nahezu unüberschaubar. Modelle, die durch Beliebtheit oder besondere Ausstattungsmerkmale eine größere Bedeutung erlangt haben, sind u. a.: American Standard Stratocaster American Standard Stratocaster ist eines der erfolgreichsten Modelle der jüngeren Geschichte. Das Instrument weist viele Merkmale der gesuchten Pre-CBS-Instrumente auf (kleine Kopfplatte, Vierpunkt-Halsverschraubung), ist aber in entscheidenden Punkten modernisiert worden: Das Tremolo ist eine freischwebende Neukonstruktion und die Tonabnehmer sind in Klang und Ausgangsleistung modernen Bedürfnissen angepasst worden. Das Modell „American Deluxe Series“ verfügt über ein „S-1 switching system“ genanntes Schaltungskonzept, das u. a. parallele („Humbucker“) Schaltungen von jeweils zwei Singlecoils ermöglicht, und Zugriff auf die Hals-Steg-Kombination bietet (Telecaster-ähnlicher Klang). Classic Stratocaster Die Serie Classic Stratocaster umfasst drei Modelle, die repräsentative Merkmale bestimmter Bauphasen widerspiegeln. Die Classic 50s Stratocaster besitzt einen Ahornhals mit 21 direkt ins Holz eingesetzten Bünden im Stil der ersten Instrumente sowie die im Gegensatz zu den anderen Modellen deutlich größer geschnittene Kopfplatte. Darüber hinaus ist dieses Modell ausschließlich in bunten „Custom Colors“ erhältlich. Die Classic 60s Stratocaster besitzt neben einer erweiterten Farbpalette das 1958 vorgestellte Palisandergriffbrett. Die Classic 70s Stratocaster ist schließlich mit der großen CBS-Kopfplatte ausgestattet und wird u. a. in der Farbe „Natural“ (Korpus mit Klarlack) angeboten, welche in den 1970ern sehr beliebt war. Deluxe Die in verschiedenen Modellen erschienene Deluxe Strat besitzt in Stegposition einen Humbucker, während in Hals- und Mittelposition die üblichen Single Coil-Pickups verwendet werden (HSS). Der Humbucker erzeugt wärmere, druckvollere Klänge als der traditionelle Single Coil und wird daher von Rockmusikern gerne für verzerrte Klänge eingesetzt. Die Modelle heißen: Deluxe Fat Strat, Deluxe Players Strat, Deluxe Lone Star Strat, Deluxe Road House Strat und Deluxe Power Strat. American Special Die American Special Stratocaster werden in Corona (Kalifornien) gefertigt und sind seit etwa März 2010 im Handel erhältlich. Sie bilden die derzeit günstigste Variante einer in den USA gebauten Stratocaster der Firma Fender. Ein aus drei Teilen verleimter Erlekorpus und Ahornhals mit 22 Bünden sowie ein auf Hochglanz lackierter Korpus (Polyurethan) entsprechen weitgehend den Spezifikationen der American-Standard-Serie. Die Tonabnehmer sind ursprünglich dem Custom-Shop vorbehaltene Texas-Special. Eine mit einem Atomic-Humbucker in Stegposition ausgestattete Variante mit Palisander-Griffbrett ist ebenfalls erhältlich. Der mittlere Tonabnehmer ist gegenläufig zu den anderen gewickelt und gepolt, um Störgeräusche in den Zwischenstellungen zu minimieren. Die Steuermimik wurde fast unverändert übernommen; ein Lautstärkeregler und zwei Tonblenden. Lediglich der ungeregelte Tonabnehmer ist nicht mehr der Stegabnehmer, sondern der mittlere. Der seit 1977 verwendete Fünf-Wege-Schalter ist unverändert. Die Gitarren verfügen über ein mit sechs Schrauben fixiertes Vibrato und einen Halsspannstab, der nur kopfseitig zugänglich ist. Obwohl die Instrumente eine große Kopfplatte mit zwei Saitenniederhaltern haben, wie sie nach der Übernahme von CBS verbaut wurden, lässt sich auf den zweiten Blick erkennen, dass diese Gitarren nicht aus dieser Zeit stammen, da sie mit vier (statt drei) Schrauben am Korpus befestigt sind. Sie verfügen über keine zusätzliche Schraube zur Feineinstellung des Halswinkels. Hals und Kopfplatte sind matt lackiert. Die Farbauswahl ist auf wenige klassische Farben beschränkt. Je nach Konfiguration der Tonabnehmer stehen zwei Farben zur Verfügung: Candy Apple Red und Two-tone Sunburst für die mit jeweils drei Texas Special, Ahorngriffbrett und weißem Schlagbrett ausgestatteten oder schwarz beziehungsweise Three-tone Sunburst mit jeweils zwei Texas Special und Atomic Humbucker am Steg, Palisander Griffbrett und schwarzem Schlagbrett ausgerüsteten Instrumente. Big Block Stratocaster Die Big Block Stratocaster ist neben dem Humbucker in Stegposition besonders durch die optischen Modifikationen auffallend: Das Instrument wird inklusive Kopfplatte in deckendem Schwarz lackiert, sämtliche Metallteile und das Schlagbrett sind verchromt. Im Griffbrett geben große rechteckige Einlagen aus schillerndem Perlmutt-Imitat Orientierung über die Lagen. Relic Stratocaster Der Begriff Relic steht als Sammelbegriff über einer Reihe von Instrumenten und bezeichnet einen Zustand von künstlicher Alterung, mit denen die Instrumente bereits ab Werk wie ein betagtes Sammlermodell aussehen sollen. Die drei Altersstufen werden mit New Old Stock, Closet Classic und Relic umschrieben. Bei New Old Stock (= „alter Lagerbestand“) oder kurz „NOS“ sollen die Instrumente wirken, als ob sie über Jahrzehnte im Lager vergessen und nun erst entdeckt worden sind. Die Gitarren wirken unbespielt, lediglich optische Alterungsspuren wie vergilbter Kunststoff, verblichene Farben oder matt gewordene Metallteile sind vorhanden. Bei Closet Classic (sinngemäß „Klassiker aus dem Wandschrank“) soll ein Instrument simuliert werden, welches vom Vorbesitzer zwar gespielt, dann jedoch im Schrank oder auf dem Dachboden eingelagert und vergessen wurde. Künstliche Spielspuren wie Schrammen und Macken sowie Flugrost an den Metallteilen sind vorhanden, ansonsten sind die Instrumente unbeschädigt. Mit Relic (Relikt, Überrest) werden schließlich jene Instrumente bezeichnet, die äußerlich die Spuren jahrelangen harten Liveeinsatzes aufweisen: Der Lack ist verkratzt und teilweise abgeschabt oder gar abgeblättert, das Griffbrett zeigt starke Spielspuren, die Metallteile sind angerostet, die Kopfplatte besitzt künstliche Brandflecken von „vergessenen“ Zigaretten. Angeblich stammt die Idee, künstlich gealterte Instrumente anzubieten, von einer Sonderbestellung der Gruppe Rolling Stones: Die Band bestellte für die Welttournee zum 1994er Album Voodoo Lounge exakte Kopien ihrer alten Originalinstrumente. Da die Nachbauten zunächst zu „neu“ wirkten, wurden diese künstlich gealtert, um auch optisch den Originalen zu entsprechen. Roland Ready Stratocaster Die Roland Ready Stratocaster entstand in Kooperation mit dem vorwiegend für seine Keyboards und Synthesizer bekannten Hersteller Roland. Die Gitarre besitzt zusätzlich zu den drei herkömmlichen Single Coil Pickups einen weiteren hexaphonischen Tonabnehmer, der zusammen mit einer speziellen (externen) Elektronik die gespielten Töne analysiert und in MIDI-Signale übersetzt. Diese Signale können von MIDI-fähigen Musikinstrumenten erkannt und in sämtliche von ihnen verfügbare Klänge umgesetzt werden. Mit dieser Technik ist es möglich, durch das Gitarrenspiel völlig andere Instrumente wie z. B. Klavier, Flöte oder Schlagzeug erklingen zu lassen. Acoustasonic Strat Die Acustatonic ist eine Akustikgitarre, deren hohler Korpus die Form der Stratocaster aufweist. Obwohl konstruktiv eine vollwertige Akustikgitarre, ist die Acustatonic aufgrund des kleinen Korpus sehr leise und wird auf der Bühne meist durch einen Piezo-Tonabnehmer elektrisch verstärkt. Nicht mehr produzierte Serien Die Highway One Serie, die im Jahr 2002 eingeführt und im Jahr 2006 überarbeitet wurde, waren der günstigste Einstieg in die in den U.S.A. gefertigten Stratocaster. Die Serie wurde bis März 2011 produziert. Mit den gleichen Gitarrenkörpern ausgeliefert wie die American Standard war die Highway One mit mattem Nitrocelluloselack behandelt. Die Tonabnehmer waren stärker gewickelt und somit leistungsstärker als Standardtonabnehmer. Der mittlere Tonabnehmer war gegenläufig gepolt und gewickelt, um Störgeräusche zu minimieren. In den Jahren 2002 bis 2006 wurden die Highway One mit traditionellem Gitarrenkopf und dünnen Bundstäben und einer eingeschränkten Farbpalette der ältesten Baureihen gebaut. Ab 2006 waren die Gitarren mit großer Kopfplatte und dickeren Bundstäben ausgestattet ebenso mit einer "Greasebucket" Tonblende. Signature-Modelle Fender legte seit den 1950er Jahren großen Wert darauf, dass bekannte Künstler mit Fender-Instrumenten auf der Bühne zu sehen waren. Wurden zu Leo Fenders Zeiten lediglich Serienmodelle an Künstler verliehen oder verschenkt, werden vor allem seit den 1980ern verstärkt Stratocasters für Künstler nach deren Vorstellungen modifiziert. Diese Modelle gelangen als sogenannte Signature-Modelle in den Handel. Bemerkenswerte Instrumente waren u. a.: Eric Clapton → Mehr dazu: Eric Clapton Stratocaster Eric Clapton, der seit den 1970ern vorwiegend Stratocasters benutzt, erhielt von Fender eines der erfolgreichsten Signature-Modelle. Es war optisch und von der Konstruktion her an die frühen Modelle der 1950er Jahre angelehnt, aber Clapton verlangte zwei entscheidende Änderungen: Zum einen wurde die Elektronik der Gitarre radikal erneuert (brummfreie Tonabnehmer sowie eine batteriebetriebene, regelbare Mittenanhebung für dichte verzerrte Klänge); zum anderen wurde einer alten Gewohnheit Claptons entsprechend das Vibrato mit einem simplen Holzklotz außer Kraft gesetzt. Zu den zahlreichen Käufern der Gitarre gehören mittlerweile nicht nur Clapton-Fans, sondern auch professionelle Gitarristen wie Daryl Stuermer, Pete Townshend und Andy Fairweather-Low. Spezielle Editionen sind die Eric Clapton Gold Leaf Stratocaster, Eric Clapton Smoker’s Guitar sowie die Eric Clapton Crashocaster. Jeff Beck Im Gegensatz zu Eric Clapton setzt Jeff Beck in seinen Instrumenten keine aktive Elektronik ein. Er hat zwar ähnliche Tonabnehmer wie Clapton, jedoch ohne aktive Elektronik. Im Gegensatz zu Clapton ist Beck die Funktion des Vibratos jedoch sehr wichtig, weshalb die Jeff-Beck-Signature zusätzlich über ein modernes Tremolo mit rollengelagerter Saitenführung am Sattel verfügt Richie Sambora Das Instrument des Bon-Jovi-Gitarristen Richie Sambora wurde für die Belange des melodiösen Hardrock modifiziert: Neben dem Humbucker in Stegposition für den dichten, warmen Klang und dem Floyd-Rose-Tremolo für extreme Effekte verlangte Sambora für seine Gitarre – geschmacklich nicht ganz unumstrittene – perlmuttfarbene Sternchen als Griffbretteinlagen. Matthias Jabs Als einer der wenigen deutschen Musiker erhielt Scorpions-Gitarrist Matthias Jabs ein eigenes Modell der Stratocaster. Die scherzhaft „Jabocaster“ genannte Gitarre verfügt wie das Richie-Sambora-Modell über einen Humbucker in Stegposition und nicht weniger dezente Griffbretteinlagen in Saturnform. Die Gitarre wurde ausschließlich in Rot angeboten. Jimi Hendrix Stratocaster Kein Signature-Instrument im eigentlichen Sinne war die im Jahr 1997 vorgestellte Jimi-Hendrix-Stratocaster, da sie erst 27 Jahre nach dem Tod des Künstlers in den Handel kam. Bemerkenswert an Jimi Hendrix und seinen Stratocasters war die Tatsache, dass der Linkshänder Hendrix fast ausschließlich umgedrehte Rechtshänderinstrumente spielte. Linkshänderinstrumente waren in den 1960ern schwer erhältlich und entsprechend teuer. Um den zahlreichen Fans des Musikers ein Instrument zu geben, mit dem sie ihrem Idol auch optisch nahekommen können, wurde die 1997er Jimi-Hendrix-Stratocaster daher ausschließlich für Rechtshänder als umgedrehtes Linkshänderinstrument ausgeliefert; selbst der Fender-Schriftzug auf der Kopfplatte wurde spiegelverkehrt angebracht. Ritchie Blackmore Deep-Purple-Gitarrist Ritchie Blackmore erhielt von Fender gleich zwei Signaturinstrumente: Das frühe Modell entspricht optisch einem cremeweißen 1970er CBS-Modell mit großer Kopfplatte, Erlenkorpus, Ahornhals, 3-Punkt Halsverschraubung und Palisandergriffbrett. Das Griffbrett ist im Gegensatz zu den Serienmodellen zwischen den Bünden ausgehöhlt (englisch scalloped), was bestimmte Spieltechniken wie das Saitenziehen (Bending) einfacher machen soll. Da Blackmore ausschließlich den Hals- oder Stegtonabnehmer benutzt, ist der mittlere Tonabnehmer beim ersten Modell eine Attrappe, die anderen beiden sind Seymour Duncan SSL-4 Quarter Pounders. Beim nachfolgenden Modell, nun mit Lace Sensors Gold bestückt, wurden von vorneherein nur zwei Tonabnehmer verbaut, die mittlere Position blieb ähnlich einer Telecaster leer. Das zweite Modell gab es auch als Custom-Shop-Sonderedition mit eingeleimtem Hals, die anderen waren Made (bzw. Crafted) In Japan. Yngwie Malmsteen Das Instrument des schwedischen Gitarristen Yngwie Malmsteen ist ein Nachbau seiner Play Loud oder The Duck genannten 1972er Stratocaster und weist ebenfalls ein ausgehöhltes Griffbrett auf. Für die von Malmsteen bevorzugten dichten, verzerrten Klänge werden die Instrumente mit DiMarzio-Humbuckern in Single Coil-Form ausgestattet. Tom DeLonge Der Blink182-Gitarrist Tom DeLonge spielte ebenfalls lange eine Stratocaster-Signature, die nur über einen passiven, sehr outputstarken Humbucker in Stegposition verfügte. Die Signature-Gitarre wurde nicht nur von Fender, sondern auch in einer günstigeren Version unter der Marke Squier vertrieben. Rory Gallagher Im Jahre 1997 trafen sich Donal Gallagher, Bruder des 1995 verstorbenen Bluesgitarristen Rory Gallagher, und die Firma Fender am Los Angeles International Airport, wo Gallagher eine 1961er Stratocaster überreichte, die sein Bruder spielte. Der Gitarrenhersteller baute diese in einer ersten Auflage von 40 Stück für den europäischen Markt nach. Die dreifarbige Gitarre verfügt über 21 Jumbo-Bünde, drei Single Coil-Tonabnehmer, einen Korpus aus Erle sowie einen Hals aus Ahorn. Weitere Künstler mit Signature-Modellen sind unter anderem David Gilmour, The Edge, Eric Johnson, Stevie Ray Vaughan, Robin Trower, Buddy Guy, John Mayer, Dave Murray, Adrian Smith, Robert Cray, Chris Rea, Mark Knopfler, Hank Marvin (auf 40 Stück weltweit limitiert), Tash Sultana und Bonnie Raitt. Berühmte Einzelinstrumente Durch den Gebrauch berühmter Musiker sind einige Instrumente des Typs Stratocaster selbst zu Ruhm gekommen. Jimi Hendrix Woodstock Stratocaster Die von Jimi Hendrix auf dem Woodstock-Festival gespielte Stratocaster blieb im Gegensatz zu vielen anderen Instrumenten des Künstlers erhalten und befindet sich heute in Sammlerhand. Die weiß-beige CBS-Stratocaster aus dem Jahr 1968 mit Ahorngriffbrett und großer Kopfplatte galt zeitweise als teuerstes Instrument der Welt: Hendrix’ Schlagzeuger Mitch Mitchell ließ die Gitarre 1990 vom Londoner Auktionshaus Sotheby’s für ein Höchstgebot von 198.000 £ versteigern. Im Jahr 1993 wurde das Instrument von seinem damaligen Besitzer für 750.000 £ (zu der Zeit etwa 1.300.000 US-Dollar) weiterverkauft. Später erwarb Paul Allen die Gitarre und sie befindet sich heute im Experience Music Project, einem Museum in Seattle, das unter anderem eine Ausstellung über Hendrix beinhaltet und dessen Stifter Allen ist. Jimi Hendrix Burnt Stratocaster Am Anfang seiner Karriere bestand die Krönung von Hendrix’ Bühnenshow im Verbrennen seiner Gitarre. Das erste Instrument, das Hendrix auf diese Weise zerstörte, war eine 1965er Stratocaster, die er 1967 bei einem Auftritt im Londoner Odeon Astoria in Brand steckte. Bei einer Auktion in London im September 2008 wechselte die Gitarre für 280.000 £ (umgerechnet 345.863 Euro) ihren Besitzer. Mary Kaye Stratocaster Die US-amerikanische Sängerin Mary Kaye benutzte in den 1950er Jahren eine Stratocaster in der Sonderfarbe „Blond“ (ein dünnes, das Korpusholz durchscheinen lassendes hell-beige) mit vergoldeten Metallteilen auf Werbefotos und in dem Kinofilm „Cha Cha Cha Boom!“. Obwohl Kaye dieses zu Promotionszwecken ausgeliehene Instrument nie selbst besaß und live vorwiegend mit Archtop-Gitarren der Marke D’Angelico auftrat, wurde der Name Mary Kaye ein Synonym für alle Gitarren mit dieser Farbgestaltung. Da die Farbkombination blond-gold von Fender keinen speziellen Namen erhielt, bezeichnen Musiker und Sammler diese Gitarren seither als „Mary-Kaye-Modell“. Obgleich eine solche Zusammenarbeit zwischen Fender und Mary Kaye niemals geplant war, beugte Fender sich im Jahr 2002 und brachte tatsächlich ein „Mary-Kaye“-Sondermodell in blond-gold heraus. Das originale Instrument wechselte nach Mary Kaye mehrfach den Besitzer und verblieb dabei unter anderem in den Händen des Aerosmith-Gitarristen Jimmy Crespo, der mit dem Instrument das Album „Rock in a Hard Place“ einspielte sowie Pete Townshend von The Who, der das Instrument an seinen Tourmanager Alan Rogan weitergab. Ironischerweise ist die Farbe auf dem Originalinstrument mittlerweile nachgedunkelt und entspricht heute eher einem hellen Braun. Eric Claptons Blackie und Brownie Aus dem umfangreichen Instrumentarium von Eric Clapton stachen zwei Stratocasters besonders hervor: Mit „Brownie“, einer 1956er Stratocaster in Sunburst und mit Ahornhals, spielte Clapton in den 1970ern und 1980ern viele bekannte Stücke im Studio ein (u. a. Layla). Live wurde „Blackie“ schnell Claptons Hauptgitarre; eine schwarze Stratocaster, die Clapton eigenhändig aus den besten Teilen von drei verschiedenen Gitarren zusammengebaut hatte. Beide Instrumente wurden mittlerweile im Auftrag Claptons zugunsten seines „Crossroads Centre“ (ein Rehabilitationszentrum für Alkohol- und Drogensüchtige) versteigert. „Blackie“ wurde vom Guitar Center in Los Angeles ersteigert. Hank B. Marvins Stratocaster Die in der Sonderfarbe „Fiesta Red“ (ein helles deckendes Lachsrot – oftmals auch als „Salmon Pink“ bezeichnet) lackierte und mit vergoldeten Metallteilen versehene Stratocaster des Shadows- und Cliff-Richard-Gitarristen Hank Marvin löste in England eine große Nachfrage nach roten Stratocasters aus: Da Marvin durch die Auftritte mit den Shadows und Cliff Richard zum Vorbild vieler Gitarristen wurde, ist die Farbe „Fiesta Red“ für viele Briten bis heute die einzig „gültige“ für eine Stratocaster. Selbst Gitarristen wie David Gilmour und Mark Knopfler sind bekennende Besitzer von Gitarren in dieser Farbe. Die Nachfrage war in den 1960ern zeitweise so groß, dass Fender unlackierte Gitarren nach England lieferte, die anschließend vom Importeur Selmer rot lackiert wurden. Das Originalinstrument mit der Seriennummer 34346, das sich heute im Besitz des zweiten Shadows-Gitarristen Bruce Welch befindet, ist jedoch ironischerweise das Resultat einer Verwechslung: Als Marvin Cliff Richard vor einer USA-Tournee bat, ihm aus den USA eine „originale Fender-Gitarre“ mitzubringen, dachte Marvin eigentlich an eine Telecaster seines Idols James Burton. Der nicht sonderlich an Gitarren interessierte Richard kaufte in dem Glauben, dass ein international renommierter Gitarrist wie James Burton selbstverständlich das Topmodell der Gitarrenlinie spielen würde, einfach die teuerste Fender-Gitarre, die er finden konnte: Eine Stratocaster mit goldenem Tremolo in roter Sonderlackierung. Marvin integrierte den Klang der Stratocaster und vor allem des unverhofften Tremolos schnell in sein Spiel und wurde mit diesem markanten Ton zum Vorbild vieler Gitarristen. Rory Gallaghers Stratocaster Obwohl nicht von den Shadows beeindruckt, hängt die Stratocaster des irischen Bluesrockgitarristen Rory Gallagher trotzdem indirekt mit dem Stratocasterboom um Hank Marvin zusammen: Da Stratocasters in anderen Farben als Rot in England zeitweise nahezu unverkäuflich waren, konnte Gallagher seine Stratocaster in der Standardfarbe Sunburst zu einem besonders günstigen Preis erwerben. Von der ursprünglichen Farbe ist heute nicht mehr viel übrig: Durch die harte Spielweise und den schonungslosen Umgang des Künstlers mit seinem Instrument ist die ursprüngliche Lackierung großflächig abgeblättert und nur noch fragmentarisch erhalten. Das nackte Korpusholz ist durch Schweiß und Umwelteinflüsse zu einem ungleichmäßigen Grau-Braun verwittert, die Bünde des Halses sind mehrfach ausgetauscht und zuletzt durch dicke Gibson-Bünde ersetzt worden. Die Kopfplatte, die verschiedene Macken, Absplitterungen und Brandflecken von Zigaretten aufweist, besitzt nach Reparaturen unterschiedliche Mechaniken (5× Gotoh, 1× Schaller). Die hintere Abdeckplatte des Tremolofachs fehlt gänzlich. Eine ebenfalls fehlende Bundmarkierung auf dem Griffbrett wurde im Lauf der Zeit durch einen weißen Plastikpunkt ersetzt. Trotz dieser äußerlichen Schäden ist der legendäre Klang dieses Instruments auf nahezu allen Einspielungen Gallaghers zu hören. Das Instrument wird – mit allen Schäden – mittlerweile als Nachbau von Fender angeboten. Das Originalinstrument befindet sich seit dem Tod des Musikers im Jahr 1995 im Besitz der Familie Gallagher. Buddy Hollys Stratocaster Der US-amerikanische Rock-’n’-Roll-Musiker Buddy Holly war einer der Ersten, die Mitte der 1950er Jahre Stratocasters auf der Bühne und im Studio spielten. Sein Instrumentarium ist seit seinem plötzlichen Tod im Jahr 1959 nahezu unangetastet. Während Holly bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg zu einem Auftritt ums Leben kam, befanden sich seine Stratocasters in dem Bus, mit dem seine Begleitband hinterherfuhr. Die Stratocasters von Buddy Holly sind seit jenem Tag, der als The Day the Music Died bekannt wurde, nicht mehr gespielt worden und befinden sich heute in nahezu neuwertigem Zustand. David Gilmours Black Strat Im Juni 2019 wurden 120 Gitarren aus der Sammlung David Gilmours im Auktionshaus Christie’s versteigert. Unter den Einzelstücken war eine schwarze Stratocaster, die sich seit 1970 in Besitz des Musikers befand. Das Instrument kam unter anderem im Song Shine On You Crazy Diamond zum Einsatz. Das Exemplar wurde für 3.975.000 USD ersteigert, der höchste bis dato bei einer Auktion für eine Gitarre erzielte Preis. Die Erlöse sollen der Umwelt- und Klimaschutzorganisation ClientEarth zugutekommen. Instrumente anderer Hersteller Die Stratocaster gilt als meistkopierte E-Gitarre, wie man an Plagiaten wie der sogenannten Hertiecaster E-Gitarre erkennen kann. Nahezu jeder Hersteller hatte zumindest zeitweise Stratocaster-inspirierte Instrumente im Programm. Obwohl Fender versucht, die allzu genauen Kopien und Plagiate mit gerichtlicher Hilfe zu unterbinden, wird die Stratocaster nach wie vor nachgeahmt. Während einige Hersteller sich darauf spezialisiert haben, auf der Basis der Stratocaster unter wechselnden Namen günstige Einsteigerinstrumente herzustellen, gehen andere den Weg des sogenannten „Customizing“. Dabei steht meist eine Veredelung der ursprünglichen Konstruktion im Vordergrund, um das Großserien-Image des Instruments abzustreifen. Folglich wird bei diesen Instrumenten großer Wert auf Details wie hochwertige Holzauswahl, aufwändige Elektronik, geleimte Hälse und eine edle Optik gelegt. Bekannte Hersteller dieser Instrumente sind u. a. Sadowsky und Valley Arts. Allen Nachbauten ist gemeinsam, dass sie leichte Veränderungen im Design aufweisen (andere Form der Kopfplatte, leicht geänderter Korpus etc.). Damit soll vermieden werden, sich Plagiatsvorwürfen von Fenders Anwälten stellen zu müssen. Um der Flut von Kopien und Plagiaten entgegenzutreten, lässt Fender seit den 1980er Jahren neben der Marke Fender auch unter dem damals neuen Markennamen Squier eigene Kopien der Stratocaster herstellen. Die in Asien produzierte Produktpalette reicht dabei von günstigen Einsteigerinstrumenten bis hin zu Kopien bestimmter Instrumente aus der Geschichte Fenders. Vereinzelt tauchen auch Eigenentwicklungen auf, die an bestimmte Fendermodelle lediglich angelehnt sind. Leo Fenders 1980 zusammen mit George Fullerton gegründete Firma G&L Musical Instruments stellt ebenfalls Stratocaster-ähnliche E-Gitarren her. Die ersten Gitarren von Leos Firma waren jedoch zunächst nur grob an der Stratocaster orientiert, da Leo die Strat zeitlebens für überbewertet hielt und unermüdlich an vermeintlich besseren Instrumenten arbeitete. So erinnerte die G&L Comanche von Form und Ausstattung durchaus an die Stratocaster, war jedoch von Leo in vielen Punkten weiterentwickelt worden. Die drei Tonabnehmer besaßen sogenannte Splitcoils (in der Mitte geteilte Singlecoils nach dem Prinzip des Precision Bass), die Brummen und Störgeräusche wirkungsvoll unterdrückten. Das Vibrato wurde weiterentwickelt und viele kleine Schalter ermöglichten es, den Klang der Gitarre massiv zu beeinflussen. Unglücklicherweise waren viele der erzeugbaren Klänge sehr schrill und hart, da Leo Fender sich bei der Konstruktion der Prototypen auch im hohen Alter auf sein nachlassendes Gehör verließ. Erst nachdem Leo ein Hörgerät erhalten hatte, änderte sich der Klang der Instrumente wieder hin zu den gewohnt warmen Tönen. Um den Druck des Musikmarktes auf den kleinen Hersteller abzumildern, konstruierten Mitarbeiter von G&L an Leo vorbei die G&L Legacy (deutsch „Erbe“), die abgesehen von dem verbesserten Tremolo eine Stratocaster nach herkömmlicher Bauart darstellte. Leo duldete dieses Instrument, welches heute neben der ASAT (Version der Telecaster von G&L) zu den Standbeinen des Unternehmens gehört. Die Stratocaster in der Musik Der charakteristische Klang der Stratocaster zeichnet sich durch einen gläsernen, transparenten bis scharfen Ton aus, der sich im Bandgefüge gut durchsetzt. Als Ursache für diesen Ton werden häufig die Single-Coil-Tonabnehmer in Verbindung mit den verwendeten Hölzern, der Tremolokonstruktion und der vergleichsweise langen Mensur von 648 mm genannt. Einzelne Spieler behaupten zudem, dass die im Korpus angebrachten Federn des Tremolos durch unbeabsichtigtes Mitschwingen eine Art mechanischen Halleffekt erzeugen. Im Gegensatz zur Telecaster fehlen der Strat größtenteils die schrillen Höhen, gegenüber der Gibson Les Paul klingt die Stratocaster eher hell mit geringerem Sustain. Waren die ersten Stratocaster-Spieler Countrygitarristen aus dem direkten Umfeld der örtlichen kalifornischen Countryszene wie Bill Carson, Rex Gallion oder Eldon Shamblin, wurde die „Strat“ im Lauf der 1950er vor allem von Surf- und Rock-’n’-Roll-Musikern geschätzt. Buddy Holly benutzte die Stratocaster für seine Aufnahmen und Liveauftritte; der helle, drahtige Klang seines Instruments ist deutlich im Lied „That’ll be the day“ zu hören. Einen anderen Weg schlug der Surfrocker Dick Dale ein, der mit der Stratocaster und dem bei den Fender-Verstärkern neu eingeführten Halleffekt einen pulsierenden, donnernden Klang erzeugte. Das durch den Film „Pulp Fiction“ zu erneuter Bekanntheit gelangte Lied „Misirlou“ zeigt exemplarisch Dales Technik auf der Stratocaster. Inspiriert durch den klaren Twang der Surfmusik erzielte die Band „The Shadows“ mit ihrem Leadgitarristen Hank Marvin sowohl als Begleitband für Cliff Richard, als auch mit eigenen Instrumentals Charterfolge. Marvins klarer, vom Tremolo der Strat geprägter Ton ist in den Liedern „FBI“ oder „Apache“ deutlich zu hören. Im Verlauf der 1960er geriet die Stratocaster vorübergehend aus der Mode: Die Beatles spielten Epiphone, Gretsch und Rickenbacker, Blues-Musiker bevorzugten den Sound der Gibson Les Paul. Die Gitarre erlebte 1967 ein Comeback, als Jimi Hendrix der Gitarre neue und ungewohnte Klänge entlockte: Hendrix spielte die Stratocaster in großer Lautstärke über voll aufgedrehte Marshall-Verstärker und verfremdete den Klang der Stratocaster zudem mit verschiedenen Effektgeräten wie Wah-Wah, Fuzz oder Phaser. Durch die hohe Lautstärke setzten kreischende Rückkopplungen ein, die von Hendrix ins Spiel integriert wurden. Weiter nutzte Hendrix das Tremolo, welches vorher nur für ein leichtes „Schimmern“ der Töne eingesetzt wurde, für dröhnende, motorenähnliche Klänge bis hin zum völligen Erschlaffen der Saiten. Viele dieser ausgefallenen Spieltechniken sind in Hendrix’ Version des „The Star-Spangled Banner“ auf dem Woodstock-Festival zu hören, wo er in die US-amerikanische Nationalhymne den Klang von angreifenden Flugzeugen und explodierenden Bomben einwebte. Spätestens mit dem charakteristischen Intro des 1972er Titels „Smoke on the Water“ der Band Deep Purple gilt die Kombination Stratocaster-Marshall als Standard in der Rockmusik. Im Gegensatz zu den schweren Tönen der Rockmusik wurde die Stratocaster in der Funk und Discomusik der 1970er Jahre für einen extrem hellen, gläsernen Klang beliebt: Mit dem gezielten Ausfiltern bestimmter Frequenzen durch Effektgeräte, Equalizer und das direkte Anschließen der Gitarre an das Mischpult ohne Verstärker wurde ein höhenreicher, dünner, sauberer Klang erzeugt, der auf vielen Produktionen der Zeit zu hören ist. Der Gitarrist Nile Rodgers der Gruppe Chic nutze diesen Klang u. a. auf der Hitsingle „Le Freak“. Der perlende, glockige Klang der sogenannten „Zwischenstellungen“, bei denen jeweils der Steg- oder Halstonabnehmer mit dem mittleren kombiniert wird, wird häufig für unverzerrte Klänge benutzt. Beispiele finden sich sowohl bei Lynyrd Skynyrd („Sweet Home Alabama“) oder bei den Dire Straits, wo Gitarrist Mark Knopfler den Klang bei Titeln wie „Sultans of Swing“ durch sein charakteristisches Finger-Picking (Anschlagen der Saiten mit den Fingern anstatt mit einem Plektrum) noch verstärkt. Gitarrist David Gilmour schneidet auf Aufnahmen wie „Shine On You Crazy Diamond“ mit dem hellen, durchsetzungsfähigen Klang der Stratocaster durch die keyboardlastigen Arrangements von Pink Floyd; Yngwie Malmsteen setzt die Stratocaster bei seinem durch klassische Musik inspirierten Hardrock ein. Namhafte Gitarristen wie Jeff Beck (u. a. Yardbirds), Eric Clapton, Richie Sambora (Bon Jovi), Chris Rea, John Frusciante (Red Hot Chili Peppers) benutzen vorwiegend Stratocasters, aber auch Bluesgitarristen wie Stevie Ray Vaughan, Buddy Guy und Rory Gallagher. Anlässlich eines europaweiten Wettbewerbs zum 50. Geburtstag der Fender Stratocaster im Jahr 2004 gewann der deutsche Gitarrist Thomas Blug den vom britischen Fender-Vertrieb ausgelobten Titel „Stratking of Europe“. Die Stratocaster in Design und Kunst Das radikal neue Design der Stratocaster galt bei ihrem Erscheinen im Jahr 1954 als wegweisend und wurde nicht nur bestimmend für das Aussehen von elektrischen Gitarren, sondern auch in weiteren Designbereichen. Im Instrumentenbau machte die Stratocaster endgültig klar, dass eine elektrische Gitarre jede Form annehmen kann, die stabil und einigermaßen bequem zu bespielen ist. Da der Korpus nicht mehr in dem Maße für den Klang des Instruments verantwortlich ist wie bei akustischen Gitarren, war Designern nun nahezu freigestellt, wie eine E-Gitarre aussehen konnte. Waren frühe E-Gitarren wie die Instrumente von Paul Bigsby, die Fender Telecaster oder die Gibson Les Paul noch grob an den Konturen einer herkömmlichen akustischen Gitarre orientiert, standen bei der Stratocaster Ergonomie und modernes Design im Vordergrund. Unterstützt wurde dies noch von den deckenden „Custom Colors“ in Form von bunten Autolacken, die durch ihre kunststoffartig-glatten Oberflächen mit der Holzoptik traditioneller Instrumente brachen. Mit der Stratocaster erlebte die noch junge Industrie des E-Gitarrenbaus einen Designboom: Konkurrent Gibson experimentierte mit neuen Formen wie der zackigen Explorer oder der pfeilförmigen Flying V und stellte für die Formgebung der Firebird den Automobildesigner Ray Dietrich an. Die Firma National experimentierte in den 1960ern mit Korpora aus glasfaserverstärktem Kunststoff, die im Umriss grob an die Landkarte der USA erinnerten. In Deutschland wurden Firmen wie Höfner, Hoyer und Framus stark von Fenders neuer Gitarre beeinflusst, ohne dabei eigene Ideen wie ausgefallene Elektronik und die charakteristischen Schichtholzhälse aus heimischen Hölzern zu vernachlässigen. Die Konstruktion und Form der Stratocaster entwickelte sich zu einem Standard für E-Gitarren; die Bezeichnung Strat wurde umgangssprachlich zum Oberbegriff für alle Stratocaster-ähnlichen Instrumente. Mit dem beginnenden Hardrock begannen viele Hersteller zum Ende der 1970er zudem, die Grundidee der Stratocaster den neuen Spielstilen anzupassen. Die Korpusformen wurden spitzer, die Griffbretter wurden auf 24 Bünde verlängert, das Tremolo wurde durch stimmstabile Floyd-Rose-Systeme ersetzt und als Tonabnehmer kamen leistungsstarke Humbucker oder aktive Elektroniken zum Einsatz. Diese hochgerüsteten Instrumente von Herstellern wie Ibanez, Jackson, ESP oder Kramer werden von Musikern häufig als „Superstrats“ bezeichnet. In Kunst und Design fand die Stratocaster als Symbol des Rock ’n’ Roll ebenfalls Einzug. Passte die Stratocaster mit ihren organisch fließenden Formen in Designstile der 1950er wie die Heckflossen bei Automobilen oder dem Googie in der Architektur, blieb die Form durch die als rebellisch angesehene Rockmusik zeitlos futuristisch. Die Grundform der Stratocaster wird daher bis heute häufig als optischer Ausdruck des Rock ’n’ Roll verwendet und findet sich – mehr oder minder stilisiert – auf zahllosen Plattencovern, Werbeschildern, Konzertplakaten, Aufnähern, bei Dekoration von Diskotheken und Gaststätten bis hin zu Comics und Kinderspielzeug wieder. Literatur Tom Wheeler: Die große Stratocaster-Chronik. 50 Jahre Fender Stratocaster. Mit einem Vorwort von Eric Clapton. PPV, Bergkirchen 2004, ISBN 3-932275-96-9. Richard R. Smith: Fender – Ein Sound schreibt Geschichte. Nikol-Verl.-Ges., Hamburg 2003, ISBN 3-937872-18-3. Peter Bertges: The Fender Reference Bomots, Saarbrücken 2007, ISBN 978-3-939316-38-1. Tony Bacon: Gitarren – Alle Modelle und Hersteller. Zsolnay, London/Wien 1991, ISBN 3-552-05073-6. George Gruhn, Walter Carter: Elektrische Gitarren & Bässe – Die Geschichte von Elektro-Gitarren und Bässen. PPV, Bergkirchen 1999, ISBN 3-932275-04-7. Tony Bacon, Dave Hunter: Totally Guitar—The definitive guide. Backbeat Books, London 2004; Zweitausendeins, Frankfurt M 2005, ISBN 3-86150-732-3. Gitarre & Bass. Sonderausgabe Fender. Diverse Autoren. Musik Media, Köln/Ulm 2001, Heinz Rebellius: Warum ist die Strat die Strat? In: Gitarre und Bass. Musik Media, Köln/Ulm 2004, 10 (Okt), S. 98–102, Hilary Kay: Rock ’n’ Roll Souvenirs. Battenberg Verlag, Augsburg 1994, ISBN 3-89441-179-1. Paul Balmer: Fender Stratocaster – Mythos & Technik. PPVMEDIEN, Bergkirchen 2011, ISBN 978-3-941531-57-4. Helmuth Lemme: Elektrogitarren – Technik und Sound. Elektor-Verlag Aachen, ISBN 978-3-89576-111-9. Weblinks Offizielle Website von Fender USA (englisch) Offizielle Website von Fender Deutschland Offizielle Website von G&L (englisch) Fanseite für Sammler – Details früher Stratocasters (englisch) VintageStrats.de Detaillierte Auflistung aller Stratocaster-Modelle. Darstellung aller Baujahre von 1954 bis 1985 (deutsch) Einzelnachweise Stratocaster
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blutkreislauf
Blutkreislauf
Der Blutkreislauf, auch Kreislauf, Blutzirkulation und kurz Zirkulation, Blutgefäßsystem oder Blutbahn genannt, ist das Strömungssystem des Blutes im Körper des Menschen und der meisten Tiere, ausgehend vom Herzen zu den Organen und wieder zurück zum Herzen. Herz und Blutkreislauf zusammen bilden das Herz-Kreislauf-System (kardiovaskuläres System). Seine Aufgabe ist die Versorgung der Organe mit Nährstoffen, Signalstoffen und anderem, die Entsorgung von Stoffwechselprodukten und bei den meisten Gruppen mit Kreislauf auch die Versorgung mit Sauerstoff und der Abtransport von Kohlendioxid. Je nach Tiergruppe können weitere Aufgaben hinzu kommen. Blutgefäße, die Blut zum Herzen leiten, werden als Venen (Blutadern) bezeichnet; diejenigen Gefäße, die Blut vom Herzen zu den Organen leiten, nennt man Arterien (Schlagadern). Diese Bezeichnungen gelten unabhängig davon, ob das Blut im jeweiligen Gefäß sauerstoffarm oder sauerstoffreich ist. Je stärker sich die Blutgefäße verzweigen, desto kleiner wird ihr Durchmesser. Bei Tieren mit einem geschlossenen Kreislaufsystem werden Arterien zuerst zu Arteriolen und diese zu Kapillaren, in welchen der größte Teil des Stoffaustausches mit den Geweben stattfindet. Diese führen wiederum zusammen und bilden die postkapillären Venolen, die sich zu Venen vereinigen. Bei Tieren mit einem offenen Kreislaufsystem ergießt sich die Flüssigkeit, die hier nicht Blut, sondern Hämolymphe genannt wird, aus arteriellen Blutgefäßen in die Körperhöhle, um die Organe zu umfließen. Durch die Körperhöhle fließt sie zu venösen Gefäßen oder direkt zurück zum Herzen. Funktion Stofftransport Bei etlichen Gruppen der vielzelligen Tiere sichert ein Kreislauf das Überleben des Organismus, indem er Stoffwechsel in allen Teilen des Körpers ermöglicht und die chemischen und physiologischen Eigenschaften der Körperflüssigkeiten aufrechterhält. Bei den meisten Tieren mit Kreislauf dient er zum Transport der Atemgase Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid (Ausnahme: Insekten). Dann transportiert er sauerstoffreiches Blut oder Hämolymphe aus den Atmungsorganen (Lungen, Kiemen oder Haut) in die Gewebe und sauerstoffarme, kohlendioxidreiche Flüssigkeit zurück zu den Atmungsorganen (siehe auch Atmung). Zur Unterstützung dieser Prozesse können Sauerstofftransporter vorhanden sein; bei den Wirbeltieren ist dies Hämoglobin, das in den roten Blutzellen verpackt ist. Aus der Verdauung gewonnene Nährstoffe wie Fette, Zucker oder Eiweiße werden aus dem Verdauungstrakt in die einzelnen Gewebe transportiert, um dort je nach Bedarf verbraucht, weiterverarbeitet oder gespeichert zu werden. Die entstandenen Stoffwechsel- oder Abfallprodukte (zum Beispiel Harnstoff oder Harnsäure) werden in andere Gewebe oder zu den Ausscheidungsorganen (bei Wirbeltieren Niere und Leber) transportiert. Außerdem kann ein Transport von Botenstoffen wie Hormonen, Zellen der Körperabwehr und Bestandteilen des Gerinnungssystems stattfinden. Über die gleichmäßige Verteilung des Blutes oder der Hämolymphe durch den Körper wird auch der pH-Wert, die extrazelluläre Ionenkonzentration und die Osmolarität der Körperflüssigkeiten reguliert (Homöostase). Andere Funktionen In manchen Tiergruppen werden vom Kreislaufsystem neben dem Stofftransport noch weitere Funktionen erfüllt. Hierzu gehören eine Temperaturregulation innerhalb des Körpers (Thermoregulation) und sehr verschiedene hydraulische Funktionen. Beispiele sind das Strecken der Beine bei Spinnen durch hydrostatischen Druck und die Erektion der Geschlechtsorgane bei Wirbeltieren durch die erhöhte Blutmenge in Schwellkörpern sowie die Bereitstellung des Drucks für die Filtration des Harns in der Niere. Formen von Kreislaufsystemen Diffusion ist über längere Entfernungen sehr langsam, da die Dauer mit dem Quadrat der Entfernung zunimmt. Beispielsweise braucht ein Glucosemolekül über acht Minuten, um bei 37 °C in Wasser über einen Millimeter zu diffundieren. Daher haben alle vielzelligen Tiere, die mehr als nur wenige Zellschichten dick sind, Möglichkeiten entwickelt, einen Flüssigkeitsstrom zu erzeugen, der einen Transport per Konvektion erlaubt. Tiere ohne Blutkreislauf Die Tiergruppen der Schwämme, Nesseltiere, Fadenwürmer und Plattwürmer können auch ohne Kreislaufsystem einen Flüssigkeitsstrom kreieren. Schwämme erzeugen mit Hilfe von sich bewegenden Flagellen einen Strom durch die Körperhöhle. Nesseltieren gelingt dies durch Muskelkontraktionen. Plattwürmer setzen ihre Gewebsflüssigkeit mit der Hilfe von Zilien in Bewegung. Bei den Nesseltieren und Plattwürmern kommen weitverzweigte Darmsysteme vor, die als Gastrovascularsysteme („Magengefäßsystem“) bezeichnet werden, und die das Fehlen eines Blutgefäßsystems zum Teil ausgleichen können. Fadenwürmer setzen ihre innere Flüssigkeit durch Muskelkontraktionen in Bewegung. Zu den Tieren, die keinen Kreislauf haben, gehören auch einige Vielborster und Egel (beides Gruppen der Ringelwürmer), viele Ruderfußkrebse, Rankenfußkrebse und Pfeilwürmer, die alle die Flüssigkeit in der sekundären Leibeshöhle (Coelom) wie die Fadenwürmer durch Kontraktion der Körperwandmuskulatur in Bewegung bringen. Hüpferlinge dagegen nutzen hierfür die Bewegung der Gliedmaßen, der Vielborster Tomopteris (siehe Phyllodocida) macht dies durch Flimmerung. Man spricht in diesen Fällen von einem Coelomkreislauf. Unterscheidung von offenen und geschlossenen Kreislaufsystemen Bei anderen mehrzelligen Tiergruppen gibt es zwei Typen von Kreislaufsystemen. Bei geschlossenen Kreislaufsystemen fließt Blut vom Herzen über Arterien, Kapillaren und Venen zurück zum Herzen in Blutgefäßen. Bei offenen Kreislaufsystemen verlässt die Flüssigkeit, die dann nicht Blut, sondern Hämolymphe genannt wird, die Gefäße, um über unterschiedlich lange Strecken durch Lückensysteme zwischen den Geweben zurück zum Herzen zu fließen. Die genaue Abgrenzung ist in der Literatur uneinheitlich. In einem Lehrbuch von 2009 findet sich die Aussage, dass bei geschlossenen Kreislaufsystemen das Blut ausschließlich durch mit Endothel ausgekleidete Blutgefäße fließe. Als Beispiele für einen geschlossenen Kreislauf werden unter anderen Schnurwürmer, einige Ringelwürmer und alle Wirbeltiere erwähnt. Bei den Kopffüßern sei der Kreislauf „nahezu“ geschlossen. In einer Übersichtsarbeit von 2012 heißt es dagegen, dass echtes Endothel nur bei Wirbeltieren vorkomme und die Gefäße der Wirbellosen von extrazellulärer Matrix ausgekleidet seien. Zwar würden auch hier bei manchen Arten Zellen innerhalb der Basalmembran vorkommen, die Auskleidung sei jedoch unvollständig und diese Zellen hätten keine Verbindungskanäle (Gap Junctions) zueinander, es sei demnach kein echtes Endothel vorhanden. Auch in dieser Arbeit wird allen Wirbeltieren ein geschlossenes Kreislaufsystem zugesprochen, aber auch einigen Wirbellosen, namentlich Ringelwürmern und Kopffüßern. Es wird ausdrücklich erwähnt, dass die Abgrenzung zwischen offenen und geschlossenen Kreislaufsystemen nicht immer eindeutig und eine zu starke Vereinfachung sei. Denn bei manchen Tieren mit offenem Kreislauf wie dem Hummer (siehe unten) oder der marinen Seeohren (Haliotis), bei der die Hinterleibsarterien in kapillar-ähnliche Gefäße verzweigen, gäbe es durchaus auch Merkmale eines geschlossenen Kreislaufes. Und auch bei geschlossenen Kreisläufen der Wirbeltiere gäbe es Gefäßbereiche, wo es direkten Kontakt des Blutes mit dem Interstitium gäbe (siehe auch unten). Ein weiteres Lehrbuch von 2008 führt wiederum aus, dass eine Gruppe der Wirbeltiere, nämlich die Kieferlosen (Schleimaale und Neunaugen), im Gegensatz zu den anderen Wirbeltieren ein teilweise offenes Kreislaufsystem haben, bei dem sich das Blut in einigen Körperbereichen in offene Lakunen entleert. Den höheren Kopffüßern (Kalmare und Kraken) wird ein geschlossenes Kreislaufsystem zugesprochen. Offene Kreislaufsysteme Hämolymphe als einheitliche Körperflüssigkeit Bei verschiedenen Gruppen wirbelloser Tiere findet man ein offenes Kreislaufsystem, bei dem die Hämolymphe vom Herzen in mehr oder weniger kurze Arterien und von dort in die Körperhöhlen gepumpt wird. Kapillaren fehlen meist, stattdessen umströmt die Hämolymphe die Gewebe, bis es schließlich in offene Venen und durch diese zum Herzen zurück fließt oder direkt aus der Körperhöhle ins Herz zurückkehrt. Die Hämolymphe fließt dabei langsam und mit geringem Druck. Das bewegte Flüssigkeitsvolumen ist relativ groß, da die extrazelluläre Flüssigkeit fast vollständig am Kreislauf beteiligt ist. Bei Schnecken entspricht es etwa 50 % des Körpervolumens. Bei der als Kalifornischer Seehase (Aplysia californica) bekannten Schneckenart liegt der Anteil der Hämolymphe am Körpergewicht sogar bei 79,3 %, bei der Gemeinen Strandkrabbe (Carcinus maenas) bei 37 % und bei der Amerikanischen Großschabe (Periplaneta americana) bei 19,5 %. Generell macht sie bei Insekten 15–40 % des Gewichts aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Flüssigkeitsmenge die gesamte extrazelluläre Flüssigkeit beinhaltet. Bei Tieren mit geschlossenem Kreislauf gehört zur Vergleichsmenge daher nicht nur das Blutvolumen, sondern auch Gewebsflüssigkeit und die Lymphe. Konsequenzen und Vorteile eines offenen Kreislaufsystems Die langsame Zirkulation der Hämolymphe ist vermutlich ein Grund dafür, warum die Körpergröße von Tieren mit offenem Kreislauf im Vergleich zu Wirbeltieren beschränkt ist. Ein geschlossenes Kreislaufsystem erfordert für die Durchblutung einen höheren Blutdruck und somit einen stärkeren Herzmuskel als ein offenes System, bei dem für die langsamere Durchblutung mit niedrigerem Druck ein dünnwandiges Herz genügt. Die Herztätigkeit hat eine nur geringe Auswirkung auf den sehr variablen Druck. Stattdessen hängt dieser von der Bewegung anderer Muskeln, der Körperhaltung und der Position der inneren Organe ab. Er kann beispielsweise durch Füllung des Darms mit Luft oder Wasser gesteigert werden, was bei Häutungen und bei der Entfaltung von Flügeln oder anderen Körperteilen nach dem Schlüpfen der erwachsenen Tiere (Imago) aus der Puppe oder dem letzten Larvenstadium eine Rolle spielen kann. Bei den Insekten haben außerdem die Atembewegungen des Hinterleibs (Abdomen) eine Wirkung auf den Druck. Verbreitung Offene Kreislaufsysteme kommen vor bei Schnecken, Muscheln, Gliederfüßern, Manteltieren und manchen Ringelwürmern. Geschlossene Kreislaufsysteme Geschlossen bedeutet nicht abgeschlossen: Stoffaustausch Wie erwähnt wird als geschlossenes Kreislaufsystem ein System bezeichnet, bei dem das Blut vom Herzen zu den Organen und zurück durch Blutgefäße fließt. „Geschlossen“ in diesem Sinne bedeutet nicht, dass das Blut im Gefäßsystem vom restlichen Körper hermetisch abgeschlossen ist. Ein Stoffaustausch findet besonders in den Kapillaren statt, aber nicht nur dort. Beispielhaft sollen einige der Stellen erwähnt werden, bei denen bei Wirbeltieren intensiver Stoffaustausch oder Stoffübertritt stattfindet. In deren Leber, Knochenmark und Lymphknoten kommen Kapillaren mit diskontinuierlichem Endothel (Sinusoide) vor. Öffnungen mit bis zu einem Mikrometer Größe zwischen den Endothelzellen der Gefäßwand erleichtern den Stoffaustausch und den Übertritt von Blutzellen. In den Lebersinusoiden bestehen große Lücken in der Auskleidung. So können sinusoidale und extravasale Volumina in der Leber des Hundes differenziert werden. Auch zum Lymphgefäßsystem gibt es bei den Wirbeltieren einen oder mehrere offene Übergänge (siehe Ductus thoracicus). In der hämochorialen Plazenta (z. B. bei Primaten) münden die mütterlichen Spiralarterien offen und das Blut wird in ein Plazentalabyrinth freigesetzt, wo es die Chorionzotten umspült und von den Spiraladern entwässert wird. Vorteile eines geschlossenen Kreislaufsystems Trotz dieser Übergänge zu anderen Systemen wird ein solches Kreislaufsystem als geschlossen bezeichnet, denn das Blut fließt im Gegensatz zu offenen Kreislaufsystemen nicht durch die Körperhöhle oder Spalten zwischen den Geweben zurück zum Herzen und durchmischt sich auch nicht vollständig mit der Gewebsflüssigkeit wie bei offenen Kreislaufsystemen. Durch die Trennung von Blut und Gewebsflüssigkeit ist das zu transportierende Flüssigkeitsvolumen vergleichsweise klein. Beispielsweise entspricht es bei Tintenfischen etwa 15 % des Körpervolumens, beim Menschen nur 6–8 %. Beim Riesenerdwurm Glossoscolex giganteus (ein Ringelwurm) beträgt es 6,1 %, beim Kraken Octopus honkongensis 5,8 % und beim Teichfrosch (Rana esculenta) 5,6 %. Geschlossene Kreislaufsysteme haben sich in mehreren Tierstämmen unabhängig voneinander entwickelt. Meist kommen sie bei sehr aktiven oder bei in sauerstoffarmen Umgebungen lebenden Tieren vor. Die Entwicklung erfolgte parallel zu Sauerstofftransportern im Blut. Dadurch müssen nur geringe Blutmengen bewegt werden, um den Sauerstoffbedarf zu stillen. Wichtige Vorteile geschlossener Systeme für Tiere mit aktivem Lebensstil sind die effektive Verteilung des Bluts in alle Körperregionen und die Möglichkeit zur gezielten Regulation der Durchblutungssteuerung der Organe, um besonders hohen Bedarf an einer Stelle decken zu können, ohne die Gesamtmenge des bewegten Blutes unnötig zu erhöhen. Auch eine parallele Durchblutung der Organe (statt serieller Durchblutung) und somit Durchblutung aller Organe mit sauerstoffreichem Blut ist nur mit einem geschlossenen System möglich. Verbreitung Geschlossene Kreislaufsysteme kommen vor bei Ringelwürmern, Seegurken, Schädellosen, Wirbeltieren und Kopffüßern, aber nicht notwendigerweise bei allen Vertretern der Gruppe. Weichtiere (Mollusca) Bei den Weichtiere haben Schnecken, Muscheln und der urtümliche Kopffüßer Nautilus (ein Perlboot) ein offenes Kreislaufsystem. Die meisten Kopffüßer haben jedoch ein geschlossenes. Schnecken und Muscheln Muscheln und Schnecken haben ein kräftiges Herz, das meist aus zwei Abschnitten besteht, Vorhof und Kammer. Der erzeugbare Druck und damit die Flussgeschwindigkeit ist für offene Kreislaufsysteme vergleichsweise hoch. Bei der Weinbergschnecke kann er während der Kontraktion 19 mmHg (2,5 kPa) erreichen. Bei ihr wird das Blut über lange Gefäße transportiert, bevor es in die Körperhöhle (Hämocoel) austritt. Manche Muscheln nutzen den hohen Druck zur Bewegung des Fußes und damit zur Fortbewegung. Mit dem Blut werden auch die Atemgase transportiert. Kopffüßer Die meisten Kopffüßer, nämlich Kalmare, Kraken und Sepien, haben ein geschlossenes Kreislaufsystem. Dieses hat sich vermutlich aus einem offenen entwickelt, wie es bei Nautilus vorkommt. Der geschlossene Kreislauf der Kalmare und Kraken hat drei gekammerte Herzen. Vom Körperherz fließt sauerstoffreiches Blut in die Organe, von dort das sauerstoffarme Blut zu den beiden Kiemenherzen, die es zu den Kiemen leiten. Von dort kehrt das Blut zum Körperherz zurück. Bei manchen Arten wurden zusätzliche peristaltische Kontraktionen in den Gefäßen der Kiemen, in den Armen oder in der Hohlvene beobachtet. Entsprechend ihrer beweglicheren Lebensweise haben Kopffüßer deutlich höhere Drücke im Kreislauf als Schnecken und diese wiederum höhere als Muscheln. Beim Kraken Octopus dofleini (siehe Oktopusse) wurde in der Aorta ein Blutdruck von 45 zu 30 mmHg (6 und 4 kPa) gemessen. Bei dem Gewöhnlichen Kraken (Octopus vulgaris) wurde gezeigt, dass die Kiemenherzen synchronisiert jeweils kurz nach dem Körperherz schlagen. Außerdem wurde beobachtet, dass Atembewegungen den Kreislauf zusätzlich antreiben. Ringelwürmer (Annelida) Bei den Ringelwürmern kommen sowohl offene als auch geschlossene Kreislaufsysteme vor. In beiden enthält die Flüssigkeit Sauerstofftransporter. Regenwürmer und andere Wenigborster Wenigborster wie der Regenwurm haben einen geschlossenen Kreislauf mit einem Haupt-Bauchgefäß und einem Haupt-Rückengefäß, die beide längs des Tiers verlaufen. Sie sind durch kleinere Gefäße verbunden. Das Rückengefäß kann sich rhythmisch-peristaltisch zusammen ziehen und dadurch das Blut Richtung Vorderende bewegen. Dort sind mehrere Ringgefäße mit Lateralherzen, die eine Strömung zum Bauchgefäß erzeugen, in welchem ein Fluss zum Hinterende herrscht. Durch die erwähnten kleineren verbindenden Gefäße kehrt das Blut zurück in das Rückengefäß. Es gibt demnach als Besonderheit bei den Ringelwürmern kein zentrales Herz, sondern mehrere kontrahierende Abschnitte im Blutgefäßsystem. Gasaustausch mit der Luft findet über die Haut statt. Sauerstoffarmes Blut wird durch kleinere Gefäße vom Bauchgefäß zur gut durchbluteten Haut geleitet und von dort weiter zum Rückengefäß. Gut untersucht ist der Riesenerdwurm Glossoscolex giganteus (siehe Glossoscolecidae), der bei einem Durchmesser von 2–3 cm eine Länge von 1,2 Metern und ein Gewicht von 0,5 bis 0,6 Kilogramm erreicht. Die peristaltischen Kontraktionen des Rückengefäßes können einen Druck von 10–18 mmHg (1,4–2,4 kPa) aufbauen. Die in der Regel synchron schlagenden 5 Paare der Lateralherzen können im Bauchgefäß einen Druck von 80 mmHg oder über 10 kPa aufbauen, ein Wert der dem arteriellen Blutdruck der Wirbeltiere nahe kommt. Dieser hohe Druck dient zur Durchblutung des Hautmuskelschlauches und der Metanephridien. Der Blutdruck ändert sich während der Bewegung des Tiers sehr stark. Die höchsten Werte werden erreicht, wenn es sich streckt, um während der Verkürzung des Tieres auf etwa halbe Werte zu sinken. Die Anzahl der Kontraktionswellen im Rückengefäß von Glossoscolex giganteus lag in Ruhe bei etwa acht pro Minute, beim Gemeinen Regenwurm (Lumbricus terrestris) bei etwa 11 pro Minute. Die Rate wird erhöht bei körperlicher Anstrengung und beeinflusst von der Füllmenge des Gefäßes. Die Füllmenge beeinflusst auch die Kraftentwicklung der Kontraktion. In elektronenmikroskopischen Bildern von Blutgefäßen des gemeinen Regenwurms sieht man diese angefüllt mit Hämoglobin-Partikeln, die frei im Blut schwimmen. Vielborster Vielborster, meist im Meer lebende Tiere, haben ein ähnliches Kreislaufsystem wie die Wenigborster, jedoch haben die Blutgefäße oft eine dünnere Wand. Nicht immer sind die Gefäße mit Endothel (oder je nach Definition mit endothel-ähnlichen Zellen) ausgekleidet, daher ist es nach einer möglichen Definition ein offenes Kreislaufsystem. Bei manchen Arten kommen zusätzliche Nebenherzen in der Peripherie des Tieres vor, besonders an den Kiemen. Egel Bei der dritten Gruppe der Ringelwürmer, den Egeln, kommt nur bei den Rüsselegeln ein echtes Blutgefäßsystem vor. Bei den anderen Egeln ist es reduziert, die Transport- und Versorgungsaufgaben werden von einem geschlossenen Coelomsystem übernommen. Dessen Seitengefäße und Bauchgefäß können sich rhythmisch zusammenziehen. In der Flüssigkeit ist Hämoglobin gelöst. Beim gut untersuchten Blutegel (Hirudo medicinalis) wirken die Seitengefäße als sich peristaltisch kontrahierende Herzen, die einen Blutstrom Richtung Vorderende und einen Druck bis zu 100 mmHg erzeugen. Klappen und Sphinkter an den Enden verhindern einen Rückfluss. In Rücken- und Bauchgefäß herrscht Fluss Richtung Hinterende. Schnurwürmer (Nemertea oder Nemertini) Bei den Schnurwürmern, einer Gruppe im Meer lebender Arten, kommt ein Gefäßsystem vor, das zwar oft als Blutgefäßsystem bezeichnet wird, jedoch wahrscheinlich eine Abwandlung des Coeloms darstellt, also eine Bildung der sekundären Leibeshöhle. Es ist somit nicht dem primären Blutgefäßsystem der Bilateria homolog. Die Hauptgefäße liegen seitlich der Länge nach im Tier, die am Vorderende und in der Nähe des Afters bauchseits verbunden sind. Manche Arten haben außerdem ein Rückengefäß oder eine Aufspaltung der Hauptgefäße. Die größeren Gefäße können sich zusammen ziehen, zur Flüssigkeitsbewegung trägt auch die Körpermuskulatur bei. Gliederfüßer (Arthropoda) Gliederfüßer, zu denen Insekten, Tausendfüßer, Krebstiere und Spinnentiere gehören, haben alle ein offenes Kreislaufsystem. Krebstiere (Crustacea) Bei den Krebstieren reicht die Spanne der Kreislaufsysteme von sehr einfach bis sehr komplex. Die wahre Beschaffenheit der Blutzirkulation bei den Krebstieren (und bei den Insekten) erkannte der Mediziner und Naturforscher John Hunter. Der Kiemenfußkrebs Branchinecta hat ein röhrenförmiges Herz, welches fast den ganzen Körper durchzieht, und vergleichsweise wenige Gefäße. Zehnfußkrebse Eine Besonderheit kommt bei den Zehnfußkrebsen vor. Diese haben zwar ebenfalls anatomisch gesehen ein offenes Kreislaufsystem, jedoch funktionell viele Aspekte eines geschlossenen Systems: kleine Blutgefäße entsprechen Kapillaren und die Hämolymphe fließt durch definierte Kanäle durch das Gewebe zum Herz zurück, die bei einigen Arten so klein sind, dass sie Blutgefäßen funktionell entsprechen. Zahlreiche Blutgefäße haben muskulöse Ventile, mit deren Hilfe die Durchblutung der nachgeschalteten Organe reguliert wird. Das Herz ist eine muskulöse, kontraktile Kammer und liegt in einem Sack, dem Perikardialsinus oder Perikard. Die Hämolymphe fließt über mehrere Arterien von dort in zahlreiche Körperregionen, um schließlich tief im Gewebe aus den Gefäßen auszutreten. Ein Sinus auf der Bauchseite sammelt die Hämolymphe und führt sie zu den Kiemen. Nach Sauerstoffaufnahme gelangt sie über Venen zum Perikardialsinus, wo sie durch kleine Öffnungen, die Ostien, zurück ins Herz gelangt. Das Herz dieser Krebse kann Drücke von 8–15 mmHg (1–2 kPa), beim Hummer bis zu 20 mmHg, erzeugen und auch beim Erschlaffen des Herzmuskels sinkt der Druck in der Aorta nicht auf null, sondern bleibt durch einen Windkesseleffekt der großen Gefäße bei etwa 1,5 mmHg (0,2 kPa) und damit höher als in der offenen Körperhöhle (Hämocoel), so dass ein kontinuierlicher Flüssigkeitsstrom gewährleistet wird. Dadurch erreicht ein Hummer ein Herzminutenvolumen von 10–30 ml pro Minute und eine Umlaufzeit seiner Hämolymphe von 2–8 Minuten. Der Herzschlag wird von Nervenzellen gesteuert (neurogenes Herz), und nicht durch spezialisierte Muskelzellen wie bei den Wirbeltieren. Das Herzganglion liegt rückenwärts am Herzen auf und wird seinerseits vom Zentralnervensystem gesteuert. Bei Hummern wurden Herzfrequenzen zwischen 61 und 83 Schlägen pro Minute beobachtet. In seiner Hämolymphe gelöst ist der kupferhaltige Sauerstofftransporter Hämocyanin und es wurden drei bis elf morphologisch unterscheidbare Haemocyten gefunden, deren Aufgaben vermutlich in der angeborenen Immunantwort und der Blutstillung liegen. Andere Krebstiere Innerhalb der Krebstiere wurde außer bei den Zehnfußkrebsen Fluss in Gefäßen über weite Strecken nur bei den Asseln beobachtet. Bei den Daphnien ähnelt das Herz dem der Zehnfußkrebse, es sind jedoch keine Gefäße vorhanden. Das Röhrenherz der Kiemenfüßer, zu denen Artemia gehört, ähnelt eher dem der Insekten. Bei den Rankenfußkrebsen, darunter Seepocken und Entenmuscheln, gibt es kein Herz im eigentlichen Sinn. Die Muskulatur des Thorax übernimmt die Pumpfunktion. Insekten (Insecta) Insekten haben trotz einer hohen Stoffwechselrate ein eher einfaches, offenes, in seiner Beschaffenheit von dem Mediziner und Naturforscher John Hunter entdecktes Kreislaufsystem. Dies ist möglich, weil Insekten im Gegensatz zu den meisten Tieren mit Kreislauf diesen nicht zum Atemgastransport nutzen, sondern nur zum Transport von Nährstoffen, Immunzellen, Signalmolekülen und dergleichen. Der Gasaustausch geschieht über ein Tracheensystem, hohle Röhren, die von der Körperoberfläche direkt an die Gewebe heranführen. Bei vielen Insekten besteht das Gefäßsystem nur aus einem entlang dem Rücken liegenden langen Herzen, das hinten verschlossen ist und nach vorne in die Aorta übergeht. Kontraktionswellen treiben die Hämolymphe Richtung Kopf, wo sie in einen Sinus austritt und zu einem weiteren Sinus sickert, um durch diesen zurück in den Körper zu fließen. Körperbewegungen halten den Fluss in Gang, so dass wie bei anderen Arthropoden ein Übergang über Ostien zurück ins Herz erfolgt. Wenn das Herz erschlafft, wird es durch elastische Fasern des Aufhängeapparats gedehnt, so dass die Hämolymphe durch Unterdruck einströmt. Bei der Kontraktion werden die Ostien durch Klappen aus Bindegewebe verschlossen. Bei der Wanderheuschrecke Locusta migratoria wurde ein maximaler Druck von nur etwa 7 mmHg (0,9 kPa) gemessen. Häufig kommen in den Antennen, Flügeln und Beinen zusätzliche, einfache Herzen vor, bei manchen Arten können es mehrere Dutzend sein. Sie dienen der Versorgung von besonders stoffwechselaktiven Geweben und werden auch Nebenherzen oder pulsatile Organe genannt. Um auch die Enden der langen, dünnen Gliedmaßen durchfließen zu können, sind diese der Länge nach durch Septen in zwei Bereiche unterteilt. Nur am Ende der Extremität findet sich eine Öffnung, so dass die Hämolymphe auf der einen Seite hinein und auf der anderen wieder zurück strömt. Bei einigen Arten der Schmetterlinge, bei der Schmeißfliege Calliphora, den Goliathkäfern und dem Nashornkäfer wurde beobachtet, dass sich die Schlagrichtung des Herzens umkehren kann. Das Herz hat bei diesen Arten hinten eine oder zwei Öffnungen, durch die die Hämolymphe dann austreten kann. Meist wird häufiger Blut nach vorne gefördert als nach hinten. Durch die abwechselnde Richtung kann die Hämolymphe zwischen Vorder- und Hinterteil pendeln, was auch zu einer verstärkten Belüftung der Tracheen führt. Im Gegensatz zu allen anderen wirbellosen Tieren haben Insekten eine effektive Blut-Hirn-Schranke entwickelt. Die Diffusion von wasserlöslichen Molekülen von der Hämolymphe in die unmittelbare Umgebung der Nervenzellen ist dadurch stark eingeschränkt. Spinnentiere (Arachnida) Im Gegensatz zu den Insekten müssen Spinnentiere (darunter Spinnen, Milben, Skorpione) wie die Krebstiere nicht nur Nährstoffe, sondern auch Atemgase mit der Hämolymphe transportieren. Das im Hinterleib (Opisthosoma) am Rücken liegende Röhrenherz ist dem der Insekten ähnlich. Gefäße erlauben eine gezielte Durchblutung der Buchlunge. Eine Besonderheit liegt bei Spinnen vor, da sie ihre Beine nicht mit Muskelkraft strecken, sondern hydraulisch über einen relativ hohen Druck der Hämolymphe, die über eigene Blutgefäße dorthin gelangt. Stachelhäuter (Echinodermata) Stachelhäuter sind die einzigen ursprünglich bilateralen Tiere, die eine Fünfersymmetrie entwickelt haben. Die Larven sind jedoch bilateral. Alle zugehörigen Gruppen leben ausschließlich im Meer, darunter Seesterne, Seeigel, Schlangensterne und Seegurken. Die Stachelhäuter haben zwei Gefäßsysteme. Ein wesentliches Merkmal ist ihr Ambulacralsystem, manchmal auch als Wassergefäßsystem bezeichnet. Es enthält jedoch kein Meerwasser, sondern eine Körperflüssigkeit. Es hat einen ringförmigen Zentralkanal, von dem je ein Radiärkanal in die fünf Körperstrahlen abgeht. Dieses Gefäßsystem ist eine Neubildung der Stachelhäuter und entspricht nicht dem Blutgefäßsystem der anderen Tiergruppen. Daneben gibt es das Blutgefäßsystem, das bei den Stachelhäutern auch als Blutlakunensystem oder Haemallakunensystem bezeichnet wird. Endothel kommt nicht vor, manche Gefäßwände enthalten Myofilamente. Die Gefäße enthalten eine hohe Konzentration von Glykoproteinpartikeln und Blutzellen, sogenannte Amöbocyten und Coelomocyten. Der größere Anteil dieser Zellen befindet sich jedoch in Coelomräumen und im Bindegewebe. Einige Blutzellen sind phagozytierend, andere transportieren Sauerstoff. Bei den Seegurken kommen scheibenartige, hämoglobinhaltige Zellen vor. Unklar ist, ob, wie stark, in welche Richtung und wie regelmäßig das Blut in den Gefäßen fließt. Mindestens teilweise fließt es wohl gar nicht oder wenig. Wesentliche Teile des Blutgefäßsystems sind ein „oraler Gefäßring“, der um den Mund herum läuft (im Tier unten oder vorne) und ein „aboraler Gefäßring“, die Entsprechung am anderen Körperende (siehe Abbildung). Beide sind durch das Axialorgan verbunden, eine Struktur, die viele Blutgefäße und Blutzellen enthält und durch letztere häufig dunkel gefärbt ist. Ihm angelagert ist die Dorsalblase, die pulsiert und vermutlich die Funktion eines Herzens übernimmt. Sie ist auch mit den Gefäßen des Darms und der Gonaden verbunden. Das Axialorgan hat auch Ausscheidungsfunktionen und ist vermutlich den Glomeruli der Wirbeltierniere homolog. Chordatiere (Chordata) Urchordaten Die Manteltiere (Tunicata) und die Schädellosen (Lanzettfischchen), die wie die Wirbeltiere zu den Chordatieren gehören, haben ebenfalls ein offenes Kreislaufsystem. Ein einfaches, röhrenförmiges Herz geht in zahlreiche wohldefinierte Kanäle über, die aber keine Gefäßwände haben, und daher nicht als Blutgefäße angesehen werden. Bei manchen Manteltieren, zum Beispiel Ciona, kann sich die Richtung der peristaltischen Kontraktionen des Herzens umkehren, und somit auch die Flussrichtung. Bei den Lanzettfischchen ist der Kreislauf weitgehend geschlossen, die Gefäße münden nur in wenige Lakunen. Das Lanzettfischchen Branchiostoma lanceolatum hat keine Blutzellen und kein Hämoglobin oder andere Sauerstofftransporter. Ein zentrales Herz gibt es nicht, das Blut wird durch mehrere kontraktile Blutgefäße angetrieben. Am Bauch fließt es nach vorne und am Rücken zurück. Rundmäuler – kieferlose Fische (Cyclostomata, Agnatha) Auch eine Gruppe von Wirbeltieren hat ein teilweise offenes Kreislaufsystem, und zwar die Rundmäuler, zu denen die kieferlosen Fische gehören, Neunaugen und Schleimaale. Vom systemischen Herzen kommend verbleibt das Blut in manchen Geweben wie bei anderen Wirbeltieren in Blutgefäßen, aber in anderen Geweben tritt es in offene Blutlakunen über. Die Schleimaale haben in manchen Bereichen des Körpers noch zusätzliche, akzessorische Herzen. Wie bei den anderen Wirbeltieren sind die Blutgefäße mit Endothel ausgekleidet. Von allen Wirbeltieren haben Schleimaale den niedrigsten arteriellen Blutdruck (6–10 mmHg) und das höchste relative Blutvolumen (18 % der Körpermasse). Schleimaale haben mehrere Sinuse, die mit den Blutgefäßen in Verbindung stehen. Der größte liegt am Rücken und zieht sich von der Schnauze bis zur Schwanzflosse. Er liegt zwischen Skelettmuskulatur und Haut. Das Sinussystem kann bis zu 30 % des gesamten Blutvolumens aufnehmen. Vermutlich kann durch Kontraktion von Skelettmuskeln ein aktiver Übertritt in die Blutgefäße erzeugt werden. Das Herz der Schleimaale hat einen Vorhof und eine Kammer, aber keine Koronargefäße für die eigene Sauerstoffversorgung. Stattdessen durchströmt das Blut im Herzen Kanäle und Lakunen in der Herzwand. Die Herzschlagfrequenz liegt bei 20–30 Schlägen pro Minute. Das Herzzeitvolumen erreicht mit 8–9 ml pro Minute und Kilogramm Körpergewicht Werte, die sich denen der echten Knochenfische annähern. Das Herz hat einen Frank-Starling-Mechanismus, wird aber nicht über regulatorische Nerven beeinflusst, wie das bei den anderen Wirbeltieren der Fall ist. Ein zweites gekammertes Herz, das ebenfalls aus Herzmuskelzellen aufgebaut ist, transportiert Blut vom Darm in die Portalvene der Leber. Es schlägt in einem anderen Rhythmus als das systemische Herz. Das Kreislaufsystem der Neunaugen ähnelt jenem der kiefertragenden Fische: Blut gelangt vom Herzventrikel in die Aorta ventralis von dort in die Kiemenarterien, weiter in die Aorta dorsalis, in der es Richtung Schwanz fließt. Von dieser gehen Arteriolen und schließlich Kapillaren ab, durch Venen geschieht der Rückfluss zum Herzen. Gemeinsamkeiten der kiefertragenden Wirbeltiere (Gnathostomata) Kiefertragende Wirbeltiere (Kiefermäuler) besitzen einen geschlossenen Kreislauf. Hier fließt das Blut durch ein kontinuierliches Netz aus Blutgefäßen, das alle Organe erreicht. Die Kapillar-Endothelien der Wirbeltiere können kontinuierlich, fenestriert oder diskontinuierlich sein. Diese Kreisläufe sind in den folgenden Abschnitten beschrieben. Fische Das Herz-Kreislauf-System der Fische ist unter den kiefertragenden Wirbeltieren das am einfachsten gebaute. Das Herz besteht aus vier Räumen, zwei einleitenden dünnwandigen, Sinus venosus und Vorhof, einer dickwandigen, muskulösen Kammer und dem abschließenden Bulbus oder Conus arteriosus. Zwischen Vorhof und Kammer befindet sich eine Klappe, die einen Rückstrom des Blutes verhindert. Ebenso wie das Herz ist auch der Blutkreislauf selbst relativ einfach strukturiert. Das sauerstoffarme Blut wird aus dem Herzen in die Kiemen gepumpt, in denen es mit Sauerstoff aus dem Wasser angereichert wird. Anschließend wird das sauerstoffreiche Blut in den Körper weiter transportiert. In den Kapillaren gibt es den Sauerstoff ab und nimmt dafür Kohlendioxid auf. Neben dem Herz nimmt auch die Muskulatur der Kiemen am Pumpvorgang teil. Der Nachteil dieser Konstruktion ist, dass der Blutdruck im Kapillarnetz des Kiemenkreislaufs stark abfällt, der Blutstrom durch den Körper also relativ langsam ist. Das Blutvolumen macht weniger als ein Zehntel des Körpergewichts aus. Der Sauerstoffgehalt im Blut der Fische liegt weit unter dem des menschlichen Blutes. Bei den meisten Fischen sind Herz und Kiemen wie beschrieben in Serie geschaltet. Eine Vermischung von sauerstoffarmen mit sauerstoffreichem Blut findet nicht statt. Der Australische Lungenfisch besitzt wie die Landwirbeltiere einen separaten Lungenkreislauf. Amphibien Doppelter Kreislauf Bei den Amphibien (Lurchen) besteht das Herz aus einer Kammer und zwei Vorhöfen. Der Gasaustausch findet sowohl in der Lunge als auch in der Haut statt. Die beiden Kreisläufe der Amphibien werden daher als Lungen-Haut-Kreislauf und Körperkreislauf bezeichnet. Da sie, im Gegensatz zu Fischen, nicht hintereinander geschaltet sind, spricht man von einem doppelten Kreislauf. Der linke Vorhof empfängt mit Sauerstoff angereichertes Blut aus der Lunge, der rechte Vorhof eine Mischung von sauerstoffarmem Blut aus dem Körper und sauerstoffreichem Blut aus der Haut. Beide Vorhöfe pumpen das Blut in die einheitliche Kammer. Diese Kammer besitzt einen Ausflusstrakt (Truncus oder Conus arteriosus), der sich in jeweils einen Stamm für die beiden Kreisläufe teilt. Eine leistenartige Erhebung im Ventrikel und im Lumen des Ausflusstrakts sorgt dafür, dass das Blut relativ „sortenrein“ durch das Herz fließt, das Blut aus den beiden Vorhöfen sich also nur wenig vermischt. Das sauerstoffreichere Blut wird zum überwiegenden Teil in die Halsschlagadern und die Aorta gepumpt, während das sauerstoffärmere Blut in die Lungen-Haut-Arterie gelenkt wird. Wie Reptilien und Vögel besitzen die Amphibien bereits einen Nierenpfortaderkreislauf. Entwicklung Amphibien haben ursprünglich vier paarige Kiemenbogenarterien, die zu beiden Seiten aus der Aorta entspringen. Bei ausgewachsenen Lurchen entwickelt sich die erste zur Arteria carotis, die den Kopf versorgt. Die Arterien des zweiten Bogens vereinigen sich zur Aorta descendens, der absteigenden Aorta. Die dritte Kiemenbogenarterie bildet sich zurück, und aus den vierten entwickelt sich der paarige Aortenbogen. Reptilien Die meisten zu den Reptilien zusammengefassten Taxa besitzen ein Herz, das wie das der Amphibien aus zwei Vorhöfen und einer Kammer besteht. Diese ist jedoch nahezu vollständig durch eine Scheidewand in zwei Hälften geteilt. Aus dem Körper strömt sauerstoffarmes Blut in den rechten Vorhof, aus den Lungen mit Sauerstoff angereichertes Blut fließt in den linken Vorhof. Beide Vorhöfe pumpen das Blut in die Herzkammer, aus der drei Schlagadern abgehen. In der rechten fließt sauerstoffarmes Blut zur Lunge, in der linken sauerstoffreiches Blut zum Kopf und in den Körper. Da die Trennung der Herzkammer jedoch nicht vollständig ist, kommt es zur Bildung von Mischblut (circa 10 bis 40 Prozent). Dieses fließt durch die mittlere Schlagader in den Körper. Eine Besonderheit liegt bei den Krokodilen vor, bei denen zwei Herzkammern komplett getrennt sind. Aber zwischen der linken und der rechten Schlagader besteht mit dem Foramen Panizzae ein Verbindungsfenster. Die linke Aorta entspringt an der rechten Herzkammer, die rechte an der linken. Durch das Fenster vermischt sich das sauerstoffreiche Blut der rechten Kammer mit dem sauerstoffarmen der linken Kammer im Bereich der rechten Aorta, so dass Mischblut in den Körperkreislauf (den peripheren Kreislauf) geführt wird und dabei vor allem in die peripheren Bereiche des Körpers gelangt. Zugleich fördert die linke Aorta sauerstoffreiches Blut in den Körper und vor allem in den Kopf des Tieres. Beim Tauchvorgang schließt sich das Foramen Panizzae vollständig, so dass die rechte Aorta nur noch mit sauerstoffarmem Blut versorgt wird, der Kopf jedoch weiterhin sauerstoffreiches Blut bekommt. Auch bei den Dinosauriern lag vermutlich eine vollständige Trennung der Herzkammern vor. Dies ergibt sich aufgrund ihrer Position im Stammbaum zwischen den Krokodilen und den Vögeln, die beide eine durchgängige Trennwand im Herzen besitzen. Blutkreislauf der Vögel und Säugetiere Das Herz der Vögel und Säugetiere, also auch das des Menschen, ist vollständig in zwei Hälften geteilt, obwohl es sich um ein Organ handelt. Jede dieser Hälften besteht aus einem Vorhof und einer Kammer, die jeweils als Einheit arbeiten. Insgesamt gibt es also vier Räume. Während die rechte Herzhälfte das Blut durch den (erstmals im 13. Jahrhundert von Ibn an-Nafīs erwähnten) Lungenkreislauf pumpt, der das Blut mit Sauerstoff anreichert, pumpt die linke Herzhälfte das Blut durch den Körperkreislauf, um die Organe mit Nährstoffen und Sauerstoff zu versorgen. Diese beiden Kreisläufe sind in Reihe geschaltet, so dass das gesamte Blut durch die Lunge fließen muss. Die Organe im Körperkreislauf werden parallel durchströmt. Ein wichtiger Vorteil eines eigenen, getrennten Lungenkreislaufs ist, dass in diesem ein deutlich geringer Druck herrschen kann als im Körperkreislauf. Bei einem gleich hohen Druck wie im Körperkreislauf würde in der Lunge vermehrt Flüssigkeit aus dem Blut in die Luft übertreten und dadurch den Gasaustausch behindern. Außerdem fungiert die Lunge mit ihren Kapillaren als Filter gegen Blutgerinnsel (Thromben) u. ä., bevor das Blut von der linken Herzseite unter anderem zum Gehirn gepumpt wird. Die Lunge hat dazu thrombenlösende Eigenschaften. Im Lungenkreislauf verlässt das Blut die rechte Herzkammer über den Lungenstamm (lat. Truncus pulmonalis) in Richtung der Lungen, wo es mit Sauerstoff angereichert wird. Dann wird es von der Lungenvene (lat. Vena pulmonalis) in den linken Herzvorhof gepumpt. Vom linken Vorhof gelangt es in die linke Kammer, von wo aus es durch die Aorta in den Körperkreislauf gelangt. Während bei den Säugern die Aorta auf der linken Körperseite verläuft, liegt sie bei Vögeln auf der rechten. Nach der Versorgung der Organe kehrt das nun mit Kohlenstoffdioxid angereicherte Blut durch die vordere (beim Menschen: obere) und die hintere (beziehungsweise untere) Hohlvene in den rechten Vorhof zurück. Wenn das Blut vom rechten Vorhof in die rechte Kammer kommt, beginnt der Kreislauf von neuem. Eine Besonderheit stellt das Pfortadersystem der Leber dar. Blut, das von den Organen des Verdauungstrakts kommt, wird in der Pfortader gesammelt und gelangt in die Leber, wo die aufgenommenen Nährstoffe verwertet werden. Das Blut strömt dadurch nacheinander durch zwei Kapillarsysteme, bevor es zum Herzen zurückkommt. Auch die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) hat ein Pfortadersystem. Vögel haben wie Reptilien zudem eine Nierenpfortader. Entwicklung der Kreislaufsysteme Phylogenese: Gemeinsamer evolutionärer Ursprung aller Kreislaufsysteme Kreislaufsysteme finden sich in der Evolution erstmals bei den Bilateria, also Tieren, die zwei klar definierbare mehr oder weniger spiegelbildliche Hälften (rechts und links) haben. Die Bilateria umfassen alle Tiergruppen von Würmern bis zu den Insekten und Wirbeltieren, nicht aber die Schwämme und Nesseltiere. Der letzte gemeinsame Vorfahr all dieser Gruppen lebte vor etwa 600 bis 700 Millionen Jahren und es wird angenommen, dass es sich um ein segmentiertes, bilaterales Tier handelte. Ein erstes Blutgefäßsystem hat sich womöglich schon zu dieser Zeit entwickelt, möglicherweise um die Trennwände zwischen den Segmenten zu überwinden. Der Fluss wäre durch sich peristaltisch kontrahierende Gefäße in Gang gesetzt worden, vielleicht ähnlich den Rückengefäßen der heutigen Ringelwürmer. Blut wäre vermutlich durch Spalten in der extrazellulären Matrix gesickert, ähnlich einem primitiven geschlossenen Kreislaufsystem. Dieses Modell würde die Homologie aller Kreislaufsysteme im Tierreich bedeuten, die sich alle von diesem ursprünglichen Typus ausgehend entwickelt hätten und demnach einen gemeinsamen phylogenetischen Ursprung hätten. In manchen Tierstämmen hätte sich das Kreislaufsystem vollständig zurück gebildet, etwa bei den Plattwürmern und Fadenwürmern. In anderen Abstammungslinien hätte es sich zu einem offenen Kreislaufsystem entwickelt. Bei einem frühen Kopffüßer wiederum wandelte sich das offene zurück zu einem geschlossenen Kreislaufsystem. Energieverluste bei der Strömung durch Rückfluss und dergleichen führten zu einem Selektionsdruck Richtung der Entwicklung gekammerter Herzen (etwa bei Weichtieren und Wirbeltieren), bei denen diese Problematik vermieden wird. Der Befund, dass viele Gene und Signalwege eine Rolle bei der Entwicklung des Herz-Kreislaufsystems sowohl bei der Taufliege Drosophila melanogaster als auch bei Wirbeltieren spielen, hat ebenfalls Spekulationen gestützt, dass es einen gemeinsamen Ursprung aller Blutkreislaufsysteme gäbe, die auf einen gemeinsamen bilateralen Vorfahren zurückgehen. Zu den gemeinsamen Signalmolekülen gehören Knochenmorphogenetische Proteine, Fibroblasten-Wachstumsfaktor, Wnt und Notch. Beispielsweise löst der Notch-Signalweg in Hämangioblasten bei Wirbeltieren und bei Drosophila die Bildung von Blutstammzellen aus. Ontogenese: Kreislaufsysteme werden vom Mesoderm gebildet Die meisten Coelomata (Tiere mit Coelom) haben ein Gefäßsystem. Dessen Wände entstehen während der Entwicklung des Individuums, der Ontogenese, aus dem Mesothel, bisweilen auch Peritoneum (Bauchfell) genannt. Das Mesothel ist die mesodermale Auskleidung der Körperhöhle (des Coeloms), also eine epitheliale Zellschicht. In Gefäßwänden finden sich kontraktile Myofibrillen, die in manchen Fällen den Blutfluss auslösen. Bei Wirbeltieren und einigen Wirbellosen sind die Blutgefäße mit nicht-muskulärem Endothel ausgekleidet, das von einer Muskelzellschicht umgeben ist. Zwar haben bei den Gliederfüßern und einigen anderen Urmündern (Protostomia) die erwachsenen Tiere kein geschlossenes Coelom, Teile des embryonal angelegten Mesothels überdauern jedoch und bilden epithelial ausgekleidete Gefäßräume. Verglichen mit der oben beschriebenen Situation beim ursprünglichen bilateralen Tier ging ein kontinuierliches Mesothel bei der Entwicklung der Arthropoden in den erwachsenen Tieren verloren. Mesotheliale Zellen bildeten jedoch weiterhin das Röhrenherz am Rücken und die anschließende Aorta. Bei den Wirbeltieren ist die ontogenetische Entwicklung komplexer. Aus dem embryonalen Mesothel entstehen mehrere Gruppen von Vorläuferzellen, aus denen sich die verschiedenen Gewebeschichten des Herz-Kreislauf-Systems entwickeln, darunter Endothel/Endokard, Myokard und Blutzellen. Diesen Überlegungen zufolge wäre das Drosophila-Herz mit dem Myokard der Wirbeltiere genauso verwandt wie mit dem Endokard und dem Endothel in den Blutgefäßen im Allgemeinen. Verwandtschaft von Blutgefäßen, Blutzellen und Ausscheidungsorganen Embryologische und molekulare Hinweise deuten darauf hin, dass Gefäßwandzellen und Blutzellen entwicklungsbiologisch eng miteinander verwandt sind und sich beide aus Hämangioblasten entwickeln. Auch Nephrocyten (Podozyten) sind wohl eng mit den genannten Zelltypen verwandt. Die entsprechenden Systeme für Blutgefäße, Blutzellen und Ausscheidung gehen alle auf das dritte Keimblatt, das Mesoderm zurück, welches bei den frühen Bilateria oder Triploblasten zum ersten Mal auftritt. Einige heutige Tierstämme der Bilateria haben kein Coelom (Acoelomata, die Plattwürmer) oder kein echtes Coelom (Pseudocoelomata, Fadenwürmer und andere) und kein Gefäßsystem. Auch sie haben jedoch spezielle Ausscheidungsorgane, die Protonephridien. Diese scheinen daher die ältesten epithelialen Gewebe zu sein, die bei den frühen Bilateria aus mesodermalem Parenchym gebildet wurden. Protonephridien bilden ein verzweigtes Röhrensystem, das innen von bewimpertem Epithel und Nephrocyten (hier auch Cyrtocyten genannt) ausgekleidet wird und das entweder nach außen oder in den Verdauungstrakt mündet. Durch den Wimpernschlag wird Flüssigkeit abtransportiert und dadurch ein Unterdruck erzeugt, der weitere Flüssigkeit aus der Körperhöhle ansaugt. Aufbau der ersten Kreislaufsysteme Die Coelomata haben in der Regel ein gut ausgebildetes Kreislaufsystem. Die namengebende Körperhöhle, das Coelom, ist meist in mehrere Abschnitte unterteilt (bei Wirbeltieren etwa der Peritonealraum, der Pleuraraum und der Herzbeutel.) Bei einigen zugehörigen wirbellosen Gruppen werden die Gefäße in Spalten zwischen den mesothelialen Trennwänden gebildet, etwa bei Ringelwürmern, Kiemenlochtieren und den Lanzettfischchen. Möglicherweise ist dies die ursprüngliche Bauweise, wie bei den Ringelwürmern, bei denen die beiden Coelom-Räume, die jeweils die linke und rechte Hälfte eines Segmentes um den Darm herum auskleiden, sich am Rücken und Bauch treffen. Auch die Wände der Räume zwischen benachbarten Segmenten treffen sich, zwischen den beiden Mesothelien bleiben jedoch offene Bereiche, die sich verbinden, um Blutgefäße zu bilden. Daraus ergibt sich, dass im Gegensatz zu anderen Röhren oder Öffnungen im Körper, das Innere der primitiven Blutgefäße von der basalen Seite des umgebenden Epithels umgeben wird, und nicht von der apikalen, „äußeren“ Seite. Tatsächlich lässt sich bei den wirbellosen Tiergruppen eine dem Lumen zugewandte, ausgeprägte Basalmembran nachweisen, das Kennzeichen der basalen Seite eines Epithels. Der Ursprung des Kreislaufsystems wird also bei einem frühen bilateralen Tier vermutet, bei dem das Kreislaufsystem gegenwärtigen Vielborstern unter den Ringelwürmern ähnelte. Hier entwickelte sich eine Gruppe mesodermaler Zellen in ein Mesothel, das das Coelom auskleidete und Gefäße bildete. Mesotheliale Zellen differenzierten sich dann zu kontraktilen Gefäßzellen, Nephrozyten oder zu Blutvorläuferzellen. Derartige mesotheliale Zellen wären dann eine Art Vorläufer heutiger Hämangioblasten. Auch das Kreislaufsystem der Lanzettfischchen ähnelt dem des angenommenen ursprünglichen bilateralen Tiers. Wirbeltiere Das Kreislaufsystem der Wirbeltiere unterscheidet sich davon. Die Gefäße sind von Endothel ausgekleidet und von Muskelzellen umgeben. Im Gegensatz zu den wirbellosen Coelomata trägt das Mesothel bei Wirbeltieren nicht zu den Gefäßen in den ausgewachsenen Tieren bei. Während der Embryogenese lässt sich die Verwandtschaft jedoch noch beobachten. Im frühen Embryo bildet das seitliche Mesoderm das Mesothel, das das Coelom umgibt. Das innere Blatt des Mesothels, die Splanchnopleura, bildet die Vorgängerzellen, die zu Endothel und Blutzellen werden (siehe AGM-Region) und auch die glatten Muskelzellen der Blutgefäßwände. Direkt neben der Splanchnopleura liegt das intermediäre Mesoderm, aus dem sich das Ausscheidungssystem entwickelt. Beim Zebrabärbling Danio rerio überlappen beide Regionen sogar. Die Vorläuferzellen der Blutgefäße und Blutzellen migrieren von der Splanchnopleura um die ersten Blutgefäße zu bilden. Endothelzellen beginnen mit der Bildung von Herz, Aorta, den großen Venen, sowie Verbindungen zwischen Aorta und Venen. Anschließend lagern sich mesodermale Zellen an, um die Muskelschicht aufzubauen. Blutstammzellen sondern sich im frühen Embryo vom Endothel der Aorta und anderer Gefäße ab. Weitere Blutstammzellen entstehen zumindest bei Säugetieren vermutlich im Dottersack und der Plazenta. Literatur Uwe Gille: Herz-Kreislauf- und Abwehrsystem, Angiologia. In: Franz-Viktor Salomon u. a. (Hrsg.): Anatomie für die Tiermedizin. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Enke-Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8304-1075-1, S. 404–463. Rita Monahan-Earley, Ann M. Dvorak, William C. Aird: Evolutionary origins of the blood vascular system and endothelium. In: Journal of Thrombosis and Haemostasis. Band 11, Supplement 1, Juni 2013, S. 46–66, , . Weblinks Vergleich der verschiedenen Blutkreisläufe der Wirbeltiere Artikel zur Bedeutung des Zebrabärblings (Danio rerio) und verschiedener transgener Linien bei der Erforschung des kardiovaskulären Systems der Vertebraten Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Maria%20I.%20%28England%29
Maria I. (England)
Maria I. ( oder ), auch Maria Tudor, Maria die Katholische oder Maria die Blutige (* 18. Februar 1516 in Greenwich; † 17. November 1558 im St James’s Palace), war von 1553 bis 1558 Königin von England und Irland und der vierte Monarch des Hauses Tudor. Sie war die Tochter des Königs Heinrich VIII. und seiner ersten Frau Katharina von Aragon. Als ihr Vater die Ehe vom englischen Klerus für nichtig erklären ließ und Anne Boleyn heiratete, wurde Maria dauerhaft von ihrer Mutter getrennt, zum königlichen Bastard erklärt und von der Thronfolge ausgeschlossen. Aufgrund ihrer Weigerung, Heinrich als Oberhaupt der Kirche von England und sich selbst als illegitime Tochter anzuerkennen, fiel Maria jahrelang in Ungnade und entging nur durch ihre letztliche Unterwerfung einer Verurteilung als Verräterin. Heinrich nahm sie 1544 wieder in die Thronfolge auf, legitimierte sie jedoch nicht. Nach dem frühen Tod ihres jüngeren Halbbruders König Eduard VI. setzte sich Maria gegen ihre protestantische Großnichte und Rivalin Jane Grey durch und wurde zur ersten Königin Englands aus eigenem Recht gekrönt, womit erstmals in der englischen Geschichte eine Frau die uneingeschränkten Rechte eines Souveräns ausübte, abgesehen von der umstrittenen Herrschaft der Kaiserwitwe Matilda als Herrin von England. Marias Herrschaft war geprägt von großen konfessionellen Spannungen, da Maria versuchte, den Katholizismus wieder als Staatsreligion zu etablieren. Unter ihrer Herrschaft wurden fast dreihundert Protestanten hingerichtet. Die Nachwelt bezeichnete sie daher, je nach Standpunkt, mit den Beinamen „die Katholische“ oder „die Blutige“ (englisch ). Marias protestantische Halbschwester und Nachfolgerin Elisabeth I. machte Marias religionspolitische Maßnahmen wieder rückgängig. Leben Frühe Jahre Kindheit und Jugend Maria Tudor wurde am 18. Februar 1516 als fünftes Kind König Heinrichs VIII. und seiner ersten Frau Katharina von Aragon im Palace of Placentia bei Greenwich geboren. Drei Tage nach ihrer Geburt wurde sie in der nahen Church of the Observant Friars getauft, gehalten wurde sie dabei von einer engen Freundin der späteren Königin Anne, Elizabeth Howard, der Ehefrau des Thomas Howard, 3. Duke of Norfolk. Ihre Taufpaten wurden unter anderem der einflussreiche Kardinal Wolsey und ihre Verwandten Margaret Pole, 8. Countess of Salisbury und Katherine of York. Ihre Namenspatronin war ihre Tante Mary Tudor. Anders als die übrigen Kinder Katharinas überstand Maria die ersten Lebensmonate. Der venezianische Botschafter Sebastian Giustiniani gratulierte dem König „zur Geburt seiner Tochter und dem Wohlbefinden ihrer heiteren Mutter, der Königin“, auch wenn es „noch erfreulicher gewesen wäre, wenn das Kind ein Sohn gewesen wäre.“ Heinrich ließ sich jedoch nicht entmutigen. „Wir sind beide jung; war es diesmal eine Tochter, so werden mit Gottes Gnade Söhne folgen.“ Der König machte keinen Hehl aus seiner Zuneigung zu seiner Tochter und erzählte Giustiniani stolz: „Bei Gott, dieses Kind weint niemals.“ In ihren ersten beiden Lebensjahren wurde Maria, wie es für königliche Kinder üblich war, von Gouvernanten und Ammen versorgt. Sie stand unter der Aufsicht einer früheren Hofdame der Königin, Lady Margaret Bryan, die später auch für die Erziehung von Marias jüngeren Halbgeschwistern Elisabeth und Eduard verantwortlich war. Ab dem Jahr 1520 fiel diese Rolle Margaret Pole zu. Trotz ihres zarten Alters war Maria jedoch bereits eine wichtige Partie auf dem Heiratsmarkt. Sie war bislang die einzige Erbin, doch hoffte Heinrich weiterhin auf einen Sohn als Thronfolger. Obwohl England Frauen nicht prinzipiell von der Thronfolge ausschloss, war die Herrschaft der bislang einzigen Regentin Matilda von Unruhen und Krieg geprägt gewesen. Eine gekrönte Königin aus eigenem Recht hatte es in England bislang nicht gegeben und der Gedanke warf Fragen auf, ob der Adel sie akzeptieren würde, ob sie einen ausländischen Monarchen heiraten sollte und inwieweit eine solche Ehe England politisch abhängig machen würde. Angesichts dieser Probleme zögerte Heinrich, Maria offiziell zur Thronfolgerin zu ernennen. Seine Tochter sollte stattdessen eine Ehe eingehen, um die politischen Bündnisse ihres Vaters zu festigen. So wurde sie im Alter von zwei Jahren dem Dauphin Franz versprochen, dem Sohn des französischen Königs Franz I. Zu diesem Zweck fand eine Verlobung per Stellvertreter statt, in deren Verlauf die kleine Prinzessin Guillaume Bonnivet, den Stellvertreter des Dauphins, gefragt haben soll: „Seid Ihr der Dauphin? Wenn ja, möchte ich Euch küssen.“ Nach drei Jahren wurde die Verbindung jedoch wieder gelöst. Schon im Jahr 1522 schmiedete Heinrich mit dem Vertrag von Windsor ein zweites Ehebündnis. Marias neuer Ehemann in spe war ihr Cousin ersten Grades und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Karl V. Katharina unterstützte diese Verlobung nach Kräften, indem sie im März 1522 dem spanischen Gesandten die Fähigkeiten ihrer Tochter vorführte. Dieser schrieb Karl V. voller Bewunderung, dass Maria die Eleganz, Fähigkeiten und Selbstkontrolle einer Zwanzigjährigen besitze. Von diesem Zeitpunkt an trug Maria häufig eine Brosche mit der Aufschrift . Dennoch musste mit der Heirat bis zu Marias zwölftem Lebensjahr, dem damaligen Mindestalter für Eheschließungen, gewartet werden. Maria war erst fünf Jahre alt, Karl bereits einundzwanzig. Auch dieses Eheversprechen verlor wenige Jahre später seine Bedeutung, als Karl stattdessen die Prinzessin Isabella von Portugal heiratete. Als Prinzessin genoss Maria eine fundierte Ausbildung unter der Leitung ihrer Erzieherin Margaret Pole. Neben ihrer Muttersprache Englisch lernte sie Latein, Französisch und Italienisch. Außerdem wurde die junge Maria in Musik unterrichtet und durch Gelehrte wie Erasmus von Rotterdam mit den Wissenschaften vertraut gemacht. Großen Anteil an ihrer frühen Erziehung hatte ihre Mutter, die ihre Studien regelmäßig überprüfte und der es gelang, den spanischen Humanisten Juan Luis Vives an den englischen Hof zu holen. Auf Katharinas Befehl schrieb Vives die Werke De institutione feminae christianae und De ratione studii puerilis, die ersten Lehrschriften für zukünftige Königinnen. Auf seine Anregung hin las Maria die Werke von Cicero, Plutarch, Seneca und Platon sowie Erasmus’ Institutio Principis Christiani und Utopia von Thomas Morus. Der König gewährte Maria 1525 das Privileg eines eigenen Hofstaats in Ludlow Castle in den Welsh Marches, das als Sitz des Council of Wales and Marches das Machtzentrum des Fürstentums Wales sowie oft als Sitz des Prince of Wales, des Thronfolgers diente. Sie wurde damit also wie ein Thronfolger behandelt. Allerdings wurde sie nicht zur Princess of Wales ernannt, wie eigentlich üblich. Ihr Vater erhob gleichzeitig seinen Bastardsohn Henry Fitzroy zum Duke of Richmond und Somerset, überhäufte ihn mit königlichen Ämtern und schickte ihn an die nördlichen Grenzen des Reiches, wie einen Prinzen. Hoffnung auf einen legitimen männlichen Thronfolger hatte der König nicht mehr. Die Königin war äußerst verärgert über die Erhebung Fitzroys und protestierte, „kein Bastard sollte über die Tochter einer Königin erhoben werden.“ Stimmen wurden laut, der König erwäge vielleicht, Fitzroy statt Maria zum Thronfolger zu machen. Der König verhielt sich aber zweideutig und traf zunächst keine Entscheidung betreffs der Thronfolge. Im Jahr 1526 wurde auf Anregung von Kardinal Wolsey den Franzosen der Vorschlag unterbreitet, die Prinzessin nicht mit dem Dauphin zu verheiraten, sondern mit dessen Vater, dem König Franz I. von Frankreich. Eine solche Verbindung sollte in einer Allianz beider Länder münden. Da Franz bereits Söhne aus erster Ehe hatte, so der Vorschlag, würden die Thronfolgen von England und Frankreich getrennt bleiben und, falls Heinrich ohne weitere Nachkommen blieb, Marias Kinder den englischen Thron erben. Ein neues Eheversprechen wurde unterzeichnet, das eine Heirat Marias mit Franz I. oder dessen zweitem Sohn Heinrich, dem Herzog von Orléans, vorsah. Zwei Wochen lang hielten sich französische Gesandte in England auf, denen die Prinzessin vorgeführt wurde und die sich von ihr beeindruckt zeigten. Allerdings gaben sie zu bedenken, dass sie „so dünn, zart und klein ist, dass es unmöglich ist, sie innerhalb der nächsten drei Jahre zu verheiraten“. Verlust der Thronfolge Ab dem Jahr 1527 strebte Heinrich VIII. eine kirchliche Erklärung an, die Ehe mit Katharina für nichtig erklären zu lassen. Der König selbst behauptete, der Bischof von Orleans habe ihm die Frage gestellt, ob seine Ehe mit Katharina gültig sei, da Katharina vorher mit Heinrichs Bruder Arthur Tudor verheiratet gewesen war. Im Fall der Nichtigkeit der Ehe wäre auch Maria für illegitim erklärt worden und hätte als keine angemessene Partie für einen französischen Prinzen gegolten. Heinrich hoffte, Katharinas Hofdame Anne Boleyn heiraten und mit ihr Söhne haben zu können. Katharina weigerte sich standhaft, Heinrichs Plänen zuzustimmen. Trotz der ehelichen Schwierigkeiten verbrachten Heinrich und Katharina noch immer gemeinsam Zeit mit ihrer Tochter, unter anderem im Sommer 1528, zu Weihnachten 1530 und im März 1531. Es zeichnete sich jedoch früh ab, dass Anne Boleyn Maria misstraute. Als der König Maria im Juli 1530 besuchte, sandte Anne Boleyn Diener mit ihm, um zu erfahren, was er mit seiner Tochter besprach. Der spanische Botschafter Eustace Chapuys berichtete Karl V. zudem, dass der König überlegte, Maria mit Annes Verwandten, den Howards, zu verheiraten. Obwohl Papst Clemens VII. die Nichtigkeitserklärung der Ehe strikt ablehnte, trennte sich Heinrich VIII. im Juli 1531 von Katharina. Er erkannte in der Folge den Primat des Papstes nicht mehr an und erklärte sich mit Zustimmung des Parlaments mittels der Suprematsakte selbst zum Oberhaupt der Church of England, die sich dadurch letztendlich zur anglikanischen Kirche wandeln sollte. Im Januar 1533 heiratete der König seine mittlerweile schwangere Geliebte Anne Boleyn. Da ihr Kind nicht illegitim zur Welt kommen sollte, benötigte Heinrich ein kirchliches Dekret über die Nichtigkeit seiner ersten Ehe. Der Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer, stellte nach einer Anhörung am 23. Mai die Ungültigkeit der Ehe zwischen Heinrich VIII. und Katharina von Aragon fest. Diese Erklärung sollte Maria zur unversöhnlichen Feindin Cranmers werden lassen. Nachdem seine erste Ehe für nichtig erklärt worden war, verbot Heinrich Maria und Katharina jeglichen Kontakt zueinander. Dennoch schrieben sich die beiden weiterhin heimlich Briefe, die von treuen Dienstboten oder von Chapuys befördert wurden. In diesen Briefen beschwor Katharina ihre Tochter, dem König in allem gehorsam zu sein, solange sie sich dabei nicht an Gott und ihrem eigenen Gewissen versündigte. Ende April erfuhr Maria erstmals von Heinrichs zweiter Heirat. Nachdem Anne Boleyn im Mai zur neuen Königin von England gekrönt worden war, erkannte Heinrich VIII. Katharina nicht mehr als Königin an und befahl Maria, ihre Juwelen abzugeben. Chapuys hörte zudem, wie Anne Boleyn öffentlich prahlte, sie werde Maria zu ihrer Dienerin machen. Als im September Anne Boleyn statt des erwarteten Jungen ein Mädchen, Elisabeth, zur Welt brachte, erkannte Heinrich Maria nicht mehr als legitime Tochter an. Sie verlor folglich ihren Status als Thronfolgerin und trug als illegitime Tochter des Königs nur noch den Titel einer Lady. Maria weigerte sich jedoch, ihrer Halbschwester den Titel zuzugestehen, der rechtmäßig ihr selbst zustand. Wie ihre Mutter und die römisch-katholische Kirche betrachtete sie die Ehe zwischen Katharina und Heinrich als gültig geschlossen und sich selbst daher als legitime Tochter Heinrichs. „Wenn ich dem Gegenteil zustimmte, beleidigte ich Gott“, erklärte sie und nannte sich „in allen anderen Dingen Eure gehorsame Tochter.“ Solange sich Katharina und Maria ihm widersetzten, sah Heinrich keine Möglichkeit, den konservativen Adel und die Königshäuser Europas von der Rechtmäßigkeit seiner Ehe mit Anne Boleyn zu überzeugen. Aus diesem Grund ging er nun härter gegen seine Tochter vor. Er löste ihren Haushalt auf und sandte sie nach Hatfield in den Haushalt ihrer neugeborenen Halbschwester, der sie als Hofdame dienen sollte. Maria unterstand nun direkt Lady Shelton, einer Tante Anne Boleyns, und wurde von ihren alten Freunden getrennt. Heinrich befürchtete möglicherweise, dass ihre Freunde Maria bestärken würden, und unternahm alles, um seine Tochter zu isolieren. Maria und auch die Bevölkerung schrieben diese Behandlung dem Einfluss der unpopulären Königin Anne zu. Anne Boleyn gab Lady Shelton nachgewiesenermaßen den Auftrag, Maria streng zu behandeln und sie zu ohrfeigen, sollte sie es wagen, sich als Prinzessin zu bezeichnen. Auch bewohnte Maria laut Chapuys den schlechtesten Raum im ganzen Haus. Die schlechte Behandlung der früheren Prinzessin durch König und Königin brachte Maria Sympathien unter den einfachen Menschen, die in ihr weiterhin die legitime Thronerbin sahen. So jubelten sie Maria zu, wann immer sie sie sahen, und in Yorkshire gab sich ein junges Mädchen namens Mary für die Prinzessin aus mit der Behauptung, es sei ihr von ihrer Tante Mary Tudor vorhergesagt worden, dass sie zu einem Zeitpunkt ihres Lebens betteln gehen müsste. Auch Mitglieder des konservativen Adels waren Maria nach wie vor freundlich gesinnt, wie Nicholas Carew, Sir Francis Bryan und der Cousin des Königs Henry Courtenay, 1. Marquess of Exeter. Dennoch konnten auch sie nicht verhindern, dass Heinrich das Parlament am 23. März 1534 den First Act of Succession verabschieden ließ, der einzig Anne Boleyns Nachkommen als rechtmäßige Thronfolger anerkannte und alle Versuche, Maria wieder in die Thronfolge einzugliedern, bei Todesstrafe untersagte. Wer sich weigerte, den Eid auf diesen Akt zu leisten, wurde als Verräter hingerichtet, wie der Bischof John Fisher und der ehemalige Lordkanzler Thomas Morus. Maria weigerte sich standhaft, den Eid auf den Akt zu leisten, und zeigte sich widerspenstig, wann immer man sie aufforderte, ihrer Halbschwester den Vortritt zu lassen. Infolgedessen wuchs ihre Angst vor einem Anschlag auf ihr Leben durch Gift. In dieser Zeit wurde Chapuys ihr engster Freund und Vertrauter, und sie bat ihn mehrmals, Karl V. zu überzeugen, ihr zu Hilfe zu kommen. 1535 gab es daher mehrere Pläne, sie aus England zu schmuggeln, die aber im Sande verliefen. Obwohl Heinrich entschlossen war, den Trotz seiner Tochter zu brechen, zeigte sich hin und wieder, dass er nach wie vor Zuneigung für Maria empfand. Als der französische Botschafter ihre Fertigkeiten pries, traten dem König Tränen in die Augen. Er sandte ihr seinen persönlichen Leibarzt William Butts, als sie krank wurde, und gestattete auch Katharinas Arzt und Apotheker, seine Tochter zu untersuchen. Im Januar 1536 starb Katharina schließlich, ohne ihre Tochter noch einmal gesehen zu haben. Da bei ihrer Obduktion eine schwarze Verfärbung ihres Herzens festgestellt wurde, glaubten viele, darunter auch Maria, dass Katharina vergiftet worden war. Anne Boleyn, der es bislang nicht gelungen war, ihren Status durch die Geburt eines männlichen Thronfolgers zu sichern, betrachtete Maria als echte Bedrohung. Zunehmend verzweifelt, sagte sie über Maria: „Sie ist mein Tod und ich bin ihrer.“ Nach Katharinas Tod fühlte Maria sich unsicherer als je zuvor, da Heinrich nach damaligem Recht im Falle der Ungültigkeit einer Ehe mit Anne unter Umständen das eheliche Leben mit Katharina wieder hätte aufnehmen müssen. Mehrmals bot Anne Maria an, zwischen ihr und ihrem Vater zu vermitteln, wenn Maria sie nur als Königin anerkennen würde. Maria weigerte sich jedoch, jemand anderen als ihre Mutter als Königin zu akzeptieren. Als Anne erkannte, dass sie wieder schwanger war, fühlte sie sich wieder sicher. Sobald ihr Sohn geboren war, so die Königin, wüsste sie, was mit Maria geschehen würde. Sie erlitt jedoch am selben Tag, als Katharina beerdigt wurde, eine Fehlgeburt. Als 1536 auch Anne Boleyn die Gunst des Königs verlor und wegen angeblichen Ehebruchs hingerichtet wurde, hoffte Maria auf eine Verbesserung ihrer Lage. Jane Seymour, die neue Frau in Heinrichs Leben, hatte ihr schon zuvor versichert, dass sie ihr nach Kräften beistehen werde. Davon ermutigt schrieb Maria an den König und gratulierte ihm zu seiner neuen Heirat; Heinrich antwortete jedoch nicht. Solange Maria ihn nicht als Oberhaupt der Kirche von England und sich selbst als illegitim anerkannte, weigerte er sich, sie als seine Tochter zu behandeln. Marias Halbschwester Elisabeth ging es nun ähnlich wie ihr wenige Jahre zuvor: Sie verlor ihren Platz in der Thronfolge und wurde zur Lady herabgestuft. Dies machte deutlich, dass Marias schwierige Lage vor allem von ihrem Vater und nicht allein von Königin Anne herbeigeführt worden war. Versöhnung mit Heinrich VIII. Um die Gunst Heinrichs VIII. wiederzuerlangen, war Maria zu Zugeständnissen bereit. Sie schwor, dem König treu zu dienen, „direkt nach Gott“, weigerte sich aber, den Eid auf ihn als Oberhaupt der Kirche von England zu leisten. Den protestantischen Glauben sah sie als Bildersturm an und als Enteignung der Kirche, deren Besitztümer in die Taschen des opportunistischen Adels wanderten. Zwischen ihr und dem Minister Thomas Cromwell entspann sich ein Briefwechsel, in dem Maria ihn einerseits um Vermittlung im Konflikt mit ihrem Vater bat, andererseits darauf bestand, dass sie keine weiteren Zugeständnisse machen konnte. Heimliche Briefe ihrer Mutter bestärkten sie darin, Entscheidungen nicht aufgrund von politischen Notwendigkeiten zu fällen, sondern Gott und ihr Gewissen als die höchste Instanz zu betrachten. Im Konflikt mit ihrem Vater führte sie daher immer wieder an, dass „mein Gewissen mir nicht erlaubt zuzustimmen“. Heinrich jedoch war nicht bereit, eine bedingte Kapitulation anzunehmen, und erhöhte den Druck auf Marias Freunde bei Hofe. So wurde u. a. Francis Bryan verhört, ob er geplant habe, Maria wieder in die Thronfolge einzugliedern, und Henry Courtenay verlor seinen Posten als Gentleman der Privy Chamber. Auch wurde Maria zugetragen, dass sie, sollte sie sich weiterhin widersetzen, als Verräterin verhaftet und verurteilt werden würde. Cromwell, verärgert über Maria und unter Druck Heinrichs, erklärte Maria, dass sie, sollte sie nicht nachgeben, auf immer seine Unterstützung verlieren würde. Er nannte sie ärgerlich „die dickköpfigste, halsstarrigste Frau, die es je gegeben hat“. Chapuys und Marias Freunde beschworen sie, sich dem König zu unterwerfen. Schließlich gab Maria nach. Am 22. Juni 1536 unterzeichnete sie ein von Cromwell aufgesetztes Schriftstück , womit sie die Ungültigkeit der Ehe ihrer Eltern und ihren Status als illegitime Tochter akzeptierte und den König als Oberhaupt der Kirche anerkannte. Damit hatte sie ihr Leben und das ihrer Freunde gerettet, doch gleichzeitig war alles, wofür sie und ihre Mutter gekämpft hatten, zunichte. Heimlich beauftragte sie Chapuys, ihr eine päpstliche Absolution zu besorgen. Chapuys schrieb besorgt an Karl V.: „Diese Angelegenheit der Prinzessin hat ihr größere Qualen bereitet als Ihr glaubt.“ Historiker gehen davon aus, dass diese Krise Maria dazu brachte, in späteren Jahren ihr Gewissen und ihren Glauben kompromisslos zu verteidigen. Drei Wochen später sah Maria ihren Vater zum ersten Mal nach fünf Jahren wieder und traf bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal ihre neue Stiefmutter, Jane Seymour. Jane hatte sich beim König mehrere Male für Maria eingesetzt und zwischen den beiden entstand ein freundschaftliches Verhältnis. Nun, da Maria nachgegeben hatte, hieß Heinrich sie wieder am Hof willkommen, er gab ihr erneut einen eigenen Haushalt, und es wurde sogar über eine neue Verlobung für sie gesprochen. Doch obwohl Maria wieder als Tochter des Königs behandelt wurde, behielt sie den illegitimen Status, der sie nach damaligem Recht von jeglicher Erbfolge ausschloss. Im Herbst 1537 wurde schließlich der langersehnte Thronfolger Eduard geboren und Maria wurde seine Taufpatin. Nur wenig später starb seine Mutter Jane Seymour. Maria wurde die Ehre zuteil, auf einem schwarzen Pferd dem Trauerzug voranzureiten. Im Verlauf kümmerte sie sich um den kleinen Eduard, der ihr laut einem Bericht der Hofdame Jane Dormer „viele Fragen stellte, ihr Geheimhaltung versprach und ihr solchen Respekt und solche Verehrung entgegenbrachte, als wäre sie seine Mutter.“ Jane Seymours Tod blieb nicht der einzige Verlust Marias. 1538 geriet die Familie Pole unter Verdacht, in der sogenannten Exeter-Verschwörung gegen Heinrich zu konspirieren, darunter auch Margaret Pole, Marias einstige Gouvernante. Marias alte Freunde Henry Courtenay, Henry Pole und Nicholas Carew wurden als Verräter hingerichtet, Margaret Pole im Tower of London inhaftiert und im Jahr 1541 ebenfalls enthauptet. Cromwell warnte Maria in dieser Zeit davor, Fremde in ihren Haushalt aufzunehmen, da sie nach wie vor ein Fokus für Widerstand gegen die Religionspolitik des Königs war. Auch erlebte sie in diesen Jahren weitere Eheschließungen ihres Vaters. Von seiner vierten Ehefrau, Anna von Kleve, ließ sich Heinrich im Jahr 1540 schon nach kurzer Zeit wieder scheiden. Die fünfte, Catherine Howard, eine Cousine Anne Boleyns, war einige Jahre jünger als Maria. Zunächst gab es Spannungen zwischen den beiden wegen angeblicher Respektlosigkeit Marias gegenüber der neuen Königin, die darin gipfelten, dass Catherine beinahe zwei Hofdamen Marias entließ. Dennoch gelang es Maria, Catherine zu versöhnen. Sie erhielt die Erlaubnis des Königs, sich dauerhaft bei Hofe aufzuhalten. 1541 begleitete sie Heinrich und Catherine auf deren Reise in den Norden. Catherine endete 1542 wie zuvor Anne Boleyn auf dem Schafott. Catherine Parr, die sechste und letzte Frau Heinrichs, verbesserte Marias Lage am Hof weiter und führte Vater und Tochter enger zusammen. Maria scheint den Rest von Heinrichs Regierungszeit in Gesellschaft Catherine Parrs bei Hofe verbracht zu haben. Sie und Catherine Parr hatten viele gemeinsame Interessen. Gemeinsam mit ihrer Stiefmutter übersetzte sie Erasmus von Rotterdam und las mit ihr humanistische Bücher. Außerdem war sie eine begnadete Reiterin und ging gerne auf die Jagd. Bekannt war sie für ihre Vorliebe für Mode, Juwelen und Kartenspiele, bei denen sie mitunter größere Summen wettete. Ihre Leidenschaft für Tanz sorgte für einen Tadel ihres jüngeren Bruders Eduard, der Catherine Parr schrieb, Maria sollte nicht mehr an fremdländischen Tänzen und allgemeinen Belustigungen teilnehmen, da es sich für eine christliche Prinzessin nicht schicke. Auch musizierte sie leidenschaftlich gern. Im Jahr 1544 legte Heinrich im dritten Act of Succession die Thronfolge endgültig fest und ließ ihn vom Parlament ratifizieren. Sowohl Maria als auch Elisabeth wurden wieder in die Thronfolge aufgenommen, Maria an zweiter, Elisabeth an dritter Stelle nach Eduard. Doch obwohl die beiden damit wieder ihren Platz in der Erbfolge hatten, legitimierte Heinrich seine Töchter nach wie vor nicht, in der damaligen Zeit ein eklatanter Widerspruch. Laut damaligem Gesetz war es Bastarden nicht erlaubt, den Thron zu erben, was zu diversen Versuchen führen sollte, sowohl Maria als auch Elisabeth vollständig von der Thronfolge auszuschließen. Maria unter Eduard VI. Nachdem König Heinrich VIII. am 28. Januar 1547 gestorben war, erbte sein noch minderjähriger Sohn Eduard den Thron. Das katholische Ausland verhielt sich zunächst abwartend, ob Eduard überhaupt als König anerkannt wurde. Da er nach Heinrichs Exkommunikation geboren worden war, betrachteten ihn die katholischen Länder als illegitim und Maria als die rechtmäßige Erbin. Karl V. hielt es nicht für ausgeschlossen, dass Maria ihren Anspruch geltend machte. Sie akzeptierte Eduard jedoch als König. In den ersten Jahren seiner Kindheit hatten sich Eduard und seine Halbschwestern sehr nahegestanden, und ihre Nähe spiegelt sich in dem Kondolenzbrief wider, den Eduard seiner älteren Schwester schrieb: „Wir sollten den Tod unseres Vaters nicht beklagen, da es Sein Wille ist, der alle Dinge zum Guten wirkt. Soweit es mir möglich ist, werde ich dir der beste Bruder sein und überfließen mit Freundlichkeit.“ Drei Monate nach dem Tod ihres Vaters verließ Maria den Haushalt Catherine Parrs, mit der sie bislang gelebt hatte. In seinem Testament hatte Heinrich Maria 32 Herrenhäuser sowie Ländereien in Anglia und um London herum vermacht, zusammen mit einem jährlichen Einkommen von 3000 Pfund. Im Falle ihrer Heirat sollte sie eine Mitgift von 10.000 Pfund erhalten. Mit ihren 31 Jahren war Maria nun eine reiche, unabhängige Frau, und sie umgab sich mit katholischen Dienern und Freunden. Dadurch rückte sie bald in den Fokus des neuen Regimes. Der erst neun Jahre alte König regierte zwar nominell, stand aber unter dem Einfluss seines Onkels und Vormunds Edward Seymour, 1. Duke of Somerset, der einen strikt protestantischen Kurs verfolgte. Somit wurde Marias Haushalt zu einem Sammelpunkt für Katholiken. Dennoch verhielt sich Edward Seymour ihr gegenüber recht freundlich. Er selbst hatte Karl V. eine Zeitlang gedient, und seine Frau Anne Seymour war mit Maria befreundet. Im Januar 1549 wurde die Heilige Messe im römischen Ritus abgeschafft, die Feiertage vieler Heiliger wurden gestrichen und neue Bekleidungsvorschriften für den Klerus erlassen. Als die Regierung protestantische Gesetze verabschiedete, protestierte Maria, dass Heinrichs Religionsgesetze nicht abgeschafft werden sollten, bis Eduard volljährig war. Seymour entgegnete, dass Heinrich gestorben sei, ehe er seine Reform vollenden konnte. Im Frühling bat sie Karl V. um Hilfe, der von Seymour verlangte, Maria nicht an der Ausübung ihrer Religion zu hindern. Obwohl Seymour erklärte, dass er nicht offen gegen ein Gesetz verstoßen würde, gestattete er Maria, in ihrem Haushalt ihrem Glauben zu folgen. Dennoch gab es viele kritische Stimmen, die Marias Unterwerfung verlangten. Als Aufstände gegen die neuen Religionsgesetze ausbrachen, geriet Maria unter Verdacht, mit den Rebellen zu sympathisieren und sie zu unterstützen. Seymour, der Karl V. nicht verärgern wollte, suchte zu schlichten. „Wenn sie sich nicht anpassen will, lasst sie still und ohne Skandal tun, was sie möchte.“ Eduard war jedoch anderer Meinung und schrieb an Maria: Am 14. Oktober 1549 wurde Edward Seymour vom Adel gestürzt. Als neuer Vormund erlangte John Dudley, 1. Duke of Northumberland, entscheidenden Einfluss auf den König. Deutlich radikaler in seinen Ansichten als Seymour, machte sich Dudley bei Maria schnell unbeliebt. Sie hielt ihn für den „unbeständigsten Mann in England“, weshalb sie sich „aus diesem Königreich fortwünschte“. Erneut verlangte Karl V. eine Garantie des Kronrats, dass seine Cousine nicht in der Ausübung ihrer Religion behindert werden sollte. Maria war überzeugt, dass ihr Leben in Gefahr war, und flehte Karl V. an, ihr bei der Flucht aus England behilflich zu sein. Im Juni 1550 entsandte Karl V. drei Schiffe, um Maria auf den Kontinent zu bringen, an den Hof seiner Schwester in den Niederlanden. Doch nun zauderte Maria. Ihr Buchprüfer Rochester stellte den gesamten Plan in Frage und behauptete, die Engländer hätten die Wachen an den Küsten verschärft. Maria geriet in Panik und unterbrach die Beratungen zwischen ihm und Karls Gesandten mehrmals mit ihren verzweifelten Ausrufen „Was sollen wir tun? Was soll nur aus mir werden?“ Im Verlaufe der hektischen Beratungen entschied sie sich schließlich gegen eine Flucht, die obendrein den Verlust ihres Thronrechts bedeutet hätte. Zu Weihnachten 1550 traf Maria schließlich wieder bei Hofe ein, wo Eduard ihr Vorwürfe machte, dass sie nach wie vor zur Messe ging. Maria argumentierte, dass er noch nicht alt genug sei, um genug über den Glauben zu wissen. Die Auseinandersetzung endete damit, dass beide in Tränen ausbrachen. Im Januar 1551 verlangte Eduard erneut, dass sie die neuen Religionsgesetze anerkannte. Maria, die sich nach wie vor auf Seymours Versprechen berief, war zutiefst getroffen, dass ihr Bruder sie als Gesetzesbrecherin und Anstifterin zum Ungehorsam betrachtete. Im März hatten sie und er eine weitere Auseinandersetzung, die zur Folge hatte, dass Freunde und Bedienstete Marias wegen Teilnahme an der Messe verhaftet wurden. Daraufhin drohte Karl V. mit Krieg. Es kam zu diplomatischen Spannungen zwischen England und Spanien. Der Kronrat suchte den Konflikt zu lösen, indem er Marias Bediensteten befahl, die Prinzessin zu bekehren, und ihr die Teilnahme an der Messe in ihrem Haushalt verbot. Maria erklärte jedoch, dass sie eher für ihren Glauben sterben werde, als sich bekehren zu lassen. Als zwischen Frankreich und Spanien Krieg ausbrach, wurde der Druck auf Maria geringer. Viele befürchteten, dass Karl V. in England einfallen würde, und der Kronrat bemühte sich um eine Aussöhnung mit Maria. Im März 1552 wurden ihre Bediensteten aus dem Tower entlassen und zwei Monate später besuchte sie ihren Bruder bei Hofe. Im Winter wurde Eduard krank. Maria besuchte ihn ein letztes Mal im Februar 1553, ahnte allerdings nicht, dass er bereits todkrank war, möglicherweise aufgrund von Tuberkulose. Dudley, wohl wissend, dass Maria im Falle von Eduards Tod die rechtmäßige Thronfolgerin war, empfing sie mit allen Ehren, hielt aber den Zustand ihres Bruders vor ihr geheim. Tatsächlich glaubte Maria, dass Eduard sich auf dem Weg der Besserung befinde, jedoch zeichnete sich im Juni ab, dass er bald sterben würde. Herrschaft Thronbesteigung Angesichts der ständigen Glaubenskonflikte befürchtete Eduard zu Recht, dass Maria nach seinem Tod alle Reformen rückgängig machen und England wieder unter die Herrschaft des Papstes bringen wollte. Aus diesem Grund brach Eduard mit der Thronfolgeregelung seines Vaters Heinrich, um Maria von der Thronfolge auszuschließen mit der Begründung, diese sei nie wieder als legitime Tochter Heinrichs anerkannt worden. Zudem bestehe die Möglichkeit einer Heirat mit einem Ausländer, der anschließend in England die Macht ergreifen würde. Da dies auch auf seine Schwester Elisabeth zutraf, wurde auch sie von der Thronfolge ausgeschlossen. Stattdessen vermachte Eduard die Krone Lady Jane Grey, einer protestantischen Enkelin seiner verstorbenen Tante Mary Tudor, die kurz zuvor John Dudleys Sohn Guildford geheiratet hatte. Inwieweit John Dudley für die Änderung der Thronfolge verantwortlich war, ist in der Forschung umstritten. Während traditionell angenommen wird, Dudley habe Eduard aus Ehrgeiz überredet, sein Testament zugunsten Jane Greys zu ändern, ist der Historiker Eric Ives der Ansicht, Dudley habe Eduard lediglich auf Schwächen in seinem Thronfolgeplan hingewiesen und Eduard sich eigenständig für Jane als Erbin entschieden. Am 2. Juli wurden Maria und Elisabeth bei einem Gottesdienst erstmals aus den Gebeten für die königliche Familie ausgeschlossen. Einen Tag später erhielt Maria, die sich auf dem Weg nach London befand, eine Warnung, Eduards Tod stehe unmittelbar bevor und es gebe Pläne, sie gefangen zu setzen. In der Nacht des 4. Juli ritt Maria daraufhin eilig nach Kenninghall in Norfolk, wo sie Anhänger um sich scharen und im Zweifelsfall nach Flandern fliehen konnte. John Dudley, der ihre Bereitschaft, um den Thron zu kämpfen, unterschätzte, entsandte seinen Sohn Robert Dudley, um Maria gefangen zu nehmen. Historiker vermuten, dass Dudley entweder nicht viel auf die Pläne einer Frau gab oder hoffte, dass Maria mit Hilfe von Karl V. außer Landes fliehen und damit ihren Thron aufgeben würde. Robert Dudley gelang es jedoch nicht, Maria einzuholen, und er musste sich damit begnügen, ihre Anhänger daran zu hindern, zu ihr nach Kenninghall zu gelangen. Selbst der spanische Botschafter hielt es für unwahrscheinlich, dass Maria ihren Anspruch würde durchsetzen können. Am 9. Juli schrieb Maria an Janes Kronrat und proklamierte sich selbst zur Königin von England. Für den Kronrat stellte der Brief eine Kriegserklärung dar. Daher wurde eine Armee aufgestellt, die unter der Führung John Dudleys nach Ostanglia ziehen und Maria als Rebellin gegen die Krone gefangen nehmen sollte. Auch wurden in London Pamphlete gedruckt, die Maria als Bastard deklarierten und davor warnten, dass sie im Falle ihrer Machtergreifung „Papisten und Spanier“ in das Land bringen würde. Doch für die Mehrheit der Bevölkerung war Maria ungeachtet der religiösen Bedenken die rechtmäßige Thronerbin. Unterstützt von ihren Freunden und Bediensteten mobilisierte Maria den Landadel, der ihr seine bewaffneten Leibtruppen, sogenannte retainer, zur Verfügung stellte. Zu ihren höchstrangigen Verbündeten gehörten Henry Radclyffe, 4. Earl of Sussex, und John Bourchier, 2. Earl of Bath. Am 12. Juli zog sie mit ihrer wachsenden Anhängerschar nach Framlingham Castle in Suffolk, einer gut zu verteidigenden Festung. Ihre Anhänger proklamierten sie in diversen englischen Städten zur Königin. Die begeisterte Zustimmung der Bevölkerung ließ Maria auch Städte gewinnen, die sich vorher für Jane erklärt hatten. Allmählich wendete sich das Blatt zu Marias Gunsten. Schiffsbesatzungen meuterten gegen ihre Vorgesetzten und liefen zu Maria über. Am 15. Juli näherte sich Dudleys Armee Framlingham. Marias Befehlshaber bereiteten ihre Truppen vor, und die Prinzessin selbst mobilisierte ihre Anhänger mit einer flammenden Rede, laut der John Dudley „auf verräterische Weise, durch lang anhaltenden Verrat die Vernichtung ihrer königlichen Person, des Adels und das Allgemeinwohl dieses Königreiches plante und immer noch plant“. Das Regime brach am 18. Juli zusammen. Der Staatsrat in London stürzte Dudley in dessen Abwesenheit und setzte hohe Belohnungen auf seine Gefangennahme aus. Die Ratsmitglieder wollten sich rechtzeitig auf die Seite von Maria schlagen, deren Zuspruch in der Bevölkerung stetig anstieg. Am 19. Juli schwand der Zuspruch für Dudley gänzlich, als diverse Adlige den Tower und damit Jane Grey verließen und sich in Baynard’s Castle trafen, um Marias Nachfolge vorzubereiten. Unter ihnen befanden sich George Talbot, 6. Earl of Shrewsbury, John Russell, 1. Earl of Bedford, William Herbert, 1. Earl of Pembroke und Henry FitzAlan, 19. Earl of Arundel. Am Abend des 20. Juli riefen ihre Herolde in London Maria zur Königin von England und Irland aus. John Dudley in Cambridge trat daraufhin zurück und proklamierte gleichfalls Maria zur Königin. Wenig später wurde er von Arundel verhaftet. Am 25. Juli wurde er mit seinen Söhnen Ambrose und Henry nach London gebracht und im Tower inhaftiert. Am 3. August zog Maria zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth, die ihren Thronanspruch unterstützt hatte, triumphierend in London ein und nahm zeremoniell den Tower in Besitz. Wie es zum Amtsantritt eines neuen Monarchen üblich war, begnadigte sie zahlreiche im Tower inhaftierte Gefangene, unter anderem die hochrangigen Katholiken Thomas Howard, 3. Duke of Norfolk, Edward Courtenay, 1. Earl of Devon und Stephan Gardiner. Letzteren ernannte sie zu ihrem Lordkanzler. Jane Grey und ihr Ehemann Guildford Dudley hingegen, die sich seit Janes Proklamation im Tower aufgehalten hatten, wurden unter Arrest gestellt. Zunächst war auch Janes Vater Henry Grey, 1. Duke of Suffolk Gefangener der Krone, er wurde jedoch freigelassen, nachdem Janes Mutter Frances Brandon, Marias Cousine, bei der Königin für ihre Familie gebeten hatte. Da Maria sich von Frances und später Jane überzeugen ließ, dass Jane die Krone nur auf Druck Dudleys angenommen hatte, begnadigte sie ihre junge Verwandte und deren Vater zunächst. Anders als Henry Grey blieben Jane und Guildford dennoch unter Arrest. John Dudley dagegen wurde des Hochverrats angeklagt und am 22. August hingerichtet. Maria regierte aufgrund der Thronfolgeregelung von 1544 de jure vom 6. Juli an, de facto aber erst seit dem 19. Juli. Am 27. September zogen sie und Elisabeth in den Tower ein, wie es kurz vor der Krönung eines neuen Monarchen Sitte war. Am 30. September zogen sie in einer großen Prozession, an der auch ihre Stiefmutter Anna von Kleve teilnahm, in den Palace of Westminster. Augenzeugen zufolge war Marias Krone sehr schwer, weshalb sie ihren Kopf mit den Händen abstützen musste. Auch wirkte sie deutlich steif und zurückhaltend, während ihre Schwester Elisabeth das Bad in der Menge genoss. Am 1. Oktober 1553 wurde Maria in Westminster Abbey zur Königin gekrönt. Da es in England die erste Krönung einer Königin aus eigenem Recht war, unterschied sich die Zeremonie von der Krönung einer Königsgemahlin. So erhielt sie, wie es bei der Krönung männlicher Monarchen üblich war, zeremoniell Schwert und Sporen überreicht, sowie die Zepter sowohl des Königs als auch der Königin. Heirat mit Philipp II. Trotz der demonstrierten Einigkeit Marias und Elisabeths herrschten starke Spannungen zwischen den Schwestern, hauptsächlich wegen ihrer unterschiedlichen Konfessionen. Um eine katholische Dynastie zu sichern, suchte Maria nach einem katholischen Ehemann. Auch ihr Kronrat bat sie inständig zu heiraten, nicht nur um die Nachfolge zu sichern, sondern auch weil nach wie vor davon ausgegangen wurde, dass eine Frau nicht allein regieren könne. Gleichzeitig bestand aber auch die berechtigte Sorge, dass Maria als verheiratete Frau ihrem Ehemann gehorsam wäre. Aus diesem Grund war die Frage, wen sie heiraten würde, von großer Bedeutung für die Engländer, da eine Heirat mit einem Ausländer ausländischen Einfluss auf englische Politik bedeutet hätte. Viele Adlige, unter ihnen Stephan Gardiner, hofften daher auf eine Eheschließung zwischen Maria und ihrem entfernten Verwandten Edward Courtenay, der von königlicher Abstammung und englischer Geburt war. Maria allerdings hatte kein Interesse an einer Heirat mit Courtenay, u. a. da sie keinen ihrer Untertanen heiraten wollte. Wie so häufig in ihrem Leben, maß sie dem Rat des spanischen Botschafters, in diesem Fall Simon Renard, großen Wert bei. Der Grund dafür ist vermutlich in ihrer Jugend zu finden, als der einzige, an den sie sich stets wenden konnte, Karl V. war. Dem englischen Adel konnte sie nach all ihren Erfahrungen nicht mehr trauen; daher war sie eher geneigt, den Rat der spanischen Botschafter zu befolgen. Renard, wohlwissend, wie wertvoll eine Allianz mit England wäre, schlug ihr mit Zustimmung Karls V. am 10. Oktober den spanischen Kronprinzen Philipp vor. Zum einen konnte damit die Passage zu den Niederlanden gesichert werden, zum anderen würde eine solche Ehe ein Gegengewicht zur Heirat Maria Stuarts mit dem Dauphin von Frankreich darstellen. Marias Reaktion war freudig, doch gleichzeitig besorgt, da sie elf Jahre älter war als Philipp. Auch machte sie Renard klar, dass Philipp keinen allzu großen politischen Einfluss bekäme, da der englische Adel ausländische Einmischung nicht dulden würde. In der Tat stieß der Bräutigam bei den Engländern auf große Ablehnung. Sogar Marias eigener Lordkanzler Gardiner und das House of Commons fürchteten, dass England unter starken spanischen Einfluss geraten könnte. Sowohl er als auch Marias treue Angestellte, die mit ihr zusammen gegen Jane Grey gezogen waren, baten sie inständig, stattdessen Courtenay zu heiraten. Obwohl Maria ihnen gegenüber ihren Standpunkt behauptete, war sie dennoch lange Zeit aufgewühlt und unschlüssig. Am 29. Oktober traf sie schließlich ihre Entscheidung. Sie ließ Renard zu sich kommen und akzeptierte seinen Vorschlag, Philipp zu heiraten mit der Begründung, dass „Gott sie inspiriert habe, Prinz Philipps Frau zu werden.“ Renard schrieb an Karl V. und berichtete: Im November versuchte der Adel noch einmal erfolglos, Maria von einer Heirat mit Philipp abzubringen. Daraufhin verschworen sich einige Adlige gegen die Königin. Zum einen ging es darum, die unbeliebte Eheschließung zu verhindern, zum anderen war der protestantische Adel besorgt über die konfessionellen Veränderungen, die Maria wiedereinführte. Zu den Verschwörern gehörten Sir Thomas Wyatt, Edward Courtenay, Jane Greys Vater Henry Grey und ein enger Freund der Grey-Familie, Nicholas Throckmorton. Wyatt versammelte in der nach ihm benannten Wyatt-Verschwörung Anfang 1554 eine Streitmacht bei Kent, um gegen die Königin zu kämpfen, der er selbst auf den Thron verholfen hatte. Die königliche Armee besiegte Wyatts Truppen erst vor den Toren Londons und der Aufstand wurde gänzlich niedergeschlagen. Henry Grey, der an dem Aufstand teilgenommen hatte, wurde erneut verhaftet. Zusammen mit seiner Tochter Jane und seinem Schwiegersohn Guildford, die noch immer im Tower gefangengehalten wurden, wurde er des Hochverrats für schuldig befunden und enthauptet. Da der Aufstand in Elisabeths Namen stattgefunden hatte, verdächtigte Maria nun ihre Schwester, die Revolte gegen sie unterstützt zu haben, und ließ sie im Tower inhaftieren. Nachdem Wyatt auf dem Schafott Elisabeth entlastet hatte, wandelte Maria nach zwei Monaten die Strafe in einen Hausarrest um. Die Königin heiratete schließlich am 25. Juli 1554 Philipp in der Kathedrale von Winchester. Am Abend zuvor hatte Karl V. seinen Sohn zum König von Neapel ernannt. Laut dem Ehevertrag erhielt Philipp zwar den Titel des Königs von England, seine reale Macht war jedoch eher auf die Funktionen eines Prinzgemahls begrenzt. Er durfte Maria bei der Verwaltung helfen, allerdings keine Gesetzesänderungen in England durchführen. Sollten aus der Ehe Kinder entspringen, so würde eine Tochter England und die Niederlande regieren, ein Sohn sollte England erben sowie Philipps Gebiete in Süddeutschland und Burgund. Sowohl die Königin als auch eventuelle Kinder sollten das Land nur unter Zustimmung des Adels verlassen. Zudem sicherte eine Klausel im Ehevertrag England dagegen ab, in die Kriege der Habsburger involviert zu werden oder Zahlungen an das Reich leisten zu müssen. Auch sollten keine Spanier in den Kronrat kommen. Der Vertrag gehörte zu den vorteilhaftesten, die England je abgeschlossen hatte, Philipp selbst jedoch war erbost über seine reduzierte Rolle. Privat erklärte er, dass er sich nicht an eine Vereinbarung gebunden sah, die ohne sein Einverständnis zustande gekommen war. Er würde, so Philipp, nur unterzeichnen, damit die Heirat stattfinden konnte, „aber keinesfalls, um sich und seine Erben daran zu binden, die Paragraphen einzuhalten, besonders nicht jene, die sein Gewissen belasten würden.“ Trotz seiner Vorbehalte zeigte sich Philipp Maria gegenüber als pflichtbewusster, freundlicher Ehemann und die Königin verliebte sich heftig in ihn. Sie schrieb an Karl V.: Philipps enge Vertraute hingegen zeichneten ein anderes Bild von der Ehe. So beschrieb sein Freund Ruy Gomez die Königin wenig schmeichelhaft als „gute Seele, älter als uns gesagt wurde“ und schrieb über sie an einen Freund: Kaum zwei Monate nach der Hochzeit hörte Renard, die Königin sei schwanger. Ihren Angaben zufolge litt sie unter Morgenübelkeiten, ihr Bauch schwoll an und sie spürte die Bewegungen ihres Kindes. Dennoch regten sich Zweifel, da sie bereits 39 Jahre alt und oft krank war. Die Geburt wurde im April 1555 etwa zu Ostern erwartet. Als jedoch der Juli verstrich, ohne dass Maria ein Kind geboren hatte, geschweige denn Wehen verspürte, wurde offensichtlich, dass sie entweder an einer Krankheit oder an einer Scheinschwangerschaft litt. Im August akzeptierte auch die Königin endlich die Wahrheit. Hinzu kam, dass Philipp dringend in den Niederlanden gebraucht wurde. Nur die Aussicht auf die Geburt eines Erben hatte ihn in England gehalten. Am 19. August 1555 verließ Philipp zur großen Trauer seiner Frau vorübergehend England. Erst im März 1557 sollte Maria ihn wiedersehen. Religionspolitik Maria hatte die Entscheidung ihres Vaters, die englische Kirche von der römisch-katholischen abzuspalten, immer abgelehnt. Als Königin widmete sie sich daher vor allem der Religionspolitik. Zu Beginn ihrer Herrschaft war Maria jedoch entgegen ihrem Ruf an Verständigung und Toleranz interessiert. In ihrer ersten Proklamation ließ sie verkünden: Dennoch leitete Maria bereits erste Schritte in den Weg, um die Versöhnung mit Rom herbeizuführen. Im August 1553 schrieb sie an Papst Julius III., um eine Aufhebung des Kirchenbanns zu erreichen, der seit Heinrich VIII. auf England lag, und versicherte dem Papst, dass sie per Parlamentsakt „viele widernatürliche Gesetze, erschaffen von meinen Vorgängern“, aufheben würde. Daraufhin ernannte der Papst Kardinal Reginald Pole zum päpstlichen Legaten in England. Pole war ein entfernter Verwandter Marias, der Sohn ihrer Erzieherin Margaret Pole, der zur Zeit ihrer Thronbesteigung in Rom weilte. Maria wollte religiöse Änderungen nicht ohne Parlamentsbeschluss durchführen und tolerierte darum zunächst Protestanten. Eine Ausnahme stellte jedoch ihre Schwester Elisabeth dar, die Maria aus politischen Gründen zum Katholizismus bekehren wollte. Solange Maria unverheiratet und kinderlos war, war Elisabeth die Thronerbin, und Maria wollte eine katholische Thronfolge sichern. Da Elisabeth nur unter Druck die Messe besuchte, überlegte Maria eine Zeitlang ernsthaft, stattdessen ihre katholische Cousine Margaret Douglas als ihre Nachfolgerin zu benennen. In ihrer ersten Parlamentssitzung ließ Maria nicht nur die Ehe ihrer Eltern für gültig erklären, sondern auch Eduards Religionsgesetze aufheben. Damit galten wieder die Kirchengesetze aus den letzten Regierungsjahren Heinrichs VIII. Doch während das Parlament kein Problem damit hatte, Riten und Bräuche wieder einzuführen, sperrte es sich vehement dagegen, erneut die Hoheit des Papstes anzuerkennen und Kirchenländereien zurückzugeben. Viele der Parlamentarier hatten von diesen Ländereien profitiert und sahen in einer Wiederherstellung der päpstlichen Autorität eine Bedrohung ihres eigenen Wohlstandes. So gab Maria zunächst die von Heinrich VIII. im Zuge der Auflösung der englischen Klöster beschlagnahmten klösterlichen Ländereien, die sich noch im Besitz der Krone befanden, an Franziskaner und Dominikaner zurück. Auch war sie aufgrund des Widerstands des Parlaments gezwungen, gegen ihren Willen vorläufig das Oberhaupt der englischen Kirche zu bleiben. Eine der großen Schwierigkeiten, der sich Maria stellen musste, war die Tatsache, dass es nur wenige Geistliche gab, die ihren Ansprüchen genügten. Unter Eduard hatte es keine systematische Ausbildung des Klerus gegeben, und viele der protestantischen Geistlichen waren verheiratet. Unterstützt wurde sie in ihren Bestrebungen von Lordkanzler Stephan Gardiner, dem Bischof von London Edmund Bonner und, zunächst in Briefen, ab 1554 persönlich, von Reginald Pole, den sie nach seiner Ankunft zum Erzbischof von Canterbury ernannte. Am 30. November 1554 erteilte Pole offiziell als päpstlicher Gesandter England die Absolution und nahm das Land wieder in den Schoß der Kirche auf. Mit Hilfe des Konzils von Trient hoffte Pole die klerikale Ausbildung zu reformieren und England eine gut ausgebildete katholische Priesterschaft zu geben. Allerdings benötigten diese Reformen Zeit. Sowohl Pole als auch Maria waren der Überzeugung, dass die Bevölkerung lediglich durch einige wenige zum Protestantismus verleitet worden war. Im Jahr 1555 wurden darum die Ketzergesetze aus dem 14. Jahrhundert wieder eingeführt. Die ersten Protestanten wurden wegen Ketzerei verurteilt und verbrannt. Einige der nicht ins Ausland geflohenen protestantischen Bischöfe fanden ihr Ende auf dem Scheiterhaufen, allen voran der verheiratete Priester John Rogers, der Bischof von Gloucester John Hooper, Hugh Latimer und Nicholas Ridley. Im Jahr 1556 folgte ihnen Erzbischof Thomas Cranmer, dem Maria die Nichtigkeitserklärung der Ehe ihrer Eltern niemals verziehen hatte. Er war das einzige bekannte Opfer der Verbrennungen, auf dessen Tod Maria ausdrücklich bestand, trotz seines Widerrufs und seiner Anerkennung der päpstlichen Autorität. Bei allen anderen Hinrichtungen legte Maria Wert darauf, dass sie ohne Rachsucht und dem Gesetz entsprechend vollzogen wurden. Auch bestand sie darauf, dass je ein Mitglied ihres Rates als Zeuge bei Verbrennungen anwesend zu sein hatte und dass während der Hinrichtungen Gottesdienste abgehalten wurden. Es zeigte sich dennoch schnell, dass die Verbrennung seiner Anführer allein nicht genügen würde, um den Protestantismus auszurotten. Die Wiedereinführung des Katholizismus fasste schwerer Fuß in den einfachen Gemeinden, als die Königin geglaubt hatte. Auch fehlte es an Geld, um die einzelnen Gemeindekirchen wieder nach katholischen Ansprüchen auszustatten. Viele Gemeinden waren nicht in der Lage, steinerne Altäre, Priestergewänder und kostbare Gefäße anzuschaffen, und weigerten sich, mit Marias Gesandten zu kooperieren. Die Verfolgungen weiteten sich auf die einfache Bevölkerung aus. Insbesondere Bonner machte sich unter den Protestanten schnell einen Namen als Ketzerjäger, da er von Anfang an die Namen derer wissen wollte, die während der Messe unaufmerksam waren, nicht an Prozessionen teilnahmen oder die Speisegebote der Fastenzeit brachen. Während die Bischöfe die Verhöre der Angeklagten übernahmen, wurden die Verhaftungen und letztendlich auch die Verbrennungen von den lokalen weltlichen Behörden durchgeführt, die ihrer Aufgabe unterschiedlich sorgfältig nachkamen. So wurden von den ca. 290 Opfern allein 113 in London verbrannt. In anderen Fällen zeigten sich die weltlichen Behörden sehr unwillig und ließen sich nur auf Druck des Kronrats bewegen, Verbrennungen durchzuführen. Insgesamt fanden fast 300 Menschen den Tod auf dem Scheiterhaufen. Die mit den öffentlichen Verbrennungen bezweckte Abschreckung setzte jedoch nicht ein. Stattdessen empfand die Bevölkerung zunehmend Sympathie für die protestantischen Märtyrer, deren Verfolgung über drei Jahre anhielt. Innerhalb wie außerhalb Englands wuchs die Zahl der Gegner Marias, insbesondere durch die Schriften und Druckerzeugnisse protestantischer Exilanten. Das zeigte sich auch am Grad ihrer Vernetzung, die keineswegs nur auf das Inselreich beschränkt blieb, sondern auch auf den Kontinent erstreckte. Im England des 16. Jahrhunderts waren konfessionelle Verfolgungen keine Seltenheit. Unter Eduard VI. sowie Elisabeth I. wurden Katholiken verfolgt und hingerichtet, während es unter Heinrich VIII. sowohl Protestanten als auch papsttreue Katholiken waren. Insgesamt betrachtet waren die konfessionellen Verfolgungen in England nicht ausgeprägter als auf dem Kontinent. Allerdings fanden sie in England in den 1550er Jahren deutlich häufiger statt als in anderen Ländern. Auch handelte es sich bei den Verurteilten nicht um die Extremisten und Fanatiker, die auf dem Kontinent auf dem Scheiterhaufen endeten, sondern um einfache Gläubige. Zusätzlich erhielten die Verbrennungen eine politische Dimension. Durch Marias unbeliebte Heirat mit Philipp wurden unliebsame Änderungen oft auf die Spanier geschoben. Somit wurden die Protestanten, die sich weigerten zu widerrufen, schnell zu einem Symbol des Widerstands patriotischer Engländer gegen das verhasste Spanien. Allerdings können die Spanier nicht zur Gänze für die Religionspolitik verantwortlich gemacht werden, da Philipps Beichtvater, Alfonso de Castro, die Verbrennungen mit Philipps Erlaubnis in einem Gottesdienst attackierte. „Sie lernten nicht aus der Heiligen Schrift, irgendjemanden aus Gewissensgründen zu verbrennen, sondern im Gegenteil, dass jene leben und bekehrt werden sollten.“ Historiker sind sich uneins, wer die tatsächliche Verantwortung für die Verbrennungen trägt. John Foxe betrachtete Bonner als einen der schlimmsten Ketzerjäger, allerdings war Bonner eher daran interessiert, Verdächtige zum Widerruf zu bewegen, als sie zu verbrennen. Pole berief sich zwar auf die Verbrennungen, um dem neuen Papst Paul IV. zu beweisen, dass er selbst kein Ketzer sei, wurde jedoch selbst von Foxe als „keiner der blutigen, grausamen Sorte der Papisten“ bezeichnet. Pole erkannte recht schnell, wie unpopulär die Hinrichtungen waren. Allerdings kritisiert Prescott, dass er auch keinen Versuch unternahm, diesbezüglich Einfluss auf die Königin zu nehmen, die stets großen Wert auf seinen Rat legte. Gardiner, dem sehr daran gelegen war, die alte Ordnung wiederherzustellen, stimmte zwar für die Wiedereinführung der Ketzergesetze, zog sich jedoch nach der Verbrennung der wichtigsten Protestanten aus der Ketzerjagd zurück. Bei manchen Gelegenheiten zeigten sich die weltlichen Behörden deutlich energischer in der Ketzerjagd als die Geistlichkeit. Prescott weist darauf hin, dass in den ersten sechs Monaten der Ketzerverfolgungen die Bischöfe von der Krone für angebliche Faulheit gerügt wurden, während sich diverse weltliche Richter und Sheriffs als eifrige Ketzerjäger einen Namen machten. Auch der Kronrat zeigte sich zumindest duldsam gegenüber den Hinrichtungen, denn Ratsmitglieder ermutigten Bonner, die Verfolgungen fortzusetzen. Peter Marshall weist auf die Möglichkeit hin, dass die Verbrennungen nach der Hinrichtung der prominenten Protestanten eine Eigendynamik entwickelten, hauptsächlich, weil es keine klare Ausrichtung gab. Inwieweit Maria in die Verbrennungen persönlich involviert war, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit feststellen. Ihren eigenen Worten zufolge war sie dafür, die Rädelsführer zu verbrennen, das einfache Volk wollte sie allerdings lieber sanft bekehren. Marshall gibt zu bedenken, dass sie Ketzerei zutiefst verabscheute und aufgrund der Demütigungen in ihrer Jugend einen persönlichen Groll gegen Cranmer hegte. Auch berichtete der venezianische Botschafter Soranzo, wie standhaft Maria sich unter ihrem Bruder geweigert hatte, ihrem Glauben abzuschwören. „Ihr Glaube, in den sie geboren wurde, ist so stark, dass sie ihn auf dem Scheiterhaufen zur Schau gestellt hätte, hätte sich die Gelegenheit ergeben.“ Es ist daher durchaus möglich, dass Maria persönlich die Verbrennungen vorantrieb. Eine königliche Order an Bonner vom 24. Mai 1555 befahl ihm, mit Ketzern schneller zu verfahren und keine Zeit zu verschwenden. Allerdings wird von Prescott angeführt, dass Maria sich zu diesem Zeitpunkt bereits für die Geburt ihres Kindes von allen Staatsgeschäften zurückgezogen hatte. Damit besteht die Möglichkeit, dass zumindest in diesem Zeitraum sämtliche königlichen Anordnungen von Philipp und dem Kronrat verabschiedet wurden. Fest steht, dass die Königin die Verfolgungen jederzeit hätte beenden können. In der protestantischen Propaganda erhielt sie daher den Spitznamen Bloody Mary, zu deutsch ‚blutige Maria‘. Wirtschaftspolitik Maria hatte von ihrem Vater und ihrem Bruder eine Menge Schulden geerbt, und die Regierungsfinanzen waren nahezu außer Kontrolle geraten. Grund dafür war das nach wie vor mittelalterliche Wirtschaftssystem, das dem modernen Königsstaat nicht mehr gerecht wurde. John Baker, Marquess von Winchester und Sir Walter Mildmay versuchten, die Staatskasse zu sanieren, doch benötigten Reformen viel Zeit. Der königliche Haushalt wurde untersucht, um Einsparmöglichkeiten zu finden. Aus dem Bericht ging hervor, dass die Königin ihre Diener und Untergebenen deutlich großzügiger entlohnte, als ihr Vater es getan hatte, und dass die größten Beträge für die königliche Garderobe ausgegeben wurden. Der Wertverlust des Geldes, der bereits in den letzten Jahren der Regierungszeit Heinrichs VIII. begonnen hatte, begünstigte die Krise noch. Die Inflation wurde von Heinrichs Finanzier Thomas Gresham nicht entschieden bekämpft und verschärfte sich unter Eduard VI. noch. Maria versuchte, dem dramatischen Wertverlust des Geldes entgegenzuwirken. So wurden drastische Maßnahmen gegen Falschmünzer ergriffen, und der Kronrat diskutierte über eine Währungsreform. Durch die Kriege in Marias letzten beiden Regierungsjahren kam es zu keiner Reform, doch sollte Elisabeth bei ihrer eigenen Währungsreform 1560–61 auf die Erfahrungen von Marias Finanzräten zurückgreifen. Dennoch konnte Maria kleine Erfolge vorweisen. Sie reformierte das Zoll- und Monopolsteuerwesen tiefgreifend, was zu mehr Einkünften für die Krone und der Veröffentlichung des Book of Rates führte, zu deutsch Buch der Gebühren. Es sollte bis 1604 unverändert Gültigkeit haben. So wurde die Einnahme von Zollgebühren zentralisiert, um die Gelder direkt an die Krone abzuführen und zu verhindern, dass die Zollbeamten sich bereicherten. Auch förderte Maria gezielt den englischen Handel, indem sie importierte Ware höher besteuern ließ als in England hergestellte Güter. Allerdings geriet sie damit in Konflikt mit der Hanse, die ihre privilegierte Stellung nicht aufgeben wollte. Da die Hanse der englischen Krone mehrfach Geld geliehen hatte, war Maria zu Zugeständnissen bereit. Die Hanse zahlte zwei Jahre lang dieselben Abgaben wie andere Händler, im Gegenzug durfte sie in England Stoffe erwerben, was ihr zuvor nicht möglich gewesen war. Da die Maßnahme bei den englischen Händlern jedoch sehr unpopulär war, wurde sie nach zwei Jahren wieder rückgängig gemacht. Da auf den europäischen Märkten starke Konkurrenz herrschte, versuchte Maria, neue Märkte in Übersee zu erschließen. Trotz ihrer Heirat mit Philipp hatte England keinen Zugang zu den Schätzen der Neuen Welt erhalten, weshalb sich Marias Augenmerk auf den Osten richtete. Schon im Juni 1553, in den letzten Tagen unter Eduard VI., war eine Expedition aufgebrochen, die eine Nordostpassage in den Orient suchte. Während der Kommandant Sir Hugh Willoughby starb, gelang es seinem stellvertretenden Kommandanten Richard Chancellor, über das Weiße Meer die russische Stadt Archangelsk zu erreichen. Von dort aus bereiste er Russland und wurde in Moskau von Iwan dem Schrecklichen empfangen. Iwan war an einem Handelsabkommen mit England interessiert, und am 5. April 1555 unterzeichneten Maria und Philipp einen Dankesbrief an Iwan und bestätigten ihre Absichten, mit ihm Handel zu treiben. Im selben Jahr wurde die Muscovy Company gegründet, die ein Monopol auf den Handel zwischen England und Russland erhielt und bis zur Russischen Revolution im Jahr 1917 Bestand haben sollte. Aus Russland erhielt England Materialien für den Schiffsbau, während England Gewürze, Wolle und Metallwaren exportierte. Ungefähr zur selben Zeit wurde der Queen Mary Atlas in Auftrag gegeben, eine Sammlung prächtiger, präziser Landkarten, die u. a. Europa, Afrika und Asien zeigten, sowie Südamerika und die nordöstliche Küste Nordamerikas. Von den ca. 14–15 Karten sind heutzutage noch neun erhalten. Zusätzlich trieb Maria soziale Reformen voran und verteilte fast doppelt so viele Freibriefe und Gründungsurkunden wie ihre Vorgänger. Unter anderem förderte sie die Eingemeindungen von Städten und Bezirken, was die Effizienz sowohl der Verwaltung als auch der Industrie erhöhte. Durch ihre Bestrebungen wurde es Städten ermöglicht, vor dem Gesetz als Kapitalgesellschaften aufzutreten. Auf diese Weise konnten Städte aus eigenem Recht Ländereien besitzen und deren Erlöse für Bildungsprogramme, Armenfürsorge und öffentliche Arbeiten verwenden. Auch konnten nun Gemeindeverordnungen erlassen werden, was den Städten Rahmenbedingungen für eine örtliche Gerichtsbarkeit gab. Die einfache Bevölkerung litt aufgrund von Missernten unter Hungersnöten und Epidemien. Die Reformen benötigten Zeit, um zu greifen. Um die Armenfürsorge zu zentralisieren, ließ Maria allein in London fünf Wohltätigkeitsorganisationen zusammenlegen, so dass Arme in der gesamten Stadt versorgt werden konnten. Proklamationen ließen die hungernde Bevölkerung wissen, wo Korn verteilt wurde. Wer Getreide hortete, musste mit schweren Strafen rechnen, und die Vorräte wurden regelmäßig überprüft. Obwohl die Maßnahmen unter Marias Herrschaft nicht das gewünschte Ergebnis zeigten, sollte ihre Nachfolgerin Elisabeth nachhaltig von ihnen profitieren. Außenpolitik Maria strebte eine Annäherung Englands an Spanien an, um so ein starkes Gegengewicht zu Frankreich aufzubauen. Ein Grund dafür war die Tatsache, dass ihre schottische Cousine Maria Stuart mit dem französischen Thronfolger verlobt war. Da Maria Stuart ebenfalls einen Anspruch auf den englischen Thron hatte, war sie für die Franzosen eine wichtige Schachfigur. König Philipp versuchte seine Ehefrau daher dazu zu bringen, sich mit ihrer Schwester Elisabeth zu versöhnen und sie nicht von der Thronfolge auszuschließen, obwohl diverse Komplotte in ihrem Namen stattfanden. Wäre Elisabeth ausgeschlossen worden und Maria kinderlos gestorben, wäre der englische Thron an Maria Stuart und somit an das französische Königshaus gegangen, ein Szenario, das Philipp vermeiden wollte. Stattdessen versuchte er Elisabeth mit dem Herzog von Savoyen Emanuel Philibert zu verheiraten, seinem entfernten Verwandten. Auf diese Weise wäre der englische Thron auch in Marias Todesfall unter Philipps Kontrolle geblieben. Elisabeth sträubte sich jedoch gegen diese Ehe, und Maria widerstand Philipps Druck, ihre Schwester ohne Zustimmung des Parlaments zu verheiraten. Spanien und Frankreich waren regelmäßig in Kriege miteinander verwickelt. Da stets die Gefahr bestand, dass England in den Konflikt hineingezogen wurde, versuchte Maria zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln. In ihrem Auftrag brachte Reginald Pole im Jahr 1555 die verfeindeten Parteien in Gravelines an den Verhandlungstisch und bemühte sich um eine Schlichtung. Allerdings weigerten sich Spanien und Frankreich, einen Kompromiss zu schließen, und die Verhandlungen scheiterten. Zur großen Demütigung von England unterzeichneten Frankreich und Spanien im Februar 1556 ohne englische Vermittlung einen Friedensvertrag, den beide allerdings nur so lange einhielten, bis ihre Streitkräfte sich wieder erholt hatten. Im September griff Fernando Álvarez de Toledo, Herzog von Alba und Philipps Vizekönig von Neapel, die päpstlichen Staaten an. Daraufhin verbündete sich Papst Paul IV. mit König Heinrich II. von Frankreich und erklärte Philipp und Karl V. den Krieg. Für England wurde die Lage bedrohlich, da Frankreich mit Schottland durch die Auld Alliance verbündet war und im Kriegsfall stets die Gefahr einer schottischen Invasion bestand. Maria bereitete das Land daher auf einen Krieg vor, ließ Truppen ausheben und Schiffe flottmachen. Zudem erklärte sich der Kronrat widerwillig bereit, Philipp Truppen zu schicken, falls die Niederlande angegriffen werden sollten. Der Papst, erbost über Marias Solidarität mit Philipp, entzog Kardinal Pole daraufhin seine Befugnisse als päpstlicher Gesandter und befahl ihm, nach Rom zurückzukehren und sich einer Anklage wegen Ketzerei zu stellen. Maria weigerte sich jedoch, Poles Abreise zuzustimmen, und verlangte, dass – falls überhaupt – ein englisches Gericht über ihn urteilen sollte. Andernfalls drohte sie damit, ihren Botschafter aus Rom abzuziehen. Zeitgenossen befürchteten, dass England ein weiteres Schisma bevorstand. Im März des Jahres 1557 kehrte Philipp II., mittlerweile nach der Abdankung seines Vaters, zu Maria nach England zurück, um englische Unterstützung anzufordern. Er blieb bis Juli und überredete Maria, Spanien im Krieg gegen Frankreich beizustehen. Dabei sollte England die französische Küste attackieren, um den Truppen in Italien eine Atempause zu verschaffen. Bereits während seines ersten Aufenthaltes in England hatte Philipp die Vergrößerung und Instandsetzung der englischen Marine veranlasst. Maria sicherte den Spaniern gegen den Willen der englischen Bevölkerung ihre Unterstützung zu. Der Kronrat sträubte sich heftig und berief sich dabei auf den Ehevertrag. Auch wies er Maria nachdrücklich darauf hin, dass England nicht in der Verfassung war, eine Kriegserklärung auszusprechen, da die Staatskasse leer war und ein Krieg mit Frankreich Handelsbeziehungen beenden oder stark behindern würde. Laut dem französischen Botschafter Antoine de Noailles bedrohte Maria einige Ratsmitglieder in privaten Unterredungen „mit dem Tod, andere mit dem Verlust all ihrer Besitztümer und Ländereien, wenn sie sich nicht dem Willen ihres Gatten unterwarfen“. Dennoch erfolgte eine Kriegserklärung erst, als der protestantische Exilant Thomas Stafford im April mit französischen Schiffen in England landete, Scarborough Castle einnahm und erklärte, er wolle das Land von Maria befreien, die durch ihre Heirat mit einem Spanier ihren Thronanspruch verwirkt habe. Philipp verließ England am 6. Juli wieder, und einige Tage später folgten ihm englische Truppen auf den Kontinent. Zur allgemeinen Erleichterung schloss Philipp im September mit dem Papst Frieden, was sich allerdings nicht auf den Krieg mit Frankreich auswirkte. Anfangs gelang es den Engländern, Siege gegen die Franzosen zu erringen und Heinrich II. empfindliche Niederlagen zu bereiten. Zum Jahreswechsel allerdings wurde es ihnen zum Verhängnis, dass im Winter üblicherweise auf Kriegshandlungen verzichtet wurde. Entgegen allen Erwartungen griffen die Franzosen zu Neujahr an, und die Stadt Calais, Englands letzte Bastion auf dem Festland, fiel im Januar 1558 an Frankreich. Es war ein schwerer Schlag für das nationale Selbstbewusstsein. Kardinal Pole nannte den Verlust „diese plötzliche, schmerzliche Katastrophe“, dennoch war sich der Kronrat einig, dass eine Rückeroberung nahezu unmöglich und unbezahlbar war, sehr zum Ärger Philipps, für den Calais von großer strategischer Bedeutung gegen Frankreich gewesen war. Tod und Nachfolge In ihren letzten Jahren ging es der Königin körperlich und seelisch schlecht. War sie in ihrer Jugend eine anerkannte Schönheit gewesen, wurde sie in ihren letzten Jahren oft als älter aussehend, als sie war, beschrieben, Zeitgenossen zufolge wegen ihrer Sorgen. Sie litt oft an Depression und ihre Unbeliebtheit machte ihr zu schaffen. Der venezianische Botschafter Giovanni Michieli berichtete, wie groß der Unterschied zum Beginn ihrer Herrschaft war, als sie beim Volk solche Beliebtheit genoss, „wie sie noch keinem Herrscher dieses Königreiches gezeigt wurde.“ Hinzu kamen gesundheitliche Probleme, die Maria seit ihrer Jugend quälten, unter anderem starke Menstruationsbeschwerden. In ihren späteren Jahren wurde sie gegen diese Beschwerden oft zur Ader gelassen, wodurch sie häufig bleich und ausgemergelt wirkte. Trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit hoffte Maria weiterhin, ein Kind zur Welt zu bringen. Nach Philipps Besuch in England hatte Maria eine zweite Scheinschwangerschaft. Diesmal teilte sie ihm ihren Zustand erst mit, als sie sich laut ihren Berechnungen im 6. Monat befand. Philipp, der sich nach wie vor auf dem Kontinent befand, drückte in einem Brief zwar seine Freude aus, verhielt sich aber abwartend, da in England viele Menschen Zweifel an der Schwangerschaft hegten. Als sich der 9. Monat näherte, verfasste Maria am 30. Mai 1558 für den Fall ihres Todes während der Geburt ihr Testament. Darin ernannte sie ihr Kind zu ihren Nachfolger und ernannte Philipp bis zur Volljährigkeit des Thronfolgers zum Regenten. Da diesmal von Anfang an Zweifel an einer Schwangerschaft bestanden, wurden keine Geburtsräume vorbereitet. Marias Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Sie litt an Fieberanfällen, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Sehschwierigkeiten. Im August erkrankte sie an Influenza und wurde in den St James’s Palace gebracht. Dort verfasste sie einen Zusatz zu ihrem Testament, in dem sie zugab, nicht schwanger zu sein, und bestimmte, dass die Krone an denjenigen fallen sollte, der laut den Gesetzen des Landes dazu berechtigt war. Noch immer zögerte sie, Elisabeth als ihre Erbin zu benennen, obwohl sie von den Spaniern und dem Parlament dazu gedrängt wurde, die vermeiden wollten, dass Maria Stuart den Thron erbte. Am 6. November gab Maria nach und benannte Elisabeth als ihre Erbin und Thronfolgerin. Kurz vor Mitternacht am 16. November erhielt sie die Sterbesakramente. Sie starb am 17. November 1558 mit zweiundvierzig Jahren zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Sechs Stunden nach ihrem Tod wurde Elisabeth zur Königin proklamiert, weitere sechs Stunden später starb auch Marias alter Freund Reginald Pole. Marias Leichnam wurde, wie damals üblich, einbalsamiert und drei Wochen lang aufgebahrt. Am 13. Dezember wurde sie in einer großen Prozession und mit allen Ehren, die einer Königin gebührten, nach Westminster Abbey überführt, wo am nächsten Tag die Beisetzung stattfand. Angeführt wurde der Trauerzug von ihrer geliebten Cousine Margaret Douglas. Der Bischof von Winchester, John White, hielt einen warmherzigen Nachruf über ihre Stärken und Verdienste, ihre Tapferkeit in kritischen Situationen und ihr soziales Gewissen den Benachteiligten gegenüber. Allerdings übte er in dieser Rede auch subtile Kritik an Elisabeth, weshalb sie ihn am nächsten Tag unter Hausarrest stellen ließ. Elisabeth wurde im Jahr 1603 ebenfalls in Westminster Abbey begraben. Drei Jahre später ordnete ihr Nachfolger Jakob I. die Überführung ihres Leichnams an, da er ihre Grabstätte neben Heinrich VII. und Elizabeth of York für sich beanspruchte. Stattdessen wurde Elisabeth in Marias Grab beigesetzt, über dem Sarg ihrer Schwester. Jakob stiftete Elisabeth ein großes Monument, auf dem Maria nur am Rande erwähnt wird. Die lateinische Inschrift auf ihren Grabsteinen lautet: Titel und Wappen Mit der Thronbesteigung wurde Maria mit demselben Titel zur Königin proklamiert wie ihre direkten Vorgänger Heinrich VIII. und Eduard VI.:Maria, durch Gottes Gnaden Königin von England, Frankreich und Irland, Bewahrer des Glaubens und Oberhaupt der Kirche von England und Irland. Den Titel des Königs von Frankreich beanspruchten die Könige von England seit 1328, als ihn Eduard III. im Rahmen des Hundertjährigen Krieges angenommen hatte. Obwohl der Titel bis zum Jahr 1802 beibehalten wurde, übte der englische Monarch keinerlei Macht in Frankreich aus. Nach der Heirat mit Philipp von Spanien wurde das Ehepaar mit König und Königin betitelt. Der offizielle gemeinsame Titel lautete:Maria und Philipp, durch Gottes Gnaden König und Königin von England, Frankreich, Neapel, Jerusalem und Irland, Verteidiger des Glaubens, Prinzen von Spanien und Sizilien, Erzherzöge von Österreich, Herzöge von Mailand und Brabant, Grafen von Habsburg, Flandern und Tirol. Mit der Thronbesteigung Philipps änderte sich der Titel erneut:Maria und Philipp, durch Gottes Gnaden König und Königin von England, Spanien, Frankreich, Beider Sizilien, Jerusalem und Irland, Bewahrer des Glaubens, Erzherzöge von Österreich, Herzöge von Mailand und Brabant, Grafen von Habsburg, Flandern und Tirol. Abstammung Einschätzung durch die Nachwelt Mit Marias Namen wurde lange Zeit fast ausschließlich die brutale Verfolgung der Protestanten verbunden. Ein Grund dafür ist die stark antikatholische Haltung, die nach ihrer Herrschaft in England aufkam. Protestantismus wurde als Teil der englischen Identität betrachtet, Katholizismus als Teil von Fremdherrschaft, entweder durch die Spanier oder durch Rom. Ein wichtiger Faktor hierbei war Marias unpopuläre Heirat mit Philipp. Marias schlechter Ruf als blutrünstige Protestantenmörderin ist hauptsächlich auf protestantische Propaganda zurückzuführen, wie sie insbesondere von John Foxe betrieben wurde. Im 17. Jahrhundert verfestigte der katholische König Jakob II. die Meinung, dass ein katholischer Herrscher katastrophale Folgen für das Land hatte. Im 19. Jahrhundert erlebte das nun protestantische England zudem eine Phase, in der englische Großartigkeit als vorbestimmt betrachtet wurde, was die katholische Maria in der Geschichtsschreibung automatisch zur Antagonistin stempelte. Heutzutage zeichnen Historiker ein etwas differenzierteres Bild von Maria. Trotz der Verfolgungen zeigte sich Maria zu Beginn ihrer Herrschaft Glaubensfragen gegenüber sehr tolerant und versuchte nicht, das Volk ohne Zustimmung des Parlamentes durch Zwang zu bekehren. Allerdings mangelte es Maria an dem persönlichen Charisma und der natürlichen Nähe zum Volk, die Elisabeth besaß. Auf diese Weise schätzte sie die religionspolitische Situation und insbesondere die Reaktion des Volkes darauf falsch ein. Dennoch benötigte Elisabeth mehr als fünf Jahre, um die Änderungen ihrer Schwester wieder rückgängig zu machen, was von Ann Weikl als Beweis gesehen wird, dass der Katholizismus trotz der Verfolgung der Protestanten durchaus wieder Fuß zu fassen begann. Auch wird Maria oft vorgeworfen, im Gegensatz zu ihrer erfolgreichen Schwester als Königin von England versagt zu haben. Ihre Zeitgenossen bemängelten hauptsächlich, dass ihre Ehe England unter das „Joch Spaniens“ gebracht hatte. Anders als Elisabeth hatte Maria jedoch keine Vorgängerin in Form einer Königin aus eigenem Recht, aus deren Fehlern sie lernen konnte, da ihre Rivalin Jane Grey in ihrer kurzen Zeit als nominelle Königin keine wirkliche Macht ausübte. Die einzige Tradition, auf die sie sich beziehen konnte, war die der Königsgemahlin. In Parlamentssitzungen und Debatten mit dem Kronrat zeigte Maria sich meistens kooperativ und kompromissbereit. Spannungen zwischen ihr und dem Rat entstanden hauptsächlich durch dessen Weigerung, Philipp zu krönen und ehemals kirchliche Ländereien zurückzugeben. Problematisch für sie war, dass ihre Berater zerstritten waren und sie damit niemandem völlig vertrauen konnte. Der Krieg mit Frankreich wurde ihr oft als größter Fehler angelastet, hauptsächlich wegen des Verlusts von Calais. Dennoch ist die moderne Geschichtsforschung überwiegend der Ansicht, dass Marias Herrschaft nicht als völlig gescheitert betrachtet werden kann. Sie gewann ihren Thron trotz aller Widerstände und sicherte damit die Herrschaft der Tudordynastie. Obwohl England stets eine Königin aus eigenem Recht gefürchtet hatte, regierte Maria gut genug, dass der Gelehrte John Aylmer, Tutor Jane Greys, über sie schrieb: „In England ist es keine so gefährliche Sache, eine Herrscherin zu haben, wie Männer glauben.“ Während ihrer Zeit als Königin initiierte sie sowohl soziale als auch wirtschaftliche und administrative Reformen, von denen Elisabeth, die einige von Marias Beratern übernahm, nachhaltig profitierte. Auch lernte Elisabeth aus Marias Fehlern und konnte sie während ihrer Regierung vermeiden, wie eine Heirat mit einem ausländischen Fürsten und die Unbeliebtheit religiöser Verfolgungen. Als erste eigenständige Königin von England legte Maria den entscheidenden Grundstein dafür, dass weibliche Monarchen die gleichen Rechte und Pflichten ausübten wie männliche. Rezeption in Kunst und Literatur Goldmedaille Im Jahre 1554 vergab der spätere Philipp II. den Auftrag an den Medailleur Jacopo Nizzola da Trezzo, eine Goldmedaille von Maria anzufertigen. Die Medaille hatte einen Durchmesser von 6,7 Zentimetern und eine Masse von 183 Gramm. Auf der Vorderseite befindet sich das Bild Marias, die einen großen Perlenanhänger an einer Kette trägt, ein Geschenk Philipps. Die Rückseite zeigt Maria, wie sie Waffen verbrennt. Diese Seite der Medaille trägt die Umschrift CECIS VISUS - TIMIDIS QUIES (deutsch: den Blinden die Sehkraft - den Ängstlichen die Ruhe). Ein Exemplar dieser Medaille befindet sich im British Museum, ein anderes Exemplar ist in privater Hand in den USA (Stand: Januar 2010). Theater und Oper Im 19. Jahrhundert diente das Leben von Maria Tudor als Vorlage für Victor Hugos Theaterstück Mary Tudor, das von Rudolf Wagner-Régeny unter dem Titel Der Günstling vertont und 1935 in Dresden uraufgeführt wurde. Das Libretto schrieb Caspar Neher unter Verwendung der Übersetzung von Georg Büchner. Das Stück Queen Mary von Alfred Tennyson entstand annähernd zur selben Zeit. Ebenfalls auf der Vorlage Hugos basiert die Oper Maria Tudor von Antônio Carlos Gomes, die am 27. März 1879 an der Scala in Mailand uraufgeführt wurde. Das Libretto zu dieser Oper stammt von Emilio Praga. Giovanni Pacini schrieb eine Oper über die Königin Maria im Jahre 1847 mit dem Titel Maria Regina d’Inghilterra. Film und Fernsehen Die Person Maria Tudor tritt in zahlreichen Filmen auf. Zu den bekanntesten zählen: Lady Jane von 1985 mit Jane Lapotaire. Obwohl Maria zunächst ein freundschaftliches Verhältnis mit Jane Grey hat und sie nicht hinrichten will, lässt sie sich vom spanischen Botschafter beeinflussen, der Janes Hinrichtung zur Bedingung für Philipps Reise nach England macht. Schweren Herzens stimmt Maria zu. Elizabeth von 1998 mit Kathy Burke als Maria. Sie wird als unattraktive, eifersüchtige Frau dargestellt, die ihre Schwester Elizabeth unschuldig in den Tower werfen lässt. Elizabeth I – The Virgin Queen, eine Miniserie der BBC von 2006 mit Joanne Whalley als Maria. Die erste Folge thematisiert Elisabeths Arrest. Maria wird als kompetente Herrscherin, aber eifersüchtige Schwester dargestellt, die die Kränkungen unter Anne Boleyn nie vergessen hat und Elisabeth verdächtigt, gegen sie zu intrigieren. Die Tudors von 2007 bis 2010 mit Bláthnaid McKeown in der ersten Staffel und ab der zweiten Staffel mit Sarah Bolger als Maria. Getrennt von ihrer Mutter versucht Maria ihre Identität als Prinzessin von England zu wahren, unterwirft sich aber Heinrich, als ihr Leben bedroht wird. Sie zeigt sich ihren Geschwistern Eduard und Elisabeth gegenüber als liebevolle Schwester, gerät jedoch in Konflikt mit ihren protestantischen Stiefmüttern Anna von Kleve und Catherine Parr sowie mit der flatterhaften Catherine Howard. Becoming Elizabeth von 2022 mit Romola Garai als Maria. Marias katholischer Glaube gerät in Konflikt mit dem Protestantismus ihres Bruders Eduard VI. Folgendermaßen muss sie sich für die Treue zu ihrem Glauben oder Treue zu ihrem Bruder entscheiden. Zusätzlich wird die komplizierte Beziehung zu ihrer Schwester Elisabeth I. thematisiert. Die Serie schildert, wie die einst wohlwollende und liebevolle Beziehung der drei Geschwister immer mehr von Politik und Religion unterwandert wird. Belletristik Maria ist Gegenstand englischer historischer Romane, von denen einige ins Deutsche übersetzt wurden: Philippa Gregory: The Queen’s Fool (2003); deutsch Die Hofnärrin (2007) Jean Plaidy: The Shadow of the Crown (Mary Tudor) (1988); deutsch Im Schatten der Krone Carolyn Meyer: Mary, Bloody Mary (1999); deutsch Das Gift der Königin (2001) Sie taucht ebenfalls in historischen Romanen aus dem deutschsprachigen Raum auf. Rebecca Gablé: Der dunkle Thron. Lübbe Ehrenwirth, Köln 2011, ISBN 978-3-431-03840-8 2021 erschien die Graphic Novel Bloody Mary von Kristina Gehrmann, in der die Lebensgeschichte von Marias Jugend bis zu ihrem Tod nachvollzogen wird und deren Hauptquelle die Biographie von Carolly Erickson ist. Literatur Dieter Berg: Die Tudors. England und der Kontinent im 16. Jahrhundert. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-025670-5, S. 81ff. Eamon Duffy: Fires of Faith: Catholic England under Mary Tudor. Yale University Press, New Haven 2009, ISBN 978-0-300-15216-6 (englisch). Raingard Eßer: Die Tudors und die Stuarts (1485–1714). Kohlhammer, Stuttgart 2004, ISBN 3-17-015488-5. David Michael Loades: Maria Tudor (1516–1558). England unter Maria der Katholischen. Callwey, München 1982, ISBN 3-7667-0638-1. Peter Marshall: Reformation England 1480–1642. Hodder Arnold, London 2003, ISBN 0-340-70623-6 (englisch). Linda Porter: Mary Tudor. The First Queen. Piatkus, London 2009, ISBN 978-0-7499-0982-6 (englisch). Hilde F. M. Prescott: Maria Tudor, die Blutige (Originaltitel: Mary Tudor, übersetzt von Ulrich Brache). Kohlhammer, Stuttgart 1966 (). Hilde F. M. Prescott: Mary Tudor. The Spanish Tudor. Phoenix, London 2003, ISBN 1-84212-625-3 (englisch). Peter Wende (Hrsg.): Englische Könige und Königinnen. Von Heinrich VII. bis Elisabeth II. Beck, München 1998, ISBN 3-406-43391-X. Anna Whitelock: Mary Tudor. England’s First Queen. Bloomsbury, London 2010, ISBN 978-1-4088-0078-2 (englisch). Weblinks Maria auf der offiziellen Seite des Königshauses Maria Tudor Seite (englisch) Maria bei englishhistory.net Anja Reinhardt: 18.02.1516 - Geburtstag der englischen Königin Maria I. WDR ZeitZeichen vom 18. Februar 2016. (Podcast) Einzelnachweise Monarch (England und Irland) Königin (Spanien) Herrscher (16. Jahrhundert) Geschichte Englands in der Frühen Neuzeit Geschichte Irlands in der Frühen Neuzeit Familienmitglied des Hauses Tudor Person in den Anglo-Schottischen Kriegen Philipp II. (Spanien) Träger der Goldenen Rose ⚭Maria 01 #England Person (London) Geboren 1516 Gestorben 1558 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Agnes%20Bernauer
Agnes Bernauer
Agnes Bernauer (* um 1410 wohl in Augsburg; † 12. Oktober 1435 bei Straubing) war die Geliebte und vielleicht auch die erste Ehefrau des bayerischen Herzogs Albrecht III. Durch diese nicht standesgemäße Verbindung geriet Albrecht in Konflikt mit seinem Vater Herzog Ernst von Bayern-München, der Agnes 1435 in der Donau ertränken ließ. Albrecht versöhnte sich wenig später wieder mit seinem Vater und heiratete 1436 Anna von Braunschweig-Grubenhagen. Leben und Sterben der Agnes Bernauer wurden in zahlreichen literarischen Werken verarbeitet. Zu den bekanntesten zählen Friedrich Hebbels Trauerspiel Agnes Bernauer und Die Bernauerin von Carl Orff. Alle vier Jahre finden in Straubing Agnes-Bernauer-Festspiele statt, bei denen die Geschichte von Laienschauspielern in Szene gesetzt wird. Leben Agnes Bernauer wurde wohl um 1410 geboren; über ihre Kindheit und Jugend ist nichts bekannt. Sie gilt traditionell als Tochter des Augsburger Baders Kaspar Bernauer, dessen Existenz jedoch bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Da der bayerische Herzogssohn Albrecht III. im Februar 1428 in Augsburg an einem Turnier teilnahm, wird oft angenommen, dass er Agnes bei dieser Gelegenheit kennenlernte und kurz darauf zu sich nach München holte. In einer auf 1428 datierten Münchner Steuerliste wird bereits eine pernawin als Mitglied seines Hofstaats genannt, bei der es sich wahrscheinlich um Agnes Bernauer handelt. Spätestens im Sommer 1432 war Agnes Bernauer eine feste Größe am Münchner Hof. Sie betrieb die Festnahme des Raubritters Münnhauser, der in die Alte Veste geflohen war, und erregte durch ihr selbstbewusstes Auftreten den Zorn der Pfalzgräfin Beatrix, der Schwester Albrechts. Möglicherweise waren Agnes und Albrecht zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet, konkrete Beweise für eine Eheschließung existieren allerdings nicht. Albrechts häufige Aufenthalte auf Schloss Blutenburg seit Anfang 1433 und der Verkauf zweier in der Nähe gelegener Höfe an Agnes im Januar dieses Jahres lassen vermuten, dass das Paar zusammen dort lebte. Belege für gemeinsame Aufenthalte in Albrechts Grafschaft Vohburg fehlen, auch Nachkommen sind nicht bekannt. Herzog Ernst, Albrechts Vater, konnte die Gefährdung der Erbfolge durch die unstandesgemäße Verbindung seines einzigen Sohnes offensichtlich nicht akzeptieren. Während Albrecht auf einer Jagdveranstaltung seines Verwandten Heinrich von Bayern-Landshut weilte, ließ der alte Herzog Agnes verhaften und am 12. Oktober 1435 bei Straubing in der Donau ertränken. Albrecht begab sich zunächst zu Herzog Ludwig nach Ingolstadt, versöhnte sich aber nach einigen Monaten wieder mit seinem Vater und heiratete im November 1436 Anna von Braunschweig-Grubenhagen. Zu der befürchteten militärischen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn kam es nicht, vielleicht wirkte Kaiser Sigismund mäßigend auf Albrecht ein. Andenken Albrecht stiftete Agnes Bernauer noch im Dezember 1435 eine ewige Messe und einen Jahrtag im Straubinger Karmelitenkloster. 1447 erweiterte er diese Stiftung zu Ehren der „ersamen frauen Agnesen der Pernauerin“ noch einmal. Sein Vater hatte bereits 1436, wohl um ihn zu besänftigen, im Friedhof von St. Peter zu Straubing eine Agnes-Bernauer-Kapelle errichten lassen. Ob Agnes, wie von ihr selbst gewünscht, im Kreuzgang des Karmelitenklosters bestattet wurde oder Albrecht die Überführung der Gebeine in die ihr gewidmete Kapelle veranlasste, ist ungewiss. In den Boden der Kapelle wurde jedenfalls ein Grabstein aus rotem Marmor eingelassen, auf dem Agnes Bernauer nahezu in Lebensgröße dargestellt ist. Das Relief zeigt die Verstorbene mit dem Kopf auf einem großen Kissen liegend. Mit der rechten, von zwei Ringen geschmückten Hand hält sie einen Rosenkranz, zwei kleine Hunde zu ihren Füßen sollen ihr den Weg ins Jenseits weisen. Wohl aufgrund eines Versehens ist auf dem Stein der 12. Oktober 1436 als ihr Todestag angegeben. Aus den folgenden drei Jahrhunderten gibt es nur spärliche Nachrichten über die Gedenkstiftungen für Agnes Bernauer. 1508 war ein Johannes Haberlander als Kaplan für die Bernauer-Kapelle zuständig. Für deren Instandhaltung und die tägliche Lesung der Messe erhielt er aus der Kasse des Herzogs 17 Pfund Regensburger Pfennige. Bis 1526 war sein Amt an Leonhard Plattner übergegangen, der für seine Tätigkeit 48 Gulden und 4 Schilling Wiener Pfennige erhielt. Wie lang diese Kaplansstelle aufrechterhalten wurde, ist unklar. Bekannt ist nur, dass der Kirchenverwalter Franz von Paula Romayr den Grabstein 1785 mit Genehmigung des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor an der Wand der Kapelle anbringen ließ, um ihn vor weiterer Beschädigung „durch verwüstende Menschentritte“ zu schützen. Das Grab selbst konnte bei der Umbettung des Decksteins nicht gefunden werden. Die Agnes-Bernauer-Kapelle entwickelte sich dennoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Touristenziel. Die Bayerische National-Zeitung sah in ihr sogar den einzigen Grund dafür, in Straubing Halt zu machen. Die Einheimischen gaben den Besuchern bereitwillig, aber nicht immer ganz zuverlässig Auskunft. Ein besorgter Leser schrieb 1813 an das Königlich-Bairische Intelligenzblatt, der Mesner habe ihm mitgeteilt, dass österreichische Truppen die Gebeine der Bernauerin mitgenommen hätten. Als der Dichter August von Platen den Grabstein 1822 in Augenschein nahm, erfuhr er von der Mesnerin, dass Agnes und Albrecht nach ihrer Geburt vertauscht worden und somit in Wirklichkeit Herzogstochter und Baderssohn gewesen seien. Ein Buch, das diese Vertauschung belege, hätten allerdings französische Soldaten mitgenommen. Der englische Dramatiker James Planché verließ sich bei seinem Besuch in Straubing 1827 lieber auf das Handbuch für Reisende auf der Donau von Joseph August Schultes. Nachdem die Grabungen in der Kapelle bei St. Peter keine Ergebnisse zu Tage gefördert hatten, ließ Bernauer-Biograph Felix Joseph Lipowsky 1807 im Karmelitenkloster nach dem Grab Agnes Bernauers suchen. Er hatte im Archiv des Klosters eine Notiz entdeckt, der zufolge es sich in der ehemaligen Nikolauskapelle der Klosterkirche befand. Die unter der nach 1692 zur Sakristei umgebauten Kapelle vermutete Gruft war jedoch verschüttet und Lipowsky konnte nur mutmaßen, dass die Gebeine im Zuge des Umbaus umgebettet worden waren. Trotz weiterer Untersuchungen bleibt das Grab bis heute unentdeckt. Der bayerische König Ludwig I., der selbst 1812 als Kronprinz die Agnes-Bernauer-Kapelle besucht hatte und später der Bernauerin ein Gedicht widmete, sorgte 1831 dafür, dass zumindest die Messen für Agnes und Albrecht in der Karmelitenkirche wieder gelesen wurden. Seit 1922 wird aus finanziellen Gründen nur noch ein Jahrtag gefeiert, für den der Freistaat Bayern aufkommt. Für 2006 betrugen die Zahlungen 7,67 Euro. Quellen Herzogsurkunden Unter den zeitgenössischen Quellen zu Agnes Bernauer sind zunächst einmal die in deutscher Sprache geführten Korrespondenzen der Herzöge Albrecht, Ernst und Heinrich zu nennen. Ein Hinweis Ernsts an seinen erkrankten Sohn, er solle sich vor Frauen hüten, vom September 1433 wird meist auf die Bernauerin bezogen. Wahrscheinlich war Agnes auch eines der Themen, über die Ernst mit Albrecht im Mai 1435 sprechen wollte. Am 6. Oktober lud Heinrich von Bayern-Landshut Albrecht zur Jagd ein. Dieser nahm die Einladung trotz einer bevorstehenden Gedenkfeier für seinen kurz zuvor verstorbenen Onkel Wilhelm an und war somit am 12. Oktober, dem Tag der Hinrichtung, nicht in Straubing. Eine Notiz auf Heinrichs Schreiben legt nahe, dass noch weitere Briefe existierten, die aber auf Anweisung eines der Herzöge aus dem Archiv entfernt wurden. Ernsts offizielle Begründung für die Hinrichtung der Bernauerin ist den Anweisungen zu entnehmen, mit denen er seinen Vertrauten Friedrich Aichstetter am 28. Oktober 1435 zu Kaiser Sigismund schickte. Agnes Bernauer sei ein „böses Weib“ und sein Sohn ihretwegen schon seit drei oder vier Jahren bedrückt gewesen. Ernst habe schließlich Angst um Albrechts Leben bekommen, zumal ihm zu Ohren gekommen sei, dass Agnes ihn selbst und seinen jungen Neffen Adolf, den Sohn seines Bruders Wilhelm, ermorden wolle. Nachdem kein Ende der Bedrohung seiner Familie durch diese Frau abzusehen gewesen sei, habe er sie ertränken lassen. Leider habe nun aber Ludwig von Bayern-Ingolstadt, den der Kaiser bereits als Unruhestifter kenne, Ernsts Sohn an seinen Hof gezogen. Sigismund solle Albrecht empfehlen, zu seinem Vater zurückzukehren und dessen Anweisungen Folge zu leisten. Ernst habe seinem Sohn, dessen Beziehung zu Agnes Bernauer den Ruf der bayerischen Fürsten im Ausland beschädigt habe, schließlich nur helfen wollen. Wie der Kaiser, in dessen Familie sich einige Jahre zuvor mit Veronika Deseniška, der zweiten Frau seines Schwagers Friedrich von Cilli, bereits einmal ein ähnlicher Vorfall ereignet hatte, auf diese Anfrage reagierte, ist nicht bekannt. Ernst und Albrecht versöhnten sich jedenfalls bald wieder. Auf der Stiftungsurkunde vom 12. Dezember 1435 ließ der Vater ausdrücklich vermerken, dass die Stiftung auch in seinem Sinne und mit seinem Wissen geschehen sei. Sein Cousin Heinrich zeigte sich in einem Brief an Ernst über diese Entwicklung erfreut, musste aber bald erfahren, dass Albrecht ihm selbst die „geschicht wegen der Pernawerin“ immer noch übelnahm. Das Verhältnis zwischen Albrecht und Ernst besserte sich unterdessen zusehends: Im Januar 1436 bat der alte Herzog seinen Sohn, doch länger in München zu bleiben, um mit ihm auf die Jagd zu gehen, und als Ernst im April schwer erkrankte, zeigte sich Albrecht ehrlich besorgt. Nach seiner Genesung stiftete Ernst die Agnes-Bernauer-Kapelle bei St. Peter mitsamt einem Jahrtag und einer ewigen Messe, den Ausbau der Stiftung bei den Karmeliten durch Albrecht am Agnestag 1447 erlebte er aber nicht mehr. Kammerrechnungen Die früheste bekannte Nachricht über Agnes Bernauer entstammt allerdings nicht den Herzogsurkunden, sondern einer Münchner Steuerliste von 1428. Von der Sondersteuer zur Finanzierung der Hussitenkriege war auch Albrechts Gesinde nicht ausgenommen, zu dem Agnes zu diesem Zeitpunkt offenbar bereits gehörte. Für die folgenden Jahre stellen die Kammerrechnungen des Münchner Stadtschreibers Hans Rosenbusch die wichtigste Quelle dar. Rosenbusch, der als Repräsentant des standesbewussten Patriziats Agnes Bernauer kritisch gegenüberstand, überliefert die Episode mit dem Raubritter Münnhauser und den Zorn der Pfalzgräfin Beatrix über die Bernauerin. Aus den Kammerrechnungen ist auch die Verhaftung zweier Frauen bekannt, die anscheinend im März 1434 bei den Neubürgern der Stadt Stimmung für Agnes machten. Als Beatrix im Dezember 1434 wieder in München weilte, beklagte sie sich Rosenbusch zufolge, dass ihr Bruder Albrecht nicht wie sein Onkel Wilhelm „eine schöne Frau“ hatte. Mitte Oktober 1435 ließ sich der spätere Stadtkämmerer Karl Ligsalz seine Reisekosten erstatten. Er war mit Ernst zu einem Treffen der Fürsten und Herren nach Kelheim gereist, auf dem von Ludwig von Ingolstadt und von der Bernauerin die Rede gewesen war. Welcher der anderen Herzöge ebenfalls zugegen war, ist umstritten. Der Historiker Sigmund Riezler ging angesichts des schlechten Verhältnisses zwischen Albrecht und Heinrich nach Agnes Bernauers Tod davon aus, dass Herzog Ernst in Kelheim Heinrich von Landshut über die geplante Hinrichtung informiert und die von diesem vorgeschlagene gemeinsame Jagd nur ein Vorwand war, um Albrecht lang genug von Straubing fernzuhalten. Heinrichs Rolle wird sich wohl nicht endgültig klären lassen. Dagegen fiel die Reaktion des Münchner Stadtschreibers auf den Tod der Bernauerin umso eindeutiger aus: Am 22. Oktober berichtete er, man habe „die Bernauerin gen Himmel gefertigt“, und ließ die Nachricht von ihrem „Untergang in der Donau“ weitergeben. Sechs Tage später finanzierte er den Münchner Patriziern Peter Rudolf und Lorenz Schrenck die Reise zu Albrecht, der in Vohburg oder Ingolstadt vermutet wurde. Sie sollten ihn zur Rückkehr zu seinem Vater auffordern. Am 10. Dezember teilte Ernsts Kammerknecht einem zweifelnden Hans Rosenbusch mit, Ernst und Albrecht hätten sich versöhnt. Kurz vor Weihnachten ließen die Münchner sogar Kerzen anzünden, um Gott um Albrechts Unterwerfung zu bitten. Die 32.000 Ave Maria, die zu Ostern 1436 dem Land Bayern Frieden bringen sollten, waren aber wahrscheinlich schon durch neuerliche Auseinandersetzungen mit Ludwig von Ingolstadt motiviert. Eine Aufzählung der Geschenke zur Hochzeit zwischen Herzog Albrecht und Anna von Braunschweig im November 1436 verband der Stadtschreiber schließlich mit einer letzten Spitze gegen Agnes Bernauer: Alle sollten froh sein, „dass wir nicht wieder eine Bernauerin gewonnen haben“. Kaufurkunde von Aubing Der Vorname Agnes wurde erstmals in der Kaufurkunde aus der Pfarrei Aubing vom 7. Januar 1433 genannt. Die Vertragspartner waren der Pfarrer von Aubing, die Pröpste der Ulrichskirche in Laim und die „ehrsame Jungfrau Agnes die Bernauerin“. Agnes kaufte für 25 Pfund Münchner Pfennige eine Hube und ein Gehöft in Untermenzing. Woher sie das Geld hatte, wurde nicht mitgeteilt, und auch Albrecht wurde in der Urkunde nicht erwähnt. Dass Agnes als Jungfrau bezeichnet wurde, spricht dafür, dass sie zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht mit Albrecht verheiratet war. Finanziert wurde der Kauf wahrscheinlich dennoch von Albrecht, der sie wohl finanziell absichern wollte. Er hielt sich zwischen 1433 und 1435 mehrfach in dieser Gegend auf und ließ auch die nahe Blutenburg ausbauen. Berücksichtigt man noch die auf den 25. Januar 1434 datierte Nachricht, dass der Hofmeister zu Menzing der Bernauerin fünf rheinische Gulden übergeben solle, liegt die Vermutung nahe, dass Agnes und Albrecht längere Zeit zusammen dort lebten. Berichte von Zeitzeugen Der erste Geschichtsschreiber, der Herzog Albrecht und die Bernauerin erwähnte, war ihr Zeitgenosse Andreas von Regensburg in seiner auf Anregung Herzog Ludwigs verfassten Chronica de principibus terrae Bavarorum. Bei dem Andreas zufolge am 23. November 1434 bei einem Turnier in Regensburg wegen seiner Geliebten angegriffenen Fürsten dürfte es sich um Albrecht handeln, zumindest ist in im Jahre 1469 eingefügten Zusätzen und in ausführlicheren Berichten späterer Chronisten von ihm die Rede. Andreas’ Darstellung ihrer Hinrichtung ist die Grundlage fast aller späteren Berichte über Agnes Bernauer. Er schrieb, am 12. Oktober 1435 sei auf Befehl Herzog Ernsts die schöne Geliebte seines Sohnes Albrecht, die Tochter eines Augsburger Baders, von der Straubinger Donaubrücke gestürzt worden. Sie habe noch versucht, ans Ufer zu schwimmen, sei aber vom Henker mit einer Stange wieder unter Wasser gedrückt worden. Der daraus erwachsende Konflikt zwischen Vater und Sohn sei schließlich durch die Stiftung einer Kapelle und einer ewigen Messe am Grab der Bernauerin bei St. Peter beigelegt worden. Aus der Feder späterer Autoren stammen nur einige wenige Details, die sich nicht schon bei Andreas von Regensburg finden. So erwähnte er weder den allerdings urkundlich und inschriftlich bezeugten Vornamen der Bernauerin noch den Namen ihres Vaters. Auch ihre Haarfarbe nannte er nicht. In der Frage, ob Albrecht mit ihr verheiratet war, legte sich Andreas nicht fest. Anders der zweite Zeitzeuge, der spätere Papst Enea Silvio de’ Piccolomini, der wohl auf dem Konzil von Basel (1431–1449) von der Geschichte erfahren hatte. Piccolomini meinte, Albrecht habe Agnes nur versprochen, sie zur Frau zu nehmen, dieses Versprechen aber nicht eingelöst. Die stolze Agnes habe sich wegen der Liebe des jungen Herzogs zu ihr für besser gehalten als ihre Eltern und sei bei Straubing in der Donau ertränkt worden, als dessen Vater Ernst erkannt habe, dass Albrecht ihretwegen keine Adlige heiraten wolle. Ihren Herkunftsort und ihren Namen ließ Piccolomini unerwähnt, vielleicht waren sie ihm nicht bekannt. Er bezeichnete sie lediglich „das Mädchen eines Badewärters“, ohne weiter ins Detail zu gehen. Rezeption Chronisten bis Johannes Aventinus Die ersten Autoren, die sich nach Andreas von Regensburg und Enea Silvio de’ Piccolomini mit der Bernauerin befassten, waren die bayerischen und schwäbischen Chronisten des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ihre Berichte fielen oft recht knapp aus und wichen in einigen Details von Andreas’ Ausführungen ab. So datierte der Augsburger Johannes Frank die Hinrichtung von „Engel Bernauerin“ – „Engel“ ist hier eine Koseform des Vornamens Agnes – um 1467 auf den 13. Oktober 1434, während ein anonymer Mitbürger Franks wenig später angab, ihr Vater sei „Leichtlin, ain barbierer“ gewesen. Der bayerische Hofchronist Ulrich Füetrer ging um 1480 nicht näher auf Agnes Bernauer ein und sprach nur allgemein von Albrechts Vorliebe für die „zarten frawen“, sein Kollege Hans Ebran von Wildenberg wusste dagegen zehn Jahre später zu berichten, dass sie „ein schlafweib“ des jungen Herzogs gewesen sei. Dessen Vater Ernst habe ihr angeboten, stattdessen jemand anderen zu heiraten. Als sich die bürgerliche Agnes jedoch ein Mitglied der mächtigen Adelsfamilie der Degenberger als Ehemann gewünscht habe, sei er über diesen Wunsch so in Wut geraten, dass er sie habe ertränken lassen. Veit Arnpeck, der etwa zur selben Zeit wie Ebran von Wildenberg schrieb, kannte Ernsts Eheangebot anscheinend nicht, schrieb aber, der alte Herzog habe Agnes’ Hinrichtung, die am 12. Oktober 1436 stattgefunden habe, bald sehr bereut und sie sei auch wie eine Fürstin „mit ainem schönen stain“ begraben worden. Zu Lebzeiten sei Agnes Bernauer so schön gewesen, dass von außen zu sehen gewesen sei, wie der Rotwein ihren Hals hinab geflossen sei. Ausführlich und mit korrekter Datumsangabe beschrieb die Hinrichtung um 1500 ein anonymer Regensburger Chronist, sein Bericht entspricht allerdings fast wörtlich dem des Andreas von Regensburg, den er offensichtlich zur Verfügung hatte. Knapper, aber in eigenen Worten stellte die Chronik des Augsburgers Hektor Mülich den Fall dar: Herzog Ernst habe „Engla Bernauerin“ am 12. Oktober 1435 in Straubing ertränken lassen, weil sein Sohn sie geliebt, ihr eine fürstliche Hofhaltung verschafft und sie vielleicht – „fil leut“ seien dieser Ansicht – sogar zur Ehe genommen habe. Auf nicht näher bezeichnete Informanten verließ sich auch der Ebersberger Mönch Vitus, als er um 1505 angab, Albrecht habe Agnes das Straubinger Herzogsschloss als Wohnung überlassen. Angelus Rumpler stützte sich dagegen für seine ebenfalls um 1505 entstandenen Calamitates Bavariae auf die Darstellung Piccolominis, den er kurz Aeneas nannte. Fantasievoller zeigte sich einige Jahre später der Geschichtsschreiber Ladislaus Sunthaym in seiner Familia Ducum Bavariae, der wissen wollte, dass Agnes aus Biberach gestammt habe, sehr feinfühlig gewesen sei, eine wohlgeformte Figur besessen habe und ihr goldenes Haar lang getragen habe. Ernst habe sie hinrichten lassen, weil sie Albrecht wiederholt als ihren Ehemann bezeichnet und niemand anderen heiraten gewollt habe. Harsche Kritik an der Vorgehensweise des alten Herzogs äußerte erstmals 1514 der Abt Johannes Trithemius. Er nannte die Hinrichtung „eine Tat, unwürdig eines christlichen Fürsten“. Trithemius konnte darin, dass sich Ernsts Sohn in ein „Mädchen vom Land“ verliebt hatte, kein Verbrechen erkennen, Albrecht sei nicht der erste Fürst gewesen und werde auch nicht der letzte sein, der mehr Wert auf Schönheit als auf Herkunft lege. Auf eine moralische Wertung der Ereignisse, nicht aber auf einen Hinweis auf das gute Aussehen der Bernauerin verzichtete der Augsburger Stadtschreiber Konrad Peutinger in seiner um 1515 verfassten Chronica von vil namhafftigen Geschichten. Ihm zufolge habe die schöne Tochter des Augsburger Barbiers Leichtlin angeboten, in ein Kloster zu gehen, sei aber trotzdem ertränkt worden. Peutinger scheint Mitleid mit ihr empfunden zu haben; er schloss mit der Bitte, Gott solle ihr gnädig sein. Einen ganz anderen Ansatz wählte 1521 Johannes Aventinus: Er verknüpfte die traurige Geschichte der Agnes Bernauer mit einer von ihm als lustig empfundenen Geschichte von sechs (in einer späteren Fassung fünf) Mönchen, die mitsamt ihrer Rechenstube in den Inn stürzten und schließlich von Fischern gerettet wurden. Auf die glückliche Rettung der Mönche folgte Aventins Darstellung des Untergangs der Bernauerin, die zum ersten Mal auch den später oft dargestellten Prozess vor dem herzoglichen Gericht umfasste. Ernst habe, nachdem sein Sohn seine Geliebte öffentlich zu heiraten versprochen und diese sich als Herzogin von Bayern zu zeigen geplant habe, alle ratsfähigen Männer zusammengerufen und Agnes’ Festnahme erwirkt. Als sie sich vor Gericht „allzu dreist mit weiblicher Unbesonnenheit“ verteidigt habe, sei sie in einen Sack genäht und in der Donau ertränkt worden. Chronisten nach Johannes Aventinus Wiederum etwas anders schilderte der Augsburger Benediktiner Clemens Sender um 1536 den Tod Agnes Bernauers. Ernsts Henker habe ihr angeboten, sie sei frei, wenn sie nur bekenne, dass Albrecht nicht ihr Mann sei, und sie erst ins Wasser geworfen, als sie geantwortet habe, sie sei Albrechts Frau. Als sie auch noch gelebt habe, als sie zum dritten Mal aus dem Wasser gezogen worden sei, habe der Henker sie mit einer langen Stange auf den Grund des Flusses gedrückt, wodurch sie ertrunken sei. Der aus Augsburg stammende Gelehrte Hieronymus Ziegler legte den Schwerpunkt seiner Darstellung, für die er auf mehrere Quellen zurückgriff, dagegen weniger auf die Hinrichtung selbst als auf die Hintergründe und die Folgen der Tat. Die Charakterisierung der handelnden Personen und die Gerichtsszene entnahm er weitgehend Aventins Chronik, in seiner Beschreibung der Hinrichtung paraphrasierte er Andreas von Regensburg und für die Bewertung konsultierte er nach eigenen Angaben Enea Silvio de’ Piccolomini, kam aber zu einem anderen Ergebnis als dieser. Wie Trithemius, dessen Werk er wohl ebenfalls kannte, nannte Ziegler die Ermordung der Bernauerin „unwürdig“ und sah darin eine Bestätigung der These „Recht ist der Vorteil der Mächtigen“. Der Regensburger Chronist Lorenz Hochwart betrieb ein weniger umfangreiches Literaturstudium als Ziegler und verließ sich vor allem auf die Angaben bei Andreas von Regensburg, die er lediglich um die Namen weiterer Teilnehmer beim Regensburger Turnier von 1434 und die Haarfarbe Agnes Bernauers ergänzte. Sein Augsburger Kollege Achilles Pirmin Gasser ließ sie wie Aventin in einen Sack eingenäht sterben und meinte, sie sei im Volk Angela genannt worden. Eine um 1580 zusammengestellte Genealogia Ducum Bavariae gab an, Agnes sei „so in Poshayt verhartet“ gewesen, dass sie „selbst Herzogin zu seyn angab“ und Herzog Ernst nicht als „iren Richter und Herrn“ anzuerkennen bereit gewesen sei, worauf der Herzog sie habe „ersauffen“ lassen. Einige Jahre später nahm sich schließlich auch ein Straubinger Autor der Ereignisse an. Georg Sigersreiter teilte den Lesern seiner Antiquitates Straubingenses 1584 in Versform mit, dass Agnes am 12. Oktober 1436 ihr Leben beendet habe, weil sie im Auftrag des edlen Herzogs Ernst als Ehebrecherin ertränkt worden sei. Während sich die meisten Autoren des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts bei der Darstellung des Falles Bernauer in den gewohnten Bahnen bewegten, bot die Gottfried’sche Chronik noch einmal einen ganz neuen Deutungsansatz: Bei der Hinrichtung der Bernauerin habe es sich schlicht um „einen zimlichen Bayerischen Exzeß“ gehandelt. Ernst habe „gut Bayerisch gehandelt“, aber dadurch den Zorn seines Sohnes auf sich gezogen. Der Autor der Chronik hielt die später erfolgte Stiftung von Kapelle und ewiger Messe für überflüssig und schloss mit den Worten „wann das Kalb ertrunken ist, so macht man den Brunnen zu“. Durchdachter als bei Gottfried wirkt die Argumentation in den 1662 unter dem Namen des bayerischen Kanzlers Johann Adlzreiter von Tettenweis veröffentlichten Annales Boicae gentis des Jesuiten Johannes Vervaux. Vervaux räumte nach einer ausführlichen Darstellung der Ereignisse zwar ein, dass Ernsts Vorgehen einigen als hart erschienen sei – namentlich nannte er Trithemius –, der alte Herzog habe aber wie schon Moses ein Exempel gegen die Unzucht statuieren müssen. Dass er nur Agnes, nicht aber den ebenso schuldigen Albrecht bestraft habe, sei vor allem deshalb angemessen gewesen, weil dieser seine einzige Hoffnung auf legitime Nachkommen gewesen sei. Dichter und Dramatiker des 16.–18. Jahrhunderts Im 16. und 17. Jahrhundert haben zwar zahlreiche Chronisten Agnes Bernauer einer Erwähnung für würdig befunden, dichterische Bearbeitungen des Bernauerstoffs aus dieser Zeit sind jedoch recht selten. Ladislaus Sunthaym zufolge wurde um 1510 ein „schönes Lied“ über die Bernauerin gesungen, dessen Wortlaut jedoch nicht überliefert ist. Vielleicht handelte es sich dabei bereits um das noch heute bekannte Lied von der schönen Bernauerin, das jedoch erst im 18. Jahrhundert sicher nachgewiesen ist (vgl. Bernauerin (Volksballade)). Gesichert sind lediglich ein Meisterlied von Hans Sachs aus dem Jahr 1546 mit dem Titel Die ertrenkt Jungfrau sowie eine bairische Bearbeitung dieses Meisterliedes, die 1604 in Danzig von einem gewissen Jörg Wallner, vielleicht einem Kürschner aus Burghausen, aufgezeichnet wurde. Sachs und Wallner, der Agnes in seinem Lied als Kürschnerstochter bezeichnete, verwendeten darin zur Veranschaulichung ihrer Schönheit Arnpecks Bild vom Rotwein, den man von außen die Kehle hinabfließen sieht. Der erste Autor, der mit einer Bernauer-Dichtung ein größeres Publikum erreichte, war wohl der schlesische Lyriker Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, der in seinen 1680 postum veröffentlichten Helden-Briefen die Liebe Zwischen Hertzog Ungenand und Agnes Bernin als Briefwechsel darstellte. Auf eine in Prosa gehaltene Einführung, die sich inhaltlich an Aventin orientierte, aber auf genaue Orts- oder Zeitangaben verzichtete, folgten in Versform ein aus dem Kerker geschmuggelter Brief Agnes’ und die Antwort des „Hertzogs Ungenand“. Darin versprach Ungenand seiner todgeweihten Geliebten: „Man kan zwar meinen Leib von deiner Seele treiben / Doch mein Gemüthe nicht / so dich auch ewig liebt.“ Obwohl Hoffmann von Hoffmannswaldaus Werk großen Einfluss auf spätere Dichter ausübte, gelang es seinem Helden-Brief anscheinend nicht, andere Autoren für das Thema zu begeistern. Erst fast ein Jahrhundert später wurde es von dem Augsburger Patrizier Paul von Stetten, dem Sohn des gleichnamigen Stadtgeschichtsschreibers, in seiner Verserzählung Siegfried und Agnes wieder aufgegriffen. Dem 1781 in Mannheim uraufgeführten Trauerspiel Agnes Bernauerin von Joseph August von Toerring blieb es vorbehalten, um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine regelrechte Schwemme an Dramatisierungen des Bernauerstoffs auszulösen. Anders als seine Vorgänger legte Toerring Wert darauf, Ort und Zeit der Handlung sowie die Namen der handelnden Personen korrekt anzugeben; nach eigenen Angaben stützte er sich dafür auf die von Andreas Felix von Oefele 1763 zusammengestellten Rerum Boicarum Scriptores und die Stiftungsurkunden der Herzöge Ernst und Albrecht. Dabei verzichtete er aber nicht auf dichterische Freiheiten: Toerring verlegte große Teile der Handlung nach Vohburg und machte für die Hinrichtung der Bernauerin weitgehend den meist mit Heinrich Notthafft von Wernberg identifizierten Straubinger Vicedom verantwortlich, um so Ernst als Staatsoberhaupt von dieser Schuld zu entlasten. Das anonym erschienene Stück konnte in Toerrings Heimatstadt München zunächst nicht aufgeführt werden, da der bayerische Kurfürst Karl Theodor dort nach Joseph Marius von Babos Otto von Wittelsbach keine „vaterländischen Trauerspiele“ gestattete. In anderen deutschen Städten wurde Toerrings Agnes Bernauerin dafür umso erfolgreicher auf die Bühne gebracht: In Mannheim wurde das Stück 1781 neunmal, in Hamburg zwölfmal und in Berlin fünfzehnmal gespielt. Auch die Theater in Salzburg, Dresden und Leipzig zeigten die Bernauerin noch 1781. Die Figur des Vicedoms zog dabei den Hass vieler Zuschauer auf sich; um die erhitzten Gemüter zu beruhigen, wurde er in Hamburg und in der vom gebürtigen Straubinger Emanuel Schikaneder geleiteten Salzburger Inszenierung sogar mit in die Donau gestürzt. Die zeitgenössischen Kritiker beurteilten Toerrings Trauerspiel einhellig positiv, lediglich Anton von Klein monierte in seiner Rezension der Mannheimer Uraufführung die Verletzung der drei Einheiten des Aristoteles und die Verwendung von Prosa statt Versen. Weniger erfolgreich waren die französischen Bearbeitungen von Adrien-Chrétien Friedel, Pierre-Ulric Dubuisson und Jean-Baptiste de Milcent. Während Friedel Toerring weitgehend originalgetreu übersetzte, versuchte Dubuisson in seiner nur einmal gespielten Version, zumindest die Einheit des Ortes zu gewährleisten. Milcent versah seine Agnès Bernau sogar mit einem Happy End und ließ Ernst die Ehe zwischen Agnes und Albrecht gestatten. Die englische Dichterin und Reiseschriftstellerin Mariana Starke ließ ihre Bearbeitung des Dramas, die 1803 unter dem Titel The Tournament in New York aufgeführt wurde, wie Milcent gut ausgehen, konnte aber ebenso wenig an Toerrings Erfolg anknüpfen wie ihre französischen Kollegen. Ähnliches gilt für die zahlreichen Stücke deutscher Autoren, die sich in den folgenden Jahren mit Agnes Bernauer beschäftigten. Bereits 1781 wurden das Singspiel Albert der Dritte von Bayern mit Musik von Georg Joseph Vogler und das Ballett Agnes Bernauerin von Franz Gleißner auf die Bühne gebracht, der 1790 noch ein gleichnamiges Melodram veröffentlichte. Gleißners Melodram erlebte zahlreiche (22) Aufführungen, die Musik dazu findet sich heute in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek (Musikhandschriften: ND VII 466, früher MA/675 und ND VII 467, früher M A/2119). Auch die gleichnamige Burleske mit Gesang, travestirt in deutsche Knittelverse von Carl Ludwig Giesecke und komponiert von Ignaz von Seyfried, konnte sich nicht dauerhaft auf dem Spielplan halten. Das gleiche Schicksal erlitten Fortsetzungen von Toerrings Trauerspiel wie Joseph Anton von Destouches’ Die Rache Alberts III. und das vom österreichischen Dramatiker Tobias Frech von Ehrimfeld auf dieser Grundlage verfasste Schauspiel Albrechts Rache für Agnes. Historiker des 18. Jahrhunderts Für die Historiker, die sich im 18. und 19. Jahrhundert mit Bayern und seiner Geschichte beschäftigten, blieb Agnes Bernauer sowohl vor als auch nach Toerring ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Werke. Auch in Anton Wilhelm Ertls vielfach aufgelegten Relationes Curiosae Bavariae durfte sie angesichts der ausführlichen Darstellung bei Adlzreiter/Vervaux nicht fehlen. Kritisch schrieb Ertl über die Beziehung zwischen Agnes und Albrecht: „Anno 1436 begabe sich / daß […] Albrecht sich von der Schönheit Anna Bernauerin einer Augspurgischen Jungfer dergestalt bezaubert worden / daß er […] sich nicht entblödet / diese schöne Nympham […] mit ganz hitziger Lieb umfangen.“ Da der verliebte junge Herzog die Ratschläge seines Vaters nicht beachtet habe, habe man ihn „wiewohl auf eine gantz klägliche Weise / von dem Joch einer so mißanständigen Liebs-Sclaverey“ befreien müssen. Der Schriftsteller Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausen erklärte einige Jahre später, Ernst habe auf grausame Weise versucht, sein Haus „von der Verwandschafft eines Baders unbeflecket zu erhalten“, der Jesuit Ignatius Schwarz meinte 1731 sogar, Albrecht habe „das gerechte Vorgehen des Vaters“ später anerkannt. Die Autoren der nächsten Jahre stützten sich mal auf Aventin, mal auf Adlzreiter/Vervaux und beschränkten sich in der Regel auf eine kurze Beschreibung der Ereignisse im Stil der frühneuzeitlichen Chronisten. Eigenständige Äußerungen finden sich in der Staatsgeschichte des Churhauses Bayern – die Hinrichtung sei ungerecht gewesen, „so lang gelindere Mittel vorhanden, muß man nicht auf das Aeußerste verfallen“ – und in der Allgemeinen Geschichte von Deutschland des Franzosen Joseph Barre, dem zufolge Albrecht vorher von der geplanten Hinrichtung gewusst, die Nachricht aber nicht ernst genommen habe. Pragmatisch äußerte sich 1759 Pater Daniel Stadler in seiner Bayrischen Geschichte zu bequemen Gebrauch zu Albrechts Eheschließung mit Anna von Braunschweig: „Sei dem wie ihm wolle, der Herr Vater gabe seinem Sohn geschwind eine Ehegemahlin, auf welche er seine Liebe vernünftig verwenden konnte.“ Wesentlich ausführlicher als seine Vorgänger setzte sich Johann Heinrich von Falckenstein mit Leben und Tod der Bernauerin auseinander. In seiner 1763 veröffentlichten Vollständigen Geschichten des großen Herzogthums und ehemaligen Königreiches Bayern, in der sich wohl auch Joseph August von Toerring vor Abfassung seines Dramas informierte, verglich er detailliert die Berichte Aventins und Adlzreiters, dessen Verweis auf das Buch Numeri des Alten Testaments ihn nicht überzeugte. Falckenstein sah bei Herzog Albrecht eine größere Schuld als bei der „Plebeja“ Agnes Bernauer, der die Folgen einer unebenbürtigen Verbindung vielleicht gar nicht bewusst gewesen seien. Es habe auch andere Mittel gegeben, um das ungleiche Paar zu trennen, Agnes hätte an einen ihrem Geliebten nicht bekannten Ort, etwa in ein Kloster, gebracht werden können. Zudem sei ihre Ermordung mit der Gefahr verbunden gewesen, dass Albrecht aus Verzweiflung den Verstand verlieren oder sich das Leben hätte nehmen können. Wie Falckenstein ging auch Lorenz von Westenrieder in seinen Schriften zur bayerischen Landesgeschichte auf Agnes Bernauer ein. Wohl in Anlehnung an Ladislaus Sunthaym ließ er sie aus Biberach an der Riß stammen und schrieb ihr zahlreiche positive Eigenschaften zu. Westenrieder nannte eine Eheschließung mit Albrecht „mehr als wahrscheinlich“ und setzte die Hinrichtung der Bernauerin abwechselnd 1435 und 1436 an. Skeptischer zeigte sich Abraham Wolfgang Küfners Almanach auf das Jahr 1788, der nur die Liebe zwischen Herzogssohn und Baderstochter, die Ablehnung des Vaters und die von diesem veranlasste Hinrichtung für gesichert hielt. Vor allem „die ihr angeschuldigte Hexerei“ wies er als „eine Erfindung neuerer […] Köpfe“ scharf zurück, Aventin habe davon nichts geschrieben. Der Wahre Überblick der Geschichte der bairischen Nation nahm dagegen eine Heirat zwischen Agnes und Albrecht als gegeben an und bezeichnete die Ertränkung in der Donau plakativ als „Rache des Hofes und des Adels für den Frevel, daß sich Bürgerblut mit Fürstenblut mischen wollte“. Der erste Versuch einer wissenschaftlichen Agnes-Bernauer-Biografie stammte von Felix Joseph Lipowsky. Lipowsky wertete zwar zahlreiche Quellen aus, zitierte sie aber nicht immer korrekt und ließ auch viel Raum für die eigene Fantasie. Wohl inspiriert von Toerrings Trauerspiel beschrieb er eine durch keinerlei Belege gestützte, aber von späteren Autoren gern übernommene Hochzeit Agnes’ und Albrechts in Vohburg. Viele nur aus knappen Notizen der Chronisten bekannte Ereignisse ergänzte er um erfundene Details. Der Bernauer-Historiker Werner Schäfer urteilte 1995: „Die historische Abhandlung geriet fast zu einem Roman, zu einem streckenweise recht schwülstigen obendrein.“ Auch die Historiker Gottfried Horchler und Sigmund Riezler konnten Lipowskys Biografie nicht viel abgewinnen, die Dramatiker des 19. Jahrhunderts griffen dagegen – wahrscheinlich gerade wegen der Fülle an nicht immer belegten Details – oft darauf zurück. Dichter und Dramatiker des 19. Jahrhunderts Daneben blieb Joseph August von Toerrings Vorbild weiterhin wirksam. Carl Kluehne bearbeitete sein Drama, Carl Maria von Weber parodierte es in seinem Romanentwurf Tonkünstlers Leben und der französische Schriftsteller Henri Verdier de Lacoste imitierte es in La Fille du Baigneur d’Augsbourg. Erst 1821 wagte sich Julius Körner an eine eigenständige Bearbeitung des Bernauerstoffs, konnte damit aber seine Zeitgenossen nicht überzeugen. Auch die dialogisirte historische Novelle von Hermann Schiff, einem Cousin Heinrich Heines, war kein großer Erfolg. Besser aufgenommen wurden die drei Bernauer-Opern der 1830er Jahre: Die von Karl August Krebs komponierte große Oper Agnes Bernauer, deren Libretto August Lewald verfasst hatte, erhielt 1833 in Hamburg viel Beifall, das Melodramma Odda di Bernaver von Giovanni Emanuele Bidera und Giuseppe Lillo wurde immerhin 1837 im Teatro San Carlo in Neapel und 1840 im Teatro alla Scala in Mailand aufgeführt und Agnes Bernauer, the Maid of Augsburg von Thomas J. Serle und George Macfarren kam 1839 im Covent Garden in London zur Aufführung. Neben Sachtexten und Dramen wurden im 19. Jahrhundert zahlreiche Erzählungen über die Bernauerin veröffentlicht. Zu den ersten zählten Die Schwalben von Friederike Lohmann und Der Engel von Augsburg von August Werg. Auch einige Gedichte erschienen, darunter 1833 eine Ballade nach der Volkssage verfasst des Straubinger Stadtgeschichtsschreibers Martin Sieghart und Drei Gedichte von Adalbert Müller. Die meisten Autoren, die über die Bernauerin schrieben, versuchten sich aber weiterhin an Bühnenstücken: Zwischen 1841 und 1847 verfassten der Übersetzer Ludwig Braunfels, der Schweizer Richter Franz Krutter, die französischen Dramatiker Jules-Édouard Alboize de Pujol und Paul Foucher, der Dichter Adolf Böttger und der Lehrer Franz Cornelius Honcamp Bernauerdramen. Der Schriftsteller Otto Ludwig entwarf bis 1864 sogar ein halbes Dutzend Stücke, die später Gegenstand mehrerer germanistischer Forschungsarbeiten wurden. Ludwig füllte über 2.700 Seiten mit seinen Entwürfen, die das Thema aus immer neuen Blickwinkeln beleuchteten, seinen eigenen Ansprüchen aber nie vollständig gerecht wurden. Die neben Toerrings Werk erfolgreichste dramatische Umsetzung des Bernauerstoffs gelang schließlich 1852 Friedrich Hebbel mit Agnes Bernauer. Hebbel zog für sein deutsches Trauerspiel in fünf Akten außer Toerring auch Lipowskys Biografie, Falckensteins Vollständige Geschichten und die Augsburger Stadtgeschichte des älteren Paul von Stetten heran. Im ersten Akt zeigte er Agnes’ Augsburger Umfeld und ihre erste Begegnung mit Albrecht im städtischen Tanzhaus, am Ende des zweiten Aktes war die Hochzeit zwischen beiden bereits beschlossene Sache. Im dritten Akt sahen die Zuschauer Herzog Ernst bei der Arbeit, Albrecht und Agnes in Vohburg sowie als Höhepunkt die Zurückweisung des jungen Herzogs beim Turnier in Regensburg. Der vierte Akt brachte die Unterzeichnung des Todesurteils durch Ernst und die Festnahme der Bernauerin in Straubing. Ihre Hinrichtung stellte Hebbel im fünften Akt nicht explizit dar, wohl aber die darauffolgenden Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn, die er mit der Übergabe der Regierungsgewalt an Albrecht enden ließ. Hebbels Agnes Bernauer war von Anfang an umstritten: Georg Herwegh warf dem Autor nach der Münchner Uraufführung vor, er habe in diesem Stück „des Unrechts nackte Klarheit […] als Recht gelehrt“, und riet ihm, die Schriftstellerei aufzugeben. Aufführungen in Weimar und Stuttgart fanden aber beim Publikum großen Anklang, Agnes Bernauer wurde Schullektüre und noch im 20. Jahrhundert oft gespielt. Ein so dauerhafter Erfolg war keinem von Hebbels unmittelbaren Nachfolgern vergönnt. Die Dramen von Melchior Meyr, Leo Goldammer, Hermann Eduard Jahn, Emanuel Hiel und Arnold Ott wurden zwar teils mehrfach aufgeführt, verschwanden aber bald wieder von den Bühnen. Auch von den vielen lyrischen und epischen Bearbeitungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten nur wenige eine zweite Generation von Lesern für sich gewinnen. Weder das umfangreiche Historisch-romantische Zeit- und Sittengemälde des Buchhalters Friedrich Wilhelm Bruckbräu noch das Lied der Liebe von Emil Seippel oder Adolf Sterns Novelle Das Fräulein von Augsburg wurden wie die Dramen Toerrings und Hebbels zu Klassikern. Historiker des 19. Jahrhunderts Nicht nur zahlreiche Dichter, auch viele Historiker setzten sich im 19. Jahrhundert mit Agnes Bernauer auseinander. Sie beschränkten sich aber meist darauf, die kursierenden Bernauer-Legenden mehr oder weniger kritisch zusammenzufassen und um eigene Spekulationen zu ergänzen. So meinte Heinrich Zschokke in seiner Bairischen Geschichte, Herzog Albrecht „liebte die Weiber, weniger die Ehe“, habe aber für die ebenso schöne wie tugendhafte Agnes eine Ausnahme gemacht. Nach ihrem Tod habe er Anna von Braunschweig geheiratet, „lieben konnt’ er sie nicht“. Der Geschichtsprofessor Konrad Mannert schrieb 1826 nach einer kurzen Darstellung der Ereignisse und der Gründe für die Hinrichtung, „es war eine böse Handlung“, die „keiner der alten Erzähler mit irgend einem Zeichen des Beyfalls“ berichtet habe. Sein Kollege Andreas Buchner verzichtete auf eine persönliche Bewertung, glaubte aber zu wissen, dass Albrecht die Baderstochter „heimlich nach Vohburg geführt“ habe und sich später „an dem Vitzthum Nothhaft und den Räten, welche das Urteil zur Reife gebracht“, habe rächen wollen. Wolfgang Menzel verglich Agnes Bernauer 1843 mit zwei Frauen, an denen im 15. Jahrhundert „ähnliche Greuel“ verübt worden seien: Anna von Nassau, die zweite Ehefrau des Grafen Philipp von Katzenelnbogen, sei vergiftet worden, um den alternden Grafen ohne männliche Erben sterben zu lassen (tatsächlich blieb es wohl bei dem Versuch), und Veronika von Teschenitz, die bürgerliche Ehefrau des Grafen Friedrich von Cilli, sei auf Befehl ihres Schwiegervaters Hermann und ihres Schwagers Kaiser Sigismund ertränkt worden. Menzel zufolge „[lernte man] diese Meuchelmorde […] in Italien, es war wälsche Praktik“, eine Erklärung, die aus der 1872 erschienenen 6. Auflage seiner Geschichte der Deutschen gestrichen wurde. Joseph von Hormayr sah im Taschenbuch für vaterländische Geschichte Parallelen zur Augsburgerin Philippine Welser, die 1557 Erzherzog Ferdinand von Österreich heiratete und ebenfalls „Engel“ genannt worden sei. Zum Tod der Bernauerin schrieb er, sie sei in Albrechts Abwesenheit „in seinem Schlosse zu Vohburg verrätherisch überfallen, nach Straubing vor ein ganz unbefugtes Blutgericht geschleppt, und als Hexe […] von der Donaubrücke gestürzt“ worden. Auch die wittelsbachische Hausgeschichtsschreibung nahm sich Agnes Bernauers an: Joseph Heinrich Wolf machte sie in seinem Buch über Das Haus Wittelsbach zur „Uhrmacherstochter“, Johann Michael von Söltl ließ sie in Die Wittelsbacher mit ihren Zeitgenossen im Königreich Bayern als „Hexe“ und Franz Maria Brug in den Familienkriegen der Wittelsbacher von 1856 als „Zauberin, Giftmischerin und Verführerin“ Albrechts anklagen. Von „tragischen Ereignissen, hervorgebracht durch rohen Gewaltsinn“ sprach Johann Sporschil in seiner Geschichte der Deutschen, von einer nicht zu rechtfertigenden „That barbarischer Staatsraison“ der Kunsthistoriker Ernst Förster in seinen Denkmalen deutscher Baukunst. Weniger entrüstet, dafür sehr gut informiert zeigte sich Christian Meyer in seinem Aufsatz in der Gartenlaube von 1873, in dem er auch auf die Stiftungen der Herzöge Ernst und Albrecht und die Umbettung des Grabsteins in der Bernauer-Kapelle einging. In den 1880er Jahren erschienen zwei immer noch grundlegende Arbeiten zu Agnes Bernauer, das Schulprogramm Agnes Bernauer in Geschichte und Dichtung von Gottfried Horchler und der Akademievortrag Agnes Bernauerin und die bairischen Herzoge von Sigmund Riezler. Horchler schrieb 1883 für die Königliche Realschule in Straubing die erste wirklich aus den Quellen gearbeitete Biografie der Bernauerin, die er um die Kaufurkunde von Aubing und die Stiftungsurkunden ergänzte. Ein Jahr später legte er einen Überblick über die literarischen Bearbeitungen des Bernauerstoffs von Es reiten drei Reiter zu München hinaus bis Otto Ludwig nach. Der Münchner Historiker und Archivar Sigmund Riezler las Horchlers Aufsätze und hielt eine weitere Untersuchung zu diesem Thema für lohnend. Bisherige Autoren seien zu unkritisch mit den Quellen umgegangen und hätten die zeitgenössischen Urkunden zugunsten der späteren Chronisten vernachlässigt. Riezler stellte deshalb alle einschlägigen Rechnungen und Briefe zusammen und unterzog sie einer genauen Prüfung. Eine heimliche Ehe zwischen Agnes und Albrecht hielt er für wahrscheinlich, ein förmliches Gerichtsverfahren wegen Zauberei für unwahrscheinlich und einen Rachekrieg des Sohnes gegen den Vater für ausgeschlossen. Wilhelm Schreibers vier Jahre nach Riezlers Akademiebericht veröffentlichte Geschichte Bayerns berücksichtigte dessen Ergebnisse noch nicht, nahm aber ebenfalls eine „geheime Ehe“ an. Am Ende seiner mit erfundenen Details angereicherten Schilderung kam er zu dem Ergebnis, dass Agnes „Opfer dynastischer Interessen“ geworden sei und Albrecht sich „durch die Ehe mit Agnes mit einer schweren Schuld beladen“ habe. Mathieu Schwann machte 1891 in seiner Illustrierten Geschichte von Bayern „die Zeitverhältnisse und die Denkweise der Leute“ für Ernst „grauenhafte“ Tat verantwortlich und übte scharfe Kritik an Schreiber: „In welchem Chaos watet eine Denkweise, welche die Liebe Albrechts zu der Bernauerin heute noch als eine ‚schwere Schuld‘ bezeichnen kann.“ 1905 erschien noch ein weiterer Aufsatz von Christian Meyer, diesmal in Westermanns Monatsheften, in dem er sich zum Teil an Riezler anschloss, aber auch an einem Aufenthalt der Agnes in Vohburg und einer Anklage wegen Zauberei festhielt. Dramatiker und Romanautoren des 20. und 21. Jahrhunderts Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Schicksal Agnes Bernauers zu einem beliebten Stoff für Laien- und Freilichtspiele, deren Veranstalter oft auf das 1894 von Martin Greif veröffentlichte Trauerspiel Agnes Bernauer, der Engel von Augsburg zurückgriffen. Greif sah zahlreiche Sprechrollen und eine große Zahl von Statisten vor und kam auch mit viel Kitsch und Pathos den Anforderungen dieser als besonders volkstümlich eingeschätzten Aufführungsformen entgegen. Sein Stück wies zwar einige sprachliche und dramaturgische Schwächen auf, wartete aber mit der bisher wohl überzeugendsten Erklärung für die schnelle Versöhnung der Herzöge Ernst und Albrecht auf: Agnes habe ihrem Geliebten im Kerker einen Brief geschrieben, in dem sie ihn darum gebeten habe. Greifs Agnes Bernauer wurde unter anderem 1973 für die Freilichtbühne in Ötigheim und 2001 von Lenz Prütting für die Vohburger Agnes-Bernauer-Festspiele bearbeitet, die bis 2013 alle vier Jahre veranstaltet wurden. Für die Festspiele des Jahres 2009 verfasste Isabella Kreim ein neues Stück. In Straubing kamen schon seit 1790 immer wieder Bernauerdramen zur Aufführung, darunter die Trauerspiele von Toerring, Meyr und Greif. Auch die Tragödie Herzogin Agnes von Paul Langenscheidt, dem Sohn des Wörterbuchpioniers Gustav Langenscheidt, wurde gespielt. Zum 500. Todestag Agnes Bernauers 1935 verfasste der örtliche NSDAP-Kreiskulturwart Eugen Hubrich, der bereits für den Further Drachenstich und die 900-Jahr-Feier der Stadt Amberg Freilichtspiele geschrieben hatte, Die Agnes Bernauerin zu Straubing. Hubrich, nach eigenen Angaben „Nationalsozialist aus Idealismus […] aber auch mit Begeisterung“, wollte mit seinem Stück nicht nur den Tourismus ankurbeln, sondern auch der nationalsozialistischen Kunstauffassung gerecht werden. Seine Intention beschrieb er ganz im Stil der Zeit: „Die Ururenkel sollen so fühlen wie ihre Ahnen am gleichen Platze gefühlt haben, aber sie sollen dazu erkennen, daß Agnes ein Volksopfer war, das vom grausamen Mittelalter verschlungen wurde, das aber in Reinheit auferstehen kann in der glücklichen Zeit, die die Erneuerung des Blutes und der Sitte vom Volk her aus dem Urborn des Lebens verwirklicht.“ Während die Verantwortlichen der Straubinger Festspiele nach 1945 mit immer neuen Überarbeitungen versuchten, Hubrichs vieraktige Bernauerin zu Straubing zu straffen, sprachlich zu modernisieren und von völkischem Gedankengut zu befreien, schrieb der mit den bisherigen Bearbeitungen des Themas ebenfalls unzufriedene Komponist und Dramatiker Carl Orff seine eigene Bernauerin. Orffs 1947 uraufgeführtes bairisches Stück bediente sich einer bairischen Kunstsprache; die Orchesterbegleitung war rhythmisch-impulsiv und forderte zahlreiche Schlaginstrumente. Die Bernauerin wurde 1958 für das Fernsehen verfilmt, 1980 zu einem Hörspiel verarbeitet und in Augsburg, München und Straubing im Freien aufgeführt. Sie war regelmäßig Bestandteil der Carl Orff-Festspiele Andechs, wo sie zuletzt 2013 auf dem Spielplan stand. Die Agnes-Bernauer-Festspiele in Straubing, deren langjähriger Regisseur Hans Vicari gern ebenfalls die Orff’sche Bernauerin aufgeführt hätte, beauftragten 1994 nach langen Diskussionen und einem Autorenwettbewerb, der ohne eindeutiges Ergebnis geblieben war, Johannes Reitmeier und Thomas Stammberger mit der Erstellung eines neuen Stücks. Seit 1995 wurde Agnes Bernauer. Ein Historienspiel in 15 Bildern wie zuvor Die Agnes Bernauerin zu Straubing alle vier Jahre im Innenhof des Straubinger Herzogsschlosses aufgeführt, 2003, 2007 und 2011 übernahm (Mit-)Autor Johannes Reitmeier auch die Regie. 2011 und 2015 wurde ein Stück in zwölf Bildern gespielt, das wiederum aus Reitmeiers Feder stammte. Der Text für die Festspiele 2019 wurde von Teja Fiedler verfasst. Damit ist Orffs Bernauerin die einzige dramatische Bearbeitung des Agnes-Bernauer-Stoffs aus dem 20. Jahrhundert, die noch regelmäßig gespielt wird. Den Dramen von Alfred Putzel, Katharina Rademacher, Franz Servaes, Rosmarie Menschick, Eduard Reinacher und Franz Xaver Kroetz war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Auch die 1901 veröffentlichte Ballade Agnes Bernauerin von Agnes Miegel sowie die Filme Le Jugement de Dieu (deutsch als Agnes Bernauer) und Les amours célèbres (deutsch als Galante Liebesgeschichten) – letzterer mit Brigitte Bardot als Agnes und Alain Delon als Albrecht – sind heute nur noch Liebhabern ein Begriff. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts versuchten viele Schriftsteller, die sich mit Agnes Bernauer befassten, in ihren Texten den Eindruck zu vermitteln, sie würden historische Ereignisse in irgendeiner Weise authentisch darstellen. Noch die jeweils mit Der Engel von Augsburg überschriebenen Erzählungen von Arthur Achleitner und Karl Allmendinger standen in dieser Tradition. Bei Julius Bernburgs 1924 erschienenem Agnes-Bernauer-Roman Agnes Bernauer, das Opfer treuer Liebe stand dann aber eindeutig der unterhaltende Aspekt im Vordergrund, bei den nach 1933 schreibenden Autoren Paul Timpe, Albert Liebold und Hans Karl Meixner traten vor allem bei der Rechtfertigung der Hinrichtung Elemente nationalsozialistischer Ideologie hinzu. Meixners Agnes Bernauer. Ein Leben voll Liebe und Leid erlebte 1949 in nur wenig veränderter Form eine Neuauflage, sonst wagte sich in der Nachkriegszeit aber zunächst kaum ein Romanautor an das Thema Agnes Bernauer. Erst in den 1990er Jahren erschienen mit Agnes Bernauer. Hexe, Hure, Herzogin von Manfred Böckl und Agnes Bernauer und ihr Herzog von Richard Wunderer wieder zwei relativ erfolgreiche belletristische Werke. Neuere Historiker und Theaterwissenschaftler Das Schicksal der Bernauerin hatte bereits seit mehr als vier Jahrhunderten die Fantasie der verschiedensten Autoren angeregt, als 1880 mit Otto Brahms Aufsatz Das deutsche Ritterdrama des achtzehnten Jahrhunderts die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Produkten ihrer Vorstellungskraft begann. Brahm nahm die Dramen Toerrings genauer unter die Lupe, Julius Petri ging 1892 in seiner Dissertation Der Agnes-Bernauer-Stoff im deutschen Drama vor allem auf Otto Ludwig ein und Julius Sahr zeigte sich um die Jahrhundertwende begeistert von Martin Greifs Agnes Bernauer, der Engel von Augsburg. Einen Überblick über die bisher veröffentlichten Bearbeitungen des Bernauerstoffs boten Albert Geßler und August Prehn in ihren Gymnasialprogrammen Zur Dramaturgie des Bernauerstoffs und Agnes Bernauer in der deutschen Dichtung. Geßler stellte außerdem auf der 49. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 1908 Franz Krutters in diesem Jahr neu herausgegebenes Trauerspiel vor. Besonders häufig war Friedrich Hebbels Agnes Bernauer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Elise Dosenheimer behandelte 1912 Friedrich Hebbels Auffassung vom Staat und sein Trauerspiel „Agnes Bernauer“, Karl Schultze-Jahde unternahm 1925 eine Motivanalyse von Hebbels „Agnes Bernauer“ und Karl Schramm promovierte 1933 über Hebbels Agnes Bernauer auf der deutschen Bühne. Da Hebbels Stück oft als Schullektüre zum Einsatz kam, wurden auch mehrere Erläuterungsbücher veröffentlicht, in denen die Schüler nachlesen konnten, wie sie es zu verstehen hatten. Hermann Glaser und Karl Pörnbacher ordneten es mit ihren Materialsammlungen Agnes Bernauer. Dichtung und Wirklichkeit und Agnes Bernauer. Erläuterungen und Dokumente schließlich in einen größeren Zusammenhang ein. Zuletzt erschien neben Aufsätzen zu Detailfragen wie Hebbels Agnes Bernauer – Rezeption der Hexenthematik von Christa Tuczay das Radiofeature „Senke scheu die feile Feder“. Die Uraufführung von Friedrich Hebbels „Agnes Bernauer“ geriet zum Skandal von Monika Schattenhofer. In den letzten Jahren versuchten einige Autoren, ihren Lesern einen Überblick über das Leben und die literarische Behandlung Agnes Bernauers zu vermitteln, darunter Karl Pörnbacher in Agnes Bernauer. Literatur und Wirklichkeit, Dietz-Rüdiger Moser mit seinem Vortrag Liebe, Leid und Tod der bayerischen Antigone, Karin Springer in ihrer Magisterarbeit mit dem Titel Historia und Narratio und Eberhard Dünninger mit Agnes Bernauer in der Literatur. Am ausführlichsten geriet 1995 der Band Agnes Bernauer. Geschichte – Dichtung – Bild, verfasst von Werner Schäfer, der 1987 bereits eine umfangreiche populärwissenschaftliche Biografie der Bernauerin veröffentlicht hatte. Der Schriftsteller Herbert Rosendorfer und die Mediävistin Claudia Märtl fassten sich deutlich kürzer, warteten dafür aber mit einigen interessanten Ideen auf. Rosendorfer vermutete, Albrecht habe erwartet, vielleicht sogar gehofft, dass sein Vater Agnes aus dem Weg räumen werde, Märtl interpretierte die vorliegenden Quellen dahingehend, dass er Agnes nicht in Augsburg, sondern in München kennengelernt habe. Neben Hebbel und Otto Ludwig gerieten nach ihrer Wiederaufnahme 1952 auch die Straubinger Agnes-Bernauer-Festspiele in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Vor allem die Professoren der Universität Regensburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München vergaben immer wieder Zulassungs-, Diplom- und Magisterarbeiten zu diesem Thema. Zudem wurden seit 1995 jeweils in den Festspieljahren Bücher veröffentlicht, die Agnes Bernauer oder die Straubinger Festspiele behandeln. Auf Schäfers Agnes Bernauer. Geschichte – Dichtung – Bild folgte 1999 das von Alfons Huber zusammengestellte Quellen- und Lesebuch Agnes Bernauer im Spiegel der Quellen, Chronisten, Historiker und Literaten und 2003 wiederum von Werner Schäfer Agnes Bernauer in Straubing. Das Festspiel – der Festspielverein, ein Überblick über die Geschichte des Festspielvereins und des Festspieltexts. Im Festspieljahr 2007 erschienen Agnes Bernauer. Die ermordete ‚Herzogin‘ von Marita Panzer und Agnes Bernauer Festspiele. Auf, hinter und rund um die Bühne von Ulli Scharrer. Zu den Festspielen 2015 wurde Wer war Agnes Bernauer? von Dorit-Maria Krenn und Werner Schäfer veröffentlicht. Agnes Bernauer als Namenspatronin Zeitweise trugen verschiedene ICE-Verbindungen den Namen Agnes Bernauer. Auch die Agnes-Bernauer-Straße in München, die Agnes-Bernauer-Brücke in Straubing sowie die Lilienhybride Agnes Bernauer sind nach ihr benannt. Literatur Eine ausführliche Bibliographie bietet der Wikisource-Eintrag zu Agnes Bernauer, die folgende Auswahl beschränkt sich auf grundlegende neuere Werke. Weblinks Agnes-Bernauer-Festspiele Straubing Agnes-Bernauer-Festspiele Vohburg Anmerkungen Literarische Figur Ehepartner einer berühmten Person Person (Straubing) Person (Augsburg) ⚭Agnes Bernauer Hingerichtete Person (15. Jahrhundert) Hingerichtete Person (Bayern) Hingerichtete Person (Heiliges Römisches Reich) Verurteilte Person Geboren im 15. Jahrhundert Gestorben 1435 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad%20III.%20%28HRR%29
Konrad III. (HRR)
Konrad III. (* 1093 oder 1094; † 15. Februar 1152 in Bamberg) aus dem Adelsgeschlecht der Staufer war 1116/20 Herzog in Franken, 1127–1135 Gegenkönig von Lothar III. und 1138–1152 König im römisch-deutschen Reich. Im 12. Jahrhundert trat die Idee stärker hervor, dass die Fürsten für das Reich mitverantwortlich seien. Dadurch intensivierte sich ihre Mitsprache am Reichsregiment und bei den Königswahlen. Anders als in den Monarchien Frankreich, England und Sizilien verloren im römisch-deutschen Reich erbrechtliche Vorstellungen an Bedeutung. Nach dem Tod Heinrichs V., des letzten salischen Herrschers, im Mai 1125 scheiterten die Ambitionen der beiden staufischen Brüder Friedrich und Konrad auf dessen Nachfolge. Friedrichs Königswahl misslang, weil er aus seiner Abstammung von den Saliern einen Erbanspruch ableitete und damit das Wahlrecht der Fürsten missachtete. Statt seiner wurde der sächsische Herzog Lothar gewählt. Konrad ließ sich 1127 zum Gegenkönig erheben, blieb aber ebenfalls erfolglos. Die Wahl Lothars und sein Streit mit den staufischen Brüdern um das salische Erbe lösten einen Krieg im Reich aus. Nach dem Tod Lothars konnte sich Konrad in der Königswahl von 1138 gegen den machtbewussten Bayern- und Sachsenherzog Heinrich den Stolzen durchsetzen. Konrads Neuordnung der Herzogtümer Sachsen und Bayern, die die erbrechtlichen Ansprüche der Welfen ignorierte, scheiterte. Während seiner gesamten Herrschaftszeit setzten in Bayern und Sachsen die Welfen Heinrich der Stolze, Heinrich der Löwe und Welf VI. ihren Widerstand gegen Konrad fort. Als König versuchte Konrad die Herrschaftsträger des Reichs durch Heiratspolitik an sich zu binden. Von 1147 bis 1149 unternahm er einen Kreuzzug, der ein vollständiger Misserfolg wurde. Als erster der römisch-deutschen Könige seit 962 errang Konrad nicht die Kaiserwürde. Seine Konflikte mit den Welfen Welf VI. und Heinrich dem Löwen galten lange Zeit als Ausdruck eines staufisch-welfischen Gegensatzes, der die Reichspolitik im 12. Jahrhundert dominiert habe. Erst in jüngster Zeit wurde diese Einschätzung stark relativiert. Leben Herkunft Konrad entstammte dem adligen Geschlecht, das als „Staufer“ bekannt ist; diese Bezeichnung ist jedoch erst von Historikern des späten 15. Jahrhunderts eingeführt worden. Die Herkunft der Familie ist ungeklärt. Über Konrads Großvater Friedrich von Büren ist lediglich bekannt, dass er um 1050 eine Frau namens Hildegard geheiratet hat. Jüngst wurde die These aufgestellt, dass der Schlettstädter Besitz der Staufer nicht von Hildegard in die Ehe eingebracht worden sei, sondern Friedrich bereits gehört habe. Die Staufer seien kein schwäbisches, sondern ein elsässisches Geschlecht gewesen, das erst um 1100 mit Herzog Friedrich I. ins ostschwäbische Remstal ausgegriffen habe. Jedenfalls gelang der Aufstieg der Familie durch eine geschickte Ausnutzung lokaler Konstellationen. Dabei spielten mehrere Faktoren eine wichtige Rolle. Über die Inbesitznahme von Klostervogteien, die oft von Ministerialen verwaltet wurden, konnte die dortige Ministerialität in den staufischen Herrschaftskomplex integriert werden. Somit verschaffte sich die Familie einen starken, materiell abgesicherten Rückhalt im lokalen Adel. Über die Bistumspolitik – betroffen waren die Bistümer Würzburg, Worms und Speyer – konnten Verbindungen zu den Stadtgemeinden, zur Geistlichkeit und zum Adel gepflegt werden. Schließlich war für den Aufstieg der Adelsfamilie eine Reihe von Eheschließungen vorteilhaft, über die Verwandtschaftsbande zu sehr angesehenen und einflussreichen Familien entstanden oder gefestigt wurden. Viel wichtiger als die Ahnen väterlicherseits war für das Selbstverständnis und die Ambitionen der Familie ihre prestigeträchtige Verwandtschaft mütterlicherseits mit den Saliern. Konrads Mutter Agnes war eine Tochter Kaiser Heinrichs IV., des vorletzten Saliers. Die zeitgenössischen Autoren nahmen Konrad als Verwandten oder Nachkommen der Salier wahr, seine regionale Herkunft wurde nur selten erwähnt. Auch Konrad selbst berief sich später als König in seinen Urkunden auf die salischen Könige als seine Vorfahren. Die Konflikte Heinrichs IV. mit den süddeutschen Herzögen Rudolf von Schwaben, dem Zähringer Berthold von Kärnten und Welf IV. von Bayern begünstigten den Aufstieg der Staufer. Als Reaktion auf die Wahl des Schwabenherzogs Rudolf zum Gegenkönig erhob Heinrich IV. an Ostern 1079 Graf Friedrich, einen Sohn Friedrichs von Büren, zum neuen Herzog von Schwaben. Ob Friedrich seine Grafschaftsrechte im Elsass, Schwaben oder Franken ausübte, ist unbekannt. Der Kaiser vermählte ihn mit seiner Tochter Agnes. Friedrich starb bereits 1105. Er hinterließ zwei Söhne, den 1093 geborenen Konrad und dessen drei Jahre älteren Bruder Friedrich II. Nach dem Tod ihres Gatten schloss Agnes mit dem österreichischen Markgrafen Leopold III. eine neue Ehe. Friedrich II. übernahm bald nach dem Tod seines Vaters dessen Ämter und Würden. Ab 1106 führte er den Herzogstitel. Sachwalter Heinrichs V. und Gegner Lothars III. Kaiser Heinrich IV. wurde 1105 von seinem Sohn Heinrich V. gestürzt. Dieser machte im Januar 1116 für die Zeit seines Aufenthalts in Italien Friedrich II. und dessen Bruder Konrad zu Sachwaltern im nördlichen Reichsteil. Konrad wurde zum Herzog in Ostfranken erhoben und rivalisierte dort mit Bischof Erlung von Würzburg, der vom Kaiser abgefallen war. Konrads Bruder sollte die salischen Interessen gegenüber dem Erzbischof Adalbert von Mainz vertreten. Friedrich II. war von 1111 bis 1118 einer der wichtigsten Großen am salischen Hof. Konrad hingegen stand seinem königlichen Onkel erheblich distanzierter gegenüber; seine Anwesenheit am Königshof ist nur dreimal nachzuweisen. Nach seiner Rückkehr söhnte sich Heinrich V. mit Bischof Erlung aus. Der Besitz der Würzburger Kirche wurde wieder der rechtlichen Oberhoheit des Bischofs unterstellt. Dadurch entfiel für Konrads Amtsherzogtum die Existenzgrundlage. Ihm verblieb nur noch ein Titularherzogtum. Konrad und Friedrich gehörten fortan nicht mehr zum engsten Umfeld des Hofs. Die beiden staufischen Brüder schlossen sich der Fürstenopposition an, da sie nachdrücklich für Frieden im Reich eintraten und sich für eine Einigung zwischen Kaiser und Papst im Investiturstreit einsetzen wollten. Trotz dieser Differenzen kam es nicht zu einem Bruch, der kinderlose Heinrich setzte Friedrich vielmehr zu seinem Alleinerben für seinen Privatbesitz ein. Nach dem Tod des Kaisers wurde die Königswahl für Ende August 1125 in Mainz anberaumt. Friedrich II. schien durch seine nahe Verwandtschaft mit dem verstorbenen Herrscher beste Aussichten auf die Nachfolge zu haben, doch erwies sich seine Verbindung mit dem salischen Haus dann eher als Nachteil. Der Staufer wollte das unbeschränkte Wahlrecht (libera electio) der Fürsten nicht akzeptieren und machte durch sein allzu siegesgewisses und als hochmütig (ambicone cecatus) empfundenes Auftreten seine Chancen zunichte. Statt seiner wurde der Sachsenherzog Lothar von Süpplingenburg gewählt. Ausschlaggebend für Lothars Wahl waren seine symbolhafte Demonstration von Demut und der Frontwechsel Herzog Heinrichs des Schwarzen, der sich gegen seinen staufischen Schwiegersohn entschied. Die Gründe dafür sind unklar. Lothar gewann ihn möglicherweise für sich, indem er ihm versprach, seine einzige Tochter Gertrud mit Heinrichs Sohn Heinrich dem Stolzen zu vermählen. Aus dieser Verbindung ging Heinrich der Löwe hervor. Das folgende Jahrzehnt war geprägt vom Konflikt Lothars mit den staufischen Brüdern über das von Friedrich II. beanspruchte Erbe Heinrichs V.; strittig war, was davon als Reichgut gelten und dem neuen König zustehen sollte. In Regensburg entschied ein Gericht der Fürsten, dass die Güter in die Verfügungsgewalt des Königs überzugehen haben. Da sich Friedrich dennoch weigerte, den Besitz herauszugeben, kam es zu einem jahrelangen Krieg, der mehrere Teile des Reichs in Mitleidenschaft zog. Pilgerfahrt und Gegenkönigtum An den Auseinandersetzungen vor und nach der Wahl war Konrad nicht beteiligt gewesen, da er 1124 zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land aufgebrochen war. Solche Pilgerfahrten wurden nicht nur aus Sorge um das Seelenheil unternommen, sondern verschafften Pilgern auch ein beträchtliches Ansehen. Spätestens im Sommer 1127 kehrte er zurück. Im Dezember 1127 wurde Konrad von bayerischen, fränkischen und schwäbischen Anhängern der Staufer auf der Reichsburg Nürnberg zum König erhoben. Sie entschieden sich wohl deswegen für Konrad, weil er anders als sein Bruder Friedrich nicht Lothar III. gehuldigt hatte und ihm daher kein Eidbruch vorgeworfen werden konnte. Die Resonanz auf die Königserhebung fiel jedoch negativ aus. Von den zeitnahen Chronisten wurde Konrads Gegenkönigtum als Usurpation gebrandmarkt. Die Erzbischöfe von Magdeburg, Mainz und Salzburg exkommunizierten Konrad als Rebellen. Konrad zog nach Italien, wo er am 29. Juni 1128 in Monza vom Erzbischof Anselm von Mailand zum König von Italien gekrönt wurde. Das Schisma von 1130 brachte ihm keine Vorteile, denn beide Rivalen um die Papstwürde, Anaklet II. und Innozenz II., suchten die Verständigung mit Lothar. Konrad musste sich schließlich nach Parma zurückziehen, wo er „so arm und mit so geringem Gefolge erbärmlich verweilte, daß sein Ansehen kaum von einem Ort zum anderen reichte.“ Wohl erst in der zweiten Jahreshälfte 1132 kehrte Konrad aus Italien zurück. Auch im nördlichen Reichsteil blieb sein Gegenkönigtum erfolglos. Lothar III. konnte 1129 Speyer und 1130 Nürnberg einnehmen und 1134 nach seiner Rückkehr aus Italien als Kaiser zusammen mit Heinrich dem Stolzen die beiden Staufer in Ulm, dem Hauptort des Herzogtums Schwaben, bezwingen. Damit endete der Kampf der Stauferbrüder um das Königtum. Friedrich unterwarf sich auf einem Hoftag am 17. und 18. März 1135 in Bamberg, Konrad am 29. September desselben Jahres in Mühlhausen. Mit der öffentlichen Selbstdemütigung, die barfuß und im Büßergewand vollzogen wurde, war der Konflikt beigelegt und die Ehre des Herrschers wiederhergestellt. Lothar nahm die beiden Staufer wieder in seine Huld auf und beließ ihnen die Herzogswürde. So konnte der Kaiser die christliche Herrschertugend der Barmherzigkeit demonstrieren. Teilnahme am Italienzug Lothars III. und Ehe Trotz der offiziellen Versöhnung mied Friedrich den Königshof. Konrad hingegen verpflichtete sich zur Teilnahme an dem für August 1136 angesagten Italienzug Lothars. Während des Italienzuges trat er in der Rangfolge der Zeugen in den Urkunden hinter Heinrich dem Stolzen auf. Als Bannerträger des kaiserlichen Heeres in Italien übernahm er wichtige Aufgaben. Konrads Engagement für den Kaiser steigerte sein Ansehen bei den beteiligten Fürsten und trug wohl dazu bei, dass er später als geeigneter Kandidat für die Königswürde erschien. Seine auf dem Italienzug geknüpften Verbindungen wurden für seine spätere Königswahl wichtig. Noch vor der Königserhebung kam wohl 1135/36 die Ehe mit Gertrud von Sulzbach zustande. Aus dieser Ehe gingen mit Heinrich (VI.) und Friedrich zwei Söhne hervor. Auf eine von Hansmartin Decker-Hauff vermutete erste Ehe Konrads mit einer Gertrud von Komburg finden sich keine Hinweise. Königswahl 1138 Während der Königsherrschaft seines Schwiegervaters hatte Heinrich der Stolze eine dominante Stellung erreicht. Er verfügte schließlich über die Herzogtümer Bayern und Sachsen, die Markgrafschaft Tuszien sowie umfangreichen Eigenbesitz in Schwaben, Bayern, Sachsen und Italien. Nach Otto von Freising soll er sich seiner Herrschaft „von Meer zu Meer, von Dänemark bis Sizilien“ gerühmt haben. Da Lothar keine Söhne hatte, übergab er vor seinem Tod seinem welfischen Schwiegersohn die Reichsinsignien. Nach dem Tod des Kaisers am 4. Dezember 1137 in Breitenwang galt Heinrich als königsfähiger Kandidat, doch soll er sich „wegen seines Stolzes bei fast allen, die mit Kaiser Lothar an dem Zuge nach Italien teilgenommen hatten, verhaßt gemacht haben“. Heinrichs übertriebenes Rangbewusstsein hielt ihn offenbar davon ab, sich um die Loyalität der Fürsten zu bemühen. Außerdem traf er im Herzogtum Sachsen auf konkurrierende Ansprüche Albrechts des Bären. Nicht nur ein Teil der weltlichen Fürsten stand gegen Heinrich, sondern auch kirchliche Kräfte. Durch den Tod mehrerer Bischöfe waren die Bistümer Freising, Basel, Merseburg, Brandenburg und Osnabrück sowie die Erzbistümer Köln und Mainz in den Jahren 1137/38 vakant. Bei der großen Anzahl an Wiederbesetzungen war für den Episkopat und das Papsttum auch die Einstellung des Königskandidaten wichtig. Die Fortführung des Wormser Konkordats sah man eher durch Konrad als durch Heinrich den Stolzen gewährleistet. Von bischöflicher Seite wurde der Vorwurf erhoben, Heinrich „habe die heilige römische Kirche mit seiner Macht erstickt“. Die allgemeine Wahlversammlung wurde zu Pfingsten 1138 nach Mainz einberufen. Bereits am 7. März 1138 wurde jedoch in Koblenz unter Leitung des Trierer Erzbischofs Albero mit Beteiligung weniger Fürsten und zweier päpstlicher Legaten Konrad zum König erhoben. Anders als bei vorherigen Königswahlen war statt des Mainzer Erzbischofs der Trierer der Wahlleiter. Das Wahlgremium bestand ausschließlich aus Anhängern Konrads. Da es keine geschriebene Verfassung mit Bestimmungen über die Gültigkeit einer Wahl gab, kam es in einer solchen Situation nur darauf an, ob sich der Gewählte politisch und militärisch durchsetzen konnte. Nach der Wahl zog Konrad nach Aachen, wo er am 13. März vom Kardinallegaten Dietwin gesalbt und gekrönt wurde, nicht, wie sonst üblich, vom Kölner Erzbischof. Vielleicht wurde in dieser Zeit die heute in Wien aufbewahrte Reichskrone als monarchisches Würdezeichen angefertigt. Am 22. Mai fand Konrad auf dem Pfingsthoftag in Bamberg die Anerkennung zahlreicher Fürsten. In seinen ersten beiden Herrschaftsjahren war die Bindungskraft des Hofes durch den Königsumritt besonders stark; auffallend viele Große besuchten den Königshof. Konflikt mit Heinrich dem Stolzen und Welf VI. Ende Juni 1138 nahm Konrad in Regensburg die Huldigung der bayerischen Großen entgegen. Heinrich händigte Konrad die Reichsinsignien aus, ohne ihm jedoch zu huldigen. Der neue König wollte sich Handlungsspielräume verschaffen und zu diesem Zweck Heinrich den Stolzen zwingen, „auf einiges von dem, was er von Kaiser Lothar empfangen und noch in Besitz hatte“, zu verzichten. Heinrich hingegen wollte dem König nur huldigen, wenn dieser ihm Lehen und Besitz bestätigte. Die Verhandlungen auf dem Hoftag in Augsburg scheiterten. Konrad floh heimlich in der Nacht, da er befürchtete, der Herzog könne ihn mit seinem Heer zur Anerkennung seiner Stellung zwingen. Im Juli 1138 wurde Heinrich auf einem Hoftag in Würzburg durch ein Urteil der versammelten Fürsten das sächsische Herzogtum aberkannt. Zu Weihnachten verlor er auf einem Hoftag in Goslar auch das bayerische Herzogtum. In Sachsen, wo Konrad wenig Rückhalt hatte, wurde das Herzogtum an den Askanier Albrecht den Bären vergeben, und im Frühjahr 1139 erhielt der Babenberger Leopold IV. das Herzogtum Bayern. Mit diesen Besetzungen in Bayern und Sachsen bekämpfte Konrad nicht nur seinen Rivalen Heinrich, sondern verschaffte sich auch treue Gefolgsleute. Leopold war Halbbruder Konrads, dessen Mutter Agnes in zweiter Ehe mit Leopolds gleichnamigem Vater verheiratet war. Er blieb jedoch aufgrund regionalen Widerstands weitgehend in Bayern gebunden und musste im August 1140 gegen Welf VI., der Bayern für sich beanspruchte, eine Niederlage bei Valley hinnehmen. Nach der Aberkennung der beiden Herzogtümer war ein militärischer Konflikt zwischen König Konrad und Heinrich dem Stolzen unvermeidbar. In Sachsen konnte sich Heinrich gegen Albrecht den Bären behaupten. Im August 1139 standen sich die Heere beim thüringischen Creuzburg an der Werra kampfbereit gegenüber, doch konnte durch Vermittlung des Erzbischofs Albero von Trier und des böhmischen Herzogs Soběslav eine Schlacht, deren Ausgang unkalkulierbar war, verhindert werden. Zwar kam es noch nicht zu einem endgültigen Friedensschluss, doch zu einem Ausgleich (compositio) zwischen den Konfliktparteien. Aufgrund der Komplexität der Streitfragen wurde bis zum Hoftag in Worms am 2. Februar 1140 Zeit für Verhandlungen eingeplant. Ein Kompromiss hätte erfordert, dass Heinrich Konrads Königtum anerkannte und daraufhin erneut belehnt wurde. Für die vom König neu eingesetzten Herzöge Albrecht den Bären in Sachsen und Leopold in Bayern hätte eine Lösung gefunden werden müssen, welche ihnen einen nicht hinnehmbaren Gesichtsverlust ersparte und damit ihre Ehre (honor) berücksichtigte. Heinrich der Stolze starb jedoch unerwartet am 20. Oktober 1139. Nach seinem Tod erhob sein Sohn Heinrich der Löwe Anspruch auf das Herzogtum Sachsen und sein Bruder Welf VI. forderte das Herzogtum Bayern. Die Interessen des noch unmündigen Kindes Heinrich vertraten die Kaiserinwitwe Richenza und Gertrud, die Witwe Heinrichs des Stolzen. Im Dezember 1140 ging Konrad gegen Welf VI. vor und belagerte die Burg Weinsberg nahe Heilbronn. Nach der Kapitulation der Burg soll Konrad in Demonstration königlicher Milde, die im mittelalterlichen Königsideal eine wichtige Rolle spielte, den Frauen erlaubt haben, alles vor der Zerstörung zu retten, was sie tragen konnten. Sie entschieden sich, ihre Männer auf den Schultern davonzutragen. Im Oktober 1141 starb unerwartet Leopold von Bayern. Auch in Sachsen konnte sich Albrecht der Bär gegen Heinrich den Löwen nicht durchsetzen. Die Suche nach einem Kompromiss zwischen den Konfliktparteien zog sich bis 1141/42 hin. Ein Ausgleich konnte auf Vermittlung der Fürsten im Mai 1142 auf dem Hoftag in Frankfurt am Main gefunden werden. Albrecht der Bär verzichtete auf das Herzogtum Sachsen, das Heinrich dem Löwen zugesprochen wurde. Vereinbart wurde eine Ehe zwischen Gertrud und dem Babenberger Heinrich, der später den Beinamen Jasomirgott erhielt. Heinrich Jasomirgott übernahm das Herzogtum Bayern und wurde einer der wichtigsten Parteigänger Konrads. Damit sollte der Streit zwischen der Witwe Heinrichs des Stolzen und König Konrad beendet werden. Gertrud starb jedoch am 18. April 1143, und Welf VI. akzeptierte den Ausgleich nicht. Er beanspruchte das Herzogtum als Erbe seines Bruders für sich und eröffnete die Fehde gegen den König. Heinrich der Löwe erneuerte 1147 seine eigenen Ansprüche auf Bayern. Im Streit um das Herzogtum Bayern unterstützte Herzog Friedrich von Schwaben, der spätere Kaiser Friedrich Barbarossa, seinen Onkel Welf VI. und nicht seinen Onkel Konrad. Der Vorgang zeigt, dass die Theorie früherer Historiker von einem staufisch-welfischen Gegensatz der damaligen Realität nicht gerecht wird. Der Konflikt blieb unter Konrad ungelöst. Maßnahmen zur Festigung der Herrschaft Zur Festigung seiner Königsherrschaft schloss Konrad Bündnisse, die mit Heiraten bekräftigt wurden. Er verheiratete Verwandte mit Angehörigen anderer Herrscherdynastien oder mit Großen des Reiches und vergab Ämter an Angehörige jener Familien, zu denen auf diese Weise verwandtschaftliche Bindungen hergestellt worden waren. Die sulzbachische Familie der Königin wurde ebenso wie die babenbergische und staufische Verwandtschaft des Königs in die Heiratsprojekte einbezogen und mit wichtigen Funktionen im Reich bedacht. 1138 setzte Konrad in Niederlothringen mit Gottfried II. einen neuen Herzog ein und gab ihm Liutgard von Sulzbach, eine Schwester seiner Gattin, zur Frau. 1139 arrangierte er die Verlobung seines erst zwei- oder dreijährigen Sohnes Heinrich mit der ungarischen Königstochter Sophia. Die Ehe kam jedoch nicht zustande, da sich die Beziehungen zum ungarischen Königshof Mitte der 1140er Jahre verschlechterten. 1140 erhielt der Böhmenherzog Wladislaus II. sein Herzogtum nur, da er mit Gertrud eine babenbergische Schwester des Königs heiratete. Konrads Schwägerin Bertha von Sulzbach wurde im Januar 1146 im Rahmen einer gegen das Normannenreich in Süditalien gerichteten Bündnispolitik mit dem byzantinischen Kaiser Manuel I. vermählt. Als Kaiserin nahm sie den Namen Irene an, der im Griechischen „Friede“ bedeutet. Damit sollte auch der Wunsch nach einem friedlichen Nebeneinander der beiden Reiche, die in Italien widerstreitende Interessen verfolgten, ausgedrückt werden. Auch Konrads Neffe Friedrich von Schwaben wurde in Konrads dynastische Politik einbezogen. Um 1146 wurde er mit der nordbayerischen Markgrafentochter Adela von Vohburg vermählt. Die Babenberger wurden zu Stützen von Konrads Königtum. Leopold IV. wurde 1139 Herzog von Bayern, sein Bruder Heinrich Jasomirgott erhielt 1140 mit der Pfalzgrafschaft bei Rhein eine Schlüsselposition im Reich. 1143 erhob Konrad Heinrich zum Herzog von Bayern, 1146 vermählte er ihn mit der byzantinischen Prinzessin Theodora Komnena, einer Nichte Kaiser Manuels. Die beiden Babenberger Otto und Konrad wurden mit geistlichen Ämtern versorgt. Otto wurde 1138 zum Bischof von Freising erhoben und Konrad 1148 als Bischof von Passau im Kern des babenbergischen Herrschaftsbereichs positioniert. Der Besitz und die Kontrolle von Burgen besaß für die Stellung und Herrschaftsausübung der frühen Staufer im Reich eine wesentliche Rolle. Konrad tauschte 1142 den Baugrund auf dem Burgberg von Rothenburg ob der Tauber vom Stift Neumünster ein und ließ im selben Jahr die gleichnamige Burg errichten. Nach Karl Borchardt war die Burg Rothenburg bereits unter Konrad auch mit einer Stadtgründung verbunden. Konrad habe mit Burg und Stadt einen hochrangigen Herrschaftsmittelpunkt geplant. Konrads Königtum entwickelte eine hohe Bindungskraft, jedoch mit regional unterschiedlicher Intensität. Besonders Franken und Schwaben waren königsnahe Regionen, in denen die Königsherrschaft effektiv zur Geltung gebracht werden konnte. Rhein- und Ostfranken waren die Kernregionen der königlichen Urkundentätigkeit. Sachsen blieb wegen der Kämpfe des Königs gegen Heinrich den Löwen königsfern; es gelang Konrad in seiner gesamten Herrschaftszeit nicht, diese Region zu integrieren. Am häufigsten besuchte Konrad Würzburg (elfmal), Regensburg und Nürnberg (je neunmal) sowie Bamberg, Speyer und Frankfurt (je sechsmal). Als Vertraute Konrads sind neun Personen nachweisbar: der königliche Kanzler und spätere Erzbischof Arnold II. von Köln, die Bischöfe Embricho von Würzburg, Burchard II. von Worms, Otto von Freising und Anselm von Havelberg, der Abt Wibald von Stablo sowie der Herzog Friedrich II. von Schwaben, Albrecht der Bär und Heinrich Jasomirgott von Bayern. Konrads Bruder Friedrich wurde nach der Stabilisierung des Königtums der in den Diplomen am häufigsten erwähnte Fürst. Auch die Ministerialität band Konrad immer stärker ein. Das bedeutendste Beispiel ist Arnold von Selenhofen, der einem Mainzer Ministerialengeschlecht entstammte. Im März 1138 übertrug ihm Konrad die Hofkapelle und 1151 das Amt des Reichskanzlers. Ministeriale hatten bereits seit der späten Salierzeit als Stützen der königlichen Herrschaft an Bedeutung gewonnen, in der Stauferzeit verstärkte sich diese Entwicklung. Verhältnis zur Kirche 1122 war der jahrzehntelange Konflikt zwischen Kaiser und Papst, in dem die päpstliche Seite mit dem Schlagwort „Freiheit der Kirche“ (libertas ecclesiae) angetreten war, durch das Wormser Konkordat beigelegt worden. Zu den Päpsten pflegte Konrad als König stets gute Beziehungen. Anders als Lothar versuchte er nicht, die verlorenen königlichen Rechte über die Reichskirche zurückzugewinnen. Auf die Neubesetzungen zahlreicher Bistümer unmittelbar nach seinem Herrschaftsantritt nahm er Einfluss über die Wahlgremien, die Domkapitel, in denen er loyale Gefolgsleute und potentielle Bischofskandidaten untergebracht hatte. So konnte er sich an die Bestimmungen des Konkordats halten und zugleich die Zusammenarbeit mit den wichtigsten geistlichen Zentren im Reich fördern. Konrads Herrschaft war von einem engen Zusammenwirken von Königtum und Reichskirche geprägt. Der König betrachtete die beiden Gewalten Königtum (regnum) und Kirche (sacerdotium) als gleichrangig. Sein Handeln gegenüber der Kirche war durch die Prinzipien concordia („Eintracht“) und consensus („Konsens“) bestimmt. So sorgte er für königlichen Schutz der Kirchen gegen jegliche Art von Bedrückungen. Von den 186 überlieferten Urkunden für kirchliche Empfänger enthielt beinahe jede vierte eine Bestätigung oder gar die erstmalige Verleihung des Königsschutzes. Zudem förderte der König Kirchen durch Übertragung von Reichsbesitz. Hohe Geistliche übernahmen wichtige politische Aufgaben in Italien, bei Verhandlungen mit den Päpsten und bei der Pflege des Verhältnisses zu Byzanz. Grundlegende Veränderungen in der Kirchenherrschaft führte Konrad im Vogteiwesen durch. Kirchenvögte waren in den von ihnen betreuten kirchlichen Einrichtungen für Schutz und Gerichtsbarkeit zuständig, hatten jedoch zahlreiche Aufgaben an Untervögte abgegeben. Nachdem sich viele Untervögte Güter und Rechte der von ihnen bevogteten Kirchen angeeignet hatten, erließ der König 1150 für das gesamte Reich ein Verbot der Untervogtei. Zweiter Kreuzzug Im Krieg zwischen den Kreuzfahrerstaaten und den Muslimen hatte der Atabeg Zengi von Mossul im Dezember 1144 die Grafschaft Edessa eingenommen. Nach diesem Rückschlag richteten die Kreuzfahrer ein Hilfegesuch an Papst Eugen III. Dieser rief daraufhin am 1. Dezember 1145 zum Kreuzzug ins Heilige Land auf. Mit der Kreuzzugspredigt wurde der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux beauftragt. Am 31. März 1146 nahm Ludwig VII. von Frankreich das Kreuz. Konrad hingegen lehnte eine erste Werbung Bernhards für den Kreuzzug Ende November/Anfang Dezember 1146 auf einem Hoftag in Frankfurt aus mehreren Gründen ab: Im nördlichen Reichsteil dauerten die Konflikte mit Welf VI. und Heinrich dem Löwen an, in Italien hatte Konrad noch keine Tätigkeiten entfalten können und der Papst drängte den König, nach Rom zu kommen. Ein Kreuzzug hätte auch das Verhältnis zu Byzanz, das sich seit der Eheschließung von Konrads Schwägerin Bertha von Sulzbach mit Kaiser Manuel positiv gestaltete, beeinträchtigen können. Schließlich konnte Konrad jedoch als künftiger Kaiser und ranghöchster Herrscher der Christenheit nicht abseits bleiben. Am Weihnachtshoftag 1146 in Speyer verpflichtete er sich nach einer Predigt Bernhards zur Kreuzzugsteilnahme. Die Gottgefälligkeit seines Vorhabens schien durch Wunderheilungen Bernhards vor den versammelten Kreuzfahrern bestätigt zu werden. Den Kreuzzug wollte der König nutzen, um sich als Schutzherr der gesamten lateinischen Christenheit zu profilieren. Mit dem Zug ins Heilige Land sollte die „Ehre unseres Reiches“ (honor regni nostri) vermehrt werden. Im Reich war die Bereitschaft zur Teilnahme am Kreuzzug jedoch sehr unterschiedlich. Der Westen stand unter dem unmittelbaren Eindruck der von Frankreich ausgehenden Kreuzzugspredigten. Welf VI. hatte bereits zwei Tage vor Konrad das Kreuz genommen. Heinrich der Löwe, Albrecht der Bär und andere sächsische Große zogen es hingegen vor, gegen die Heiden in ihrer eigenen Nachbarschaft zu ziehen (→ Wendenkreuzzug). Für die Dauer des Kreuzzugs musste Konrad für einen Frieden im Reich sorgen. Mitte Februar nahmen in Regensburg die babenbergischen Gegner Welfs VI., Otto von Freising und Herzog Heinrich Jasomirgott von Bayern, das Kreuz. Auf dem Hoftag zu Frankfurt vom März 1147 wurden Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung des Kreuzzugs beschlossen. Konrads zehnjähriger Sohn Heinrich (VI.) wurde Mitte März 1147 zum Mitkönig erhoben. In Frankfurt wurde für die Dauer des Kreuzzugs ein Landfriede erlassen. Für die Zeit der Abwesenheit Konrads übernahm der Erzbischof Heinrich von Mainz die Regentschaft im Reich. Heinrich der Löwe nutzte die Kreuzzugsvorbereitungen und forderte in Frankfurt das Herzogtum Bayern nach Erbrecht zurück. Es gelang, die Befassung mit seinen Ansprüchen bis zur Rückkehr des Königs zu vertagen. Im Mai 1147 brach das deutsche Kreuzzugsheer von Regensburg in Richtung Ungarn auf. Es umfasste 20.000 Mann. Über Bulgarien zog das Heer ins Byzantinische Reich. Dort erschwerten Versorgungsprobleme und Konflikte mit byzantinischen Heeresabteilungen die Weiterfahrt, das Heer hatte mit Erschöpfung, Hunger und Seuchen zu kämpfen. Im Oktober 1147 erlitt es bei Doryläum gegen die Seldschuken eine vernichtende Niederlage. Der König selbst erkrankte an der Malaria tertiana. Von Januar bis Anfang März 1148 hielt er sich am Kaiserhof in Konstantinopel auf, wo er von byzantinischen Ärzten versorgt wurde. Am 24. Juni 1148 nahm er mit Ludwig VII. von Frankreich und König Balduin III. von Jerusalem an einem großen Konzil in Akkon teil. Der dort vereinbarte Zug gegen Damaskus wurde im Juli 1148 ein vollständiger Fehlschlag. Das eigentliche Ziel des Kreuzzuges, die Rückeroberung Edessas, konnte nicht erreicht werden. Auf dem Rückweg traf Konrad in Konstantinopel noch einmal mit dem byzantinischen Kaiser Manuel I. Komnenos zusammen. Die Begegnung wurde durch das Zweikaiserproblem erschwert, da sowohl die byzantinischen als auch die westlichen Kaiser Anspruch auf den Titel imperator Romanorum erhoben. Seit 1142 verwendete Konrad in seinen Schreiben an die byzantinischen Herrscher den Titel Romanorum imperator augustus, obwohl er noch nicht zum Kaiser gekrönt war. Den Empfängern wurde auch der Titel Basileus ton Rhomaion („Kaiser der Römer“) verweigert und deren Herrschaftsgebiet nur als regnum („Reich“) oder imperium Grecorum („Reich der Griechen“) bezeichnet. Der Basileus erhob bei der Begrüßung eines niederrangigen Herrschers den Anspruch, dass sich dieser vor ihm niederbeuge und ihm die Knie küsse. Da Konrad die Kaiserwürde zu erlangen gedachte, akzeptierte er dieses Zeremoniell und die damit ausgedrückte Höherrangigkeit Manuels jedoch nicht. Arnold von Lübeck berichtete rund sechzig Jahre später, dass Manuel und Konrad bei der Begrüßung aufeinander zuritten und sich sitzend im Sattel küssten. So wurde symbolisch Gleichrangigkeit ausgedrückt. Ob sich die Begegnung tatsächlich so abspielte, ist allerdings in der Forschung umstritten. Begrüßungen solcher Art waren jedenfalls nicht unüblich. Konrad und Manuel beschlossen einen Feldzug gegen den normannischen König Roger II. in Süditalien. Beide Kaiserreiche hatten zwar ähnliche Interessen und betrachteten den normannischen König als Usurpator, doch bestand auch eine Rivalität: Beide Herrscher beanspruchten Süditalien jeweils für sich. Nach der Rückkehr vom Kreuzzug behauptete Konrad, sein Heer sei nicht von Ungläubigen besiegt worden, sondern vom Hunger, gegen den keine Waffe helfe. In der höfischen Öffentlichkeit wurden die Resultate des Unternehmens nach den Kategorien Ehre und Schande, Ruhm und Schmach bewertet. Nach den großen Verlusten beklagten die Chronisten, dass im Heiligen Land „nichts für die Erhabenheit des kaiserlichen und deutschen Namens“ erreicht worden sei. Nach dem gescheiterten Kreuzzug verlor der Königshof offenbar an Attraktivität: In den Zeugenlisten der Herrscherdiplome ging die Zahl der bedeutenden Fürsten zurück. Dies gilt der modernen Forschung als Zeichen dafür, dass die Akzeptanz von Konrads Königtum schwand. Pläne zur Kaiserkrönung, Tod und Nachfolge Mit dem Erstarken der kommunalen Bewegung war im 12. Jahrhundert in Rom der Gedanke aufgekommen, dass die römische Kaiserwürde nicht vom Papst – dem römischen Bischof –, sondern von den Stadtrömern zu vergeben sei. Durch den Versuch, den antiken römischen Senat zu erneuern (renovatio senatus), gewann die Kommune an Selbstbewusstsein. Seit 1144 versuchte sie, die weltliche Macht der Päpste in der Stadt durch ihre eigene Herrschaft zu ersetzen. 1149 richtete der römische Senat drei Schreiben an Konrad, in denen dieser eingeladen wurde, die Kaiserwürde von Senat und Volk zu empfangen. Konrad ließ sich darauf jedoch nicht ein. Papst Eugen III. wurde aus Rom vertrieben und musste seit Juni 1150 außerhalb der Stadt residieren. Für die Wiederherstellung seiner Herrschaft in der Stadt benötigte er Konrads Hilfe. Daher forderte er ihn zum Zug nach Rom auf. Im September 1151 beschloss der König auf dem Würzburger Hoftag, im nächsten Herbst nach Italien zu ziehen, um die Kaiserkrone zu erwerben. Vor der längeren Abwesenheit wollte er die Nachfolge für seine Familie sichern. Sein erster Sohn, der bereits zum König gewählte Heinrich, war schon im Spätsommer 1150 gestorben, und damit war zunächst die Hoffnung zunichtegemacht, erstmals seit Heinrich IV. die Thronfolge eines Königssohns zu Lebzeiten des Herrschers zu erreichen. Nun sollte der jüngste Sohn Friedrich zum Mitkönig erhoben werden. Die Wahl wurde für Ende Februar vereinbart, die Krönung in Aachen war für den 9. März vorgesehen. Am 15. Februar 1152 starb Konrad jedoch mit fast sechzig Jahren. Nach Otto von Freising wollten ihn seine Vertrauten gemäß seinem Wunsch im Kloster Lorch neben seinem Vater bestatten. Die Mönche des fränkischen Zisterzienserklosters Ebrach hingegen behaupteten, Konrad habe bei ihnen seine letzte Ruhestätte finden wollen. In Ebrach war 1146 seine Gemahlin Gertrud bestattet worden. Die Bamberger Geistlichkeit setzte sich durch; sie bestattete Konrad drei Tage nach seinem Tod im Bamberger Dom. Sein Grab befand sich zunächst in der Nähe des Grabes Heinrichs II., des 1146 heiliggesprochenen Gründers des Bamberger Bistums, doch blieb sein Andenken in Bamberg hinter der Memoria des heiligen Bistumsgründers zurück. Beide Gräber befanden sich damals noch in der Mitte des Doms. 1656 wurden Konrads Gebeine zunächst hinter dem Altar des heiligen Mauritius und 1667 in einem Kasten unter dem Hauptaltar des Westchors beigesetzt. König Ludwig I. von Bayern veranlasste 1845 die Umbettung des Staufers in einen neuromanischen Sarkophag, der sich in der Krypta der Ostkirche befindet. Drei Wochen nach Konrads Tod wurde am 4. März 1152 in Frankfurt nicht sein unmündiger Sohn, sondern sein gleichnamiger Neffe Herzog Friedrich von Schwaben gewählt – der erste Fall dieser Art bei Königswahlen. Otto von Freising überliefert das Bild eines reibungslosen Übergangs der Herrschaft vom ersten auf den zweiten staufischen König. Tatsächlich dürfte es jedoch vor der Frankfurter Wahl intensive Verhandlungen, Zugeständnisse und Absprachen zwischen dem später Barbarossa genannten Friedrich und zahlreichen Großen gegeben haben. Friedrich gelang es, mit Heinrich dem Löwen und Welf VI. die ranghöchsten Gegner Konrads durch Zusagen auf seine Seite zu ziehen. Drei Tage nach seiner Krönung schenkte er der Bamberger Kirche zu Konrads „ewigem Gedenken“ die Reichsabtei Niederaltaich. Wirkungsgeschichte Konrad im Urteil von Zeitgenossen Konrad galt Zeitgenossen als frommer Christ und glorreicher Herrscher. Im Reich datierten Bischöfe und Klöster häufig ihre Urkunden nach den Herrscherjahren des „sehr frommen“ oder „sehr berühmten und überaus erlauchten Königs Konrad“. Bischof Otto von Freising fällte sein Urteil über Konrads Zeit in seiner Chronik, die sein Hauptwerk war und als Höhepunkt der mittelalterlichen Weltchronistik gilt. Er deutete die Ereignisse dieser Jahre als Zeichen für den bevorstehenden Weltuntergang. Die letzten Jahre Konrads erscheinen damit als eine „Katastrophengeschichte“. Diese Einschätzung ist jedoch mit eine Folge der Darstellungsabsicht einer mittelalterlichen Weltchronik und zudem Ausdruck der persönlichen Perspektive des Verfassers. Otto verdankte Konrad die Erhebung zum Freisinger Bischof, gehörte jedoch nicht zum engeren Umfeld von Konrads königlichem Nachfolger Barbarossa. Seine Chronik hatte er 1146 abgeschlossen und in einem Exemplar auch Barbarossa gewidmet. Mit seinem historiografischen Werk hoffte er für seine Kirche die Unterstützung des neuen Königs zu gewinnen. Mit Konrads Nachfolger Barbarossa habe eine Zeit des Friedens und der Eintracht begonnen, nach einer „Zeit des Weinens“ sei eine „Zeit des Lachens“ angebrochen. Die Kölner Königschronik würdigte Konrad zum Jahre seines Todes als tapferen und militärisch fähigen Mann, sah seine Herrschaft jedoch von ungünstiger Witterung, Armut, anhaltenden Hungersnöten und Kriegen geprägt. Das Reich sei von einem gewissen Unglück heimgesucht worden. Geschichtsbilder und Forschungsperspektiven In der Zeit der so genannten Kleinstaaterei im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurden die deutschen Könige und Kaiser des Mittelalters als frühe Repräsentanten einer auch für die Gegenwart ersehnten starken monarchischen Zentralgewalt angesehen. Ihre historische Aufgabe als Herrscher habe darin bestanden, die Zentralgewalt zu stärken. Zudem beeinflussten die Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert das Geschichtsbild. Für die mehrheitlich nationalliberalen Historiker galten die mittelalterlichen Fürsten, die als Vertreter egoistischer Partikularinteressen wahrgenommen wurden, und das gegen die Könige kämpfende Papsttum als „Totengräber“ der Kaisermacht. Entscheidend wurde das historische Urteil von der Frage bestimmt, ob sich einzelne Könige gegen die beiden mit dem Königtum rivalisierenden Gewalten durchgesetzt und so zur Stärkung der Zentralgewalt und zur Größe der Nation beigetragen haben. Nach diesem Kriterium wurde Konrad in der Mediävistik des 19. Jahrhunderts überwiegend zu den schwächeren Königen gezählt. Gegenüber den anderen staufischen Herrschern Friedrich Barbarossa, Heinrich VI. und Friedrich II. fiel Konrad deutlich zurück. In ihrer Quellenanalyse stützten sich die meisten Historiker auf die Chronik Ottos von Freising, die Konrads Zeit als eine Epoche des allgemeinen Niedergangs erscheinen lässt. Die zahlreichen zeitgenössischen Nachrichten über Konrads Frömmigkeit dienten der älteren Forschung als Beleg, dass er ein allzu kirchennaher Herrscher, ein „Pfaffenkönig“ gewesen sei. Unter maßgeblicher Beteiligung eines päpstlichen Legaten gewählt, sei er von eigensüchtigen Bischöfen und Fürsten umgeben gewesen und habe in aussichtslosen Kämpfen mit den Welfen Ressourcen und Ansehen des Königtums geschwächt. Statt zum Kreuzzug aufzubrechen hätte sich Konrad um die Stärkung der monarchischen Zentralgewalt kümmern müssen. Die ältere Forschung war der Ansicht, dass 1138 ein Königtum Heinrichs des Stolzen vorteilhaft gewesen wäre: Der Herzog von Bayern und Sachsen sowie Markgraf von Tuszien hätte mit seinem umfassenden Eigen- und Lehnsbesitz im Rücken als König Adel und Kirche zurückdrängen können. Der Konflikt zwischen Heinrich dem Stolzen und Konrad III. wurde im 19. Jahrhundert als Streit zwischen Staufern und Welfen um Herzogtümer und Königsherrschaft in den allgemeinen Rahmen der Reichsgeschichte von 1125 bis 1225 eingeordnet. Konrad taugte allenfalls als Wegbereiter für seinen glanzvollen und tatkräftigen Nachfolger Friedrich Barbarossa. In der ersten wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte des Reichs unter Konrad schrieb Philipp Jaffé, dass dieser ein zerrüttetes Reich zurückgelassen habe. Wilhelm Bernhardi (1883) sah in den „Jahrbüchern der deutschen Geschichte“ Konrad gar „in den Netzen der römischen Kirche gefangen“. Johannes Haller veröffentlichte 1926 eine Darstellung der „altdeutschen Kaiserzeit“. Er sah Lothar und Konrad „am Leitseil der Kirche“. Konrad sei „ein richtiger Pfaffenkönig“ gewesen. Für Karl Hampe vollbrachte Konrad mit der Empfehlung seines Neffen Friedrich Barbarossa als Nachfolger „die einzige große Tat, für die ihm die Dankbarkeit Deutschlands gebührt (...) auf dem Sterbebette“. Erst nach 1945 veränderte sich das Geschichtsbild. Die Mediävistik überwand die königszentrierte Perspektive in der Politik- und Verfassungsgeschichte. Könige und Kaiser wurden nicht mehr als alleinige Garanten der mittelalterlichen Ordnung angesehen. In den folgenden Jahrzehnten kam die Mittelalterforschung zu neuen Einsichten über die Funktionsweisen mittelalterlicher Staatlichkeit und Königsherrschaft, die personalen Bindungen, die symbolische Kommunikation und die konsensuale Herrschaft. 1996 konnte Werner Hechberger nachweisen, dass der staufisch-welfische Gegensatz, der für Konrads Königsherrschaft und für das weitere 12. Jahrhundert als die grundlegende politische Konstellation betrachtet wurde, keine zeitgenössische politische Koordinate, sondern ein modernes Forschungskonstrukt ist. Die jüngere Forschung betont vielmehr das Zusammenwirken von Fürsten und Herrscher als charakteristisches Merkmal mittelalterlicher Herrschaft. In der jüngeren Forschung hat Konrad wieder mehr Aufmerksamkeit gefunden. Neue Erkenntnisse konnten über seine Königswahl, über sein Bündnis mit Byzanz, über seinen Konflikt mit den Welfen und über seine Nachfolgeregelung gewonnen werden. Ihm wurde 2011 eine Göppinger Staufertagung gewidmet. Inwieweit diese neuen Einsichten das Gesamtbild Konrads III. aufhellen, bleibt jedoch abzuwarten. Gerd Althoff (2003) hält an der negativen Einschätzung des Königs fest und betrachtet es als „nahezu unmöglich, Argumente für eine grundsätzlich andere Bewertung zu finden“. Hansmartin Schwarzmaier (2009) sprach von einem „glücklosen König“. Eine umfassende Darstellung von Konrads Königtum und den Grundlagen seiner Herrschaft ist seit dem Werk von Bernhardi aus dem Jahre 1883 nicht mehr veröffentlicht worden. Sie ist ein Desiderat der Mediävistik. Künstlerische Rezeption Bei der Rezeption in der Kunst bestimmte außerhalb des nationalen Interesses „die Suche nach spannungsvollen, psychologisch reichen, ja sensationellen Momenten“ die Themenwahl. Durch die Geschichte über die „Weiber von Weinsberg“ fand Konrad Eingang in die Malerei. Anhand der von der Kölner Königschronik überlieferten Erzählung konnten die Themen „Weibertreue“ und „Königswort“ künstlerisch gestaltet werden. Damit beschäftigte sich besonders die flämische Künstlerfamilie Francken. Außerdem wurde der Vorgang von Jan Cornelisz. van ’t Woudt (1602), Nicolas Guibal (1760/67), Alexander Bruckmann (1836) und Johann Gottfried Schadow künstlerisch in Szene gesetzt. Eine gewisse Verehrung in katholischen Kreisen des 19. Jahrhunderts hing damit zusammen, dass Konrad als erster deutscher Herrscher ein Kreuzfahrerheer führte. Vor allem die Situation, in der Bernhard von Clairvaux den zunächst noch widerstrebenden König durch eine mitreißende Rede für den Kreuzzug begeistern konnte, fand Niederschlag in der Historienmalerei. Den Augenblick der Fahnenübergabe Bernhards an Konrad hält etwa ein Fresko von Johann von Schraudolph im Dom zu Speyer fest, das er im Auftrag des bayerischen Königs Ludwig I. ausführte und im August 1849 vollendete. Quellen Jan Paul Niederkorn, Karel Hruza (Bearb.): Regesta Imperii IV,1,2. Konrad III. 1138 (1093/94)–1152. Böhlau, Wien u. a. 2008, ISBN 978-3-205-77442-6. (Rezension). Friedrich Hausmann (Hrsg.): Die Urkunden Konrads III. und seines Sohnes Heinrich (= Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae. Band 9). Böhlau, Wien u. a. 1969. Literatur Lexikonartikel Darstellungen Gerd Althoff: Konrad III. (1138–1152). In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). Beck, München 2003, S. 217–231, ISBN 3-406-50958-4. Wilhelm Bernhardi: Konrad III. Jahrbücher der Deutschen Geschichte. Duncker & Humblot, Berlin 1975. (Neudruck der 1. Auflage von 1883 aus den Jahrbüchern der Deutschen Geschichte) Ferdinand Geldner: Kaiserin Mathilde, die deutsche Königswahl von 1125 und das Gegenkönigtum Konrads III. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Band 40, 1977, S. 3–22 (Digitalisat). Gesellschaft für staufische Geschichte (Hrsg.): Konrad III. (1138–1152). Herrscher und Reich (= Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst. Band 30). Göppingen 2011, ISBN 978-3-929776-22-5. Knut Görich: Fürstenstreit und Friedensstiftung vor dem Aufbruch Konrads III. zum Kreuzzug. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Band 158, 2010, S. 117–136. Klaus Höflinger: Konrad III. In: Karl Rudolf Schnith (Hrsg.): Mittelalterliche Herrscher in Lebensbildern. Von den Karolingern zu den Staufern. Styria, Graz 1990, ISBN 3-222-11973-2, S. 261–271. Jan Paul Niederkorn: Konrad III. als Gegenkönig in Italien. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Band 49, 1993, S. 589–600 (Digitalisat). Hubertus Seibert, Jürgen Dendorfer (Hrsg.): Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich (1079–1152) (= Mittelalter-Forschungen. Band 18). Thorbecke, Ostfildern 2005, ISBN 978-3-7995-4269-2 (Digitalisat). Bernd Schütte: König Konrad III. und der deutsche Reichsepiskopat. Kovač, Hamburg 2004, ISBN 3-8300-1600-X. (Rezension). Wolfram Ziegler: König Konrad III. (1138–1152). Hof, Urkunden und Politik (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Band 26). Böhlau, Wien u. a. 2008, ISBN 978-3-205-77647-5. (Rezension, Rezension). Weblinks Heiner Wember: 13.03.1138 - Konrad III. wird zum König gekrönt WDR ZeitZeichen vom 13. März 2018. (Podcast) Anmerkungen König (HRR) König (Italien) König (Burgund) Herzog (Franken) Familienmitglied der Staufer Kreuzfahrer (Zweiter Kreuzzug) Reichssturmfähnrich Herrscher (12. Jahrhundert) Geboren im 11. Jahrhundert Gestorben 1152 Mann
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Macrinus
Marcus Opellius Macrinus (* 164 in Caesarea Mauretaniae; † Juni/Juli 218 in Archelaïs, heute Aksaray) war römischer Kaiser vom 11. April 217 bis zum 8. Juni 218. Als Kaiser nannte er sich Marcus Opellius Severus Macrinus. Der Nordafrikaner Macrinus war der erste Kaiser, der bei seinem Regierungsantritt nicht dem Senatorenstand angehörte. Er begann seine Karriere in Rom unter Kaiser Septimius Severus (193–211). Unter dessen Sohn und Nachfolger Caracalla (211–217) stieg er 212 zum Prätorianerpräfekten auf und begleitete den Kaiser 216–217 auf dessen Feldzug gegen die Parther. Er organisierte ein Mordkomplott, dem Caracalla am 8. April 217 im nördlichen Mesopotamien zum Opfer fiel. Es gelang ihm, seine Beteiligung an dem Anschlag vor den Soldaten zu verheimlichen. Nach einigem Zögern erhob ihn das Heer zum Nachfolger des Ermordeten. Im Senat stieß Macrinus trotz seiner senatsfreundlichen Politik auf beträchtliche Vorbehalte, insbesondere weil er nicht der senatorischen Reichsaristokratie (Nobilität) angehörte. Als Kaiser kam er nie nach Rom, sondern verbrachte seine gesamte kurze Regierungszeit im Osten des Reichs. Den Angriffskrieg seines Vorgängers gegen die Parther musste er zunächst fortsetzen, wobei er eine empfindliche Niederlage erlitt. Schließlich erkaufte er 218 den Frieden. Mit seiner Sparsamkeit machte er sich bei den Soldaten unbeliebt. Bald nach dem Beginn seines zweiten Regierungsjahrs führte die Unzufriedenheit im Heer zu seinem Sturz. Anhänger der entmachteten Dynastie der Severer erhoben Elagabal, der als unehelicher Sohn Caracallas ausgegeben wurde, zum Gegenkaiser. Am 8. Juni 218 unterlagen die Truppen des Macrinus der Streitmacht Elagabals. Macrinus wurde auf der Flucht gefasst und bald darauf getötet. Leben Herkunft und Karriere Macrinus wurde 164 geboren. Er stammte aus Caesarea, der Hauptstadt der Provinz Mauretania Caesariensis, die sich in der Nähe der heutigen algerischen Stadt Cherchell befand. Macrinus war römischer Ritter. Vielleicht gehörten schon seine unbekannten Eltern dem Ritterstand an; es kann aber auch sein, dass erst ihm selbst der Ritterrang verliehen wurde. Erst in der spätantiken Geschichtsschreibung sind Einzelheiten über seinen angeblichen Aufstieg aus äußerst armseligen Verhältnissen überliefert, die aber unglaubwürdig sind. Es handelt sich offenbar um Verleumdungen, mit denen man ihn in aristokratischen Kreisen als unwürdigen Emporkömmling diskreditieren wollte. Der zeitgenössische Geschichtsschreiber Cassius Dio teilt nur mit, dass Macrinus Maure war und sein Elternhaus „sehr bescheiden“ war. Da Macrinus die für seine spätere Laufbahn erforderliche Ausbildung erhielt, war seine Familie wohl nicht mittellos und bildungsfern. In Rom war Macrinus als Jurist tätig. Dabei kam er mit dem mächtigen Prätorianerpräfekten Plautianus in Kontakt, der ebenfalls aus Nordafrika stammte. Plautianus machte ihn zum Verwalter seines riesigen Vermögens. Als Plautianus 205 durch eine Intrige gestürzt und auf Befehl des Kaisersohns Caracalla getötet wurde, geriet auch Macrinus in große Gefahr, doch der Stadtpräfekt Lucius Fabius Cilo trat für ihn ein und rettete ihm damit das Leben. Nun begann er die ritterliche Ämterlaufbahn. Erst war er advocatus fisci (Anwalt des Fiscus), dann machte ihn Kaiser Septimius Severus zum praefectus vehiculorum per Flaminiam, übertrug ihm also die Aufsicht über den Wagenverkehr auf der Via Flaminia. Schließlich vertraute ihm Kaiser Caracalla im Jahre 212 die hohe Stellung eines der beiden Prätorianerpräfekten an. Damit erreichte er den Gipfel der ritterlichen Karriereleiter. Er hatte nun eine der mächtigsten Positionen im Reich inne. 216–217 begleitete er Caracalla auf dessen Feldzug gegen die Parther. Erhebung zum Kaiser Die Umstände, die zum Tod Caracallas und zu Macrinus’ Erhebung zum Kaiser führten, schildert Cassius Dio ausführlich. Die Grundzüge seines Berichts werden in der Forschung meist als zutreffend betrachtet; in modernen Darstellungen der Vorgänge werden sie gewöhnlich übernommen. Dieser Überlieferung zufolge befand sich Macrinus im Frühjahr 217 in einer akuten Notlage: Prophezeiungen hatten ihm die Kaiserwürde verheißen, und dies war Caracalla zu Ohren gekommen; außerdem war ein schriftlicher Bericht über eine solche Wahrsagung an den Kaiser unterwegs. Ulpius Julianus, ein Vertrauensmann des Macrinus, den dieser später zum Prätorianerpräfekten ernannte, warnte Macrinus vor der drohenden Lebensgefahr. Die Verbreitung der Prophezeiung war vermutlich Teil einer gegen den Prätorianerpräfekten gerichteten Intrige. In der dadurch entstandenen Situation musste Macrinus eine existenzielle Bedrohung sehen, da Caracalla alles, was seine Herrschaft zu gefährden schien, tödlich ernst nahm. Um seiner Festnahme und Beseitigung zuvorzukommen, organisierte Macrinus die Ermordung Caracallas, wobei er sich einer Gruppe von drei Unzufriedenen bediente. Am 8. April 217 wurde das Attentat im nördlichen Mesopotamien ausgeführt. Zweifel an der Rolle des Macrinus als Organisator der Verschwörung, die in der Forschung vereinzelt geäußert worden sind, werden von den meisten Historikern für unberechtigt gehalten. Da Caracalla keine Kinder hatte, war mit ihm die männliche Nachkommenschaft des Dynastiegründers Septimius Severus ausgestorben. Dies bedeutete das vorläufige Ende der Herrschaft der Severer. Das zum Partherkrieg versammelte Heer, dem die Wahl des neuen Kaisers oblag, war der Dynastie ergeben, musste sich nun aber für einen dynastiefremden Nachfolger Caracallas entscheiden. Offenbar konnte Macrinus seine Beteiligung an dem Attentat verheimlichen, doch fand er zunächst kaum Unterstützung. Nach dem Bericht des zeitgenössischen Geschichtsschreibers Herodian zogen ihm die Soldaten seinen Kollegen vor, den anderen Prätorianerpräfekten Marcus Oclatinius Adventus, obwohl dieser schon betagt war, kaum noch sehen und weder lesen noch schreiben konnte. Im Gegensatz zum Juristen Macrinus, der keine soldatischen Leistungen vorzuweisen hatte, galt er aber als militärisch bewährt. Erst nachdem er mit dem Hinweis auf sein Alter die Kaiserwürde abgelehnt hatte, ließen sich die Soldaten überreden, Macrinus am 11. April zum Kaiser auszurufen. Dieser nahm seine Erhebung scheinbar nur widerstrebend an, wie es dem Brauch der recusatio imperii entsprach. Mit seinem Kaisernamen Marcus Opellius Severus Macrinus knüpfte er demonstrativ an die severische Tradition an. Verhältnis zum Senat Macrinus war der erste Kaiser in der römischen Geschichte, der zum Zeitpunkt seiner Erhebung nicht dem Senatorenstand angehörte, sondern Ritter war. Zwar hatte er von Caracalla Anfang 217 die ornamenta consularia (Rangabzeichen eines Konsulars) und den Titel vir clarissimus („hochangesehener Mann“), der eigentlich Angehörigen des Senatorenstandes vorbehalten war, erhalten, doch war damit höchstwahrscheinlich keine Aufnahme in den Senat verbunden. Solche Ehrungen stellten zwar eine Rangerhöhung dar, aber sie bedeuteten nicht, dass der Geehrte einen Sitz im Senat einnahm und tatsächlich Konsular war, also einem Senator, der als Konsul amtiert hatte, gleichgestellt war. Dies bestätigte Macrinus selbst, indem er das Konsulat, das er im Jahr 218 als Kaiser antrat, als sein erstes betrachtete. Staatsrechtlich stellte seine Erhebung einen wichtigen Präzedenzfall dar; fortan galt die Zugehörigkeit zum Senatorenstand nicht mehr als zwingend notwendige Voraussetzung für die Erlangung der Kaiserwürde. Da Caracalla bei vielen Senatoren verhasst gewesen war, wurde sein Tod im Senat mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Unter diesen Umständen konnte sein dynastiefremder Nachfolger in senatorischen Kreisen von vornherein mit einem gewissen Wohlwollen rechnen, obwohl er aus senatorischer Sicht nicht für die Kaiserwürde qualifiziert war. Die Senatoren registrierten mit Genugtuung, dass sich der neue Herrscher intensiv um ihre Unterstützung bemühte. Beispielsweise bekannte er sich zu dem Grundsatz, dass eine Verhängung der Todesstrafe gegen einen Senator ohne Zustimmung des Senats nicht in Betracht komme. Cassius Dio, der aus senatorischer Perspektive urteilte, brachte diese mit Einschränkungen wohlwollende Haltung in seinem Geschichtswerk zum Ausdruck. Er sparte aber auch nicht mit Tadel für Maßnahmen des Macrinus, die er für verfehlt und für Verstöße gegen traditionelle Vorrechte der Senatoren hielt. Grundsätzlich herrschte in senatorischen Kreisen die Auffassung, dass Macrinus wegen seiner Herkunft und mangelnden Zugehörigkeit zum Senatorenstand nicht nach der Kaiserwürde hätte greifen dürfen. Nach Cassius Dios Überzeugung wäre es vielmehr seine Pflicht gewesen, den eigenen Ehrgeiz hintanzustellen und seine Autorität als Prätorianerpräfekt zu nutzen, um für die Kaisererhebung eines Senators zu sorgen. Dennoch bestand eine gewisse Bereitschaft, über diese als Usurpation betrachtete Anmaßung hinwegzusehen, sofern sich der neue Herrscher eingedenk seiner Herkunft bescheiden benahm und die Erwartungen der senatorischen Führungsschicht erfüllte. Schwer verübelt wurde ihm jedoch, dass seine Regierungstätigkeit darauf wenig Rücksicht nahm. Einen argen Fehltritt beging Macrinus aus senatorischer Sicht schon unmittelbar nach seinem Herrschaftsantritt: In dem Brief, in dem er dem Senat seine Erhebung anzeigte, führte er bereits die kaiserliche Titulatur, ohne die Bestätigung seiner neuen Würde durch den Senat abzuwarten. Faktisch war diese Bestätigung zwar reine Formsache, doch missachtete Macrinus mit seinem Verhalten ein Vorrecht des Senats. Als Missgriff wurde auch gewertet, dass er gegen Personen vorging, die er verdächtigte, seine Herrschaft wegen seiner Herkunft als illegitim zu betrachten, statt sich um das Wohlwollen dieser Oppositionellen zu bemühen. Zu heftiger Kritik gab seine Personalpolitik Anlass. Dazu gehörte die Ernennung von Emporkömmlingen zu Provinzstatthaltern, obwohl sie aus der Sicht der Kritiker über keine entsprechende Qualifikation verfügten. Besonders anstößig war die Ernennung des Adventus, der Macrinus durch seine Ablehnung der Kaisererhebung zur Macht verholfen hatte, zum Stadtpräfekten. Dass Macrinus dieses sehr bedeutende senatorische Amt in der Hauptstadt einem ungebildeten Mann mit soldatischer Vergangenheit anvertraute, der noch nicht in den Senat aufgenommen war, stellte für die Senatoren eine schwerwiegende Provokation dar. Bald erwies sich Adventus als so inkompetent, dass Macrinus sich gezwungen sah, ihn abzuberufen; sein Nachfolger wurde der Geschichtsschreiber Marius Maximus. Ferner verübelte der Senat dem Kaiser, dass er sich nicht mit dem erhofften Nachdruck um die Aufklärung von Verbrechen der Denunzianten Caracallas kümmerte. Die Erklärung des Kaisers, er könne dem Senat keine einschlägigen Akten zur Verfügung stellen, da im Kaiserpalast keine gefunden worden seien, stieß auf Misstrauen. Man verdächtigte ihn, die Denunzianten aus Konfliktscheu zu decken. Entrüstung erregte auch die Auswahl der beiden Prätorianerpräfekten: Macrinus besetzte diese Schlüsselposten mit Ulpius Julianus und Julianus Nestor, zwei Männern, die unter Caracalla das Kurierwesen geleitet und sich dabei durch ihre Beteiligung am Denunziantentum verhasst gemacht hatten. Führungsschwäche In den hauptstädtischen Kreisen, die unter Caracallas Terrorherrschaft gelitten hatten, wurde der Machtwechsel mit Erleichterung aufgenommen. Dankbar registrierte man die gegenüber den Verhältnissen unter Caracalla verbesserte Lage. Dennoch gelang es Macrinus nicht, sich Autorität zu verschaffen. Sowohl im Senat als auch in der Stadtbevölkerung wurde er als führungsschwach wahrgenommen. Als Schwächezeichen erschien beispielsweise sein zumindest anfangs unklares Verhältnis zum Andenken seines Vorgängers. Zwischen erbitterten Gegnern und begeisterten Anhängern Caracallas waren die Fronten festgefahren. Eine postume Verurteilung, die damnatio memoriae, kam angesichts der Stimmung unter den Soldaten nicht in Betracht. Eine Vergöttlichung im Rahmen des Kaiserkults war wegen des verbreiteten Hasses unter den Angehörigen der zahlreichen Terroropfer und den sonstigen Gegnern des ermordeten Kaisers ebenfalls problematisch. Daher zögerte Macrinus. Einerseits ließ er einige Statuen Caracallas unauffällig entfernen, andererseits veranlasste er seinen zum Nachfolger designierten unmündigen Sohn, den Namen Antoninus – Caracallas Kaisernamen – anzunehmen, um ihm die Gunst der Soldaten zu verschaffen. Unklar ist, ob Macrinus schließlich den Soldaten nachgab und der Vergöttlichung Caracallas zustimmte oder ob dieser Schritt erst nach seinem Tod erfolgte. Ein Faktor, der dem Ansehen des Macrinus in Rom schwer schadete, war seine ständige Abwesenheit. Er hat als Kaiser Italien nie betreten, sondern blieb während seiner gesamten Regierungszeit im Osten des Reichs. Dies konnte zwar mit dem Partherkrieg begründet werden, wurde aber in der Stadtbevölkerung als Führungsschwäche und Mangel an kaiserlicher Fürsorge für die Hauptstadt empfunden. Der Unmut entlud sich bei einem Pferderennen in einer Kundgebung der Menge, die heftig die faktische Herrscherlosigkeit beklagte. Finanz- und Wirtschaftspolitik Ein vordringliches Problem war die drohende Zerrüttung der Staatsfinanzen, die aus der gewaltigen Aufblähung der militärischen Personalkosten unter den frühen Severern resultierte. Schon Septimius Severus hatte den Sold der Legionäre von 1200 auf 2400 Sesterzen jährlich verdoppelt, Caracalla hatte eine weitere Erhöhung auf 3600 Sesterzen vorgenommen. Damit hatte sich der Sold, der zuvor mehr als ein Jahrhundert lang stabil gewesen war, in anderthalb Jahrzehnten verdreifacht. Nach der von Cassius Dio mitgeteilten Schätzung des Macrinus verursachte allein die Solderhöhung Caracallas einen jährlichen Mehraufwand von 280 Millionen Sesterzen, das heißt 70 Millionen Denaren. Außerdem hatte Caracalla die Truppen durch üppige Sonderzuwendungen (Donative) verwöhnt, deren Auszahlung die Legionäre nun als ihr Gewohnheitsrecht betrachteten. Als weitere schwere Belastung des Staatshaushaltes kamen die Kosten von Macrinus’ Friedensschluss mit den Parthern hinzu, die rund 200 Millionen Sesterzen betrugen. Die Steigerung der militärischen Personalkosten war finanzpolitisch verhängnisvoll. Die Bevorzugung des Militärs war nur auf Kosten des wirtschaftlich produktiven Teils der Bevölkerung und der Geldwertstabilität möglich und erzeugte bei den so verwöhnten Soldaten maßlose Erwartungen. Die Kluft zwischen diesen Erwartungen und dem Sparzwang erzeugte eine für den Kaiser gefährliche Lage, deren Brisanz er erkannte. In einem Brief an den Stadtpräfekten beklagte er sein Dilemma: Er stellte fest, die Finanzlage gestatte keine Fortsetzung der Soldzahlungen in der bisherigen Höhe und zusätzlich zu den Donativen, doch sei eine Reduzierung nicht durchsetzbar. Angesichts dieses Dilemmas sah er sich zu vorsichtigem Vorgehen gezwungen. Statt zu Steuererhöhungen zu greifen oder willkürliche Konfiskationen anzuordnen, verkaufte er kaiserlichen Besitz und bemühte sich um Kostensenkung. Den Sold beließ er für die bereits im Heer dienenden Soldaten bei 3600 Sesterzen, um keine Rebellion zu provozieren, aber für neue Rekruten reduzierte er ihn auf 2400 Sesterzen. Dabei hoffte er, dass sich die altgedienten Soldaten ruhig verhalten würden, da sie keine Einbuße erlitten, und dass die leichter lenkbaren Rekruten keinen Aufruhr wagen würden. Die Prätorianer mussten ebenso wie die Rekruten eine Verminderung ihres Soldes um ein Drittel, also auf das Niveau der Zeit des Septimius Severus hinnehmen. Es kam jedoch zu einer von Macrinus nicht bedachten Entwicklung: Da die für den Partherfeldzug Caracallas zusammengezogenen Truppen weiterhin als großes Heer in Syrien versammelt blieben, solidarisierten sich die altgedienten Soldaten mit den neuen Rekruten, die ihre schlechtere Einstufung nicht akzeptieren wollten. Sie befürchteten, dass sie nur vorläufig von der Sparmaßnahme verschont geblieben seien und dass auch ihnen früher oder später eine Soldkürzung bevorstehe. Daher stieß Macrinus’ partielle Soldkürzung auf unerwarteten massiven Widerstand; in seinem Schreiben an den Stadtpräfekten musste er das Scheitern seiner Besoldungspolitik einräumen. In der letzten Phase seiner Regierungszeit sah sich der Kaiser finanzpolitisch in einer ausweglosen Lage. Anscheinend versuchte Macrinus eine deflationäre Politik zu betreiben, indem er den Edelmetallgehalt der Goldmünze Aureus, den Caracalla mit seiner Münzverschlechterung auf 1/50 Pfund reduziert hatte, auf 1/45 Pfund erhöhte. Die von Caracalla gesteigerte Steuerlast setzte er herab, indem er die Bestimmungen seines Vorgängers über die Erbschafts- und Freilassungssteuern aufhob. Caracalla hatte diese Steuern von 5 auf 10 Prozent verdoppelt. Außenpolitik Macrinus war militärisch unerfahren, denn bis zu seiner Berufung zum Prätorianerpräfekten hatte er eine rein zivile Karriere gemacht. Seine mangelnde militärische Qualifikation trug zu seiner Unbeliebtheit im Heer bei. An einer Fortsetzung von Caracallas Angriffskrieg gegen die Parther hatte er kein Interesse. Daher bot er einen Frieden an, wobei er die Schuld am Krieg auf seinen Vorgänger schob und als Zeichen seines guten Willens die parthischen Gefangenen freiließ. Der arsakidische Partherkönig Artabanos IV. wertete dies aber als Zeichen der Schwäche und stellte entsprechend hohe Forderungen: Reparationen und eine vollständige Räumung Nordmesopotamiens, dessen Annexion durch Septimius Severus die Parther nie akzeptiert hatten. Ohne lange auf eine Antwort zu warten, ließ er sein Heer vorrücken. Als sich die Parther der strategisch wichtigen Stadt Nisibis näherten, mussten sich die Römer zum Kampf stellen. In der Nähe von Nisibis stießen die Heere bei einer Wasserstelle aufeinander. Es kam zu einem ersten Kampf um die Wasserversorgung, in dem die Römer unterlagen. Anschließend begann eine große Schlacht, die drei Tage gedauert haben soll. Schließlich setzten sich die Parther durch. Allerdings hatten die römischen Truppen zuvor systematisch das Umland verwüstet und alle Nahrungsmittel geraubt oder vernichtet, weshalb in der parthischen Armee Hunger ausbrach. Da beide Seiten erschöpft waren, begannen Verhandlungen, die 218 mit einem foedus endeten. Die Römer mussten den Frieden mit außerordentlich hohen Zahlungen – insgesamt rund 200 Millionen Sesterzen – erkaufen. Sie scheinen aber keine nennenswerten Gebietsverluste erlitten zu haben, weil auch Artabanos unter Druck stand. Dieser letzte römisch-parthische Krieg endete also mit einer römischen Niederlage. Dennoch stellte sich Macrinus in seinem Bericht an den Senat als Sieger dar. Darauf bot ihm der Senat den Siegernamen Parthicus an. Diese Ehrung lehnte Macrinus offiziell ab. Auf mindestens einer afrikanischen Inschrift wurde er aber dennoch Parthicus maximus genannt, und auf Münzen ließ er seinen angeblichen „Parthersieg“ (victoria Parthica) verherrlichen. Auch mit den Armeniern, die Caracalla bekämpft hatte, fand Macrinus einen Ausgleich. Bei ihnen regierte damals König Tiridates II., der aus dem parthischen Königsgeschlecht der Arsakiden stammte. Der Kaiser ließ die von Caracalla gefangen gehaltene Mutter des Tiridates frei, erkannte dessen Thronanspruch durch Übersendung einer Krone an und gab Caracallas armenische Kriegsbeute zurück. Gegenüber den Dakern zeigte sich Macrinus ebenfalls friedliebend. Er gab ihnen die Geiseln zurück, die Caracalla von ihnen erhalten hatte, woraufhin sie auf Feindseligkeiten verzichteten. Aufstand gegen Macrinus Als mit Caracallas Tod die männliche Nachkommenschaft des Kaisers Septimius Severus ausgestorben war, schien die Herrschaft der Severerdynastie endgültig beendet zu sein. Schon bald nach seinem Regierungsantritt ließ Macrinus seinen erst achtjährigen Sohn Diadumenianus zum Caesar und damit zu seinem künftigen Nachfolger proklamieren, machte also seine Absicht einer Dynastiegründung klar. Als aber sein Mangel an Autorität deutlich wurde, formierte sich eine Opposition, die ihn als Usurpator betrachtete und sich auf den Herrschaftsanspruch der Severer berief. Julia Domna, die syrische Frau des Dynastiegründers Septimius Severus, agitierte nach der Ermordung ihres Sohnes Caracalla zunächst gegen den neuen Kaiser Macrinus, erkannte dann aber die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen und wählte den Freitod. Damit erlosch jedoch der severische Widerstand gegen Macrinus nicht. Julia Domna hatte eine Schwester, Julia Maesa, die mit ihr am Hof gelebt hatte und sich mit dem Ende der Severerherrschaft nicht abfinden wollte. Obwohl Maesa mit dem Dynastiegründer Severus nicht verwandt, sondern nur verschwägert war, griff sie den Gedanken des dynastischen Herrschaftsanspruchs der Severer auf und machte sich ihn zunutze. Macrinus, der ihr misstraute, befahl ihr, sich aus Rom in ihre syrische Heimat zurückzuziehen. Darauf begab sie sich in ihre Heimatstadt Emesa, das heutige Homs. Dort verfügte ihre Familie über beträchtlichen Einfluss. Vor allem kam ihr zustatten, dass sie ein großes Vermögen besaß. Da die Soldaten in Syrien der alten Dynastie nachtrauerten und Macrinus nach dem unrühmlichen Ende des Partherkriegs geschwächt war, sah Maesa eine Chance, ihren eigenen Nachkommen die Kaiserwürde zu verschaffen. Ihr Umfeld begann, gegen Macrinus zu agitieren. Ihr vierzehnjähriger Enkel Varius Avitus (Elagabal) wurde als unehelicher Sohn Caracallas ausgegeben. Damit erschien er den Unzufriedenen als rechtmäßiger Erbe des ermordeten Kaisers. Mit dem Appell an die Loyalität zur Dynastie der Severer und mit der Aussicht auf großzügige Geldgeschenke aus dem Vermögen Maesas ließen sich die Soldaten der Legio III Gallica, die in der Nähe von Emesa stationiert war, zum Aufstand gegen Macrinus bewegen. Im Lager der Legion wurde Elagabal am 16. Mai 218 zum Kaiser erhoben. Truppen des Macrinus unter dem Befehl des Prätorianerpräfekten Ulpius Julianus gingen gegen das Lager der rebellierenden Legion vor. Unter ihnen waren Mauren, die motiviert waren für Macrinus zu kämpfen, da er aus ihrer Heimat stammte. Ein Sturmangriff der Mauren auf das Lager scheiterte jedoch. Darauf gelang es den Aufständischen, die Belagerer auf ihre Seite zu ziehen, indem sie auf die angebliche Abstammung Elagabals von Caracalla hinwiesen und Belohnungen in Aussicht stellten. Die Soldaten des Julianus entschlossen sich zum Frontwechsel. Sie töteten ihre Offiziere und gingen zu Elagabal über. So weitete sich die Rebellion rasch aus. Macrinus, der sich seit dem Partherkrieg in Syrien aufhielt, eilte nach Apameia, um die Legio II Parthica, die damals dort stationiert war, durch eine sofort ausgezahlte Sonderzuwendung von 4000 Sesterzen für jeden Soldaten und das Versprechen von weiteren 20.000 Sesterzen pro Mann an sich zu binden. In Apameia ließ er seinen erst neunjährigen Sohn, den Caesar Diadumenianus, zum Augustus ausrufen und damit zum nominellen Mitherrscher erheben, um seinen Anspruch auf eine Dynastiegründung zu bekräftigen und einen äußeren Anlass für das Geldgeschenk an die Soldaten zu haben. Dieser Schritt wurde aber in Senatskreisen missbilligt, und es gelang Macrinus nicht, die Soldaten zu überzeugen. Nachdem man ihm den abgeschlagenen Kopf des Ulpius Julianus überbracht hatte, zog er sich nach Antiocheia zurück. Die Legio II schloss sich der Revolte an. Als Truppen Elagabals in Richtung Antiocheia vordrangen, musste sich Macrinus zum Kampf stellen. Den Kern seiner Streitmacht bildeten die Prätorianer. Niederlage, Flucht und Tod Am 8. Juni 218 kam es in der Nähe von Antiocheia zur Entscheidungsschlacht, die chaotisch verlief, da es beiden Heeren an kompetenter Führung mangelte. Die Truppen des Macrinus hatten zunächst die Oberhand, aber als der Widerstand der Gegenseite sich versteifte, gab Macrinus die Schlacht vorzeitig verloren und ergriff die Flucht. Damit war seine Niederlage besiegelt. Zuletzt gaben seine Prätorianer auf, die nach seiner Flucht den Kampf noch fortgesetzt hatten. Daraufhin sandte Macrinus seinen Sohn zum Partherkönig, um ihn in Sicherheit zu bringen, aber Diadumenianus gelangte nicht über die Grenze, sondern wurde in der Stadt Zeugma am Euphrat gefasst und bald darauf getötet. Macrinus selbst begab sich zunächst nach Antiocheia. Als seine Niederlage dort bekannt wurde, floh er verkleidet zu Pferd mit wenigen Begleitern. Er versuchte nach Rom zu gelangen, denn er ging davon aus, dass der Senat, der Elagabal zum Staatsfeind erklärt hatte, noch auf seiner Seite stand. In Aigeai, einer Stadt in Kilikien, nahm Macrinus, der sich als Kurier ausgab, einen Wagen, um seine Flucht nach Westen fortzusetzen. In Chalkedon bat er einen Prokurator um Geld; dabei wurde er erkannt und festgenommen. Er sollte nach Syrien zurückgebracht werden. Als er unterwegs in Kappadokien von der Verhaftung seines Sohnes erfuhr, stürzte er sich vom Wagen. Später wurde er von einem Centurio getötet. Den Leichnam ließ man unbeerdigt liegen; Elagabal besichtigte ihn, als er auf dem Weg nach Rom war. Ikonographie Da Macrinus als Kaiser nie im Westen war, muss jedes im Westen entstandene Bildnis letztlich auf ein Vorbild östlichen Ursprungs zurückzuführen sein. Die Basis für eine Bestimmung von Macrinus’ Aussehen bilden seine Münzbildnisse. Sie unterscheiden sich erheblich, was aber nicht, wie man früher glaubte, auf Unterschiede zwischen zwei Prägestätten zurückzuführen ist, sondern auf eine chronologische Abfolge. Die frühen Bildnisse mit kurzem Bart erinnern an Caracalla, auf den späten mit langem Bart ist eine Ähnlichkeit mit Septimius Severus und Mark Aurel erkennbar. Letzteres passt zur Mitteilung des Geschichtsschreibers Herodian, Macrinus habe mit seiner Barttracht ebenso wie mit seiner langsamen, leisen Sprechweise Mark Aurel, der als vorbildlicher Herrscher galt, nachahmen wollen. Hinsichtlich der Rundplastiken hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass zwei überlebensgroße Köpfe in Rom, die beide stadtrömischen Ursprungs sein dürften – einer im Museo Capitolino, der andere in der Centrale Montemartini – Macrinus darstellen. Beide zeigen ihn mit Vollbart. Gesichert ist die Identifizierung eines Bronzekopfs im Stadtmuseum Belgrad, als plausibel gilt die eines Marmorkopfs im Arthur M. Sackler Museum in Cambridge (Massachusetts). Das Belgrader Bildnis zeigt den Kaiser mit der schlitzartigen Durchbohrung des linken Ohrs, die bei Cassius Dio bezeugt ist; nach dessen Darstellung handelte es sich dabei um eine maurische Sitte. Die Wiedergabe dieses Details lässt erkennen, dass Macrinus bewusst eine ethnische Charakterisierung vornehmen wollte. Macrinus und sein Sohn sind außerdem im ägyptischen Tempel von Kom Ombo in pharaonischem Stil dargestellt. Sie sind die letzten römischen Herrscher, die in diesem Tempel ein Wandrelief stifteten. Rezeption Nach dem Tod des Macrinus ließ Elagabal über ihn die damnatio memoriae verhängen, was die Zerstörung von Bildnissen des Verfemten und Tilgung seines Namens auf Inschriften und Papyri zur Folge hatte. Das Vernichtungswerk wurde gründlich betrieben; sogar Gemmen wurden zerstört, was sonst in solchen Fällen unüblich war. In Ägypten ging man besonders konsequent vor. Dort wurde nicht nur die Erinnerung an Macrinus durch Eradierung seines Namens ausgelöscht, sondern Elagabal als unmittelbarer Nachfolger Caracallas dargestellt. Die Urteile der zeitgenössischen Geschichtsschreiber fielen durchgehend negativ aus. Cassius Dio verübelte Macrinus, dass er es gewagt hatte, nach der Kaiserwürde zu greifen, obwohl er nicht dem Senat angehörte. Als standesbewusster Senator sah Cassius Dio in dem Emporkömmling aus dem Ritterstand einen Usurpator, dessen schmähliches Ende die gerechte Strafe für diese frevelhafte Anmaßung gewesen sei. Er hielt ihn für einen anständigen Menschen mit sehr beschränkten Fähigkeiten, der von den mit seinem Aufstieg verbundenen Herausforderungen überfordert gewesen sei und als Herrscher einen verhängnisvollen Hochmut entwickelt habe. Außerdem sei er ein Feigling gewesen. Er habe einen unangebrachten Hang zum Luxus gehabt und sich keinen Respekt verschaffen können. Auch der jüngere Zeitgenosse Herodian erwähnt und missbilligt Macrinus’ luxuriöses Leben. Er beurteilt den Kaiser etwas günstiger als Cassius Dio und lobte sein hartes Vorgehen gegen Caracallas Denunzianten und die Rechtssicherheit, die er herbeigeführt habe, tadelt aber die Nachlässigkeit und Unentschlossenheit des Macrinus, die sich als verhängnisvoll erwiesen habe. Der unbekannte Verfasser der Lebensbeschreibung des Macrinus in der spätantiken Historia Augusta übernahm die negativen Urteile der Zeitgenossen des Kaisers in vergröberter Form und schmückte sie mit mancherlei frei erfundenen Angaben aus. Seine Lebensbeschreibung des Macrinus gilt als eine der hinsichtlich des Quellenwerts schlechtesten Kaiserbiographien in der Historia Augusta. Er behauptet, Macrinus sei nach Gesinnung und Aussehen abstoßend gewesen, ein ruchloser, hochmütiger, dem Luxus ergebener und wegen seiner Grausamkeit berüchtigter Mensch. Unter Berufung auf eine angeblich bei Aurelius Victor überlieferte Nachricht erzählt er, Macrinus sei ursprünglich ein kaiserlicher Sklave gewesen und habe sich als Prostituierter betätigt. Schließlich habe Kaiser Septimius Severus den Taugenichts nach Nordafrika geschickt; die Glaubwürdigkeit dieser Angaben sei allerdings ungewiss. Nach einer anderen Überlieferung habe sich Macrinus als Gladiator und Jäger durchgeschlagen. Allerdings sind im Werk des Aurelius Victor keine solchen Behauptungen zu finden. Ferner enthält die Historia Augusta Angaben über die Gattin des Macrinus, die Nonia Celsa geheißen habe und wegen ihrer Sittenlosigkeit verspottet worden sei. Alles über sie Mitgeteilte – auch der Name – ist wohl frei erfunden. Zur Zeit des Renaissance-Humanismus vertraute man allerdings der Darstellung der Historia Augusta. So beschrieb im 14. Jahrhundert Benvenuto da Imola Macrinus als einen grausamen, blutdürstigen, mit allen Lastern behafteten ehemaligen Sklaven. Die moderne Forschung hat das überlieferte Macrinus-Bild der Kritik unterzogen und ist zu einer ausgewogeneren Sichtweise gelangt. Alfred von Domaszewski befand 1909, Macrinus sei ein „redlicher Mann“ mit löblichen Absichten gewesen, aber als Heerführer unfähig und seiner Aufgabe „durch keine Eigenschaft gewachsen“. Ähnlich urteilte Hans-Georg Pflaum 1960. Alfred Heuß (1960) war der Ansicht, Macrinus sei „an sich ein recht tüchtiger Mann“ gewesen. Hermann Bengtson (1973) stellte fest, Macrinus sei „zweifellos vom besten Willen beseelt gewesen“. Für Karl Christ (1988) war Macrinus „lediglich das, was man einen rechtschaffenen Mann nennt“. Literatur Klaus-Peter Johne: M. Opellius Macrinus. In: Leiva Petersen (Hrsg.): Prosopographia Imperii Romani, 2. Auflage, Teil 5, de Gruyter, Berlin 1970–1987, S. 445–450 (O 108). Paolo Cavuoto: Macrino. D’Auria, Napoli 1983. Maria Grazia Granino Cecere: Macrinus. In: Dizionario epigrafico di antichità romane, Band 5 Faszikel 6–7, Rom 1991, S. 169–198 (gründliche Darstellung). Gabriele Marasco: L’idéologie impériale de Macrin. In: Revue des études anciennes 98, 1996, S. 187–195. Weblinks Biografie aus der Historia Augusta (englisch) bei LacusCurtius Anmerkungen Kaiser (Rom) Prätorianerpräfekt Herrscher (3. Jahrhundert) Geboren 164 Gestorben 218 Mann Pontifex
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https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp%20I.%20%28Hessen%29
Philipp I. (Hessen)
Philipp I. von Hessen, auch Philipp der Großmütige genannt (* 13. November 1504 in Marburg; † 31. März 1567 in Kassel), regierte von 1518 bis 1567 die Landgrafschaft Hessen. Er war neben dem dominierenden Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen eine der beiden Führungspersönlichkeiten des Schmalkaldischen Bundes. Dieser Bund, der von 1531 bis 1547 bestand, war der politisch-militärische Arm des Protestantismus im Heiligen Römischen Reich. Es hatte aber nichts mit Religion zu tun, dass Philipp zu einem Gegner des altgläubigen Kaisers Karl V. aus dem Haus Habsburg wurde. Im Erbschaftsstreit zwischen Hessen und Nassau um die Grafschaft Katzenelnbogen entschieden kaiserliche Kommissare 1523 zugunsten von Nassau, und Karl V. forderte die Umsetzung dieses Urteils ein. Das hessische Kernterritorium um Kassel und Marburg war arm. Philipp wollte deshalb auf keinen Fall auf die Einnahmen aus Katzenelnbogen verzichten. Viele Reichsfürsten hatten es missbilligt, dass der geächtete Herzog Ulrich von Württemberg aus seinem Herzogtum vertrieben worden war, das seit 1519 unter habsburgischer Verwaltung stand. Deshalb wählte Philipp dieses Thema, um gegen Habsburg zu opponieren. Er berief sich auf die Libertät der Reichsstände, die der Kaiser missachte. Philipp plante langfristig und konfessionsübergreifend Ulrichs Rückführung nach Stuttgart. Dabei musste er auf den Schmalkaldischen Bund verzichten, denn der sächsische Kurfürst unterstützte sein Vorhaben nicht. Französische Hilfsgelder ermöglichten es Philipp und Ulrich 1534 trotzdem, Truppen zu werben und den habsburgischen Statthalter zu besiegen. Ulrich erhielt sein Herzogtum zurück, Philipp gewann an Prestige. Danach kehrten sich die Rollen innerhalb des Schmalkaldischen Bundes um. Johann Friedrich von Sachsen verfolgte im Nordwesten des Reichs eine antihabsburgische Politik. Philipp dagegen suchte die Annäherung an Kaiser Karl V. Er wollte das Erreichte sichern, hatte als Landgraf auch nicht die Ressourcen eines Kurfürsten und teilte vor allem Kursachsens territorialpolitische Interessen nicht. Nach der Niederlage des Bundes im Schmalkaldischen Krieg musste sich Philipp dem Kaiser unterwerfen (Fußfall von Halle, 18. Juni 1547) und war fünf Jahre in kaiserlicher Haft, bis der von seinem Schwiegersohn Moritz von Sachsen organisierte Fürstenaufstand Karl V. 1552 zur Flucht zwang. Eine Bedingung der Sieger im Passauer Vertrag war die Freilassung Johann Friedrichs von Sachsen und Philipps von Hessen. Philipp steht für eine Fürstenreformation, die sich in mehreren Punkten kritisch von Kursachsen absetzte. Er war ein Parteigänger Martin Luthers, aber offen für Impulse aus Zürich (Huldrych Zwingli) und Straßburg (Martin Bucer). 1529 lud er die bedeutendsten Reformatoren zum Marburger Religionsgespräch, um einen Konsens in Glaubensfragen herbeizuführen als Grundlage für politische und militärische Kooperation. Die reichsrechtlich eigentlich geforderte Todesstrafe für Täufer exekutierte Philipp in Hessen nicht. Als Gründer der Universität Marburg und der vier hessischen Hohen Hospitäler setzte Philipp bildungs- und sozialpolitische Impulse. Der Verdienstorden Philipps des Großmütigen war von 1840 bis 1918 der zweithöchste Verdienstorden des Großherzogtums Hessen. Name Der hessische Landgraf trug den Namen seines Taufpaten Philipp II. von Waldeck. Die Namenswahl kann auch den Anspruch der Landgrafen auf das umstrittene Katzenelnboger Erbe unterstreichen, da die Linie der Grafen von Katzenelnbogen mit dem Tod Philipps des Älteren 1479 erloschen war. „Der Großmütige“, lateinisch Magnanimus, war zu Philipps Lebzeiten und danach eine schmückende Bezeichnung, die vielen Fürsten beigelegt wurde, besonders in der neulateinischen Dichtung. Gemeint war damit nicht Edelmut, sondern Tatkraft und Kühnheit. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts wurde „Der Großmütige“ zum festen Beinamen Philipps von Hessen. Leben Kindheit Als Philipp am 13. November 1504 im Marburger Schloss zur Welt kam, galt er bereits als künftiger Landgraf. Der Fortbestand des Hauses Hessen-Brabant hing von ihm ab: 1493 dankte Wilhelm I. wegen Geisteskrankheit ab, 1500 starb Wilhelm III. bei einem Jagdunfall. Beide hatten keine Söhne. Übrig blieb Wilhelm II., der nun die ungeteilte Landgrafschaft regierte, ein kinderloser Witwer. Am 20. Oktober 1500 heiratete er die fünfzehnjährige Anna von Mecklenburg. Das Paar hatte drei Kinder: Elisabeth (* 1502–1557), Margarethe (1503–1504) und eben Philipp. Bereits vor Philipps Geburt zeigten sich bei seinem Vater die Symptome der Syphilis, die 1509 zum Tod führte. Um die vormundschaftliche Regentschaft brach ein erbitterter Kampf zwischen der Landgräfin und den hessischen Ständen und insbesondere der hessischen Ritterschaft aus. Von 1509 bis 1514 wohnte Philipp im Haushalt des von den Ständen gewählten Landhofmeisters und Vormundschaftsregenten Ludwig I. von Boyneburg in Kassel, während seine Mutter mit der Tochter Elisabeth auf ihrem Wittum in Felsberg lebte. In der Auseinandersetzung mit den Ständen argumentierte Anna damit, dass die Gesundheit und Erziehung ihres Sohnes vernachlässigt werde. Er verbrachte seine Kindheit in einer Art Lerngruppe mit gleichaltrigen Adligen und wurde wohl standesgemäß in ritterlichen Fertigkeiten, Latein, Mathematik und biblischer sowie allgemeiner Geschichte unterrichtet. Anna erlangte 1514 selbst die Regentschaft. Auf ihren Antrag erklärte Kaiser Maximilian am 2. März 1518 Philipp mit 13½ Jahren für mündig, der formelle Lehensempfang sollte aber erst drei Jahre später erfolgen. Im April 1519 bescheinigte der junge Landgraf seiner Mutter, ihn selbst gut erzogen und das Land gut regiert zu haben. Damit endete nach einer Übergangszeit ihre Regentschaft. Neu auf der Bühne des Reichs Als Philipp 1518 seine Regierung antrat, vereinte er auf seine Person verschiedene Herrschaftsrechte; die wichtigsten waren: Landgraf von Hessen, Graf von Katzenelnbogen, Graf von Diez, Graf von Ziegenhain und Graf von Nidda. Sie reichten teils weit über sein Kernterritorium hinaus, während er dort durch Rechte, Besitz und Ansprüche Anderer eingeschränkt war. Besonders konfliktträchtig waren die Befugnisse des Mainzer Erzbischofs. Er übte die geistliche Jurisdiktion in fast dem ganzen Herrschaftsgebiet Philipps aus, hatte in Hessen aber nur isolierte und umstrittene Besitztümer (am wichtigsten: Fritzlar) und war dort kaum präsent. Bernd Moeller spricht daher von einer „Bischofsferne“ der hessischen Bevölkerung in vorreformatorischer Zeit. Das hessische Kernland um Kassel und Marburg war arm: karge Böden, kaum Bergbau, keine größeren Städte. Aber durch Erbfall waren die hessischen Landgrafen 1479 in den Besitz der Grafschaft Katzenelnbogen gekommen und verfügten seitdem durch die Rheinzölle und die Rheinfähren bei Sankt Goar über eine sprudelnde Geldquelle. Philipp übernahm die Ratgeber seines Vaters und seiner Mutter, die seiner Regierung in den ersten Jahren Stabilität gaben: Balthasar von Weitolshausen, genannt Schrautenbach († 1529), Johann Feige von Lichtenau, den Philipp zu seinem Kanzler berief († 1543), Hermann IV. Riedesel zu Eisenbach († 1529). Nach Jahren einer unruhigen Regentschaft, mit einem jugendlichen Fürsten an der Spitze, schien Hessen für den Reichsritter Franz von Sickingen eine ideale Beute. Am 8. September 1518 übersandte er dem Landgrafen einen Fehdebrief und fiel gleichzeitig in Hessen ein. Mit seinen Söldnergruppen durchstreifte er Katzenelnbogen und stellte rund 40 Orte vor die Wahl, ob sie niedergebrannt werden oder sich freikaufen wollten. Auf diese Weise erpresste er fast 15.000 Gulden. Der junge Landgraf war ohnmächtig, weil Sickingen in der hessischen Ritterschaft Sympathisanten hatte – eine Folge der Konflikte zwischen Landgräfin Anna und den Ständen. Er rief die verbündeten Fürsten zur Hilfe, die sich unter Vorwänden entschuldigten. Sickingen drang bis nach Darmstadt vor. Der Markgraf von Baden vermittelte einen Friedensschluss (23. September 1518), bei dem Philipp Sickingens Forderungen akzeptieren musste, darunter eine Sofortzahlung von 35.000 Gulden. Umgehend ließ Philipp diesen ihm abgepressten Vertrag vom Kaiser für nichtig erklären. Die 35.000 Gulden waren allerdings verloren. Durch die Grafen von Nassau wurde Philipps Herrschaft juristisch herausgefordert. Denn sie beanspruchten das Erbe des Landgrafen Wilhelm III. für sich – vor allem die reiche Grafschaft Katzenelnbogen, aber auch die Grafschaften Diez, Ziegenhain und Nidda sowie einige Ämter in Oberhessen. Für Philipp ging es darum, die Herrschaftsrechte seines Vaters zu behaupten. Gab er Katzenelnbogen aus der Hand, schränkte er seine politischen Möglichkeiten empfindlich ein. Er strebte die Mitgliedschaft im Schwäbischen Bund an, um sich abzusichern, was Nassau zu verhindern suchte. Durch den Beitritt 1519 festigte Philipp seine Position. Auf dem Reichstag zu Worms 1521 wurde Philipp durch den fünf Jahre älteren Kaiser Karl V. formell mit der Landgrafschaft Hessen belehnt. Er empfing die Regalien am 7. April, und zugleich bestätigte der Kaiser die Erbverbrüderung zwischen Sachsen und Hessen. Philipps Räte Schrautenbach, Feige und Riedesel erzielten in Worms einige Erfolge. Am wichtigsten war der Zusammenschluss mit der Kurpfalz, indem ein bestehender Konflikt durch hessisches Nachgeben beigelegt wurde. Philipp fand in der Kurpfalz auch für die Zukunft einen starken Partner. „So wurden Sickingen und Nassau durch eine weitschauende Bündnispolitik in gleicher Weise isoliert.“ Zu diesen Verhandlungen hatte Philipp selbst nicht viel beizutragen, für ihn war es der erste Auftritt auf der Bühne des Reichs. In Worms gab er sich als großer Herr: Er zog mit dem (nach Kursachsen) zweitgrößten Gefolge ein und nahm an einem Turnier mit scharfen Lanzen teil, wobei er sich gegen einen erfahrenen Gegner gut hielt. Auch bei späteren Reichstagen wusste Philipp seinen Auftritt mit einigem Pomp zu inszenieren. Das zur Schau getragene Selbstbewusstsein kontrastierte mit seinem relativ niedrigen Rang unter den Fürsten. Hessen hatte seinen Sitz auf der Fürstenbank der Reichstage weit hinten, knapp vor den gefürsteten Grafen, und stritt sich dort mit Pommern, Mecklenburg, Württemberg und Baden um die Plätze. Weit vorn war Hessen dagegen bei der finanziellen Belastung: in der Reichsmatrikel wurde die Landgrafschaft so hoch wie die weltlichen Kurfürstentümer veranschlagt, nur Österreich und Bayern zahlten mehr. Die „Luthersache“ war das große Thema des Wormser Reichstags. Philipp besuchte Martin Luther in dessen Herberge. Ein Parteigänger Luthers wurde Philipp in Worms aber nicht; die Begegnung hat ihn auch nicht erkennbar beeinflusst. Im Sommer 1522 überfiel Franz von Sickingen Kurtrier. Der Trierer Erzbischof schloss mit Hessen und der Kurpfalz ein Defensivbündnis. Damit war die „Rheinische Allianz“ begründet, die eine Konstante der hessischen Außenpolitik blieb. Philipp nahm an dem Feldzug gegen Sickingen selbst teil. Das war die Revanche für dessen Plünderzug 1518 und eine Reaktion darauf, dass die Grafen von Nassau soeben Sickingen zum Vollstrecker ihrer Ansprüche auf das Katzenelnboger Erbe bestellt hatten. Am 7. Mai 1523 kapitulierte Sickingen auf der Burg Nanstein bei Landstuhl, kurz bevor er dort seinen schweren Verletzungen erlag. Weitere Burgen des Sickingers wie die Ebernburg wurden von der Allianz ebenfalls erobert, beschädigt oder zerstört. Am 11. Dezember 1523, kurz nach seinem 19. Geburtstag, heiratete Philipp in Dresden die ein Jahr jüngere Christine, eine Tochter des Herzogs Georg von Sachsen. Diese Eheschließung bekräftigte die enge Beziehung zwischen dem Haus Wettin und den hessischen Landgrafen; Christines Bruder Johann war bereits mit Philipps älterer Schwester Elisabeth verheiratet. Einführung der Reformation in Hessen In Hessen gab es keine größeren Städte oder Universitäten. Reformatorische Bestrebungen gingen hier vom landgräflichen Hof aus. Begünstigt wurden sie durch die mangelnde Präsenz des Mainzer Erzbischofs und das Fehlen einer starken kirchlichen Institution, die sich den Plänen des Landgrafen in den Weg stellen konnte. Das Wormser Edikt hatte Philipp in Hessen nicht exekutiert. Persönlich war Philipp bis 1524 noch altgläubig, auch wenn er Störungen der Heiligen Messe und Übergriffe gegen Kleriker meist ungeahndet ließ und Anhänger Luthers an seinem Hof duldete. In der am 18. Juli 1524 veröffentlichten Hessischen Polizeiordnung hieß es, das Evangelium solle „lauter und reyn“ verkündet werden. Das war eine vieldeutige Formulierung, die auch zu einem altgläubigen Befürworter von Kirchenreformen passte. Wann und warum Philipp sich der Reformation anschloss, bleibt unsicher. Mit der älteren Forschung vermutet Eckhart G. Franz, dass eine Begegnung mit Philipp Melanchthon, verbunden mit eigener Bibellektüre, den Landgrafen für die Reformation gewonnen habe. Richard A. Cahill verweist dagegen auf das Heidelberger Fürstenschießen Ende Mai 1524. Am Rande dieses Wettbewerbs kam Philipp mit Fürsten ins Gespräch, die Parteigänger Luthers waren. Philipp konnte Hessen im Deutschen Bauernkrieg „als militärische Ordnungsmacht … profilieren,“ weil er die Unruhen auf eigenem Territorium schon im Keim erstickte und dann den Nachbarterritorien bei der Niederschlagung der Bauernhaufen half. Die Reichsabteien Hersfeld und Fulda hatten Philipps Militärhilfe mit teilweisem Verlust ihrer Selbständigkeit zu bezahlen. Am 5. Mai 1525 stimmte der Abt von Fulda einem Erbschutzverhältnis zu, das aber 1526 auf dem Reichstag zu Speyer in eine hohe Entschädigung umgewandelt wurde. In der Schlacht bei Frankenhausen am 15. Mai 1525 siegte Philipp zusammen mit seinem Schwiegervater Georg von Sachsen und Herzog Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel über die thüringischen Bauern. Er war beteiligt an dem folgenden Gemetzel, das schätzungsweise weniger als ein Sechstel der unterlegenen Bauern überlebten. Philipp zeigte gegen gefangene Bauern manchmal Gesten fürstlicher Milde. Er bejahte aber die Folterung und Hinrichtung von Anführern, und seine Truppen plünderten den bäuerlichen Besitz. Die landgräfliche Regierung war nach dem Bauernkrieg bemüht, durch Anhörungen der hessischen Landbevölkerung Missstände zu ermitteln, die zum Aufstand geführt hatten, und diese abzustellen. Philipp lehnte die Einladung seines Schwiegervaters ab, dem Dessauer Bund beizutreten, mit dem altgläubige Fürsten am 15. Juli 1525 vereinbarten, Aufruhr und Häresie zu bekämpfen. Dagegen trat er am 27. Februar 1526 dem Torgauer Bund bei. Darin verpflichteten sich Kursachsen und Hessen zu gegenseitiger Unterstützung, falls sie „in der Glaubenssache“ unter Druck gesetzt würden. Damit hatte sich Philipp im Rahmen der Erbeinung mit dem Haus Wettin vom albertinischen Herzogtum zum ernestinischen Kurfürstentum Sachsen umorientiert. Das war eine Folge seines Bekenntnisses zur Reformation. Als Luthers Landesherr Kurfürst Johann von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen 1526 auf dem Reichstag zu Speyer gemeinsam einritten, mit einem einheitlich gekleideten Gefolge, das die reformatorische Devise VDMIÆ (Verbum Dei manet in aeternum) am Ärmelaufschlag trug, demonstrierten sie vor der Reichstagsöffentlichkeit ihre Zusammengehörigkeit. Aber eine Partnerschaft auf Augenhöhe war das nicht. Hessen konnte gegenüber Kursachsen „nur die Rolle eines agilen Juniorpartners spielen.“ Der Speyerer Reichstagsabschied von 1526 enthielt eine Klausel, die es jedem Stand erlaubte, das Wormser Edikt so zu handhaben, „wie ein jeder solches gegen Gott, und kayserl. Majestat hoffet und vertraut zu verantworten.“ Das war für mehrere Fürsten, die persönlich der Reformation zuneigten, wie ein Startsignal, die kirchlichen Verhältnisse in ihrem Territorium umzugestalten. Philipp legitimierte mit dieser Religionsklausel die Reformmaßnahmen, die er ab 1526 in Hessen umsetzte. Bereits im Februar 1525 hatte der Landgraf die Besitztümer der hessischen Klöster inventarisieren lassen. 84 Prozent des Klosterguts zog er in den folgenden Jahren ein. Die Auflösung der hessischen Klöster führte er „schonend, aber konsequent“ (Bernd Moeller) durch. Den austrittswilligen oder sich dem Druck zum Austritt fügenden Ordensleuten gewährte er aus dem Klostergut eine Starthilfe für die bürgerliche Existenz. In ungewöhnlich hohem Maße rekrutierte Hessen die erste Generation evangelischer Pfarrer unter den früheren Mönchen. Philipp nutzte das Klostergut zur Dotierung seiner Universität Marburg und für die hessischen Hohen Hospitäler, aber auch in erheblichem Umfang für seine Militärausgaben; etwa 40 Prozent des hessischen Klostervermögens verwendete die landgräfliche Verwaltung für weltliche Zwecke. Bei der Einführung der Reformation in Hessen versuchte Philipp eine Alternative zum kursächsischen Modell einer „sukzessiven, pragmatisch-konservativen Transformation des bestehenden Kirchenwesens unter staatlicher Aufsicht.“ Franz Lambert von Avignon gewann den Landgrafen für den Plan, die Reformation durch eine Synode einzuführen. Im Oktober 1526 berief dieser die Landstände und die hessische Geistlichkeit nach Homberg an der Efze zu einer Veranstaltung, mit der er den Religionskonflikt auf seinem Territorium entscheiden wollte; das Vorbild waren die Zürcher Disputationen. Nur hier wurde versucht, ein in städtischen Reformationen erprobtes Vorgehen auf einen Flächenstaat anzuwenden. Die Disputation über Lamberts Thesen und die folgenden Beratungen ermöglichten den altgläubigen Teilnehmern aufgrund der Rahmenbedingungen kaum eine Gegenwehr. Denn alle Argumente mussten der Bibel entnommen werden. Danach verfasste Lambert die Reformatio Ecclesiarum Hassiae („Reformation der Gemeinden Hessens“), eine Kirchenordnung mit kongregationalistischen und synodalen Elementen. Auffällig ist, dass Lamberts Kirchenordnung dem Landgrafen nur eine Nebenrolle zuwies und dieser sich offenbar damit begnügte. Philipp legte Luther die Reformatio zur Prüfung vor; Luther warnte, man solle nicht zu viel regeln wollen und sich mehr Zeit lassen. Danach verfolgte Philipp eine mittlere Linie: Er orientierte sich an Kursachsen, setzte aber einige Punkte aus Lamberts Kirchenordnung um, zum Beispiel das Ältestenamt. Parallel zu Kursachsen waren auch in Hessen Visitatoren in den Gemeinden unterwegs, die die Verhältnisse vor Ort überprüften, für geeignete Pfarrer und die Umsetzung von Gottesdienstreformen sorgten. Für die fürstliche Libertät – gegen Habsburg Dass sich der hessische Landgraf zu einem profilierten Gegner Habsburgs im Reich entwickelte, war eine Folge des Rechtsstreits mit Nassau um Katzenelnbogen und hatte ursprünglich mit Philipps Sympathien für die Reformation nichts zu tun. Kaiserliche Kommissare entschieden diesen Streit am 5. Mai 1523 in Tübingen zugunsten der Nassauer Grafen. Schlimmer noch: Kaiser Karl V. setzte sich in den folgenden Jahren persönlich für die Umsetzung dieses Urteils ein. Heinrich von Nassau hatte als Großkämmerer und Mitglied des Staatsrats beste Beziehungen zum Herrscher. Außerdem war der Rhein als Verkehrsroute in die Spanischen Niederlande für Habsburg strategisch wichtig. Katzenelnbogen mit seinen Rheinzöllen und Rheinfähren musste daher von einem verlässlichen Partner regiert werden. Philipp mochte sich wegen seiner Mitgliedschaft im Schwäbischen Bund als kaisertreu sehen, aber Nassau war noch kaisertreuer. Karl V. unterstützte die Wetterauer Grafen in deren Rechtsstreit mit dem hessischen Nachbarn, um Philipp in seinem „Hinterhof“ zu beschäftigen und politisch zu isolieren. Da Karl V. letztlich andere Prioritäten hatte, als Nassaus Anspruch auf Katzenelnbogen militärisch durchzusetzen, blieben seine Provokationen für Hessen folgenlos, hatten aber den Landgrafen in hohem Maße alarmiert. Philipp nahm 1526 den vertriebenen Herzog Ulrich von Württemberg in Hessen auf. Obwohl nur weitläufig verwandt, bezeichnete er ihn als seinen Vetter. Zwischen Philipp, Ulrich und dessen Schwager, Herzog Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel, entstand eine Art Kameraderie; Philipp war der deutlich Jüngste der drei. Philipp prangerte gegenüber seinen Standesgenossen die Vertreibung Ulrichs und die Unterstellung seines Herzogtums unter habsburgische Verwaltung (1519) bei jeder Gelegenheit als unerträglichen Übergriff des Kaisers an. Die ständische Libertät müsse verteidigt werden. Er fand damit bei den Reichsfürsten konfessionsübergreifend viel Zustimmung. Speziell Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel setzte sich aus verletzter Familien- und Standesehre für Ulrichs Rückführung ein. Bei den evangelischen Reichsstädten hatte Ulrich keinen guten Ruf. Hier warb Philipp mit dem Argument, dass Ulrich Württemberg der Reformation zuführen werde; ein evangelischer Flächenstaat im Südwesten würde die strategisch exponierte Lage der Städte wesentlich verbessern. Im Jahr 1528 kam es zu einer politischen Krise, die durch Philipps Verhalten eskalierte. Er zeigte einen für Freund und Feind beunruhigenden, risikofreudigen Politikstil: Philipp nutzte die Händel zu einer Erpressung der fränkischen Bischöfe. Der Schwäbische Bund hatte ihnen Hilfe zugesagt, war dann aber nicht dazu imstande und versagte als Bewahrer des Landfriedens; „Philipp sprengte den Bund von innen heraus.“ Außerdem zwang er den Erzbischof Albrecht von Mainz, auf die geistliche Jurisdiktion in Kursachsen und der Landgrafschaft Hessen zu verzichten (Vertrag von Hitzkirchen, 11. Juni 1528). Die Landgrafen waren schon seit dem 15. Jahrhundert bestrebt gewesen, die geistliche Jurisdiktion des Erzbischofs zurückzudrängen; Philipp erzielte mit diesem Vertrag einen Durchbruch. Die Entwicklung ging nun in Richtung des landesherrlichen Kirchenregiments. Beim zweiten Speyerer Reichstag 1529 forderte Ferdinand von Österreich die Umsetzung des Wormser Edikts ein. Durch das aggressive Vorgehen Ferdinands sah sich Philipp in seinem Verhalten in den Packschen Händeln nachträglich bestätigt – aus altgläubiger Sicht war es aber Philipps Agieren in den Händeln, das eine harte Linie erforderlich machte. Nach der Protestation zu Speyer überlegten der sächsische Kurfürst, der hessische Landgraf und die Städteboten aus Nürnberg, Ulm und Straßburg ein protestantisches Defensivbündnis (Speyrer Konvention, 22. April 1529). Philipp hatte nun erstmals den Brückenschlag nach Süden, den er für seine Württemberg-Pläne brauchte. Wahrscheinlich war es Ulrich von Württemberg, der für Philipp einen Kontakt zum Zürcher Reformator Huldrych Zwingli herstellte. Ulrich hatte sich nämlich der Reformation Schweizer Prägung zugewandt, weil er damit seine Chancen auf Rückgewinnung des Herzogtums verbessern konnte. Im September/Oktober 1529 lud Philipp sämtliche führenden Reformatoren nach Marburg ein, um den Abendmahlsstreit zwischen Zwingli und Luther beizulegen. Damit wollte er eine Grundlage für die künftige politisch-militärische Kooperation herstellen. Die theologischen Diskussionen waren nicht auf Latein, sondern auf Deutsch, damit der Landgraf ihnen folgen konnte. Auch wenn er nicht in die Gespräche eingriff, machte er durch seine Anwesenheit klar, dass er Ergebnisse sehen wollte. Diese blieben hinter den Erwartungen zurück: Die Argumente waren bereits bekannt, eine Einigung in der Abendmahlsfrage wurde nicht erreicht. Immerhin bewirkte die persönliche Begegnung der reformatorischen Prominenz in Marburg, dass die durch literarische Kontroversen aufgebaute Feindseligkeit etwas nachließ. Im ersten Jahrzehnt seiner Regierung hatte der Landgraf seinen politischen Handlungsraum immer mehr vergrößert: durch neue Themen: Territorialpolitik, Unterstützung der Reformation, Verteidigung der fürstlichen Libertät gegen den Machtanspruch des Kaisers; durch Präsenz in immer weiteren geografischen Räumen: in den Nachbarregionen Hessens, in der Reichspolitik, im Bündnis mit Partnern außerhalb des Reichs. Letzteres probierte Philipp bei den Packschen Händeln erstmals aus. Es stand ihm frei, denn Außenpolitik war im 16. Jahrhundert kein Monopol des Kaisers. Philipp als Hauptmann des Schmalkaldischen Bundes In Folge des Augsburger Reichstags und der dort verabredeten, 1531 vollzogenen Wahl Ferdinands zum Römischen König bildete sich Anfang der 1530er Jahre ein antihabsburgisches „Bündnisgeflecht“, in dem sich Philipp von Hessen geschickt bewegte. Philipp war 1531 ein Mitgründer des Schmalkaldischen Bundes und einer seiner beiden Hauptleute. Als Kurfürst (seit 1532) war der andere Bundeshauptmann, Philipps ein Jahr älterer Cousin Johann Friedrich von Sachsen, zu einem staatstragenden Verhalten verpflichtet. Die aggressiv antihabsburgische Politik Hessens unterstützte er deshalb nicht. Da weitere Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes ebenfalls an einem Ausgleich mit dem Kaiser interessiert waren, hatte Philipp nicht die Möglichkeit, den militärischen Arm des Protestantismus für die Rückführung Ulrichs nach Württemberg zu nutzen. Außer dem Defensivbündnis der protestantischen Stände wurde aber auch der Saalfelder Bund gegründet, in dem sich die Gegner der Königswahl Ferdinands zusammenfanden, und die Rheinische Einung, in der sich Philipp mit den rheinischen Kurfürsten und Bischöfen gegen den Schwäbischen Bund zusammenschloss. Bayern, wie Hessen Mitglied des Saalfelder Bundes, war traditionell sowohl ein Gegner Habsburgs als auch Württembergs, sah sich jetzt aber in Gefahr, von Habsburg eingekreist zu werden. Deshalb stellten die bayerischen Herzöge ihre Bedenken gegen Ulrich von Württemberg zurück. Zwischen München und Kassel setzte ein reger, bald wegen des hochverräterischen Pläneschmiedens chiffrierter Briefwechsel ein. „Als es Philipp von Hessen gelang, die beiden Problemfelder Konfession und Württemberg miteinander zu verknüpfen und die bayerische Opposition gegen die Habsburger zu aktivieren, war es um den [Schwäbischen] Bund geschehen,“ fasst Horst Carl zusammen. Württembergzug 1534 Anfang 1534 teilte Philipp dem französischen König stolz mit, dass es ihm gelungen sei, den Schwäbischen Bund, dieses Instrument habsburgischer Interessenpolitik im Südwesten des Reichs, zu zerstören. Im Januar 1534 reiste er mit einer Vollmacht Ulrichs von Württemberg nach Bar-le-Duc und schloss mit König Franz I. einen Vertrag, der die Finanzierung des Württembergzuges sicherstellte. Dafür musste Ulrich das württembergische Mömpelgard an Frankreich verpfänden. Franz I. konnte mit dieser Transaktion den Schein der Neutralität wahren. Die evangelischen Reichsstädte im Südwesten beteiligten sich mit kleineren Beträgen, der sächsische Kurfürst blieb dem Unternehmen fern. Er war verärgert und besorgt über das offensive Vorgehen des Hessen. Aber nun gewann er keinen Einfluss auf Philipps Planungen. Der Landgraf war euphorisch und wollte den Krieg nun endlich führen. Gabriele Haug-Moritz merkt an, dass Johann Friedrich von Sachsen im Fall der Restituierung Ulrichs einen Machtzuwachs Hessens im Schmalkaldischen Bund befürchtete. Dies dem konkurrierenden Landgrafen zu verwehren, sei ihm wichtiger gewesen, als die Ausbreitung des Protestantismus im Südwesten zu fördern. Ausgestattet mit 100.000 Gulden, begann Philipp mit der Truppenwerbung. Karl V. war in Spanien, sein Bruder Ferdinand in Ungarn gebunden. Ihr Statthalter Philipp von Pfalz-Neuburg hatte eine viel schwächere Armee zur Verteidigung Württembergs als die Angreifer, die über 4.300 Reiter, 17.000 Fußknechte und 61 Geschütze verfügten. Obwohl Ferdinand die heraufziehende Gefahr sah, war er nicht imstande, seinem Statthalter aus Tirol Verstärkung zu schicken und riet ihm, die Kurpfalz um Hilfe zu bitten. Philipp von Hessen und Ulrich von Württemberg brachen am 23. April 1534 von Kassel auf und zogen über Pfungstadt und Neckarsulm gen Süden. In der Schlacht bei Lauffen am 13. Mai 1534 zwangen sie den Statthalter zur Flucht, danach stand ihnen Württemberg offen. Die Bevölkerung der Städte huldigte ihrem Herzog. Auch wenn sich die Burgen Hohenurach, Asperg und Hohenneuffen noch etwas länger hielten, war der Krieg entschieden. Philipp und Ulrich mussten nun schnell zu einer vertraglichen Regelung kommen, denn für sie stiegen die Kosten. Habsburg konnte dagegen auf Zeit spielen. Um Druck auf Österreich auszuüben, verlegten Philipp und Ulrich ihr Heer nach Daugendorf bei Riedlingen. Da König Ferdinand sich weigerte, mit den beiden Landfriedensbrechern zu verhandeln, wurden sie durch Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen vertreten. Der von ihm ausgehandelte Vertrag von Kaaden regelte am 29. Juni, dass Ulrich sein Herzogtum als Unterlehen des Hauses Habsburg erhielt und Ferdinand als Römischer König anerkannt wurde. Der sächsische Kurfürst war nur sehr ungern in die Verhandlungen eingetreten; aus rechtlichen Gründen war er eigentlich gegen die Anerkennung der Königswürde Ferdinands und die Unterlehenschaft Württembergs. Philipp hingegen war bewusst, dass er zweimal Glück gehabt hatte: mit dem Sieg bei Lauffen und mit der anschließenden resignativen Haltung im gegnerischen Lager. Um das Erreichte zu sichern, war er 1534 bereit, die Unterlehenschaft Württembergs zu akzeptieren. Ulrich war damit allerdings unzufrieden. Und auch Franz I. hatte mehr erwartet – eine dauerhafte antihabsburgische Allianz. Aber Philipp wollte, bzw. konnte aufgrund seiner beschränkten Ressourcen den Konflikt mit Kaiser und König nicht weiter eskalieren. Für die Zeitgenossen war der Sieg von Lauffen der Triumph des Protestantismus, verkörpert in der Person des Landgrafen. Dass Kaiser und König Württemberg preisgaben und auch keinen Gegenschlag vorbereiteten, war für die altgläubige Seite verstörend. Auch Philipp musste Zugeständnisse machen, aber das wurde weniger wahrgenommen. Philipp reiste im März 1535 persönlich nach Wien, um sich mit König Ferdinand zu versöhnen. Sein Schwiegervater Georg von Sachsen hatte ihm dazu geraten und auch seine Vermittlung angeboten. Eine echte Aussöhnung mit Kaiser und König gelang freilich nicht. Philipp musste weiter mit dem Zorn der Habsburger rechnen und verlegte sich als schwächerer politischer Akteur aufs Lavieren. Er betonte, dass der Württembergzug ein reiner Freundesdienst für Ulrich gewesen sei, und verschleierte sein Eigeninteresse. Der Erfolg in Württemberg hatte für ihn territorialpolitische Bedeutung. „Damit wurde doch das Vorland Katzenelnbogens für die landgräflichen Ansprüche gesichert und Württemberg als möglicher Ausgangspunkt einer antihessischen Politik ausgeschaltet.“ Konflikt um Münster 1532/35 Schon seit der Soester Fehde hatte Hessen im Nordwesten des Reichs eigene Interessen verfolgt. Philipp betrieb die Politik seiner Vorgänger weiter und konnte durch sein Eingreifen in der Hildesheimer Stiftsfehde 1519–1523 Hessens Position an der mittleren Weser stärken. Im Münsterland wurde der Landgraf bei verschiedenen Konflikten als Vermittler angefragt. Im März 1532 wurde Bischof Erich von Paderborn und Osnabrück, den Philipp zu seinen Freunden zählte, zum Bischof von Münster gewählt. Philipp von Hessen wollte die Gelegenheit nutzen und die reformatorische Bewegung in Münster stärken. Er entsandte hessische Geistliche und Räte dorthin. Aber Erich starb am 14. Mai, ohne sein Amt formell angetreten zu haben. Der neue Bischof Franz von Waldeck positionierte sich im Gegensatz zu Erich eindeutig altgläubig. Der Rat der Stadt Münster wandte sich hilfesuchend an den Landgrafen, doch dieser schloss am 29. Oktober 1532 mit Franz von Waldeck ein Schutz- und Trutzbündnis auf Lebenszeit. Religionskonflikte waren davon ausgenommen. Aus Philipps Sicht stärkte dieser Vertrag seine diplomatische Absicherung im Blick auf den geplanten Württembergzug. Als der Konflikt zwischen Bischof und Stadtrat eskalierte, war Philipp (auch in seiner Rolle als Hauptmann des Schmalkaldischen Bundes) als Vermittler in einer starken Position. Er schlug vor, den evangelischen Gottesdienst in Münster zuzulassen, wenn der Rat den Bischof als Stadtherrn anerkannte. Der Vertrag vom 14. Februar 1533 war ein diplomatischer Erfolg Philipps, zumal es ihm gelungen war, konkurrierende Mächte (Jülich-Kleve-Berg und Kurköln) aus diesem Konflikt fernzuhalten. Als sich die reformatorische Bewegung in Münster weiter radikalisierte und auch die Kindertaufe ablehnte, war Philipp zeitweise stark durch seine Württemberg-Planungen gebunden. Infolgedessen gelang es Kurköln und Jülich-Kleve-Berg, im Münsteraner Konflikt auf Kosten Hessens Einfluss zu gewinnen. Im Januar 1534 forderte Franz von Waldeck den Landgrafen zur Unterstützung auf, eingedenk ihres Bündnisses. Aus der Sicht Philipps handelte es sich bei dem Täuferreich von Münster um einen Aufstand gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung, vergleichbar dem Bauernkrieg. Er war zu dessen militärischer Niederschlagung bereit, aber die geheimen Planungen für den anstehenden Württembergzug hatten Vorrang. Franz von Waldeck informierte er im persönlichen Gespräch über seine antihabsburgischen Pläne, und man versicherte sich der gegenseitigen Hilfe. Nach außen konnte Philipp seine Truppenrekrutierung gut als Unterstützung des Münsteraner Bischofs tarnen. Der Vertrag von Kaaden (29. Juni 1534) verpflichtete Philipp von Hessen und Ulrich von Württemberg explizit, sich mit 500 Reitern und 3000 Fußknechten mit Geschützen an der Belagerung von Münster zu beteiligen und diese drei Monate lang zu entlohnen. Die Hauptlast der Belagerung Münsters hatten bisher aber Kurköln und Jülich-Kleve-Berg getragen; sie waren nicht bereit, ihre beherrschende politische Position mit Hessen zu teilen. Daher kam die hessisch-württembergische Militärhilfe für die Belagerer nicht zustande. Als Philipp Ende Juni 1535 erfuhr, dass Münster gefallen war, versuchte er noch, mit Rückgriff auf den Vertrag von 1533, einige Münsteraner Kirchen für den evangelischen Gottesdienst zu halten. Franz von Waldeck war nicht abgeneigt, aber bei Kurköln und Jülich-Kleve-Berg hoch verschuldet. So musste der Landgraf, bei weiterhin guten Beziehungen zu Franz von Waldeck, die Rekatholisierung Münsters hinnehmen. Annäherung an den Kaiser 1538/41 Im Schmalkaldischen Bund entschied der sächsische Kurfürst über die politische Agenda. Die „Verfassung zur Gegenwehr“, die sich der Bund 1535 gab, postulierte die Gleichheit der beiden Bundeshauptleute; das bedeutete, dass Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen sich von nun an vor den Bundestagen mit seinem hessischen Cousin abstimmte. Johann Friedrich wurde auch ohne den Schmalkaldischen Bund als politischer Führer des Protestantismus angesehen; Philipp brachte die Rolle als Bundeshauptmann dagegen den Vorteil, dass er sich Dritten gegenüber ebenso darstellen konnte. Das Bündnis zerfiel in eine norddeutsche Einflusssphäre Kursachsens und eine süddeutsche Einflusssphäre Hessens, wobei der Landgraf die süddeutschen Reichsstädte nicht so stark an sich binden konnte wie der Kurfürst die norddeutschen Bundesmitglieder. Kurfürst Johann Friedrich verfolgte Ende der 1530er Jahre eine ähnlich aktive antihabsburgische Bündnispolitik mit europäischen Partnern wie Landgraf Philipp vor dem Württembergzug 1534. Der Landgraf bremste aus eigenen geostrategischen Interessen, als Johann Friedrich die Reformation in Territorien westlich von Hessen, nämlich dem verschwägerten Jülich-Kleve-Berg und Kurköln, unterstützte. Das machte ihn aus Habsburger Sicht zu einem interessanten Gesprächspartner und wertete ihn auf. So wurde Landgraf Philipp Ende der 1530er Jahre zum kaiserlichen Ansprechpartner im Schmalkaldischen Bund, der dafür einstand, dass Kursachsen den Bund nicht im Kampf um Geldern nutzen konnte, der für den Kaiser bis 1543 oberste Priorität hatte. Im Sommer 1538 führte Philipp Gespräche mit dem kaiserlichen Gesandten Johann von Naves, die das Regensburger Geheimabkommen von 1541 vorbereiteten. Philipp und Naves verständigten sich über die jeweiligen Einflusszonen im Nordwesten. Jülich-Kleve-Berg, von Kursachsen unterstützt, expandierte in den westfälischen Raum, der von Habsburg und Hessen als ihre Interessensphäre betrachtet wurde. Ein Machtgewinn von Jülich-Kleve-Berg würde auf Kosten Hessens gehen, darum war Philipp dagegen. Da war uninteressant, dass Herzog Wilhelm V. sich zur Reformation bekannte. Habsburg und Hessen kamen so im Sommer 1538 zu einem beiderseits vorteilhaften Arrangement, wobei sie den Religionskonflikt ausklammerten. Philipp erklärte sich in Bezug auf Geldern für neutral. Der Kaiser verzichtete darauf, den Rechtsanspruch Nassaus auf Katzenelnbogen zu exekutieren – und er gab Hessen und Kursachsen im Blick auf Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel freie Hand. „Der Kaiser lieferte damit … den letzten weltlichen Fürsten alten Glaubens in Niederdeutschland ohne erkennbare Skrupel den schmalkaldischen Bundeshauptleuten aus,“ fasst Georg Schmidt zusammen. Philipp hatte durch seine Doppelehe mit Margarethe von der Saale 1540 seinen politischen Handlungsraum eingeschränkt. In den Verhandlungen, die 1541 zum Regensburger Geheimvertrag führten, betonte der kaiserliche Verhandlungsführer Nicolas Perrenot de Granvelle die Strafwürdigkeit der Bigamie, ohne dies für einen Erpressungsversuch zu nutzen. Die landgräfliche Doppelehe blieb in Regensburg ein Nebenthema. Sie wurde „durch ein kaiserliches Generalpardon reguliert“ und im Vertragstext nicht erwähnt. Karl V. versicherte, er habe „ihme alles und jedes, was sey, so er wider uns, unseren Bruder oder wider kaiserlich Gesetz und Recht und des Reichs Ordnung gehandelt […], genzlich nachgelassen und verzigen“. Eine wichtige Ausnahme machte Karl jedoch: „es wäre denn, daß von wegen der Religion wider alle Protestantes in gemein Krieg bewegt wurde“. Krieg gegen Braunschweig-Wolfenbüttel 1542/45 Der Krieg des Schmalkaldischen Bundes gegen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel war durch dessen territorialpolitischen Druck auf Goslar und Braunschweig veranlasst. Beide Städte waren Mitglieder des Bundes. Im Hintergrund steht das Ringen um die Vorherrschaft in Norddeutschland, wobei der letzte altgläubige Welfenherzog mit dem sächsischen Kurfürsten und dem hessischen Landgrafen konkurrierte, diese beiden aber auch miteinander. Der Welfe Ernst von Braunschweig-Lüneburg, ein Lutheraner, trat als Beschützer der Stadt Braunschweig auf und war zugleich ein Klient sowohl von Kursachsen als auch von Hessen. „In der Goslar- und Braunschweig-Frage ging es also um Hegemonialzonen, um die Interessen von Klienten und auch darum, die eigene – und des Bundes – Schlagkraft und Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.“ Johann Friedrich von Sachsen bereitete seit dem Sommer 1540 den Angriff auf Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel vor und gewann im Schmalkaldischen Bund die notwendige Unterstützung, obwohl Philipp von Hessen sich erkennbar zurückhielt. Am 13. Juli 1542 erging von Eisenach aus die Kriegserklärung des Schmalkaldischen Bundes, dessen Hauptstreitmacht (4.000 Reiter, 15.000 Fußknechte) das Herzogtum Braunschweig in knapp zwei Wochen einnahm. Die vom Herzog verlassene Residenz Wolfenbüttel leistete noch Widerstand, wurde aber zur Kapitulation gezwungen. Die Schmalkaldener feierten diesen Erfolg. Lucas Cranach der Ältere war als eine Art Bildberichterstatter bei der Belagerung Wolfenbüttels zugegen. Seine detailreiche Darstellung der Beschießung der Stadt wurde mehrfach kopiert. Während der Schmalkaldische Bund das Braunschweiger Land kontrollierte und dort die Einführung der Reformation vorantrieb, versuchte Heinrich, sein Herzogtum zurückzugewinnen. Auf dem Nürnberger Reichstag 1543 erklärten Kurfürst und Landgraf, die Eroberung des Herzogtums sei eine „rechtmäßige Defension“ gewesen; die Richter des Reichskammergerichts lehnten sie aus formellen Gründen sowie wegen Befangenheit ab. Mit herzoglichen Akten, die ihnen bei ihrem Sieg in die Hände gefallen waren (Braunschweigische Aktenbeute), ließe sich belegen, dass Heinrich gegen sie den Krieg vorbereitet habe. Auf den folgenden Reichstagen (Speyer 1544 und Worms 1545) vereinbarte der Kaiser mit den Schmalkaldenern, das Herzogtum Heinrichs unter kaiserliche Verwaltung (Sequestration) zu stellen. Die kaiserlichen Kommissare traten ihr Amt jedoch nie an; das Herzogtum blieb unter Verwaltung des Bundes. Unter diesen Umständen griff Heinrich zur Selbsthilfe und belagerte mit 9000 Mann ab Ende September 1545 die Residenzstadt Wolfenbüttel. Mitte Oktober erfuhr er, dass weit überlegene schmalkaldische Entsatztruppen auf dem Weg waren. Heinrich brach die Belagerung ab, konnte aber nicht mehr fliehen und musste sich Philipp von Hessen ergeben. Der Landgraf berichtete dem Kaiser in der Hoffnung, dass dieser Heinrich wegen des Angriffs auf Wolfenbüttel mit der Reichsacht belegen würde. Karl V. beschränkte sich aber darauf, Philipp aufzufordern, „sich dieses Sieges mäßiglich und mit Bescheidenheit zu gebrauchen.“ Schmalkaldischer Krieg 1546/47 Während er sich diplomatisch durch Hilfs- und Neutralitätsabkommen umfassend absicherte, zögerte Karl V. lange, Krieg gegen den Schmalkaldischen Bund zu führen. Am 16. Februar 1546 schrieb er seinem Sohn Philipp, er sei jetzt zum Krieg entschlossen, wolle aber die Reichsfürsten noch darüber im Unklaren lassen. Am 5. Juni 1546 begann der Regensburger Reichstag. Dort fanden Scheinverhandlungen statt, während sowohl der Kaiser als auch die Schmalkaldener für den Krieg rüsteten. In Ichtershausen bei Gotha trafen sich die beiden Hauptleute des Bundes am 4. Juli 1546. Philipp wollte aufgrund seiner militärischen Erfahrung das Oberkommando über die Truppen des Bundes, erhielt es aber nicht. Vielmehr wurde ein etwa zehnköpfiger Kriegsrat eingesetzt, der jede militärische Entscheidung genehmigen musste. Philipp drängte auf einen schnellen Angriff, um die zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber den kaiserlichen Truppen auszunutzen, so lange sie noch bestand. Am 20. Juli 1546 verhängte Karl V. die Reichsacht gegen die beiden Hauptleute des Schmalkaldischen Bundes wegen des Überfalls auf Braunschweig-Wolfenbüttel und der Inhaftierung des Herzogs Heinrich auf der hessischen Festung Ziegenhain. Auf diese Weise ließ sich negieren, dass der Krieg gegen den Schmalkaldischen Bund dem politischen Arm des Protestantismus im Reich galt; offiziell ging es gegen zwei Reichsfriedensbrecher. Etwa zur gleichen Zeit vereinigten sich die hessischen und kursächsischen Truppen in Meiningen und rückten nach Donauwörth vor, um sich mit den württembergischen und reichsstädtischen Truppen zu vereinen. Am 10. August überbrachte ein Bote in Regensburg die Kriegserklärung des Schmalkaldischen Bundes „an den vermeineten oder der sich nennet Kayser.“ Der Kurfürst wollte Karl V. den Kaisertitel rundweg absprechen, der Landgraf die Form wahren, so kam es zu dieser Formulierung. Die schmalkaldische Propaganda behauptete, der Kaiser wolle „ain Hispanische Servitut“ etablieren und bringe „die Teutsche Nation/ sein Vaterland/ in unfriden/ zerstörung/ und verderben“; die Bundesverwandten kämpften demnach auch für die „Freyheit Teutscher Nation.“ Der Kriegsrat suchte im Donaufeldzug aber nicht die militärische Entscheidung; die Verantwortlichen scheuten einen Angriff auf den Kaiser und hofften auf Verhandlungen. Vom 29. August bis zum 2. September 1546 kam es nahe Ingolstadt zur einzigen direkten militärischen Auseinandersetzung Philipps von Hessen mit Karl V. Das kaiserliche Heer hatte sich dort mit der Stadtbefestigung im Rücken und der Donau zur Linken verschanzt und wurde durch die hessische Artillerie heftig beschossen, um es zur offenen Schlacht zu zwingen. Mehrmals rissen die Kanonen eine Bresche in die Erdwälle des kaiserlichen Lagers. Aber der Kommandant der reichsstädtischen Infanterie Sebastian Schertlin von Burtenbach, der Landgraf und der Kriegsrat waren uneinig, und deshalb wurde keine Erstürmung versucht. Schließlich ordnete der Kriegsrat den Rückzug an. Sowohl Schertlin als auch Philipp meinten rückblickend, dass hier vor Ingolstadt die Chance vertan wurde, den Kaiser zu besiegen. Im Oktober wurden die logistischen Probleme im hessischen Heer immer gravierender. Dann wurde am 7./8. November bekannt, dass Philipps Schwiegersohn Moritz von Sachsen seine Neutralität aufgegeben hatte und sich anschickte, Kursachsen zu besetzen, wozu ihm der Kaiser das Mandat erteilt hatte. Der Kriegsrat fasste am 16. November 1546 in Giengen den Beschluss, dass die beiden Hauptleute in ihre Territorien zurückkehren sollten, um diese zu verteidigen. Damit standen die Reichsstädte im Südwesten und das Herzogtum Württemberg dem Kaiser allein gegenüber, und zusätzlich wurden Straßburg und Württemberg ersucht, 30.000 und 100.000 Gulden vorzustrecken, damit die abziehenden kursächsischen und hessischen Söldner bezahlt werden konnten. Der Straßburger Jakob Sturm drängte den Landgrafen, dem Feind nicht das Terrain zu überlassen. Philipp antwortete am 22. November, die kaiserliche Kavallerie sei überlegen und würde täglich stärker, während die eigenen Truppen durch Krankheit und Desertion dahinschwänden. Wäre mehr Geld da, würde er, Philipp, noch eine Offensive versuchen, aber diese Finanzmittel gebe es nicht. Den Winter 1546/47 verbrachte Philipp in Hessen in Erwartung des kaiserlichen Angriffs. Er versuchte noch, sich durch ein Bündnis mit England oder Frankreich abzusichern, aber beides wurde gegenstandslos, da Heinrich VIII. und Franz I. Anfang 1547 starben. Philipp musste unbedingt mit dem Kaiser verhandeln, um sein Territorium ungeteilt zu erhalten („bei Land und Leuten zu bleiben“). Nach dem Sieg in der Schlacht bei Mühlberg (24. April 1547) und der Gefangennahme des sächsischen Kurfürsten war der kaiserlichen Regierung daran gelegen, auch den zweiten Hauptmann des Bundes in ihre Gewalt zu bringen, vorzugsweise ohne die hessischen Festungen belagern zu müssen. Die Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg und Moritz von Sachsen erhielten von Karl V. den Auftrag, Philipp zur Kapitulation zu raten und ihm „einen gnädigen Kaiser, also Milde, wenn nicht Straffreiheit, zuzusichern.“ Historisch ist nicht mehr zu klären, ob der Kaiser eine solche Zusage selbst gegeben hatte, aber die beiden Kurfürsten sahen sich berechtigt, das so zu formulieren, und Philipp verließ sich darauf. Ende Mai 1547 trafen sich Moritz und Philipp in Leipzig, und Moritz nannte die kaiserlichen Forderungen: Unterwerfung auf Gnade und Ungnade, Befolgung der Urteile des Reichskammergerichts, Übergabe der hessischen Festungen und Geschütze, Zahlung der Kriegskosten. Philipp ritt nach mehrtägigen Verhandlungen zurück nach Kassel, außer sich wegen der „unmenschlichen und harten Conditiones.“ Aber er stand mit dem Rücken zur Wand und signalisierte Moritz unmittelbar nach seiner Rückkehr, er sei zur Unterwerfung bereit. Fußfall von Halle (18. Juni 1547) Am 18. Juni 1547 kam Philipp nach Halle in die Herberge Moritz‘ von Sachsen, wo er die Kapitulation unterschrieb. Abends trat er im Thronsaal des Neuen Baus vor den Kaiser. Der Herrscher erwartete ihn auf seinem Thronsessel sitzend in Gegenwart zahlreicher Fürsten. Während der hessische Kanzler Tilman von Günderode die Bitte um Vergebung verlas, kniete Philipp vor dem Kaiser. Das Ritual der Unterwerfung (deditio) sah vor, dass der Herrscher dem Knienden nun als Zeichen seiner Gnade die Hand reichte. Karl wandte sich stattdessen von dem Landgrafen ab, aber dieser missverstand die Situation und stand auf, um zum Handschlag auf den Kaiser zuzugehen. Das war ein schwerer Bruch des burgundisch-spanischen Hofzeremoniells. Herzog Alba fasste Philipp bei der ausgestreckten Hand und begleitete ihn nach draußen. Ein Abendessen Philipps mit den beiden Kurfürsten Joachim und Moritz und Alba sowie dem Kanzler Granvelle schloss sich auf der Moritzburg an, danach nahm Alba den Landgrafen in Gewahrsam. Die Kurfürsten riefen Granvelle mitten in der Nacht herbei und warfen ihm vor, dass er Philipp nach seiner Unterwerfung freie Heimreise zugesagt habe. Granvelle legte ihnen die kaiserliche Erklärung schriftlich vor: dort stand, dass der Landgraf nicht mit ewigem Gefängnis gestraft werden solle. Eine befristete Haft sei damit nicht ausgeschlossen. Diese Demütigung und Gefangennahme Philipps war ganz im Sinne Karls V. verlaufen und sollte seine kaiserliche Macht demonstrieren, aber weil die Kurfürsten Joachim und Moritz sich von Granvelle hinterlistig getäuscht sahen und ihre Sicht der Dinge der Öffentlichkeit bekannt machten, wurde der Fußfall von Halle „schließlich zu einer schweren Hypothek für Karls Ansehen und Handlungsspielraum.“ Die beiden Kurfürsten waren nun durch die Bürgschaft, die sie Philipp geleistet hatten, in der Pflicht, alles zu seiner Freilassung zu versuchen oder sich persönlich in hessische Geiselhaft zu begeben. Gefangener des Kaisers Der Kaiser führte seine beiden wichtigsten Gefangenen, Kurfürst und Landgraf, wie in einem Triumphzug mit durch Süddeutschland. Johann Friedrich von Sachsen hatte die Kurwürde und einen Teil seines Territoriums verloren, aber er genoss in der Haft als vornehmer Gefangener einige Erleichterungen. Bei Philipp von Hessen war das Gegenteil der Fall. Ihm blieb sein Titel und seine Landgrafschaft. Mit der Lösung der Acht war er ab sofort wieder berechtigt, sein Land zu regieren – wenn auch als Gefangener unter erschwerten Bedingungen. Sein ältester Sohn Wilhelm führte für ihn in Kassel die Regierungsgeschäfte. Philipp hatte ihm dazu einen Regentschaftsrat beigeordnet, bestehend aus seiner Gemahlin Christine, dem Kanzler Heinrich Lersner und den Räten Rudolf Schenk zu Schweinsberg, Wilhelm von Schachten und Simon Bing. Philipps Haft war härter als die des Kurfürsten. In Süddeutschland schlief er meist in Feldlagern, fürchtete, sich mit der Pest anzustecken, klagte über Fieber und Schwächeanfälle und war überhaupt gesundheitlich labil. Er hoffte noch, es handle sich um eine kurze Beugehaft. Aus der Sicht des Kaisers war es „die Sicherungsverwahrung eines Unverbesserlichen auf unbestimmte Zeit.“ Im Februar 1548 erhielt die Landgräfin Christine am Rande des Augsburger Reichstags eine Audienz beim Kaiser und bat ihn fußfällig um Freilassung ihres Mannes. Sie wurde dabei von anderen Fürstinnen und hochrangigen Fürsprechern unterstützt, die Moritz von Sachsen zusammengebracht hatte. Nun hieß es, Philipp müsse erst alle Bedingungen erfüllen. Im Frühjahr 1548 kam die Durchführung des Augsburger Interim in Hessen neu zu den Kapitulationsbedingungen hinzu. Obwohl Philipp seinem Sohn und den Kasseler Räten die Annahme des Interim empfahl, stockte die Umsetzung. Philipp sah ein, dass sein Engagement für das Interim ihn der Freilassung auch nicht näher brachte, und verlor das Interesse an dem Thema, ebenso wie auch der Kaiser die Befolgung des Interim in Hessen anscheinend bald nicht mehr beachtete. Philipp hatte während seiner bisherigen Regierung Fakten geschaffen und den territorialstaatlichen Ausbau auf Kosten seiner Nachbarn vorangetrieben. Diese Übergriffe waren bei der Achterklärung im Einzelnen benannt worden. Als er bei seiner Unterwerfung in Halle die Autorität des Reichskammergerichts anerkennen musste, gingen alle schwebenden Streitsachen zur Entscheidung dorthin. Sie wurden in Speyer während Philipps Haft sämtlich gegen Hessen entschieden. Obendrein hatte Philipp seinen Prozessgegnern (Nassau, Hersfeld, Haina, Kurmainz, Deutscher Orden) hohe Entschädigungen zu zahlen. Hessen war finanziell ruiniert, und der Landgraf rechnete selbst damit, dass ihm nach der Freilassung wohl nur einige Ämter um Kassel bleiben würden. Im August/September 1548 wurde Philipp als Gefangener rheinabwärts in die Spanischen Niederlande gebracht und im Burgundischen Kastell zu Oudenaarde inhaftiert. Er hatte dort ein Dutzend Bedienstete und lenkte aus der Haft die hessische Politik. Der Briefwechsel mit Kassel lief über die offizielle und zensierte Korrespondenz und über Kassiber. Ende Mai 1550 wurde Philipp nach Mechelen verlegt und bewohnte ein Nebengebäude des Hauses der Margareta von York. Seine Haftbedingungen waren schlechter, er fürchtete den Weitertransport nach Spanien. In Kassel liefen deshalb Planungen, den Landgrafen gewaltsam zu befreien und nach Hessen zu bringen. Aber die hessische Ritterschaft weigerte sich, bei einer so tollkühnen Aktion mit unabsehbaren Konsequenzen mitzumachen. Schließlich versuchte eine Gruppe ehemaliger Söldner am 22. Dezember 1550, den Landgrafen zu befreien. Das Unternehmen scheiterte blutig, ohne dass Philipp auch nur seine Zelle verlassen hätte. Viglius Zuichemus verhörte Philipp daraufhin in kaiserlichem Auftrag und hatte auch die Möglichkeit, die Folter anzuwenden, wovon er aber keinen Gebrauch machte. Philipp saß in Einzelhaft, zeitweise in Dunkelhaft, und war nur noch von Spaniern umgeben. Die Kommunikation über Kassiber lief weiter. Nach sechs Wochen gab Viglius ihm offiziell Schreiberlaubnis. Philipp intervenierte wieder in der hessischen Politik und forderte vor allem, die Kurfürsten Moritz und Joachim müssten ihre Haft in Hessen antreten; weigerten sie sich weiterhin, sollten Schmähbriefe publiziert werden. In groben Zügen wusste er auch von Moritz‘ Plänen zum Fürstenaufstand, war aber dagegen und drohte sogar, Moritz beim Kaiser anzuzeigen, wenn dieser nicht endlich in hessische Haft ginge. Als die Kriegsvorbereitungen in Kassel in die entscheidende Phase traten, wurde Philipp sicherheitshalber nicht mehr informiert. Moritz hatte eine breite Allianz gegen den Kaiser geschmiedet. Als Kurfürst von Sachsen war er das politische Oberhaupt der Protestanten; wollte er in dieser Rolle anerkannt werden, war die Beseitigung des Interim seine Aufgabe. Außerdem blieb die verletzte Familienehre für ihn ein Problem: die fortdauernde Haft seines Schwiegervaters stempelte Moritz zum Verräter, da er diesem zur Unterwerfung geraten hatte. Sein Hauptargument, mit dem er Verbündete gewann, war die „Beseitigung des Kaiserabsolutismus“ (Heinz Schilling). In diesem Punkt war er konfessionsübergreifend mit den meisten Reichsständen einig. Rückkehr nach Hessen Im Passauer Vertrag vom 2. August 1552 wurde die Freilassung des Kurfürsten und des Landgrafen aus kaiserlicher Haft, eine Hauptforderung der Sieger, zugesagt. Philipp verbrachte rund einen Monat als Gast der Statthalterin Maria im Schloss Tervuren, bis der Kaiser den Passauer Vertrag ratifiziert und seine Freilassung persönlich angeordnet hatte. Am 10. September traf der Landgraf mit seiner Begleitung schließlich in Marburg ein. Er kehrte als regierender Fürst zurück, Karl V. dagegen stand vor den Trümmern seiner Reichs- und Religionspolitik und dankte bald darauf ab. Philipp war in der Haft ergraut und übergewichtig geworden, doch im Gegensatz zum Kaiser keineswegs resigniert. Nach dem Tod Johann Friedrichs von Sachsen 1554 war er der älteste protestantische Reichsfürst, was ihm Respekt verschaffte. Mit Elisabeth von England korrespondierte er über Fragen der englischen Kirchenreform. Nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 gab es für ihn keinen Grund, weiterhin eine riskante Außenpolitik zu betreiben. Er widmete sich in den folgenden Regierungsjahren der Innenpolitik, insbesondere der Sanierung der Staatsfinanzen. Meist war er nun im Land unterwegs, ging der Jagd nach und ließ sich dabei von seinen Kanzleiwagen als einer Art „rollenden Büros“ begleiten. Durch den Passauer Vertrag waren die gegen Hessen ergangenen Urteile des Reichskammergerichts suspendiert und die Streitfälle Hessens mit seinen Nachbarn somit wieder neu zu regeln. Das gelang in den meisten Fällen durch gütlichen Vergleich. Das Reichskammergericht hatte im Katzenelnboger Erbstreit zugunsten Nassaus entschieden, aber Philipp erkannte den Urteilsspruch nicht an. Ein fürstliches Schiedsgericht verhinderte 1557 den drohenden Krieg und ermöglichte es Hessen im Frankfurter Vertrag, Katzenelnbogen gegen eine Landabtretung und eine hohe Entschädigungszahlung von 450.000 Gulden in acht Jahresraten von Nassau zu erwerben. Stärker als die juristischen Argumente Nassaus zählte am Ende, dass Philipp von Hessen Katzenelnbogen kontinuierlich verwaltet hatte. Philipp berief zwischen 1552 und 1567 elfmal den Landtag ein, vor allem um die Steuern bewilligt zu bekommen, mit denen der Bankrott Hessens abgewendet wurde. Es gelang, die verpfändeten Ämter wieder auszulösen und die Neuverschuldung zu reduzieren. Tod, Begräbnis und Nachfolgeregelung Philipp starb am Ostermontag 1567 in Kassel. Er hatte in seinen letzten Lebensjahren an chronisch offenen Beinen gelitten (vermutlich Thrombophlebitis). Ein akutes Geschehen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Lungenembolie führte zum Tod. Die Landgräfliche Grablege in der Elisabethkirche, die bis 1570 zum Deutschen Orden gehörte, stand für die Beisetzung nicht zur Verfügung, und so wurde Philipp neben seiner Frau Christine von Sachsen in der Martinskirche in Kassel beigesetzt. Elfmal hatte Philipp zwischen 1534 und 1562 sein Testament geändert. Das Testament von 1534 ist nicht erhalten, enthielt aber wohl die Primogeniturregelung des Testaments vom 15. Februar 1536: Wilhelm, der zu diesem Zeitpunkt einzige Sohn, erbte die Landgrafschaft ungeteilt. In dem nächsten Testament vom 26. April 1536 erhielt Wilhelm das hessische Kernland, aber seinem jüngeren Bruder Ludwig wurde die wichtige Grafschaft Katzenelnbogen zugesprochen. Philipp entwarf Regelungen, die Wilhelm und Ludwig im Sinne der Landeseinheit zur Kooperation verpflichteten. Bevor er die Doppelehe mit Margarethe von der Saale einging und die Versorgung der Söhne aus dieser Ehe zu regeln hatte, war Philipp also schon in Überlegungen zur Landesteilung. Als Christine einen dritten Sohn namens Philipp zur Welt brachte, konnte der Landgraf diesem noch einen Teil der Grafschaft Katzenelnbogen zuweisen, und die hessischen Stammlande verblieben ungeteilt bei Wilhelm. Aber als der vierte Sohn Georg geboren wurde, war eine weitere Zerstückelung Katzenelnbogens für den Landgrafen keine Option mehr. Er hielt „die Teilung des gesamten Territoriums in vier existenzfähige Einzelterritorien bei gleichzeitiger Wahrung der politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und militärischen Einheit“ Hessens für vorteilhafter. Margarethes ausdauernder Einsatz für die Erbansprüche ihrer Söhne beeindruckte Philipp bei Abfassung seiner Testamente wenig. Als typischer Fürst des 16. Jahrhunderts behandelte Philipp die Landgrafschaft als seinen Privatbesitz, über den er in seiner Verantwortung als Vater frei verfügen konnte. Horst Carl fasst zusammen: Die Auseinandersetzung mit der Macht des Hauses Habsburg war für die Landgrafschaft eine „Überspannung der eigenen Kräfte“, die Niederlage absehbar. „Und die erneute Landesteilung beim Tod Landgraf Philipps 1567 erscheint dann weniger als letzter politischer Sündenfall des Landgrafen, sondern als Anknüpfen an spätmittelalterliche Normalität …“ Nachkommen Aus seiner am 11. Dezember 1523 in Dresden geschlossenen Ehe mit Christine von Sachsen (* 25. Dezember 1505; † 15. April 1549) hatte Philipp von Hessen folgende Nachkommen: Agnes (1527–1555); verheiratet in erster Ehe 1541 mit Kurfürst Moritz von Sachsen (1521–1553), in zweiter Ehe 1555 mit Johann Friedrich II., Herzog von Sachsen-Gotha (1529–1595) Anna (1529–1591), verheiratet mit Pfalzgraf Wolfgang von Zweibrücken (1526–1569) Wilhelm IV. von Hessen-Kassel (1532–1592), verheiratet mit Sabine von Württemberg (1549–1581) Philipp Ludwig (1534–1535) Barbara (1536–1597), verheiratet in erster Ehe 1555 mit Herzog Georg von Württemberg-Mömpelgard (1498–1558), in zweiter Ehe 1568 mit Graf Daniel von Waldeck (1530–1577) Ludwig IV. von Hessen-Marburg (1537–1604), verheiratet in erster Ehe 1563 mit Hedwig von Württemberg, in zweiter Ehe 1591 mit Marie von Mansfeld Elisabeth (1539–1582), verheiratet mit Kurfürst Ludwig VI. von der Pfalz (1539–1583) Philipp II. von Hessen-Rheinfels (1541–1583), verheiratet mit Anna Elisabeth von der Pfalz (1549–1609) Christine (1543–1604), verheiratet mit Herzog Adolf von Holstein-Gottorf (1526–1586) Georg I. von Hessen-Darmstadt (1547–1596), verheiratet in erster Ehe mit Magdalena zur Lippe (1552–1587), in zweiter Ehe mit Eleonore von Württemberg (1552–1618) Aus der am 4. März 1540 in Rotenburg an der Fulda geschlossenen Ehe mit Margarethe von der Saale (* 1522; † 6. Juli 1566) hatte Philipp folgende Nachkommen: Philipp (1541–1569) Hermann (1542–1568) Christoph Ernst (1543–1603) Margarethe (1544–1608) Albrecht (1546–1569) Philipp Konrad (1547–1569) Moritz (1553–1575) Ernst (1554–1570) Anna (1557–1558) Die Söhne erhielten den Titel Grafen von Diez, Geborene aus dem Hause Hessen. Schwerpunkte der Regierung Philipps Hessens Militär Die Militärtechnik war um 1500 in einer Umbruchsphase: Die Artillerie wurde leistungsfähiger, der Festungsbau musste sich dem anpassen. Die Landgrafschaft gehörte hierbei zu den fortschrittlichsten Territorien. Um das Jahr 1527 sammelte Philipp Informationen über die Leistungsfähigkeit von Fortifikationen, mit dem Ergebnis, dass er die hessischen Höhenfestungen nicht mehr weiter entwickelte und vier Orte in Tieflage mit Erdwällen und Eckrondellen großräumig zu Festungen ausbaute. So besetzte er strategisch wichtige Positionen zur Landesverteidigung: Kassel (gegen Braunschweig), Gießen (gegen die Wetterauer Grafen), Rüsselsheim (gegen Kurmainz), Ziegenhain (als eine Art logistisches Zentrum). Den höchsten Stellenwert hatte für Philipp seine Residenz Kassel, zugleich seine stärkste Festung. Eine kolorierte Stadtansicht (169 × 178 cm), die Grund- und Aufriss kombiniert, wird allgemein seinem Hofmaler Michael Müller zugeschrieben und vor 1547 datiert. Die Wehrhaftigkeit Kassels ist optisch stark hervorgehoben. Vor die mittelalterliche Mauer mit ihren Türmen wurde eine moderne Befestigung aus Erdwällen, Basteien, Wassergräben und Glacis gelegt. Das ab 1523 von Philipp befestigte Landgrafenschloss hebt sich wie eine Zitadelle aus der städtischen Bebauung heraus; eines der Eckrondelle ist als einziger Rest bis heute erhalten. Mit Ausnahme der Wasserfestung Ziegenhain ließ Karl V. die hessischen Festungen nach seinem Sieg im Schmalkaldischen Krieg schleifen. Viel Mauerwerk blieb aber unterhalb des Bauhorizonts stehen. Darauf wurde zügig wieder aufgebaut, und zwar im alten Stil. Als Philipp 1552 aus kaiserlicher Haft zurückkehrte, führte er keine Modernisierung entsprechend dem mittlerweile entwickelten „italienischen System“ mehr durch. Philipp hatte seine Artillerie im Lauf seiner Regierungszeit gezielt verstärkt: 1525 verfügte er insgesamt über rund 150 Geschütze. Die Gesamtzahl der hessischen Geschütze im Schmalkaldischen Krieg lässt sich auf über 400 schätzen; Philipp verfügte damit über eine weit größere Artillerie als jeder andere Reichsfürst. Nach der Niederlage musste Hessen 241 Geschütze an den Kaiser abliefern. 170 von ihnen ließ Karl V. in seinem Geschützbuch (Discurso del Artilleria) abbilden. Diese Illustrationen zeigen, dass die Kalibergrößen nicht wie bei der kaiserlichen Artillerie standardisiert waren. Das hätte bei einem längeren Feldzug große logistische Probleme bereitet. Philipp setzte also bei seinen Geschützen allein auf Masse und nicht auf Modernität. Der Landgraf, der es ablehnte, einem Maler Modell zu sitzen und ein offizielles Herrscherbild von sich in Umlauf zu bringen, ließ sich als Relief in ganzer Figur mit Federbarrett und Mantel auf einigen seiner Kanonen darstellen. Das zeigt, welchen Stellenwert der Geschützpark für Philipps Selbstverständnis hatte. Finanz- und Steuerpolitik Philipps militärische Unternehmungen waren teuer. Inge Auerbach urteilt, für ihn habe die Regierungskunst wesentlich darin bestanden, „Krieg zu führen und andere dafür zahlen zu lassen.“ Nach Abzug aller Erstattungen und Kostenübernahmen durch Dritte schlugen besonders der Zug nach Württemberg mit 145.000 Gulden, der Krieg gegen Braunschweig mit 157.000 Gulden und der Schmalkaldische Krieg mit 168.000 Gulden zu Buche. Hessen musste immer mehr Schulden aufnehmen. Der Kredit des Landes erschöpfte sich, Philipp musste Ämter verpfänden. Die wirtschaftliche Basis Hessens bildeten die durch säkularisierte Klostergüter vermehrten Domänen. Sie generierten am Ende der Regierungszeit Philipps 78 Prozent der Einkünfte. Das hessische Kernterritorium war reich an Wäldern. Waldnutzungsgebühren (für Bau- und Brennholz) erbrachten 1565 etwa 20 Prozent aller Nettoeinnahmen aus den hessischen Ämtern. In Sooden wurde neben einem bereits bestehenden Salzwerk eine landesherrliche Saline errichtet, und schließlich übernahm die Landgrafschaft die gesamte Soodener Salzproduktion. Das notwendige Holz stellten die hessischen Forsten bereit. Philipp öffnete für das Soodener Salz Exportwege durch Sachsen und verbot den Salzimport nach Hessen. Damit war der wirtschaftliche Erfolg gesichert. Neben der traditionellen Landsteuer erhob die landgräfliche Verwaltung Vermögensteuern. In Hessen setzte sich allmählich das moderne Prinzip durch, die Einwohner nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern; Philipp selbst bevorzugte die Vermögens- gegenüber der Landsteuer, da sie gerechter sei. Sozial ungerecht, aber finanziell ergiebig waren die zusätzlich erhobenen Tranksteuern auf Bier, Wein und Branntwein. „Diese stetigen Einnahmen bewirkten ganz wesentlich, dass der Verwaltungshaushalt in Philipps letzten Jahren schwarze Zahlen schrieb, wenn auch der Vermögenshaushalt noch tiefrot blieb.“ Bildungspolitik Was in Lambert von Avignons Reformatio Ecclesiarum Hassiae von 1526 schon angelegt war, setzte Philipp ab 1527 um: Er baute von oben nach unten ein Bildungssystem für das ganze hessische Territorium auf, wobei die flächendeckende Versorgung mit Dorfschulen allerdings erst unter seinen Nachfolgern erreicht wurde: Gründung der Universität Marburg; Einrichtung des Marburger Pädagogiums mit „Scharnierfunktion zwischen Lateinschulen und Universität“; Einrichtung von Elementarschulen in den kleinen Städten und Dörfern. Die Mittel dazu nahm er aus dem säkularisierten Klostergut. Philipp ersetzte die bisherige kirchliche Bindung der Bildung (Kloster- und Stiftsschulen) durch eine Bindung an sich und übernahm damit als Landesherr bischofsähnliche Funktionen. Die Universitätsgründung war sein Prestigeprojekt und diente der Herrschaftsrepräsentation. Insgesamt machte die Universität Marburg ein humanistisches Angebot, das auch diejenigen ansprechen konnte, die sich nicht explizit der Reformation angeschlossen hatten. Bei der Besetzung der theologischen Lehrstühle dominierte nicht wie bei der faktisch mit Marburg konkurrierenden kursächsischen Universität Wittenberg die Lehre Luthers und Melanchthons. Marburg war breiter aufgestellt mit dem oberdeutsch geprägten Lambert von Avignon, dem Humanisten Adam Krafft und dem Lutheraner Erhard Schnepf. Der hessische Landgraf konnte seiner Gründung in Marburg zwar diverse Privilegien mit Bezug auf Hessen verleihen, aber nicht das Promotionsrecht, das die Anerkennung der hier verliehenen Doktorgrade in ganz Europa zur Folge hatte. Der Freiheitsbrief der Marburger Universität von 1529 erwähnte deshalb, dass die Fundation und Privilegierung durch den Kaiser angestrebt werde. Aber ab 1531 wurden in Marburg Magistergrade verliehen und so Fakten geschaffen. Im Zuge seiner Annäherung an den Kaiser erreichte Philipp, dass Karl V. die hessische Praxis 1541 durch ein „der Privilegform angenähertes kaiserliches Reskript“ nachträglich legitimierte. Das 1531 gestochene Siegel der Universität zeigt das Brustbild Philipps mit porträtähnlichen Zügen und die Jahreszahl 1527. Die Umschrift lautet: „Siegel der Marburger Universität/unter dem Schutz des um den Glauben und die Wissenschaft sehr verdienten Philipp, Herrn der Hessen“ (SIGILLVM SCHOLAE MARPVRGENSIS/PHILIPPO HESS[ORUM] D[OMIN]O DE PIETAT[E] ET LITER[IS] OPT[IME] MERITO AUSP[ICE]). Gury Schneider-Ludorff sieht die Universitätsgründung durch dieses Siegel interpretiert als eine neue, protestantische Form der Herrschermemoria. Sozialpolitik Die spätmittelalterliche Almosenfrömmigkeit war durch die Reformation in Misskredit geraten. Das Alternativmodell, dass jede Kommune ihre eigenen Armen zielgenau unterstützen sollte, war aber von der städtischen Gesellschaft her gedacht. Dörfer konnten das nicht leisten. Die Visitationen in Hessen zeigten, dass die Dorfarmen nach der Aufhebung der Klöster jegliche institutionelle Unterstützung verloren hatten. Philipp reagierte mit der Gründung von vier Einrichtungen speziell für die arme Landbevölkerung, drei davon ehemalige Klöster: Merxhausen bei Kassel und Hofheim bei Darmstadt für Frauen, Haina bei Marburg und Gronau bei Sankt Goar für Männer. Sie deckten mit ihrem jeweiligen Einzugsbereich das Territorium Hessens ab. Aufgenommen wurden Mitglieder der evangelischen Kirche, die infolge von Behinderung, Krankheit oder Alter nicht für sich selbst sorgen konnten, wenn ihnen dies von einem Pfarrer oder Verwaltungsbeamten attestiert wurde. Viele alte und kranke Ordensleute verbrachten nach der Auflösung der hessischen Klöster ihre letzten Lebensjahre in den Hospitälern. Medizinische Versorgung gab es dort kaum, doch hatte oft bereits die geregelte Versorgung mit Nahrung und Kleidung einen positiven Effekt. Auffällig gegenüber vergleichbaren städtischen Einrichtungen ist die hohe Zahl psychisch Kranker, die hier aufgenommen wurden. Der in der Klosterkirche von Haina aufgestellte Philippstein, ein Werk Philipp Soldans, vergleicht den Landgrafen Philipp mit seiner Ahnfrau Elisabeth von Thüringen, die einem Leprakranken Speise und Trank reicht. Damit legitimiert sie Philipps Hospitalstiftungen, wobei Philipp Elisabeth allerdings nicht nachahmt: „Ist die eher zufällige Versorgung einzelner Armer Modell einer vergangenen Zeit, so bietet die Einrichtung der Hospitäler die neue, in die Zeit passende Form … der Wohltätigkeit.“ Philipps Gründungen führten über die sozialpolitischen Konzepte der Reformationszeit hinaus, fanden aber keine Nachahmer im protestantischen Raum. Erst im frühen 19. Jahrhundert wurden Philipps Hospitäler aufgrund ihrer abgeschiedenen Lage mit dem psychiatrischen Konzept der Heil- und Pflegeanstalt neu interpretiert. Politik gegenüber Minderheiten Das Wiedertäufermandat des Reichstags zu Speyer verfügte am 23. April 1529 die Todesstrafe gegen Täufer. Kurfürst Johann von Sachsen holte theologische Gutachten Luthers und Melanchthons ein. Faktisch reaktivierten die Wittenberger das mittelalterliche Ketzerprozessverfahren unter reformatorischen Vorzeichen. Die Hinrichtung zahlreicher Täufer in Kursachsen war 1533 die Folge. Dass Philipp von Hessen Täufer milder bestrafte, war eine Folge seines eigenen Biblizismus: Er erkannte an, dass die Täufer biblische Argumente hatten, und der Abendmahlsstreit zwischen Zürich und Wittenberg hatte gezeigt, dass man die Bibel unterschiedlich interpretieren konnte; das war nicht todeswürdig. In Hessen ging man gegen die Täufer deshalb wegen Störung der öffentlichen Ordnung zivilrechtlich vor (Einzelfallprüfung, gegebenenfalls Ausweisung). Die militärische Niederschlagung des Täuferreichs zu Münster 1535 war aus Philipps Sicht gerechtfertigt, weil dieses Gemeinwesen die gesellschaftliche Ordnung radikal in Frage gestellt hatte. Nach dieser Erfahrung eines militanten Täufertums fragte Philipp die Praxis des Umgangs mit den Täufern bei den evangelischen Reichsstädten ab. „Die vorgeblich offene Ratsuche entpuppte sich als Konsenssuche in eigener Sache. Der Anspruch der Wittenberger Theologen und die Argumentation des kursächsischen Nachbarn wurden damit relativiert.“ Die hessische Allgemeine Reformations- und Landesordnung von 1537 übernahm aus Augsburg die Körperstrafen Brandmarken und Züchtigen, die aber in Hessen selten verhängt wurden. Die Todesstrafe gegen ausländische Täufer war möglich, wenn der Landgraf sie bestätigte – was Philipp nie tat. Mit der Ziegenhainer Kirchenzuchtordnung von 1538 versuchte er, die Täufer in die landeskirchlichen Gemeinden zu integrieren. Die Situation der Juden im Heiligen Römischen Reich war im frühen 16. Jahrhundert prekär. Ein städtisches Judentum gab es kaum noch; die jüdische Bevölkerung war in die Vorstädte oder aufs Land ausgewichen. Kursachsen hatte 1536 alle Juden aus dem Land gewiesen und ihnen auch Durchreise und Handel verboten. Als 1538 das hessische Judenschutzprivileg auslief, beauftragte Philipp Martin Bucer mit einem Gutachten zum weiteren Vorgehen. Bucer bevorzugte die Vertreibung. Für die Duldung der Juden entwarf er Regeln, die aus der Kombination des Fremdenrechts im Alten Testament mit dem römischen und kanonischen Recht gewonnen waren. Sie waren sehr restriktiv, unter anderem mit Talmudverbot und Forderung von Zwangsarbeit im Berg- und Straßenbau sowie generell niedrigsten Arbeiten (begründet mit ; die Fremdlinge sind in Bucers Interpretation die Christen). Philipp verfasste ein Schreiben an seine Räte, das auf den 23. Dezember 1538 datiert ist und rein biblisch argumentiert. Mit Berufung auf betonte er die bleibende Erwählung Israels. Bucers Hinweis auf das alttestamentliche Fremdenrecht nahm er auf, leitete aber daraus ab, dass die Christen zu einem freundlichen Verhalten gegenüber den jüdischen Fremdlingen verpflichtet seien. Obwohl Philipp hier eine relativ judenfreundliche Position bezog und als Laientheologe auch gegen Bucer verteidigte, wirkte sich das auf seine praktische Judenpolitik kaum aus. Diese war pragmatisch, auch repressiv, wenn das Vorteile versprach. „Weder ließ er besondere Menschlichkeit erkennen, noch ließ er sich zu Ausbrüchen des Hasses hinreißen, wie sie bei anderen Zeitgenossen zu beobachten sind.“ Die Hessische Judenordnung von 1539 sah keine zeitliche Begrenzung vor und gab insofern den hessischen Juden eine größere Sicherheit. Aber ihre Situation verschlechterte sich durch diese Ordnung deutlich. Ihr Gegenüber war nun nicht mehr der Landesherr, sondern die Pfarrer und Verwaltungsbeamten. Luthers Pamphlet Von den Juden und ihren Lügen, das Melanchthon dem Landgrafen schickte, hatte eine verschärfte Auslegung der Judenordnung zur Folge. Generell wirkte Luther mit seinen antijüdischen Schriften in den 1540er Jahren auf die hessische Pfarrerschaft ein. Christine Reinle beurteilt Philipps Minderheitenpolitik als „ambivalent“: vergleichsweise milde gegenüber Täufern, vorsichtig auch bei der Hexenverfolgung, habe er gegenüber Juden eine „ausnehmend repressive Politik“ betrieben. Rezeptionsgeschichte Philipp von Hessen ist eine schillernde Persönlichkeit, die gegensätzliche Beurteilungen erfahren hat. Eine Idealisierung setzte im protestantischen Raum bereits zu seinen Lebzeiten mit den Epigrammen von Helius Eobanus Hessus ein, sodann mit den Chroniken von Wigand Lauze und Wilhelm Dilich. Katholische Verfasser stellten demgegenüber Philipps Politik als destruktiv dar, etwa in der Zimmerischen Chronik. Christoph von Rommels dreibändige Biografie Philipps von Hessen (1830) ist vor dem Hintergrund der hessischen Unionsdebatte zu sehen. Von Rommel befürwortete eine Bekenntnisunion in Hessen und politisch eine kleindeutsche Lösung. Die Homberger Synode war für von Rommel das Grunddatum der hessischen Kirche und gab ihr eine presbyterial-synodale Struktur. Der Landgraf wurde idealisiert als toleranter Landesherr, der die Freiheit der christlichen Gemeinde geachtet habe und die Trennung von Lutheranern und Reformierten zu überwinden suchte. In mehreren Aufsätzen vertrat Carl Ernst Jarcke in den 1840er Jahren eine katholisch-konfessionelle Gegendarstellung zu von Rommels Biografie. Philipp sei ein reiner Machtpolitiker, religiös gleichgültig und nur auf materiellen Gewinn aus dem säkularisierten Klostergut erpicht gewesen. Leopold von Ranke legte mit der Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839–1847) einen Gesamtentwurf vor, in dem Kirchengeschichte und Nationalgeschichte verschränkt sind: Die Impulse gehen von Luther und anderen Reformatoren aus. Die protestantischen Fürsten setzen sie administrativ und politisch-militärisch um, und hier hat Philipp von Hessen eine bedeutende Rolle. Die Homberger Synode war für den Monarchisten von Ranke der zum Scheitern verurteilte Versuch, demokratische Ansätze westeuropäischer Kirchentümer in Deutschland umzusetzen, wo die Reformation von der Obrigkeit und nicht vom Volke ausgegangen sei. Friedrich Wilhelm Haßenkamp verfasste eine zweibändige, dezidiert Hessische Kirchengeschichte im Zeitalter der Reformation (1852), da seiner Ansicht nach die bisherige Reformationsgeschichtsschreibung zu stark sächsisch dominiert war. Das bedeutete eine Aufwertung Melanchthons, den Haßencamp in enger Kooperation mit dem Landgrafen sah. Als die evangelischen Kirchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Körperschaften öffentlichen Rechts wurden und um ihre konfessionelle Ausrichtung gestritten wurde, nahmen sowohl der Lutheraner August Vilmar (Geschichte des Konfessionsstands der evangelischen Kirche in Hessen, 1860) als auch der Reformierte Heinrich Heppe (Kirchengeschichte beider Hessen, 1876) den Landgrafen für ihre konfessionelle Tradition in Anspruch. Nachdem Preußen das Kurfürstentum Hessen 1866 annektiert hatte, setzte eine Aneignung der hessischen Geschichte in preußisch-deutschen Konzepten der Reformations- und Nationalgeschichte ein. Im Kaiserreich wurde Landgraf Philipp deshalb sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Bild- und Denkmalkultur oft thematisiert. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Quellen im Marburger Archiv erschlossen, darunter das Politische Archiv des Landgrafen. Walther Sohm erarbeitete auf dieser Grundlage die Bedeutung Philipps für die Entstehung des hessischen Territorialstaats (Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte, 1915). Dieser Trend setzte sich nach 1945 weiter fort: „der Aufschwung der Territorialgeschichtsforschung und das Absinken des Interesses an den Fürsten auf die Ebene der Landesgeschichte.“ In der hessischen Geschichtsschreibung (Karl Ernst Demandt, Walter Heinemeyer) hielt sich insgesamt ein positives Bild des Landgrafen als politisch hoch begabter Führungspersönlichkeit des Protestantismus und Gegenspieler Karls V. – seine politischen Leistungen überstrahlen problematische Verhaltensweisen, etwa in den Packschen Händeln. Seit den 1980er Jahren ist ein größeres Interesse an Philipp von Hessen und anderen Vertretern der Fürstenreformation zu beobachten, insbesondere an den „Kontinuitäten des reformatorischen Agierens zum spätmittelalterlichen Handlungsrepertoire.“ Inge Auerbach etwa bescheinigt Philipp, dass die Autorität von Kaiser, Recht und Reichsverfassung für sein politisches Handeln nachrangig gewesen seien; er habe wie andere Reichsfürsten reine Machtpolitik im Rahmen des mittelalterlichen Wertesystems einer „Fehde- und Gefälligkeitsgesellschaft“ betrieben: Expansion (durch Erbschaft, gütlichen Vergleich oder Eroberung) – und dann Absicherung des Erreichten. Philipp wird heute konsensual nicht mehr als wichtigster Kontrahent des Kaisers gesehen. Sein relativ niedriger Rang unter den Fürsten und die begrenzten Ressourcen Hessens ließen eine Totalopposition gegen Karl V. nicht zu. Die Annäherung an den Kaiser war folglich keine Kehrtwende, um nach der Ehe mit Margarethe von der Saale 1540 der auf Bigamie stehenden Todesstrafe zu entgehen. Sie setzte früher ein, diente der Absicherung territorialpolitischer Erfolge und ermöglichte es Philipp, anders als Johann Friedrich von Sachsen, nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 Territorium und Titel zu bewahren. Philipps permissiver Lebenswandel fand Mitte des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit im damals noch jungen Medizinfach der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dessen Begründer, Hermann Stutte (1909–1982), mutmaßte 1952, Philipps Verhältnis zu Frauen sei durch Frustrationserlebnisse nach dem frühen Verlust des Vaters durch seine, wie Stutte unterstellte, gefühlskalte Mutter wesentlich beeinflusst wurden. Zugleich glaubte derselbe Autor, bei Philipp einen Fall von Triorchie (dreifache Ausbildung von Hoden) diagnostizieren zu können. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahm sich der Marburger Anatom und Medizinhistoriker Gerhard Aumüller erneut des Themas an und widersprach vehement der These, Philipps libidinöses Verhalten könnte eine körperliche Ursache gehabt haben. Insbesondere wies er die Behauptung, Philipp habe eine Triorchie gehabt, als Fehldiagnose zurück. Inwieweit andererseits die angeblich „egozentrisch-machtgierige“ Mutter wirklich einen so negativen Einfluss auf die Entwicklung ihres Sohnes hatte, wie Stutte und andere unterstellen, lässt sich ohnehin im Nachhinein kaum klären, weil ja gerade in der sensiblen Phase der Kindheit eine ganze Reihe von Erziehern am Werk war. Quellen Friedrich Küch, Walter Heinemeyer (Hrsg.): Politisches Archiv des Landgrafen Philipp des Großmüthigen von Hessen, Inventar der Bestände. Band 1: Landgräfliche Personalien. Allgemeine Abteilung (= Publikationen aus den K. Preussischen Staatsarchiven. Band 78). Hirzel, Leipzig 1904 (Digitalisat). Band 2: Staatenabteilungen (= Publikationen aus den K. Preussischen Staatsarchiven. Band 85). Hirzel, Leipzig 1910 (Digitalisat). Band 3: Staatenabteilungen Oldenburg bis Würzburg (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck. Band 24.1). Elwert, Marburg 1954 (Digitalisat). Band 4: Nachträge und Gesamtindex (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck. Band 24.2). Elwert, Marburg 1959 (Digitalisat). Literatur Monographien Richard Andrew Cahill: Philipp of Hesse and the Reformation (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Band 180). Von Zabern, Mainz 2001, ISBN 3-8053-2871-0. Endet mit der Gründung der Universität Marburg 1527. Alfred Kohler: Antihabsburgische Politik in der Epoche Karls V.: Die reichsständische Opposition gegen die Wahl Ferdinands I. zum römischen König und gegen die Anerkennung seine Königstums (1524–1534) (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 19). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-35916-0 (Digitalisat). Friedrich Krapf: Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und die Religionskämpfe im Bistum Münster 1532–1536. Marburg 1951 (Neuauflage 1997), ISBN 3-7708-1087-2 (Digitalisat). Kersten Krüger: Finanzstaat Hessen. 1500–1567. Staatsbildung im Übergang vom Domänenstaat zum Steuerstaat. Marburg 1980, ISBN 3-7708-0698-0 (Digitalisat). Jan Martin Lies: Zwischen Krieg und Frieden. Die politischen Beziehungen Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg (1534–1541) (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Band 231). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, ISBN 978-3-666-10116-8 (Open Access). Jean-Yves Mariotte: Philipp der Großmütige von Hessen (1504–1567): Fürstlicher Reformator und Landgraf (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Band 24/10). Elwert, Marburg 2018, ISBN 978-3-942225-40-3 (Französisches Original: Philippe de Hesse (1504–1567): le premier prince protestant. Champion, Paris 2008).Zusammenfassung älterer Literatur; die im Kontext des Jubiläumsjahrs 2004 erschienenen Beiträge wurden nicht mehr berücksichtigt. Gury Schneider-Ludorff: Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim. EVA, Leipzig 2006, ISBN 978-3-374-02395-0. Sammelbände Inge Auerbach (Hrsg.): Reformation und Landesherrschaft. Vorträge des Kongresses anlässlich des 500. Geburtstages des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen vom 10. bis 13. November 2004 in Marburg (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Band 24/9). Elwert, Marburg 2005, ISBN 3-7708-1283-2 (Digitalisat). Ursula Braasch-Schwersmann, Hans Schneider, Wilhelm Ernst Winterhager (Hrsg.): Landgraf Philipp der Großmütige 1504–1567: Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen. Schmidt, Neustadt an der Aisch 2004, ISBN 3-87707-630-0. Heide Wunder, Christina Vanja, Berthold Hinz (Hrsg.): Landgraf Philipp der Großmütige und seine Residenz Kassel: Ergebnisse des interdisziplinären Symposiums der Universität Kassel zum 500. Geburtstag des Landgrafen Philipp von Hessen (17. bis 18. Juni 2004). Elwert, Marburg 2004, ISBN 3-7708-1267-0 (Digitalisat). Artikel Inge Auerbach (Hrsg.): Reformation und Landesherrschaft (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Band 24,9 = Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landgrafen Philipp des Großmütigen. Band 9). Elwert, Marburg 2005, ISBN 3-7708-1283-2, enthält unter anderem: Inge Auerbach: Macht und Glauben. Grundprinzipien der Außenpolitik Philipps des Großmütigen am Beispiel Ostmitteleuropas bis zum Frieden von Kaaden. S. 231–332. Kersten Krüger: Die Konsolidierung des hessischen Territorialstaats 1552–1567. S. 139–144. Bernd Moeller: Hessen in Deutschland um 1500. S. 1–15. Hans Schneider: „Das heißt eine neue Kirche bauen“. Die Formierung einer evangelischen Landeskirche in Hessen. S. 73–100. Fritz Wolff: Dynastie und Territorium (bis ca. 1550). S. 17–30. Ursula Braasch-Schwersmann, Hans Schneider, Wilhelm Ernst Winterhager (Hrsg.): Landgraf Philipp der Großmütige 1504–1567: Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen. Schmidt, Neustadt an der Aisch 2004, ISBN 3-87707-630-0, enthält unter anderem: Elmar Brohl: Kein anderer Trost als Gott und meine Festungen. Landgraf Philipps Festungsbau. S. 93–103. Horst Carl: Hessen und seine Nachbarn. Selbstbehauptung und Erfolge bis zu Philipps frühen Regierungsjahren. S. 37–48. Thomas Fuchs: Kindheit und Jugend in unruhiger Zeit. S. 23–30. Gabriele Haug-Moritz: Philipp und der Schmalkaldische Bund 1530/31–1547. S. 59–66. Günter Hollenberg: Von Ständeopposition und Bauernkrieg zur gefestigten Landesherrschaft: Philipp und die Staatswerdung Hessens im 16. Jahrhundert. S. 67–78. Fritz Wolff: Der gefangene Landgraf. Der Weg in die Gefangenschaft. S. 123–137. Cornelis Augustijn: Ein fürstlicher Theologe. Landgraf Philipp von Hessen über Juden in einer christlichen Gesellschaft. In: Zwingliana 19/2 (1993), S. 1–11 (PDF). Wolfgang Breul, Holger Th. Gräf: Fürst, Reformation, Land – Aktuelle Forschungen zu Landgraf Philipp von Hessen. In: Archiv für Reformationsgeschichte 98 (2007), S. 274–300. Eckhart G. Franz: Landgraf Philipp der Großmütige: Fürst, Staat und Kirche im Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 109 (2004), S. 1–12. Holger Th. Gräf, Anke Stößer: Philipp der Großmütige, Landgraf von Hessen (1504–1567). Eine Bibliographie zu Person und Territorium im Reformationszeitalter (= Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte. Band 20). Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Marburg 2004, ISBN 3-921254-90-6 (Digitalisat). Walter Heinemeyer: Landgraf Philipps des Großmütigen Weg in die Politik. In: Ders.: Philipp der Großmütige und die Reformation in Hessen. Gesammelte Aufsätze zur hessischen Reformationsgeschichte (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck. Band 24,7 = Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landgrafen Philipp des Großmütigen. Band 7). Herausgegeben von Hans-Peter Lachmann, Hans Schneider, Fritz Wolff. Elwert, Marburg 1997, ISBN 978-3-86354-100-2, S. 1–16. Berthold Hinz: Die Ikonographie Philipps von Hessen. In: Heide Wunder, Christina Vanja, Berthold Hinz (Hrsg.): Landgraf Philipp der Großmütige und seine Residenz Kassel (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Band 24,8 = Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landgrafen Philipp des Großmütigen. Band 8). Elwert, Marburg 2004, ISBN 3-7708-1267-0, S. 3–26. Herbert Kemler: Philipp der Großmütige: Landgraf – Reformator – Bigamist. In: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 56 (2005), S. 43–54. Pauline Puppel: Der junge Philipp von Hessen. In: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 110 (2005), S. 49–62. Christine Reinle: Reformation als Zäsur? Landesherr, Kirche und religiöse Praxis (ca. 1450–1550), 2. Die Landgrafschaft Hessen. In: Werner Freitag, Michael Kißener, Christine Reinle, Sabine Ullmann (Hrsg.): Handbuch Landesgeschichte. De Gruyter, Berlin/Boston 2018, ISBN 978-3-11-035411-9, S. 505–525. Tina Sabine Römer: Der Landgraf im Spagat? Die hessische Landesteilung 1567 und die Testamente Philipps des Großmütigen. In: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 109 (2004), S. 31–49. Georg Schmidt: Gefangen vor der Gefangenschaft? Landgraf Philipp und der Regensburger Geheimvertrag von 1541. In: Walter Heinemeyer (Hrsg.): Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen 1897–1997. Teil 1. Elwert, Marburg 1997, ISBN 3-7708-1083-X, S. 463–480. Georg Schmidt: Der Kampf um Kursachsen, Luthertum und Reichsverfassung (1546–1553) – Ein deutscher Freiheitskrieg? In: Volker Leppin, Georg Schmidt, Sabine Wefers (Hrsg.): Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Band 204). Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006, ISBN 978-3-579-01729-7, S. 55–84. Christina Vanja: Die Hohen Hospitäler Landgraf Philipps als neue ‚caritas‘. In: Heide Wunder, Christina Vanja, Berthold Hinz (Hrsg.): Landgraf Philipp der Großmütige und seine Residenz Kassel. Elwert, Marburg 2004, ISBN 3-7708-1267-0, S. 207–220. Wilhelm Ernst Winterhager: Entscheidung in Heidelberg? Zur reformatorischen Wendung Landgraf Philipps von Hessen 1524, in: Mehr als Stadt, Land, Fluss. FS für Ursula Braasch-Schwersmann, hg. von Lutz Vogel, Ulrich Ritzerfeld, Melanie Müller-Bering, Holger Th. Gräf, Stefan Aumann, Neustadt/Aisch 2020, S. 153–156. Weblinks Anmerkungen Landgraf (Hessen) Person (Marburg) Familienmitglied des Hauses Hessen Reformator Namensgeber für eine Universität Person um Martin Luther Person des Christentums (Hessen) Person im Schmalkaldischen Krieg Person im Deutschen Bauernkrieg Geboren 1504 Gestorben 1567 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Anton%20Pawlowitsch%20Tschechow
Anton Pawlowitsch Tschechow
Anton Pawlowitsch Tschechow [] ( (), wissenschaftliche Transliteration ; in englischen Texten auch Chekhov; * in Taganrog, Russland; † in Badenweiler, Deutsches Reich) war ein russischer Schriftsteller, Novellist und Dramatiker. Er entstammte einer kleinbürgerlichen südrussischen Familie und war ab 1884 Arzt von Beruf, betrieb Medizin jedoch fast ausschließlich ehrenamtlich. Gleichzeitig schrieb und publizierte er zwischen 1880 und 1903 insgesamt über 600 literarische Werke. International ist Tschechow vor allem als Dramatiker durch seine Theaterstücke wie Drei Schwestern, Die Möwe oder Der Kirschgarten bekannt. Mit der für ihn typischen, wertneutralen und zurückhaltenden Art, Aspekte aus dem Leben und der Denkweise der Menschen in der russischen Provinz darzustellen, gilt Tschechow als einer der bedeutendsten Autoren der russischen Literatur. Leben Kindheit und Jugend Anton Tschechow wurde am 29. Januar 1860 in der südrussischen Hafenstadt Taganrog am Asowschen Meer geboren. Sein Vater, Pawel Jegorowitsch Tschechow (1825–1898), war Sohn eines ehemaligen leibeigenen Bauern aus dem Gouvernement Woronesch und betrieb als Kaufmann einen kleinen Billigwarenladen in Taganrog. Ebenfalls aus einer ehemals leibeigenen Bauernfamilie stammte Tschechows Mutter, Jewgenija Jakowlewna Tschechowa (geborene Morosowa; 1835–1919). Die Eheleute zogen insgesamt sechs Kinder groß: Neben Anton waren es die Söhne Alexander (1855–1913), Nikolai (1858–1889), Iwan (1861–1922) und Michail (1865–1936) sowie die Tochter Marija (1863–1957). Der Kaufmannstitel des Vaters konnte nicht über die äußerst bescheidenen Umsätze seines Ladens hinwegtäuschen, was nicht zuletzt an der mangelnden Geschäftstüchtigkeit von Pawel Jegorowitsch lag, aber auch an der allgemein schlechten wirtschaftlichen Situation Taganrogs, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine einstige Bedeutung als Seehafen aufgrund der Versandung der Bucht merklich verloren hatte. Folglich wuchsen die Tschechow-Geschwister in armen und beengten Verhältnissen auf. Die Brüder einschließlich Anton hatten schon früh im Laden auszuhelfen; hinzu kam die strenge Religiosität und die musikalische Begeisterung des von Tschechow später vielfach als despotisch und autoritär beschriebenen Vaters, der seine Söhne zu täglichen Gesangsstunden in einem Kirchenchor zwang. Die Familie lebte zunächst in einem kleinen Haus in der Polizeiskaja uliza („Polizeistraße“) in Taganrog. Trotz der bedrückenden finanziellen Situation legten Tschechows Eltern Wert darauf, ihren Kindern eine solide Allgemeinbildung zu ermöglichen: Mit acht Jahren wurde Anton in die Vorbereitungsklasse des Zweiten Taganroger Jungengymnasiums eingewiesen, das er dann von 1869 bis zum Abschluss 1879 besuchte. Insgesamt zeigte sich Anton dort als eher durchschnittlicher Schüler, der sogar zweimal (nämlich in der dritten und in der fünften Klasse) sitzen geblieben war. Dieser Umstand erscheint jedoch angesichts der systematischen Belastung der Brüder, die in unterrichtsfreier Zeit im Chor singen und in Vaters Laden arbeiten mussten, aber auch angesichts der äußerst autoritären Lehr- und Erziehungsmethoden an den Schulen im Russischen Kaiserreich der damaligen Zeit als wenig überraschend. Schon als Gymnasiast zeigte Anton Tschechow, der sonst eher als zurückhaltend und reserviert galt, einen ausgeprägten Humor und viel Interesse an Schauspielerei und Literatur. So erwarb er sich in der Schule wegen seiner satirischen Kommentare und Unarten sowie der Fähigkeit, die Lehrer mit humorvollen Spitznamen zu bezeichnen, den Ruf eines Schelms. In den wenigen freien Stunden, die den Tschechow-Geschwistern zur Verfügung standen, pflegten die Brüder diverse Vorstellungen des Taganroger Stadttheaters zu besuchen und versuchten oft, zu Hause auf einer selbst konstruierten Bühne lustige Amateurstücke zu inszenieren. Ab 1877 war Anton außerdem regelmäßiger Gast in der kurz zuvor eingerichteten öffentlichen Bibliothek in Taganrog. 1869 zog die Tschechow-Familie in ein neues Haus in der Monastyrskaja uliza („Klosterstraße“). Der schlecht kalkulierte Hauskauf durch Tschechows Vater und die stetig sinkenden Ladenumsätze verschärften dessen finanzielle Probleme in den nachfolgenden Jahren so sehr, dass er im Frühjahr 1876 mit seinem Laden einen Bankrott anmelden musste. Da dies zur damaligen Zeit eine drohende Inhaftierung bedeutete, blieb Pawel Jegorowitsch nichts anderes übrig, als den Laden aufzugeben und heimlich nach Moskau zu fliehen, wo sich seit Sommer 1875 bereits Alexander und Nikolai aufhielten. Wenige Monate später folgte ihm die Mutter mit den beiden jüngsten Kindern, während Anton und Iwan weiterhin aufs Taganroger Gymnasium zu gehen hatten. Ab dieser Zeit war Anton faktisch auf sich selbst angewiesen, denn die Tschechow-Familie hatte in Moskau zunächst keine regelmäßigen Einkünfte und war bitterer Armut ausgesetzt. Das Haus in Taganrog ging an einen der Gläubiger, Anton mietete dort lediglich eine Ecke zum Wohnen, Iwan fand vorläufig bei einer Tante Unterkunft, bis er im Herbst 1876 ebenfalls nach Moskau fortzog. Anton, der hartnäckig dem Abitur entgegenstrebte, blieb alleine zurück und hielt sich mit Verdiensten aus Nachhilfestunden sowie mit Ausverkauf des verbliebenen elterlichen Hausrats über Wasser; zudem schickte er einen Teil dieser dürftigen Einkünfte seiner Familie nach Moskau. Jahre später äußerte er sich, mit erkennbarem Bezug auf seine Kindheit und Jugend sowie auf sein ungewollt frühes Erwachsenwerden, in einem Brief an seinen langjährigen Verleger Suworin wie folgt: Nach dem Abitur 1879 wurde Tschechow von der Taganroger Stadtverwaltung ein Stipendium von 25 Rubel im Monat bewilligt und er reiste daraufhin gemeinsam mit zwei Schulkameraden nach Moskau, um dort – wie er sich schon lange zuvor vorgenommen hatte – ein Medizinstudium aufzunehmen. Studium und literarische Anfänge Tschechows Laufbahn an der Kaiserlichen Moskauer Universität, an deren medizinischer Fakultät er sich kurz nach Ankunft in Moskau einschreiben ließ, dauerte von September 1879 bis zum erfolgreichen Abschluss im Sommer 1884. Die siebenköpfige Familie Tschechow wechselte in dieser Zeit mehrfach die Wohnung und musste sich insbesondere in den ersten Monaten mit überaus beengten Wohnverhältnissen zufriedengeben, was Anton immense Schwierigkeiten bei der Prüfungsvorbereitung brachte. Diese wurden noch dadurch verschärft, dass er sich schon seit seinen frühen Studienjahren dem Schreiben widmete, das sich angesichts der Armut, in der die Familie leben musste, dann auch als eine wichtige Einnahmequelle erwiesen hatte. Die Anfänge Tschechows als Autor gehen auf seine Taganroger Zeit zurück: Bereits als Jugendlicher versuchte er, kurze Miniaturen, Parodien und Anekdoten sowie possenhafte und witzige Geschichten zu schreiben. Über den älteren Bruder Alexander, der zu jener Zeit in Moskau lebte und sich dort ebenfalls als Gelegenheitsautor in humoristischen Zeitungen und Zeitschriften versuchte, schickte Anton einige dieser Miniaturen (von denen keine erhalten ist) an diverse Moskauer Redaktionen, zunächst jedoch ohne Erfolg. Um 1878 verfasste Tschechow erstmals auch ein Bühnenstück, das den Titel Vaterlos erhalten sollte und der von Tschechow hoch verehrten Star-Schauspielerin Marija Jermolowa gewidmet war. Auch dieses Stück fand trotz intensiver nachträglicher Überarbeitungen keinen Zuspruch in Moskau und galt seitdem als vernichtet; erst 1920 wurde es als Manuskript ohne Titel entdeckt und 1923 erstmals veröffentlicht (im Ausland erlangte dieses Stück seither als Platonow Bekanntheit). Tschechow selbst bezeichnete später in seinen Briefen mehrfach den Zeitraum zwischen 1878 und 1880 als Beginn seiner eigentlichen schriftstellerischen Tätigkeit, konnte allerdings keine genaueren Zeitangaben machen. Die ersten noch heute erhaltenen Tschechowschen Publikationen stammen aus dem Jahr 1880, als es Anton nach etlichen erfolglosen Versuchen schließlich gelang, zehn humoristische Kurzgeschichten und Miniaturen in der Sankt Petersburger Zeitschrift Strekosa (zu deutsch „Libelle“) zu veröffentlichen. 1881 und 1882 folgten ähnliche Publikationen in zahlreichen mehr oder weniger bekannten Humor- und Satireheften, darunter den Zeitschriften Budilnik („Der Wecker“), Sritel („Zuschauer“), Moskwa („Moskau“) und Swet i teni („Licht und Schatten“). Über die schwierigen Umstände, unter denen Tschechow seine Frühwerke schuf, geben einige Briefe aus der frühen Studienzeit des Autors Aufschluss. So schrieb er im August 1883 in einem Begleitbrief zu Kurzerzählungen für eine Zeitschrift an den Redakteur: Der halb scherzhafte, selbstironische Ton, den Tschechow in diesem Schreiben anschlägt, ist für den Großteil seiner Briefe sowohl aus der Studienzeit als auch aus den späteren Jahren charakteristisch. Nicht nur die Wohnsituation und allgemein die ärmlichen Verhältnisse erschwerten die Arbeit; hinzu kamen die oft schlechte Zahlungsmoral der Zeitungsredakteure, redaktionelle Vorgaben (bei der Zeitschrift Oskolki („Splitter“) z. B. waren nicht mehr als 100 Zeilen pro Geschichte erlaubt) und nicht zuletzt die staatliche Zensur. Letztere nahm in Russland gerade in den 1880er-Jahren nach der Ermordung des Zaren Alexander II. eine äußerst strenge und oft willkürliche Selektion aller für eine Publikation in der Presse vorgesehenen Texte vor. So scheiterte etwa das erste gedruckte Buch Tschechows, die 1882 angefertigte Erzählungssammlung Schelmerei (russisch ), an der Zensur und gilt seitdem als verschollen. Obwohl er alle Prüfungen ordentlich ablegte und innerhalb der vorgegebenen fünf Jahre das Arztdiplom erlangte, galt Tschechow als ein eher durchschnittlicher, wenig strebsamer Student. Trotz seiner ausgeprägten Begeisterung für Medizin und die Naturwissenschaften im Allgemeinen – sein Gefallen an den Lehren Darwins etwa betonte Tschechow in einem Brief von 1886, und gegen Ende seines Studiums plante er ernsthaft, eine wissenschaftliche Forschungsarbeit über die Geschichte der Geschlechterordnung in der Natur zu schreiben – blieb die Autorentätigkeit, die im Gegensatz zur Medizin finanziell etwas einbrachte, auch während des Studiums sein Hauptanliegen. Bis zu seiner Zulassung als Arzt im September 1884 gelang es ihm, unter mehreren Pseudonymen (darunter seinem bekanntesten Autorenpseudonym „Antoscha Tschechonté“, wie er zur Schulzeit von einem Lehrer abfällig genannt wurde, ferner Fantasienamen wie „Bruder des Bruders“, „Mensch ohne Milz“ oder „Junger Greis“) insgesamt über 200 Erzählungen, Feuilletons und Humoresken in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen. Einige in dieser Zeit geschriebene Erzählungen gehören auch heute noch zu seinen bekanntesten Werken, etwa die satirisch geprägten Kurzgeschichten Der Tod des Beamten, Auf See, Die Tochter Albions, Der Dicke und der Dünne (alle 1883) oder Chirurgie, Eine schreckliche Nacht bzw. Ein Chamäleon (alle 1884). Im Sommer 1884 erschien mit den Märchen der Melpomene (russisch ) Tschechows erstes (publiziertes) Buch, eine Sammlung von sechs Erzählungen. Intensive Schaffensphase (1884–1889) Im Juni 1884 schloss Tschechow das Medizinstudium ab. Den Sommer verbrachte die Familie in der geräumigen Dienstwohnung des Bruders Iwan in Woskressensk bei Moskau (heute Istra), wo dieser als Lehrer tätig war. Dort nahm Anton Tschechow sogleich die praktische Arzttätigkeit auf: Er empfing Patienten im dortigen Dorfkrankenhaus sowie im Semstwo-Krankenhaus des nahe gelegenen Städtchens Swenigorod, beteiligte sich zudem an gerichtsmedizinischen Untersuchungen und führte Obduktionen durch. Die Arbeit mit den Patienten verrichtete Tschechow dabei faktisch ehrenamtlich, da nur die wenigsten von ihnen in der Lage waren, die Behandlung angemessen zu bezahlen und Tschechow, der seine literarische Tätigkeit anstatt der Arztarbeit als seine Haupteinnahmequelle betrachtete, darüber meist hinwegsah. Dies änderte sich auch in späteren Jahren nicht, als die Tschechow-Familie auf ein eigenes Landgut gezogen war und Anton Tschechow dort Bauern behandelte. Außerhalb der Sommermonate, wenn die Tschechows ihre Moskauer Wohnung nutzten, behandelte Anton gern die zahlreichen Bekannten und Verwandten der Familie. Hierzu schrieb er in einem Brief an seinen Onkel, wiederum im gewohnten ironischen Stil: „Ich behandle noch und noch. Jeden Tag muss ich über einen Rubel für Fahrten mit der Kutsche auslegen. Ich habe viele Freunde, darum auch viele Patienten“, und weiter über die nicht zum Besten stehende Zahlungsmoral der Patienten: „Die Hälfte davon behandle ich umsonst. Die andere zahlt mal fünf, mal drei Rubel pro Krankenbesuch“. Die Arbeit als Arzt war es aber auch, die Tschechow viel Stoff für seine Erzählungen zu liefern vermochte, und gerade in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre schrieb er besonders intensiv: So wurden allein im Jahr 1885 insgesamt 133 Texte von ihm abgedruckt, 1886 waren es 112 und 1887 immerhin 64. Die meisten Erzählungen schrieb Tschechow weiterhin unter Pseudonymen. Dies begann sich erst zu ändern, nachdem Tschechow, der sich mittlerweile einer gewissen Popularität in Literaturkreisen erfreuen konnte (immerhin durfte er seit April 1885 in der renommierten Zeitung Peterburgskaja Gaseta publizieren), im Dezember 1885 auf Einladung der Oskolki-Redaktion erstmals in seinem Leben zu einem Besuch in der Hauptstadt Sankt Petersburg aufgebrochen war. Dort machte er unter anderem Bekanntschaft mit dem einflussreichen Verleger Alexei Suworin, der ihm wenig später eine Zusammenarbeit zu attraktiveren Konditionen anbot. Gleichzeitig lernte Tschechow den damals berühmten Romancier Dmitri Grigorowitsch kennen, der Tschechow ausdrücklich lobte und ihm ein herausragendes Talent bescheinigte. Grigorowitsch, der zu jener Zeit eine hohe Autorität in russischen Literaturkreisen besaß und dessen Meinung Tschechow viel bedeutete, legte ihm einige Monate später in einem Brief nahe, die Pseudonyme abzulegen, und Tschechow folgte allmählich diesem Rat: Ab 1886 arbeitete er mit Suworin eng zusammen und veröffentlichte viele seiner neuen Erzählungen in der von Suworin geführten Zeitung Nowoje wremja („Neue Zeit“), damals einem der auflagenstärksten Blätter landesweit, unter eigenem Namen. Einen Teil seiner neuen Erzählungen publizierte Tschechow auch in der gemäßigt liberalen Monatsschrift Russkaja Mysl („Der russische Gedanke“). In den Jahren 1885 bis 1887 lebten die Tschechows in den Sommermonaten auf dem Landgut Babkino nahe Woskressensk, das einer befreundeten Familie gehörte. Später hielt Tschechows Bruder Michail in seinen Erinnerungen fest, dass die landschaftliche Schönheit der Umgebung von Babkino, wo es sich hervorragend angeln und Pilze sammeln ließ, maßgebend gewesen sein muss für die Blütezeit des Schaffens von Anton. Insbesondere konnte Tschechow dort etliche Sujets für seine künftigen Werke gewinnen. Dies gilt beispielsweise für Erzählungen wie Die Aalraupe, Im Alter, Der Jäger (alle 1885), Die Hexe (1886) oder Wolodja (1887), deren Handlungen in eine ähnliche Landschaft eingebunden sind. Dabei schrieb Tschechow längst nicht nur humoristische Texte, sondern zunehmend auch Erzählungen, in denen durchaus ernste oder gar dramatische Themen verarbeitet wurden. Vereinzelt wurden – wie es für spätere Tschechow-Werke typisch ist – gesellschaftliche Probleme der russischen Provinz gestaltet. Zu solchen dramatischen Tschechow-Erzählungen der späten 1880er-Jahre gehören Werke wie Anjuta, Aufregende Erlebnisse, Durcheinander, Ein Glücklicher, Ein bekannter Herr, Im Gerichtssaal, Das Mißgeschick, Die Seelenmesse, Im Sumpf, Schwere Naturen, Zeitvertreib (alle 1886) oder Typhus bzw. Das alte Haus (1887). Weitere Themen lieferte Tschechows Reise in seine Heimat, die er im Frühjahr 1887 unternahm. Er besuchte Verwandte in Taganrog, Nowotscherkassk und anderen südrussischen Orten. Dabei reiste er durch die von Steppe geprägten Landschaften am Don und am Asowschen Meer. Später beklagte er die bedrückende Rückständigkeit und Kulturlosigkeit dieser Region, ließ sich jedoch von der Naturschönheit dieser weitläufigen Ebenen inspirieren. So entstand die 1888 veröffentlichte Novelle Die Steppe, eine mit großer Sprachkraft gestaltete, authentische Landschaftsbeschreibung. Ähnliches gilt für die 1887 erschienene Kurzerzählung Glück. Reise nach Sachalin Gegen Ende der 1880er Jahre ließ die literarische Produktivität Tschechows merklich nach. Im Februar 1888 schrieb er in einem Brief: „‚Die Steppe‘ hat mich soviel Saft und Energie gekostet, dass ich mich noch lange nicht wieder an etwas Ernsthaftes werde machen können.“ 1888 und 1889 veröffentlichte Tschechow nur knapp zwei Dutzend Erzählungen, Novellen (darunter Der Namenstag und Langweilige Geschichte) und Bühnenstücke (so die beiden Einakter Der Bär und Der Heiratsantrag). Zwar konnte er seine Familie dank zunehmender Popularität und steigender Auflagen aus der Armut befreien, doch die schriftstellerische Arbeit wurde nun durch Redaktion und Korrekturlesen eigener Sammelbände beeinträchtigt. Im Sommer 1889 mieteten die Tschechows ein Landgut nahe der Stadt Sumy in der heutigen Ukraine. Auch dort ging die literarische Arbeit eher schleppend voran. Behindert wurde sie zusätzlich durch den frühen Tod des älteren Bruders Nikolai, der im Juni 1889 an einer schnell fortschreitenden Tuberkulose starb. Die Bekanntschaft mit den Vorlesungsmaterialien seines jüngeren Bruders Michail, der damals Jura studierte, zum Strafrecht und zum Gefängniswesen des Russischen Reichs animierte Tschechow Ende 1889, nach Sibirien und auf die Pazifik-Insel Sachalin im äußersten Fernen Osten Russlands zu reisen, um über die Zwangsarbeit (Katorga) in der als Gefangeneninsel geltenden, extrem abgelegenen Provinz zu berichten. Anfang 1890 studierte er intensiv wissenschaftliche Publikationen über Sachalin und bereitete sich auf die Reise vor, für die er ein halbes Jahr eingeplant hatte. Jegliche Versuche seitens der Angehörigen und Bekannten, ihn von dieser Reise abzuhalten, wies Tschechow zurück. In einem Brief an Suworin etwa äußerte er unter anderem: Am 21. April trat Tschechow die Reise an, zunächst mit der Eisenbahn bis Jaroslawl, von dort mit dem Flussdampfer nach Perm und weiter vornehmlich mit Pferdekutschen über den Ural, Westsibirien, Tomsk und Krasnojarsk bis zum Baikalsee und zum Amur-Fluss, von dort wieder per Schiff bis zur Nordküste Sachalins. Insgesamt dauerte die Hinreise knapp drei Monate und führte auf der Strecke zwischen dem Ural und dem Baikalsee oft durch schwer passierbare Gebirgsstraßen oder mit Frühjahrshochwasser überschwemmte Landverbindungen. Die vielen Briefe, die Tschechow während dieser strapaziösen Reise an die Angehörigen und Freunde schickte, dokumentieren diesen Weg. Vielfach bewunderte Tschechow darin die landschaftliche Schönheit Sibiriens und des Fernen Ostens sowie den freien Geist der Einheimischen, beklagte aber auch die dortige Armut und Rückständigkeit. Auf Sachalin hielt sich der Autor drei Monate lang auf, von Juli bis Oktober 1890. Er besichtigte sämtliche Gefängnisse (mit Ausnahme von Anstalten für politische Inhaftierte, zu denen ihm die Inselverwaltung keinen Zutritt gewährte), behandelte nach Möglichkeit die Kranken und erfasste alle Inselbewohner (damals rund 10.000 Menschen) im Rahmen einer Volkszählung. Im September resümierte er über seine Arbeit auf dem nördlichen Teil der Insel: Die Rückreise per Schiff über den Pazifik, den Indischen Ozean, mit einem Zwischenaufenthalt auf Ceylon („Hier, im Paradies, legte ich mehr als hundert Werst mit der Eisenbahn zurück und sah mich an Palmenwäldern und bronzefarbenen Frauen satt“), durch den Sueskanal, über das Mittelmeer und das Schwarze Meer, dauerte gut anderthalb Monate. Seine Eindrücke verarbeitete Tschechow in der Erzählung Gussew (1890), die zum Teil noch auf dem Schiff entstand. Anfang Dezember 1890 kam Tschechow in Moskau an. Die Erlebnisse auf Sachalin, das Tschechow im Nachhinein „die wahre Hölle“ nannte, schrieb er später im 1893 fertiggestellten Sachbuch Die Insel Sachalin nieder, welches auf erschütternde Weise das klägliche Leben von Ausgegrenzten im Zarenreich schildert. Das Buch, in dem unter anderem von Züchtigung der Häftlinge, Korruption und Kinderprostitution als allgegenwärtige Erscheinungen der Katorga die Rede ist, sorgte im Russischen Reich schon kurz nach der Veröffentlichung für Aufsehen und bewirkte, dass das Justizministerium zur Aufklärung der gröbsten Missstände eine Untersuchungskommission nach Sachalin schickte. Rezeption Ausstellung Anton Tschechows Reise nach Sachalin: September 2014 bis Januar 2015: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Staatliches Literaturmuseum der Russischen Föderation; unter anderem 100 bisher nicht öffentlich ausgestellte Originalfotografien. Januar/Februar 2015: Kunstpalais Badenweiler. 51 der Fotografien, das „Glasbuch“ von Jürgen Brodwolf und einzelne weitere Exponate aus Tschechows Aufenthalt in Badenweiler. Dokumentarfilm zur Ausstellung: Anastasia Alexandrowa, Russisches Staatliches Literaturmuseum Jürgen Brodwolf: Glasbuch. György Dalos: Die Reise nach Sachalin. Auf den Spuren von Anton Tschechow. Lothar Trolle, Klaus Buhlert: Sachalin – Die Insel. Hörspiel des Monats November 2003, Deutschlandfunk, Hessischer Rundfunk, 2003. Leben in Melichowo (1892–1898) Um sich vom allgemeinen Trubel auszuruhen, der nach seiner Rückkehr um ihn herum herrschte, unternahm Tschechow im Frühjahr 1891 gemeinsam mit Suworin seine erste Reise ins europäische Ausland und besuchte dabei unter anderem Wien, Venedig (von dem er offenbar besonders entzückt wurde), Florenz, Rom und Paris. Den darauffolgenden Sommer verbrachte die Familie auf einem ihr überlassenen Landgut bei Alexin am mittelrussischen Fluss Oka, wo Tschechow seine Arbeit an dem Buch Die Insel Sachalin fortsetzte. In Briefen beklagte er oftmals die Schwierigkeiten, die ihm das Schreiben des Buches machte, das auch die Zuhilfenahme zahlreicher wissenschaftlicher und statistischer Materialien erforderte. Hinzu kam der sich immer wieder verschlechternde gesundheitliche Zustand Tschechows: Schon im Dezember 1884 hatte sich mit einem ersten Bluthustenanfall seine langjährige Tuberkulose-Erkrankung angekündigt, an der er 1904 sterben sollte. Die Strapazen seiner Reise durch Sibirien beeinträchtigten die gesundheitliche Verfassung Tschechows zusätzlich. Im November 1891 häuften sich die Hustenanfälle und andere Erkältungssymptome, was Tschechow nicht daran hinderte, in jenen Monaten aktiv ehrenamtlich tätig zu sein: So beteiligte er sich am Spendensammeln für die Hungersnot-Opfer im Gebiet Nischni Nowgorod und half vor Ort mit der Verteilung der Spenden mit. Im Frühjahr 1892 folgte ein ähnlicher Einsatz für die ebenfalls von Missernten und Hunger geplagten Bauern des südrussischen Gouvernements Woronesch. Seine Erlebnisse in den Hungersnot-Gebieten, vor allem aber seine Ablehnung der Wohltätigkeit als eine Art Allheilmittel gegen die permanenten sozialen Missstände, verarbeitete er Ende 1891 in der Erzählung Meine Frau. Das steigende Bedürfnis danach, eine ständige Sommerresidenz zu haben, in der es sich möglichst ungestört arbeiten lasse, veranlasste Tschechow dazu, im Frühjahr 1892 ein Anwesen für sich und seine Familie zu erwerben. Es handelte sich dabei um ein zu jener Zeit völlig verwahrlostes Landgut namens Melichowo nahe dem Ort Lopasnja im Ujesd Serpuchow südlich von Moskau. Im März zog die Familie von ihrer Moskauer Wohnung nach Melichowo. Dort betätigte sich Tschechow wieder als Arzt und behandelte die Bauern von Melichowo, wiederum meist kostenlos. Darüber hinaus koordinierte er dort ehrenamtlich die prophylaktischen sanitären Maßnahmen gegen die drohende Ausbreitung einer Cholera-Epidemie. Auch für sein nächstes größeres Werk, die Novelle Krankenzimmer Nr. 6 (1892), lieferten Tschechow seine Erfahrungen als Mediziner einen Großteil des Materials. Ab 1894 war Tschechow in Melichowo auch in der Dorf-Selbstverwaltung (Semstwo) ehrenamtlich tätig und initiierte später als Schirmherr den Bau mehrerer Volksschulen im Ujesd Serpuchow. Der Bücherei in seiner Heimatstadt Taganrog sowie den Schulen auf Sachalin ließ er mehrmals umfangreiche Büchersammlungen zukommen, die teilweise von Verlagen gespendet, teilweise aber auch auf eigene Kosten angeschafft wurden. In den 1890er-Jahren widmete sich Tschechow als Autor verstärkt dem Theater: Noch 1887 sah er die Uraufführung seines ersten größeren Bühnenstücks Iwanow, von 1888 bis 1889 schrieb er außerdem mehrere kurze Einakter sowie mit dem Waldschrat sein nächstes größeres Bühnenwerk, das er 1896 zu Onkel Wanja, heute einem seiner bekanntesten Stücke, überarbeitete. In Melichowo schrieb Tschechow zudem das 1895 fertiggestellte Drama Die Möwe, das bei seiner Erstaufführung im Oktober 1896 in Sankt Petersburg mit Wera Komissarschewskaja in der Hauptrolle zunächst zu einem Misserfolg wurde, später jedoch, als die beiden Regisseure Konstantin Stanislawski und Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko es am neu gegründeten Moskauer Kunsttheater inszenierten, eine durchweg positive Resonanz erhielt. Ebenfalls aus der Melichowo-Zeit stammen mehrere bekannte Erzählungen und Novellen Tschechows, darunter Der schwarze Mönch, Rothschilds Geige (beide 1894), Das Haus mit dem Mezzanin (1896) und Die Bauern (1897); in der letzteren machte Tschechow seine eigenen, oft bedrückenden Beobachtungen aus dem Bauernleben im Ujesd Serpuchow zum Handlungsrahmen. Im März 1897 erlitt Tschechow in Moskau eine besonders heftige Lungenblutung, nach der er für mehrere Wochen in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Es war auch das erste Mal überhaupt, dass sich Tschechow auf seine Tuberkulose-Erkrankung hin untersuchen ließ; vorher hatte er es – obwohl selber Arzt – stets abgelehnt, medizinisch behandelt zu werden. Einige Ärzte empfahlen ihm nunmehr, sich in den Wintermonaten auf der für ihr mildes Klima bekannten Schwarzmeer-Halbinsel Krim oder auch im europäischen Ausland aufzuhalten. Tschechow folgte diesem Rat und reiste im Herbst 1897 für mehrere Monate an die französische Mittelmeerküste. Im September 1898 fuhr er nach Jalta auf der Krim und kaufte dort einen Monat später ein Baugrundstück für ein neues Anwesen. Das Landgut in Melichowo nutzte die Tschechow-Familie nach dem 1898 erfolgten Tod des Vaters Pawel Jegorowitsch immer weniger und verkaufte es schließlich im Sommer 1899. Tschechow selbst unterschrieb Anfang 1899 einen neuen Vertrag mit dem deutschstämmigen Verleger Adolf Marx, der ihm für 75.000 Rubel die Rechte an seinen Werken (mit Ausnahme der Theaterstücke) abkaufte. Von diesem Geld ließ er ein kleines Haus auf dem erworbenen Grundstück in der Nähe von Jalta bauen. Dorthin zog Tschechow im Spätsommer 1899. Rückzug auf die Krim, letzte Jahre Auch wenn Tschechow in Jalta Bekanntschaft mit einer Vielzahl zeitgenössischer Autoren machen konnte, mit denen ihn später auch Freundschaft verband – darunter war auch der revolutionär gesinnte Schriftsteller Maxim Gorki – und er sich auch dort für wohltätige Zwecke einsetzte, beklagte er zunehmend die öde und provinzielle Atmosphäre Jaltas, die mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben Moskaus und Petersburgs nicht zu vergleichen war. So schrieb er unter anderem im Januar 1899, noch vor dem Umzug in das neu erbaute Haus, einem seiner ehemaligen Mitschüler: „Nun ist es schon eine Woche, dass es in Jalta ununterbrochen regnet, und ich möchte vor Langeweile um Hilfe rufen. Wieviel verliere ich, weil ich hier lebe!“ Um der bedrückenden Trostlosigkeit des provinziellen Lebens etwas entgegenzusteuern, las Tschechow regelmäßig Moskauer und Petersburger Nachrichtenblätter und verfolgte mit zunehmendem Interesse auch die Studentenproteste und politische Unruhen in der Hauptstadt, die sich als erste Anzeichen der aufkommenden Revolution über das ganze Land ausbreiteten. Trotz seines sich immer wieder verschlechternden gesundheitlichen Zustands zog es Tschechow zum wiederholten Male nach Moskau, so auch im September 1898, als er den Proben einer Neuinszenierung der Möwe im Moskauer Kunsttheater beiwohnte. Dort lernte er unter anderem die Schauspielerin Olga Knipper (1868–1959) kennen, die auch später oftmals die Titelrolle in seinen Stücken auf der Bühne des Kunsttheaters gespielt hatte. Tschechow und Olga Knipper trafen sich später wiederholte Male in Moskau wie auch auf der Krim, wo die Truppe des Kunsttheaters im Frühjahr 1900 ein Gastspielprogramm absolvierte. Der Autor, der Frauen bis dahin nur von kurzzeitigen Beziehungen kannte, fand in Knipper offenbar seine große Liebe, worüber ein reichhaltiger, seit ihren ersten Treffen nahezu ununterbrochener Briefwechsel zwischen den beiden Aufschluss gibt. Im Mai 1901 heirateten sie schließlich in Moskau; da Tschechow eine pompöse Hochzeitsfeier scheute, wurde die Trauung heimlich und ohne vorherige Unterrichtung der Angehörigen durchgeführt. Die Ehe blieb nach einer von Knipper im selben Jahr erlittenen Fehlgeburt kinderlos. Auch konnten sich Tschechow und Knipper aufgrund der Tatsache, dass er gesundheitsbedingt auf der Krim leben musste und sie als Schauspielerin in Moskau tätig war, nur selten sehen (bezeichnend in diesem Zusammenhang ist ein Brief Tschechows an Knipper, wo der Autor entgegen seiner Gewohnheit, die eigenen Sorgen seinen Mitmenschen gegenüber zu untertreiben, durchaus erkennen lässt, wie ernsthaft es um seine Gesundheit bestellt war: „[…] ich weiß nicht, was ich Dir sagen soll, außer dem einen, was ich Dir schon 10.000-mal gesagt habe und Dir, wahrscheinlich, noch lange sagen werde, nämlich dass ich Dich liebe – und weiter nichts. Wenn wir jetzt nicht zusammen sind, so sind daran nicht Du und nicht ich schuld, sondern der Dämon, der mir Bazillen eingehaucht hat und Dir die Liebe zur Kunst“). Auf der Krim schrieb Tschechow indes zwei weitere größere Theaterstücke, nämlich Drei Schwestern (1900) und Der Kirschgarten (1903), ebenfalls im Jaltaer Haus entstanden auch Erzählungen wie Seelchen (1898), In der Schlucht, Die Dame mit dem Hündchen (beide 1899) und Der Bischof (1902). Generell ging die literarische Arbeit in Jalta jedoch eher mühsam voran. Im Zeitraum von 1899 bis 1902 musste Tschechow vorrangig an der Zusammenstellung einer Sammlung seines Werks für den Marxschen Verlag arbeiten. Von den vielen Besuchern auf seiner Datsche fühlte er sich zunehmend belästigt, hinzu kamen die immer öfter auftretenden Hustenanfälle, Schweißausbrüche und Atembeschwerden. Tschechow versuchte weitgehend erfolglos, seine fortschreitende Tuberkuloseerkrankung mit Hilfe von Auslandsreisen abzumildern – so hielt er sich in den Wintern 1897/98 und 1900/1901 jeweils längere Zeit in Nizza auf – und auch der gemeinsame Aufenthalt mit Olga Knipper in einer Kumys-Kurstätte bei Ufa gleich nach ihrer Hochzeit vermochte die zur damaligen Zeit als unheilbar geltende Krankheit nicht zu stoppen. Der letzte öffentliche Auftritt Tschechows, während dessen er bereits von der Krankheit sichtlich gezeichnet war, war eine Autorenehrung im Moskauer Kunsttheater anlässlich der Premiere seines letzten Stücks Der Kirschgarten im Januar 1904 an seinem 44. Geburtstag. Die letzte von Tschechow geschriebene Erzählung, Die Braut, wurde noch im Frühjahr 1903 fertiggestellt. Anfang Juni 1904 ging Tschechow mit seiner Frau nach Deutschland, um sich abermals behandeln zu lassen. Nach einem Kurzaufenthalt in Berlin fuhren die beiden in den Schwarzwald-Kurort Badenweiler, wie es Tschechow ein deutschstämmiger Moskauer Arzt empfohlen hatte. Tschechow schrieb von dort nach Moskau etliche Briefe, in denen er unter anderem das ordnungserfüllte und wohlhabende, jedoch oft langweilige und „untalentierte“ Leben der Deutschen schilderte. Nach einer zeitweisen Verbesserung seines Wohlbefindens erlitt Tschechow Mitte Juli mehrere Herzschwächeanfälle, von denen der letzte in der Nacht auf den 15. Juli schließlich zum Tod führte. Olga Knipper beschrieb später in ihren Memoiren Tschechows letzte Minuten wie folgt: Tschechows Leichnam wurde per Eisenbahn nach Moskau überführt und am 22. Juli 1904 unter großer Anteilnahme auf dem Neujungfrauenkloster-Friedhof (Abschnitt 2) neben seinem Vater beigesetzt. Auszeichnungen und Würdigungen Zu seinen Lebzeiten wurde Tschechow dreimal ausgezeichnet. Im Oktober 1888 erhielt er von der Abteilung für Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften den mit 500 Rubeln dotierten Puschkin-Preis für seinen Sammelband In der Dämmerung, den er dem angesehenen Romancier Dmitri Grigorowitsch gewidmet hatte. Ende 1899 wurde Tschechow für seine ehrenamtliche Arbeit im Schulwesen des Ujesd Serpuchow mit einer weiteren Auszeichnung geehrt, nämlich mit dem Sankt-Stanislaus-Orden dritten Grades; allerdings nahm er das Ehrenzeichen nicht entgegen und ging auf die Ehrung in seinen Briefen mit keinem Wort ein. Im Januar 1900 wurde Tschechow außerdem zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt, allerdings legte er nur zwei Jahre später, aus Protest gegen die willkürliche und politisch motivierte Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft Maxim Gorkis, seine eigene Ehrenmitgliedschaft wieder ab. Am 25. Juli 1908 wurde Tschechow, vier Jahre nach seinem Tod, in Badenweiler das weltweit erste Denkmal gesetzt; es war überhaupt das erste für einen russischen Schriftsteller außerhalb seiner Heimat. Die Finanzierung erfolgte durch eine Benefizaufführung des Künstlertheaters in Moskau. Es wurde kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 für Rüstungszwecke eingeschmolzen. Erst 1992 wurde eine neue Tschechow-Büste als Geschenk der Tschechow-Freunde der von ihm seinerzeit besuchten Insel Sachalin auf den leeren Sockel gesetzt. 1998 wurde darüber hinaus in Badenweiler im Wiesentrakt des Kurhauses das literarische Museum „Tschechow-Salon“ eröffnet, das eine Vielzahl von Briefen und Originaldokumenten zum Deutschland-Aufenthalt des Dramatikers und zu seiner Rezeption unterhält. In Russland und in anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sind Straßen in zahlreichen Städten nach Tschechow benannt. Auch mehreren Orten wurde der Name des Autors gegeben: Zu nennen ist vor allem das ehemalige Dorf Lopasnja und die heutige Stadt Tschechow bei Moskau, in deren Nähe sich das einstige Landgut Melichowo der Tschechow-Familie befindet, und das Dorf Tschechow auf Sachalin. Ein Kurort nahe Ufa, jener Gegend also, wo sich Tschechow mit seiner Frau 1901 zur Behandlung aufhielt, trägt den Namen „Tschechowo“. 1987 wurde ein neu erbauter Moskauer U-Bahnhof zu Ehren des Schriftstellers Tschechowskaja benannt: Dieser befindet sich in der Nähe eines bis heute erhaltenen Hauses, in dem die Tschechow-Familie vor ihrem Umzug aufs Land zuletzt wohnhaft war. In einem anderen ehemaligen Wohnhaus der Tschechows, am Gartenring in der Nähe des U-Bahnhofs Barrikadnaja, befindet sich ein Hausmuseum Tschechows. In dem zweistöckigen Haus lebte die Tschechow-Familie von 1886 bis 1890. Das Museum wurde 1954 eröffnet und in Zusammenarbeit mit Tschechows Witwe Olga Knipper-Tschechowa möglichst originalgetreu eingerichtet. Bereits zehn Jahre zuvor wurde auch das ehemalige Landhaus in Melichowo als Tschechow-Museum hergerichtet. Heute trägt es die offizielle Bezeichnung Staatliches literarisch-memoriales Museumsreservat A.P.Tschechow und verfügt über einen Bestand an rund 20.000 Exponaten, der unter anderem einige Originalgemälde Lewitans und auch des früh verstorbenen Tschechow-Bruders Nikolai, der Maler war, beinhaltet. In Jalta auf der Halbinsel Krim gibt es ebenfalls ein Hausmuseum. Es handelt sich dabei um das 1898 von Tschechow gekaufte Grundstück mit einem Haus, das er nach einem individuell angefertigten Plan bauen ließ und das in Anspielung auf seine äußere Gestalt später den Beinamen „die weiße Datsche“ erhielt. Dort gestaltete Tschechow, der als passionierter Hobbygärtner galt, den Garten nach seinen genauen Vorstellungen. Das Museum enthält die gesamte Originaleinrichtung (bis hin zum Arrangement auf seinem Schreibtisch) zum Zeitpunkt seines Todes 1904, weil seine Schwester Maria darüber wachte, die das Museum bis zu ihrem Tode 1957 leitete. Weitere Tschechow-Museen bestehen in Taganrog (im ehemaligen Laden des Vaters Pawel Jegorowitsch sowie auch im Gymnasium, das Tschechow besuchte), auf Sachalin in der 1890 von Tschechow besuchten Stadt Alexandrowsk-Sachalinski und in Juschno-Sachalinsk sowie im ukrainischen Sumy auf der ehemaligen Datsche, wo die Tschechows 1888 und 1889 den Sommer verbrachten. 1983 wurde der Asteroid (2369) Chekhov nach ihm benannt. 1990 wurde Tschechow anlässlich seines 130. Geburtstags mit einer sowjetischen 1-Rubel-Gedenkmünze geehrt. 2023 wird im Zuge des Russischer Überfall auf die Ukraine 2022 die Werke Tschechovs und anderer russischen Autoren in der Ukraine boykottiert. Verhältnis zu anderen bekannten Künstlern Leo Tolstoi Von den Persönlichkeiten der russischen Literatur war Leo Tolstoi (1828–1910) einer der prominentesten Zeitgenossen Tschechows. Bereits 1892 lobte er in einem Brief die neue Novelle Tschechows, Krankenzimmer Nr. 6, was für Tschechow umso mehr ein schmeichelhaftes Urteil zu bedeuten vermochte, als Tolstoi allgemein sehr kritisch gegenüber neuen Autoren eingestellt war. Im März 1899 schrieb Tolstois Tochter Tatjana an Tschechow: „Ihr ‚Seelchen‘ ist entzückend! Vater hat es vier Abende lang vorgelesen und meint, er sei von diesem Werk klüger geworden“. Später nannte Tolstoi Tschechow einen „der wenigen Schriftsteller, die man, ähnlich wie Dickens oder Puschkin, immer wieder von neuem lesen kann“, gab allerdings auch zu, Tschechows Theaterstücke nicht zu mögen. Das erste Treffen beider Autoren fand im August 1895 statt, als Tschechow von Tolstoi auf dessen Landgut Jasnaja Poljana eingeladen wurde – „Ich fühlte mich leicht wie zu Hause, und auch die Gespräche mit Lew Nikolajewitsch waren leicht“, schrieb Tschechow zwei Monate später. Weitere Treffen gab es unter anderem 1897, als Tolstoi den gegen Tuberkulose kämpfenden Tschechow im Krankenhaus in Moskau besuchte, sowie 1901 auf Tolstois Anwesen in Jalta. Tschechow selbst verehrte Tolstoi als Autor und lobte mehrfach dessen bekannteste Werke wie Anna Karenina oder den Historienroman Krieg und Frieden; so schrieb Tschechow, als Tolstoi im Januar 1900 lebensgefährlich erkrankt war: Unabhängig von dem großen Respekt, den Tschechow stets Tolstoi als Autor zollte, pflegte er seit den 1890er-Jahren immer häufiger zu betonen, dass er der Tolstoischen Philosophie mit ihren Ideen der „allumfassenden Liebe“ und der fatalistischen Unterwerfung sowie Tolstois übertriebenen Romantisierung des literarischen Bildes der russischen Bauernschaft zunehmend kritisch gegenüberstünde. Bekannt ist in diesem Zusammenhang sein Brief an den Verleger Suworin aus dem Jahr 1894, wo es unter anderem heißt: Auch die 1897 erschienene Novelle Die Bauern mit ihrer überaus nüchternen und düsteren Umschreibung des russischen Dorfalltags gilt als eine ablehnende Antwort auf einige Erzählungen Tolstois, in denen dieser keineswegs die Bauern selbst, sondern vielmehr die Oberschicht als Hauptschuldige an den sozialen Missständen auf dem Lande sah. Maxim Gorki Den Schriftsteller Maxim Gorki (1868–1936) verband mit Tschechow seit ihrem ersten Treffen 1899 in Jalta eine Freundschaft. Allgemein bekannte sich Gorki auch vorher in Briefen als Verehrer des Tschechowschen Talents und hielt dies auch in seinem 1905 veröffentlichten Aufsatz fest. Tschechow seinerseits bewertete einzelne Werke Gorkis positiv (so schrieb er über Nachtasyl: „[Das Stück] ist neuartig und zweifellos gut“), allerdings waren merkliche stilistische Unterschiede zwischen den beiden Autoren auch in Tschechows Äußerungen nicht zu übersehen. So bescheinigte er Gorki in einem Brief Ende 1898 zwar „ein wirkliches, ein großes Talent“, schrieb aber unter anderem auch: „Ich beginne damit, dass Ihnen nach meiner Meinung die Zurückhaltung fehlt. Sie sind wie ein Zuschauer im Theater, der sein Entzücken so unbeherrscht ausdrückt, dass er sich und andere beim Zuhören stört“. In den letzten Lebensjahren Tschechows setzte sich Gorki auch mehrmals dafür ein, Tschechows 1899 mit dem Verleger Marx abgeschlossenen Vertrag – der trotz der 75.000 Rubel, die Tschechow laut dessen für die Rechte an seinen Werken erhielt, als äußerst nachteilig für den Autor angesehen wurde – kündigen oder zumindest neu verhandeln zu lassen. Dies wurde von Tschechow jedoch jedes Mal abgelehnt. Anzumerken ist, dass Tschechow trotz seiner guten Verhältnisse zu Gorki dessen politisch-revolutionäre Ansichten nicht teilte. Zeit seines Lebens lehnte er jede Art von Gewalt ab und sah einzig und allein in der hartnäckigen Arbeit und in der Ausnutzung des technischen Fortschritts, nicht jedoch in einem gewaltsamen gesellschaftlichen Umbruch einen Ausweg aus der sozialen Misere. Exemplarisch hierfür ist das folgende Zitat Tschechows aus einem Brief: Wladimir Korolenko Der russisch-ukrainische Autor Wladimir Korolenko (1853–1921), der seine literarische Karriere fast zeitgleich mit Tschechow begann und für seine oft sehr psychologisch anmutenden Erzählungen bekannt ist, lernte Tschechow im Februar 1887 kennen und galt später als einer seiner engsten Freunde („Ich bin bereit zu schwören, dass Korolenko ein s e h r guter Mensch ist. Nicht nur neben diesem Kerl zu laufen, sogar ihm hinterher, ist kurzweilig“, so Tschechow). Später unterstützte Tschechow Korolenko gerne bei dessen wohltätigen Aktivitäten (unter anderem 1891 bei der Hungerhilfe im Nischni Nowgoroder Gouvernement). Einer der bekanntesten Aspekte des Zusammenwirkens beider Autoren war aber ihr gemeinsames Niederlegen der Ehrenmitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften im Sommer 1902, das als eine koordinierte öffentlichkeitswirksame Protestaktion gegen die kurz zuvor erfolgte Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft Maxim Gorkis wegen dessen „politischer Unzuverlässigkeit“ gedacht war. Iwan Bunin Der spätere Literatur-Nobelpreisträger Iwan Bunin (1870–1953) nannte Tschechow mehrmals als sein literarisches Vorbild, was er unter anderem in einem Brief an Tschechow im Januar 1891 zugab („[…] Sie sind unter den zeitgenössischen Schriftstellern mein Lieblingsschriftsteller“). Er lernte Tschechow Ende 1895 in Moskau kennen und war in späteren Jahren des Öfteren ein gern gesehener Gast in seinem Haus in Jalta. Seine Erinnerungen an Tschechow schrieb Bunin 1904 nieder. Wladimir Giljarowski Den bekannten Moskauer Alltagsjournalisten und Autor Wladimir Giljarowski (1855–1935) lernte Tschechow während seiner Studienzeit in der Redaktion einer Unterhaltungszeitschrift kennen. Das freundschaftliche Verhältnis zu ihm bewahrte Tschechow sein Leben lang. Als ein enorm erfahrener Publizist und Menschenkenner lieferte Giljarowski Tschechow mehrmals Stoff für seine Werke. Bekannt ist beispielsweise die Erzählung Der Übeltäter (1885), deren Protagonist einer authentischen Figur entstammt, die Tschechow bei einem Besuch auf Giljarowskis Datsche in der Ortschaft Kraskowo südöstlich von Moskau kennengelernt hatte. Seine Erinnerungen an Tschechow hielt Giljarowski später in seinem 1934 veröffentlichten Buch Freunde und Begegnungen fest. Wsewolod Garschin Den an den Folgen eines Suizidversuchs früh verstorbenen Schriftsteller Wsewolod Garschin (1855–1888) kannte Tschechow nach seinen eigenen Aussagen nur flüchtig, obgleich er mehrfach seine Begeisterung für dessen Autorentalent zu betonen suchte. In gewisser Weise wird Tschechow als einer der literarischen Nachfolger Garschins angenommen, der sich ebenfalls als Autor realistisch geprägter Novellen betätigte, wenngleich Garschins pessimistische Ausdrucksweise ihn von Tschechow und dessen oft betontem Fortschrittsglauben stark unterschied. Seine 1888 veröffentlichte Erzählung Der Anfall, die – in Anspielung an zwei bekannte Werke Garschins – das Thema Prostitution ansprechen, widmete Tschechow dem Gedenken an Garschin und ließ sie in einem extra hierfür herausgegebenen Band, der auch Werke anderer Autoren enthielt, abdrucken. Marija Jermolowa Die Schauspielerin Marija Jermolowa (1853–1928), seinerzeit die bekannteste Schauspielerin in der Truppe des Moskauer Maly-Theaters, wurde von Tschechow noch in seinen Jugendjahren verehrt. Es wird angenommen, dass er sein erstes Theaterstück Vaterlos (Platonow) für sie geschrieben hatte mit dem Wunsch, es am Maly-Theater mit Jermolowa in einer Hauptrolle inszenieren zu lassen. Davon zeugt ein 1920 zusammen mit dem Manuskript des Stückes gefundener Entwurf eines Briefes, den Tschechow als Student möglicherweise an Jermolowa geschickt hatte. Persönlich getroffen hatte Tschechow Jermolowa erst 1890 („Nach dem Mittagessen beim Star spürte ich noch zwei Tage danach Sternleuchten um meinen Kopf herum“, schrieb er hierzu am 15. Februar). Jermolowa hatte zwar nie in Tschechows Stücken gespielt, fand jedoch einen sichtlichen Gefallen an der Aufführung der Drei Schwestern (hierzu schrieb Tschechows Schwester Marija am 17. Februar 1903: „[Jermolowa] war hinter den Kulissen, lobte begeistert das Spiel, meinte dass sie erst jetzt begriffen habe, was das ist – unser [Kunst-]Theater“). Isaak Lewitan Den bedeutenden jüdisch-russischen Maler Isaak Lewitan (1860–1900) lernte Tschechow um 1880 während seiner Studienzeit über den älteren Bruder Nikolai kennen, der zusammen mit Lewitan auf der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur studierte. Später galt Lewitan als einer der engsten Freunde Tschechows und seiner Familie und hegte 1890 sogar Pläne, mit ihm zusammen nach Sibirien und Sachalin zu reisen. Als Landschaftsmaler wusste Lewitan gerade die Tschechowschen Naturbeschreibungen wie in der Novelle Die Steppe zu schätzen, außerdem verbrachte er die Sommermonate oft bei der Tschechow-Familie in Melichowo und ließ sich für einige seiner Gemälde von der dortigen Natur inspirieren. Tschechow wiederum schrieb während seines ersten Frankreich-Aufenthalts im Frühjahr 1891 in seiner gewohnt ironischen Tonart: „Die russischen Maler sind weitaus seriöser als die französischen. Im Vergleich zu den hiesigen Landschaftsmalern, die ich gestern gesehen habe, ist Lewitan der König.“ In den 1890er-Jahren unterbrach Lewitan sein freundschaftliches Verhältnis zu Tschechow für einige Jahre, was unter anderem daran lag, dass er eine Frau begehrt hatte, die ihrerseits für Tschechow schwärmte: dies war Lika Misinowa, eine Freundin von Tschechows Schwester Marija und eine jener kurzzeitigen Liebschaften Tschechows, die er vor seiner Bekanntschaft mit Olga Knipper mehrmals hatte und, wie auch in diesem Fall, nicht allzu ernst nahm. Der Streit verschärfte sich obendrein durch die Veröffentlichung der Erzählung Flattergeist (1892), bei der Lewitan sich in einer der Figuren wiedererkannt haben wollte und sich dadurch von Tschechow beleidigt fühlte. Später versöhnten sich die beiden wieder. So besuchte Tschechow Lewitan im Sommer 1895, als dieser, einer schweren Depression verfallen, gerade einen Selbstmordversuch hinter sich hatte („Diese wenigen Tage, die Du hier verbracht hast, sind die ruhigsten dieses Sommers gewesen“, schrieb ihm Lewitan nachher), und im Mai 1900 traf er den bereits todkranken Lewitan in Moskau ein letztes Mal. Fjodor Schechtel Zusammen mit Nikolai Tschechow und Isaak Lewitan studierte der später als Architekt und Erschaffer vieler prominenter Bauwerke bekannt gewordene Fjodor Schechtel (1859–1926) an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur. Er war seit seiner Studienzeit ebenfalls mit Tschechow befreundet und baute 1902 das Gebäude des einige Jahre zuvor gegründeten Moskauer Kunsttheaters (das vier Stücke Tschechows zu dessen Lebzeiten aufführte) in seiner heutigen Gestalt um. 1914 errichtete Schechtel in dem von ihm präferierten Jugendstil das neue Gebäude der städtischen Bücherei in Tschechows Heimatstadt Taganrog. Diese seit dem 19. Jahrhundert bestehende Bibliothek, die heute Tschechows Namen trägt, besuchte Tschechow als Jugendlicher regelmäßig, bevor er 1879 nach Moskau aufgebrochen war. Pjotr Tschaikowski Auch der Komponist Pjotr Tschaikowski (1840–1893) zählte zu Tschechows engerem Bekanntenkreis, was nicht zuletzt auf Tschechows Begeisterung für Musik im Allgemeinen und für Tschaikowskis Stücke und Romanzen im Speziellen zurückzuführen war. So baute Tschechow auch in mehrere seiner Erzählungen (Mein Leben, Erzählungen eines Unbekannten, Das Kätzchen) Szenen ein, in denen bekannte Stücke Tschaikowskis erwähnt oder vorgetragen werden. Im Dezember 1888 traf Tschechow Tschaikowski in dessen Wohnung erstmals, ein Jahr später widmete er seinen neuen Sammelband Mürrische Menschen Tschaikowski persönlich. Zur damaligen Zeit hegte Tschechow auch Pläne, das Libretto der künftigen Oper Bela nach den Motiven von Lermontows Ein Held unserer Zeit für Tschaikowski zu verfassen. Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht realisiert, da Tschaikowskis früher Tod im Jahre 1893 ihn daran gehindert hat, diese Oper zu komponieren. Émile Zola In einem Brief Tschechows an Suworin aus dem Januar 1898 heißt es unter anderem: „Die Dreyfusaffäre ist wieder aufgenommen worden und geht weiter, aber sie ist noch nicht ins Geleise gebracht. Zola ist eine edle Seele, und ich […] bin begeistert von seinem Zornesausbruch. Frankreich ist ein wunderbares Land, und es hat wunderbare Schriftsteller“. Hintergrund dieser Aussage über den Schriftsteller Émile Zola (1840–1902), den Tschechow nie persönlich kennengelernt hat, war die sogenannte Dreyfus-Affäre, die gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte, als Tschechow den Winter 1897/98 in Nizza verbrachte. Tschechow, der in seinen letzten Lebensjahren verstärktes Interesse am politischen Zeitgeschehen zeigte, studierte in Nizza auch die französische Presse und traf im April 1898 den anarchistischen Journalisten Bernard Lazare, der sich ebenfalls gegen die ungerechtfertigte Verurteilung Alfred Dreyfus’ einsetzte. Von Zolas mutigem Einsatz für Dreyfus, so auch seinem Aufsatz J’accuse!, zeigte sich Tschechow sichtlich beeindruckt. Dies fand in seinen Briefen aus dieser Zeit Niederschlag, die auch darüber Aufschluss geben, wie Tschechow – der in politischen Angelegenheiten selber nie explizit eine bestimmte Stellung zu nehmen suchte – die Notwendigkeit einer Trennung der schriftstellerischen Tätigkeit von der Politik sah: Das Werk Charakterisierung Im Laufe seiner knapp fünfundzwanzigjährigen Schriftstellerlaufbahn veröffentlichte Tschechow mehrere Hundert Erzählungen, Kurzgeschichten und Feuilletons sowie über ein Dutzend Theaterstücke. Viele der frühen Werke vom Anfang der 1880er-Jahre – vornehmlich Kurzerzählungen, scherzhafte Miniaturen, Parodien und Ähnliches – sind von Tschechows charakteristischem witzigen (manchmal, wie im Tod des Beamten (1883), auch betont satirischen) Stil geprägt, während seine reifen Werke mehrheitlich dem Realismus zuzuordnen sind, wozu die wissenschaftlichen Kenntnisse Tschechows aus seinem Studium und die medizinische Erfahrung als Dorfarzt bedeutend beitrugen. Die meisten seiner wichtigen Erzählungen drehen sich um das Leben der Kleinbürger in Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts, um die Sünde, das Böse, den Verfall des geistigen Lebens und der Gesellschaft. Die Handlung, die nicht selten ein offenes Ende hat, ist typischerweise in eine mittel- oder südrussische Landschaft oder in eine kleinstädtische, provinzielle Umgebung eingebunden. Viele solcher Erzählungen lesen sich als tiefer, müder Seufzer. Die 1893 veröffentlichte Novelle Krankenzimmer Nr. 6 etwa, die am Beispiel der geschlossenen Psychiatrie-Abteilung eines heruntergekommenen Provinzkrankenhauses (eine der typischen Situationen, in denen Tschechow seine eigenen Erfahrungen als Arzt verarbeiten konnte) ein besonders düsteres Bild aus dem russischen Leben zeichnet, rechnet gnadenlos mit der Passivität und der bedingungslosen („stoischen“) Anpassung an offensichtliche soziale Missstände ab. In einigen seiner Werke, wie den ebenfalls äußerst bedrückenden Erzählungen Wolodja (1887), Schlafen! (1888) oder Typhus (1887), zeigt sich Tschechow zudem als brillanter Psychologe, dem es gelingt, auf eine ebenso knappe wie unmissverständliche Art und Weise das Denken und Handeln von Menschen zu schildern, die sich gerade ungewollt mit einer kritischen Situation konfrontiert sehen. Psychologisch konstruiert ist auch die von Thomas Mann später besonders gepriesene Novelle Langweilige Geschichte (1889), deren Ich-Erzähler, ein alternder Medizinprofessor, im Angesicht des Todes zum Schluss kommt, wie sinnlos sein vermeintlich erfülltes Leben, dem „eine allgemeine Idee“ fehlt, letztlich war und wie verlogen das von Anpassung und Mitläufertum geprägte Verhalten seiner Angehörigen und der anderen Mitmenschen ist. Ähnliche gedankliche Züge über den Sinn des Daseins und die subjektive Sicht des Glücks – jeweils aus Sicht sehr verschiedenartiger Figuren – lassen sich auch aus der 1898 entstandenen Trilogie Der Mann im Futteral, Die Stachelbeeren und Von der Liebe sowie aus der melancholischen Momentaufnahme der Erzählung Glück (1887) herauslesen. Die verbreitete Ansicht, Tschechow habe mit solchen Erzählungen die Passivität des Gesellschaftslebens des zaristischen Russlands kritisiert, stimmt indes nur bedingt, denn Tschechow hat seine Leser nie belehrt – er zog es immer vor, die höchst individualisierten Charaktere samt ihren spezifischen Problemen in seinen Werken vorzuzeigen, ohne ihr Handeln explizit zu bewerten oder zu kritisieren. Exemplarisch für diese Maxime ist das folgende Briefzitat Tschechows aus dem Jahr 1888: „Ich glaube nicht, dass Schriftsteller solche Fragen wie Pessimismus, Gott usw. klären sollten. Sache des Schriftstellers ist es darzustellen, wer, wie und unter welchen Umständen über Gott und den Pessimismus gesprochen oder gedacht hat. Der Künstler soll nicht Richter seiner Personen und ihrer Gespräche sein, sondern nur ein leidenschaftsloser Zeuge. Beurteilen werden es die Geschworenen, das heißt die Leser. Meine Sache ist nur, Talent zu haben, das heißt die Fähigkeit zu besitzen, die wichtigen Äußerungen von den unwichtigen zu unterscheiden, Figuren zu beleuchten und ihre Sprache zu sprechen.“ Diese neutrale, distanzierte Beobachtersicht, die für das Werk Tschechows typisch ist, hielt den Autor freilich nicht davon ab, der Handlung etlicher Erzählungen gewisse autobiografische Elemente beizufügen. So wurden in der Steppe (1888) einige Kindheitserinnerungen an Reisen durch südrussische und ukrainische Landschaften verarbeitet, in der Novelle Drei Jahre (1894) ist die bedrückende Atmosphäre des väterlichen Taganroger Ramschladens ebenfalls authentisch wiedergegeben und in Ariadna (1895) lässt sich in dem Ich-Erzähler ebenfalls Tschechow selbst auf einer Schiffsreise auf die Krim erkennen. In einem seiner längsten Werke, dem Kurzroman Das Duell (1891), lässt Tschechow in einer der Hauptfiguren einen gewaltverherrlichenden und am Handlungsende letztlich gescheiterten Sozialdarwinisten zu Wort kommen und knüpft damit an sein eigenes Interesse für die Darwinschen Lehren zur Studienzeit an. Der Erzählerstil Tschechows beschränkte sich freilich bei weitem nicht auf angedeutete Gesellschaftskritik jeglicher Art oder psychologische Erforschung der seelischen Abgründe des Menschen. Die Palette an Sujets, deren sich Tschechow in seinem Schaffen bediente, ist sehr breit und reicht von leicht bekömmlichen, fröhlichen Situationskomik-Geschichten (Vater werden ist nicht schwer (1887), Die Aalraupe (1885), Drama (1887) u. a.) oder sogar an Kinder gerichteten Tiergeschichten (Kaschtanka (1887), Bleßkopf (1895)) über desillusionierte Beobachtungen aus dem russischen Bauern- oder Kleinbürger-Alltag in Zeiten des aufkommenden Kapitalismus (Bauern (1897), Das neue Landhaus (1898), In der Schlucht (1899)) bis hin zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Tod und der allgemeinen Vergänglichkeit des Menschen (Gram (1886), Gussew (1890), Der Bischof (1902)). In einer seiner international bekanntesten Erzählungen, der Dame mit dem Hündchen (1899), die Tschechow in Jalta schrieb und deren Handlung in die dortige Landschaft eingebunden ist, zeigte sich Tschechow in exemplarischer Weise als Lyriker, der zugleich diese simple Liebesgeschichte zweier verheirateter Menschen in ein Drama mit offenem Schluss verwandelt, das dessen beide Hauptfiguren an der sinnlosen Kleinlichkeit des gesellschaftlichen Daseins immer wieder scheitern lässt – eine Anknüpfung an seine eigene große Liebe, deren volles Ausleben Tschechow ob solcher „Alltäglichkeit“ (in seinem Fall: Krankheit) ja ebenfalls verwehrt blieb. Eine Reihe seiner Werke lassen den Leser indes einen überaus optimistischen Tschechow vermuten, der trotz aller Missstände und Rückschläge das Glauben an das Gute im Menschen und vor allem an den Fortschritt, an ein künftiges besseres Leben, nicht verloren hat. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa die durch ihren krassen Stimmungsumschwung auffallende Miniatur Der Student (1894), die tiefsinnig-philosophische Novelle Der schwarze Mönch (1893) oder der mit prägenden Landschaftsaufnahmen gefüllte Kurzroman Die Steppe, die alle wie eine rauschende Huldigung an die Welt und das Menschengeschlecht wirken. Unabhängig vom jeweiligen Sujet bzw. der Stimmung ist jedoch allen Werken Tschechows die Besonderheit gemein, dass im Mittelpunkt der Handlung generell der Mensch steht, dessen Handlungs- und Denkweisen – egal ob sie einem seltsam, lächerlich, traurig oder sonst wie vorkommen – der Autor stets als unvoreingenommener Beobachter darzustellen sucht. Diese Bevorzugung der Persönlichkeit der Charaktere vor der Handlung zusammen mit der deutlichen Sparsamkeit an Erzählstrategien („Die Kürze ist die Schwester des Talents“, so Tschechow selbst), ferner Tschechows impressionistische Neigung zu den besonderen Ansichtspunkten („Ich habe noch nie unmittelbar nach der Natur geschrieben. Ich muss das Thema erst durch mein Gedächtnis filtern, bis unten im Sieb nur noch das hängenbleibt, was wichtig und typisch ist“) und der Verzicht auf die traditionellen Intrigen zählen zu seinen wichtigsten Innovationen, die seinen Stil in erheblichem Maße von dem der anderen renommierten russischen Autoren jener Zeit abheben lassen. Die in jeder Tschechowschen Erzählung vorzufindende realistische Darstellungsweise des Menschen einer jeden sozialen Schicht lässt das Gesamtwerk Tschechows wie eine überaus wahrheitsgetreue Dokumentation des russischen gesellschaftlichen Lebens des ausgehenden 19. Jahrhunderts erscheinen. In seinen Theaterstücken – von denen fast alle nach 1885 entstanden, als Tschechows literarischer Stil längst über seine rein humoristische Komponente hinaus gereift war – behielt Tschechow seine in den Erzählungen entwickelte Methode objektiver Beschreibung weitgehend bei. Zusätzlich zeichnen sich die Stücke dadurch aus, dass sie vornehmlich eine tragikomische Sicht auf die Banalität des Provinzlebens und die Vergänglichkeit des russischen Kleinadels zeigen sollen. Die meisten der dort handelnden Personen sind anständig und sensibel; sie träumen davon, ihr Leben zu verbessern, meistens jedoch vergeblich, wegen des Gefühls der Hilf- und Nutzlosigkeit, des übertriebenen Selbstmitleids und daraus folgend der fehlenden Energie und Willensstärke. Zwar lässt der Autor immer wieder andeuten, dass es einen Ausweg aus dieser Apathie gibt, nämlich in konsequenter Arbeit und nützlicher praktischer Tätigkeit, jedoch erweisen sich die Figuren meist als unfähig oder gar als nicht willens, etwas wirklich zu bewegen, was sich als ursächlich für ebendiese Vergänglichkeit, die zunehmende geistige Abstumpfung jener eigentlich intelligenten Menschen, erweist. Eine Besonderheit des Wirkens Tschechows als Dramatiker ist auch, dass er die meisten seiner Bühnenstücke als „Komödien“ bezeichnete, obwohl ihre Handlung – wenn man von den eher simpel gestrickten Einaktern wie Der Bär oder Der Heiratsantrag absieht – nicht als komisch oder lustig im eigentlichen Sinne zu bezeichnen ist. Dieser Umstand erzeugte zu Tschechows Lebzeiten oft Unverständnis nicht nur beim Publikum, sondern auch bei Theaterregisseuren, die an der Inszenierung seiner Stücke arbeiteten. Erst Jahrzehnte nach dem Tod Tschechows begriff man mehrheitlich, dass es vor allem die Protagonisten der Stücke waren, aus deren Verhalten das vermeintlich „Komische“ folgen sollte, nämlich ihre gefühlte Hilflosigkeit und allgemein ihr gestörtes Verhältnis zur Realität, durch die ihre Emotionen, Handlungen und vor allem ihre Unterlassungen – so zumindest die Intention des Autors – unfreiwillig komisch wirken. Dieses Missverstehen des Tschechowschen Anliegens war auch maßgebend schuld an dem Misserfolg des Stücks Die Möwe bei dessen Erstaufführung im Oktober 1896. Die bekanntesten Theaterstücke Tschechows sind neben der Möwe der Vierakter Onkel Wanja, das Drama Drei Schwestern sowie Tschechows letztes Werk überhaupt, die Komödie Der Kirschgarten. Alle diese Stücke weisen unterschiedliche Handlungsverläufe auf, gleichwohl haben sie in ihrem Aufbau viele Gemeinsamkeiten: Stets spielt sich die Handlung in der russischen Provinz um die Jahrhundertwende ab, die Figuren sind Kleinadlige, sie scheitern letztlich auf die eine oder andere Weise an ihrer Passivität und ihrem entstellten Realitätssinn, jedoch schleicht sich in die Handlung immer wieder auch eine Note des Optimismus und des Glaubens an eine bessere Zukunft ein (wie die von Sehnsucht erfüllte Formel „Nach Moskau!“, die sich paradigmatisch durch die gesamte Handlung der Drei Schwestern hinzieht, oder Petja Trofimows Schlusssatz „Willkommen, neues Leben!“ in der Abschiedsszene des Kirschgartens). Tschechow, der nie einen längeren Roman schrieb (auch wenn er Ende der 1880er-Jahre diese Absicht immer wieder äußerte), übte in seiner knappen, zurückhaltenden und wertfreien Erzählweise einen immensen Einfluss auf die Formung der modernen Novelle und des Schauspiels aus. Auch heute wird Tschechow daher als früher Meister der Kurzgeschichte betrachtet. Rezeption Viele von Tschechows späten Werken wurden noch zu Lebzeiten des Autors ins deutsche und in weitere Sprachen übersetzt und erhielten schnell internationale Resonanz. Während Tschechow im deutschsprachigen Raum, wo die russische Literatur traditionell vor allem mit Romanciers wie Tolstoi oder Dostojewski assoziiert wird, eher durch seine Bühnenwerke bekannt wurde, konnte sich sein episches Werk besonders im angelsächsischen Sprachraum seit dem frühen 20. Jahrhundert einer hohen Popularität erfreuen, da es dort mit seiner charakteristischen sparsamen Erzählweise in Form von Kurzgeschichten auf eine bereits vorhandene Tradition der Short Story, eingeleitet von Autoren wie Edgar Allan Poe, traf. Zu den bekanntesten deutschsprachigen Auflagen gehören Werkausgaben Tschechows vom DDR-Verlag Rütten & Loening sowie vom Schweizer Diogenes Verlag. Im deutschsprachigen Raum werden Tschechows Stücke bis heute oft fürs Theater adaptiert; zu den jüngsten Beispielen zählt Die Möwe am Berliner Maxim-Gorki-Theater (2000, Regie: Katharina Thalbach), das am Schauspielhaus Köln inszenierte Platonow (2003, mit Alexander Khuon in der Titelrolle), Drei Schwestern im Berliner Theater am Kurfürstendamm (2008, mit Nicolette Krebitz, Jasmin Tabatabai und Katja Riemann) oder Iwanow am Düsseldorfer Schauspielhaus (2008/09, Regie: Amélie Niermeyer, mit Christiane Paul, Matthias Leja u. a.). Zu Tschechows 150-jährigem Jubiläum inszenierte Frank Castorf das Stück Nach Moskau! Nach Moskau!, das Ende Mai 2010 beim Internationalen Tschechow-Theaterfestival in Moskau Premiere hatte und dem gleich zwei Werke Tschechows – das Bühnenstück Drei Schwestern und die Erzählung Die Bauern – zugrunde liegen. Tschechows Werk übte unmittelbaren Einfluss auf mehrere namhafte Schriftsteller und Novellisten des 20. Jahrhunderts aus. James Joyce beispielsweise gab an, Tschechow von allen russischen Schriftstellern seiner Epoche am meisten zu bewundern. Er beschrieb seine Dramen als dramaturgisch revolutionär im Verzicht auf einen Spannungsbogen und im Aufsprengen der klassischen Dramenkonventionen. In Tschechows Figuren sah er erstmals in der Theatergeschichte Individuen verwirklicht, denen es seiner Ansicht nach nicht gelingt, ihre jeweils eigene Welt zu verlassen und untereinander in Kontakt zu treten. Für Joyce erfasst Tschechow damit als erster Dramatiker eine existentielle Einsamkeit, die letztlich den Fokus eher auf das Leben als solches lenkt als auf individuelle Charaktere. Diese Äußerungen führten zu verschiedenen Studien über Tschechows Einfluss auf Joyce sowohl von anglistischer als auch von slawistischer Seite. James Atherton etwa wies mehrere Tschechow-Anspielungen in Finnegans Wake nach. Andere Kritiker, wie Richard Ellmann oder Patrick Parrinder, zeigten stilistische Parallelen zwischen Tschechows Erzählungen und denen des jungen Joyce auf. Dabei stießen sie jedoch stets auf das Problem, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass Joyce Tschechows Erzählungen (im Gegensatz zu den Dramen) bekannt waren; gegenüber seinem Biografen Herbert Gorman leugnete er dies sogar explizit. Aufgrund dieser Ausgangslage gilt Tschechows Einfluss auf Joyce heute zwar als belegt, aber als schwierig zu erfassen. Eine weitere Autorin, die als stark von Tschechow beeinflusst gilt, ist Katherine Mansfield, die ihn als ihren „Meister“ bezeichnete und sich in ihren Briefen und Aufzeichnungen einige Male auch theoretisch mit ihm auseinandersetzte. Viele Debatten über Tschechows Einfluss auf Mansfield gehen von ihrer Erzählung The Child-Who-Was-Tired aus, einer Adaption von Tschechows Spat Khochetsia. Mansfield übernimmt hier die Handlung Tschechows in eindeutiger Weise, verändert jedoch einige wichtige Details. Es existieren verschiedene Meinungen darüber, wie diese Ähnlichkeit zu bewerten ist: Elisabeth Schneider bezeichnete Mansfields Geschichte 1935 als freie Übersetzung Tschechows ins Englische, während Ronald Sutherland ihr eine künstlerische Eigenständigkeit zugesteht. Auf der anderen Seite erwähnt Mansfields Biograf Antony Alpers auch Plagiatsvorwürfe. Es gilt als gesichert, dass Mansfield Tschechow erstmals in Bad Wörishofen in deutscher Übersetzung las. Ihr im Anschluss daran entstandener Erzählband In a German Pension steht nach Ansicht mehrerer Kritiker stilistisch unter seinem Einfluss. Im Unterschied zu Tschechow nimmt Mansfield allerdings häufig eine größere erzählerische Nähe zu ihren Figuren ein. Gelegentlich wurden auch Franz Kafkas Erzählungen mit denen Tschechows verglichen. Stilistisch teilen sie den Hang zur größtmöglichen Einfachheit und zur gezielten Auswahl von Details, thematisch die Vorliebe für (in Tschechows Worten) „Wesentliches und Zeitloses“ sowie den Fokus auf die Ausweglosigkeit aller Probleme der menschlichen Existenz. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass Kafka Tschechows Werke bekannt waren. Der irische Dramatiker und Literatur-Nobelpreisträger George Bernard Shaw gab in der Vorrede zu seinem Bühnenstück Haus Herzenstod Anknüpfungspunkte an die Tschechowschen Menschenstudien im Kirschgarten, Onkel Wanja und der Möwe an. Auch im Stil Katherine Anne Porters, Sherwood Andersons, Ernest Hemingways, Bernard Malamuds und Raymond Carvers ist der Einfluss Tschechows zu erkennen. Chronologische Auswahl der Werke Erzählungen, Novellen Bis 1888 1889–1903 Theaterstücke 1878 (?): Platonow (Bühnenstück in vier Akten; auch Vaterlos; russ. ) 1884: An der Landstraße. (Dramatische Etüde in einem Akt; russ. ) 1886: Über die Schädlichkeit des Tabaks (Monolog-Szene in einem Akt; russ. ) 1886: Schwanengesang (Dramatische Studie in einem Akt; russ. ) 1887: Iwanow (Drama (in urspr. Fassung „Komödie“) in vier Akten; russ. ) 1888: Der Bär (Scherz in einem Akt; russ. ) 1888: Der Heiratsantrag (Scherz in einem Akt; russ. ) 1889: Tatjana Repina (Drama in einem Akt; russ. ) 1889: Tragödie wider Willen – Aus dem Leben der Sommerfrischler (Scherz in einem Akt; russ. ) 1889: Die Hochzeit (Szene in einem Akt; russ. ) 1889: Der Waldschrat (Komödie in vier Akten; russ. ) 1891: Das Jubiläum (Scherz in einem Akt; russ. ) 1895: Die Möwe (Drama in vier Akten; russ. ) 1896: Onkel Wanja (Szenen aus dem Dorfleben in vier Akten; stark revidierte Version des Waldschrat; russ. ) 1901: Drei Schwestern (Drama in vier Akten; russ. ) 1903: Der Kirschgarten (Komödie in vier Akten; russ. ) Sonstiges 1890: In Sibirien (Aufzeichnungen; russ. ) 1893: Die Insel Sachalin. (Originaltitel Ostrov Sachalin, 1893, Reisebericht, übersetzt von Gerhard Dick, herausgegeben und kommentiert von Peter Urban). Diogenes, Zürich 1987, ISBN 3-257-20270-9. nicht datiert: Tagebücher, Notizbücher. Diogenes, Zürich 1983, ISBN 3-257-01634-4. Briefe (aus den Jahren 1879 bis 1904). Winkler, München 1971. nicht datiert: Der Persische Orden und andere Grotesken mit acht Holzschnitten von Wassili Nikolajewitsch Masjutin, 1922, Welt Verlag, Berlin. gedruckt bei Otto von Holten, Berlin C., deutsch von Alexander Eliasberg Museen Tschechow-Haus in Taganrog Tschechow-Museum Taganrog Tschechows Laden in Taganrog Tschechow-Museum Melichowo Tschechow-Museum Jalta Tschechow-Museum Gursuf Tschechow-Museum Sumy Adaptionen Verfilmungen 1926: Überflüssige Menschen – Regie: Alexander Rasumny – Vorlage: elf Novellen 1939: Čelovek v futljare – Regie: Isidor Annenski – Vorlage: Erzählung Der Mann im Futteral 1944: Die Hochzeit (Swadba) – Regie: Isidor Annenski 1944: Sommerstürme (Summer storm) – Regie: Douglas Sirk 1954: Herz ohne Liebe (Anna na scheje) – Regie: Isidor Annenski – Vorlage: Erzählung Anna am Halse 1954: Das schwedische Zündholz (Schwedskaja spitschka) – Regie: Konstantin Judin 1955: Die Grille (Poprygunja) – Regie: Samson Samsonow – Vorlage: gleichnamige Novelle (auch: Flattergeist, Eine kunstliebende Frau) 1960: Die Dame mit dem Hündchen (Dama s sobatschkoi) – Regie: Iossif Cheifiz 1961: Die Steppe (La steppa) – Regie: Alberto Lattuada 1962: Kontrabaß (Le contrebasse) – Regie: Maurice Fasquel 1963: Die drei Gesichter der Furcht (I tre volti della paura) – Regie: Mario Bava – Vorlage der dritten Episode: eine Novelle von Tschechow 1966: Seelchen (Duschetschka) – Regie: Sergei Kolossow 1966: In der Stadt S. (W gorode S.) – Regie: Iossif Cheifiz 1968: Die Möwe (The seagull) – Regie: Sidney Lumet 1968: Tragödie auf der Jagd – Regie Gerhard Klingenberg 1969: Der Kronzeuge (Glawny swidetel) – Regie: Aida Mansarewa 1970: Die Möwe (Tschaika) – Regie: Juli Karassik 1970: Onkel Wanja (Djadja Wanja) – Regie: Andrei Michalkow-Kontschalowski 1973: Diese verschiedenen, verschiedenen Gesichter (Eti rasnyje, rasnyje, rasnyje liza) – Regie: Juri Saakow – Vorlage: verschiedene Erzählungen 1973: Ein schlechter, guter Mensch (Plochoi choroschi tschelowek) – Regie: Iossif Cheifiz – Vorlage: Erzählung Das Duell 1974: Romance with a Double Bass – Regie: Robert Young – Vorlage: Erzählung Romanze mit einem Kontrabass 1975: Kaschtanka – Regie: Roman Balajan 1977: Unvollendete Partitur für ein mechanisches Klavier (Neokontschennaja pjessa dlja mechanitscheskowo pianino) – Regie: Nikita Michalkow – Vorlage: Bühnenstück Platonow 1977: Komische Leute (Smeschnyje ljudi) – Regie: Michail Schweizer 1978: Die Steppe (Step) – Regie: Sergei Bondartschuk 1978: Drama auf der Jagd (Moi laskowy i neschny swer) – Regie: Emil Loteanu 1979: Die Erbin (The beneficiary) – Regie: Carlo Gebler 1980: Erzählungen eines Unbekannten (Rasskas neiswestnowo tscheloweka) – Regie: Vytautas Žalakevičius 1982: Schwanengesang – Regie: Ulrich Engelmann (Studioaufzeichnung von drei Einaktern) 1983: Drei Schwestern – Regie: Thomas Langhoff 1984: Der Weidenbaum – Regie: Sohrab Shahid Saless 1984: Der Bär – Regie: Don Askarian 1986: Das Drama auf der Jagd (Drama a vadászaton) – Regie: Károly Esztergályos 1987: Schwarze Augen (Otschi tschornyje) – Regie: Nikita Michalkow – Vorlage: Motive nach der Erzählung Die Dame mit dem Hündchen 1987: Der schwarze Mönch (Tschorny monach) – Regie: Iwan Dychowitschny 1988: Fürchten und lieben (Paura e amore) – Regie: Margarethe von Trotta – nach Motiven des Dramas Drei Schwestern 1990: Ariadne – ARD/RAI – nach einer Kurzgeschichte – Regie: Jochen Richter – mit Barbara Wussow, Albert Fortell, Nikolaus Paryla 1992: Swan Song, basierend auf Schwanengesang – Regie: Kenneth Branagh 1994: Vanya – 42. Straße (Vanya 42d street) – Regie: Louis Malle – Vorlage: Bühnenstück Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben 1994: Eine Liebe in Australien (Country life) – Regie: Michael Blakemore – Vorlage: Bühnenstück Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben 1995: August (August) – Regie: Anthony Hopkins – Vorlage: Bühnenstück Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben 2003: Die kleine Lili (La petite Lili) – Regie: Claude Miller – Vorlage: Bühnenstück Die Möwe 2005: The Sisters – Regie: Arthur Allan Seidelman – Vorlage: Bühnenstück Drei Schwestern 2007: Nachmittag – Regie: Angela Schanelec – Vorlage: Bühnenstück Die Möwe 2009: The Duel – Regie: Dover Koshashvili – Vorlage: Erzählung Das Duell 2014: Winterschlaf – Regie: Nuri Bilge Ceylan Hörspiele 1956: Die Tragödie auf der Jagd – Bearbeitung: Josef Martin Bauer – Mitwirkende: René Deltgen, Philipp Gehly, Hanns Ernst Jäger, Hannes Messemer, Kaspar Brüninghaus, Rosel Schäfer, Bernd M. Bausch, Herbert Hennies, Karl Brückel u. a. – Regie: Eduard Hermann (WDR) Länge: 82′50 Minuten 1959: Onkel Wanja – Bearbeitung: Erika Kähler – Mitwirkende: Wolfgang Heinz, Erika Pelikowsky, Steffi Freund, Amy Frank, Emil Stöhr, Karl Paryla, Mathilde Danegger und Dieter Perlwitz – Regie: Herwart Grosse (Rundfunk der DDR) Länge: 83′38 Minuten 1972: Eine schlimme Sache (russ. Недоброе дело / Der Fehltritt) – Bearbeitung und Regie: Joachim Staritz – Mitwirkende: Walter Lendrich, Hans-Edgar Stecher, Gerhard Rachold u. a. (Rundfunk der DDR) Länge: ca. 65 Minuten 1978: Das schwedische Zündholz – Bearbeitung: Carl Dietrich Carls – Mitwirkende: Walter Jokisch, Rüdiger Lichti, Hans Helmut Dickow, Manfred Heidmann, Heinz Schacht, Alwin Joachim Meyer, Brigitte Drummer, Elisabeth Endriss und Siegfried Wischnewski – Regie: Edward Rothe (WDR) Länge: 60 Minuten 2004: Mein Herz – mein Hund, eine Liebe in Briefen. Bearbeitung: Andrea Clemen. Mitwirkende: Martina Gedeck, Christian Redl, Regieé Jannings. Länge: 65 Minuten, MDR Hörbücher Drei Schwestern Gelesen von Ernst Jacobi, Julia Costa, Cordula Trantow u. v. a. Der Hörverlag, München 2003. 2 CDs (Laufzeit 130 Min.). ISBN 3-89584-706-2 Der Kirschgarten Gelesen von Marianne Hoppe, Cordula Trantow, Luitgard Im, Günter Mack, Ernst Jacobi u.v. a. Der Hörverlag, München 2003. 2 CDs (Laufzeit 95 Min.). ISBN 3-89584-707-0 Die Dame mit dem Hündchen Gelesen von Matthias Haase, Argon Verlag, Berlin 2004. 1 CD (Laufzeit 48 Min.). ISBN 3-87024-693-6 Kaschtanka und andere Kindergeschichten Gelesen von Peter Urban, Diogenes Verlag AG, Zürich 2006. 1 CD (Laufzeit 85 Min.). ISBN 978-3-257-80023-4 Verocka. Geschichten von der Liebe. Gelesen von Otto Sander, Diogenes Verlag AG, Zürich 2006. 4 CDs (Laufzeit 282 Min.). ISBN 978-3-257-80902-2 Ein unnötiger Sieg. Frühe Novellen und ein kleiner Roman. Gelesen von Frank Arnold, Diogenes Verlag AG, Zürich 2008. 7 CDs (Laufzeit 425 Min.). ISBN 978-3-257-80210-8 Erzählung eines Unbekannten Gelesen von Rolf Boysen, Diogenes Verlag AG, Zürich 2009. 4 CDs (Laufzeit 239 Min.). ISBN 978-3-257-80271-9 Flattergeist, Erzählung, Ungekürzt gelesen von Ernst Schröder, Diogenes Verlag, Zürich 2009. 1 CD (Laufzeit 60 Min.) Die Dame mit dem Hündchen, Erzählung, Ungekürzt gelesen von Otto Sander, Diogenes Verlag, Zürich 2009, 1 CD (Laufzeit 50 Min.) Ein Duell, aus dem Russischen von Peter Urban, gelesen von Ulrich Matthes, Diogenes Verlag, Zürich 2010, 4 CDs (Laufzeit: 302 Min.) Bearbeitung fürs Musiktheater Skripka Rotshilda (dt. Rothschilds Violine). Opernfragment von Weniamin Fleischmann, ergänzt und orchestriert von seinem Lehrer Dmitri Schostakowitsch. Vollendet 1944. Konzertante UA 1960 in Moskau, szenische UA 1968 in Leningrad, jeweils unter Leitung von Maxim Schostakowitsch. Una domanda di matrimonio (dt. Der Heiratsantrag). Oper in einem Akt. Libretto: Claudio Fino und Saverio Vertone. Musik: Luciano Chailly. UA am 22. Mai 1957 in Mailand The Bear (dt. Der Bär). Extravaganza in One Act. Libretto: Paul Dehn. Musik: William Walton. UA am 3. Juni 1967 in Aldeburgh Der Kirschgarten. Oper in vier Akten. Libretto und Musik: Rudolf Kelterborn. UA am 4. Dezember 1984 in Zürich Tri sestri (dt. Drei Schwestern). Oper in drei Sequenzen. Libretto: Claus H. Henneberg und Péter Eötvös. Musik: Péter Eötvös. UA am 13. März 1998 in Lyon Tatjana. Dramma lirico in einem Akt. Libretto und Musik: Azio Corghi. UA am 20. Oktober 2000 in Mailand Senja. Oper. Libretto und Musik: Azio Corghi. UA am 7. März 2003 in Münster Unreine Tragödien und aussätzige Dramatiker. Satirische Kammeroper in fünf Szenen. Libretto und Musik: Timo Jouko Herrmann. UA am 24. Juni 2004 in Heidelberg Der Roman mit dem Kontrabass. Lyrische Szenen [Kammeroper]. Libretto: Michael Leinert. Musik: Jürg Baur. UA am 25. November 2005 in Düsseldorf Schwanengesang. Musikdramatische Etüde in einem Akt. Libretto: André Meyer. Musik: Timo Jouko Herrmann. UA am 25. Juni 2006 in Mannheim Filme über Tschechow 1969: Sujet für eine Kurzgeschichte (Sjuschet dlja nebolschowo rasskasa) – Regie: Sergei Jutkewitsch 1984: Tschechow in meinem Leben – Regie: Vadim Glowna (Dokumentarfilm) 1992: Stone / Der Stein (Kamen) – Regie: Aleksandr Sokurov 2010: Tschechow lieben (Tschechow und die Frauen) – Regie: Marina Rumjanzewa (Dokumentarfilm) Literatur nach Autoren alphabetisch geordnet Lydia Awilowa: Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen (= Blue notes. Bd. 20). Ed. Ebersbach, Berlin 2004, ISBN 3-934703-70-4. Rosamund Bartlett: Anton Čechov. Eine Biographie. Zsolnay, Wien 2004, ISBN 3-552-05309-3. Gerhard Bauer: „Lichtstrahl aus Scherben“. Čechov (= Nexus. Bd. 56). Stroemfeld, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-86109-156-9. Jean Benedetti (Hrsg.): Anton Tschechow/Olga Knipper, Mein ferner lieber Mensch. Ein Liebesroman in Briefen. Fischer, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-10-009503-9. Georgi P. Berdnikow: Anton Tschechow – Eine Biographie. 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Jahrhundert) Literatur (Russisch) Drama Erzählung Tagebuch Mediziner (19. Jahrhundert) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Merkurkrater Dichterarzt Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Russe Mann Geboren 1860 Gestorben 1904
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https://de.wikipedia.org/wiki/Godesberger%20Programm
Godesberger Programm
Das Godesberger Programm war von 1959 bis 1989 das Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Ein außerordentlicher SPD-Parteitag in der Stadthalle von Bad Godesberg, heute ein Stadtbezirk Bonns, verabschiedete es mit großer Mehrheit am 15. November 1959. Mit diesem Grundsatzprogramm kam der Wandel der SPD von einer sozialistischen Arbeiterpartei hin zu einer Volkspartei zum Ausdruck. Zentrale Elemente des Godesberger Programms gelten bis heute – hierzu gehören das Bekenntnis zur Marktwirtschaft und zur Landesverteidigung, die Formulierung von Grundwerten und der Anspruch, Volkspartei zu sein. Auf das Godesberger Programm folgte im Dezember 1989 das Berliner Programm. Vorgeschichte Umbrüche seit 1925 Das Heidelberger Programm von 1925 war für die SPD bis zum Ende der 1950er Jahre als parteipolitisches Grundsatzprogramm verbindlich. Seit seiner Verabschiedung in der Mittelphase der Weimarer Republik hatten in Deutschland und Europa gravierende politische Umbrüche stattgefunden: Scheitern der ersten deutschen Republik, Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Teilung Deutschlands und Europas, Kalter Krieg, Stalinismus und Expansion des Kommunismus. Die Verfasser des Heidelberger Programms konnten diese Erschütterungen nicht vorhersehen, sie erwarteten eine sozialistische Zukunft. Mehr noch: In vielen Punkten war dieses Programm kaum etwas anderes als eine Neuauflage des Erfurter Programms, das nach Ende des Sozialistengesetzes 1891 verfasst worden war. Die Formulierung einer revolutionären Perspektive stand neben gegenwartsbezogenen Reformforderungen. Politik der SPD unter Kurt Schumacher Kurt Schumacher, bis zu seinem Tod im August 1952 unumstrittener Führer der SPD in den Westzonen und in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, lehnte Diskussionen um ein neues Grundsatzprogramm stets als unzeitgemäß ab. Was die Sozialdemokratie im Grundsatz wolle, „ist uns allen klar“ – so Schumacher. Wichtiger war ihm die Formulierung einer deutlichen Alternative zur Regierungspolitik, insbesondere auf den Feldern der Deutschland- und Außenpolitik. Schumacher war ein scharfer Gegner von Bündnissen mit Kommunisten. Seine Weimarer Erfahrungen mit dem Antiparlamentarismus der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der Sowjetischen Besatzungszone motivierten ihn zu dieser Haltung. Dennoch war Schumachers Denken und Reden von Begriffen des Marxismus geprägt, dem er als Instrument zur Analyse der Gesellschaft große Bedeutung zumaß. Auch standen für ihn – wie für viele Sozialdemokraten – der Sozialismus als Gesellschaftsform und Sozialisierungen als Weg zu ihrer Durchsetzung nach den Erfahrungen des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs auf der Tagesordnung. Gleichzeitig betonte er nach 1945 die weltanschauliche Offenheit seiner Partei. Insbesondere Menschen, die aus christlichen Überzeugungen heraus den Sozialismus bejahten, forderte er auf, in der SPD ihr politisches Wirkungsfeld zu sehen. Der SPD kam in Schumachers Augen die führende Rolle beim wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau zu, dies umso mehr, wenn es ihr gelingen würde, neben der Arbeiterschaft auch Angestellte, Beamte, Kleinhändler, Handwerker und Bauern anzuziehen. Als Vorsitzender der Partei prägte Schumacher die Bejahung des Parlamentarismus und des Staates innerhalb der Partei sowie das unbedingte Bestehen auf inneren und äußeren Freiheiten der Deutschen. Letzteres brachte ihn und die SPD in Gegensatz zur Bundesregierung. Er warf ihr vor, das Politikziel der nationalen Einheit der Deutschen zugunsten einer Westbindung Westdeutschlands aufzugeben. Gemeinsame politische Institutionen Westeuropas wie den Europarat lehnte er als „konservativ, klerikal, kapitalistisch und kartellistisch“ ab. Insgesamt prägte er das Bild einer scharfen Opposition der SPD gegenüber wichtigen politischen Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland. Opposition auf Bundesebene Die im Mai 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland erlebte in den 1950er Jahren eine Zeit des raschen wirtschaftlichen Wiederaufbaus, Wirtschaftswunder genannt, und eine Politik der zunehmenden Westbindung, die von den Regierungen unter Bundeskanzler Konrad Adenauer vorangetrieben wurde. Auf Bundesebene dominierten die Unionsparteien, also Christlich Demokratische Union (CDU) und Christlich Soziale Union (CSU). Die SPD war seit der ersten Bundestagswahl, bei der sie einen Sieg erwartet hatte, im Deutschen Bundestag auf die Oppositionsbank verwiesen, während sie in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg, Bremen und einigen Flächenstaaten die Regierung stellte. Auch die zweite Bundestagswahl im September 1953 ging aus Sicht der Sozialdemokraten enttäuschend aus – die SPD musste leichte prozentuale Verluste hinnehmen und blieb Oppositionspartei, während CDU und CSU erhebliche Wählerzugewinne verbuchen konnten. Als Reaktion auf diese Umstände intensivierten sich Überlegungen zur Formulierung und Verabschiedung eines neuen Grundsatzparteiprogramms. Programmatische Vorarbeiten Prinzipienerklärung der Sozialistischen Internationale In kleineren Zirkeln und von der Gesamtpartei wenig beachtet begannen Programmdiskussionen bereits Anfang der 1950er Jahre. Vielfach bezogen sich die Teilnehmer dabei auf die Prinzipienerklärung der Sozialistischen Internationale, die 1951 in Frankfurt am Main gegründet worden war und den europäischen Sozialisten nach 1945 erstmals eine programmatische Orientierung angeboten hatte. Die Präambel der Resolution über die „Ziele und Aufgaben des Demokratischen Sozialismus“ äußerte deutliche Kritik am Kapitalismus und grenzte die Sozialisten von den Kommunisten ab. Ferner hob sie die unterschiedlichen Motivationen des Einzelnen für die Unterstützung der sozialistischen Ideen hervor – marxistische oder anders begründete Gesellschaftsanalysen, religiöse Werthaltungen und humanistische Überlegungen standen hier gleichrangig nebeneinander. Schließlich behauptete sie, dass die Demokratie im Sozialismus ihre höchste Form entfalten werde, der Sozialismus zugleich nur durch die Demokratie verwirklicht werden könne. Ein größeres gesamtparteiliches Echo in der SPD blieb dieser Grundsatzerklärung jedoch versagt. Dortmunder Aktionsprogramm von 1952 Unter der Federführung von Willi Eichler, der sich innerparteilich bereits seit längerem für eine programmatische Erneuerung der SPD starkmachte, erarbeitete ab April 1952 ein von der Parteiführung eingesetzter zehnköpfiger Ausschuss den Entwurf eines so genannten Aktionsprogramms. Im September desselben Jahres verabschiedete der Dortmunder Parteitag der SPD diesen Entwurf als Dortmunder Aktionsprogramm einstimmig. Hintergrund war der sich bereits ankündigende Wahlkampf für die Bundestagswahl, die ein Jahr später stattfinden sollte. Der erste Entwurf hatte aus der Sicht der Parteifunktionäre den Erfordernissen der Wahlagitation kaum Genüge getan und wurde daher vor dem Parteitag formal und inhaltlich erheblich modifiziert. Aber auch die verabschiedete Fassung hatte – so der Historiker Kurt Klotzbach – nur den „Charakter eines achtbaren Zeugnisses penibler praktischer Selbstverständigung“. Außenwirkung und Interesse in der Öffentlichkeit weckte es nicht. Die gemäßigten Reformforderungen der Partei im eigentlichen Aktionsprogramm standen zudem unverbunden neben der apodiktisch-kritischen Gegenwartsbeschreibung des Vorworts, das noch Kurt Schumacher verfasst hatte, der im August 1952 verstorben war. Alle Versuche, die die Partei nach 1952 unternahm, um das Dortmunder Aktionsprogramm bekannt und populär zu machen, – hierzu gehörten Fachkonferenzen, eine eigene Schriftenreihe und ein Handbuch sozialdemokratischer Politik, das das Programm umfangreich kommentierte – blieben ohne den gewünschten Erfolg. Das Dortmunder Aktionsprogramm erreichte allein jene Funktionäre, die auch ohne ein solches Papier fest zur Partei standen. Berliner Fassung des Aktionsprogramms von 1954 Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl von 1953 intensivierte die Parteiführung um den neuen Vorsitzenden Erich Ollenhauer die Bemühungen, ein neues Parteiprogramm zu formulieren. Zunächst erarbeitete eine Studienkommission bis April 1954 die so genannten Mehlemer Thesen. Diese wurden anschließend durch eine Kommission aus 60 Personen, wiederum unter Vorsitz von Willi Eichler, genutzt, um für den Berliner Parteitag von Juli 1954 das Dortmunder Aktionsprogramm zu überarbeiten und ihm eine Präambel mitzugeben. Der Parteitag verabschiedete diese Aktualisierung und Ergänzung. Der Sozialismus wurde dabei als „Menschheitsziel“ bezeichnet. Er sei allerdings kein Endziel, sondern eine Daueraufgabe. Sozialistische Ideen seien ferner keine „Ersatzreligion“. Christentum, klassische Philosophie und Humanismus galten als Wurzeln der sozialistischen Gedankenwelt. Die Abkehr der SPD von der reinen Arbeiterpartei hin zur Volkspartei wurde bereits in diesem Parteitagsbeschluss von 1954 ausgeführt: „Die Sozialdemokratie ist aus einer Partei der Arbeiterklasse, als die sie erstand, zur Partei des Volkes geworden. Die Arbeiterschaft bildet dabei den Kern ihrer Mitglieder und Wähler.“ Den wirtschaftspolitischen Abschnitt des Programms hatte Karl Schiller maßgeblich beeinflusst. Seine bereits ein Jahr zuvor geprägte griffige Formel „Soviel Markt wie möglich, soviel Planung wie nötig“ leitete den Unterabschnitt über „Planung und Wettbewerb“ ein. Die SPD kehrte damit ihre Wertschätzung von plan- und marktwirtschaftlichen Prinzipien um; von nun an genoss der Markt die Priorität vor der Planung. Über Sozialisierungen wurde im Aktionsprogramm nicht mehr gesprochen. Es forderte allein die Überführung der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum mit dem Ziel der Vollbeschäftigung. Entwurf des Grundsatzprogramms und Organisationsreform Zu den Ergebnissen des Berliner Parteitags der SPD von 1954 gehörte der Beschluss, eine Kommission einzusetzen, die das neue Parteiprogramm entwerfen sollte. Diese „Große Programmkommission“ aus 34 Personen nahm ihre Arbeit, die in fünf Unterausschüssen stattfand und ebenfalls von Willi Eichler gesteuert wurde, im März 1955 auf. Die Programmarbeit kam dabei anfangs nur schleppend voran. Ein erster Streitpunkt war die Frage, ob das Grundsatzprogramm durch eine so genannte „Zeitanalyse“ eingeleitet werden sollte oder nicht. Die Aufgabe einer solchen Analyse wäre die wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Beschreibung der Gesellschaft und der Gegenwart aus Sicht der Partei gewesen sowie eine geschichtsphilosophische Prognose. Die Diskussion darüber verlief zäh und wirkte auch auf Beteiligte gelegentlich ermüdend. Aufstrebende Parteipolitiker wie Herbert Wehner, Fritz Erler oder Willy Brandt hielten sich in dieser Phase der Programmentwicklung zurück. Sie konzentrierten sich stattdessen darauf, wichtige organisatorische und personelle Veränderungen vorzubereiten. Das Ziel dieser Pläne war die Beseitigung der Einflüsse des „Büros“, also des Parteiapparats der hauptamtlichen Funktionäre des Parteivorstands. Die Reformer in der Partei strebten danach, dem „Apparat“ allein die notwendigen Verwaltungsaufgaben zuzuweisen. Die Parteispitze selbst sollte die politische Richtung formulieren. Diese Veränderung gelang auf dem Stuttgarter Parteitag von Mai 1958. Der Einfluss der hauptamtlich Besoldeten ging zurück durch den Beschluss, als Zentrum der Parteiführung aus der Mitte des Parteivorstands das so genannte Präsidium zu wählen. Zu Stellvertretern Ollenhauers wurden überdies Wehner und Waldemar von Knoeringen gewählt. Bereits im Oktober 1957 hatten die Reformer in der SPD einen Etappensieg verzeichnet. Bei der Neuwahl des Vorstands der SPD-Fraktion im Bundestag setzen sich drei ihrer profiliertesten Vorderleute durch: Wehner, Erler und Carlo Schmid lösten die als Traditionalisten geltenden Erwin Schoettle und Wilhelm Mellies im Amt der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden ab und bestimmten fortan die Grundlinien der Fraktionsarbeit. Eine Ursache für diese Entscheidungen des Stuttgarter Parteitags waren die Vorarbeiten der Reformer. Wichtiger war dafür allerdings der Schock, den das Ergebnis der Bundestagswahl von 1957 auslöste. Die Unionsparteien holten die absolute Mehrheit. Adenauers Popularität war ungebrochen. Ihm war kurz zuvor die Wiedereingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik gelungen. Zudem erwies sich die Rentenreform als wahlwirksamer Schachzug. Die Niederschlagung des Ungarnaufstandes wusste der Bundeskanzler zudem gegen die SPD auszulegen. All diese Faktoren wirkten aus der Sicht der SPD negativ und bescherten ihr ein Ergebnis von knapp 31,8 Prozent der Wählerstimmen. In den Führungskreisen der SPD kursierten pessimistische Zukunftserwartungen. Die Bundesrepublik steuere durch die Dominanz der Union auf einen Einparteienstaat zu nach dem Muster von George Orwells Roman 1984. Hamburger Sozialdemokraten hielten die „Gefahr des klerikohalbfaschistischen Staates“ für gegeben. Es drohe eine innenpolitische Faschisierung. Die nachhaltige Wirkung dieses Wahlergebnisses steigerte die Anstrengungen, ein neues Grundsatzprogramm vorzulegen. Eichler hatte aus den Entwürfen der Unterkommissionen im April 1958 einen ersten Gesamtentwurf zusammengestellt und dem Parteitag vorgelegt. Im Sommer wurde dieser in Stuttgart in erster Lesung diskutierte Entwurf an alle Parteimitglieder verschickt. Anschließend begann ein breiter innerparteilicher Diskussionsprozess mit einer Intensität, die viele in der Parteiführung überraschte. Das Interesse griff erstmals über die Zirkel der Wenigen aus, die sich bereits seit Jahren mit Programmfragen befasst hatten. Insbesondere Eichler und Heinrich Deist, ein Vordenker aktualisierter wirtschaftspolitischer Grundsätze der SPD, diskutierten den Entwurf auf mehreren hundert Parteiveranstaltungen mit den Mitgliedern. Viele Genossen äußerten auf diesen Treffen ihre Unzufriedenheit mit der Textlänge. Aus diesem Grund setzte der Parteivorstand, der nun die Zügel der Programmdiskussion in die Hand nahm, im Februar eine so genannte Redaktionskommission ein, der der Journalist Fritz Sänger vorstand. Diese kürzte den von Eichler vorgelegten Entwurf deutlich. Zugleich entfernte sie – wie es hieß – „verbalradikale Restbestände“. Außerdem wurde die umstrittene Zeitanalyse fallengelassen. Im Juni 1959 legte Sänger dem Parteivorstand die Überarbeitung vor. Vier Personen – Eichler, Sänger, Ollenhauer und Benedikt Kautsky, Sohn von Karl Kautsky – feilten anschließend erneut am Entwurf. Der Rechtsexperte Adolf Arndt integrierte ein deutlicheres Bekenntnis der Partei zum Grundgesetz, während Erler, Fachmann für Wehrfragen, eine Stellungnahme zur Landesverteidigung einfügte. Die gestrichene Zeitanalyse wurde durch eine Einleitung, die Sänger und Heinrich Braune verfassten, ersetzt. Der Parteivorstand beschloss am 3. September 1959, die vorliegende Fassung auf dem Godesberger außerordentlichen Parteitag von November 1959 einzubringen. Godesberger Parteitag 1959 Der in der Stadthalle von Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959 tagende außerordentliche Parteitag der SPD befasste sich ausschließlich mit der Frage eines neuen Grundsatzprogramms. Ollenhauer eröffnete vor den 340 stimmberechtigten Delegierten und 54 mit beratender Stimme anwesenden Funktionären den Parteitag und stellte dabei klar, dass das neue Programm keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebe, sondern als politisches Programm einer politischen Partei zu verstehen sei. Zu Beginn der Aussprache stand die Frage an, ob die Beschlussfassung über den Programmentwurf zu vertagen sei. Ein Antrag von Parteitagsdelegierten aus Bremen forderte eine solche Verschiebung, weil die Zeit bis zum Parteitag nicht gereicht habe, um den letzten, den nun vorliegenden Entwurf des Parteivorstands ausführlich zu diskutieren. Dieser Antrag fand keine Mehrheit. Im Verlauf des Parteitags zeigte sich, dass die Kritiker des Entwurfs, die sich auf dem linken Parteiflügel fanden, deutlich in der Minderheit und zudem in sich zerstritten waren. Zwei Gegenstände des neuen Programms erzeugten intensivere Debatten. Zum einen verlangte eine Reihe von Delegierten Änderungen im Abschnitt über „Eigentum und Macht“. Der Ortsverein Backnang forderte die Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum – diesem Antrag stimmten immerhin 69 Delegierte des Parteitags zu. 89 Delegierte votierten für den Antrag des Bezirks Hessen-Süd, der die Schutzwürdigkeit des Privateigentums nur dann festgeschrieben sehen wollte, wenn dieser Schutz eine gerechtere Sozialordnung nicht behindere. Zum anderen entfachte die Neufassung des Verhältnisses zu den Kirchen eine größere Kontroverse. Das neue Programm sprach hier von einer „freien Partnerschaft“. Das ging vielen Delegierten zu weit. Viele Mitglieder und Funktionäre hatten ein traditionell angespanntes Verhältnis zu den Kirchen und ihren Repräsentanten. Überdies engagierten sich nicht wenige Sozialdemokraten in Freidenkervereinigungen. Allein der Appell an die Geschlossenheit der Partei bewahrte den Parteivorstand in dieser Frage vor einer Niederlage. Veränderungen gegenüber dem Entwurf des Parteivorstands gab es nur in Details. Eine Redaktionskommission um Fritz Sänger arbeitete diese Details ein. Am 15. November verabschiedete der Parteitag den Programmentwurf mit 324 gegen 16 Stimmen. Dem Engagement von zwei Personen wird dieses Ergebnis in besonderem Maße zugeschrieben. Herbert Wehner setzte sich vehement für die Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms ein. Von marxistischem Gedankengut solle man sich verabschieden. Mehrfach gebrauchte er in diesem Zusammenhang seine berühmt gewordene Beschwörungsformel „Glaubt einem Gebrannten!“. Die Parteilinke überraschte Wehners Position, wähnte sie ihn doch vor dem Parteitag in den Reihen der Kritiker des Programmentwurfs. Auch Ollenhauer war mit ausschlaggebend. Aus Loyalität zum Parteivorsitzenden stimmten viele Delegierte dem Programm zu, selbst wenn sie nicht mit allen Punkten einverstanden waren. Inhalt Einleitung Das Godesberger Programm gliedert sich in sieben Teile, denen eine Einleitung vorangestellt ist. Diese thematisiert den „Widerspruch unserer Zeit“, der darin bestünde, die zivile Nutzung der Atomkraft zu ermöglichen, zugleich aber dem Risiko eines Atomkrieges ausgesetzt zu sein. Der demokratische Sozialismus erstrebe eine „neue und bessere Ordnung“. Sie solle allen in friedlichen Verhältnissen einen gerechteren Anteil am gemeinsam geschaffenen Reichtum verschaffen. Grundwerte Der erste Abschnitt widmet sich den so genannten „Grundwerten des Sozialismus“ – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Der demokratische Sozialismus habe drei ideengeschichtliche Wurzeln: die christliche Ethik, den Humanismus und die klassische Philosophie. Der Hinweis auf eine weitere Wurzel, den Marxismus, fehlt, obwohl diese Wurzel in allen vorangegangenen Grundsatzprogrammen die entscheidende Rolle gespielt hatte. Die SPD, so das Godesberger Programm, wolle keine „letzten Wahrheiten“ verkünden, das die Partei einigende Band seien die Grundwerte und das gemeinsame Ziel des demokratischen Sozialismus. Sozialismus sei dabei nicht das Endziel historischer Entwicklungen, sondern die dauernde Aufgabe, „Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren“. Grundforderungen Der zweite Abschnitt stellt „Grundforderungen“ vor. Krieg wird als Mittel der Politik abgelehnt. Eine „internationale Rechtsordnung“ solle das Zusammenleben der Völker regeln. Kommunistische Regime werden abgelehnt, weil der Sozialismus nur durch Demokratie verwirklicht werden könne. Die Demokratie sei nicht nur durch Kommunisten gefährdet. Jede Macht, auch wirtschaftliche Macht, müsse öffentlich kontrolliert werden, geschehe dies nicht, sei Demokratie ebenfalls gefährdet. Aus diesem Grund erstrebe der demokratische Sozialismus eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung. Aussagen zur staatlichen Ordnung und zur Landesverteidigung Ausdrücklich bekannte sich die SPD mit dem dritten Abschnitt des Godesberger Programms zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Daraus leite sich das Eintreten für die nationale Einheit der Deutschen ab und zugleich das Bekenntnis zur Landesverteidigung. In diesem Zusammenhang wurden eine atomwaffenfreie Zone in Europa und Schritte der Abrüstung gefordert. Wirtschafts- und Sozialordnung Der vierte Abschnitt, der sich mit der „Wirtschafts- und Sozialordnung“ befasst, ist der längste. Die Schillersche Formel „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig!“ ging in das Programm ein und prägte die Aussagen zur Wirtschafts- und Sozialordnung. Ein stetiger wirtschaftlicher Aufschwung und die Chance auf allgemeinen Wohlstand für alle würden durch die zweite industrielle Revolution sichergestellt werden. Aufgabe der staatlichen Wirtschaftspolitik sei es, diese Wohlstandsmöglichkeiten durch vorausschauende Konjunkturpolitik auf Basis einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und eines Nationalbudgets zu verwirklichen. Weitere Beeinflussungen des Marktgeschehens hätten jedoch zu unterbleiben, denn „freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative [seien] wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik“. Wenn private wirtschaftliche Macht zur Gefahr für den Wettbewerb und die Demokratie zu werden drohe, sei öffentliche Kontrolle durch Investitionskontrollen, durch Kartellgesetze und durch den Wettbewerb von privaten und gemeinwirtschaftlichen Unternehmen geboten. Allein wenn eine „gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse“ nicht gewährleistet werden könne, habe Gemeineigentum Berechtigung. Von Sozialisierungen spricht das Godesberger Programm nicht. Auch die Forderung nach Sozialisierung des Bergbaus, ein Jahr zuvor von der Partei angesichts der beginnenden Bergbaukrise in Deutschland erhoben, fand sich nicht in diesem Programmabschnitt. Innerhalb der Betriebe müsse es eine wirksame Mitbestimmung geben. Der Demokratisierungsprozess dürfe vor den Betrieben nicht haltmachen. Auch hier müsse es mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten geben: „Der Arbeitnehmer muß aus einem Wirtschaftsuntertan zu einem Wirtschaftsbürger werden“ – so das Programm. Für die freie und eigenverantwortliche Entfaltung des Einzelnen habe die Sozialpolitik die Grundlagen zu schaffen. Kulturelles Leben Der fünfte Abschnitt thematisiert „das kulturelle Leben“. Die Aussagen dieses Programmteils dienten vor allem einer Veränderung des Verhältnisses von Partei und Kirchen. In der Interaktion dieser Institutionen sei die „gegenseitige Toleranz“ aus der Position einer „freien Partnerschaft“ geboten. Ferner formuliert das Programm knapp: „Der Sozialismus ist kein Religionsersatz.“ Internationale Gemeinschaft Im sechsten Abschnitt präsentierte die Partei ihre Vorstellungen über die „internationale Gemeinschaft“. Dabei griff sie Forderungen auf, die sie bereits seit Jahrzehnten vortrug. Die Sicherung der Freiheit und die Bewahrung des Friedens seien hier die vorrangigen Ziele. Hierzu zählten die Forderung nach allgemeiner Abrüstung und internationalen Schiedsgerichten. Die Vereinten Nationen sollen zu einem wirksamen Garanten des Friedens werden. Überdies hätten Entwicklungsländer Anspruch auf Solidarität und uneigennützige Hilfe der reicheren Völker. Rückblick und Perspektive Im Schlussabschnitt mit der Überschrift Unser Weg wird der Blick zunächst zurückgeworfen auf die Geschichte der Arbeiterbewegung. Früher „Ausbeutungsobjekt der herrschenden Klasse“, habe der Arbeiter in Jahrzehnten dabei seinen anerkannten Platz als gleichberechtigter Staatsbürger erstritten. Der Kampf der Arbeiterbewegung sei ein Kampf für die Freiheit aller gewesen. Aus diesem Grund sei die Sozialdemokratie „aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden“. Die Aufgabe des demokratischen Sozialismus sei damit aber noch nicht erfüllt, denn die kapitalistische Welt sei nicht in der Lage, „der brutalen kommunistischen Herausforderung das überlegene Programm einer neuen Ordnung politischer und persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung, wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit entgegenzustellen“ und zugleich die Emanzipationsbestrebungen der Entwicklungsländer zu berücksichtigen. Die „Hoffnung der Welt“ sei hier der demokratische Sozialismus, der eine „menschenwürdige Gesellschaft“ anstrebe, „frei von Not und Furcht, frei von Krieg und Unterdrückung“. Gegenentwürfe Entwurf von Wolfgang Abendroth Wolfgang Abendroth, in den Nachkriegsjahren einer der wenigen westdeutschen Marxisten mit Lehrstuhl an einer Universität (Philipps-Universität Marburg), bemühte sich in der SPD darum, die Partei auf Beibehaltung marxistischer Grundpositionen zu verpflichten. Aus diesem Grund beteiligte er sich intensiv an den Debatten über eine Neufassung des Grundsatzprogramms. Nach sechsjähriger Mitarbeit in den Programmkommissionen schickte er Eichler am 15. April 1959 einen Gegenentwurf zu. Dieser orientierte sich grundlegend an den Positionen von Karl Marx und Friedrich Engels. Bereits mit dem ersten Kapitel seines Gegenentwurfs markierte Abendroth den wesentlichen Unterschied zum späteren Godesberger Programm. Dieses Kapitel – „Die gesellschaftliche Lage im kapitalistisch organisierten Teil der Welt“ genannt – ging von der anhaltenden Monopolisierung und Konzentration des Kapitals aus. Eine kleine Gruppe von Kapitalisten und von ihnen bestellte Manager dirigiere die körperliche und geistige Arbeit der Bevölkerungsmehrheit. Ansprüche dieser Mehrheit nach gleichberechtigter Mitwirkung an der Steuerung des „gesellschaftlichen Arbeitsprozesses“ würden von dieser Machtgruppe erfolgreich abgewehrt, ebenso wie alle Forderungen nach vollem Anteil am materiellen und kulturellen Fortschritt. Der Zusammenschluss zu finanzkapitalistischen Blöcken sowie die Monopolisierungstendenz insgesamt verhinderten demokratische Kontrollversuche. Der Staat verschmelze vielmehr mit den Interessen dieser übermächtigen Kapitalistengruppe. Öffentliche Gewalt könne daher stets in den Dienst ihrer Sonderinteressen gestellt werden. Auf Änderung dieses Zustands sei nur zu hoffen, wenn der „Kampf der Arbeitnehmer“ um die Verteidigung und Verbesserung ihrer Lebenslage sowie um die Einführung der sozialistischen Produktionsweise erweitert werde zum „Kampf um die Staatsmacht“. Nach Abendroth schließe das Grundgesetz den friedlichen Übergang zum Sozialismus keineswegs aus. Notwendig sei dafür die „Mobilisierung der Arbeiterklasse“. Ein solches Vorgehen habe Aussichten, wenn die Klassenverhältnisse in der Gesellschaft und im politischen System der Bundesrepublik analytisch herausgearbeitet und den Massen vermittelt werden würden. Die Aufklärung der Massen über die wirklichen Klassenstrukturen werde durch manipulativ agierende Parteiführungsschichten in der SPD allerdings sabotiert. Abendroth erzielte mit seinem Gegenentwurf parteiintern kaum ein Echo. Nur der Unterbezirk Marburg und der Ortsverein aus Senne bezogen sich auf ihn. Der Parteitag diskutierte nicht über die entsprechenden Anträge. Abendroth selbst war es nicht gelungen, ein Mandat für den Godesberger Parteitag zu erhalten. Gegenentwurf von Peter von Oertzen Ein weiterer Gegenentwurf kam von Peter von Oertzen, auch er ein Vertreter des linken Parteiflügels. Am 8. November 1959 unterrichtete von Oertzen einige Parteifreunde davon, dass er einen Alternativentwurf konzipiert habe. Diesen legte er bewusst als Kompromiss an, „die schlimmsten Ecken“ des Vorstandsentwurfs wollte er damit ausbügeln. Abendroths Gegenentwurf war ihm bekannt, er lehnte ihn jedoch ab. Inhaltlich sei der Abendroth-Entwurf zwar richtig, Form, Gedankengang und Argumentationsweise waren ihm allerdings zu dogmatisch. Peter von Oertzen beharrte auf der traditionellen Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese sei dem neuen Grundwerte-Dreiklang „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ vorzuziehen. Die Schillersche Formel vom Primat des Marktes gegenüber der Planung strich von Oertzen nicht. Er stellte allerdings einen Sozialisierungskatalog für eine Reihe von Industriezweigen auf. Energieerzeugende Unternehmen vor allem der Atomwirtschaft, die Montanindustrie, Unternehmen der Großchemie, Großbanken, Versicherungsgesellschaften sowie marktbeherrschende Unternehmen anderer Branchen seien reif für entsprechende Maßnahmen. Außerdem formulierte von Oertzen einen Abschnitt über die Demokratisierung der Wirtschaft. Die Initiative von Oertzens kam zu spät, um in den Beratungen des Parteitags Beachtung zu finden. Sein Redebeitrag erzeugte keinen Meinungswandel der Delegiertenmehrheit. Peter von Oertzen blieb einer der 16 Delegierten, die dem Godesberger Programm ihre Stimme versagten. Reaktionen und Wirkungen Reaktionen führender SPD-Politiker Viele führende Politiker in der SPD begrüßten das neue Grundsatzprogramm ausdrücklich. Willy Brandt etwa hielt es für eine „zeitgemäße Aussage“, die die praktische Arbeit der Partei fördere. Den Gegnern der SPD werde es erschwert, sie mit verzerrenden Aussagen anzugreifen, anstatt sich ernsthaft mit der Sozialdemokratie auseinanderzusetzen. Das Grundsatzprogramm porträtiere die SPD zudem als „kämpferisch demokratische Freiheitsbewegung“. Außerdem seien in einer Reihe wichtiger Punkte Klärungen erfolgt, so im Verhältnis zu den Kirchen, zum Staat und zur Landesverteidigung. Willi Eichler betonte und begrüßte, dass Grundwerte ausdrücklich formuliert worden seien und unter ihnen die Freiheit die zentrale Rolle spiele. Carlo Schmid stellte heraus, der Sozialismus sei gemäß dem Godesberger Programm keine Weltanschauung und schon gar keine Ersatzreligion mehr. Obwohl es noch Klassen gebe, sei Klassenkampf nicht mehr nötig, denn der Staat bewirke den Ausgleich der Klasseninteressen. Erler begrüßte insbesondere das veränderte Verhältnis zu den Kirchen und dass manches aus dem 19. Jahrhundert „aufgeräumt“ worden sei. Innerparteiliche Kritik Innerparteiliche Kritik blieb die Ausnahme und war auf den kleinen Kreis traditionell argumentierender Marxisten begrenzt. Abendroth missfiel beispielsweise die Loslösung von den traditionell marxistischen Grundvorstellungen. Auf eine kritische Analyse von Gesellschaft und Staat werde im neuen Programm gänzlich verzichtet. Zentrale „Bewegungsgesetze und Widersprüche“ blieben darum verborgen und damit auch die Ansatzpunkte für die „Zielsetzung, Strategie und Taktik der Partei“. Von ihrer Erziehungsaufgabe, ihrer Pflicht zur Förderung des Klassenbewusstseins wende sich die SPD ab. Peter von Oertzen blieb gleichfalls auf Distanz zum neuen Programm. Es richte die Partei „einseitig auf die parlamentarische Auseinandersetzung aus“. Es verwische „die Klassenlage und die Klasseninteressen der Arbeitnehmerschaft“, in diesem Zusammenhang seien auch die Angebote an den selbständigen Mittelstand „fragwürdig“. Zudem wies von Oertzen darauf hin, dass das Programm insgesamt von einem kaum gerechtfertigten wirtschaftlichen Optimismus getragen sei. „Die Verfasser glauben im Grunde nicht an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge“ – so von Oertzen. Reaktion der CDU und der FDP Die CDU behauptete überwiegend, das neue Grundsatzprogramm der SPD sei nur ein Manöver der Tarnung wahrer Absichten. Das strategische Ziel einer „marxistischen Machtergreifung“ sei unverändert. Im Godesberger Programm seien große Spielräume gelassen worden für weitgehende Reglementierungen von Wirtschaft und Gesellschaft. Sorgen machte der Union jedoch das Toleranz- und Partnerschaftsangebot der SPD an die Kirchen. Die Union riet den Kirchen daher, die angeblich antichristliche Einstellung der Sozialdemokratie nicht zu vergessen. Einige Christdemokraten intervenierten bei Geistlichen, damit SPD-Inserate nicht in Kirchenzeitungen erschienen. 1960 kam es auf dem CDU-Parteitag von Karlsruhe zu einer Auseinandersetzung zwischen Adenauer und Eugen Gerstenmaier, damals Bundestagspräsident. Dieser legte den Delegierten nahe, auf Basis des neuen Programms der SPD die Gemeinsamkeiten von SPD und CDU in der Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zu prüfen. Adenauer reagierte mit deutlichen Worten. Er hielt das SPD-Programm für ein reines Ablenkungsmanöver und widersprach allen Überlegungen zu einer gemeinsamen Politik. Die Freie Demokratische Partei (FDP) hielt allein die Haltung der SPD zur staatlichen Ordnung und zur Landesverteidigung für Schritte in die richtige Richtung. Sie erblickte dagegen in den wirtschaftspolitischen Überlegungen des Godesberger Programms eine „getarnte Sozialisierungszeitbombe“. Eine SPD-Regierung werde sich nicht scheuen, das Privateigentum der Bürger anzutasten. Echo in führenden Zeitungen Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) notierte, die SPD habe eine Reihe von Blockaden beseitigt, die den Weg zu den Wählern verstellten. Ein Wandel von der Arbeiterpartei zu einer Partei für Arbeitnehmer sei erkennbar. Die wirtschaftspolitischen Aussagen des Godesberger Programms blieben der FAZ jedoch suspekt. Zentralwirtschaftliche Lenkungsversuche seien durch eine SPD-Regierung nicht auszuschließen. Auch Die Welt wies darauf hin, dass der wirtschaftspolitische Abschnitt des Programms viele Spielräume ließe. Sie erblickte in den sonstigen Programmaussagen jedoch ebenfalls eine deutliche Annäherung der Partei an Staat, Kirche, Armee und Marktwirtschaft. Die Frankfurter Rundschau, insbesondere Conrad Ahlers, kritisierte die Offenheit der wirtschaftspolitischen Aussagen nicht. Es müsse hier nicht letzte Klarheit geben, wichtig sei vielmehr, dass der Geist der Zeit getroffen sei. Die SPD wolle die bestehende Ordnung nicht umstürzen, sondern sie in eine wehrhafte soziale Demokratie umgestalten. Die SPD auf dem Weg zur Macht Die programmatische Neuorientierung der Partei war ein Faktor, der zur veränderten öffentlichen Wahrnehmung der SPD beitrug. Sie wurde immer weniger als unversöhnliche Oppositionspartei angesehen. Das landesväterliche, repräsentative, populäre und gelegentlich überparteiliche Auftreten führender Sozialdemokraten in den Ländern, zu denen etwa Max Brauer, Wilhelm Kaisen, Hinrich Wilhelm Kopf, Georg-August Zinn und Willy Brandt gehörten, unterstützte diesen Eindruck. Die Annäherung an gesinnungsethische Protestanten gelang bereits im gemeinsamen Engagement gegen die Wiederbewaffnung und in der Bewegung Kampf dem Atomtod. Dass evangelische Christen aus dem Bürgertum die SPD als ihr Wirkungsfeld betrachten konnten, demonstrierten die Parteieintritte von Gustav Heinemann, Johannes Rau oder Erhard Eppler, die aus der Gesamtdeutschen Volkspartei kamen. Der lang ersehnte Einbruch in das Milieu der katholischen Arbeitnehmerschaft erfolgte allerdings nur nach und nach. Im Ruhrgebiet brauchte es hierfür die Krise der Eisen- und Stahlindustrie, die Mitte der 1960er Jahre einsetzte. Auf Bundesebene entschied die SPD, sich nicht als kompromissloser Widerpart der Regierungsparteien aufzustellen, sondern als „bessere Partei“. Sie legte Wert darauf, Gemeinsamkeiten mit der Regierung herauszustellen und sprach von ihrer Gemeinsamkeits-Politik. Ein erster Meilenstein dieser Entwicklung war die Aufsehen erregende außenpolitische Rede Wehners vor dem Bundestag am 30. Juni 1960, in der er den Kurswechsel der SPD in der Außen-, Deutschland- und Bündnispolitik formulierte. Die SPD beendete hier den Dauerkonflikt mit der Regierung. Sie tolerierte und unterstützte fortan die Westbindung der Bundesrepublik. Nach links zog die Partei deutliche Grenzen, indem sie sich 1961 vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund trennte. Auch Ausschlüsse prominenter Linker aus der SPD signalisierten den Trennungsstrich zum Marxismus. Von entsprechenden Beschlüssen waren zum Beispiel Wolfgang Abendroth, sein akademischer Kollege Ossip K. Flechtheim und Viktor Agartz, ein lange Jahre einflussreicher Gewerkschafter, betroffen. Bereits am 5. Februar 1960 hatte der SPD-Vorstand beschlossen, auch andere studentische Vereinigungen zu unterstützen, „wenn sie das Godesberger Programm der SPD anerkennen.“ Am 9. Mai 1960 wurde mit Unterstützung der SPD der Hochschulverband Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB) gegründet, der sich, anders als der SDS, ausdrücklich zum Godesberger Programm bekannte. In den 1960er Jahren wuchs der Stimmenanteil der SPD bei Bundestagswahlen stetig. Die Wählerschaft setzte sich im Kern weiterhin aus Arbeitern zusammen. Die Partei erreichte aber auch weitere Bevölkerungskreise nachhaltig. Die Behauptung des Godesberger Programms, die SPD sei eine Volkspartei geworden, ließ sich mehr und mehr auch aus ihrer Wählerstruktur ableiten. Das politische Gewicht der SPD verstärkte sich damit. 1966 gelang ihr mit der Bildung der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger der Eintritt in die Regierung. 1969 verwies sie mit der Bildung der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt die Unionsparteien auf die Oppositionsbank und bei der Bundestagswahl von 1972 zog sie schließlich mehr Wählerstimmen auf sich als die Union. Programmatische Ergänzungen und Erneuerungen Diskussionen bis Ende der 1960er Jahre In den 1960er Jahren hatten Programmdiskussionen insgesamt eine nur geringe Bedeutung. Die Partei ergänzte für einige Politikbereiche die Hauptaussagen des Godesberger Programms. Die wichtigsten Zusätze bezogen sich auf die Bildungspolitik, die Rechtspolitik und die Deutschlandpolitik. Mit ihren „Bildungspolitischen Leitsätzen“ konturierte die Parteiführung 1964 ihre Vorstellungen zur Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre. 1968 verabschiedete der SPD-Parteitag in Nürnberg eine „Rechtspolitische Plattform“. Die Partei forderte hier die Einschränkung des politischen Strafrechts, betonte die Gedanken der Resozialisierung und der Kriminalprävention und warb für eine Reform der Justiz, die diese durchschaubarer und effizienter machen sollte. In der Deutschland- und Ostpolitik suchte die Partei nach neuen Wegen. Auslöser war der Schock, den im August 1961 der Bau der Berliner Mauer auslöste. Die Nicht-Anerkennung der DDR sollte genauso überwunden werden wie die Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze als deutsche Ostgrenze. 1968 billigte der SPD-Parteitag in Nürnberg die „Sozialdemokratischen Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren“. Die gemachten Erfahrungen in der Regierung, die jüngeren SPD-Konzepte für die verschiedenen Politikbereiche und die erwarteten Zukunftsperspektiven sollten mit diesem Papier auf Basis der Godesberger Programmaussagen zusammengefasst werden. Größere Bedeutung erlangte diese Synthese allerdings nicht, denn praktische Fragen der Politik – dazu zählten die Debatte um die Notstandsgesetze, die Zustimmung zur Großen Koalition und das Verhältnis zum Deutschen Gewerkschaftsbund – dominierten die Diskussion. Für die am Ende der 1960er Jahre sich wieder stärker artikulierenden Linken führten die „Perspektiven“ überdies in die falsche Richtung. Den Pragmatikern ging dagegen das Maß an gesamtgesellschaftlicher Analyse, das sich in den „Perspektiven“ fand, zu weit. Orientierungsrahmen 85 Die 1970er Jahre erlebten intensive Programmdiskussionen mit weiter Ausstrahlung in die Partei. Die SPD war bestrebt, eine mittelfristige politische Konzeption für die nächsten 10 bis 15 Jahre zu entwickeln. Der erste Entwurf des so genannten Orientierungsrahmens, entwickelt seit Anfang der 1970er Jahre unter der Leitung von Helmut Schmidt, Hans Apel und Jochen Steffen, fiel 1973 innerparteilich durch. Die Jusos und Vertreter der Parteilinken kritisierten die fehlende sozialistische Perspektive. Eine neue, auf 30 Personen erheblich vergrößerte Kommission unter Vorsitz von Peter von Oertzen entwickelte einen zweiten Entwurf. Schmidt und Sozialdemokraten wie Hans-Jochen Vogel, die sich im „Godesberger Kreis“ organisierten, warnten allerdings davor, die programmatischen Fundamente zu verändern. Sie fürchteten eine Verengung und Dogmatisierung der theoretischen Grundannahmen der SPD – ein deutlicher Hinweis an die Parteilinke, es mit der Revitalisierung marxistischer Positionen nicht zu übertreiben. Die Parteiführung, insbesondere Wehner und Brandt, machten sich diese Warnungen zu eigen und wussten dabei die Parteimehrheit hinter sich. Die Kommission um Peter von Oertzen berücksichtigte diese Signale und versuchte einen Mittelweg. Das Godesberger Programm sollte nicht revidiert werden, eine einseitig marktwirtschaftliche Lesart des Programms, wie sie in den 1960er Jahren vorgeherrscht habe, hielt sie allerdings ebenfalls für unangemessen. Im November 1975 wurde schließlich in Mannheim der zweite Entwurf des Orientierungsrahmens 85 per Parteitagsbeschluss angenommen. Auf dem Parteitag kam es zu längeren Debatten über die Positionen zu „Markt und Lenkung“. Die Parteilinke war mit dem entsprechenden Abschnitt des Orientierungsrahmens nicht einverstanden und brachte Anträge zur Investitionslenkung, zu Investitionsverboten und zur Vergesellschaftung von Produktionsmitteln ein. Nach dieser demonstrativen Unmutsäußerung, die am Entwurf nichts änderte, stimmte auch sie dem vorgelegten Entwurf zu, der mit nur zwei Enthaltungen und einer Gegenstimme verabschiedet wurde. Der Orientierungsrahmen erreichte keinen handlungsleitenden Status, denn die ökonomischen Rahmenbedingungen verschlechterten sich in einem Maß, das selbst die zurückgestutzten Wachstumserwartungen des Orientierungsrahmens zur Makulatur werden ließ. Innerparteilich geriet er bald in Vergessenheit. Einzig der Entstehungsprozess des Orientierungsrahmens blieb vielen Beteiligten in positiver Erinnerung. Parteilinke und die Parteirechte hatten sich in einer überwiegend sachlichen Auseinandersetzung auf einen vorzeigbaren Kompromiss einigen können. Berliner Programm von 1989 Noch Ende der 1970er Jahre hatte es Brandt als Parteivorsitzender abgelehnt, Schritte zur Formulierung eines neuen Programms einzuleiten, das jenes von Bad Godesberg ablösen sollte. 1982 verkündete er allerdings, dass die Partei in eine Phase gehen werde, „in der wir Godesberg kritisch abklopfen“. Die Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD legte dazu zwei Jahre später einen Bericht vor. Er enthielt eine Reihe von Empfehlungen, welche weiteren Aspekte ein neues Grundsatzprogramm enthalten sollte und welche Passagen des Godesberger Programms zu präzisieren seien. Der beschleunigte technische Wandel, der gravierende Anstieg der Arbeitslosigkeit, Probleme der Umweltzerstörung, die internationale Schuldenkrise, das Wettrüsten und das Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen verlangten demnach neue Antworten. Ein erster Entwurf lag 1986 vor. Er rief scharfe Kritik linker Sozialdemokraten hervor. Eine zweite, von Oskar Lafontaine angeführte Kommission präsentierte im März 1989 einen überarbeiteten Entwurf, der Grundlage des vom 18. bis zum 20. Dezember in Berlin tagenden Parteitags wurde. Dieser Parteitag verabschiedete das neue Grundsatzprogramm der SPD, das Berliner Programm. Ökologische Fragen und Forderungen, der Appell an eine nachhaltige Ausrichtung der Industriegesellschaft, das Bestreben nach Gleichberechtigung der Frau und die Forderung nach einem neuen Rollenverhältnis der Geschlechter, die Ausdehnung der Solidarität auf kommende Generationen, der Wille zur erweiterten Teilhabe der Arbeitnehmer am Produktivvermögen sowie zum Aus- und Umbau des Sozialstaates kennzeichneten diese Schrift. Die Grundwerte – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – hatten Bestand, auch im Hamburger Programm von Oktober 2007, ebenfalls die Positionierung als „Partei des Volkes“. Seit dem Berliner Programm ist allerdings der Begriff „linke Volkspartei“ in den Grundsatzprogrammen verankert. Wissenschaftliche Bewertungen 20 Jahre nach seiner Verabschiedung hieß es in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte zur Bedeutung des Godesberger Programms: „Kein anderes Dokument einer politischen Partei der Bundesrepublik hat so kontroverse Stellungnahmen und Interpretationen bewirkt wie dieses Programm.“ Diese reichten auch in wissenschaftlichen Bewertungen von strikter Ablehnung bis hin zur umfassenden Befürwortung. Anpassung Diejenigen, die meinten, der zentrale Auftrag der SPD sei die Mitarbeit an der Überwindung des kapitalistischen Gesellschaftssystems in (West-)Deutschland, lehnten das Godesberger Programm weitgehend ab. Historiker der DDR verurteilten das Programm und bewegten sich dabei in den von der SED vorgezeichneten Bahnen. Im „Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung“ hieß es, das Programm demonstriere die „Integration der Sozialdemokratie in den Staat des entwickelten staatsmonopolitischen Kapitalismus“. Mehr noch: Die Autoren behaupteten eine „weitgehende Übereinstimmung des Programms mit der Politik des Monopolkapitals“. Der „weltanschaulich auf der bürgerlichen idealistischen Philosophie“ beruhende Text sei die „völlige Abkehr von den sozialdemokratischen Zielen und Traditionen in Theorie und Praxis“. Abendroth deutete das Programm als Schlusspunkt eines Anpassungsprozesses. Der Kampf gegen das „oligopolistische Kapital“ sei von der SPD zu den Akten gelegt worden. „Das Programm ersetzt konkrete soziale Analyse und konkrete Zielsetzung durch den Appell an 'Werte' und Formeln, die jeweils beliebig ausgelegt werden können.“ Nach Gerhard Stuby war das Programm das Ergebnis einer erfolgreichen Politik „proimperialistischer Kräfte in der SPD“. Deren Zielsetzung sei dabei die „nahtlose Überführung der SPD in das staatsmonopolistische Herrschaftssystem“ gewesen. Ossip K. Flechtheim urteilte gleichfalls scharf ablehnend. Für ihn drückte das Godesberger Programm die „endgültige Unterwerfung unter die restaurative Entwicklung der Bundesrepublik“ aus. Diese habe bereits 1914 mit der Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten begonnen und sich gleichfalls 1933 in der „Anbiederung an den Nationalsozialismus“ gezeigt. Theo Pirker schrieb die Partei nach Bad Godesberg ab, sie habe aufgehört, „eine antikapitalistische, sozialistische oder radikaldemokratische Partei zu sein“. Aus dem „nationalen Sozialismus“ der Schumacher-Ära sei ein „nationaler Sozialliberalismus geworden, der aus der Opposition ideologisch einen Appendix der herrschenden Partei machte“. Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker warfen dem Programm vor, das aus Jugend- und Kulturverbänden bestehende sozialdemokratische Milieu völlig zu vernachlässigen und die Frage, woher zusätzliche Anhänger gewonnen werden sollten, im Dunkeln zu lassen. Die „Herforder Thesen“ der Stamokap-Strömung bei den Jungsozialisten werteten das Programm als Verlust des letzten Einflusses der Linken auf die Parteiorganisation. Regierungsfähigkeit Die programmatischen Entscheidungen von Bad Godesberg wurden von solchen Autoren begrüßt, die die Entwicklung der Partei daran maßen, inwieweit sie sich auf das parlamentarische System der Bundesrepublik einließ und sich Grundentscheidungen der Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland – dazu gehören auch ordnungspolitische Weichenstellungen – zu eigen machte. Diesen Autoren ging es in ihren Urteilen oft darum auszuloten, inwieweit es mit dem Godesberger Programm gelang, das Wählerreservoir auszuschöpfen und zu erweitern, um Regierungs- und damit Gestaltungsmacht zu erlangen. Susanne Miller, Mitautorin einer vielfach aufgelegten Kleinen Geschichte der SPD, die auch bei parteiinternen Schulungszwecken zum Einsatz kam, hob hervor, das Godesberger Programm habe „viel zu einer innerparteilichen Beruhigung und Klärung, vor allem aber zu einem Wandel des Erscheinungsbildes der SPD in der Öffentlichkeit“ beigetragen. Damit sei die Voraussetzung geschaffen worden, „das von ihr angestrebte Ziel erreichen zu können: eine von verschiedenen Schichten wählbare ‚Volkspartei‘ zu werden.“ Klaus Lompe urteilte ähnlich. Die Sozialdemokraten gewannen durch die Verabschiedung des Programms „im Inneren ein neues Selbstverständnis und nach außen hin ein neues Bild in der Öffentlichkeit – eine Voraussetzung ihrer Regierungsfähigkeit“. Er betonte zudem, das Godesberger Programm sei kein Bruch und auch keine Wende gewesen. Viele programmatische Diskussionslinien der 1940er und 1950er Jahre hätten nach Bad Godesberg geführt, das damit „den Abschluß einer kontinuierlichen geistigen Entwicklung“ darstelle. Diese These vertrat Kurt Klotzbach ebenfalls. In seinen zentralen Aussagen und Forderungen sei das Programm „nichts anderes als eine Konzentration dessen, was führende politische und programmatische Sprecher der SPD seit den vierziger Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten vertreten hatten“. Die SPD verankerte sich durch das Programm „als freiheitlich-sozialistische Gruppierung fest im pluralistisch-konkurrenzdemokratischen System“. Das die bisherige Parteigeschichte bestimmende Spannungsverhältnis zwischen einer auf Systemüberwindung zielenden Theorie und einer pragmatisch-reformorientierten Praxis sei zudem überwunden worden. Die Ziele ergaben sich nach Klotzbach nun aus den Grundwerten, während die jeweils auszuwählenden und zu erprobenden Mittel davon getrennt blieben. Detlef Lehnert widersprach an dieser Stelle. Die Spannung von Theorie und Praxis sei keineswegs überwunden worden. Die SPD habe das neue Programm nur von zu hohen Erwartungen entlastet. Die Orientierung der Partei auf Grundwerte und Grundforderungen sei „von vornherein nicht auf ihre Realisierung in praktischer Politik überprüfbar“. Helga Grebing betonte ebenfalls die Kontinuität, in der das Programm gestanden habe. Es sei kein Kurswechsel gewesen, „es schrieb vielmehr noch einmal grundsätzlich die Leitlinien fest, zu denen sich die SPD im Jahrzehnt nach der Gründung der Bundesrepublik bereits Schritt für Schritt durchgerungen hatte.“ Es sei jedoch mehr als nur ein Schlussstein gewesen. Die Sozialdemokraten hätten mit diesem Text auch eine „zeitadäquate Antwort“ gefunden auf das „Scheitern des humanen Sozialismus in den kommunistischen Staaten Osteuropas, eine Antwort auf die Fähigkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zur Verschiebung ihrer existenziellen Grenzen, eine Antwort auf die sich abzeichnenden Veränderungen in der Sozialstruktur in der Bundesrepublik“. Als Defizite des Godesberger Programms galten ihr insbesondere das „blinde Vertrauen“ in die Möglichkeiten des Wirtschaftswachstums sowie eine „unreflektierte, wenn nicht gar naive Fortschrittseuphorie“. Christoph Nonn meinte, das Godesberger Programm habe für eine „Entschlackung des sozialdemokratischen Ideenhaushalts um marxistische Elemente“ gesorgt. Entstandene Lücken in der Theorie seien „mit liberalen Elementen“ aufgefüllt worden. Für praktische Politik habe es allerdings wenig konkrete Anhaltspunkte geboten. Nonn arbeitete in seiner Studie insbesondere die Bedeutung der Krise des deutschen Kohlebergbaus heraus, die 1958 begann. Diese habe innerhalb der SPD zu erheblichen Kontroversen zwischen Vertretern einer konsequenten Konsumentenpolitik auf der einen Seite und einer stringenten Interessenpolitik für Arbeitnehmer, insbesondere der Bergarbeiter, auf der anderen Seite geführt. Dieser Konflikt sei nicht ausgetragen, sondern verdrängt worden, weshalb im Godesberger Programm keine Aussagen zur Sozialisierung des Bergbaus zu lesen seien, obwohl diese alte sozialdemokratische Forderung ein Jahr zuvor noch Parteilinie war. In der Nachfolge habe es die SPD vermieden, konfliktträchtige Themen aufzugreifen und voranzutreiben. Stattdessen habe sich die Partei in den 1960er Jahren darauf konzentriert, konsensfähige Politikfelder zu bearbeiten und dort die Meinungsführerschaft zu erlangen. In ihrer Dissertation über „Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie“ arbeitete Julia Angster heraus, dass das Programm auch durch die intensive Auseinandersetzung mit westlichen, insbesondere angloamerikanischen Politik- und Gesellschaftskonzepten entstand. Der Einfluss der amerikanischen Gewerkschaften war in dieser Hinsicht außerordentlich relevant. Diese befürworteten die an John Maynard Keynes orientierte politics of productivity (über hohe Produktivitätszuwächse den Klassenkonflikt überwinden und die gemeinsame Unterstützung einer konsequenten Wachstumspolitik erreichen), den Fortschritts- und Wachstumsglauben sowie den Pluralismus als gesellschaftliches Konzept. Durch die jeweils spezifische Adaption dieser Konzeptionen beschritt nicht allein die SPD den Weg der Westernisierung; mit ihr entschieden sich eine ganze Reihe westeuropäischer Arbeiterbewegungen für diese Neuorientierung. Anhang Literatur Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1970. Helga Grebing: Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, Teil II, in: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – katholische Soziallehre – protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, hrsg. von Helga Grebing, 2. Auflage, VS, Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 2005, S. 353–595, ISBN 3-531-14752-8. Siegfried Heimann: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. In: Richard Stöss (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980. Band II: FDP bis WAV. Mit Beiträgen von Jürgen Bacia, Peter Brandt u. a. (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 39), Westdeutscher Verlag, Opladen 1984, S. 2025–2216, ISBN 3-531-11592-8. Tobias Hintersatz: Das Godesberger Programm der SPD und die Entwicklung der Partei von 1959–1966. Welche Bedeutung hatte das Godesberger Programm für die Entwicklung der SPD zur Regierungspartei 1966?, Magisterarbeit an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, (Potsdam) 2006. (PDF, 357 kB) Kurt Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Berlin/Bonn 1982, ISBN 3-8012-0073-6. Helmut Köser: Die Kontrolle wirtschaftlicher Macht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 14/74, S. 3–25. Detlev Lehnert: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848 bis 1983 (edition suhrkamp, Neue Folge, Bd. 248), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-11248-1. Sabine Lemke: Die Rolle der Marxismus-Diskussion im Entstehungsprozeß des Godesberger Programms, in: Sven Papcke, Karl Theodor Schuon (Hrsg.): 25 Jahre nach Godesberg. Braucht die SPD ein neues Grundsatzprogramm? (Schriftenreihe der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, Bd. 16), Verlag und Versandbuchhandlung Europäische Perspektiven, Berlin 1984, S. 37–52, ISBN 3-89025-010-6. Klaus Lompe: Zwanzig Jahre Godesberger Programm der SPD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 46/79, S. 3–24. Christoph Meyer: Herbert Wehner. Biographie, Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2006, ISBN 3-423-24551-4. Susanne Miller: Die SPD vor und nach Godesberg (Kleine Geschichte der SPD, Band 2, Theorie und Praxis der deutschen Sozialdemokratie), Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1974, ISBN 3-87831-157-5. Christoph Nonn: Das Godesberger Programm und die Krise des Ruhrbergbaus. Zum Wandel der deutschen Sozialdemokratie von Ollenhauer zu Brandt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 50. Jg. (2002), H. 1, S. 71–97 (PDF). Peter von Oertzen: Die „wahre Geschichte“ der SPD. Zu den Voraussetzungen und Wirkungen des Godesberger Programms (Pankower Vorträge, Heft 4), Helle Panke, Berlin 1996. Hartmut Soell: Fritz Erler. Eine politische Biographie, Dietz, Berlin, Bonn-Bad Godesberg 1976, ISBN 3-8012-1100-2. Gerhard Stuby: Die SPD während der Phase des kalten Krieges bis zum Godesberger Parteitag (1949–1959), in: Jutta von Freyberg, Georg Fülberth u. a.: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1863–1975, zweite, verbesserte Aufl., Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1977, S. 307–363. Weblinks Godesberger Programm, einsehbar auf der Internetseite des Deutschen Historischen Museums (mittlerweile im Internet Archive). Godesberger Programm als PDF-Datei auf der Webpräsenz der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn (1,09 MB) Norbert Seitz: Anpassung an die Wirklichkeit. Vor 50 Jahren wurde das Godesberger Programm der SPD verabschiedet. Sendung des Deutschlandfunks vom 13. November 2009. 13. November 1959: Der SPD-Parteitag in Bad Godesberg beginnt Zusammenfassung des Radio-Podcast von Christoph Vormweg, gesendet auf WDR 5 am 13. November 2009. Einzelnachweise Bundesparteitag der SPD Politisches Dokument Geschichte der SPD Politik 1959 Politik (Bonn) Bad Godesberg
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Qualia
Unter Qualia (Singular: das Quale, von lat. qualis „wie beschaffen“) oder phänomenalem Bewusstsein versteht man den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes im Zusammenhang mit den auslösenden physiologischen Reizen. Das Verständnis der Qualia ist eines der zentralen Probleme der Philosophie des Geistes. Dort wird von manchen angenommen, dass ihre Existenz nicht mit den Mitteln der Neuro- und Kognitionswissenschaften erklärbar ist. Im Jahr 1866 führte der Amerikaner Charles S. Peirce den Begriff der Qualia systematisch in die Philosophie ein, auch wenn der Begriff z. B. schon rund dreißig Jahre früher bei Heinrich Moritz Chalybäus unter Bezugnahme auf die Philosophie Johann Friedrich Herbarts Erwähnung fand. Doch erst 1929 bestimmte C. I. Lewis in dem Buch Mind and the World Order die Qualia im Sinne der aktuellen Philosophie des Geistes als „erkennbare Charaktere des Gegebenen, die wiedererkannt werden können, und deshalb eine Art Universalien sind“. Ein in der Literatur häufig anzutreffendes Synonym für den Begriff der Qualia ist der englische Ausdruck raw feels. Begriffsbestimmung Unter „Qualia“ wird der subjektive Erlebnisgehalt mentaler Zustände verstanden. Doch gerade ein solches subjektives Element scheint sich jeder intersubjektiven Begriffsbestimmung zu widersetzen. Der Philosoph Thomas Nagel hat zur Bestimmung der Qualia die Redeweise geprägt, dass es sich , in einem mentalen Zustand zu sein (what is it like). Wenn eine Person etwa friert, so hat dies in der Regel verschiedene Konsequenzen. In der Person laufen etwa verschiedene neuronale Prozesse ab und die Person wird ein bestimmtes Verhalten zeigen. Doch das ist nicht alles: „Es fühlt sich für die Person auch auf eine bestimmte Weise an“, zu frieren. Allerdings kann Nagels Bestimmungsversuch nicht als allgemeine Definition gelten. Eine Bestimmung von Qualia durch die Phrase „sich auf bestimmte Weise anfühlen“ setzt voraus, dass diese Phrase schon verstanden ist. Wem jedoch die Rede von subjektiven Erlebnisgehalten nicht einleuchtet, der wird die Phrase auch nicht verstehen. Ned Block hat das Problem der Begriffsbestimmung daher wie folgt kommentiert: Die Probleme, die bei der Bestimmung von Qualia auftreten, haben einige Philosophen wie Daniel Dennett, Patricia und Paul Churchland dazu veranlasst, Qualia als gänzlich unbrauchbare Begriffe abzulehnen und stattdessen einen Qualiaeliminativismus zu vertreten. Ansgar Beckermann kommentiert hingegen: Das Rätsel der Qualia Auch wenn die explizite Diskussion der Qualia erst im 20. Jahrhundert aufkam, ist das Problem der Sache nach schon weit länger bekannt: Schon bei René Descartes, John Locke und David Hume lassen sich ähnliche, wenn auch nicht weiter ausgeführte Gedankengänge dieser Art finden. Hume beispielsweise behauptete in seinem Treatise on Human Nature (1739): Auch Gottfried Wilhelm Leibniz formulierte das Qualiaproblem in einem eindringlichen Gedankenexperiment. Leibniz lässt uns durch ein gigantisches Modell des Gehirns laufen. Ein solches Modell wird darüber informieren, wie im Gehirn Reize auf eine sehr komplexe Art und Weise verarbeitet werden und schließlich mittels Erregungsweiterleitung in verschiedenen Körperteilen zu einer Reaktion führen (vgl. Reiz-Reaktions-Modell). Aber, so Leibniz, nirgendwo werden wir in diesem Modell das Bewusstsein entdecken. Eine neurowissenschaftliche Beschreibung werde uns also über das Bewusstsein vollkommen im Dunkeln lassen. In Leibniz’ Gedankenexperiment kann man leicht das Qualiaproblem entdecken. Denn zu dem, was man in dem Gehirnmodell nicht entdecken kann, gehören ganz offensichtlich auch die Qualia. Das Modell mag uns etwa darüber aufklären, wie eine Lichtwelle auf die Netzhaut trifft, dadurch Signale ins Gehirn geleitet und dort schließlich verarbeitet werden. Es wird uns nach Leibniz’ Ansicht jedoch nicht darüber aufklären, warum die Person eine Rotwahrnehmung hat. Leibniz hat das Leib-Seele-Problem, das sich mit dem Begriff der Qualia näher beschreiben lässt, seinerseits mit dem Begriff der petites perceptions zu erfassen versucht. Eine weitere frühe Formulierung des Qualiaproblems geht auf den Physiologen Emil du Bois-Reymond und seine Ignorabimusrede zurück. In seinem 1872 auf der Naturforscherversammlung in Leipzig gehaltenen Vortrag Über die Grenzen des Naturerkennens erklärt du Bois-Reymond die Frage nach dem Bewusstsein zu einem Welträtsel: Die gegenwärtige Debatte um Qualia fußt vor allem auf dem Aufsatz What is it like to be a bat? („Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“) des Philosophen Thomas Nagel im Oktober 1974. Nagels Aufsatz fiel in eine Zeit, in der die Philosophie des Geistes durch die Entwicklungen der Neuro- und Kognitionswissenschaften überwiegend reduktionistisch geprägt war. Er argumentiert nun, dass die Naturwissenschaften das Phänomen des Erlebens gar nicht erklären könnten. Schließlich seien die Wissenschaften in ihrer Methode auf eine Außenperspektive festgelegt, in der sich die Innenperspektive des Erlebens gar nicht fassen lasse. Nagel versucht seine Position mit einem berühmt gewordenen Beispiel zu illustrieren. Er fordert dazu auf, sich eine Fledermaus vorzustellen. Nun können wir, so argumentiert Nagel, bei so fremden Lebewesen zwar viele neurowissenschaftliche und ethologische Experimente durchführen und dabei auch einiges über die kognitiven Fähigkeiten einer Fledermaus herausfinden. Wie es sich jedoch für die Fledermaus anfühlt, etwa ein Objekt mittels Echoortung zu lokalisieren, bleibe uns verschlossen. Nagel schließt aus diesem Beispiel, dass die subjektive Perspektive der Qualia nicht durch die objektive Perspektive der Naturwissenschaften zu erschließen sei. Qualia-Argumente Zusätzlich zu dem allgemein formulierten Qualiaproblem wurden immer wieder Argumente zur Stützung des Qualia-Konzeptes formuliert. Einige haben das Ziel, das Problem genauer zu bestimmen. Andere wollen aus ihm Konsequenzen ziehen, etwa eine Kritik des Materialismus. Das Mary-Gedankenexperiment Das berühmteste gegen den Materialismus gerichtete qualiabasierte Argument kommt von dem australischen Philosophen Frank Cameron Jackson. In seinem Aufsatz What Mary didn’t know („Was Mary nicht wusste“) formuliert Jackson das Gedankenexperiment der Superwissenschaftlerin Mary. Mary ist eine auf Farbensehen spezialisierte Physiologin, die seit ihrer Geburt in einem schwarz-weißen Labor gefangen ist und noch nie Farben gesehen hat. Sie kennt alle physischen Fakten über das Sehen von Farben, weiß jedoch nicht, wie Farben aussehen. Jacksons Argument gegen den Materialismus ist nun recht kurz: Mary kennt alle physischen Fakten über das Sehen von Farben – sie kennt dennoch nicht alle Fakten über das Sehen von Farben. Er schließt daraus, dass es nicht-physische Fakten gebe und der Materialismus falsch sei. Gegen dieses Argument sind verschiedene materialistische Erwiderungen vorgebracht worden. David Lewis argumentiert, dass Mary keine neuen Fakten kennenlernt, wenn sie erstmals Farben sieht. Vielmehr würde sie allein eine neue Fähigkeit erwerben – die Fähigkeit, Farben visuell zu unterscheiden. Michael Tye argumentiert ebenfalls, dass Mary vor ihrer Befreiung alle Fakten über das Sehen von Farben kennen würde. Mary würde lediglich einen schon bekannten Fakt auf eine neue Weise kennenlernen. Daniel Dennett erklärt schließlich sogar, dass es für Mary gar nichts Neues gäbe, wenn sie Farben zum ersten Mal visuell wahrnimmt. Ein so umfassendes physiologisches Wissen über das Sehen von Farben – sie weiß alles – würde sie mit allen Informationen ausstatten. Fehlende und invertierte Qualia Auch mit den Gedankenexperimenten der fehlenden und invertierten Qualia ist der Anspruch verbunden, die Rätselhaftigkeit der Qualia nachzuweisen. Diese Gedankenexperimente fußen auf der Tatsache, dass der Übergang von neuronalen Zuständen zu Erlebniszuständen keineswegs offensichtlich ist. Ein Beispiel (siehe Grafik): Ein neuronaler Zustand A geht mit einer Rotwahrnehmung, ein Zustand B mit einer Blauwahrnehmung einher. Nun sagt das Gedankenexperiment der invertierten Qualia, dass es auch vorstellbar sei, dass dies genau umgekehrt ablaufe: Derselbe neuronale Zustand A könne auch mit einer Blauwahrnehmung, derselbe neuronale Zustand B mit einer Rotwahrnehmung einhergehen. Das Gedankenexperiment der fehlenden Qualia behauptet darüber hinaus, dass es sogar vorstellbar sei, dass einem neuronalen Zustand gar keine Qualia gegenüberstehen. Die Idee der fehlenden Qualia läuft daher auf die Hypothese der „philosophischen Zombies“ hinaus: Es sei vorstellbar, dass Wesen die gleichen neuronalen Zustände wie andere Menschen haben und sich daher auch im Verhalten nicht von diesen unterscheiden. Dennoch hätten sie in Bezug auf den betrachteten neuronalen Zustand kein Erleben, den neuronalen Zuständen korrelierten also keine Qualia. Hinsichtlich der Motive für diese Gedankenexperimente muss man zwischen zwei verschiedenen Lesarten – einer erkenntnistheoretischen und einer metaphysischen – unterscheiden. Philosophen, welche die erkenntnistheoretische Lesart bevorzugen, wollen mit den Gedankenexperimenten zeigen, dass sich Qualia noch nicht auf neuronale Zustände reduzieren lassen. Sie argumentieren, dass die Vorstellbarkeit des Auseinandertretens von neuronalem Zustand und Qualia zeige, dass wir die Verbindung zwischen beiden nicht verstanden haben. Hier wird oft das Wasserbeispiel bemüht: Wenn Wasser erfolgreich auf H2O reduziert worden ist, sei es nicht mehr vorstellbar, dass H2O vorliege, ohne dass zugleich Wasser vorliege. Dies sei einfach deshalb nicht vorstellbar, weil das Vorliegen von Wasser unter den Gegebenheiten der Chemie und der Physik aus dem Vorliegen von H2O ableitbar ist. Nur deshalb könne man sagen, dass Wasser auf H2O reduziert worden sei. Ein Äquivalent der chemisch-physikalischen Theorie, die dieser erfolgreichen Reduktion zugrunde liegt, fehlt jedoch im Bereich der neuronalen und mentalen Phänomene. Die metaphysische Lesart der Konzepte der invertierten und fehlenden Qualia haben hingegen noch weiter reichende Folgen. Vertreter dieser Argumentationsrichtung wollen mit den Gedankenexperimenten beweisen, dass Qualia nicht mit Eigenschaften von neuronalen Zuständen identisch sind. Sie haben damit letztlich eine Widerlegung des Materialismus im Sinn. Sie argumentieren wie folgt: Wenn X und Y identisch sind, dann ist es nicht möglich, dass X vorliegt, ohne dass zugleich Y vorliegt. Dies könne man sich an einem Beispiel leicht verdeutlichen: Wenn Augustus mit Octavian identisch ist, dann ist es nicht möglich, dass Augustus ohne Octavian auftritt, sie sind schließlich eine Person. Nun argumentieren die Vertreter der metaphysischen Lesart weiter, dass die Gedankenexperimente aber gezeigt hätten, dass es möglich sei, dass neuronale Zustände ohne Qualia auftreten. Also könnten Qualia nicht mit Eigenschaften von neuronalen Zuständen identisch sein. Eine solche Argumentation muss sich natürlich den Einwand gefallen lassen, dass die Gedankenexperimente gar nicht zeigen, dass es möglich sei, dass neuronale Zustände ohne Qualia auftreten. Sie zeigen nur, dass dies vorstellbar ist. Vertreter der metaphysischen Lesart erwidern darauf, dass a priori Vorstellbarkeit immer auch prinzipielle Möglichkeit impliziere. Einflussreiche Argumente, die dies zeigen sollen, hat Saul Kripke formuliert. Eine neuere Ausarbeitung bieten Frank Cameron Jackson und David Chalmers. Von grundlegender Bedeutung ist hierbei die sog. Zweidimensionale Semantik. Erklärungsmodelle Repräsentationalistische Strategien Repräsentationalistische Strategien erfreuen sich unter materialistischen Philosophen großer Beliebtheit, Varianten werden etwa von Thomas Metzinger, Fred Dretske und Michael Tye vertreten. Ein Ziel solcher Positionen ist es, Qualia auf repräsentationale Zustände zurückzuführen. Wenn man sich etwa mit einer Nadel in den Finger sticht, wird der Stich durch neuronale Zustände repräsentiert. Das Erleben soll nun nichts anderes als der Modus dieser Repräsentation sein. Nun wird oft eingewandt, dass es aber nicht plausibel sei, dass Repräsentationen schon eine hinreichende Bedingung für Erleben sind. Zum einen haben simple Systeme, wie etwa ein Thermostat, auch repräsentationale Zustände, zum anderen scheint es auch beim Menschen unbewusste Repräsentationen zu geben. Ein Beispiel aus der Neuropsychologie sind etwa die Fälle von Rindenblindheit (blindsight), in denen Menschen Wahrnehmungen haben, die sie jedoch nicht kognitiv oder qualitativ registrieren. Manche Philosophen, wie David Rosenthal, vertreten daher etwa einen Metarepräsentationalismus. Nach ihm werden qualitative Zustände durch Repräsentationen von Repräsentationen realisiert. Nun sind aber alle repräsentationalistischen Strategien mit dem Einwand konfrontiert, dass auch sie das Qualiaproblem nicht lösen können. Denn man kann auch bei repräsentationalen Zuständen fragen, warum sie denn von Erleben begleitet sein sollen. Wären nicht auch alle Repräsentationen ohne Qualia denkbar? Einige materialistische Philosophen reagieren auf dieses Problem, indem sie behaupten, dass sie gar nicht erklären müssten, wie materielle – etwa repräsentationale – Zustände zu Erleben führen. So hat etwa David Papineau argumentiert, dass man die Identität von einem Erlebniszustand mit einem materiellen Zustand einfach akzeptieren müsse, ohne eine Erklärung für diese Identität verlangen zu können. Die Frage „Warum sind X und Y miteinander identisch?“ sei einfach eine schlechte Frage und daher erweise sich das Rätsel der Qualia als ein Scheinproblem. Vertreter der These, dass Qualia rätselhaft seien, erwidern auf diesen Einwand, dass sie gar nicht die genannte Frage stellen würden. Sie erklären, dass sie vielmehr wissen wollten, wie es überhaupt möglich sei, dass das subjektive Erleben mit einem materiellen Prozess identisch sei, und sie behaupten, dass diese Frage nicht geklärt sei, solange keine Reduktion der Qualia gelungen sei. Während Papineau auch die zweite Frage für unberechtigt hält, erkennen andere materialistische Philosophen hier die Existenz eines Rätsels an. Wieder andere wenden sich der Position des Qualiaeliminativismus zu oder verlassen den Rahmen materialistischer Theorien. Qualiaeliminativismus Einen besonders radikalen Vorschlag zur Lösung des Qualiaproblems macht der US-amerikanische Philosoph Daniel Dennett: Er behauptet, dass es Qualia in Wirklichkeit gar nicht gebe. Eine solche Position erscheint manchen anderen Philosophen als vollkommen unplausibel, wenn nicht gar unverständlich. „Natürlich haben wir subjektive Erlebnisse“, erklären sie, „nichts könnte sicherer sein als dies.“ Dennett hingegen behauptet, dass solche Äußerungen nur der Ausdruck veralteter metaphysischer Intuitionen seien, die sich noch aus der Metaphysik in der Tradition von René Descartes speisen. In Wirklichkeit sei „Qualia“ ein vollkommen widersprüchlicher Begriff, der im Zuge des wissenschaftlichen Fortschrittes abgeschafft werden könne, ähnlich den Begriffen „Hexe“ oder „Phlogiston“. Dennett macht sich nun daran, die verschiedenen Vorstellungen, die man von Qualia hat (unaussprechlich, privat, intrinsisch) anzugreifen, und meint, dass diese Eigenschaften den Qualia keineswegs zugesprochen werden können. Es bleibe laut Dennett eine leere Begriffshülse übrig, die verlustlos abgeschafft werden könne. Auch wenn viele Philosophen Dennetts Argumentation ablehnen, hat sie doch eine weite Debatte ausgelöst. Dennetts Position wird etwa von Patricia Churchland und Paul Churchland sowie weiteren eliminativen Materialisten unterstützt. Nichtreduktionistische Strategien Da reduktionistische und eliminative Strategien, für manche, vor enormen Problemen stehen, werden Positionen attraktiv, die erklären, dass es gar nicht notwendig sei, solche Versuche zu unternehmen. Die klassische nichtreduktionistische und nichteliminative Position ist der Dualismus. Wenn Qualia gar keine materiellen Entitäten sind, braucht man sie weder auf neuronale Zustände zu reduzieren noch sich Sorgen zu machen, wenn solche Reduktionsversuche scheitern. Gegen einen dualistischen Lösungsansatz wird jedoch traditionell eingewandt, dass er nicht mehr die Interaktion von Qualia mit der materiellen Welt verständlich machen könne. Schließlich habe jedes physische Ereignis auch eine hinreichende physische Ursache. Es bliebe also gar kein Platz für immaterielle Ursachen. Es scheine nämlich sehr unplausibel zu sein, zu behaupten, dass etwa eine Schmerzempfindung keine Ursache für ein physisches Ereignis – nämlich das Verhalten der Person – sein könne. Eine besonders prägnante Formulierung dieser Schwierigkeiten bietet das sogenannte Bieri-Trilemma. Eine andere nichtreduktionistische und nichteliminative Position ist der Begriffspluralismus, wie er etwa von Nelson Goodman formuliert worden ist. Er behauptet, dass es verschiedene Beschreibungsweisen gebe, die gleichberechtigt nebeneinander stünden und dennoch nicht aufeinander zurückführbar seien. So seien der Schmerz beim Berühren einer heißen Herdplatte und die neuronalen Aktivitäten im Gehirn des Betreffenden logisch äquivalent, quasi als unterschiedliche Seiten derselben Münze. Angelehnt an den Panpsychismus besteht ein Ansatz, wonach jedem Zustand eines beliebigen (nicht notwendigerweise biologischen) physischen Systems ein Quale oder ein Satz von Qualia entspreche. Dabei müsse nicht notwendigerweise ein Dualismus im Sinne von „Beseeltheit“ der Dinge (wie im klassischen Panpsychismus) angenommen werden. Dieser Ansatz habe den Vorteil, dass er keine qualitativen „Sprünge“ beim Übergang von unbelebter zu belebter Materie annehme. Das komplexe menschliche Bewusstsein setze sich vielmehr aus „Elementarqualia“ zusammen und lasse sich somit auf Elementarprozesse reduzieren, analog der Reduktion der physischen Erscheinung des Menschen als Vielteilchensystem auf elementare physikalische Prozesse. In diese Richtung argumentiert etwa David Chalmers. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Argumentation jedoch unbefriedigend, da kein Experiment bekannt ist, mit dem die Existenz dieser Elementarqualia nachzuweisen oder zu widerlegen wäre. Lässt sich das Problem der Qualia lösen? Seitens der Vertreter des Qualia-Konzeptes wurden immer wieder Stimmen laut, die das angenommene „Rätsel“ der Qualia für nicht lösbar halten. Eine solche Position wird vor allem von Philosophen vertreten, die zwar am Materialismus festhalten wollen, aber reduktionistische und eliminative Strategien für unplausibel halten. Thomas Nagel zieht etwa die Möglichkeit in Betracht, dass die heutige Wissenschaft einfach noch nicht weit genug sei, um das Qualiaproblem zu lösen. Vielmehr bedürfe es einer neuen wissenschaftlichen Revolution, bevor eine Antwort auf dieses Rätsel gefunden werden könne. Als Analogie biete sich die Weltsicht vor und nach der kopernikanischen Wende an. Manche astronomischen Phänomene seien im Rahmen des geozentrischen Weltbildes einfach nicht zu erklären gewesen, es habe erst eines grundlegenden Wandels in den wissenschaftlichen Theorien bedurft. Analog sei eine Lösung des Qualiaproblems vielleicht erst durch neue Erkenntnisse oder Modelle der Neuro- und Kognitionswissenschaften möglich. Der britische Philosoph Colin McGinn geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet, dass das Qualiaproblem für die Menschheit grundsätzlich nicht lösbar sei. Menschen hätten im Laufe der Evolution einen kognitiven Apparat entwickelt, der keineswegs dazu geeignet sei, alle Probleme zu lösen. Vielmehr sei es plausibel, dass auch der menschlichen Kognition grundsätzliche Schranken gesetzt seien und dass wir bei den Qualia eine dieser Schranken erreicht hätten. Diese Anschauung wurde wiederum von anderen Philosophen heftig kritisiert, wie etwa Owen Flanagan, die McGinn als „New Mysterian (Neuen Mystiker)“ bezeichneten. Weiterführende Themen Für den weiteren Kontext der Debatten um Qualia siehe Philosophie des Geistes, Bewusstsein und Mentale Verursachung. Für den wissenschaftstheoretischen Hintergrund von den Debatten um Erklärbarkeit von Qualia siehe Reduktionismus. Für die ontologischen Konsequenzen aus der Qualiadebatte siehe Dualismus und Physikalismus. Literatur Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. 2. Auflage. De Gruyter, Berlin 2001, ISBN 3-11-017065-5. Edwin Egeter: Phänomenale Adäquatheit und Irreduzibilität des Bewusstseins. Eine Revision des Qualia-Begriffs. mentis/brill, Paderborn 2020, ISBN 978-3-95743-194-3. Heinz-Dieter Heckmann, Sven Walter: Qualia – Ausgewählte Beiträge. 2. Auflage. mentis, Paderborn 2006, ISBN 3-89785-448-1. Thomas Metzinger (Hrsg.): Bewusstsein. Schöningh, Paderborn 1995, ISBN 3-89785-600-X. Jan G. Michel: Der qualitative Charakter bewusster Erlebnisse: Physikalismus und phänomenale Eigenschaften in der analytischen Philosophie des Geistes. mentis, Paderborn 2011, ISBN 978-3-89785-742-1. Edmond Leo Wright (Hrsg.): The Case for Qualia. MIT, Cambridge 2008, ISBN 978-0-262-73188-1. Trivialliteratur Normen Behr: Qualia. Amazon Createspace / Kindle Direct Publishing, ISBN 978-1-5347-5321-1: Roman über die Auswirkungen maschinell ausgelöster Qualia-Erfahrungen. Weblinks Peter Bieri: Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel? (rtf-Datei; 56 kB) In: W. Singer (Hrsg.): Gehirn und Bewusstsein. Spektrum. Heidelberg 1994, S. 172–180. Ned Block: mehrere Artikel mit einführendem und weiterführendem Charakter zum Thema David Chalmers: Auswahlbibliographie (MindPapers) David Chalmers: Linksammlung Tim Crane: , in: Tim Crane, Sarah Patterson (Hrsg.): The History of the Mind-Body Problem, London: Routledge 2000. Volker Gadenne: Drei Arten von Epiphänomenalismus (PDF; 71 kB) Thomas Metzinger: Präsentationaler Gehalt (PDF; 92 kB). In: Frank Esken, Heinz-Dieter Heckmann (Hrsg.): Bewußtsein und Repräsentation. Schöningh. Paderborn 1998 (Metzinger bestreitet die Existenz von Qualia) Carsten Siebert: Das Phänomenale als Problem philosophischer und empirischer Bewußtseinstheorien Einzelnachweise Philosophie des Geistes Kognitionswissenschaft
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https://de.wikipedia.org/wiki/%E1%B8%AAattu%C5%A1a
Ḫattuša
Ḫattuša oder Hattuscha (auch Hattusa, ) war vom späten 17. bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts v. Chr. die Hauptstadt des Hethiter-Reiches. Ihre Überreste liegen in der türkischen Provinz Çorum beim Ort Boğazkale (früher Boğazköy) im anatolischen Hochland, etwa 180 Kilometer östlich von Ankara. Nördlich der antiken Landschaft Kappadokien lag dort im Bogen des Kızılırmak (antik Halysbogen) im 2. Jahrtausend v. Chr. der Kern des Hethiterreiches, in dessen Zentrum Ḫattuša lag. Ḫattuša liegt am Übergang der Ebene des Budaközü in steiles Bergland im Süden. Auf einer Nord-Süd-Länge von 2,1 Kilometern steigt das Gelände um etwa 280 Meter an. Die am Hang gelegene Fläche ist von zahlreichen Felsen durchbrochen, die in hethitischer Zeit durchweg bebaut waren. Mit einer Fläche von etwa 180 Hektar ist es eine der größten antiken Stadtanlagen der Welt. Die Einwohnerzahlen werden auf zwischen 10.000 und 12.000 geschätzt. Der Ort war vom späten 3. Jahrtausend v. Chr. bis in das 4. Jahrhundert n. Chr. und erneut in byzantinischer Zeit im 11. Jahrhundert n. Chr. bewohnt. In der Zeit als Hauptstadt war Ḫattuša von einer 6,6 Kilometer langen Stadtmauer umschlossen und konnte über fünf bekannte Tore von außen betreten werden, weitere drei Tore konnten in den Abschnittsmauern innerhalb der Stadt ergraben werden. Der weitaus größere Teil des Geländes harrt noch der Ausgrabung. Bei der ergrabenen Architektur handelt es sich vornehmlich um öffentliche Gebäude, darunter der Königspalast auf dem Hochplateau Büyükkale. Reste von über 30 Tempelbauten kamen verteilt über die Stadt zutage. Welchen Gottheiten sie zuzuordnen sind, ist in Ermangelung von schriftlichen Zeugnissen nicht klar. Wohnviertel wurden bisher nur zu einem geringen Teil in der Unterstadt freigelegt. Neben zahlreichen anderen Funden kamen über 30.000 meist fragmentarisch erhaltene Tontafeln ans Licht, die mit Keilschrifttexten in hethitischer, alt-assyrischer und mehreren anderen Sprachen beschrieben waren. Durch die Texte konnten wertvolle Informationen über das Großreich der Hethiter gewonnen werden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird das Gelände von Boğazköy archäologisch erforscht, zunächst zwischen 1906 und 1912 unter Leitung des Istanbuler Archäologischen Museums und einer wesentlichen Beteiligung der Deutschen Orientgesellschaft und des Deutschen Archäologischen Instituts Istanbul (DAI) (1907) seit 1931 unter Federführung des DAI. 1986 wurden Ḫattuša und das benachbarte hethitische Heiligtum Yazılıkaya in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO eingetragen. Beide Orte gehören mit der weiteren Umgebung zum türkischen Nationalpark Boğazköy-Alacahöyük. 2001 wurden die in Ḫattuša gefundenen Keilschrifttafel-Archive in das UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen. Topographie Der Fundort Boğazköy mit den Ruinen der hethitischen Hauptstadt liegt im nördlichen Zentralanatolien. Er liegt damit im Mittelpunkt des hethitischen Kernlands im sogenannten Halysbogen, dem Bogen, den der antike Fluss Halys (hethitisch Maraššanta, heute türkisch Kızılırmak) dort auf seinem Weg zum Schwarzen Meer beschreibt. Der nördliche Teil des Stadtgebiets ist verhältnismäßig eben, während sich der südliche Teil einen steilen Hang hinaufzieht. Bei einer Nord-Süd-Ausdehnung von etwa 2,1 Kilometern überwindet das Gelände einen Höhenunterschied von etwa 280 Metern. In den südlichen Bergen entspringen zwei Bäche, die sich im Gebiet des modernen Ortes Boğazkale zum Budaközü vereinen. Dieser durchquert die nördliche Ebene, fließt weiter in den Delice Çayı, der schließlich in den Kızılırmak mündet. Auf dem Geländesporn zwischen den beiden Bächen liegt der Hauptteil des Stadtgebiets von Ḫattuša. Der östliche der beiden Quellbäche schneidet im Nordosten das Stadtgebiet zwischen Büyükkaya im Nordosten und Ambarlıkaya im Südwesten. Nördlich davon lagen noch Teile der Unterstadt. Die beiden Bäche bilden tiefe Schluchten, deren östliche Büyükkaya Deresi genannt wird und die westliche, die außerhalb des Stadtgeländes verläuft, Yazır Deresi. Der südliche Steilhang ist von zahlreichen Kalkstein-Durchbrüchen gekennzeichnet, darunter im Westen Kesikkaya, Kızlarkayası, Yenicekale und Sarıkale, im Süden der Wall von Yerkapı und im Osten Büyükkale, Ambarlıkaya und Mihraplıkaya. Die Felsen wurden in die Stadtplanung mit einbezogen, auf den meisten davon finden sich Bauten aus hethitischer und auch späterer Zeit. Dass die Erhebungen leicht zu verteidigen waren und das Gelände auch durch die Berge im Süden und die leicht zu überblickende Ebene im Norden strategisch günstig lag, war sicher ein Grund für die Wahl des Standorts durch die ersten Herrscher. Ein weiterer Vorteil waren zahlreiche Quellen auf dem Gebiet des Berghangs, die gemeinsam mit Zisternen und später künstlich angelegten Teichen die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung sicherstellten. Durch die Lage zwischen den Gebirgszügen des Pontosgebirges im Norden und des Taurus im Süden herrscht in Zentralanatolien ein kontinentales Klima mit heißen Sommern und kalten Wintern. Da die jährliche Niederschlagsmenge mit 550–600 Millilitern recht niedrig ist, ermöglicht das Land nur eine Ernte pro Jahr. Die Möglichkeiten einer künstlichen Bewässerung sind sehr eingeschränkt. Die Umweltbedingungen zur Zeit der Hethiter lassen sich nur schwer rekonstruieren, aber zumindest deuten Pollenanalysen darauf hin, dass die klimatischen Gegebenheiten sich in den letzten 12.000 Jahren seit dem Ende der letzten Eiszeit kaum verändert haben. Allerdings ging in der Zeit der Besiedlung durch die Hethiter der Waldbestand stark zurück. Dies ist sicherlich auf die intensive Nutzung der Hölzer für die Töpferei und die Metallverarbeitung, aber auch als Baumaterial, zurückzuführen. Bemerkenswerterweise hat die Natur, nachdem der Ort von Menschen verlassen worden war, große Teile des Geländes zurückerobert. Alte Photographien zeigen, dass große Teile der Oberstadt bis ins 20. Jahrhundert mit dichtem Wald bewachsen waren, weshalb das Tempelviertel zu der Zeit den türkischen Namen Ağaç Denizi (Wald-Meer) hatte. In den frühen 1980er Jahren ließ der damalige Grabungsleiter Peter Neve südlich von Yerkapı ein Waldstück einzäunen, sodass es vom Verbiss durch Ziegenherden geschützt wurde, um dem Besucher einen Eindruck der früheren landschaftlichen Gegebenheiten zu vermitteln. Das Waldstück ist vom Sphinxtor aus gut zu sehen. Landwirtschaft und Ernährung Die Versorgung der Hethiter beruhte auf Ackerbau und Viehzucht. Wegen der ungünstigen Bodenverhältnisse wurde zur Ergänzung auf das Sammeln von Wildfrüchten zurückgegriffen. Den größten Beitrag zur Ernährung der Bevölkerung leistete der Getreideanbau, wobei hauptsächlich Gerste, Emmer und Weizen zum Einsatz kamen. Im Alten Orient wurde zwischen den Getreidesorten nicht unterschieden, allerdings hatte die Gerste hier den größten Anteil, da sie widerstandsfähiger und genügsamer ist, also auch auf weniger guten Böden Erträge produziert. Da die Böden um Ḫattuša nicht sehr ertragreich waren, musste jeder verfügbare Flecken Erde für den Anbau genutzt werden; so kamen auch Dinkel und Kolbenhirse zum Einsatz. Auch Hülsenfrüchte wie Linsen, Erbsen, Kichererbsen und verschiedene Bohnensorten wurden angebaut, ebenso Gemüsesorten, darunter Karotten, Gurken, Zwiebeln und Knoblauch sowie Gewürze (Kümmel, Thymian, Minze, Petersilie, Koriander und Kresse). Weiterhin wurden auch Obstsorten angebaut oder gesammelt wie Äpfel, „Bergäpfel“ (Aprikosen ?), Oliven, Wein, Nüsse und Beeren. Alle genannten Früchte sind archäobotanisch nachgewiesen, in Texten werden noch weitere erwähnt, deren Bezeichnungen allerdings noch nicht gedeutet werden können. Ein Teil des Getreides wurde zur Haltbarmachung zu Bulgur verarbeitet, eine Methode, die in Vorderasien seit der Jungsteinzeit nachweisbar ist. Der größte Teil wurde zu Brot verbacken, das es in zahlreichen Varianten gab. Durch Texte bekannt sind Brotsorten mit Käse, Obst, Kräutern, Fleischfüllungen und viele mehr, auch mit Honigglasuren. Eine weitere Möglichkeit der Getreideverwertung war das Brauen von Bier. Dieses hatte jedoch mit heutigem Bier wenig Ähnlichkeit, war dickflüssiger und hatte einen geringeren Alkoholanteil. Ein weiterer Verwendungszweck des Getreides war als Kraftfutter für Pferde. Als Notversorgung für Zeiten mit schlechten Ernten gab es in der Stadt große Getreidesilos, eines bei der Poternenmauer und große Gruben von bis zu 12 × 18 Metern Größe und zwei Metern Tiefe auf Büyükkaya. Allein die größte davon hatte ein Fassungsvermögen von mindestens 260 Tonnen Getreide. Sie wurden wasser- und luftdicht und vor Schädlingen geschützt verschlossen, sodass der Inhalt über mehrere Jahre genießbar blieb. Diese Lagerungsmethode ist noch heute in Ländern der Dritten Welt, aber auch in Teilen der Türkei, üblich. Der Inhalt dieser Speicher war, im Gegensatz zu privaten Vorräten, oft stark durch Unkräuter verunreinigt, was vermutlich damit zusammenhängt, dass es sich hier um Zwangsabgaben an den Staat handelte. Als zweite Grundlage der Lebensmittelversorgung diente die Viehzucht. Den Hauptanteil dabei hatten Rinder, Schafe und Ziegen, sowie in geringerem Maße Schweine. Schafe und Ziegen waren dabei zwar in der Überzahl, aber die Rinder bildeten den wichtigsten Anteil, da sie in der Fleischausbeute weitaus ergiebiger waren. Untersuchungen von gefundenen Knochen zeigten, dass das Schlachtdatum bei allen Tieren relativ spät war, bei Schafen und Ziegen im zweiten Lebensjahr, bei Kühen noch später. Das weist darauf hin, dass die Tiere nicht nur zum Verzehr, sondern auch zur Produktion von Milch und Wolle gehalten wurden. Ein weiterer Faktor bei Rindern war ihr Einsatz in der Feldarbeit. Die Tiere wurden in Herden gehalten, die tagsüber außerhalb der Stadt weideten. Aus einer Dienstanweisung für den hazannu, den Stadtkommandanten, geht hervor, dass die Herden zum großen Teil gegen Abend in die Stadt zurückgetrieben wurden und wohl in zu den Wohnhäusern gehörigen Ställen untergebracht waren. In geringen Zahlen wurden Reste von Geflügel gefunden (Gänse, Enten) und vereinzelt von Fisch. Nicht zum Verzehr, sondern als Transporttiere wurden Pferde, Esel, Maultiere und Maulesel gehalten. Pferde kamen einerseits als Reittiere zum Einsatz, zum anderen als Zugtiere für die schnellen Streitwagen. Durch Keilschrifttexte ist außerdem die Bienenzucht zur Honigproduktion belegt. Die Jagd diente eher dem Vergnügen des Herrschers und hatte für die Ernährung nur eine untergeordnete Funktion. Nach der Größe der zur Verfügung stehenden Anbaufläche und den damaligen Möglichkeiten der Landwirtschaft schätzt der Ausgräber Andreas Schachner die Bevölkerungszahl der Hauptstadt auf etwa 10.000 bis 12.000 Personen. Forschungsgeschichte 1834 besuchte der französische Forschungsreisende Charles Texier das zentralanatolische Hochland und entdeckte die Ruinen der Stadt. Allerdings hielt er sie für Überreste der medischen Stadt Pteria. Texier dokumentierte und skizzierte neben den offensichtlichen Ruinen des Stadtareals auch das nahe gelegene Felsheiligtum Yazılıkaya. Nach Texier besuchten in den folgenden Jahrzehnten weitere Forschungsreisende das Stadtgebiet, darunter 1836 der Engländer William John Hamilton, der Zeichnungen des Großen Tempels anfertigte. Er identifizierte den Fundort als das galatische Tavium. 1858 besuchten Heinrich Barth und Andreas D. Mordtmann die Ruinen, sie legten die kleinere Kammer B von Yazılıkaya frei. 1861 besuchte der Archäologe Georges Perrot mit Edmont Guillaume und Jules Delbet den Ort, wo der Architekt Guillaume genauere Zeichnungen der Reliefs von Yazılıkaya anfertigte und der Arzt Delbet erste Photographien von Yazılıkaya, Yenicekale und Nişantaş erstellte. Carl Humann erstellte 1882 einen topographischen Plan und ließ Gipsabgüsse von zahlreichen Reliefs in Yazılıkaya anfertigen, die heute in Berlin im Vorderasiatischen Museum ausgestellt sind. Erste Ausgrabungen fanden 1893/94 statt, als der Franzose Ernest Chantre Sondagen im Großen Tempel, auf Büyükkale und in Yazılıkaya anlegte. Dabei entdeckte er auch die ersten Keilschrifttafeln. Die systematische archäologische Erforschung begann im Jahr 1906. Hugo Winckler, ein Berliner Assyriologe und Keilschriftforscher, und der Istanbuler Grieche Theodor Makridi, ein Kurator des Istanbuler Archäologischen Museums, führten im Auftrag des Osmanischen Museums in Istanbul eine erste Grabungskampagne durch, die von der Deutschen Orientgesellschaft finanziert wurde. Sie konnten 2500 Fragmente von Keilschrifttafeln bergen und anhand der Texte in akkadischer Sprache unter diesen nachweisen, dass sie Ḫattuša, die Hauptstadt des hethitischen Großreichs, gefunden hatten. 1907 setzten Winckler und Makridi die Grabungen fort. In diesem Jahr war erstmals auch das Deutsche Archäologische Institut (DAI) unter der Leitung von Otto Puchstein beteiligt. Die Ruinen wurden mit zahlreichen Plänen, Fotografien und einer genaueren topographischen Karte vollständig dokumentiert. 1911/12 führten Winckler und Makridi weitere Grabungen durch. Bis 1912 wurden Ausgrabungen in der Unterstadt (Großer Tempel), auf der Königsburg und in der Oberstadt (Löwentor, Königstor, Sphingentor) durchgeführt. Bis dahin wurden an die zehntausend Fragmente von Keilschrift-Tontafeln geborgen. Unter den Funden war eine Version des in Akkadisch verfassten Friedensvertrags zwischen Ägypten und Ḫatti, der zwischen Ḫattušili III. und Ramses II. geschlossen worden war – der früheste erhaltene paritätische Friedensvertrag der Weltgeschichte. Anhand der Tafeln gelang Bedřich Hrozný 1914/15 die Erschließung der hethitischen Sprache. Nach dem Ersten Weltkrieg ruhten die Grabungen für mehr als ein Jahrzehnt und wurden erst 1931 durch das Deutsche Archäologische Institut unter der Leitung von Kurt Bittel wieder aufgenommen. Aufgrund des Zweiten Weltkriegs ruhten die Arbeiten nochmals ab 1939. Im Jahr 1952 konnte Bittel die Erforschung der Stadt fortsetzen. Schwerpunkte seiner Arbeit waren die Freilegung der Königsburg, großflächige Untersuchungen in der Unterstadt sowie Ausgrabungen in der Umgebung von Ḫattuša (Yazılıkaya und Yarıkkaya). Bis 1975 wurde die Grabungstätigkeit vom Deutschen Archäologischen Institut und der Deutschen Orient-Gesellschaft gemeinsam getragen. Bittels Nachfolger wurde 1978 Peter Neve, unter dessen Leitung umfangreiche Ausgrabungen und Restaurierungen im Bereich der zentralen und östlichen Oberstadt durchgeführt wurden. 1994 wurde Jürgen Seeher Leiter der Ausgrabungen. 2006 übernahm Andreas Schachner die Grabungsleitung. Seit 1952 gräbt das Deutsche Archäologische Institut, Abteilung Istanbul ununterbrochen in der Stadt und fördert jährlich neue Erkenntnisse zu Tage. Zwischen 2003 und 2005 wurde unter der Leitung von Jürgen Seeher ein Abschnitt der Stadtmauer mit alten Techniken und Materialien rekonstruiert. Auch Bereiche außerhalb der Stadt wurden in jüngster Zeit untersucht, darunter die chalkolithische Siedlung in Çamlibel Tarlası. Das langjährige Forschungsprojekt Ḫattuša wurde 2019 mit dem Shanghai Archaeology Award in der Kategorie „Research“ ausgezeichnet. Geschichte Vorhethitische Zeit Mit der Erwärmung, die dem Ende der letzten Eiszeit folgte, setzte in Anatolien von Südosten nach Nordwesten eine allmähliche Verbesserung der Lebensbedingungen ein, in deren Folge Menschen auch das nördliche Zentralanatolien durchstreiften. Vereinzelte Zufallsfunde von Steinwerkzeugen in der weiteren Umgebung von Boğazköy zeigen ihre Anwesenheit auch in diesem Gebiet. Die Entstehung von Siedlungen durch Ackerbauer und Viehzüchter setzte im 9. und 8. Jahrtausend v. Chr. jedoch weiter im Süden (Çatalhöyük) ein, die ersten produzierenden Kulturen der Jungsteinzeit auf dem anatolischen Plateau entstanden im 7. und 6. Jahrtausend v. Chr. weiter südlich (Hacılar, Kuruçay, Höyücek). Die vorgeschichtlichen Menschen waren technisch noch nicht in der Lage, der ausgedehnten Waldgebiete des nördlichen Zentralanatoliens Herr zu werden. Erste Siedlungen im Gebiet um Boğazköy entstanden im 6. Jahrtausend v. Chr. im Chalkolithikum vielleicht auf dem Felsrücken Büyükkaya im Stadtgebiet von Ḫattuša sowie gesichert im 5. und 4. vorchristlichen Jahrtausend in Büyük Güllücek, Yarıkkaya und Çamlıbel Tarlası in der näheren Umgebung von Boğazköy. Die Siedler kamen möglicherweise nicht aus dem Süden, sondern vom Schwarzen Meer, worauf Elemente der materiellen Kultur hindeuten könnten. Die Siedlungen bildeten allesamt nicht wie in der südlichen Region über einen langen Zeitraum bewohnte Höyüks, sondern lagen in mittlerer Höhenlage und bestanden aus wenigen, rechteckigen Einraumhäusern. Sie wurden nur verhältnismäßig kurze Zeit genutzt, bis die Bodenressourcen verbraucht waren. Für die Zeit vom späten 4. bis zu einer nachweisbaren Besiedlung des Gebiets im späten 3. Jahrtausend v. Chr. sind im unmittelbaren Umfeld von Boǧazköy keine archäologischen Spuren vorhanden. Dann, in der ausgehenden Frühbronzezeit, setzte im Gebiet zwischen Büyükkale und dem sich nordwestlich anschließenden Gebiet der Unterstadt, Nordwesthang genannt, sowie auf Büyükkaya eine zum Teil dichte Besiedlung ein, die bereits städtischen Charakter hatte. Zu der Siedlung gehörten mehrräumige Häuser, in denen Spuren handwerklicher Tätigkeiten wie der Metallverarbeitung und der Töpferei gefunden wurden. Sie wird der Bevölkerungsgruppe der Hattier zugerechnet, die ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. zwischen dem Schwarzen Meer und dem Bogen des Kızılırmak auftauchte. In dieser Zeit erscheint erstmals in einem Text aus Mesopotamien die Bezeichnung Hatti für das Reich eines Königs Pamba in Nordanatolien. Zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. begannen assyrische Kaufleute, ein Netz von Handelsstationen zu errichten, Karum (assyrisch für Hafen, übertragen Hafen der Karawanen) genannt, das von Zentralanatolien im Westen bis in den westlichen Iran im Osten reichte. Sie zogen mit Eselskarawanen von Aššur am mittleren Tigris nach Kleinasien, um dortige Bodenschätze wie Kupfer, Silber und Gold gegen Zinn und Stoffe aus Mesopotamien zu tauschen. Das Zentrum ihrer Handelsrouten war Kanis, das heutige Kültepe bei Kayseri im Süden von Boǧazköy. Die Stationen lagen jeweils am Rand der anatolischen Städte in eigenen Stadtvierteln. Auch unmittelbar nordwestlich der zu dieser Zeit auf Büyükkale und den Nordwesthang konzentrierten Stadt entstand ein solcher Stützpunkt. Auf Büyükkale bestand zu dieser Zeit bereits ein Fürstensitz, die hattische Siedlung lag auf dem Nordwesthang, während das Karum sich nordwestlich davon, im Bereich der späteren Unterstadt beziehungsweise des Großen Tempels befand. Mit den Assyrern kam auch erstmals die Schrift in Form der assyrischen Keilschrift nach Zentralanatolien. Vor allem in Kültepe, aber auch in Boǧazköy wurden zahlreiche Tontafeln mit Texten in assyrischer Sprache gefunden. Da es sich hauptsächlich um Briefe und wirtschaftliche Texte der Kaufleute handelt, geben sie Aufschluss über das Alltagsleben in einer anatolischen Stadt dieser Zeit. Außerdem kennen wir daher den Namen der Stadt Hattusch (Ḫattuš). Der gewinnorientierte Handel der Kaufleute trug wesentlich zum Wohlstand und Wachstum der Städte und ihrer Fürsten bei und somit zur Beschleunigung der Urbanisierung. Die Häuser wurden mehrräumiger, worin sich eine stärkere Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich zeigt. Die Grundfläche der Stadt, zu der auch verstreute Stellen der späteren Oberstadt gehörten, betrug mindestens 48 Hektar und entsprach damit der von anderen zeitgenössischen Zentren wie Kültepe und Acemhöyük. Bereits am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. wurden in mesopotamischen Texten über Anatolien erstmals als indogermanisch gedeutete Personennamen gefunden, deren Herkunft bisher nicht geklärt ist. Teile der Forschung vermuten sie nordöstlich des Schwarzen Meeres. Mit dem Versuch, ihre Macht auszudehnen, kam es zu Streitigkeiten zwischen den zentralanatolischen Herrschern. Archäologische Spuren im Stadtgebiet zeigen, dass um 1700 v. Chr. die Stadt in einem Brand zerstört wurde. In einem späteren, hethitischen Keilschrifttext berichtet der aus Kuššara stammende König Anitta von Kaniš: Nach lange vorherrschender Meinung war danach der Ort etwa hundert Jahre nicht besiedelt. Durch neuere Funde in der Unterstadt scheint es heute jedoch wahrscheinlich, dass in Hattusch auch direkt nach Anitta weiterhin eine Siedlung bestand. Hethitische Zeit Etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts v. Chr. nahm ein hethitischer Herrscher mit Namen (oder dem Titel) Labarna als erster Großkönig Ḫattuša zur Hauptstadt seines Reiches, der Legende nach trotz Anittas Fluch. Er kam ebenfalls aus der Stadt Kuššara, die bis heute nicht lokalisiert werden konnte, die aber nach verschiedenen Textfunden südöstlich der Hauptstadt vermutet wird. Nach seiner neuen Residenzstadt, die jetzt den Namen Ḫattuša trug, nahm er den Namen Ḫattušili, der von Ḫattuša, an. Der Ausgräber Andreas Schachner nimmt an, dass er den Standort zu dem Zeitpunkt nicht wählte, um hier das Zentrum eines Großreichs entstehen zu lassen, sondern eher wegen der strategisch günstigen landschaftlichen Voraussetzungen. Damit war die Stadt ein sicherer Rückzugsraum gegen die damaligen inneranatolischen Kämpfe. Es wird angenommen, dass er die Siedlung bereits befestigte, auch wenn sein Nachfolger Ḫantili (frühes 16. Jahrhundert v. Chr.) für sich in Anspruch nahm, er habe als erster die Stadt mit einer Mauer versehen. Es handelt sich vermutlich um die sogenannte Poternenmauer, die später die Grenze zwischen Unter- und Oberstadt markierte, und um die nördliche Umfassungsmauer, die heute teilweise unter dem modernen Ort verborgen liegt. Das genaue Baudatum der einzelnen Mauerabschnitte ist nicht feststellbar. Die Befestigung richtete sich zunächst unter anderem gegen die Kaškäer, eine Gruppe von Stämmen, die im Gebiet am Schwarzen Meer lebten und die Hethiter in ihrer gesamten Herrschaftszeit von dort bedrängten. Auch wenn die frühesten schriftlichen Zeugnisse über die Kaškäer aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. stammen, wird angenommen, dass sie bereits vor dem 16. Jahrhundert v. Chr. dort lebten, möglicherweise sogar anatolische Ureinwohner waren. Die Bebauung der Stadt konzentrierte sich zu dieser Zeit um die zwei Kerngebiete Büyükkale und die Unterstadt. Auf Büyükkale befand sich bereits der befestigte Herrschersitz, die Unterstadt nahm etwa den Bereich des großen Tempels mit Umgebung ein, aber auch der Nordwesthang zwischen Regierungssitz und Unterstadt war nach archäologischen Zeugnissen bebaut, dort wurden direkt neben der Poternenmauer Reste eines großen, unterirdischen Getreidesilos gefunden. Mitsamt dem Felsrücken Büyükkaya nahm das bebaute Gebiet damit eine Fläche von etwa 0,9 × 1,2 Kilometern ein. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Unterstadt weiter ausgebaut, auf Büyükkale verschwand die noch vorhandene Wohnbebauung und wurde durch öffentliche oder repräsentative Gebäude ersetzt. Auch der große Tempel mit seinen umgebenden Magazinen und dem Haus der Arbeitsleistung in der Unterstadt entstand vermutlich bereits in althethitischer Zeit, nach neueren Forschungen im 16. Jahrhundert v. Chr. Die Wohnhäuser wurden größer und regelmäßiger, sie scheinen ab dem 16. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr nur wirtschaftlichen, sondern auch repräsentativen Zwecken gedient zu haben. Ein Text aus der Zeit von Tudḫaliya II. um 1400 v. Chr. berichtet nochmals von einem Brand der Stadt, wahrscheinlich durch die Kaškäer. Wurde früher angenommen, dass der Ausbau der Oberstadt erst in der Spätzeit des Großreichs stattfand, so ist heute durch zahlreiche Funde nachweisbar, dass dieser planvolle Umbau bereits im 16. Jahrhundert v. Chr. begann. An einer erhöhten Stelle, nordöstlich des späteren Löwentors, wurden zunächst Getreidespeicher, dann Wasserreservoirs, die sogenannten Südteiche, angelegt. Zivile Bebauung ist westlich von Sarıkale, einem Felsen im Südwesten des Stadtgebiets, nachgewiesen, sie ist im Unterschied zur Altstadt sehr gradlinig und regelmäßig angelegt. Und über die Zeit vom 16. bis 14. Jahrhundert v. Chr. entstand an einem Hang zwischen Sarıkale und Büyükkale ein Tempelviertel mit 27 Kultgebäuden. Wann die Befestigung der Oberstadt errichtet wurde, ist nicht genau nachweisbar, es ist aber unwahrscheinlich, dass die im 16. Jahrhundert v. Chr. begonnenen Südteiche, die Wohnbebauung und die ersten Tempel nicht umwehrt waren. Entgegen der früheren Annahme, dass die Entstehung der fünf monumentalen Tore der Stadtmauer sowie der repräsentative Ausbau von Yerkapı, dem südlichen Teil der Stadtmauer, erst in der letzten Phase im 13. Jahrhundert v. Chr. erfolgten, datiert Andreas Schachner beides bereits ins 16. oder 15. Jahrhundert v. Chr. Im frühen 13. Jahrhundert v. Chr. verlegte Muwattalli II. die Hauptstadt des Reiches von Ḫattuša nach Tarḫuntašša, eine Stadt in der gleichnamigen Region im Süden Anatoliens, deren genauer Standort noch unbekannt ist. Der Grund für die Verlegung ist unklar, aber er verlegte sie mit den Göttern von Hatti und den Manen (den Geistern der Ahnen), was naturgemäß einen tiefgreifenden Einschnitt in die Stadtgeschichte darstellte. Auch wenn nach wenigen Jahrzehnten sein Nachfolger Muršili III. in die alte Hauptstadt zurückkehrte, wandelte sich in dieser Zeit die Oberstadt vom Kult- zum Handwerkerviertel. Der größte Teil der Tempel im Tempeldistrikt der Oberstadt wurde aufgegeben und durch Töpferwerkstätten überbaut. Muršili wurde durch seinen Onkel Ḫattušili III. abgesetzt. Unter ihm und seinem Sohn und Nachfolger Tudḫaliya IV. erlebte die Stadt eine letzte Blütezeit. Vor allem der Palastkomplex auf Büyükkale wurde monumental erweitert mit von Säulenhallen gefassten Höfen, einer Audienzhalle und dem eigentlichen Königspalast, außerdem war Tudḫaliya verantwortlich für die prächtige Reliefausstattung des Felsheiligtums von Yazılıkaya außerhalb der Stadt. Dessen Sohn und letzter König des Hethiterreiches Šuppiluliuma II. schließlich war der Errichter der großen Inschrift von Nişantaş und östlich davon, im Bereich der Südburg, einer Kultanlage aus den beiden Ostteichen, zwei Kammern und einem Tempel. Eine dieser Kammern, die mit Reliefs und einer großen Inschrift ausgestattet ist, wird als DINGIR.KASKAL.KUR bezeichnet, was etwa einen Zugang zur Unterwelt bedeutet. Auch außerhalb der umwehrten Stadt wurden Spuren einer hethitischen Besiedlung gefunden. So ist zum Beispiel zwischen Büyükkaya und Yazılıkaya eine lockere Bebauung nachweisbar, bei der dort gelegenen Felsgruppe Osmankayası konnte die bisher einzige Nekropole im Umfeld der Stadt ergraben werden. Sie war vom 17. bis ins 14. Jahrhundert v. Chr. in Benutzung. Südöstlich der Stadt in der Kayalıboğaz-Schlucht wurden Reste eines vorgelagerten Verteidigungswerks gefunden. Im Osten jenseits der nach Yozgat führenden Straße konnten westlich von Yazılıkaya zwei Wasserspeicher nachgewiesen werden, die wohl zu einer Bewässerungsanlage der Felder gehörten. Weshalb im frühen 12. Jahrhundert v. Chr. das hethitische Großreich zerfiel und die Hauptstadt verlassen wurde, ist bisher ungeklärt. Als mögliche Ursachen kommen interne Streitigkeiten – möglicherweise als Spätfolgen der Usurpation des Throns durch Ḫattušili III. – infrage, ebenso Hungersnöte, entweder durch Klimaveränderungen oder infolge von zu starker Ausbeutung der Ressourcen. Auch der Seevölkersturm, der zu der Zeit die Anrainer des östlichen Mittelmeers bedrängte, hatte möglicherweise zumindest indirekte Auswirkungen bis nach Zentralanatolien, indem die Fernhandelsbeziehungen wegbrachen. Zwar konnten an zahlreichen Gebäuden der Stadt Brandspuren festgestellt werden, aber da die Räume vorher größtenteils leergeräumt wurden, ist ein Angriff nicht wahrscheinlich. Auch ist nicht erkennbar, ob die Brände gleichzeitig oder in Abständen erfolgten. Die allgemeine Forschungsmeinung tendiert heute zu einer Mischung all dieser möglichen Ursachen. Jürgen Seeher hält es für möglich, dass Šuppiluliuma II. die Stadt planvoll verlassen hat und nochmals die Hauptstadt verlegte. Darin schließt sich ihm auch der australische Historiker Trevor R. Bryce an Zsolt Simon vermutet, dass ihm dort ein Großkönig Tudḫaliya V., vielleicht sein Sohn, nachfolgte und das Reich – allerdings jetzt bedeutungslos – weiter existierte. Nachhethitische Zeit Entgegen der früheren Ansicht, dass dem Ende der Hauptstadt eine Besiedlungspause von mehreren Jahrhunderten folgte, zeigen Ausgrabungen auf Büyükkaya, dass dort eine kleinere Siedlung existierte, zu deren Einwohnern möglicherweise auch Reste der hethitischen Bevölkerung gehörten. Allerdings geht aus den Funden ebenso hervor, dass diese Menschen auf ein kulturelles Niveau zurückfielen, das zum Teil der Steinzeit entsprach. So lebten die Bewohner in kleinen Grubenhäusern, bei der Keramik geriet der Gebrauch der Töpferscheibe bald in Vergessenheit, ebenso wie der Gebrauch der Schrift. Möglicherweise handelte es sich bei den Siedlern um Gruppen aus dem nördlichen Anatolien, die das entstandene Machtvakuum nutzten. Die Siedlung auf Büyükkaya dehnte sich im Lauf der Jahrhunderte über die ganze Oberfläche des Hügels aus, und im übrigen Stadtgebiet entstanden kleinere Ansiedlungen, beispielsweise beim Haus am Hang, bei Tempel 7 in der Oberstadt und auf Büyükkale. In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. wurde auf Büyükkale wieder eine Befestigung errichtet. Auf Grund von Funden wie einer Kybele-Statue und Inschriften in phrygischer Sprache auf Keramikscherben wird sie allgemein mit den im westlichen Zentralanatolien lebenden Phrygern in Verbindung gebracht, wobei die Befunde der materiellen Kultur für eine unabhängige soziopolitische Struktur sprechen. Im 7./6. Jahrhundert v. Chr. wurde – wahrscheinlich zumindest zeitweise parallel – südlich von Büyükkale, im Bereich nordwestlich der Ostteiche und der hethitischen Kultgrotten, die Südburg errichtet, in deren westlicher Umgebung eine Wohnbebauung entstand. Sowohl Büyükkale als auch die Südburg waren von starken Mauern umgeben. Die Ausbreitung der Meder im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. und später der persischen Achämeniden nach Anatolien hatte auf die materielle Kultur der Stadt keinen archäologisch sichtbaren Einfluss, das Leben lief weiter, bis die Stadt im 5. Jahrhundert v. Chr. an Bedeutung verlor. Unklar ist, ob die Siedlung tatsächlich völlig aufgegeben wurde. Einen erneuten kulturellen Umbruch in der Region brachten im 3. Jahrhundert v. Chr. die Galater, die östlichen Kelten, die von Südosteuropa über Westanatolien nach Zentralanatolien vordrangen. In Tavium beim heutigen Büyüknefes, etwa 20 Kilometer südlich von Boğazköy, hatte der Stamm der Trokmer sein Zentrum, von wo aus sie auch das Gelände von Ḫattuša in Besitz nahmen. Zeugnis davon legen Spuren von Wohnbebauung auf dem Nordwesthang, eine kleine Festungsanlage bei Kesikkaya sowie vereinzelte Steinkistengräber und Pithosbestattungen in der Unterstadt ab. Nach etwa 25 v. Chr. übernahm das Römische Reich die Herrschaft über das Gebiet der Trokmer und machte es zur Provinz Galatia. Aus dieser Zeit zeugen nur wenige verstreute Dorfsiedlungen in der Umgebung der Stadt. Im 1. Jahrhundert n. Chr. bauten die Römer eine Straße von der Provinzhauptstadt Tavium nach Norden, vermutlich nach Amasia, die wenige Kilometer östlich und nördlich am Gebiet von Boğazköy vorbeiführte. In den Ruinen der bronze- und eisenzeitlichen Stadt von Boğazköy wurde zunächst ein römisches Militärlager angelegt, das in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. mit einer großzügigen Villenanlage überbaut wurde. Im Umfeld des Großen Tempels und in der Unterstadt wurde eine ausgedehnte Nekropole dieser Zeit freigelegt, während sich auf Büyükkale die Reste einer kleinen, wohl spätkaiserzeitlichen Befestigung fanden. Auch belegen zahlreiche Abarbeitungen an Felsen sowie an Werksteinen im Großen Tempel, dass die Römer sie als Steinbruch nutzten. Am deutlichsten sind die Spuren am Felsen von Kessikkaya im Westen der Stadt zu erkennen. Aus der frühbyzantinischen Zeit sind nur spärliche Zeugnisse erhalten, dagegen wurden in der Oberstadt, am Nordrand des Tempelviertels, Überreste einer mittelbyzantinischen Siedlung mit einem Kloster und mehreren Kirchen des 10. bis 11. Jahrhunderts ausgegraben und zum Teil restauriert. Darin waren Spolien des 6. bis 8. Jahrhunderts verbaut, die auf eine frühere Kleinsiedlung schließen lassen. Auf Sarıkale wurde die bestehende hethitische Anlage in dieser Zeit umgebaut und mit einer Befestigung ausgestattet. Auch auf dem südlich davon liegenden Felsblock Yenicekale sind Reste einer byzantinischen Bebauung gefunden worden. Die datierbaren Münzfunde enden etwa in den 1060er Jahren, sodass davon ausgegangen werden kann, dass zu jener Zeit die Siedlung aufgegeben wurde, vermutlich im Zuge der Einwanderung türkischer Stämme aus dem Osten. In den folgenden Jahrhunderten ist keine Siedlungsaktivität im Raum von Boǧazköy nachweisbar. Aus der Zeit der seldschukischen Fürstentümer ab dem 12. Jahrhundert existieren lediglich vereinzelte Münzfunde, die aber wohl auf durchziehende Nomaden zurückzuführen sind. Im 15./16. Jahrhundert wird das seldschukische Beylik der Dulkadiroğulları von den Osmanen zerschlagen. Daraufhin ließ sich ein versprengter Zweig der ursprünglich aus der Gegend von Maraş stammenden Familie zunächst in Yekbas (zeitweise Evren) nieder, um schließlich im 17. Jahrhundert drei Kilometer weiter südlich den Ort Boǧazköy, das heutige Boğazkale, zu gründen. Die Verlegung der Siedlung aus der Ebene des Budaközü-Baches in die bergige und damit geschütztere Landschaft erfolgte vermutlich aufgrund der Wirren infolge der sogenannten Celali-Aufstände. Der Konak, die herrschaftliche Residenz der Familie, existiert noch heute. Angehörige dieser Sippe, Ziya Bey und Arslan Bey, waren es, die am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts den westlichen Forschern und Archäologen Unterkunft und Unterstützung bei ihren Grabungen zukommen ließen. Die Stadt Stadtmauern Das hethitische Stadtgebiet war ringsum von einer Mauer umgeben und von weiteren Abschnittsmauern durchzogen. Die äußeren Mauern hatten einen Umfang von 6,6 Kilometern, mit allen Teilstücken innerhalb des Stadtgebiets sind die Mauern mehr als neun Kilometer lang. Die älteste hethitische Mauer ist die Poternenmauer, die nach dessen eigenen Angaben unter Großkönig Ḫantili I. im späten 17. oder frühen 16. Jahrhundert v. Chr. erbaut wurde. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass es bereits einen älteren Vorgängerbau gab. Die Poternenmauer umfasste zunächst nur das Gebiet der Altstadt, heute auch als Unterstadt bezeichnet. Sie verlief im Südwesten von Kesikkaya im Westen bis Büyükkale im Osten, umlief diese Festung im Süden und Osten und setzte sich nach Norden fort, wobei sie die tiefe Schlucht des Budaközü zwischen den Erhebungen Ambarlıkaya und Büyükkaya überquerte. In der Schlucht setzte sie aus, es wird vermutet, dass der Bachlauf vielleicht von einer Art Gitter abgeriegelt war. Von dort setzte sie sich über die Höhe von Büyükkaya fort und umlief im großen Bogen die Stadt, um schließlich bei Kesikkaya den Ring zu schließen. Die nördlichen Abschnitte sind zu großen Teilen vom modernen Ort überbaut oder liegen unter Feldern und sind noch nicht ausgegraben. Sichtbar sind im Stadtgebiet die Grundmauern, die östlich von Kesikkaya auf einer Strecke von mehreren hundert Metern restauriert wurden. Die Mauer ist benannt nach den Tunneln, die in Abständen zwischen 70 und 180 Metern unter der Mauer durchführen. Auf dem Abschnitt zwischen Kesikkaya und Büyükkale sind acht Poternen nachgewiesen. Sie sind, wie der gleichartige Bau bei Yerkapı, als Kraggewölbe errichtet. Allerdings sind die heute verschütteten Poternen der Altstadtmauer deutlich kleiner als Yerkapı und verdeckt angelegt. Eine mögliche Funktion ist die von Ausfalltoren, um den Angreifer vor der Stadt zu bekämpfen. Der tatsächliche Zweck ist letztlich unklar. Im Zuge der Restaurierung wurden bei einigen die Eingänge freigelegt. Die Befestigung wurde in der sogenannten Kastenbauweise errichtet – eine anatolische Erfindung, wahrscheinlich eine Reaktion auf die Entwicklung von Rammböcken. Es wurden zwei Mauern parallel errichtet, zwischen denen Querverbindungen eingezogen wurden. Durch das Auffüllen der so entstandenen Kästen mit Erde, Steinen und Lehmziegelbruch entstand eine breitere und damit widerstandsfähigere Mauer. Die Mauern standen auf Wällen, die zum Teil künstlich aufgeschüttet wurden. Das Fundament bildete ein Sockel aus Bruchstein-Trockenmauerwerk, die eigentliche Mauer bestand aus verputzten, luftgetrockneten Lehmziegeln. In unregelmäßigen Abständen waren Türme integriert, die aus der Mauer hervorsprangen, insgesamt über einhundert. Über die Höhe der Mauern können nur Vermutungen angestellt werde. Der Steinsockel hatte eine Höhe von vielleicht 3–4 Metern, darauf erhob sich der Aufbau aus Holzfachwerk und Lehmziegeln, von etwa der gleichen Höhe, der bekrönt war von einem Wehrgang mit Zinnen. Die Türme waren sicherlich nochmal um einiges höher. Eine Vorstellung vom Aussehen der Mauer geben zahlreiche bekannte Tonmodelle, an denen auch die gewölbte Form der Zinnen erkennbar ist, und der an diese Vorbilder angelehnte Nachbau eines Mauerabschnitts in der Unterstadt. Wann die Mauer um die südlich gelegene Oberstadt erbaut wurde, ist nicht sicher zu klären. Da aber bereits ab dem späten 16. Jahrhundert v. Chr. Teile der Oberstadt intensiv bebaut und genutzt wurden, kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Oberstadt bereits damals befestigt war. Die Mauer schloss westlich von Kesikkaya an die Poternenmauer an und traf auf der Südostecke von Büyükkale wieder auf die alte Befestigung. Sie war ebenfalls als Kastenmauer gebaut, wobei nun allerdings auf die Poternen verzichtet wurde. Etwa im 15. oder 14. Jahrhundert v. Chr. wurde in der Unterstadt eine Abschnittsmauer eingezogen, die von der nördlichen Stadtmauer abzweigte, nordwestlich am großen Tempel vorbeiführte und westlich von Kesikkaya auf die Poternenmauer traf, dort wo sich auch die Südstadtmauer anschloss. Wahrscheinlich im 15., eventuell auch erst im 14. Jahrhundert v. Chr., scheinen die äußeren Bedrohungen nicht mehr so stark gewesen zu sein, sodass die Mauern nicht mehr so sehr der Verteidigung dienten, sondern vielmehr repräsentativen Zwecken gewidmet waren. Dies zeigt sich auch in den großen Fenstern der Türme, die zwar nicht archäologisch nachweisbar sind, aber von den Tonmodellen her bekannt sind. In diese Zeit fällt möglicherweise auch der monumentale Ausbau der Rampe von Yerkapı beim südlichsten Mauerabschnitt. Erst im späten 13. Jahrhundert v. Chr. wurde die Bedrohung der Stadt, möglicherweise durch innenpolitische Streitigkeiten, wieder so bedeutend, dass auf dem südlichen Wall eine zweite Stadtmauer vorgelagert wurde. Wahrscheinlich auch in dieser Zeit wurde auf Büyükkaya eine weitere Abschnittsmauer errichtet, die nördlich der Getreidespeicher nach Westen abzweigte und bei Mihraplıkaya an die westliche Abschnittsmauer anschloss. Damit wurden die Speicher gegen unbefugten Zugriff geschützt, sie konnten nur noch durch ein bewachtes Tor betreten werden. Teilrekonstruktion der Stadtbefestigung Zwischen 2003 und 2005 wurde ein 65 Meter langer Abschnitt der Befestigungsmauern durch das DAI wiederaufgebaut: drei 7 bis 8 Meter hohe Mauerabschnitte und zwei 12 bis 13 Meter hohe Wehrtürme. Der japanische Konzern JT International unterstützte das Projekt als Sponsor. Die Archäologen arbeiteten im Sinne der experimentellen Archäologie mit historischen Materialien und historischen Verfahren. Sie stellten 64.000 Lehmziegel her, dafür verarbeiteten sie 2700 Tonnen Lehmerde, 100 Tonnen Stroh und rund 1500 Tonnen Wasser. Außerdem wurden rund 1750 Tonnen Erdschutt für Verfüllungen und den Aufbau von Rampen benötigt, ferner Holzstämme für die Konstruktion der Turmgeschosse. Die üblichen Maße der quadratischen Lehmziegel (etwa 45 × 45 × 10 Zentimeter, rund 34 Kilogramm) waren bekannt, da einige Ziegel unzerstört erhalten geblieben waren. Als Anhaltspunkt für die Gestaltung dienten Tonmodelle der Stadtmauer, die von den Hethitern als Verzierung am Rand großer Kultvasen angebracht wurden. Etwa 11 Monate lang waren im Durchschnitt 27 Arbeiter am Werk. Der Arbeitsaufwand summierte sich auf 6772 Manntage, obwohl Bagger, Traktoren und Lastkraftwagen für die Beschaffung des Materials eingesetzt wurden, um die Kosten im Rahmen halten zu können. Wie hoch der entsprechende Aufwand zu Zeiten der Hethiter war, die ohne Unterstützung durch Maschinen arbeiteten, konnte nur geschätzt werden. Hochrechnungen ergaben, dass die Hethiter rund tausend Arbeitskräfte einsetzen mussten, wenn sie pro Jahr einen Kilometer Stadtmauer bauen wollten. Der für das Projekt verantwortliche Archäologe Jürgen Seeher nimmt an, dass vor allem Gefangene die alten Stadtmauern errichtet hatten. In mehreren Keilschrifttexten wird berichtet, dass die Könige der Hethiter Tausende von Menschen als Beute von ihren Kriegszügen mitbrachten, um den chronischen Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Bei der Berechnung des historischen Arbeitskräftebedarfs wurden längere Pausen während der Wintermonate einkalkuliert. Die Lehmziegelproduktion ist in Zentralanatolien nur im Sommer möglich, wenn es warm genug ist und nicht regnet, etwa von Mitte Juni bis Mitte September. Zu dem experimentellen Projekt gehört auch die fortdauernde Beobachtung des Bauwerks im Hinblick darauf, wie sich das Wetter auf die Bausubstanz auswirkt und wie oft der Putz ausgebessert werden muss, der die Lehmziegel schützt, aber durch Regenfälle mit der Zeit abgewaschen wird. Stadttore Die Poternenmauer zwischen Kesikkaya und Büyükkale, die Ober- und Unterstadt trennt, hatte mindestens zwei Tore, eines am Fuß von Büyükkale und ein weiteres, erst 2009 ergrabenes, westlich von Kesikkaya. Die westliche Abschnittsmauer hatte mindestens zwei Durchfahrten, eine nördlich des großen Tempels, wo heute die moderne Straße auf das Grabungsgelände führt, und eine westlich des Tempels. Sie wurden vermutlich gemeinsam mit Tempel und Mauer im 15. oder 14. Jahrhundert v. Chr. gebaut. Ob und wo weitere Tore in der Abschnittsmauer vorhanden waren, ist archäologisch nicht feststellbar. Gleiches gilt für die Tore der nördlichen Umfassungsmauer der Unterstadt. Die südliche Stadtmauer um die Oberstadt hatte fünf monumentale Tore, von denen das Sphinxtor eine Sonderstellung einnimmt. Die anderen vier hatten außen und innen einen parabolisch geformten Durchgang, der mit hölzernen Torflügeln verschlossen war. Die Steinpfannen, in denen sich die Türangeln drehten, und die Schleifspuren der Flügel sind vor allem am Königstor noch deutlich zu sehen. Beide Durchgänge konnten von innen, also stadtseits, mit Riegeln verschlossen werden. In den Seitenwänden sind beim Löwen- und beim Königstor noch die Aussparungen zu erkennen, in die die Riegel geschoben wurden. In einem Text über die Aufgaben des hazannu (etwa Stadtkommandant) ist festgelegt, dass die Tore jeden Abend verschlossen und versiegelt und die Siegel jeden Morgen auf Unversehrtheit überprüft werden mussten. Die Tore sind, mit Ausnahme des Sphinxtores, jeweils von zwei Türmen flankiert. Zwei der Tore liegen im Westabschnitt der Mauer, das Untere Westtor im Nordwesten von Kızlarkayası, durch das ein heute noch benutzbarer Fußweg vom Ort Boğazkale hochführt, und das Obere Westtor westlich von Kızlarkayası. Im Gegensatz zu den anderen Toren der Oberstadt waren sie nicht mit Reliefschmuck ausgestattet. Die drei anderen Tore sind alle im südlichen Teil der Befestigung, es sind im Südwesten das Löwentor, am südlichsten Punkt das Sphinxtor und im Südosten das Königstor. Löwentor Die Torkammer des Löwentors ist wie bei allen großen Toren von zwei Türmen mit rechteckigen Grundrissen von etwa 10 × 15 Metern flankiert. An der noch 4,6 Meter hoch erhaltenen Außenfront des westlichen Turms ist das sorgfältig gearbeitete Polygonalmauerwerk gut zu sehen. Die äußere Bearbeitung der Steinblöcke ist an diesem Tor nicht fertiggestellt worden, der Grund dafür ist umstritten. Außen führt eine Rampe schräg von Osten zum Tor, die von einer weiteren Mauer mit einem Turm begleitet war. Die beiden Durchgänge wurden durch mächtige Steinblöcke gebildet, die zusammen eine Parabel formten. Aus diesen Blöcken sind an der Toraußenseite zwei Löwenfiguren herausgearbeitet, nach denen das Tor seinen modernen Namen hat. Löwen waren im hethitischen Reich wie im gesamten alten Orient als Torwächter sehr verbreitet. Auch an verschiedenen Toren auf der Königsburg Büyükkale standen möglicherweise derartige Torfiguren. Die Gestalten sind sehr sorgfältig gearbeitet, was beispielsweise an der feinen Struktur der Mähne, an den Tatzen und an der Darstellung der Gesichter mit drohend geöffnetem Maul, heraushängenden Zungen und weit geöffneten Augen erkennbar ist. Die Augen waren wahrscheinlich ursprünglich aus einer separaten Kalkmasse mit schwarzen Pupillen geformt und in gebohrte Löcher eingesetzt. Links vom Kopf des westlichen Löwen sind schwach eingemeißelte Hieroglyphen zu erkennen. Sie sind nicht vollständig deutbar, lesbar ist am Ende das Zeichen für „Tor“ PORTA, möglicherweise war hier der hethitische Name des Tors genannt. 2010 und 2011 wurde das Tor aufwendig restauriert, Risse in den Türgewänden sowie Schäden am rechten Löwen beseitigt und beim linken Löwen der Kopf, der schon im Altertum verloren war, rekonstruiert. Sphinxtor Das Sphinxtor (gelegentlich auch Sphingentor) steht am höchsten und südlichsten Punkt der Stadtmauer. Im Unterschied zu den anderen vier Toren ist es nicht von Türmen flankiert, sondern der Durchgang führt durch einen Turm hindurch. Auch haben die Türlaibungen hier keine parabolische Form, sondern sind rechteckig mit einem Türsturz. Außerdem war nur der äußere Durchgang mit Türflügeln versehen und verschließbar, die stadtseitige Torseite blieb offen. Das Sphinxtor war ein Fußgängertor, das von der Stadtaußenseite über die Treppen an den Seiten des mächtigen Walls von Yerkapı erreicht werden konnte. Man vermutet für den Wall ebenso wie für das Tor eine kultische Bedeutung, allerdings ist die Funktion durch keine Textstellen belegbar. Das Sphinxtor hat seinen heutigen Namen von den vier Sphinxfiguren, die den Ein- und Ausgang bewachten. An der Außenseite sind nur Reste der linken, westlichen Sphinx erhalten, nur Füße mit Tatzen und Spuren des Kopfschmuckes sind noch erkennbar. Auf der rechten Seite ist der Block mit der Sphinx verloren. Der Rest des Laibungblockes zeigt Meißelspuren, die darauf hindeuten, dass der Block als Baumaterial verwendet wurde. Die beiden Sphingen der Innenseite wurden 1907 ausgegraben (siehe weiter unten). 2011, nach einer Restaurierung wurden am inneren Tor zwei Kopien aufgestellt, die wieder zusammengesetzten Originale befinden sich im Museum von Boğazkale. Die meisten erhaltenen Originalteile konnten von der östlichen Sphinx wieder verwendet werden. Die Gestalt der Sphinx haben die Hethiter vermutlich über Nordsyrien aus dem ägyptischen Kulturkreis übernommen, allerdings ist die hethitische Sphinx im Gegensatz zur ägyptischen weiblich, was an den Gesichtszügen und Körperformen erkennbar ist. Die Wesen sind vorne nahezu vollplastisch gearbeitet, seitlich im Hochrelief. Über dem Leib erheben sich große Flügel, der Schwanz ist über dem Hinterteil hoch aufgerollt. Das Gesicht hat weibliche Züge mit eingelegten Augen, rechts und links fallen zwei Zöpfe auf die Brust herab. In diesen in Locken endenden Zöpfen zeigt sich die Herkunft der Figur aus Ägypten, sie ist vergleichbar der Haartracht der Himmelsgöttin Hathor. Den Kopf schmückt ein Helm mit Wangenklappen und Hörnern als Zeichen der Göttlichkeit. Über dem Helm sind sechs Rosetten zu sehen, deren Bedeutung unklar ist. Auf dem Flügelansatz der westlichen Sphinx sind fünf eingeritzte Hieroglyphen zu sehen. Der türkische Hethitologe Metin Alparslan erkennt die beiden Zeichen REX für König und SCRIBA für Schreiber. Er schließt daraus unter Vorbehalt, dass ein des Schreibens kundiger König (kein Großkönig) für das Graffito verantwortlich ist. Aus den restlichen Zeichen liest er den Namen Ni(a)-ZITI, der allerdings in bekannten Texten nirgends vorkommt. Rückforderung der „Sphinx von Ḫattuša“ 2011 erreichten die bereits jahrzehntelang andauernden Bemühungen der türkischen Regierung zur Rückführung der sogenannten „Sphinx von Ḫattuša“ aus dem Museum für Vorderasiatische Kunst in Berlin einen neuen Höhepunkt. Es handelt sich dabei um eine der beiden Sphinx-Figuren, die Otto Puchstein im Jahr 1907 bei der Freilegung des Sphinx-Tors, der zentralen Toranlage im Süden der Stadt, gefunden hatte. Diese Kalksteinplastiken waren durch Feuereinwirkung zerplatzt, und die Fragmente wurden während des Ersten Weltkriegs zur Restaurierung nach Berlin gebracht, zusammen mit rund 10.000 Keilschrift-Tontafeln. Die Keilschrift-Tafeln wurden zwischen 1924 und 1939 nach ihrer Publikation beziehungsweise 1987 in die Türkei zurückgebracht. Die weniger gut erhaltene, westliche Sphinx wurde restauriert und kehrte bereits 1924 in die Türkei, nach Istanbul, zurück. Die zweite, deutlich besser erhaltene Sphinx blieb in Berlin. Bereits 1938 wurde von der Türkei die Rückführung gefordert. Nach der Überwindung der Teilung Deutschlands wurde diese Forderung mehrfach erneuert und schließlich ultimativ im Jahr 2011, verbunden mit der Androhung des Entzugs von Grabungslizenzen für deutsche Archäologen. Diese Forderung wurde von Hermann Parzinger, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zunächst mit Hinweis auf die unklare rechtliche Situation zurückgewiesen. Große Teile der Dokumentation der Berliner Museen seien im Krieg verlorengegangen, und auch von türkischer Seite seien Dokumente, die den Anspruch eindeutig begründen, zwar angekündigt, aber nie vorgelegt worden. Parzinger erklärte dennoch Gesprächsbereitschaft, ebenso Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Im Mai 2011 wurde eine Einigung erzielt, laut der die Sphinx bis zum 28. November 2011 an die Türkei zurückgegeben werden sollte. Im Juli 2011 wurde die Sphinx schließlich in die Türkei zurückgebracht. Seit November 2011 stehen die beiden restaurierten Sphingen als eine Hauptattraktion im Museum von Boğazkale. Die schon 1924 zurückgelieferte Sphinx war zuvor im Archäologischen Museum Istanbul ausgestellt. Das Pergamonmuseum in Berlin ließ als Ersatz für die originale Sphinx eine Gipskopie herstellen. Heute stehen am Sphinxtor auf dem Ausgrabungsgelände zwei Kopien der inneren Sphingen. Königstor Das Königstor liegt am östlichen Ende des südlichen Mauerbogens und entspricht damit, sowohl in Bezug auf die Lage als auch den Aufbau betreffend, spiegelbildlich dem Löwentor. Es hat ebenfalls zwei seitliche Türme von etwa 10 × 15 Metern Grundfläche, die heraufführende Rampe kommt hier von Westen. Die Wehrmauer, die den Aufweg schützt, ist nochmals mit einer Bastion versehen. So sollte verhindert werden, dass der Feind bis zum eigentlichen Tor vordringen konnte. Der äußere Teil der Befestigung ist restauriert. Im Unterschied zum Löwentor ist der Reliefschmuck hier nicht auf der Außenseite, sondern auf der Stadtseite angebracht. Er zeigt eine männliche Figur, die nur mit einem kurzen Wickelrock bekleidet ist, der reich mit verschiedenen Musterbändern verziert ist. Er ist deutlich als Krieger zu erkennen, in seinem breiten Gürtel trägt er ein Kurzschwert mit einem halbmondförmigen Griff. Die rechte Hand hält vor dem Körper eine Axt mit vier Spitzen am hinteren Ende und einer Schneide mit nach hinten gebogenen Ecken. Der Kopf ist mit einem Helm bekleidet, der mit Wangenklappen und Hörnern ausgestattet ist. Seine Haare hängen auf dem Rücken herab. Die frühen Ausgräber hielten die Figur für einen König, wonach das Tor seinen Namen bekam. Die Hörner auf dem Helm weisen ihn jedoch als Gott aus. Welchen Gott er darstellt, ist ungeklärt, möglicherweise hat Tudḫaliya IV. hier seinen persönlichen Schutzgott Šarrumma verewigt. Am Tor steht heute eine Kopie des bereits 1907 entdeckten Reliefs, das Original ist seit den 1930er Jahren im Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara ausgestellt. Das Tor hatte, wie das Löwentor, parabolische geformte Durchgänge mit einer unteren Breite von 3,25 Metern und einer Höhe von etwa fünf Metern. Es war ebenso mit zweiflügligen Holztüren verschließbar. Hier sind sehr gut die Riegellöcher in den Laibungen und die Schleifspuren der Flügel erkennbar. Die Stadttore in hethitischen Texten Anhand der hethitischen Texte kann angenommen werden, dass die Stadttore einen Namen hatten. Allerdings sind nur wenige Namen von Stadttoren überliefert und es ist nicht möglich, zu bestimmen, wo diese sich befanden. Einige sind nach benachbarten Städten genannt. So begann die Straße nach Tawiniya beim Tawiniya-Tor und vom Zippalanda-Tor ausgehend, kam man zuerst nach Ḫarranašši und dann zur bedeutenden Kultstadt Zippalanda (vermutlich Uşaklı Höyük). Bei den Stadttoren wurden auch religiöse Rituale durchgeführt. So wurde vor dem Tawiniya-Tor ein Ritual für die „männlichen Zederngötter“ abgehalten. Besonders häufig wird das ašuša-Stadttor genannt, wo unter anderem beim KI.LAM-Fest die beiden Šalawaneš-Torgottheiten verehrt wurden. Beim purulliya-Fest wurde der König bei diesem Tor mit hattischen Liedern empfangen. Straßensystem Der Verlauf der Straßen, die durch die Stadt liefen, kann zum einen aus der Lage der Tore geschlossen werden, zum anderen ergibt er sich durch die Topographie des Geländes, die Wege nur an wenigen Stellen zulässt. Ein Teil der Strecken wurde bis ins 20. Jahrhundert als Karrenwege genutzt und ist so noch erkennbar, so beispielsweise der vom modernen Ort kommende Pfad durch das Untere Westtor. An einigen Stellen sind auch gepflasterte Straßen mit darunterliegenden Abwasserkanälen archäologisch nachgewiesen. Wo die westlichen Tore der Altstadt lagen, ist nicht geklärt, da dieser Teil der Stadtmauer vom modernen Ort überbaut ist. Sicher sind dagegen zwei Tore in der westlichen Abschnittsmauer beim großen Tempel, je eines nahe der Nord- und der Westecke. Von beiden Toren verlief eine Straße nach Osten, die sich beide auf einem Platz südlich des Tempels trafen. Von dort aus verlief der Weg vermutlich in einer großen Serpentine über den Nordwesthang bis zu dem Tor in der Poternenmauer südlich unterhalb von Büyükkale. In der Oberstadt ist dagegen die Lage der Tore bekannt, fünf in der Außenmauer und zwei in der Poternenmauer, die den Durchgang in die Unterstadt erlaubten. Vom Unteren Westtor gab es eine Verbindung zum Durchgang in der Poternenmauer westlich von Kesikkaya und weiter entlang der Poternenmauer bis Büyükkale, wo sie an dem dortigen Tor auf die vom Tempel kommende Straße traf. Am Tor bei Kesikkaya kreuzte sie wahrscheinlich eine Straße, die durch das Tor von Norden, vom Platz am großen Tempel kam. Diese ging weiter nach Süden etwa bis in das Tal südwestlich von Sarıkale. Vorher vereinigte sie sich bei Kızlarkayası mit einem vom Oberen Westtor kommenden Weg. Sie traf dann, in der Senke zwischen Sarıkale und Yenicekale, auf eine Querverbindung durch die Oberstadt. Diese begann etwas nordwestlich vom Löwentor, verlief von dort grob nach Osten, vorbei am Haus des MESCHEDI-Kommandanten, nördlich am Tempelviertel der Oberstadt vorbei und darauf wieder nach Norden, sodass sie unterhalb von Büyükkale beim dortigen Tor in der Poternenmauer auf die anderen beiden dort zusammenkommenden Straßen traf. Auch dieser Weg ist im Luftbild größtenteils noch gut erkennbar. Westlich der beiden Ostteiche zweigt von dieser Querverbindung eine Straße nach Süden ab, die zum Königstor, danach im großen Bogen entlang der Südmauer vorbei an Yerkapı und dem Löwentor bis Taanıkkaya die Stadt umschließt, wobei nordwestlich des Löwentors wieder die Querverbindung anschließt. Durch die Hanglage der Stadt und die Topographie mit zahlreichen einzelnen Erhebungen, zwischen denen die Verbindungswege durchführten, ergab es sich, dass das Regenwasser vorrangig entlang der Straßen ablief. Dem versuchte man, durch ein Kanalsystem entgegenzuwirken, das unterhalb der Straßen verlief. Es ist an einigen Stellen, vor allem im Bereich der Unterstadt um den Großen Tempel, auch archäologisch nachgewiesen. Verschiedene Keilschrifttexte bezeugen, dass es zu den Aufgaben des hazannu (Stadtkommandant, Bürgermeister) gehörte, diese Kanäle freizuhalten und damit für freien Wasserablauf zu sorgen. In das Kanalsystem waren auch Hausanschlüsse der Wohnbebauung zur Entsorgung der häuslichen Abwässer eingebunden. Innerer Aufbau der Stadt Im Folgenden werden einzelne Bauten und Geländeformationen der Stadt beschrieben. Die Beschreibung folgt der modernen Straße, die heute zur Besichtigung der Ruinen in großem Bogen durch das Gelände läuft. Die Straße führt von Boğazkale kommend an der Stelle des früheren Tores nördlich des Großen Tempels auf das Stadtgelände. Linker Hand liegt das Tourismuszentrum mit Kartenverkauf, Shop, Cafeteria und Toiletten. Großer Tempel Dahinter liegt rechts (südwestlich) der Straße ein großes, zur Unterstadt gehöriges, ausgegrabenes Areal. Das größte Gebäude ist der Große Tempel, auch Tempel 1 genannt. Vor dem Tempelgelände steht das sogenannte Löwenbecken. Es handelt sich um einen Sockel von mindestens 5,5 Metern Länge, der ursprünglich aus einem Kalksteinblock gearbeitet war, mit einer beckenartigen Vertiefung auf der Oberfläche. Alle vier Ecken waren mit Löwenfiguren verziert. Die Köpfe der Tiere waren vollplastisch gearbeitet, die Körper an den Seiten im Relief. In der Art der späteren assyrischen Darstellungen haben die Löwen fünf Beine, damit sie sowohl frontal als auch seitlich betrachtet werden können. Der Erhaltungszustand ist verhältnismäßig schlecht, da die Einzelteile nie unter der Erde lagen. Dass es sich tatsächlich um ein Wasserbecken handelte, wird heute stark angezweifelt. Es ist weder ein Ab- noch ein Zufluss vorhanden und das Wasser hätte in Gefäßen aus relativ großer Entfernung herbeigeschafft werden müssen. Stattdessen wird heute vorgeschlagen, dass es den Sockel einer vor dem Tempel stehenden Kolossalstatue darstellte. Zwar ist nicht sicher, ob es sich noch am originalen Aufstellungsort befindet, aber auf Grund der Größe und des Gewichts der gefundenen Teilstücke können sie nicht allzu weit bewegt worden sein. Werkzeugspuren an den aufgefundenen Teilstücken deuten darauf hin, dass der Block in der römischen Kaiserzeit zur Zweitverwendung in mehrere Teile gespalten wurde. Im Rahmen der Grabungskampagne 2017 wurden die vorhandenen Teile restauriert und auf einem teilweise nachgearbeiteten Sockel aus Bruchsteinen und Zementmörtel wieder zusammengefügt. Nördlich des Beckens liegt das Areal des Tempels. Vom Tempel und den umgebenden Gebäuden sind, wie überall in der Stadt, nur die Grundmauern bis zu einer Höhe von maximal 1,5 Metern erhalten, die Wände aus Holzfachwerk mit Lehmziegeln sind vergangen. Das eigentliche Tempelgebäude hat Maße von 65 × 42 Metern und ist damit, nach dem Tempel des Wettergottes in Kuşaklı, das zweitgrößte im hethitischen Kulturraum gefundene Gebäude. Mitsamt den an allen Seiten den Tempel umgebenden Magazinräume bedeckt der Tempelkomplex eine Fläche von etwa 14.500 Quadratmetern. Das Gebäude stand auf einer mindestens acht Meter hoch aufgeschütteten Terrasse. Nördlich des Löwenbeckens liegt der vierstufige Eingang zum Tempelareal. Die von ihm ausgehende gepflasterte Tempelstraße knickt nach rechts ab und umläuft das eigentliche Tempelgebäude. Beidseitig des Tores lagen kleine Wächterkammern. Den einstöckigen, von Südwest nach Nordost orientierten Tempel selbst betrat man durch ein weiteres Tor mit hölzernen Türflügeln von Südwesten. Nach kurzem Durchgang kam man in einen offenen Hof, der von verschiedenen Nebenräumen umgeben war. In der hinteren rechten Ecke stand ein kleiner separater Bau, der als Altar gedient haben mag. Eine Portikus im Nordosten bildete den Zugang zu den zwei Hauptkulträumen, den Adyta des Tempels. Weitere höchstwahrscheinlich als Kulträume zu identifizierende Zimmer finden sich in verschiedenen Bereichen des Bauwerks. Zwar ist nirgends festgehalten, wer in den verschiedenen Kulträumen verehrt wurde, aber nach der Größe der beiden Hauptkulträume im Norden des Gebäudes nimmt man an, dass es die beiden höchsten Gottheiten der Hethiter waren, der Wettergott von Hatti und die Sonnengöttin von Arinna. Im rechten der beiden Allerheiligsten fand man an der Nordostwand einen Sockel für eine Statue. Das Tempelgebäude ist auf allen Seiten von insgesamt 82 langgestreckten Magazinräumen umgeben, die zur Aufbewahrung der Tempelgüter dienten. Von den Verbindungen zwischen den einzelnen Räumen haben sich monumentale Schwellen erhalten. In den meisten der Räume wurden kaum Funde gemacht mit Ausnahme von zahlreichen, in den Boden eingelassenen Pithoi, Vorratsgefäßen mit einem Fassungsvermögen von bis zu 2000 Litern, in denen Lebensmittel wie Getreide, Hülsenfrüchte, Öl und Wein gelagert wurden. Einige davon sind noch an Ort und Stelle zu sehen. In den Räumen südöstlich des Tempels kamen Tausende von Keilschrifttafeln zutage, dort befand sich demnach das Tempelarchiv. In einem der Magazinräume gegenüber dem Tempeleingang steht – sicher nicht an seinem Originalstandort – ein würfelförmiger Stein aus grünem, nephritartigen Gestein, einer lokalen Form des Serpentinit. Auch wenn ihm vom Volksmund verschiedene wundertätige Wirkungen nachgesagt werden, ist über seine Funktion oder Herkunft nichts bekannt. Südwestlich des Tempel- und Magazinkomplexes verläuft eine breite gepflasterte Straße mit darunter liegenden Kanälen zum sogenannten Südtor in der westlichen Abschnittsmauer. Auf der gegenüberliegenden Seite dieser Straße befand sich ein großer Komplex von etwa 5300 Quadratmetern mit Magazinräumen, Kulträumen, aber vermutlich auch Werkstätten, das sogenannte Südareal. Da auch hier die Funde fehlen, kann über die genauere Funktion nichts ausgesagt werden. Nach einem gefundenen Tontafel-Bruchstück mit der Bezeichnung E-GISCH-KINTI wird der Komplex auch Haus der Arbeitsleistung genannt, wo neben Priestern auch Handwerker, Musikanten und Schreiber ihrer Arbeit nachgingen. Wiederum südlich dieses Gebäudes liegt eine kleine, ausgemauerte Quellgrotte, auf deren Sturz eine Figur eingeritzt ist. Durch eine dort gefundene Stele mit Hieroglypheninschrift kann der Grotte eine kultische Funktion zugewiesen werden. Das Gelände zwischen Tempelkomplex und Stadtmauer im Nordwesten ist von unregelmäßiger Wohnbebauung bedeckt. Haus am Hang Wenige Meter südlich des Tempelgebietes beginnt das Gelände anzusteigen. Das sich von hier nach Südosten bis zur Königsburg Büyükkale den Hang aufwärts erstreckende Gelände wird als Nordwesthang bezeichnet. Etwa 100 Meter südöstlich des Tempeleingangs liegt, auf der anderen Straßenseite, das Haus am Hang. Seinen Namen hat es erhalten, da es auf verhältnismäßig steilem Grund errichtet ist. An dem Hang lagen mehrere terrassenartig angelegte Häuser, von denen das Haus am Hang das größte war. Es hat Maße von 32 × 36 Metern, weshalb angenommen wird, dass es ein Gebäude mit offizieller Funktion war. Das Haus war zweigeschossig, im Obergeschoss kann ein Saal von 13 × 17 Metern Größe rekonstruiert werden. Im unteren Stockwerk werden Wirtschafts- und Lagerräume vermutet. Dort wurde eine große Anzahl von Keilschrifttafeln gefunden. Nach einem Brand im späten 13. Jahrhundert v. Chr. wurde es nicht wiederaufgebaut. Durch den Brand erhaltene Teile des Lehmziegelmauerwerks im oberen Teil des Hauses sind heute zum Schutz vor Witterungseinflüssen ummauert. Die italienische Hethitologin Giulia Torri lokalisiert im Haus am Hang die Arbeitsstelle des Oberschreibers Anuwanza und seiner Schreibergruppe in den letzten Jahrhunderten des Großreichs. Kesikkaya Die Straße wendet sich nun nach Westen, bis nach etwa 200 Metern rechts von einer Kehre der markante Felsen Kesikkaya (geschnittener Felsen) liegt. Der Felsblock ist durch einen künstlich verbreiterten Korridor mit senkrechten Wänden in zwei Hälften geteilt. Die frühen Ausgräber zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermuteten dort ein Königsgrab, später sah man den Felsen als römischen Steinbruch. Theodor Makridi stellte 1911 erste Ausgrabungen an, wobei zunächst der bis auf wenige Meter mit Erde verfüllte Spalt freigelegt wurde. Da die Arbeiten nicht dokumentiert sind, ist über mögliche Ergebnisse nichts bekannt. Bei Grabungen in der näheren Umgebung seit 2007 kamen verschiedenen Gebäude zutage. Im Norden des Felsens, zum Südareal des Tempels hin, kamen ein hethitisches Hallenhaus und ein weiteres hethitisches Gebäude ans Licht. Bei Sondierungen konnten darunter Spuren einer karumzeitlichen Bebauung festgestellt werden. Nordwestlich von Kesikkaya wurde ein weiterer Abschnitt der Poternenmauer mit einem von zwei Türmen flankierten Tor ergraben und anschließend restauriert. Im Süden der Erhebung, direkt an den Felsen anschließend und diesen mit einbeziehend, fanden die Ausgräber die Mauern eines monumentalen hethitischen Gebäudes, wahrscheinlich aus dem frühen 16. Jahrhundert v. Chr. Ein Raum hatte eine sonst nicht anzutreffende dreieckige Form, wobei eine Spitze des Dreiecks direkt auf einen Schacht zielte, der in dem Spalt von Kesikkaya eingetieft war. Die wenigen Funde weisen möglicherweise auf eine religiöse Funktion des Baus hin. Schachner hält es für möglich, dass die Anlage im Zusammenhang mit dem Schacht, ähnlich wie Kammer 2 der Südburg und vielleicht auch Kammer B in Yazılıkaya, ein DINGIRKASKAL.KUR, also eine Art kultischen Eingang zur Unterwelt, darstellt. Westlich dieses Gebäudes wurde eine kleine Festung aus galatischer Zeit ausgegraben, daran anschließend ein Monumentalbau der Eisenzeit, wahrscheinlich mit einer Befestigung. Auf der Oberfläche des Felsens sind Schnittspuren erkennbar, die von Steinbrucharbeiten in römischer und eventuell byzantinischer Zeit stammen. Kızlarkayası Nochmals wenige Meter weiter südwestlich, ebenfalls westlich der Straße, steht der Fels Kızlarkayası. Seinen türkischen Namen (Mädchenfelsen) hat er nach einer Legende, der zufolge es in dem Stein früher ein Bild eines Mädchens gegeben haben soll. Der Felsblock misst in West-Ost-Richtung 29 Meter und in Nord-Südwest-Richtung 32 Meter. Auf der Ostseite erhebt er sich etwa acht Meter aus dem umgebenden Gelände, im Süden vier Meter. Er zeigt starke Spuren von Bearbeitungen und Glättungen an allen Seiten und der Oberfläche. Diese sind aber hier größtenteils nicht das Werk römischer und byzantinischer Steinbrucharbeiter, sondern haben hethitischen Ursprung. Es sind einige in den Felsen eingearbeitete Nischen verschiedener Größe zu erkennen, Oberflächenglättungen sowie Pfeiler, die als Sockel für Standbilder gedient haben könnten. Auch hier wird eine religiöse Bedeutung der Lokalität vermutet. Sibilla Pierallini und Maciej Popko sehen in dem Felsen eine Stelen-Kultanlage der Sonnengöttin von Arinna und ihrer Begleiterin Mezulla. Nach hethitischen Texten passierte der Großkönig auf seinem Weg zur Residenz auf Büyükkale täglich diese Kultstelle. Vorher musste er an einer sogenannten tarnu-Anlage Reinigungsrituale vollziehen. Spuren eines regulierten Bachlaufs nördlich von Kızlarkayası deuten darauf hin, dass es sich bei dem Felsen um diese Anlage gehandelt haben könnte. Nördlich von Kızlarkayası ist aus Westen der vom Unteren Westtor heraufkommende Karrenweg erkennbar, der sich nach Südosten entlang der Südseite der Poternenmauer in Richtung Königsburg fortsetzte. Im Bild oben („Kesikkaya von Südosten“) sind links im Hintergrund das Tor und der Weg zu erkennen. Ebenfalls nach Südosten verläuft zwischen Kesikkaya und Kızlarkayası die Poternenmauer, die östlich davon, jenseits der Fahrstraße, auf einem längeren Stück restauriert ist und deshalb einschließlich der Poternen gut sichtbar ist. Sarıkale Im Süden von Kızlarkayası teilt sich die moderne Straße. Die Beschreibung folgt dem rechten, westlichen Weg, der in einem Bogen entlang der südlichen Stadtmauer zu dieser Gabelung zurückführt. Auf der östlichen Straßenseite liegt das Felsmassiv Sarıkale, das mit einer Höhe von 60 Metern über dem davorliegenden Tal eine dominierende Rolle im Stadtbild der Unterstadt innehat. Auf dem Gipfel sind Reste einer größeren hethitischen Anlage mit Befestigung und einer Zisterne erhalten. In Keilschrifttexten werden mehrfach Felsgipfelhäuser erwähnt. Derartige Gebäude sind auf nahezu allen Erhebungen im Stadtgebiet von Ḫattuša vorhanden. Es handelt sich dabei um öffentliche Gebäude wahrscheinlich religiösen Charakters. Der Bau auf Sarıkale wurde in byzantinischer Zeit mit einer befestigten Anlage überbaut, die wohl zu der Ansiedlung gehörte, die in dieser Zeit auf dem östlichen Abhang des Felsrückens bestand. In der Senke westlich von Sarıkale bestand nach neueren Forschungen bereits in der Karumzeit eine Siedlung. Hier wurden in den frühen 2000er Jahren die Grundrisse mehrerer Häuser ergraben, die im mittleren 16. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind. Sie zeigen, dass die Oberstadt schon sehr bald nach der Gründung der Stadt bebaut wurde. In den Erosionsschichten unter den ältesten Häusern kamen sogar Funde zu Tage, die eindeutig aus der Oberstadt abgeschwemmt waren und aus einer Zeit direkt vor Ḫattušili I., dem Gründer der Stadt, stammten. An der regelmäßigen und gleichartigen Modulbauweise der Häuser (sogenannte Quadrathäuser) ist erkennbar, dass hier nicht, wie in der Unterstadt, auf vorhandene Bebauung Rücksicht genommen werden musste, sondern dass die Erbauung schon systematisch geplant war. Das belegen auch die rechtwinkligen Gassen zwischen den einzelnen Häusern. Die heute sichtbaren Grundrisse sind moderne Nachbauten, die Originalmauern liegen 2–3 Meter tiefer. Wenige Meter südlich von Sarıkale führte ein Weg entlang, der vom Löwentor kommend nach Osten am Tempelviertel vorbei zu den Ostteichen führte. An diesem Weg konnte ein weiteres Haus ergraben werden, aufgrund des Grundrisses ein typisches hethitisches Wohnhaus mit Zentralraum. Es ist vor allem durch einen Text bedeutend, der dort 2009 gefunden wurde und bei dem es sich um ein Schreiben handelt, das an den Kommandanten der Meschedi gerichtet ist. Das Gebäude wird daher als Haus des Meschedi-Kommandanten bezeichnet, Meschedi ist die Bezeichnung der Soldaten der Palastgarde, die auf der Königsresidenz Büyükkale ihren Dienst verrichtete. Damit ist erstmals die Residenz eines hochrangigen königlichen Beamten nachgewiesen, was auch Rückschlüsse auf die Funktion von anderen Häusern der Unterstadt zulässt, die einen ähnlichen Grundriss aufweisen. In dem Haus wurde auch eine Anzahl Keramikgefäße zur Bewirtung einer großen Gästezahl gefunden, was auf mögliche – vielleicht kultisch/religiöse – Feierlichkeiten in dem Privathaus des Kommandanten hinweist. Auf der westlichen Seite der Straße ist ein Taanıkkaya genanntes, verzogenes Rechteck erkennbar, das von der Stadtmauer eingerahmt wurde. Auf dessen plateauartiger Oberfläche konnten durch geomagnetische Untersuchungen wahrscheinlich zwei große Gebäude in der Mitte einer Freifläche festgestellt werden. Über ihre Funktion kann ohne Ausgrabungen nichts gesagt werden. Yenicekale Die Straße erreicht nun die südliche Stadtmauer, wo nach kurzer Strecke das Löwentor liegt. Gegenüber, etwa 150 Meter nordöstlich und damit etwa in der Mitte zwischen Löwentor und Sarıkale, liegt der Felshügel Yenicekale. Auf seiner Oberfläche wurde ein Plateau von etwa 25 × 28 Metern glatt vom Felsen abgearbeitet. An den Seiten war es durch Aufmauerungen mit mächtigen Kalksteinblöcken vergrößert. Auf dieser künstlichen Bauplattform sind wenige Reste des aufgehenden Mauerwerks zu erkennen, die kaum Rückschlüsse auf die darauf errichteten Gebäude zulassen. Auch über die Funktion kann nur spekuliert werden, es könnte sich ebenfalls um eines der erwähnten Felsgipfelhäuser gehandelt haben. Zwischen Löwentor und Yenicekale sind, etwas östlich des Tores, die restaurierten Grundmauern eines Tempels, Tempel 30 genannt, zu sehen. Er wurde in den letzten Jahrzehnten des Großreichs von Töpferwerkstätten überbaut. Nochmals etwa 200 Meter weiter östlich lagen in hethitischer Zeit die sogenannten Südteiche. Dort war zunächst in der Mitte des 16. Jahrhunderts v. Chr. ein großer, unterirdischer Getreidespeicher angelegt worden. Noch im gleichen Jahrhundert wurde er durch fünf Teiche ersetzt. Sie waren relativ schmal gehalten, um den Verdunstungsverlust gering zu halten, hatten aber eine Tiefe von bis zu acht Meter. Zur Minimierung des Risikos von Dammbrüchen oder Verunreinigungen war der Wasserspeicher auf fünf Teiche aufgeteilt. Nachdem zunächst angenommen wurde, dass die Teiche von Quellen im höhergelegenen Gelände gespeist wurden, stellten Andreas Schachner und Hartmut Wittenberg in den 2010er Jahren in einer Untersuchung fest, dass das einerseits technische Probleme bedeutet hätte und wohl auch nicht ausreichend gewesen wäre. Sie gehen stattdessen von einer Füllung durch Einsickerung aus Grundwasserhorizonten aus, die von den hethitischen Ingenieuren angeschnitten wurden. Von den Südteichen sind heute deren mit Steinen ausgelegte Ränder im Gelände zu sehen. Yerkapı Vom Löwentor nach Westen verläuft die Straße parallel zu einem hohen, künstlich aufgeschütteten Wall, auf dessen Krone sich die Stadtmauer entlangzieht. Der türkische Name des Walls Yerkapı (deutsch etwa Tor im Boden) leitet sich von der Poterne ab, die unter dem höchsten Punkt des Walls, unterhalb des Sphinxtores, durch den Wall nach außen führt. Es ist die einzige noch begehbare Poterne von Ḫattuša. Der Tunnel ist 71 Meter lang und hat nach außen ein deutliches Gefälle. Er ist in Kragsteintechnik errichtet und etwas über drei Meter hoch. Der Boden war mit weißem Estrich belegt, der das wenige einfallende Licht reflektierte. Auf der Innenseite, unterhalb des Sphinxtores, ist der Eingang in den Steilhang integriert, der Ausgang ist als massives Bauwerk in die dortige Rampe eingebaut. Beide Seiten waren einst mit zweiflügligen Türen verschließbar. Über die Funktion des Durchgangs lässt sich nichts aussagen, sicherlich stellte er keine Ausfallpforte dar, die nicht so deutlich sichtbar angelegt worden wäre. Von außen ist der Wall etwa 30 Meter hoch und war auf einer Breite von 250 Metern mit Steinpflaster bedeckt. In Abständen von 21 Metern waren senkrechte Rillen zur Abführung von Regenwasser in das Pflaster eingearbeitet. Von den Steinen fehlen heute große Flächen, sie wurden in der späten Phase der Stadt für die zweite, vorgelagerte Stadtmauer auf der Wallkrone verbaut. An den beiden Enden im Westen und Osten führen Treppen auf die Wallhöhe, weshalb der Wall von weitem den Anschein einer abgeschnittenen Pyramide vermittelt. Eine militärische Funktion kann für den mächtigen Wall ausgeschlossen werden. Dagegen sprechen der gut sichtbare Ausgang der Poterne und die Treppen auf beiden Seiten der Rampe. Auch wäre die Steigung von 35 Grad für einen geübten Krieger ein leicht zu überwindendes Hindernis gewesen. Peter Neve und auch seine Nachfolger als Ausgräber Seeher und Schachner halten den Wall für eine mögliche Bühne für zeremonielle und kultische Aufführungen. Dazu kommt die eindrucksvolle Wirkung des monumentalen Bauwerks auf von Süden anreisende Delegationen. Von Norden war die Anlage als Krönung der Stadt bereits aus 20 Kilometern Entfernung zu erkennen, was in hethitischen Zeiten mehr als einer Tagesreise entsprach. Im August 2022 entdeckte Bülent Genç, Associate Professor an der Mardin-Artuklu-Universität und Mitglied des Grabungsteams, in der Poterne zahlreiche Hieroglyphen, die mit rotbrauner Farbe auf die Steine gemalt sind. Bei einer ausführlichen Nachuntersuchung konnten 249 Zeichen identifiziert werden. Es handelt sich nicht um Inschriften, sondern um einzelne Graffiti, die wahrscheinlich zu einem großen Teil Personen- oder Götternamen darstellen. Nach Untersuchungen der beteiligten Philologen M. Alparslan und M. Marazzi konnten mindestens acht Gruppen von jeweils gleichen Zeichen festgestellt werden, ein Zeichen konnte allein 38-mal gezählt werden. Mit Farbe gemalte luwische Hieroglyphen sind bisher kaum bekannt, sie haben sich vermutlich nur auf Grund des speziellen gleichmäßigen Klimas im Inneren der Poterne so lange erhalten. Nach Aussagen des Grabungsleiters Andreas Schachner solle nun die internationale Gemeinschaft der Hethitologen ihre Meinungen zu den Hieroglyphen beitragen. Tempelviertel Blickt man vom Sphinxtor nach Norden auf die Stadt, sieht man im Vordergrund ein weites Tal, das im Westen von Sarıkale und Yenicekale und im Osten von der modernen Straße begrenzt ist. In dem Tal sind zahlreiche Gebäudegrundrisse zu erkennen, bei denen es sich ursprünglich ausschließlich um Tempel handelte. Im zentralen Bereich wurden 24 Tempel ergraben, dazu kommen Tempel 30 beim Löwentor, Tempel 7 auf dem Osthang von Sarıkale sowie im Osten zum Königstor hin die drei etwas abseits liegenden Tempel 3, 2 und 5. Ihre Größen sind sehr unterschiedlich und schwanken zwischen 400 und 1500 Quadratmetern, aber ihr Aufbau ähnelt einander. Man betritt bei allen durch ein Tor mit Nebenräumen einen offenen Hof, auf dessen (meist gegenüberliegender) Seite eine Portikus in das Adyton, das Allerheiligste, führt. Dort stand auf einem Sockel ein Standbild der jeweils verehrten Gottheit. Einige der Tempel (4, 6, 26 und 5) sind von einem Temenos umgeben, der durch eine Mauer begrenzt war. Der größte Tempel ist Tempel 5, der etwas abseits östlich des eigentlichen Viertels in unmittelbarer Nähe zum Königstor liegt. Er ist nur wenig kleiner als der Große Tempel in der Unterstadt und hat ebenso wie dieser sowohl zwei Allerheiligste als auch im zentralen Innenhof in einer Ecke einen kleinen altarähnlichen Bau. Die große Anzahl der Tempel zeugt von den zahlreichen Göttern des hethitischen Pantheons. In hethitischen Texten ist von den tausend Göttern des Hatti-Landes die Rede. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Hethiter aus allen neu eroberten Ländern oder Städten die dortigen Gottheiten einschließlich deren Abbilder mitbrachten und in ihre Religion integrierten. Es wird angenommen, dass in der Oberstadt noch weitere Tempel existierten. Die spärlichen Funde in den Tempelräumen lassen keinerlei Schlüsse zu, welchen Göttern sie geweiht waren. In einem der Nebengebäude von Tempel 5 kam eine Stele mit einem Relief des Tudḫaliya in Kriegerkleidung ans Licht, allerdings ohne Hinweis, welcher der Großkönige dieses Namens gemeint sein könnte. Die Forschung der letzten Jahrzehnte konnte feststellen, dass entgegen der früheren Forschungsmeinung zumindest ein Teil der Tempel bereits im 16. Jahrhundert v. Chr. gebaut wurde. Dabei stützt sich Andreas Müller-Karpe auf Vergleiche mit Tempeln in Kuşaklı, die mittels Dendrochronologie datiert werden konnten. Am Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. zogen sich vermutlich wegen äußerer Bedrohungen Einwohner, die bisher außerhalb der Stadt gewohnt hatten, hinter die Mauern zurück. Dabei wurden große Teile des Tempelviertels von Wohnhäusern und vor allem Werkstätten überbaut. Im südlichen Teil des Viertels sind unregelmäßige Grundrisse dieser Bauten zu erkennen. Schachner hält es für möglich, dass diese Veränderungen bereits auf die Verlegung der Hauptstadt unter Muwatalli II. am Anfang des 13. Jahrhunderts v. Chr., nach dessen eigener Aussage mit den Göttern, zurückgehen. Ähnliche Mauerreste im nördlichen Bereich sind Relikte aus noch späterer, byzantinischer Zeit, darunter auch eine Kirche im Bereich von Tempel 16. Südburg und Ostteiche Beim Königstor verlässt die Straße den Verlauf der Stadtmauer und biegt wieder hangabwärts nach Nordwesten ab. Nach etwa 300 Metern sind östlich der Straße die Ränder der früheren Ostteiche zu erkennen. Von den Teichen konnten große Teile der Stadt mit Wasser versorgt werden. Der westliche hat Maße von 60 × 90 Metern, der östliche dürfte etwa gleich groß gewesen sein. Der Boden war mit einer wasserundurchlässigen Tonschicht abgedichtet, die gepflasterten seitlichen Böschungen wurden durch dahinterliegende Gräben mit einer gleichartigen Schicht gesichert. Die Ostteiche wurden ebenso wie die Südteiche durch einsickerndes Grundwasser gefüllt (siehe dort). Zusätzlich zur Wasserversorgung hatten die Teiche eine kultische Funktion. An den beiden nordwestlichen Ecken des Westteichs waren Steinkammern mit einem parabelförmigen Gewölbe gebaut. Kammer 1 liegt direkt an der Straße, etwa drei Meter hoch und vier Meter tief. Die Kammern waren in einen Erddamm integriert, der das Nordwestende des Teiches markierte. An dessen anderem Ende konnte die zweite Kammer ergraben werden. Sie ist an der Rückwand mit einem Relief des Sonnengottes geschmückt. An der linken Wand ist ein Stein mit einem Relief von Šuppiluliuma eingebaut. Vermutlich handelt es sich um Šuppiluliuma II., den letzten bekannten Herrscher des Hethiterreiches. Dass er der Errichter der Kammer ist, geht aus einer Inschrift in luwischen Hieroglyphen hervor, die die gesamte rechte Wand der Kammer einnimmt. In dem Text berichtet der Großkönig über Feldzüge und Stadtgründungen im westlichen Anatolien. Weiter rühmt er sich, hier einen göttlichen Erde-Weg (divine earth road in der Übersetzung von John David Hawkins) geschaffen zu haben, in Hieroglyphen DEUS.VIA+TERRA, was dem keilschriftlichen DINGIRKASKAL.KUR entspricht. In Verbindung mit einem Tempel (31) auf dem Plateau nördlich der Kammern werden die Kammern und die Teiche als ein Kultbezirk angesprochen. Die Errichtung fällt wahrscheinlich ins späte 13. Jahrhundert v. Chr. Das genannte Plateau nutzten die Bewohner der Stadt in der Eisenzeit, im 7. Jahrhundert v. Chr. zum Bau einer befestigten Siedlung. Diese wird in der Literatur als Südburg angesprochen. Die Siedlung war von massiven Mauern umgeben und nur durch ein Tor mit zwei Türmen im Westen der Anlage zu betreten. In der Siedlung gab es Wohngebäude, Werkstätten und Lagerräume. Zur gleichen Zeit bestanden Siedlungen auch in Teilen der Unterstadt und auf dem nahegelegenen Büyükkale. In der Nordhälfte des Plateaus liegen die Reste des hethitischen Tempels 31. Nişantepe Ein weiterer markanter Felsen ist der Nişantepe auf der gegenüberliegenden, westlichen Straßenseite. Der Hügel hat seinen Namen (deutsch Zeichenhügel) nach einer großen Hieroglypheninschrift an seiner Nordostseite, die Nişantaş (Zeichenstein) genannt wird. Auf einer geglätteten schrägen Felsfläche von 9 Meter Länge und 2,40 Metern Höhe ist eine elfzeilige Inschrift in Bustrophedon-Weise eingemeißelt. Die in Hochrelief gearbeiteten Zeichen sind witterungsbedingt nur noch sehr schlecht lesbar. Die oberste Zeile, die durch einen Felsvorsprung etwas geschützter war, nennt Šuppiluliuma mit seiner Titulatur als Großkönig und seine Abstammung als Sohn von Tudḫaliya IV. und Enkel des Ḫattušili III. Da danach nochmals der Name des Vaters folgt, wird angenommen, dass der Großkönig hier von den Taten Tudḫaliyas berichtet. Vielleicht beschreibt Šuppiluliuma auch die Errichtung einer Gedenkstätte für seinen Vater, nämlich der Kammer B im Felsheiligtum von Yazılıkaya. Auf dem Gipfel des Felsens von Nişantepe sind schwache Spuren eines Gebäudes zu erkennen, möglicherweise eines Felsgipfelhauses. Es war über eine Rampe zu betreten, an deren oberem Ende sich ein Tor mit parabolischer Kuppel befand, das an beiden Seiten von Sphinxfiguren, ähnlich denen am Sphinxtor, bewacht wurde. Im herabgefallenen Schutt am Fuße des Hügels wurden Reste dieser Figuren gefunden, die heute im örtlichen Museum ausgestellt sind. Im flachen Gelände nördlich vor dem Felsrücken ist ein restaurierter Grundriss zu erkennen, der sogenannte Nordbau. In einem weiteren, westlich davon liegenden Gebäude, Westbau genannt, wurden mehrere Tausend Bullae und einige Tontafeln gefunden. Daher sieht Schachner in dem Bau ein Verwaltungsgebäude. Über den Zweck der anderen Gebäude kann nur spekuliert werden. Büyükkale Gegenüber, auf der nordöstlichen Seite der Straße, liegt der Hügel Büyükkale, der über lange Zeit eines der Zentren der Ansiedlung in Boğazköy war. Er ist südwest-nordöstlich ausgerichtet, seine Oberfläche hat eine Größe von etwa 260 × 150 Metern. Die höchste Erhebung ist eine Felsbarriere im Nordosten mit einer Höhe von 1128 Metern über Meereshöhe. Die Erhebung war mindestens seit der ausgehenden frühen Bronzezeit besiedelt, nachweisbar ist für Vorratsgruben im Süden eine Entstehung vor 2000 v. Chr. Die Siedlung war bereits um 1900 v. Chr. befestigt. Als Ḫantili I. an der Wende von 17. zum 16. Jahrhundert v. Chr. die erste Mauer um die Stadt errichtete, war die Befestigung von Büyükkale darin integriert. Nach mehreren Zerstörungen errichteten Ḫattušili III. und sein Sohn Tudḫaliya IV. eine befestigte monumentale Palastanlage. Sie wurde im Südwesten, wo heute eine moderne Treppe auf das Plateau führt, über ein Viadukt betreten, das auch von Wagen befahren werden konnte. Die Anlage bestand aus drei Höfen, die durch Mauern mit löwengeschmückten Toren getrennt waren. Außerdem gab es Verwaltungsgebäude, Aufenthaltsräume der Mannschaften, Archive, eine Empfangshalle, wahrscheinlich auch religiöse Gebäude und den Wohnpalast des Großkönigs. In mehreren Gebäuden wurden über 4000 Keilschrifttafeln gefunden, auch Stelen, Fragmente von Torlöwen und andere Kunstwerke kamen ans Licht. Auch in nachhethitischer Zeit war Büyükkale vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. und in der römischen Zeit besiedelt, teilweise auch befestigt, von phrygischer bis in hellenistisch-römische Zeit. Aus späterer, byzantinischer, seldschukischer und osmanischer Zeit, kamen lediglich Einzelfunde zutage. Ambarlıkaya, Büyükkaya und Mihraplıkaya, Nordterrasse Vor Büyükkale wendet sich die Fahrstraße den Nordwesthang hinab und folgt der Poternenmauer. Etwa auf halber Strecke bis Kesikkaya lag rechts, auf der Nordseite der Mauer, ein großer unterirdischer Getreidespeicher aus 32 einzelnen, rechteckigen Behältern. Er wurde von Jürgen Seeher teilweise ausgegraben und nach der Dokumentation zum Schutz vor Witterungseinflüssen wieder verfüllt und ist somit nicht mehr sichtbar. Vor Kesikkaya vereinigt sich die Straße wieder mit der Zufahrt vom Eingang und erreicht bald wieder den Großen Tempel. Gegenüber davon sieht man im Nordosten der Stadt die beiden großen Erhebungen Ambarlıkaya und Büyükkaya. Auf dem Gipfel von Ambarlıkaya sind deutliche Spuren von Felsabarbeitungen erkennbar, die auf ein monumentales Gebäude schließen lassen. Bauliche Spuren davon sind nicht erhalten. Ambarlıkaya liegt vor dem nördlichen Steilhang von Büyükkale und ist von dem weiter nördlich gelegenen Büyükkaya durch eine tiefe Schlucht getrennt, durch die der Büyükkaya Deresi fließt. Die Stadtmauer lief von Büyükkale herab am Hang von Ambarlıkaya und weiter durch die Schlucht, wo sie am Bachlauf aussetzte. Dieser war möglicherweise durch ein stabiles Gitter abgesichert. Der extrem steile Südhang von Büyükkaya war unbebaut, erst auf der Höhe des Plateaus setzt die Mauer wieder ein und verlief dort weiter nach Norden, wo sie schließlich den Nordteil der Stadt umschloss. Später wurde eine weitere Mauer an die erste angeschlossen, die im Norden der Erhebung abzweigte, nach Westen verlief und wieder auf die westliche Abschnittsmauer der Unterstadt traf. Damit wurde der Bergrücken zur eigenen Festung. Die restaurierten Mauern sind mitsamt den Poternen auf der Ostseite von Büyükkaya gut zu erkennen. Der etwa von süd-nördlich gestreckte Hügel von Büyükkaya hat eine Länge von etwa 500 Metern, die steile Felswand im Westen erhebt sich 100 Meter über dem Bachlauf. Büyükkaya war der Teil von Boǧazköy, der als erster besiedelt war. Eine Ansiedlung mindestens ab dem 5. Jahrtausend v. Chr. ist durch naturwissenschaftliche Datierungen nachgewiesen. Es fanden sich Reste einer Bebauung aus der frühen Bronzezeit im ausgehenden 3. Jahrtausend v. Chr. Neben Wohnbauten belegen Öfen, Gussformen und verschiedene Geräte die Metallbearbeitung. Auch aus der Karumzeit am Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. wurden Spuren von Wohnhäusern gefunden. In hethitischer Zeit stand hier zunächst ein monumentales Gebäude, von dem allerdings nur Fundamente erhalten sind. Im 14. Jahrhundert v. Chr. wurde auf dem Gipfel ein großes Getreidelager eingerichtet. Ergraben wurden bisher elf rechteckige Gruben, von denen die größte 12 × 18 Meter groß und über zwei Meter tief ist. Allein darin konnten mindestens 260 Tonnen Getreide gelagert werden. Nach dem Ende des hethitischen Reiches bestand auf Büyükkaya weiter eine Siedlung. Es können verbliebene Hethiter gewesen sein, ebenso möglich sind aus dem Norden eingewanderte Bevölkerungselemente, die von der aufgegebenen Stadt Besitz ergriffen. Die Bewohner lebten in Grubenhäusern und fielen auf steinzeitliches, schriftloses Niveau zurück. Mit der mittleren Eisenzeit ab dem späten 8. Jahrhundert v. Chr., als Teile des Stadtgebiets wieder besiedelt wurden, verlieren sich die Spuren auf Büyükkaya. Einzig aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. sind nochmal einzelne Gräber und Streufunde nachzuweisen. Wo das Gelände um den Bachlauf nordwestlich von Ambarlıkaya und Büyükkaya langsam in die Ebene übergeht, durchbricht ein weiterer, kleinerer Felsen den Boden. Er hat den Namen Mihraplıkaya (etwa Fels mit Gebetsnische) wegen einer halbrunden Nische, die in seine Nordseite eingemeißelt ist. Sie wurde zunächst als Apsis einer byzantinischen Kirche angesehen, die etwa im 10. bis 11. Jahrhundert bestand und in Verbindung mit der gleichzeitigen Ansiedlung im Bereich von Sarıkale und dem Tempelviertel gesehen wird. Das Gebiet westlich von Mihraplıkaya ist seit 2014 ein Objekt der Ausgrabungen in Boǧazköy. Dabei kamen bisher ein monumentales Gebäude aus der römischen Kaiserzeit zutage, das eine vorherige römische Befestigungsanlage überbaute. Dieses herrschaftlich ausgestattete Gebäude wird im Osten, bei Mihraplıkaya, durch ein etwa 45 × 20 Meter großes Wasserbecken und ein Festgebäude mit Wandmalereien ergänzt, das auf die Nische im Felsen ausgerichtet war. Die Interpretation der Nische als Kirchenapsis gilt somit nicht mehr als wahrscheinlich. Auch der Verlauf der Abschnittsmauern in dem Bereich konnte neu bestimmt werden. Im Bereich nördlich der modernen Straße im Eingangsbereich, gegenüber der Rekonstruktion der Stadtmauer, wurde in den 2010er-Jahren ein monumentales hethitisches Gebäude ergraben. Darin wurden bemerkenswerte, bisher einzigartige, faustförmige Trinkgefäße gefunden. Im gleichen Umkreis kam ein Gebäude aus dem späten 3. Jahrtausend v. Chr. zu Tage, das kein Wohnbau war, sondern bereits einen offiziellen Charakter besaß. Das deutet darauf hin, dass der Ort schon kurz nach der Gründung urbanen Charakter hatte. Das Gebäude wurde in der folgenden Zeit der assyrischen Handelskolonien (Karumzeit) im beginnenden 2. Jahrtausend v. Chr. durch ein neues Bauwerk überbaut. In diesem fanden die Ausgräber über 160 standardisierte Vorratsgefäße (Pithoi) sowie Bronzebarren und Keilschrifttafeln in altassyrischer Sprache und Schrift. Einer der Texte stammt von einem König W/Pijušti von Ḫattuš und ist an König Hirmili in der südanatolischen Stadt Harsanam gerichtet. Etwa 150 Meter nördlich davon, in einem Winkel der nach Yazılıkaya führenden modernen Straße, sind die Reste eines römischen Militärlagers aus der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu Tage gekommen. Yazılıkaya Etwa 1,5 Kilometer östlich der Stadt liegt das Felsheiligtum von Yazılıkaya. In zwei Felsenkammern sind über 80 Reliefs in die Wände eingemeißelt. Dazu gehören zwei Prozessionen von Mitgliedern des hethitischen Pantheons und mehrere Darstellungen des Königs Tudḫaliya IV. In der kleineren Kammer B war dieser möglicherweise bestattet. Vor den Kammern sind die Grundmauern eines Bauwerks ausgegraben worden, die das Heiligtum zum abgeschlossenen heiligen Bezirk machten. Wahrscheinlich wurde der Ort schon in althethitischer Zeit als Kultort, zumindest als Begräbnisort, genutzt. Die Ausschmückung mit den Reliefs wurde erst im 13. Jahrhundert v. Chr. unter Tudḫaliya IV. und seinem Sohn Šuppiluliuma II. vorgenommen. Nach der Einschätzung Jürgen Seehers stellt Yazılıkaya ein „Neujahrsfesthaus [dar], das Haus des Wettergottes, in dem sich alljährlich zum Neujahrs- und Frühlingsfest alle Götter vereinigen“. Zu dieser Gelegenheit fand wohl vom Großen Tempel eine Prozession zu dem Heiligtum statt, wo auch der Großkönig im Amt bestätigt wurde. Funde Den meistbeachteten Anteil der Funde aus dem Stadtgebiet von Ḫattuša stellen zweifellos die mehr als 30.000 Fragmente beschrifteter Tontafeln in hethitischer, assyrischer und mehreren anderen Sprachen dar. Sie wurden 2001 in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen. Der bekannteste Text darunter ist die akkadische Fassung des Ägyptisch-Hethitischen Friedensvertrags, der 1259 v. Chr. zwischen Ḫattušili III. und dem ägyptischen Pharao Ramses II. abgeschlossen wurde. Er wird allgemein, trotz einiger gegenteiliger Meinungen, als der älteste bekannte, schriftlich fixierte paritätische Friedensvertrag der Geschichte angesehen. Eine Kopie des Vertragstextes ist dank einer Stiftung der Türkei seit 1972 im UN-Gebäude in New York ausgestellt. Außerdem bedeutend für die Forschung sind unter anderem der auf einer Bronzetafel überlieferte Text eines Vertrages zwischen Tudḫaliya IV. und Kurunta, der dessen Stellung und die Herrschaft über die Region Tarḫuntašša regelt, sowie der Mešedi-Text (auch MESCHEDI), eine Dienstvorschrift für Bedienstete des Palastes. Letzterer regelte die Aufgaben der königlichen Garde und liefert wichtige Aufschlüsse über Aufbau und Organisation von hethitischen Herrscherresidenzen und Städten im Allgemeinen. Der überwiegende Teil der Keilschrifttafeln ist im Archäologischen Museum Istanbul und im Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara sowie im lokalen Museum in Boğazkale aufbewahrt beziehungsweise ausgestellt. Weitere Funde neben Architekturfragmenten sind Stelen, Haushaltswaren und andere Keramik sowie kleinere Kunstgegenstände wie Statuetten und Kultgefäße. Größere Kunstwerke, wie beispielsweise Herrscherstatuen oder Götterbilder wurden nicht gefunden, sie wurden wahrscheinlich beim Verlassen der Stadt nach dem Untergang des Reichs mitgenommen. Die Funde sind in den genannten Museen sowie im Archäologischen Museum im nahgelegenen Çorum und im Museum von Boğazkale zu sehen. Die 1882 erstellten Kopien der Reliefs von Yazılıkaya befinden sich im Vorderasiatischen Museum Berlin. Literatur Bogazköy-Hattusa. Ergebnisse der Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts und der Deutschen Orient-Gesellschaft. 21 Bände. Gebr. Mann, Berlin 1952 ff., Zabern, Mainz 1996 ff., . Kurt Bittel: Hattuscha – Hauptstadt der Hethiter. Geschichte und Kultur einer altorientalischen Großmacht. DuMont, Köln 1983, ISBN 3-7701-1456-6 (3. Auflage ebenda 1991). Peter Neve: Hattusa – Stadt der Götter und Tempel. Neue Ausgrabungen in der Hauptstadt der Hethiter. 2. Auflage. Zabern, Mainz 1996, ISBN 3-8053-1478-7. Walter Dörfler und andere: Untersuchungen zur Kulturgeschichte und Agrarökonomie im Einzugsbereich hethitischer Städte. In: MDOG. Berlin 132.2000, , S. 367–381. Die Hethiter und ihr Reich – das Volk der 1000 Götter. Ausstellungskatalog. Die Hethiter. Das Volk der 1000 Götter vom 18. Januar bis 28. April 2002 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Theiss, Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1676-2. Silvia Alaura: “Nach Boghasköi!” Zur Vorgeschichte der Ausgrabungen in Boğazköy-Hattusa und zu den archäologischen Forschungen bis zum Ersten Weltkrieg (= 13. Sendschrift der Deutschen Orient-Gesellschaft). Harrassowitz, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-00-019295-1. Jürgen Seeher: Die Lehmziegel-Stadtmauer von Hattusa. Bericht über eine Rekonstruktion. Ege Yayınları, Istanbul 2007, ISBN 978-975-8071-94-4. Hattusa. 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https://de.wikipedia.org/wiki/C%C3%B3rdoba%20%28Argentinien%29
Córdoba (Argentinien)
Córdoba ist mit 1,5 Millionen Einwohnern nach Buenos Aires die zweitgrößte Stadt Argentiniens. Sie liegt etwas nördlich des geografischen Zentrums des Landes, ist Hauptstadt der Provinz Córdoba, größte Stadt der Región Centro sowie industrielles und kulturelles Zentrum Zentralargentiniens mit einer der bedeutendsten Universitäten des Landes, der 1613 gegründeten Universidad Nacional de Córdoba. Wegen vieler Bauten aus der Kolonialzeit wird sie auch von zahlreichen Touristen besucht. Die Stadt befindet sich im Übergangsgebiet zwischen den Gebirgszügen der Sierras de Córdoba im Westen und einer geografisch zwischen Pampa und Chaco aufgeteilten Ebene im Osten, die eines der produktivsten Landwirtschaftsgebiete Argentiniens ist. Sie nimmt für einen weiten Teil des Umlandes sowie in Teilen auch für Nordwestargentinien die Funktion des wichtigsten Verkehrs- und Dienstleistungszentrums ein. Der vollständige Name lautet Córdoba de la Nueva Andalucía (Córdoba von Neu-Andalusien) und wurde von der andalusischen Stadt Córdoba abgeleitet. Córdoba wird im Volksmund wegen der Universitäten und anderen Lehrinstitute auch als La Docta („die Gelehrte“) bezeichnet, ebenfalls als ciudad de las campanas („Stadt der Glocken“) wegen der vielen Kirchen. In der Gegenwart wird sie von den Bewohnern der Provinz und besonders der Vororte oft nur Capital (Hauptstadt) genannt. Geographie Córdoba liegt im Tal des in Ost-West-Richtung verlaufenden Río Suquía (alternativ Río Primero), der im Stadtgebiet zahlreiche Kehren schlägt und das Zentrum am Südufer vom sogenannten Oberen Córdoba (Alta Córdoba) im Norden abgrenzt. Westlich des Zentrums mündet der einzige andere Wasserlauf von Bedeutung, der heute weitgehend kanalisierte Bach Arroyo de La Cañada, in den Suquía. Die Umgebung von Córdoba gehört zum Schnittraum zweier Großlandschaften: den Sierras de Córdoba als östlichste Bergkette der Sierras Pampeanas im Westen sowie der Ebenen des Espinal im Osten, einem Übergangsgebiet zwischen Pampa und Gran Chaco. Das Stadtgebiet selbst ist wellig. Der tiefste Punkt liegt mit 352 m über dem Meeresspiegel am Schnittpunkt des Río Suquía mit der Ostgrenze der Stadt, der höchste Punkt mit 544 m im extremen Südwesten des Stadtgebiets. Das Zentrum und die Stadtviertel nahe dem Río Suquía liegen in einem bis zu vier Kilometer breiten Talkessel wenige Meter über der Flusshöhe, die weiter entfernten Gebiete liegen auf einer leicht welligen Ebene 50 bis 150 Meter über diesem Niveau. Abgesehen von einigen niedrigen Hügeln im Nordwesten wie dem Cerro de las Rosas gibt es keine nennenswerten Erhebungen; was sich jedoch schon wenige Kilometer weiter westlich, in den Gebieten der Vororte Villa Allende, Mendiolaza, Unquillo, La Calera und Saldán ändert, wo die ersten Ausläufer der Sierras de Córdoba zu finden sind. Höchste Erhebung des Großraums Córdoba ist der Cerro Pan de Azúcar (Zuckerhut) (1.290 m) westlich von Unquillo. Natur und Umwelt Die ursprüngliche Vegetation in der Umgebung von Córdoba war Trockenwald, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte Provinz Córdoba mit Ausnahme des extremen Südostens bedeckte. Mit der landwirtschaftlichen Erschließung des Gebiets wurde diese Vegetation stark zurückgedrängt, sie ist heute nur noch in den Sierras de Córdoba sowie im Nordwesten der Provinz vorherrschend. Man spricht in diesem Kontext oft vom Vordringen der feuchten Pampa, da heute die Umgebung von Córdoba landschaftlich kaum noch von der Region der feuchten Pampa (z. B. Provinzen Buenos Aires und Santa Fe) zu unterscheiden ist. Ausnahme sind einige Gebiete im Nordwesten des Stadtgebietes, in dem noch Trockenwald zu finden ist; dieser steht seit 2009 als Reserva San Martín unter Naturschutz. Von den 562 km² des Stadtgebietes sind heute etwa 300 bebaut, 180 sind für landwirtschaftliche Aktivitäten reserviert. Der Rest verteilt sich auf ungenutzte Flächen und Parkanlagen. Wie jede Großstadt hat auch Córdoba mit Umweltproblemen zu kämpfen. Im Zentrum und einigen Stadtvierteln ist die Luftverschmutzung hoch, auch wenn es wegen des relativ windigen Klimas kaum nennenswerten Smog gibt. Dennoch sorgt der Straßenverkehr trotz Modernisierung des Fuhrparks für hohe Schadstoffraten an den Hauptverkehrsachsen, und in einigen Stadtvierteln gibt es besonders viele Krebsfälle, vermutlich durch die Nähe zu Feldern, auf denen Insektizide ausgebracht werden, sowie bis 2002 durch die Verwendung krebserregender Stoffe in Transformatoren des Stromnetzes. Auch die Wasserverschmutzung, vor allem des Río Suquía, stellt trotz mehrerer Kläranlagen immer noch ein großes Problem dar und mindert die Qualität des Trinkwassers in den unterhalb von Córdoba gelegenen Ortschaften. Ein wachsendes Problem ist die Zersiedelung des Stadtraums vor allem an der nordwestlichen Peripherie sowie im Valle de Punilla westlich von Córdoba, wo weite Räume mit Wochenendhauskolonien, neuen Stadtvierteln und Country Clubs (geschlossene Wohnanlagen) zugebaut worden sind und der Bestand mehrerer Tierarten, wie etwa des noch vor kurzem weit verbreiteten Puma, in den letzten Jahrzehnten stark verringert wurde. Ein 15.000 Hektar großes Gebiet zwischen Córdoba, La Calera und Villa Carlos Paz, das vormals den Streitkräften gehörte und dessen Zukunft lange unklar war, wurde Anfang 2010 unter Naturschutz gestellt, um zu verhindern, dass die Stadt sich in diese wichtige Pufferzone ausdehnt. Ein ebenfalls mit dem Wachstum der Stadt verbundenes Problem ist die Flächenversiegelung durch die immer höhere Gebäudedichte und Ausdehnung des bebauten Gebietes, die den Wasserkreislauf in der Stadt behindert. Daher kommt es bei stärkeren Niederschlägen, insbesondere bei den im Sommer häufigen Gewittern, fast immer zu Überschwemmungen in zahlreichen Stadtvierteln. Diese negativen Auswirkungen werden durch den Ausbau der Kanalisationssysteme schrittweise gelindert. Nachbargemeinden und -departamentos Die Stadtgemeinde, der Municipio de Córdoba, umfasst das gesamte Departamento Capital („Hauptstadt-Departamento“, vergleichbar mit einem Stadtkreis), das die Form eines Quadrats mit 22 km Seitenlänge hat. Dieses Gebiet grenzt im Nordwesten, Norden und Nordosten an das Departamento Colón, in dem sich die größten Vororte der Stadt befinden, und im Südosten, Süden und Westen an Santa María. Im Uhrzeigersinn grenzt die Stadt im dichtbesiedelten Norden an folgende Gemeinden (municipios und comunas) des Departamento Colón: im Nordwesten an La Calera, den ältesten und heute größten direkt angrenzenden Vorort, Dumesnil, Saldán, Villa Allende und Mendiolaza, allesamt wohlhabende Schlafstädte, im Norden an die Gemeinde Estación Juárez Celman mit der teilweise von informellen Siedlungen geprägten Ortschaft Villa Los Llanos – Güiñazú Norte sowie das ländlich geprägte Colonia Tirolesa und im Nordosten an den schnell wachsenden Arbeitervorort Malvinas Argentinas an der Ruta Nacional 19, der Verbindung nach Santa Fe. Mit den Gemeinden Saldán, Villa Allende und Estación Juárez Celman gibt es Differenzen über den genauen Grenzverlauf. Im deutlich weniger dicht besiedelten Süden grenzen folgende Gemeinden des Departamento Santa María an Córdoba (im Uhrzeigersinn): die schnell wachsende Schlafstadt Toledo im Südosten an der Ruta Nacional 9, die kleinen Orte Lozada, Bouwer (Sitz des wichtigsten Gefängnisses) und Los Cedros im Süden sowie das von geschlossenen Wohnanlagen geprägte Malagueño an der Autobahn Córdoba – Villa Carlos Paz, das wegen der strategisch günstigen Lage ein schnelles Wachstum aufweist. Klima Das Klima in der Stadt ist warmgemäßigt mit einer Durchschnittstemperatur von 17,6 °C im Jahr; die durchschnittlichen Tagesextreme liegen bei 24,5/10,6 °C und die Niederschlagsrate bei 678 Millimeter im Jahr. Es gibt eine ausgeprägte Regenzeit im Sommer (November bis März) mit einem Maximum der Niederschläge im Dezember. Der Winter ist dagegen so trocken, dass im Spätwinter in einigen Vororten der Stadt häufig Wasserknappheit herrscht. Von der Art der Niederschläge überwiegen im Sommerhalbjahr Gewitterregen, während im Winterhalbjahr leichte Nieselregen dominieren und die Gewitteraktivität deutlich zurückgeht. Charakteristisch sind das ganze Jahr über starke Temperaturschwankungen. Diese rühren zum einen aus der von Gebirgen relativ ungeschützten Lage der zentralargentinischen Region her, was dazu führt, dass sich sowohl tropische als auch polare Luftmassen je nach Wetterlage schnell großräumig ausbreiten können; dies geschieht in Form von Windsystemen wie dem Pampero (trockener Südwestwind), Sudestada (feuchter Südostwind) und Norte (feuchter Nordostwind). Zweitens ist der maritime Einfluss durch die relativ große Entfernung vom Atlantischen Ozean begrenzt, was weit höhere und niedrigere Extremtemperaturen als etwa in der Region um Buenos Aires zulässt; so liegt das absolute Maximum von Córdoba mit 45,6 °C deutlich über dem von Buenos Aires (37,8 °C) und nur wenig unter dem Wert des südamerikanischen Hitzepols (49,1 °C in Villa de María). Zum dritten prägen lokale Winde das Klima. Der bedeutendste ist der Zonda, ein dem Föhn vergleichbarer Fallwind, der von den Anden her vor allem im Spätwinter und Frühling für extrem niedrige Luftfeuchtigkeit und sehr hohe Schocktemperaturen teilweise über 40 °C sorgt, die oft nur wenige Stunden lang anhalten und dann wieder drastisch abfallen. Besonders nachts ist die Temperatur im Talkessel des Zentrums bis zu 5 °C höher als in den höhergelegenen Außenbezirken. Wegen des angenehmeren, kühleren Klimas und der geringeren Luftverschmutzung liegen die reicheren Stadtviertel vornehmlich auf den Hügeln der Nordweststadt. Stadtgliederung CPC-Zonen Die Stadt ist seit 1994 in zehn Zonen eingeteilt, die den sogenannten CPC (Centros de Participación Comunal – Kommunale Beteiligungs-Zentren) unterstehen. An den CPC können die Bürger der Stadt bis auf wenige Ausnahmen alle Formalitäten erfüllen. Die meisten CPC und ihre abhängigen Zonen sind nach den Stadtvierteln benannt, in denen sie stehen, jedoch nicht mit ihnen identisch. Andere CPCs wurden nach der Straße, in der sie sich befinden, oder einer markanten Einrichtung in der Nähe benannt. Das CPC Guiñazú entstand als letztes CPC im Jahr 2006 aus einem 1997 gegründeten Unter-CPC (SubCPC) des CPC Centro América. Die Einwohnerzahl des ihm unterstehenden Bezirks steht mangels Daten der Volkszählung 2010 noch nicht eindeutig fest. Ein SubCPC liegt weiterhin im Stadtviertel José Ignacio Díaz im Südosten der Stadt, um das große CPC Empalme zu entlasten. Stadtviertel Córdoba ist außerdem in 401 Stadtviertel eingeteilt, von denen einige wiederum in verschiedene Sektionen unterteilt sind. Sieht man diese ebenfalls als eigenständige Viertel, so erhöht sich die Zahl auf 456. Die hohe Anzahl erklärt sich damit, dass größere Baugebiete an der Peripherie meist als neue Viertel gelten, deswegen erhöht sich deren Anzahl ständig. Viele dieser Stadtviertel haben nur wenige hundert Einwohner, nicht in dieser Zahl eingeschlossen sind dagegen die etwa 100 informellen Siedlungen (Villas Miserias). Südlich vom Zentrum liegt Nueva Córdoba, das Ende des 19. Jahrhunderts entstand und sich mit der Zeit von einem gutbürgerlichen Mittelklasseviertel zum bevorzugten Wohngebiet der Studierenden an der Universität Córdoba wandelte. Nueva Córdoba ist gemeinsam mit dem westlich anschließenden Barrio Güemes, das mit zahlreichen historischen Gebäuden den Charakter einer Altstadt hat, eines der Zentren des Nachtlebens und der Gastronomie der Stadt. Südlich schließt die Universitätsstadt (Ciudad Universitaria) mit dem Campus der Universidad Nacional de Córdoba an, die etwa fünf Quadratkilometer umfasst und parkähnlich gestaltet ist. Dahinter befinden sich die für argentinische Städte typischen Peripherie-Viertel. Alberdi ist ein traditionelles Stadtviertel westlich des Zentrums, südlich des Río Suquía. Es erlangte besondere Berühmtheit beim Cordobazo-Aufstand 1969, als es gemeinsam mit dem südlich davon gelegenen Viertel Bella Vista das Zentrum der Unruhen und Demonstrationen war. Alberdi ist ein Studenten- und Arbeiterviertel mit einigen nachts recht gefährlichen Bereichen. Alta Córdoba ist mit 34.828 Einwohnern (Stand 2009) eines der bevölkerungsreichsten Viertel. Es wurde 1881 am nördlichen Ufer des Río Suquía von Antonio Rodríguez del Busto und Ramón Marcos Juárez Carcano unter dem Namen Altos de Petaqueras errichtet und wird von zahlreichen Altbauten, Gastronomie und Kulturzentren geprägt. Am 2. November 2014 kam es dort zu einer folgenschweren Explosion in einer Chemiefabrik, bei dem ein Großteil des Stadtbezirks schwer beschädigt wurden. Bei der Detonation wurden durch den Austritt giftiger Gase rund 66 Personen verletzt. Das östlich des Zentrums gelegene Viertel San Vicente ist ebenfalls von Altbauten geprägt und durch seinen traditionsreichen Karneval bekannt, der heute wegen des gestiegenen Publikumsinteresses im Park Parque Sarmiento südwestlich dieses Viertels stattfindet. Nördlich davon liegen mit General Paz und Juniors zwei weitere alte Stadtviertel, General Paz gilt als eines der Zentren der Gastronomie. Der Cerro de las Rosas (span. für Rosenberg) und die angrenzenden Viertel Villa Belgrano und Argüello stammen aus dem 20. Jahrhundert und entwickelten sich zu den Szenevierteln der Oberklasse der Stadt. Cerro de las Rosas, meist nur mit Cerro bezeichnet, liegt auf einem Hügel im Nordwesten der Stadt acht Kilometer vom Zentrum entfernt und hat viele Restaurants und Diskotheken sowie ein eigenes Einkaufszentrum. Die ausgeprägte Identität dieses Viertels wird daran deutlich, dass dort eine eigene Boulevardzeitschrift (Las Rosas) herausgegeben wird. Die Gegend ist von Villen und größeren Einfamilienhäusern mit weitläufigen Grundstücken sowie seit den 2010er Jahren auch Hochhäusern geprägt. Ballungsraum Gran Córdoba Da die Fläche des offiziellen Stadtgebiets mit 562 Quadratkilometern großzügig bemessen ist, begann die Stadt anders als die meisten anderen argentinischen Großstädte erst seit den 1970er-Jahren allmählich, an ihren Ausfallstraßen über die Stadtgrenzen hinauszuwachsen. Seitdem hat sich das Wachstum der Vororte des sogenannten Gran Córdoba, des Ballungsraums um die Stadt, deutlich beschleunigt, während Córdoba selbst nur noch relativ langsam wächst. Dennoch werden die Leerräume im Stadtgebiet schnell von neuer Bebauung bedeckt, insbesondere durch die Umsiedlung von Elendsvierteln in Sozialwohnungsviertel an der Peripherie. Das schnellste Wachstum erlebte ein weitläufiges Gebiet nordwestlich der Stadt, das Sierras Chicas genannt wird und sich bis etwa 50 Kilometer außerhalb der Stadt an der Bergkette Sierra Chica entlang erstreckt. Die meisten Orte dieser Region waren lange touristisch geprägt, haben sich jedoch in Wohnvororte gewandelt. Die größten Städte dieser Region sind La Calera, Villa Allende, Río Ceballos und Unquillo. Ihr Charakter ist geprägt von durchgängiger, aber lockerer Bebauung, Country Clubs, Sportgeländen, Badestränden und nächtlichen Vergnügungsstätten sowie etwas Industrie und Landwirtschaft. Erst seit den 1980er-Jahren wuchs Córdoba auch nach Norden und Osten, wo insbesondere ärmlichere Ansiedlungen entstanden, wie etwa Güiñazú Norte, Juárez Celman, Malvinas Argentinas und Monte Cristo. Diese Orte erlebten in den Krisenjahren 1989–1991 und 1998–2003 ein starkes Bevölkerungswachstum vor allem wegen der niedrigen Grundpreise. Außerdem rechnet man zum Gran Córdoba noch weitere Städte, die zwar nicht durch durchgängige Bebauung, aber durch Pendler und ein engmaschiges Transportnetz mit Córdoba verbunden sind. Die bedeutendsten sind Villa Carlos Paz, Cosquín und das südliche Valle de Punilla, Alta Gracia, Jesús María und Río Segundo. Insgesamt umfasst der Ballungsraum etwa 10.000 Quadratkilometer. 2007 wurde das von der Provinzregierung initiierte Instituto de Planificación del Área Metropolitana (Iplam) gegründet, das sich der Koordinierung der Stadtentwicklung im Ballungsraum Córdoba widmet. Es erstellte einen ersten gemeindeübergreifenden Flächennutzungsplan zunächst für den ersten Ring des Gran Córdoba, um die bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unkontrollierte Expansion von Neubaugebieten zu regulieren. Dieser trat im Jahr 2009 in Kraft. Geschichte Kolonialzeit und Unabhängigkeit Bereits vor dem Eintreffen der Spanier befand sich im Nordwesten der heutigen Stadt am Río Suquía die Siedlung Quisquisacate, die von Comechingones-Indianern bewohnt war. Wie die anderen Siedlungen dieser Volksgruppe bestand auch Quisquisacate aus halb eingegrabenen Häusern, um die herum Landwirtschaft betrieben wurde. Quisquisacate ist heute ein Stadtviertel von Córdoba, Reste der Indianersiedlung sind jedoch nicht erhalten. Die Stadt selbst wurde von Jerónimo Luis de Cabrera am 6. Juli 1573 gegründet und nach der Stadt Córdoba in Spanien Córdoba la Llana de la Nueva Andalucía benannt. Die ursprüngliche Stadt befand sich nördlich des Río Suquía im heutigen Stadtviertel Yapeyú, wo eine Festung erbaut wurde und heute ein Denkmal an dieses historische Datum erinnert. 1577 wurde nach dem Rückzug der Indianer aus Quisquisacate das Stadtzentrum an den heutigen Standpunkt der Plaza San Martín südlich des Río Suquía verlegt. Gleichzeitig wurde das Stadtgebiet festgelegt, das im Wesentlichen genauso groß wie das heutige Departamento Capital – das heutige Stadtgebiet – war. Es war aufgeteilt in den Ejido, die zum Wohnen bestimmte Zone, sowie in militärische und landwirtschaftliche Gebiete. Um 1600 hatte die Stadt etwa 500 Einwohner. Bereits in dieser Anfangszeit wurde eine Reihe religiöser Institutionen gegründet, deren Aufgabe es war, die Einwohner zu missionieren. Von besonderer Bedeutung waren zunächst die Jesuiten, die sich Anfang des 17. Jahrhunderts ansiedelten. Sie gründeten im Jahr 1608 das Kolleg Colegio Máximo und 1613 die erste Universität Argentiniens, die heutige Universidad Nacional de Córdoba, die zugleich die zweitälteste Universität Südamerikas ist. Damit begann der Aufstieg von Córdoba zum Zentrum der Region. 1622 wurde eine Zollstation errichtet, und 1699 wurde die Stadt zum Sitz des Bischofs von Tucumán; Tucumán war damals die Bezeichnung für den gesamten Nordwesten des heutigen Argentinien. 1767 wurden die Jesuiten vertrieben. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war die Stadt die wichtigste Argentiniens, sie prosperierte vor allem wegen der günstigen Bedingungen für die Landwirtschaft in der Umgebung sowie ihrer Lage an der wichtigen Handelsroute zwischen Buenos Aires und der Silberstadt Potosí. Nach der Gründung des Vizekönigreiches des Río de la Plata im Jahr 1776 verlor die Stadt diese Rolle, da nun die Hafenstadt Buenos Aires als Hauptstadt des Vizekönigreiches zunehmend an Bedeutung gewann. Córdoba wurde 1782 zur Hauptstadt des Teilgebietes Intendencia Córdoba del Tucumán, die etwa die heutigen Provinzen Córdoba, La Rioja, Mendoza, San Juan und San Luis umfasste. Der spanische Markgraf Rafael de Sobremonte wurde zwischen 1784 und 1797 Gouverneur und Bürgermeister. In seiner Regierungszeit entstanden zahlreiche bedeutende öffentliche Bauten wie der Cabildo sowie der erste Freizeitpark, der heute noch erhaltene Paseo de Sobremonte; außerdem gründete er im Umland zahlreiche Siedlungen. Nach der Mai-Revolution 1810, dem Start Argentiniens in die Unabhängigkeit, erkannte die Stadt die neue Regierung erst an, nachdem die neue Regierungsjunta Truppen in die Gegend entsandt hatte. Der erste Gouverneur und Bürgermeister der Stadt im autonomen Argentinien war Juan Manuel de Pueyrredón. Es folgte eine Zeit blutiger Auseinandersetzungen zwischen Unitariern und Föderalisten. Der Gouverneur von Córdoba war traditionell föderalistisch. 1831 wurde jedoch nach einer für Córdoba verlorenen Schlacht ein hauptstadttreuer, unitarischer Gouverneur eingesetzt. Für eine detaillierte Beschreibung des Konfliktes siehe Geschichte Argentiniens. Aufstieg und Industrialisierung Nachdem sich die Verhältnisse um 1860 wieder beruhigt hatten, ging es mit der Stadt und ihrem Umland wieder aufwärts. 1857 wurde das heutige politische System, das des municipio (vergleichbar mit einer Gemeinde), eingeführt und 1870 der Stadtrat gegründet. Im selben Jahr wurde Córdoba ans Eisenbahnnetz angeschlossen; dies hatte einen starken Zustrom von Einwanderern und Binnenwanderern zur Folge. In dieser Zeit wurden die sogenannten traditionellen Stadtviertel Alberdi, Alta Córdoba, General Paz und San Vicente gegründet. Der Liberalismus etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts als neues Dogma in der Wirtschaftspolitik und brachte der Stadt eine rasche Modernisierung. Eine Reihe von wissenschaftlichen Institutionen wurde gegründet, zum Beispiel die Sternwarte, die Escuela Normal (Oberschule) und die Wissenschaftsakademie, so dass Córdoba bald zum technologischen und wissenschaftlichen Zentrum des Landes wurde. So wurde 1871 die erste Messe argentinischer Produkte und Kunstwerke veranstaltet. 1886 wurde die Stadt am Reißbrett nach Süden ausgedehnt. Der französische Landschaftsarchitekt Carlos Thays entwarf den Parque Sarmiento, den damals größten Park der Stadt, und unter der Leitung von Miguel Crisol wurde integriert in dieses Projekt das Stadtviertel Nueva Córdoba angelegt, heute das am dichtesten besiedelte Gebiet der Stadt. Nach der Gründung des staatlichen Flugzeugbauunternehmens Fábrica Militar de Aviones 1927 dehnte sich die Stadt vermehrt nach Westen aus. Diese Tendenz verstärkte sich in der Zeit nach 1936, als unter Gouverneur Amadeo Sabattini die Stadt umfassend modernisiert und industrialisiert wurde. 1934 wurde das römisch-katholische Bistum durch Papst Pius XI. zum Erzbistum Córdoba erhoben. In den 1950er-Jahren siedelten sich infolge der Wirtschaftspolitik der damaligen argentinischen Regierung unter Juan Domingo Perón mehrere in- und ausländische Großunternehmen wie das später von Renault übernommene Industrias Kaiser Argentina (IKA) und Fiat an; Córdoba wurde so zum zweitwichtigsten Industriestandort nach Buenos Aires. Am 25. Februar 1957 ereignete sich bei Cordoba ein schwerer Eisenbahnunfall: Wegen überhöhter Geschwindigkeit entgleiste ein mit Touristen voll besetzter Zug in einer Kurve. Sieben Wagen kippten um. Die Angaben zur Zahl der Menschen, die starben, reicht von 15 bis 40. Mehr als 100 wurden darüber hinaus verletzt. 1969 leitete ein heftiger Volksaufstand in der Stadt, der sogenannte Cordobazo das Ende der Regierungszeit des Diktators Juan Carlos Onganía ein. Nach dem Bruch der Tarifverträge durch den regierungstreuen Provinzgouverneur kam es zu Ausschreitungen, an denen mehrere Hunderttausende beteiligt waren. Die Aufständischen übernahmen die Kontrolle über die Stadt, und erst nach drei Tagen konnte die Polizei die Ordnung wiederherstellen. Der Aufstand hatte 14–34 Todesopfer gefordert, 200–400 Verletzte und 2000 Verhaftungen. Nach wenigen Wochen trat Onganía zurück, die Diktatur blieb jedoch zunächst bestehen. 1971 kam es zu einem weiteren Volksaufstand, dem Viborazo, der das endgültige Ende dieser Diktatur einleitete und sie dazu zwang, sich demokratisch gegenüber dem Peronismus zu öffnen. Während des Falklandkriegs hatten von Patrouillenfahrten abgezogene britische Kriegsschiffe taktische Atomwaffen an Bord. Nach Bekanntwerden wurden in den 1990er Jahren Verschwörungstheorien über einen geplanten Angriff auf das argentinische Festland, angeblich mit Ziel Cordoba, laut. Präsident Nestor verlangte deswegen später eine Entschuldigung Großbritanniens. Bei den Atomwaffen hatte es sich allerdings um Torpedos zum Einsatz gegen strategische sowjetische U-Boote gehandelt, die außerdem, um Sperrverträge einzuhalten, auf andere Schiffe umgeladen wurden, die außerhalb der falkländischen Hoheitsgewässer blieben. Wirtschaftskrisen und Erholung Bis in die 1970er-Jahre hinein war das Wachstum der Industrie in der Stadt ungebrochen, dann brach sie nach den neoliberalen Maßnahmen der Militärdiktatur des Nationalen Reorganisationsprozess (1976–1983) allerdings deutlich ein; ein weiterer Einbruch geschah nach der Wirtschaftskrise 1989. Die 1990er-Jahre waren geprägt von einer Modernisierung des Stadtbildes sowie der Privatisierung zahlreicher städtischer Betriebe in der anfänglichen wirtschaftlichen Euphorie der Menem-Regierung. 1994 wurde die Struktur der Stadtgemeinde reformiert und dezentralisiert. Es entstanden die sogenannten CPC (Centros de Participación Comunal), zehn relativ autonome Zweigstellen der Stadtregierung in außerhalb gelegenen Stadtvierteln. Ihr gemeinsames äußerliches Merkmal ist eine äußerst moderne, von kubischen Formen dominierte Architektur. Die Wirtschaftskrise um die Jahrtausendwende hinterließ auch in Córdoba starke Spuren. Am 19. und 20. Dezember 2001 kam es wie auch in Buenos Aires zum Cacerolazo, einer Großdemonstration, die von auf Töpfen schlagenden Hausfrauen der Mittelklasse getragen wurde. Gleichzeitig kam es in einigen Stadtvierteln zu Plünderungen von Supermärkten, die jedoch nicht das Ausmaß der Tumulte in der Landeshauptstadt Buenos Aires erreichten. Als Nachwirkung der Wirtschaftskrise und der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Verschlechterung zahlreicher städtischer Dienstleistungen, insbesondere der Verkehrsinfrastruktur, kann es zur Gründung der Regionalpartei Partido Nuevo unter der Leitung von Luis Juez, die in ihrer Anfangszeit eine reine Protestpartei gegen die Politik der peronistischen Provinz- und Stadtregierung unter Gouverneur José Manuel de la Sota (seit 1998) und dem menemistischen Bürgermeister Germán Kammerath (1999–2003) war. Juez gewann 2003 erdrutschartig mit einer absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang die Bürgermeisterwahl und etablierte damit die neue Partei in der politischen Landschaft der Stadt. Nach dem Ende der Wirtschaftskrise ging es in der Stadt wie auch im übrigen Argentinien wieder wirtschaftlich aufwärts. Am 26. Dezember 2003 verwüstete ein Tornado einen großen Teil des Südwestens des Stadtgebietes. Zahlreiche zerstörte und beschädigte Gebäude wurden mit städtischer Hilfe wieder aufgebaut. Bei den Wahlen 2007 gewann der Kandidat des Partido Nuevo, Daniel Giacomino, den Posten des Bürgermeisters. Seine Amtszeit war von Konflikten mit der Beamtengewerkschaft SUOEM geprägt, die die Infrastruktur der Stadt durch häufige Streiks trotz des Wirtschaftsaufschwungs stark belasteten. In den folgenden Kommunalwahlen 2011 gewann der Kandidat der Unión Cívica Radical, Ramón Javier Mestre, die Bürgermeisterwahl. Im Dezember 2013 kam es nach einem Polizeistreik zu einer mehr als 30 Stunden andauernden Gewalt- und Vandalismuswelle, bei der etwa tausend Geschäfte überfallen und teilweise von größeren Gruppen geplündert wurden. In einigen Stadtvierteln kam es zu Zusammenstößen zwischen Bewohnern, bewaffneten Banden und den wenigen nicht am Streik teilnehmenden Sicherheitskräften, bei denen ein 20-Jähriger von einem Polizisten erschossen und mehr als 100 Verletzte gemeldet wurden. Die Unruhen griffen in der Folge auf andere Provinzen über und dauerten dort teilweise mehrere Tage lang an. Mestre wurde 2015 als Bürgermeister wiedergewählt. 2019 gewann Martín Llaryora von der damals oppositionellen Partido Justicialista die Kommunalwahl. Politik Politisches System Für Córdoba gilt wie für alle anderen Städte der Provinz das Gemeinde- und Stadtrecht der Provinz Córdoba, das das politische System regelt. Oberhaupt der Stadt ist der Bürgermeister, der Intendente. Er wird alle vier Jahre direkt von der Bevölkerung gewählt. Der amtierende Bürgermeister der Stadt ist seit Dezember 2019 Martín Llaryora von der Partei Partido Justicialista. Die Legislative ist der Stadtrat, dessen Zusammensetzung vom Ausgang der Bürgermeisterwahl abhängt. Zusammensetzung des Stadtrates Der Stadtrat (concejo deliberante oder concejo municipal) hat 31 Sitze, die nach dem Ergebnis der Kommunalwahlen, die auch den Bürgermeister bestimmen, auf die antretenden Parteien aufgeteilt ist. Die stärkste Partei erhält auch bei nur relativer Mehrheit mindestens 16 Sitze, der Rest entfällt prozentual auf die übrigen Kräfte. In der aktuellen Wahlperiode (2019–2023) ergibt sich folgende Sitzverteilung: Hacemos por Córdoba (ehemals Unión por Córdoba, PJ-geführte Wahlallianz): 16 Sitze Unión Cívica Radical / Radical Evolución / Vamos Córdoba: 6 Size Córdoba Cambia / Propuesta Republicana: 6 Sitze Fuerza de la Gente (PJ-geführte Allianz, zu HPC dissident): 1 Sitz Encuentro Vecinal Córdoba (konservative Kleinpartei): 1 Sitz Frente de Izquierda (trotzkistische Linksallianz): 1 Sitz Städtepartnerschaften Córdoba unterhält mit folgenden Städten eine Städtepartnerschaft: Außerdem existiert ein Kooperationsabkommen mit der spanischen Region Andalusien. Kultur und Sehenswürdigkeiten Bekannt ist Córdoba hauptsächlich für die gut erhaltenen Bauten aus der Kolonialzeit im Zentrum, es gibt aber auch eine große Anzahl von Museen. Die Stadt hat weiterhin eine vielfältige Kulturszene, die sich vor allem wegen der über 150.000 Studenten, die in der Stadt leben, ständig erneuert. Im Jahr 2006 trug die Stadt den Titel der Kulturhauptstadt Amerikas. Bauwerke Viele der sehenswerten Bauten aus der Kolonialzeit befinden sich in der Umgebung des zentralen Platzes der Stadt, Plaza San Martín. An dieser Plaza, von deren Nordwestecke alle Hausnummern in der Stadt berechnet werden, ändern alle Straßen auch ihren Namen. An der Plaza selbst liegt die 1782 erbaute Kathedrale (Iglesia Catedral), deren Inneres bedeutende indianische Schnitzereien enthält und 1914 vom Künstler Emilio Carraffa neu gestaltet wurde. Direkt neben der Kathedrale liegt der Cabildo, das historische Ratsgebäude, das in der Zeit zwischen 1610 und 1784 erbaut wurde. Heute beherbergt es ein Museum mit wechselnden Ausstellungen. Etwas abseits der Plaza liegt das Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen mit der Kirche Santa Teresa, ein rosafarbener Bau im kolonialen Barockstil. Die Kirche stammt von 1717, die anderen Teile wurden später hinzugefügt. Es beherbergt das Museum Religiöser Kunst Juan de Tejeda. Einer der prächtigsten Bauten der Jahrhundertwende ist der Bau des Banco Provincia de Córdoba, erbaut 1889. 100 Meter südlich der Plaza San Martín befindet sich die Manzana de los Jesuitas, der Block der Jesuiten mit mehreren Bauten aus Kolonial- und Nachkolonialzeit, unter anderem der ältesten noch erhaltenen Kirche Argentiniens, die Compañía de Jesús von 1671, des Schulgebäudes Colegio de Montserrat im plateresken Stil (ab 1687) sowie das ehemalige Rektorat der Universität von Córdoba (ab 1613, im 19. Jahrhundert erheblich umgebaut), das heute einen Teil der Fakultät für Rechtswissenschaften und ein Museum beherbergt. Der Block wurde 2000 zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt. Das Regierungsviertel um den kanalisierten Bach La Cañada beherbergt zahlreiche öffentliche Gebäude, von denen einige sehenswert sind. Das größte ist der Palacio de Justicia (Justizpalast), ein neuklassizistischer Monumentalbau von 1936. Vor dem Palast erstreckt sich der 1785 erbaute, 1957 renovierte Paseo Sobremonte, ein runder, etwas vertiefter Platz mit Springbrunnen. Eine sehenswerte Kirche der Gegend ist die Basilika Santo Domingo, erbaut 1861. Im Inneren werden englische Fahnen aus der Zeit der Invasion 1806 ausgestellt (siehe zu diesem Thema: Geschichte Argentiniens). Das Stadtviertel Nueva Córdoba stammt aus dem späten 19. Jahrhundert und wird heute wegen seiner Nähe zum Campus der Universidad Nacional de Córdoba von vielen Studenten besiedelt. In diesem Gebiet findet sich die neogotische Kirche Sagrado Corazón, erbaut 1929 von den Kapuzinern. Ein sehenswertes Schloss ist der Palacio Ferreyra nahe der Plaza España, einem modernen, verkehrsreichen runden Platz, der im rationalistischen Stil gestaltet wurde. Im Barrio Güemes in der Nähe der Cañada liegt der Paseo de las Artes, ein 1890 erbauter Sozialwohnungskomplex im neokolonialen Stil, der heute mehrere Galerien, Antiquitätenläden und einen ausgedehnten Kunsthandwerkermarkt beherbergt. Die Gegend wird manchmal San Telmo von Córdoba nach dem bekannten Stadtviertel von Buenos Aires genannt. In Alberdi, etwa einen Kilometer westlich des Zentrums, stehen ebenfalls einige sehenswerte Bauten: die ab 1915 erbaute und bisher unvollendete Iglesia María Auxiliadora, eine monumentale, weithin sichtbare Kirche im neogotischen Stil, und die Casa Emiliani, ein Bau im Stil des Art Nouveau. In den alten Vierteln San Vicente, General Paz und Alta Córdoba sind mehrere Altbauten aus der Zeit um 1900 erhalten. In San Vicente stechen das heutige Kulturzentrum San Vicente, eine 1886 erbaute ehemalige Markthalle, das im mitteleuropäischen Stil errichtete Ensemble Barrio Kronfuss und das vollständig aus Metall errichtete Eiffel-Haus (1917) heraus. In Alta Córdoba steht die große neogotische Kirche Inmaculada Concepción de María (1912). Unter den modernen Bauten Córdobas stechen das im Stil des Dekonstruktivismus erbaute Regierungsgebäude am Río Suquía (2009–2011) und das brutalistische Kulturzentrum Córdoba (2011–2014) hervor. Parks und Grünanlagen Córdobas zentraler und bei der Bevölkerung beliebtester Park ist der Parque Sarmiento östlich des Stadtviertels Nueva Córdoba. Er umfasst etwa sechs Quadratkilometer und hat unter anderem einen Rosengarten, Zoo, Sportanlagen und den Vergnügungspark Super Park integriert. Mitten im Park gibt es außerdem einen künstlichen See mit zwei Inseln, südlich davon steht der große Kulturkomplex Ciudad de las Artes. Westlich schließt direkt der ebenfalls parkähnlich gestaltete Campus der Universidad Nacional de Córdoba, die Ciudad Universitaria, an. Ein weiterer Park im Zentrum ist der kleine Parque Las Heras. Er liegt am Río Suquía, nördlich des Zentrums. Die Umgebung am Fluss ist nach Westen hin ebenfalls zum Teil parkähnlich gestaltet. Nach Osten hin schließt der kleine Parque General Paz im gleichnamigen Stadtviertel an, in dem das Industriemuseum steht. Im Süden der Stadt befindet sich am Bach La Cañada der Parque de la Vida in einer hügeligen und reizvollen Gegend. Auch er beinhaltet Sportanlagen und Erholungsgebiete mit Stellen zum Grillen. Im Südwesten erstreckt sich nördlich der Fábrica Argentina de Aviones der Parque del Sol Naciente. Im Westen befindet sich der Parque San Martín, der auch Parque del Oeste (Westpark) genannt wird. Er ist der größte und naturbelassenste Park der Stadt (ca. 15 Quadratkilometer). Ein Großteil des Parks steht unter Naturschutz, ein weiterer großer Teil ist Weideland, jedoch wird der Park von meist privaten, eingezäunten Stadtvierteln umschlossen. Des Weiteren gibt es einen Campingplatz, ein Messegelände (Predio Feriar), das Zentrum für moderne Kunst Chateau Carreras und daneben das Fußballstadion Estadio Mario Alberto Kempes, das direkt am Río Suquía liegt. Daneben liegt eine Nachtlebenmeile mit mehreren Großraumdiskotheken. Nahe dem Chateau Carreras liegt auch der Botanische Garten in unmittelbarer Nähe des Río Suquía. Im Nordwesten liegen der Parque de las Naciones und der Parque Autóctono, zwei kleine benachbarte Parks in Hanglage mit guten Aussichtspunkten auf die Stadt. Wissenschaftliche Einrichtungen Die Sternwarte Córdoba, gelegen nur etwa 1 km südwestlich des Zentrums der Stadt, war eine der bedeutendsten Sternwarten im 19. Jahrhundert. An der Sternwarte Córdoba wurde 1892 der Sternenkatalog Córdoba-Durchmusterung, das südliche Gegenstück zur Bonner Durchmusterung erstellt. An ihr waren jedoch keine astrophysikalischen Messungen möglich. Nach der Sternwarte wurde das Stadtviertel, in dem sie liegt, genannt: es heißt Barrio Observatorio. Die modernere Sternwarte Bosque Alegre ersetzte ab 1941 die alte Sternwarte Córdoba und war bis etwa 1980 eine der bedeutendsten Sternwarten der Südhalbkugel. Sie liegt etwa 25 Kilometer südwestlich von Córdoba in der Nähe der Stadt Alta Gracia. Mit ihrer 18 Meter breiten Kuppel kann man hier bis zu 600 Millionen Lichtjahre entfernte Objekte beobachten. In Bosque Alegre werden astrophysikalische Messungen zur Zusammensetzung und Ermittlung der Struktur von Sternen unternommen. Zudem wurde hier das System erfunden, polierte Spiegel zur Beobachtung des Weltraums einzusetzen. Das Raumfahrtzentrum Teófilo Tabanera ist das Steuerungszentrum der argentinischen Raumfahrt, die sich bisher auf Satelliten beschränkt. Es liegt in Falda del Cañete, etwa 15 Kilometer südwestlich von Córdoba. Weithin sichtbar ist seine große Steuerungsantenne. Das Gebäude beherbergt auch ein Museum, in dem Modelle der argentinischen Satelliten ausgestellt sind. Kulturinstitute und Kunsthochschulen In Córdoba gibt es Hochschulen für Musik, bildende Kunst, Literatur und Film. Die Facultad de Artes (vormals Escuela de Artes) als renommierteste Kunsthochschule ist seit 2011 eine eigenständige Fakultät der Universität Córdoba und wurde 1948 als Escuela Superior de Bellas Artes gegründet; seit 1959 befindet sie sich an ihrem aktuellen Standort auf dem Hauptcampus der UNC. Die 2005 in einer ehemaligen Kaserne eingerichtete Ciudad de las Artes ist ein weiterer großer Komplex, der sowohl als kulturelle Bildungseinrichtung, als auch als Theater, Opernhaus, Galerie und Programmkino fungiert. Sie beherbergt die Kunstschulen Escuela Lino Enea Spilimbergo, Figueroa Alcorta (Bildende Kunst), Roberto Arlt (Theater), Fernando Arranz (Keramik) und das Konservatorium Félix Garzón. Weiterhin gibt es in der Stadt mehrere ausländische Kulturinstitutionen: ein Goethe-Institut, ein argentinisch-spanisches Kulturzentrum (Centro Cultural España Córdoba), das französische Kulturinstitut Alianza Francesa, die Asociación Argentina de Cultura Británica sowie das Instituto Italiano de Cultura de Córdoba. Museen Das bedeutendste Kunstmuseum ist das Museo Provincial de Bellas Artes Emilio E. Carrafa mit wechselnden Ausstellungen. Das neobarocke Gebäude liegt im Stadtviertel Nueva Córdoba an der Plaza España. Es wurde 2007 im postmodernen Stil renoviert. Das Museo Superior de Bellas Artes Evita im Palacio Ferreyra, benannt nach Eva Perón, beherbergt Skulpturen, Malerei, Zeichnungen und Kupferstiche von Künstlern aus Córdoba, anderen Städten Argentiniens sowie aus dem Ausland und zeigt die Entwicklung der Malerei und Bildhauerei von Stadt und Region. Wegen des Erbes der Jesuiten sind die Museen für religiöse Kunst der Stadt bedeutend, vor allem das Ekklesiastische Museum Déan Funes und das Museum der Religionskunst Juan de Tejeda im Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen (siehe Bauwerke). Außerdem bedeutend ist das im Zentrum gelegene Museo Municipal de Bellas Artes Dr. Genaro Pérez, und das Museum Obispo Salguero, in dem Kunst und historische Dokumente zu besichtigen sind. Zu erwähnen sind außerdem das Theater- und Musikmuseum Cristóbal de Aguilar im Bau des Theaters El Libertador und das Zentrum für zeitgenössische Kunst Chateau Carreras im Parque San Martín im Westen der Stadt. Weniger bekannt als die Kunstmuseen sind die naturwissenschaftlichen Museen. Das Naturwissenschaftliche Museum Dr. Bartolomé Mitre im Parque Sarmiento beherbergt unter anderem das Fossil der weltweit größten Webspinne der Vorgeschichte, außerdem erwähnenswert ist das Anatomiemuseum Dr. Pedro Ara. In der Umgebung der Sternwarte liegt außerdem das bedeutendste Museum Argentiniens für Meteorologie, das Nationale Museum der Meteorologie Dr. Benjamin Gould. Wegen der industriellen Vergangenheit und Gegenwart der Stadt gibt es mehrere technische Museen in der Stadt. Im Südwesten der Stadt (Barrio Santa Isabel) liegt das Automobilmuseum im Industriekomplex CIADEA. Das Industriemuseum liegt im Parque General Paz und beherbergt neben diversen Fahrzeugen und Maschinen auch das erste drehbare Haus Amerikas (erbaut 1951 von Abdon Sahade), das bis 2004 im Viertel Nueva Córdoba stand und von dort aus ins etwa 4 km entfernte Museum transportiert wurde, um einem Hochhausbau Platz zu machen. Einige historische Museen geben Aufschluss über die Vergangenheit der Stadt, der Schwerpunkt liegt dabei in der Kolonialzeit. Es gibt zwei bekannte historische Museen: das Historische Museum Marqués de Sobremonte, und das Museum Obispo Fray José Antonio de San Alberto in der Manzana de los Jesuitas. Für Numismatiker interessant sind das Bankmuseum der Provinzbank (Museo Banco de la Provincia de Córdoba) und das Numismatische Museum der Nationalbank, das Münzsammlungen ausstellt. Das Museo de la Ciudad im Cabildo bietet wechselnde Ausstellungen zu verschiedenen Themen wie Musik, Geschichte, Kunst und Kultur in Córdoba und Argentinien allgemein. Außerdem gibt es in den Ausstellungszentren José Malanca und Obispo Mercadillo sowie im Kulturmuseum General Paz im gleichnamigen Stadtviertel wechselnde Ausstellungen zu verschiedenen Themen. Ein weiteres Ausstellungszentrum ist der zur Universität Córdoba gehörende Pabellón Argentina. Bildende Kunst Mehrere bedeutende Maler und Bildhauer stammen aus der Stadt. Ihre Werke werden meist in den Museen Emilio Carraffa (von der Provinzregierung geführt) und im städtischen Kunstmuseum Genaro Pérez, im Zentrum für moderne Kunst Chateau Carreras sowie in mehreren unabhängigen Galerien ausgestellt. Einer der Begründer der Kunstszene war der in der Catamarca geborene Emilio Caraffa (1863–1939), der die erste Kunstschule in Córdoba begründete und auch selbst als Maler und Bildhauer erfolgreich war. In der heutigen Szene besonders bekannt, aber auch umstritten ist der oft der Pop Art zugerechnete franko-argentinische Maler und Bildhauer Antonio Seguí (1934–2022). Der in Paris lebende Künstler schuf unter anderem die Skulpturengruppe La Familia Urbana (Mujer Urbana, Hombre Urbano und Niños Urbanos) in einem häufig als kindlich bezeichneten Stil, aufgebaut auf drei wichtigen Kreisverkehren und am Flughafen der Stadt. Literatur Der Literaturbetrieb in Córdoba ist in Argentinien relativ wenig bekannt. Die Stadt Córdoba ist zwar Sitz einiger Verlage, die aber in ihrer Bedeutung nicht mit denen aus Buenos Aires konkurrieren können, weshalb Schriftsteller mit Ambitionen meist Verträge mit Verlagen aus der Hauptstadt abschließen. Ein bekannter Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Córdoba war der Romancier Hugo Wast, der auch vom Konservativismus beeinflusste Sachbücher schrieb. In den 1960er- und 1970er-Jahren entstand in Córdoba eine reiche Comic-Tradition, die sich um die Zeitschrift Hortensia gruppierte, die als eines der wenigen Publikationen des Landesinneren in ganz Argentinien erfolgreich war. In neuerer Zeit war der meistverkaufte Bestseller aus Córdoba das Buch Sin Tapujos – La vida de un cura (span. für Ohne Tabus – Das Leben eines Priesters) des katholischen Priesters Guillermo Mariani von 2003, in dem dieser autobiografisch den Alltag eines Priesters beschreibt. Es wurde in weiten Teilen Lateinamerikas bekannt und zum Skandal, da es auch sexuelle Erfahrungen von Mariani zum Thema hat. Theater und Film Córdobas größtes Theater ist das Teatro del Libertador General San Martín, ein Opernhaus im italienischen Stil der Zeit um 1900. Es hat eine Opernsaison, es finden jedoch auch andere Theaterveranstaltungen diverser Art statt. Weitere bekannte Theater sind das traditionelle Teatro Real, ebenfalls ein neobarockes Opernhaus, und das Teatro Comedia, in denen neben ernsten Theaterstücken auch humoristische Veranstaltungen stattfinden. Daneben gibt es etwa 30 weitere kleinere Theater. Es gibt viele unabhängige Theatergruppen, die oft in Pubs oder auf Kunsthandwerkermärkten auftreten. Das Festival de Teatro del Mercosur, eines der wichtigsten Theaterfestivals Lateinamerikas, findet alle zwei Jahre in Córdoba statt. Córdoba hat eine relativ große Filmhochschule, die von der staatlichen Universität UNC abhängt. Die lokale Produktion hat jedoch große Schwierigkeiten, aus dem Schatten von Buenos Aires und selbst Rosario zu treten, da in den Filmbereich wenig investiert wird und Talente meist in diese Städte abwandern. Die Kinos der Stadt, zum großen Teil Multiplexe, zeigen hauptsächlich die argentinischen und internationalen Kassenerfolge. Daneben gibt es einige Filmklubs, von denen der bedeutendste der von der Stadt abhängige Cineclub Municipal Hugo del Carril ist und in denen auch lokale Produktionen gezeigt werden. Musik In der Stadt sind mehrere bedeutende Orchester und Ensembles aktiv. Die bekanntesten sind das Sinfonische Orchester der Universität Córdoba, das Sinfonische Orchester der Provinz Córdoba, das Streichorchester der Stadt Córdoba, sowie die Sinfonische Band der Provinz Córdoba. Bis 2007 fand im Winter das Internationale Chorfestival Coricor statt, das Córdoba für den Bereich der Chormusik bedeutend machte. Im Frühjahr findet seit 2003 das Internationale Festival für Zeitgenössische Musik Córdoba statt, das vom Komponisten Juan Carlos Tolosa und dem zeitgenössischen Kammerensemble Córdoba Ensamble begründet wurde. In der Popmusik ist in den 1940er-Jahren in der Stadt eine eigene Musikrichtung, das Cuarteto, entstanden, ein schneller, fröhlicher Tanz, der mit dem karibischen Merengue verwandt ist und sich im Untergenre Merenteto seit den 1970er Jahren auch mit diesem vermischt hat. Das Cuarteto wird außer in Diskotheken vor allem auf den sogenannten Bailes („Bällen“) getanzt, auf dem die Bands live mehrere Stunden lang in Sportstadien, Turnhallen und Festsälen spielen. Diese Bailes finden von Mittwoch bis Sonntag jeden Tag statt und werden vor allem von der Jugend der Unterschicht besucht; Ausnahme ist die Band La Barra, die auch bei der Oberschicht beliebt ist. Bekanntester Cuarteto-Sänger und eine der am meisten mit Córdoba verbundenen Persönlichkeiten ist Carlos Jiménez, bekannt als „La Mona“; ein weiterer bekannter Sänger war bis zu seinem Tod im Jahr 2000 Rodrigo Alejandro Bueno, der die Musik auch in Buenos Aires bekannt machte und einen Cuarteto-Boom im ganzen Land in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre auslöste. Im Bereich der Rockmusik existiert zwar eine große und vielfältige Szene, zu landesweiter Bekanntheit haben es aber nur wenige Bands (z. B. Juan Terrenal und Armando Flores) gebracht. Gleiches gilt für andere Bereiche der Popmusik wie Latin Rock (Los Caligaris, Los Cocineros) und Synthie-Pop/Britpop (Enhola, Esporádica). De Boca en Boca, eine Ethno-Pop/Weltmusik – A Cappella – Vokalband, sind lateinamerikaweit mit ihrer Mischung aus Gesängen verschiedener originärer Kulturen der Welt in einem modernen Gewand bekannt. Im Bereich der elektronischen Tanzmusik existiert in Córdoba seit Ende der 1980er-Jahre eine Szene, die besonders nach 1995 zu einer Massenbewegung geworden ist. Bedeutende DJs im Bereich House, Techno und Dubstep aus Córdoba sind Simbad Segui, Paul Nova, Cristóbal Paz, Martín Huergo, Facu Carri und Andrés Oddone. Es gibt mehrere Bands, die experimentelle elektronische Musik machen, die bekanntesten sind Zort, die bereits mehrmals in Europa auftraten, sowie das Electro-Funk-Projekt Frikstailers. Gastronomie und Nachtleben Eine eigenständige Esskultur hat sich in Córdoba nur in Ansätzen herausgebildet. Im Vergleich zu anderen argentinischen Städten findet man viele einfache arabische Lokale, da viele Einwohner der Stadt arabische Vorfahren haben. Auch in den Familien werden oft arabisch-argentinische Spezialitäten wie die charakteristischen dreieckigen arabischen Empanadas mit einer Füllung aus Hackfleisch, Paprika und Zwiebeln, Niños envueltos (in Mangoldblätter eingewickelter Hackfleisch-Reis) und Quepi (Hackfleischbällchen mit Bulgur-Weizen gemischt) gekocht, arabische Sandwiches wie der Döner Kebap und Schawarma sind dagegen weniger bekannt. Besonders viele Restaurants ballen sich neben dem Zentrum in Nueva Córdoba, in den Vierteln General Paz und Cerro de las Rosas sowie im zentral gelegenen Alberdi. Das Nachtleben der Stadt ist vielfältig. Typisch sind die Arte Bars, in denen neben Livemusik diverser Richtungen auch Theater geboten wird oder Werke lokaler Künstler besichtigt werden können. Daneben hatte in Córdoba die argentinische LGBT-Club-Bewegung ihren Ursprung; hier gab es die erste speziell auf diese Zielgruppe zugeschnittene Diskothek des Landes. Die Vergnügungsstätten konzentrieren sich in Nueva Córdoba, am Cerro de las Rosas, im Parque San Martín nahe dem Chateau Carreras im Nordwesten der Stadt sowie am zentralen Ufer des Río Suquía in einem Gebiet, in dem sich bis 1990 der große Markt Mercado de Abasto befand. Dort wurden zahlreiche Markthallen in Diskotheken umfunktioniert. Im Rest der Stadt sind die Diskotheken und Pubs weit verstreut. Einige Clubs finden sich auch außerhalb der eigentlichen Stadt in den Vororten, besonders in Villa Allende, La Calera und Saldán. Im Sommer verlagert sich zudem ein Teil der Szene in den Ferienort Villa Carlos Paz, in dem es einige Großraumdiskotheken gibt. Feste und Veranstaltungen In Córdoba lehnen sich die meisten Feste an den christlichen Kalender an. Die Stadt hat außerdem zwei eigene Feiertage: den Gründungstag oder Día de Córdoba am 6. Juli und den Tag des Schutzpatrons der Stadt, dem heiligen Hieronymus (San Jerónimo auf Spanisch) am 30. September. Im Sommer konzentrieren sich die Festlichkeiten auf die nahegelegenen Vororte und Fremdenverkehrszentren in den Sierras de Córdoba. Dort werden bekannte Festivals ausgetragen, wie das Folklorefestival von Cosquín und das Rockfestival Cosquin Rock. Der Karneval beginnt Ende Januar und wird mit traditionellen Umzügen gefeiert. Er hat in Córdoba ein eigenes Gepräge, denn anders als in den meisten anderen Gegenden Argentiniens gibt es keine Umzugswagen, sondern der Schwerpunkt liegt auf den Tänzen, die dargeboten werden. Charakteristische Kostüme sind Teufel, Indianer sowie die volkstümliche, von italienischen Einwanderern geschaffene Figur des Cocoliche bei den Männern, daneben begleiten Trommelgruppen (batucadas) nach brasilianischer Tradition mit knapp bekleideten Gruppen von Tänzerinnen die Umzüge. Es gibt mehr als hundert Murgas (Tanzgruppen), die an den Umzügen teilnehmen und meist jeweils ihr eigenes Stadtviertel repräsentieren. Das Epizentrum des Karnevalsbetriebs liegt im Viertel San Vicente, wo die Karnevalstradition 1895 begründet wurde und bis in die frühen 2000er Jahre die großen Umzüge ausgetragen wurden, bis sie in den Parque Sarmiento verlegt wurden. In letzter Zeit nehmen auch Murgas aus anderen Städten und aus den Nachbarländern an den Umzügen teil. Eine Jury bewertet die verschiedenen Murgas und wählt diejenigen aus, die an der größten Veranstaltung am Karnevalssonntag auftreten dürfen. Zusätzlich wird eine Karnevalskönigin gewählt. Daneben gibt es alternative Karnevalsumzüge und -Veranstaltungen in anderen Stadtvierteln, zum Beispiel in Villa El Libertador. Besonders viele Touristen ziehen die Festlichkeiten zu Ostern in die Stadt. Am Karfreitag wird in der Stadt ein international bekanntes Passionsspiel von Theatergruppen ausgetragen, bei dem die verschiedenen Stationen des Kreuzwegs an verschiedenen Orten der Stadt dargestellt werden. Am Ostersonntag wird nach der traditionellen Messe in der Kathedrale auf dem zentralen Platz Plaza San Martín ein überdimensionierter Osterkuchen, die rosca gigante, verzehrt. Auch in vielen der touristisch orientierten Vororte der Sierras stehen an diesen Tagen zahlreiche Veranstaltungen auf dem Programm. Etwa zeitgleich im März oder April wird die Feria Internacional de Artesanías, die Internationale Kunsthandwerkmesse, veranstaltet. Sie findet auf dem Messegelände statt und hat Kunsthandwerker aus der ganzen Welt, hauptsächlich aus Lateinamerika, zu Gast. Im Herbst findet mit der Sexpoerótica die größte Erotikmesse Argentiniens statt. Sportlicher geht es beim argentinischen Teil der Rallye-Weltmeisterschaft zu, der jedes Jahr im Spätherbst bis Winter (zwischen Mai und Juli) in Córdoba und Umgebung stattfindet. Seit 2006 beinhaltet diese Veranstaltung, die bis zu einer Million Besucher anzieht, auch einen Geschicklichkeitstest im Stadion Estadio Mario Alberto Kempes. Im September und Oktober wird die bedeutendste Industriemesse in Córdoba und dem gesamten Landesinneren, die FICO Mercosur (Feria Internacional Córdoba), auf dem Messegelände Predio Feriar veranstaltet. Auf der FICO, die mehrere Branchen von der Lebensmittel- bis zur Automobilindustrie umfasst, präsentieren sich hauptsächlich Unternehmen aus Argentinien und den Nachbarländern. Im Oktober und November findet das Fest der Einwanderer, die Fiesta de las colectividades, statt. Die Hauptveranstaltung wird im Messegelände Feriar im Westen der Stadt ausgetragen, bei der die traditionellen gastronomischen Spezialitäten der verschiedenen Einwanderergruppen sowie kulturelle Einlagen dargeboten werden. Ebenfalls zu dieser Zeit im Frühling wird die Feria del Libro (Buchmesse) auf der Plaza San Martín in mehreren Zelten veranstaltet. Dort präsentieren vor allem argentinische Verlage ihre Neuerscheinungen. Bevölkerung Die Einwohner der Stadt sind zum größten Teil Nachkommen von Einwanderern. Die Ureinwohner der Region, die Comechingones und Sanavirones, wurden dagegen schon im frühen 19. Jahrhundert von den Spaniern und danach von den Argentiniern deportiert und nahezu ausgerottet. Heute rechnen sich in der Provinz Córdoba 2,1 Prozent der Haushalte dieser Bevölkerungsgruppe zu. In der ersten Einwanderungswelle Ende des 19. Jahrhunderts kamen insbesondere Italiener, Spanier und Deutsche sowie Menschen aus dem arabischen Kulturraum, die sogenannten Turcos. Dies bedeutet wörtlich zwar Türken, die meisten von ihnen sind jedoch Nachkommen von Syrern und Libanesen; die Bezeichnung kommt daher, dass alle diese Länder früher Teil des Osmanischen Reiches waren. Die zweite Einwanderungswelle im 20. Jahrhundert, die bis heute anhält, brachte der Stadt einen großen Zustrom von Bolivianern und Peruanern, die heute gemeinsam etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Es gibt jedoch auch einen hohen Anteil Binnenwanderer aus dem Norden und Nordosten Argentiniens, von denen viele indianischer Abstammung sind. Eine weitere signifikante Binnenwanderergruppe sind Studenten aus dem Landesinneren, die sich nach ihrem Studium in den Universitäten der Stadt dauerhaft dort niederlassen. Einwohnerentwicklung Die Einwohnerzahl von Córdoba wuchs in drei Phasen besonders schnell an: zunächst beim Aufstieg der Stadt im 17. Jahrhundert, dann infolge der Einwanderungswelle 1870–1920, in der die Stadt zur Großstadt wurde, und in den Jahren 1940 bis 1970 parallel zum Wachstum der Industrie, das viele Binnenwanderer aus dem Landesinneren anzog. Seit den 1990er-Jahren hat sich das Wachstum der Stadt abgeschwächt (seit 2001 weniger als ein Prozent im Jahr), während die Vororte nun schnell wachsen. Laut der Volkszählung 2010 zählte Córdoba 1.329.604 Einwohner, was einem Wachstum von nur 3,5 Prozent respektive des Wertes des Zensus 2001 entspricht. Suburbanisierung Während die zur Agglomeration im engeren Sinne (durchgängig bebautes Gebiet ohne Satellitenstädte) gerechneten Vororte 1980 noch gerade 34.459 Einwohner hatten, waren es 1991 51.047 und 2001 100.780. Die vollständigen Ergebnisse für 2010 stehen hier noch aus. Dies geht einher mit dem in Argentinien verbreiteten Phänomen der Stadtflucht, das wirtschaftliche und soziokulturelle Gründe hat: die deutlich niedrigeren Grundpreise in der Umgebung und der Hang besonders der Oberschicht, sich in grüne, oft geschlossene Stadtviertel (z. B. Country Clubs) zurückzuziehen, um der Hektik und der Kriminalität zu entfliehen und „unter sich“ zu sein. So ist der Zwischenraum zwischen Córdoba und dem 35 Kilometer nordwestlich gelegenen Salsipuedes in den Sierras Chicas bereits kontinuierlich bebaut. Die Stadt zeigte zeitweise trotz weiter freier Flächen gegen Mitte der 2000er Jahre durch die Anlage großflächiger Country-Clubs Tendenzen, in wenigen Jahrzehnten mit der 40 Kilometer westlich gelegenen Stadt Villa Carlos Paz und damit mit einer ausgesprochen touristischen Gegend zusammenzuwachsen. Im Flächennutzungsplan, der seit 2010 gültig ist, wurden jedoch zahlreiche Flächen als nicht bebaubar ausgewiesen und damit diese Entwicklung gestoppt. Probleme dieses Wachstums an der Peripherie sind zum einen die Zerstörung der Natur, da insbesondere landschaftlich attraktive Gebiete bei den Hausbauern sehr begehrt sind und Baugenehmigungen vor dem Inkrafttreten des Flächennutzungsplans schnell erteilt wurden. Zum anderen führt besonders in ärmeren Gegenden das explosive Wachstum einiger Vororte, deren Infrastruktur nicht Schritt halten kann, zur Bildung von Elendsvierteln, wie in Estación Juárez Celman, das zwischen 1991 und 2001 seine Einwohnerzahl beinahe verzehnfachte. Wirtschaft und Infrastruktur Córdoba ist das wichtigste Industrie- und Dienstleistungszentrum Zentral- und Nordwestargentiniens. Die meisten der Betriebe (77 %) sind im Dienstleistungssektor beheimatet. Davon sind 24 % im Einzelhandel, 10 % im Großhandel, 8 % im Transport, 5 % im Gesundheitsbereich sowie jeweils 1 % in Technologie, Finanz- und Versicherungswesen und in der Bildung angesiedelt. Auf die Industrie entfallen 18 % der Betriebe, davon 25 % in der Herstellung von Lebensmitteln und Getränken, 22 % im Baugewerbe, 16 % auf die Metallindustrie, 7 % auf die Textilindustrie, 5 % auf Möbel- und Holzindustrie sowie 2 % auf die Chemieindustrie. Auf den Primärsektor entfallen 5 % der Betriebe. Zu beachten ist bei diesen Zahlen, dass die jeweils größten Sektoren auch diejenigen mit den meisten Kleinbetrieben sind; daher wird bei dieser Art der Zählung die tatsächliche Wichtigkeit der Sektoren verzerrt. Wirtschaftliche Situation Im innerargentinischen Vergleich gilt Córdoba als relativ wohlhabende Stadt. Der Durchschnittslohn liegt allerdings ebenso wie die Lebensunterhaltungskosten etwas unter dem Landesdurchschnitt und deutlich unter den entsprechenden Werten aus Buenos Aires. Dafür sind die sozialen Indikatoren wie die Arbeitslosigkeit (8,4 %, 2. Quartal 2010) und die Armutsquote geringer als die Werte der Hauptstadtregion, was auf eine günstigere Verteilung des Volkseinkommens hindeutet. Das Stadtgebiet wird in der Marktforschung in verschiedene Zonen oder Korridore eingeteilt, die die sozio-ökonomische Lage der Stadtviertel berücksichtigen: Zentrum, Nordwesten, Nordosten, Südosten, Süden (Nueva Córdoba) und Südwesten. Am wohlhabendsten ist dabei der Nordwesten, die landschaftlich und klimatisch attraktivste Gegend, gefolgt vom Zentrum, Nueva Córdoba, dem Südosten, dem Südwesten und dem Nordosten als ärmster und am meisten von Umweltproblemen (vor allem Wasserverschmutzung) geplagten Gegend der Stadt. Ansässige Unternehmen Zahlreiche bedeutende nationale und internationale Unternehmen haben ihren Sitz oder eine Filiale in Córdoba. Historisch bedeutend sind die in den 1950er-Jahren angesiedelten Unternehmen der Automobilindustrie. Industrias Kaiser Argentina (IKA) im Stadtteil Santa Isabel im Südwesten gehört heute zum Renault-Konzern. Es war lange Zeit bedeutendster Automobilhersteller der Stadt und stellte unter anderem bis in die 1980er-Jahre das bekannteste rein argentinische Automodell, den Torino, her. Fiat Argentina produziert im Stadtteil Ferreyra im Südosten der Stadt Automobile und Einzelteile; die Produktion von PKW wurde im Krisenjahr 2002 vorübergehend eingestellt, 2006 aber wieder aufgenommen. Volkswagen produziert Getriebe und Automobile im Stadtteil San Carlos im Süden. Daneben gibt es das argentinische Unternehmen Materfer, das landwirtschaftliche Maschinen, Eisenbahnwaggons und seit 2006 Omnibusse herstellt. Der bedeutendste Flugzeughersteller Argentiniens ist die Fábrica Argentina de Aviones (vormals Fábrica Militar de Aviones) im Südwesten der Stadt. Der Betrieb gehörte ursprünglich den Streitkräften und wurde ab 1995 von einer lokalen Filiale von Lockheed Martin betrieben, von welcher der argentinische Staat 2009 die Aktienmehrheit erwarb und auf diesem Weg den Betrieb wieder verstaatlichte. Hier wird das Aufklärungs- und Schulflugzeug Pampa hergestellt. Seit den 1990er-Jahren und insbesondere seit der Abwertung des Peso 2002 profiliert sich Córdoba zunehmend als wichtiges Zentrum der Hard- und Software-Industrie Argentiniens. So ist seit Ende der 1990er ein Software-Entwicklungszentrum des Konzerns Motorola hier beheimatet, 2006 siedelte sich Intel an, das Software in der Stadt produziert. Seit 2006 wird in unmittelbarer Umgebung des Flughafens ein Technologiepark errichtet. Des Weiteren gibt es zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen, die in den verschiedensten Branchen angesiedelt sind. Viele davon wurden von ehemaligen Studenten gegründet; sie sind oft in den Bereichen Software, Medien und Design angesiedelt und haben besonders wegen der Universität gute Standortvorteile. Einzelhandel Der Einzelhandel ist wegen der Funktion der Stadt als Dienstleistungszentrum weiter Teile Zentralargentiniens die umsatzstärkste Branche der Wirtschaft, der Markt gilt allerdings als sehr umkämpft, da die Dichte von Unternehmen in diesem Bereich sehr hoch ist. Er konzentriert sich im Zentrum der Stadt und einigen peripheren Gebieten. Im Zentrum befindet sich ein Großteil der Geschäfte im Bereich der Fußgängerzonen rund um die Plaza San Martín, wo sich besonders viele Modegeschäfte befinden. Im Bereich um den Mercado Norte, dem wichtigsten Lebensmittelmarkt des Zentrums etwa einen Kilometer weiter nördlich ballen sich Fachgeschäfte verschiedenster Branchen. Das Gleiche gilt in geringerem Maße für den Mercado Sur einen Kilometer südlich des Zentrums nahe dem Viertel Nueva Córdoba. Dieses gilt gemeinsam mit dem Cerro de las Rosas als In-Shoppingzentrum, wo besonders auf eine junge Klientel ausgerichtete Modeläden angesiedelt sind. Seit den 1980er-Jahren haben sich zahlreiche Großmärkte und Shoppingzentren im US-amerikanischen Stil in Córdoba angesiedelt. Die wichtigsten Shopping-Malls sind im Zentrum der Patio Olmos und der Garden Shopping, im Westen das Nuevocentro Shopping und im Norden das Córdoba Shopping und der Dinosaurio Mall. Stadtbild, Architektur und Wohnsituation Das Stadtbild von Córdoba ist uneinheitlich und vereinigt Elemente verschiedener architektonischer Stilepochen weitgehend übergangslos in sich. Das Zentrum wurde ursprünglich von den barocken Bauten der Jesuiten aus dem 17. und 18. Jahrhundert dominiert. Dazu kamen mehrere neobarocke Gebäude aus der Zeit zwischen 1870 und 1930, als die Stadt ihre erste große Wachstumsphase hatte. Zahlreiche Neubauten aus dem 20. Jahrhundert haben den architektonischen Charakter jedoch nachhaltig verändert, so dass große Teile der Stadt heute einen modern-funktionalen Charakter haben. In einigen Ecken hat sich die Kolonialarchitektur jedoch noch erhalten, die betroffenen Bauten stehen unter Denkmalschutz. In einigen ans Zentrum angrenzenden Stadtvierteln befinden sich ebenfalls noch zahlreiche Altbauten. Sie werden barrios tradicionales, traditionelle Stadtviertel, genannt. In diesen Vierteln, insbesondere in San Vicente, Alta Córdoba, General Paz, Pueyrredón und Juniors siedelten sich die wohlhabenden Einwandererfamilien ab Mitte des 19. Jahrhunderts an und bauten ihre villenhaften Residenzen in verschiedensten Baustilen. Ähnliches gilt für den neueren Cerro de las Rosas (ab den 1920er-Jahren), in dem man ebenfalls in der Architektur Reminiszenzen an die Herkunft der Familien findet, so gibt es etwa Residenzen im Fachwerkhaus-Stil oder nachgebaute englische Landhäuser. Einige wenige Stadtviertel wurden nach den Einwandergruppen benannt, die sich dort ansiedelten, etwa das Barrio Inglés (Englisches Viertel) und das Barrio Armenio (Armenisches Viertel), beide im Stadtteil Pueyrredón; dort ballen sich die Wohnhäuser mit Elementen aus dem Herkunftsland der Einwanderer. Einige Stadtviertel sind nicht natürlich gewachsen, sondern wurden auf dem Reißbrett geplant. Dies gilt im zentralen Bereich insbesondere für Nueva Córdoba (Neu-Córdoba) südlich des Zentrums, das im Jahr 1886 vom Architekten Carlos Thays in das Projekt des Parque Sarmiento eingeplant wurde. Dort wurden die Häuser ebenfalls größtenteils im spanisch beeinflussten neobarocken Stil errichtet, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Bauten jedoch von Hochhäusern verdrängt. Diese dominieren seitdem das Bild dieser Gegend, die hohe Quadratmeterpreise aufweist. Seit den 1980er Jahren wurden Wolkenkratzer im Glasbeton-Stil errichtet, die aus der ansonsten aufgrund von Höhenbeschränkungen einheitlichen Skyline herausstechen. Das höchste Bauwerk, der Komplex Torres Capitalinas, misst 126 Meter, ein weiterer herausstechendes Hochhaus ist die Torre Ángela (110 m). Niedrigere, aber wegen ihres Designs oder ihrer Lage herausstechende Hochhäuser sind die Torre Ecipsa (ursprünglich Córdoba Business Tower) in Nueva Córdoba und das Sheraton-Hotel Córdoba westlich des Zentrums. Außerhalb der zentralen Stadtteile hat das Stadtgebiet für eine Großstadt eine relativ niedrige Bevölkerungsdichte. Die Mittelschichts- und Arbeiterviertel der Außenbezirke sind architektonisch uneinheitlich. Schlichte, funktionelle Flachbauten wechseln sich mit wenigen aufwändiger errichteten Wohnhäusern ab. Einige Viertel wurden mit Boulevards und zentralen Grünflächen (Beispiele: Parque Liceo, Parque República, Residencial América) oder einem bewusst unregelmäßigen Straßennetz (Beispiele: Residencial Olivos, SMATA) angelegt, anderen fehlte ein urbanistisches Konzept. In der Vergangenheit wurden oftmals ungeordnet neue Baugründe an der Peripherie erschlossen, dabei blieben weite ungenutzte Flächen in relativ zentralen Teilen der Stadt übrig. 1996 gab es mit dem Plan Estratégico Córdoba (PEC) eine umfangreiche und in Teilen erfolgreiche stadtplanerische Initiative, um das Stadtbild zu ordnen. Seit 2008 wird mit dem unregelmäßig aktualisierten, einheitlichen Flächennutzungsplan Plan Director versucht, der Zersiedlung und anderer Missstände entgegenzuwirken. Wie viele andere südamerikanische Städte hat auch Córdoba zahlreiche Elendsviertel, die meist auf informeller Basis, also durch illegale Landnahme, entstanden. Etwa 110 000 Menschen, acht Prozent der Stadtbevölkerung, wohnten laut dem argentinischen Statistikamt INDEC 2001 in einer dieser Siedlungen, in Argentinien Villa Miseria genannt, je nach Schätzung gab es zwischen 103 (offizielle Schätzung) und 158 (Studie der Nichtregierungsorganisation Sehas 2003) dieser informellen Siedlungen. Das größte Elendsviertel Villa La Tela liegt im Südwesten der Stadt und hat mit etwa 15 000 Einwohnern eine der höchsten Einwohnerzahlen aller argentinischen Elendsviertel überhaupt. Die Wohnsituation verbesserte sich im frühen 21. Jahrhundert aufgrund einer vielfältigen Bautätigkeit sowohl seitens des Staates wie seitens von unabhängigen Wohnungsbaugenossenschaften. Ab 2002 ging wegen neuer Programme des sozialen Wohnungsbaus die Zahl der Elendsviertel zeitweise zurück; so kam Sehas bei einer Folgeuntersuchung 2007 einen Rückgang der informellen Siedlungen auf 118 und deren Einwohnerzahl von 103 650 (2001) auf 63 778. Ein umfangreiches, aber auch umstrittenes Programm des sozialen Wohnungsbaus war das von der Provinzregierung und der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanzierte Nuevos Barrios – Mi Casa, Mi Vida (2001 bis 2008), bei dem Bewohner von Elendsvierteln in großflächige, von kleinen Einfamilienhäusern dominierte Neubaugebiete am Stadtrand umgesiedelt wurden. Das Programm umfasste 11 100 Wohneinheiten. Bei diesem Programm wurde von Kritikern allerdings bemängelt, dass die zu den untersten sozialen Schichten gehörenden Bewohner der weit außerhalb gelegenen Viertel weite Wege zu ihren Arbeitsplätzen zurücklegen mussten. Auch wurde die Monumentalität des Projektes als nicht zeitgemäß betrachtet, da so die Bildung von ghettoartigen Gesellschaften und deren Ausgrenzung durch den Rest der Stadtbevölkerung favorisiert werde. Auch die Annahme der neuen sozialen Wohnsiedlungen durch die Bewohner benachbarter Stadtviertel war teilweise negativ, im Stadtviertel Matienzo gab es aus diesem Grund im Jahr 2005 mehrere Wochen andauernde Unruhen. Von einem anderen Standpunkt geht das vom Bundesstaat angeleitete Programm Promeba (Programa de Mejoramiento de Barrios) aus, das vom brasilianischen Favela-Bairro inspiriert wurde. Es sieht die gezielte Urbanisierung der Elendsviertel selbst vor. Integriert ins Promeba ist das Unterprogramm Arraigo, das die Legalisierung der Grundstückstitel vorsieht, wenn sich die Elendsviertel auf Territorium des Staates befinden. Mehrere Viertel von Córdoba werden derzeit nach diesem Modell urbanisiert. Die Baugenossenschaften wiederum werden von den Nichtregierungsorganisationen Serviproh und Sehas mit Rechtsbeistand betreut. Sie bauen preisgünstige Wohnungen in kleinen Mengen in der Nähe der ursprünglichen Ansiedlungen, mit dem Ziel, die Integration der Bewohner in ihrem Siedlungsgebiet beizubehalten. Des Weiteren werden einige Sozialwohnungskomplexe auch von Gewerkschaften erbaut, wie das im Süden von Córdoba gelegene Hochhausviertel Barrio SEP. Die Bautätigkeit ist auch in wohlhabenderen Gebieten der Stadt sehr aktiv. Auch in weiter außerhalb gelegenen Vierteln werden stetig Wohnblocks und Hochhauskomplexe errichtet. Besonders in den 1990er und 2000er Jahren wurden zahlreiche geschlossene, großflächige Wohnanlagen für die Oberschicht in der Peripherie erbaut, die in Argentinien als Country Clubs bezeichnet werden. Neuere Erscheinungsformen sind eingezäunte, bewachte integrierte Hochhauskomplexe in zentraleren Gegenden sowie geschlossene Wohnanlagen mit kleineren Grundstücken für die Mittelschicht. Medien Die bedeutendste Tageszeitung der Stadt ist die 1904 gegründete La Voz del Interior. Sie ist politisch uneinheitlich positioniert und mit teilweise hochwertigem Journalismus versehen und gehört respektive ihrer Auflage zu den zehn bedeutendsten Tageszeitungen Argentiniens, wird jedoch praktisch nur in der Provinz Córdoba verkauft. Sie gehört einer spanisch-argentinischen Unternehmensgruppe. La Mañana de Córdoba ist die zweitwichtigste Zeitung, ihr Schwerpunkt liegt auf dem Bereich Wirtschaft, was vor allem daran liegt, dass die Zeitung lange zur Gruppe des führenden argentinischen Wirtschaftsblattes Ámbito Financiero gehörte. Día a Día, Hoy Día Córdoba und Reporte 15 decken das Niedrigpreis-Segment ab. Zusätzlich erscheint die Wirtschaftszeitung Comercio y Justicia sowie die Gratiszeitung El Diario del Bolsillo. Zeitschriften, die in der Stadt herausgegeben werden, sind unter anderem das Politikmagazin Orillas, das Veranstaltungsblatt Aquí, die Boulevard- und Szenezeitschrift Las Rosas und die Musikzeitschrift Todo Cuarteto. Es gibt in der Stadt eine Vielzahl von privaten und staatlichen Radiosendern. Der bei weitem bekannteste ist der landesweit auf UKW und MW sendende Cadena 3 (LV3), gefolgt von LV2 und dem kultur- und wissenschaftlich orientierten Radio Universidad der Universität UNC. Die meisten Sender spielen reine Musikprogramme mit nur sporadischen textorientierten Sendungen, viele sind der Cuarteto-Musik gewidmet. Die landesweiten Fernsehsender Telefe und Canal 13 senden in Córdoba über die Partnersender Teleocho und Canal 12 ein Regionalprogramm mit eigenen Produktionen. Der von der UNC abhängige Canal 10 sendet neben eigenen Produktionen auch Formate des staatlichen Canal 7 und der Privatsender América TV und Canal 9 aus Buenos Aires. Er gilt als Sender mit dem anspruchsvollsten Programm und zeigt auch Nischenthemen und alternative Produktionen. Zudem gibt es einige Kabelsender wie Suquía, der sich größtenteils aufs Ausstrahlen von Cuarteto-Musik beschränkt. Tourismus Die Stadt wird jährlich von mehreren Hunderttausend Touristen besucht. Ziel sind vor allem die kolonialen Bauwerke im Zentrum sowie die Museen und kulturellen Institutionen. Das westliche Umland der Stadt um Villa Carlos Paz, aber auch in den Vororten Río Ceballos und Alta Gracia gehört zu den bekanntesten Touristengebieten des Landes, nach der Atlantikküste und den Südanden. Verkehr Fernverkehr Der Flughafen der Stadt, Ingeniero Taravella (IATA-Code COR), auch als Pajas Blancas bekannt, ist der drittwichtigste des Landes nach den zwei Flughäfen von Buenos Aires. Er wurde 2006 erneuert und ausgebaut und hat seitdem eine Kapazität von drei Millionen Fluggästen im Jahr. Seit der Luftfahrts-Krise ab 2002, als Folge der Abwertung in der Argentinien-Krise die Passagierzahlen stark zurückgingen, sind die Verbindungen im Vergleich zu den 1990er-Jahren stark ausgedünnt worden. Internationale Direktverbindungen gibt es zurzeit (2016) nach Brasilien, Chile, Panama und Peru. Zentrum des Mittelstreckenverkehrs sowie des inländischen Fernverkehrs ist der Busbahnhof (Terminal de Omnibus), von dem aus es Verbindungen in beinahe alle wichtigen Städte Argentiniens gibt, ebenso internationale Verbindungen nach Chile, Uruguay und Brasilien (direkt) sowie nach Bolivien, Peru, Ecuador und Paraguay (mit Umsteigen). Der Busbahnhof wurde 2011 um ein zweites Abfertigungsgebäude erweitert und ist seitdem mit über hundert Bussteigen einer der größten des Landes. Die Stadt hat mehrere Bahnhöfe und war bis 1992 ein bedeutendes Zentrum des Schienenverkehrs, bis die Privatisierungspolitik der Regierung Carlos Menem zur Einstellung fast des gesamten Eisenbahnfernverkehrs des Landes führte. Nur zwei der Bahnhöfe sind derzeit in Betrieb, die Estación Mitre im Zentrum unweit des Busbahnhofs und die Estación Rodríguez del Busto im Nordwesten, der nur für die Nahverkehrszüge Tren de las Sierras genutzt wird. Von Córdoba Mitre aus wöchentlich zweimal ein Nahverkehrszug nach Villa María und ein Fernzug zwei- bis dreimal wöchentlich nach Rosario und Buenos Aires. Im Mai 2006 wurde mit den Planungen für eine regelspurige Schnellfahrstrecke (TAVe) begonnen, die unter Nutzung von bestehenden Meter- und Breitspurstrecken bis Buenos Aires und später bis Mar del Plata führen sollte; die Realisierung des Projekts ist jedoch nach langjährigen Verzögerungen ungewiss. Das Fernstraßennetz der Region ist sternförmig auf Córdoba aus gerichtet. Von besonderer Bedeutung ist die Ruta Nacional 9, die die Stadt mit Buenos Aires und Rosario im Südosten und mit Santiago del Estero, San Miguel de Tucumán, Salta und San Salvador de Jujuy im Nordwesten verbindet. Sie ist auf dem Abschnitt südöstlich von Córdoba seit 2010 durchgehend zur Autobahn ausgebaut, während der Nordabschnitt nach Santiago del Estero nur streckenweise erweitert wurde. Die Ruta Nacional 20 nach San Juan verbindet Córdoba mit dem Cuyo und ist bis Villa Carlos Paz eine Autobahn. Die Hauptverbindungen nach Santa Fe (Ruta Nacional 19) und Río Cuarto sowie Patagonien (Ruta Nacional 36) wurden ab den frühen 2010er Jahren graduell autobahnähnlich ausgebaut. Öffentlicher Personennahverkehr Der öffentliche Personennahverkehr der Stadt hat seine Ursprünge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Stadt wegen des Zustroms von Einwanderern schnell zu wachsen begann. Im Jahr 1879 wurde als erstes öffentliches Nahverkehrsmittel der Stadt eine Pferdestraßenbahn installiert. Wegen des warmen, aber auch wechselhaften Klimas waren ein Teil der Wagen in offener Bauweise gebaut. 1909 wurde das Straßenbahnnetz elektrifiziert, wobei die offene Bauweise beibehalten wurde, indem die Wagen mit sehr großen, aufklappbaren Fenstern ausgerüstet wurden. Ab 1930 begannen nach dem Vorbild von Buenos Aires zunehmend Busse (colectivos) zu verkehren. In den 1940er und 1950er Jahren geriet die Straßenbahngesellschaft vor allem wegen dieser neuen Konkurrenz zunehmend in wirtschaftliche Probleme, die nicht behoben werden konnten. Dies führte 1962 zur Gesamtstilllegung des Netzes. Seit diesem Jahr wird der öffentliche Personennahverkehr fast ausschließlich auf der Straße bewältigt. Die heute etwa 60 innerstädtischen Buslinien (urbanos) sind in einem Farbschema organisiert, wobei jede Farbe einen von sechs Korridoren repräsentiert; zusätzlich gibt es zwei Ringlinien (Anillo Interior und Anillo Exterior) sowie drei Oberleitungsbus­linien. Für die Zahlung werden Magnetkarten verwendet. Das Stadtbussystem wird einerseits von der Stadtregierung im Staatsbetrieb TAMSE (Transportes Automotores Municipales Sociedad del Estado), der die Obuslinien betreibt, zum großen Teil aber von privaten, von der Stadt subventionierten Unternehmen (Coniferal, Transportes Santa Fe und ERSA) betrieben. Es ist oft Zielpunkt von Kritik, da die Frequenzen niedrig und die Busse daher häufig überfüllt sind. Die Stadtlinien werden von etwa 30 Vorortlinien (interurbanos) ergänzt, die alle von privaten Trägern betrieben werden. Jedes Busunternehmen hat ein eigenes Tarifsystem, es gibt jedoch einen Rahmen, der von der Provinz diktiert wird und deren Preise nicht überschritten werden dürfen. Einige Vorortlinien, vor allem die Linien nach Villa Carlos Paz, haben höhere Frequenzen als die meisten Stadtbuslinien. 2009 begann der Betrieb des Tren Metropolitano Córdoba, eines Stadtbahnnetzes, damals unter dem Namen Ferrourbano. Die erste Linie, am 18. Juni 2009 eingeweiht, führte vom Bahnhof Belgrano im Viertel Alta Córdoba nach Rodríguez del Busto im Nordwestteil. Weitere in Bau befindliche Linien schließen diese Strecke an den innerstädtischen Fernbahnhof Mitre sowie die Bahnhöfe Ferreyra und Flores im Süden der Stadt an. Wegen Sicherheitsproblemen in einem Elendsviertel wurde die erste Linie zunächst nicht als vollwertige Stadtbahn betrieben und 2012 wieder eingestellt. Seit 2021 verkehrt die Stadtbahn wieder auf der Belgrano-Bahnstrecke zwischen den beiden Endbahnhöfen Belgrano und Mitre im Stadtgebiet und La Calera. Zeitweise existierte ein Projekt zum Bau von zwei U-Bahn-Linien, das jedoch (Stand 2023) nicht umgesetzt wurde. Ergänzt wird das Verkehrssystem von Taxis und Remises, einer Art Funktaxis. Während die Taxis gelb gestrichen sind, sind die Remises grün und dürfen offiziell Passagiere nur nach Bestellung per Telefon aufnehmen. In den Krisenjahren 2002 und 2003, als das Bussystem besonders schlecht funktionierte, nahmen die Taxis und Remises Fahrgäste für Busmünzen mit, fungierten also als Sammeltaxis, auch wenn die sehr strengen gesetzlichen Regelungen für diese Art des Verkehrs dies nicht erlaubten. Zudem gab es zeitweise private, nicht genehmigte Busse und Kleinbusse, sogenannte piratas, die oft in sehr schlechtem Zustand waren und Fahrgäste für denselben Preis wie die normalen Busse beförderten. Für Aufsehen sorgte 2003 ein Projekt, diese illegalen Unternehmen zur Erhöhung der Frequenzen zu legalisieren, das aber unter anderem wegen der sich bessernden wirtschaftlichen Situation, die die Modernisierung des Fuhrparks erlaubte, nicht umgesetzt wurde. Städtisches Straßennetz Die Straßen von Córdoba sind überwiegend nach dem Schachbrettmuster angelegt. In der Innenstadt, aber auch in den meisten Stadtvierteln, sind die meisten Straßen Einbahnstraßen, die zum Teil mehr als fünf Spuren aufweisen (Spitzenreiter ist der Boulevard Chacabuco/Avenida Maipú, eine achtspurige Einbahnstraße). Umgeben wird Córdoba von der Avenida Circunvalación, einer Ringautobahn. Ein innerer Straßenring, Ronda Urbana genannt, wurde teilweise umgesetzt. Außerdem gibt es den Anillo del Gran Córdoba, auch Ruta Provincial C-45, ein äußeres Ringsystem um den Vorortgürtel der Stadt, der sie in einem Radius von etwa 50 km umfährt. Es fehlt jedoch ein umfangreiches Teilstück im Osten. Bildung und Wissenschaft Das Bildungsniveau der Bürger der Stadt ist überdurchschnittlich. Von den Einwohnern über 15 Jahren haben 12,23 % eine universitäre Ausbildung (Landesdurchschnitt: 8,73 %), 33,13 % eine abgeschlossene Oberschulausbildung (24,49 %), 42,60 % die abgeschlossene Grundschulbildung ohne Oberschule (48,87 %) und nur 12,04 % keine abgeschlossene Grundschulausbildung (17,90 %). 1,33 % sind Analphabeten. Die Stadt hat mehrere Universitäten. Die größte und bekannteste ist die 1613 gegründete Universidad Nacional de Córdoba (UNC) mit etwa 118.000 Studenten (2005), sie ist die älteste Universität Argentiniens überhaupt sowie die zweitgrößte nach der Anzahl der Studierenden. Es folgen die auf Ingenieurwissenschaften spezialisierte Universidad Tecnológica Nacional (UTN), die im Land mehrere Filialen betreibt, das ebenfalls staatliche Instituto Universitario Aeronáutico, die Studiengänge rund um die Luftfahrt anbietet, und die von der katholischen Kirche abhängige Universidad Católica de Córdoba, außerdem gibt es die privaten Universidad Blas Pascal und Universidad Empresarial Siglo 21 sowie zahlreiche nicht als Universitäten geltende, staatliche und private Hochschulen, die sogenannten Terciarios, vergleichbar in etwa mit Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen. Die von der Stadtregierung abhängige Universidad Libre del Ambiente ist keine Universität im herkömmlichen Sinne, sondern ein wenig formelles Institut, das Kurse und Kampagnen zum Thema Umweltschutz anbietet. Der Wissenschaftsbetrieb findet hauptsächlich in den Fakultäten der UNC und dort insbesondere in der medizinischen Forschung, in der Robotik und Bionik sowie im Centro de Estudios Avanzados (Zentrum für fortgeschrittene Studien) statt, das in den Sozialwissenschaften aktiv ist. Außerdem gibt es eine Reihe privater Forschungseinrichtungen in diversen Gebieten. Die Schulen der Stadt sind von mehreren, meist staatlichen Trägern organisiert, die meisten hängen von der Stadt (municipio) und der Provinz Córdoba ab, es gibt aber auch zahlreiche private und kirchliche Schulen. Die bekanntesten Einrichtungen sind die von der UNC abhängigen Colegio Nacional de Montserrat und Escuela Manuel Belgrano, daneben gibt es auch unter anderen auch eine deutsche Schule (Colegio Alemán). Sicherheit und Kriminalität Der Polizeidienst der Stadt steht auf drei Pfeilern. Die Policía Federal (Bundespolizei) hängt vom Staat Argentinien ab und kümmert sich um die Einhaltung der Bundesgesetze, beispielsweise der Bekämpfung des Drogen- und Waffenhandels. Die Policía de Córdoba hängt von der Provinz ab und stellt den bei weitem größten Teil der Sicherheitskräfte. Sie kümmert sich um die Einhaltung der Provinzgesetze und übernimmt auch die Aufgabe der Bewachung und Sicherung privater und öffentlicher Einrichtungen. Ihre bekannteste Division ist das Comando de Acción Preventiva (C.A.P., deutsch Präventives Aktionskommando), das in geländegängigen Fahrzeugen die Aufgabe des präventiven Patrouillierens durch Stadt und Umgebung sowie die Vornahme von Polizeikontrollen übernimmt. Daneben gibt es die Policía Municipal, die Gemeindepolizei, die allerdings mit weit weniger Befugnissen als Provinz- und Bundespolizei ausgestattet ist, sie darf zum Beispiel keine Festnahmen vornehmen. Sie kümmert sich um die Einhaltung der Gemeindenormen, ihr unterstehen die Policía de Tránsito (Verkehrspolizei) und zahlreiche weitere Divisionen, die die Einhaltung der Normen für die Betriebe und Einrichtungen der Stadt, etwa Brandschutzbestimmungen, kontrollieren. Die Touristendivision verfügt auch über deutschsprachiges Personal. Offizielle Statistiken zur Kriminalität gibt es in Córdoba nur auf Provinzebene. Im Jahr 2003 wurden in der gesamten Provinz Córdoba 136.892 Delikte gezählt, dies ergibt eine Kriminalitätsrate von etwa 24 Delikten pro 100.000 Einwohner. Unter allen Straftaten waren 139 Tötungsdelikte, die Mordrate liegt bei 4,6 (Totschlag eingeschlossen) pro 100.000 Einwohner. Im Jahr 2007 publizierte die Zeitung La Voz del Interior Zahlen zur Mordrate für die eigentliche Stadt; danach wurden im Jahr 2006 74 Tötungsdelikte in Córdoba gezählt (Mordrate 5,8 / 100.000 Einwohner), von denen nur 26 aufgeklärt werden konnten. Der Wert liegt damit höher als im Provinzdurchschnitt und auch über dem Wert von Buenos Aires (4,6). Das größte Gefängnis des Ballungsraums Córdoba liegt nahe dem Ort Bouwer, etwa 25 Kilometer südlich des Stadtzentrums. Es gibt einige Gebiete in der Stadt, die in den Medien als sogenannte Rote Zonen bezeichnet werden, um zu signalisieren, dass sie eine deutlich höhere Kriminalitätsrate aufweisen als andere. Die meisten dieser Gebiete liegen an der südlichen Peripherie nahe der Ringautobahn Avenida Circunvalación, vor allem das große Arbeiterviertel Villa El Libertador wird immer wieder als Kriminalitätsschwerpunkt genannt, ebenfalls die großen Elendsviertel im Südwesten (La Tela) und Nordosten (General Savio-La Escuelita). Offizielle statistische Daten zur Verteilung der Delikte auf die Stadtviertel gibt es allerdings bisher keine. Sport Fußball Die populärste Sportart in Córdoba ist wie in ganz Argentinien Fußball. Es wird außer auf den offiziellen Sportplätzen auf unzähligen Bolzplätzen und auf der Straße gespielt. Es gibt vier Profi-Vereine, die jeweils aus verschiedenen Stadtvierteln stammen und somit eine bestimmte sozio-ökonomische Schicht repräsentieren. Seit der Saison 2011 spielt Club Atlético Belgrano aus dem Arbeiterviertel Alberdi in der ersten Liga Primera División. Talleres aus dem von der Mittelschicht geprägten Barrio Jardín (Gartenviertel) gilt als Erzrivale von Belgrano. Der Verein spielt zurzeit außerdem in der ersten Liga (Primera División) und kann einen internationalen Erfolg aufweisen: den Gewinn der südamerikanischen Copa Conmebol 1999. Seit dem Wiederaufstieg in der Saison 2015/16 konnte sich Talleres in der Saison 2017/18 für die Copa Libertadores 2018, den größten südamerikanischen Fußballwettbewerb qualifizieren, weil er die Saison mit Platz 5 beendeten. Außerdem ist Instituto Atlético Central Córdoba aus dem Viertel Alta Córdoba zu nennen, das ebenfalls in der Nacional B spielt. Belgrano, Talleres und Instituto waren bisher mehrmals erstklassig. In der vierten Liga, dem Torneo Argentino B, spielt der Verein Racing de Nueva Italia, dessen Fans mit Instituto rivalisieren. In der gleichen Liga spielt mit General Paz Juniors die einzige Profimannschaft der Stadt aus einem Viertel der Oberschicht. Neben diesen im landesweiten Ligasystem aktiven Vereinen und weiteren im Torneo Argentino C (5. Liga) gibt es zahlreiche Stadtteilklubs, die im Ligensystem der Provinz Córdoba spielen. Das größte Fußballstadion ist das 1978 zur Weltmeisterschaft erbaute Estadio Mario Alberto Kempes (früher Estadio Córdoba) im Parque San Martín, das nach dem benachbarten Schloss Chateau Carreras auch Chateau genannt wird. Es hat nach einer Erweiterung im Jahr 2011 eine Kapazität von 57.000 Zuschauern und gehört damit zu den größten Sportstadien Argentiniens. Weitere große Stadien sind das von Instituto genutzte Estadio Presidente Juan Domingo Perón in Alta Córdoba (30.000 Zuschauer) und das von Belgrano betriebene Estadio Julio César Villagra (auch bekannt als Gigante de Alberdi, 28.000). Das Estadio Boutique de Barrio Jardín von Talleres wird wegen seiner geringen Kapazität (16.500) in der Regel nur bei wenig bedeutenden Spielen genutzt, ansonsten spielt Talleres im Estadio Kempes. Im Estadio Córdoba fand bei der Fußball-WM am 21. Juni 1978 das bisher letzte Spiel im Rahmen einer Welt- oder Europameisterschaft statt, bei dem die österreichische Fußballnationalmannschaft die deutsche Nationalmannschaft besiegte; das Spiel endete 3:2. „Córdoba“ wird in Österreich seitdem als Synonym für Erfolg im Fußball verwendet, in Deutschland gilt die Schmach von Córdoba (in Österreich Wunder von Córdoba) dagegen als schlimme Niederlage. Zudem schied die deutsche Nationalmannschaft als amtierender Weltmeister durch die Niederlage aus dem Turnier aus. Andere Sportarten Im Basketball residiert in Córdoba der Rekordmeister der argentinischen Liga, Atenas (bisher 8 Titel seit 1987). Er gilt als einer der besten Vereine der Welt außerhalb der US-amerikanischen NBA und gewann bisher sechsmal eine südamerikanische Meisterschaft. Tennis ist ein beliebter Sport in der Mittel- und Oberschicht der Stadt. Der Profi David Nalbandian, der in der Weltrangliste zeitweise in den Top 10 stand und damit der bestplatzierte Argentinier war, kommt aus dem Cordobeser Vorort Unquillo. Außerdem ist in dieser sozialen Klasse Hockey besonders bei Mädchen und jungen Frauen sehr beliebt. Pferdesportarten wie Pferderennen und Polo sind in Córdoba weit weniger beliebt als in Buenos Aires. Nur etwa zehnmal im Jahr wird ein Rennen im Hipódromo, der Pferderennbahn in Barrio Jardín im Süden der Stadt ausgetragen. Polo-Turniere im Raum Córdoba gehören den niedrigeren Spielklassen an und werden in der Regel nur vor kleinem Publikum ausgetragen. Relativ beliebt ist dagegen Boxen. Die Kämpfe werden meist im Hallenstadion Orfeo Superdomo im Nordwesten der Stadt ausgetragen. Der bekannteste Boxer ist Fabio Moli (Schwergewicht), bekannt als „La Mole“. Moli wurde in Deutschland im Jahr 2003 bekannt, da er bei einem Kampf gegen Wladimir Klitschko schon nach 109 Sekunden in der ersten Runde k.o. geschlagen wurde. Persönlichkeiten In Córdoba wurden zahlreiche berühmte Argentinier geboren. Daneben haben viele Politiker und Wissenschaftler, insbesondere in der Kolonialzeit und im 19. Jahrhundert, an der Universität von Córdoba studiert, die lange Zeit die größte und bedeutendste des Landes war. Söhne und Töchter der Stadt: Horacio José Álvarez (* 1957), römisch-katholischer Geistlicher, Weihbischof in Córdoba Marcelo Álvarez (* 1962), Opernsänger Roberto Álvarez (* 1968), römisch-katholischer Geistlicher, Weihbischof in Comodoro Rivadavia Alberto Ammann (* 1978), Schauspieler Osvaldo Ardiles (* 1952), Fußballspieler Jorge Arduh (* 1923), Tango-Musiker und Komponist Facundo Argüello (* 1992), Tennisspieler Georgina Bardach (* 1983), Schwimmerin Eduardo Bengoechea (* 1959), Tennisspieler Agustín Bernasconi (* 1996), Sänger und Schauspieler Héctor Bianciotti (1930–2012), Schriftsteller Efraín Bischoff (1912–2013), Schriftsteller und Geschichtswissenschaftler Rodrigo Alejandro Bueno (1973–2000), Cuarteto-Sänger mit dem Beinamen „El Potro“ Jorge Calvo (1961–2023), Paläontologe Arturo Capdevila (1889–1967), Schriftsteller und Dichter Danilo Carando (* 1988), Fußballspieler Celia Caturelli (* 1953), Bildende Künstlerin Juan Caviglia (1929–2022), Turner Miguel Juárez Celman (1844–1909), Präsident von Argentinien zwischen 1886 und 1890 Roberto Damián Colautti (* 1982), israelischer Fußballspieler Fabricio Coloccini (* 1982), Fußballspieler Héctor Colomé (1944–2015), Schauspieler Román Antonio Deheza (1791–1872), General und Gouverneur Santiago Derqui (1809–1867), Präsident von Argentinien zwischen 1860 und 1861 Sofía Dragonetti (* 1993), Handballspielerin Clarisa Fernández (* 1981), Tennisprofi Juan Filloy (1894–2000), Schriftsteller Facundo Gambandé (* 1990), Schauspieler, Sänger und Tänzer Agustina García (* 1981), Hockeyspielerin Sofía Gatica (* 1967), Umweltaktivistin, Trägerin des Goldman Environmental Price 2012 Deán Gregorio Funes (1749–1829), Geistlicher und Politiker, Mitglied der ersten Junta 1810 Minino Garay (* 1968), Jazz-Schlagzeuger und Perkussionist Pedro Giraudo (* 1977), Jazz- und Tangomusiker Raúl Giró, Jazz- und Tangomusiker Javier Girotto (* 1965), Jazzmusiker Gerardo Di Giusto (* 1961), Komponist und Pianist Gabriela González (* 1965), Physikerin Paulina Gramaglia (* 2003), Fußballspielerin Cástulo Guerra (* 1945), Schauspieler Irmgard Hoffmann (1911–nach 1961), deutsche Schauspielerin Julieta Jankunas (* 1999), Hockeyspielerin „La Mona“ (Carlos Jiménez) (* 1951), Sänger Manolo Juárez (1937–2020), Komponist Luis Juez (* 1963), Politiker, Bürgermeister von Córdoba Malena Kuss (* 1940), Musikwissenschaftlerin José Luis Leyva (* 1962), Fußballspieler Juan Ignacio Londero (* 1993), Tennisspieler Víctor Rubén López (* 1978), Fußballspieler Gonzalo Damian Marronkle (* 1984), Fußballspieler Enrique Martínez Ossola (* 1952), römisch-katholischer Geistlicher, Weihbischof in Santiago del Estero Juan Carlos Menseguez (* 1984), Fußballspieler (bis 2007 beim VfL Wolfsburg) Tununa Mercado (* 1939), Schriftstellerin und Journalistin Giuliano Modica (* 1991), Fußballspieler Alejandro Musolino (* 1971), römisch-katholischer Ordensgeistlicher, Weihbischof in Córdoba Carlos José Ñáñez (* 1946), katholischer Erzbischof von Córdoba Erik Oña (1961–2019), Komponist, Dirigent und Musikpädagoge Ciriaco Ortiz (1905–1970), Bandoneonist, Bandleader und Tangokomponist Raúl Páez (* 1937), Fußballspieler Javier Pastore (* 1989), Fußballspieler Cristian Pavón (* 1996), Fußballspieler José María Paz (1791–1854), General in den Unabhängigkeitskriegen Gabriel Pérez (* 1964), Jazzmusiker und Komponist Abel Posse (1934–2023), Schriftsteller und Diplomat Florencia Quiñones (* 1986), Fußball- und Futsalspielerin Ana-Maria Rizzuto (* 1932), Psychoanalytikerin Catalina de María Rodríguez (1827–1896), römisch-katholische Ordensfrau und Gründerin der Kongregation der Hermanas Esclavas del Corazón de Jesús (Dienerinnen des Herzen Jesu) Eduardo Romero (1954–2022), Profigolfer Ángel Sixto Rossi (* 1958), katholischer Ordensgeistlicher, Erzbischof von Córdoba Fernando de la Rúa (1937–2019), argentinischer Politiker (UCR) und Präsident von Argentinien (1999–2001) Antonio Seguí (1934–2022), Maler und Bildhauer José Manuel de la Sota (1949–2018), Politiker (PJ) José Shaffer (* 1985), Fußballspieler Hans Siewert (1872–1941), deutscher Apotheker, Opernsänger und Regisseur Silvana Suárez (* 1958), Model (Miss World 1979) Alicia Terzian (* 1934), Komponistin Pedro Javier Torres (* 1960), katholischer Geistlicher, Bischof von Rafaela Manuel Trajtenberg (* 1950), israelischer Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Jorge Uliarte (* 1962), Dirigent Ernesto Garzón Valdés (* 1927), Rechts- und Politikwissenschaftler Carlos Wetzell (1890–1973), deutscher Jurist und Industriemanager Hugo Wast (1883–1962), Schriftsteller Roberto Yanés (1932–2019), Sänger Literatur María del Carmen Angueira: Historia de la ciudad de Córdoba. Biblos, Buenos Aires 1991, ISBN 950-9316-87-3 Raúl Mercado, Mirta Moore: Geografía de Córdoba. Troquel, Buenos Aires 2001, ISBN 950-16-6502-X José María Rettaroli (Hrsg.): Los Barrios Pueblos de la Ciudad de Córdoba. Eudecor, Córdoba 1997, ISBN 987-9094-29-8 Vera de Flachs, María Cristina: Las colectividades extranjeras Córdoba 1852–1930: identidad e integración. Junta Provincial de Historia de Córdoba, Córdoba 1999 Beatriz Moreyra, Félix Converso u. a.: Estado, mercado y sociedad: Córdoba, 1820–1950. Centro de Estudios Históricos, Córdoba 2000, ISBN 987-9064-43-7 Weblinks Statistische Informationen über Córdoba (spanisch) Córdoba-Portal mit Schwerpunkt Kultur (spanisch) Weiteres Córdoba-Portal (spanisch) Quellen Argentinische Provinzhauptstadt Millionenstadt Hochschul- oder Universitätsstadt
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Weinsberg
Weinsberg ist eine Stadt im Landkreis Heilbronn, fünf Kilometer östlich von Heilbronn im fränkisch geprägten Nordosten Baden-Württembergs. Die Stadt wurde um das Jahr 1200 gegründet und hat Einwohner (Stand ). Sie liegt am Eingang des nach ihr benannten, von der Sulm und ihren Zuflüssen gebildeten Weinsberger Tales zwischen Neckar und den Löwensteiner Bergen. Bekannt ist Weinsberg für den Weinbau, der über Jahrhunderte hinweg zentral für die Stadt war und immer noch eine wichtige Rolle spielt, und für die aus dem frühen 11. Jahrhundert stammende Burgruine Weibertreu. Deren Name ist seit langem unzertrennlich mit den Treuen Weibern von Weinsberg verknüpft, die im Jahre 1140 ihre zum Tode verurteilten Männer retteten und denen die Stadt die seit 2022 offiziell geführte Zusatzbezeichnung Weibertreustadt verdankt. Heute ist die Stadt der Zentralort des Weinsberger Tales mit ausgeprägter Infrastruktur und ein Unterzentrum mit mittelzentralen Funktionen. Geographie Geographische Lage Weinsberg liegt im Naturraum Schwäbisch-Fränkische Waldberge im östlichen Landkreis Heilbronn im Nordosten Baden-Württembergs, zwischen dem Neckar im Westen und den Löwensteiner Bergen im Osten. In den Löwensteiner Bergen entspringt der kleine Fluss Sulm, der nach etwa 20 km in den Neckar mündet. Das von der Sulm und ihren Zuflüssen gebildete Tal wird auch Weinsberger Tal genannt. Die Stadt liegt hauptsächlich im und auf den Hängen des Tales des Stadtseebaches (auch Saubach genannt), eines südlichen Zuflusses der Sulm. Die Sulm fließt zwar durch Weinsberger Gebiet, aber nicht durch die Stadt selbst, und nur ein kleiner Teil der Stadt liegt am Rand des Sulmtales im Norden der Stadt. Nordwestlich des Stadtkerns erhebt sich der Burgberg mit der Burgruine Weibertreu, westlich davon der Schemelsberg. Beide Berge werden intensiv für den Weinbau genutzt. Im Osten erstreckt sich das Sulmtal, südlich des bebauten Gebietes das Stadtseebachtal und das Brühltal. Im Süden und Westen grenzt das Stadtgebiet an die Heilbronner Berge, das sind bewaldete Ausläufer der Löwensteiner Berge, die im Osten mit dem Reisberg beginnen und sich über den Hintersberg und die Waldheide bis zum Galgenberg und Wartberg im Westen erstrecken. Die Beschreibung des Oberamts Weinsberg von 1861 vermerkt: „Die Lage der Stadt ist im Allgemeinen eine gesunde und sehr milde, gegen Nordwesten durch den Burgberg, an den sie sich anlehnt, gedeckt, gegen Süden den Sonnenstrahlen offen, vor den Nebeln des westlichen Neckarthales durch den dazwischenliegenden Jägerhaus-, Galgen- und Wartberg geschützt.“ An den Wartberg schließt sich im Nordwesten das Tal des Stadtseebaches an, nördlich davon der oben erwähnte Schemelsberg. Das Sulmtal nördlich des Schemelsberges wird von der Bundesautobahn 6 dominiert, die sich nordöstlich der Stadt, unterhalb des Ranzenbergs im Nordosten, mit der A 81 im Autobahnkreuz Weinsberg trifft. Nördlich des Sulmtals schließt sich die bewaldete Sulmer Bergebene an. Die A 81 Richtung Stuttgart verläuft ungefähr entlang der östlichen Gemarkungsgrenze Weinsbergs. Der tiefste Punkt der Gemarkung liegt mit an der Sulm, in den Weißenhofwiesen an der Grenze zu Erlenbach, der höchste mit am Nordhang des Reisberges an der südöstlichen Gemarkungsgrenze zu Heilbronn. Geologie Weinsberg liegt am Rand der Keuperstufe der Löwensteiner Berge, deren Ausläufer sich bis nach Neckarsulm und Öhringen erstrecken. Der Burgberg und der Schemelsberg sind Zeugenberge, die Sulm und Stadtseebach vom restlichen Gebirgsstock abgetrennt haben. Beide haben eine Schicht aus Schilfsandstein, der auch zum Bau der Burg und der Johanneskirche verwendet wurde. Am Burgberg wurde von 1811 bis 1867 Gips abgebaut. Das Loch, das der Gipsabbau im Berg hinterlassen hatte, wurde in den 1950er-Jahren wieder zugeschüttet und in Weinberge der örtlichen Weinbauschule umgewandelt. Im Umkreis von Weinsberg wurden früher an die zehn Schilfsandsteinbrüche betrieben. Auch in Weinsberg gab es an der südwestlichen Grenze zu Heilbronn sowie auf dem Burgberg Steinbrüche (letzterer allerdings sehr klein). Ausdehnung des Stadtgebiets Das Weinsberger Stadtgebiet umfasst 22,20 km², wovon 13,94 km² auf Weinsberg, 3,36 km² auf Gellmersbach, 2,10 km² auf Grantschen und 2,80 km² auf Wimmental entfallen (Stand: 30. Juni 2011). Seit den Eingemeindungen kann die Form des Stadtgebietes am ehesten mit einem unregelmäßigen (Griechischen) Kreuz verglichen werden, wobei Weinsberg selbst den kurzen West- und den verdickten Südbalken darstellt, Gellmersbach den Nordbalken und Grantschen und Wimmental den verlängerten Ostbalken. Die Ausdehnung in Nord-Süd-Richtung beträgt etwa 8,6 km, in West-Ost-Richtung etwa 9,3 km. In den Jahren 1957 sowie 1988–2012 verteilte sich die Flächennutzung wie folgt (Flächenangaben in ha, Quelle 1957:; 1988–2016: ): Diagramm: Flächenaufteilung für das Jahr 2014 Die Siedlungsfläche nimmt kontinuierlich zu, da Weinsberg nach wie vor Baugebiete ausweist. Umgekehrt dazu nimmt die landwirtschaftlich genutzte Fläche ab. Der städtische Waldbesitz beträgt insgesamt 567 ha. Neben 426 ha Wald auf den Markungen Weinsbergs und seiner Ortschaften besitzt die Stadt auch noch 141 ha Wald auf der Markung von Gemmingen, der am 29. Juli 1936 erworben wurde, als Ausgleich für Weinsberger Gebietsabgaben an den Staat für Militärzwecke (Einrichtung eines Standortübungsplatzes im Umfeld der Waldheide). Nachbargemeinden Nachbarorte Weinsbergs sind (im Uhrzeigersinn, beginnend im Westen): die Stadt Heilbronn (Stadtkreis) und die Gemeinden Erlenbach, Eberstadt, Bretzfeld (Hohenlohekreis), Obersulm, Ellhofen und Lehrensteinsfeld. Bis auf Heilbronn und Bretzfeld gehören alle zum Landkreis Heilbronn. Zusammen mit Eberstadt, Ellhofen und Lehrensteinsfeld bildet Weinsberg den Gemeindeverwaltungsverband „Raum Weinsberg“ mit Sitz in Weinsberg. Für diese vier Gemeinden ist die Stadt Weinsberg als Unterzentrum mit einzelnen mittelzentralen Funktionen festgelegt; das zugehörige Mittel- und Oberzentrum ist die Stadt Heilbronn. Stadtgliederung Weinsberg besteht aus der Kernstadt und den 1973/1975 eingemeindeten Ortschaften Gellmersbach, Grantschen und Wimmental. Außerhalb der geschlossenen Bebauung befinden sich auch die zu Weinsberg selbst gehörenden Wohnplätze Weißenhof (mit Klinikum), Rappenhof und Stöcklesberg, ohne dass es sich dabei jedoch um eigene Ortschaften handelt. Abgegangene, heute nicht mehr bestehende Orte auf Weinsberger Markung sind u. a. Bodelshofen, Burkhardswiesen (bzw. Burchardeswiesen), Holßhofen, In dem Gründe, Lyndach, Uff dem Wier und Wolfshöfle. Klima Das Klima ist durch die geschützte Tallage meistens mild und begünstigt den ausgiebig betriebenen Weinbau. Die durchschnittliche Jahrestemperatur lag lt. Daten des Deutschen Wetterdienstes in der Normalperiode 1961–1990 bei 9,6 °C, der jährliche Niederschlag bei 757,7 mm, die jährliche Sonnenscheindauer bei 1638,7 Stunden. Nach Wetterdaten der Weinbauschule Weinsberg, die eine eigene Wetterstation betreibt, hat sich die mittlere Jahrestemperatur in Weinsberg von 1900 bis 2006 von 9,2 °C auf 10 °C erhöht. Geschichte Vorgeschichte und Altertum Die früheste bekannte Siedlungsspur in Weinsberg ist eine bislang nicht näher erforschte Gruppe von Grabhügeln, die sich im Wald des Gewanns Jungberg befindet, nahe der sogenannten Kaiserforche an der Stadtgrenze zu Heilbronn. Es wird vermutet, dass die Grabhügel der Hallstattzeit zuzuordnen sind. Im 19. Jahrhundert wurde auf Weinsberger Gemarkung eine keltische Silbermünze (Typ Kreuzmünze) aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. gefunden. Die Münzinschrift „V,O,L,C“ kann dem keltischen Stamm der Volcae zugeordnet werden, der damals u. a. in Süddeutschland lebte. Damit ist zu vermuten, dass sich zu dieser Zeit Kelten zumindest zeitweise im Gebiet des heutigen Weinsberg aufgehalten haben. Die ersten sicher bekannten Siedler auf Weinsberger Gebiet jedoch waren die Römer. Durch das heutige Stadtgebiet verlief im 2. Jahrhundert eine Römerstraße, die vom (ehemaligen) Kastell Böckingen des Neckarlimes zu den Kastellen des Obergermanischen Limes in Öhringen führte. An dieser Straße wurde unterhalb des späteren Burgberges zwischen 148 und 161 n. Chr. ein römischer Gutshof (villa rustica) errichtet, der bis zur Zerstörung durch Alamannen 234 oder 259/260 bestand. Das Badehaus dieses Gutshofes (in Weinsberg bekannt als Römerbad) wurde 1906 ausgegraben und konserviert, Teile des restlichen Gutshofes 1977. Mittelalter Die Alamannen wurden um 500 von den Franken verdrängt, die im 7. Jahrhundert auf Weinsberger Gemarkung westlich des Weißenhofes, zwischen Erlenbach und Gellmersbach, siedelten. 778 wurde die Gegend um Weinsberg als Sulmanachgowe (Sulmgau, Hauptort vermutlich Neckarsulm) in einer Schenkungsurkunde Karls des Großen an das Kloster Lorsch erstmals erwähnt. Auf dem heutigen Gebiet der Stadt Weinsberg sind mehrere mittelalterliche Siedlungen (Bodelshofen, Burchardeswiesen, Lyndach u. a.) nachweisbar, die teilweise auch nach der Stadtgründung noch weiterbestanden, dann aber nach und nach aufgegeben wurden. Vermutlich um das Jahr 1000 wurde die Burg Weinsberg als Reichsburg auf einem Berg an der Handelsstraße von Heilbronn nach Hall errichtet. 1140 wurde die Burg von König Konrad III. im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Staufern und Welfen belagert und musste sich, nachdem das zu ihrer Befreiung herangeführte Entsatzheer Welfs VI. von den Staufern in einer Schlacht besiegt worden war, schließlich am 21. Dezember 1140 ergeben. Dem Bericht der Kölner Königschronik zufolge wurde den Frauen auf der Burg freier Abzug gewährt unter Mitnahme von dem, was jede tragen könne. Sie trugen ihre Männer herab, denen sie so das Leben retteten, da der König sich an sein Wort hielt. Die Frauen wurden als Treue Weiber bekannt. Die Burg (heute Ruine) heißt aufgrund dieser Begebenheit Weibertreu. Die Staufer setzten eine Ministerialenfamilie aus dem Gmünder Raum (Sitz in Lindach) als Verwalter auf der Burg ein, die sich bald nach ihrem Sitz „von Weinsberg“ (Herren von Weinsberg) nannte und bis 1450 die Burg als Reichslehen innehatte (mit Unterbrechungen im Nutzungsrecht). Es entstand eine Vorburgsiedlung an den Hängen des Burgberges. Eine an der Handelsstraße im Tal gelegene Marktsiedlung diente der Versorgung der Burg und der umliegenden Ortschaften. Um 1200 wurde auf Veranlassung der Herren von Weinsberg auch mit dem Bau der Johanneskirche zwischen diesen beiden Siedlungen begonnen. Zur gleichen Zeit wurde vermutlich auch die Stadt Weinsberg gegründet und mit einer Stadtmauer umgeben. 1241 setzt die schriftliche Überlieferung ein mit der Erwähnung der Stadt in einem staufischen Einkünfteverzeichnis (sogenannte Reichssteuerliste), in dem Weinsberg an 29. Stelle aufgeführt ist, ebenbürtig mit Donauwörth, Wiesbaden, Offenburg und Konstanz. Wann Weinsberg das Stadtrecht erlangte, ist unbekannt. Es muss aber vor 1283 gewesen sein, da in diesem Jahr König Rudolf I. der Stadt Löwenstein das Stadtrecht verleiht nach dem Vorbild des Stadtrechtes, das seine Vorgänger der Stadt Weinsberg verliehen hatten. Zu Beginn war Weinsberg zur Hälfte Reichsstadt, zur anderen Hälfte im Besitz der auf der Burg Weinsberg residierenden Herren von Weinsberg, die in der Stadt umfangreiche Rechte wie etwa das Kelterrecht, das Badstubenrecht und das Recht auf die Besetzung des Schultheißenamtes hatten. Diese Rechte und das Beharren der Stadt auf ihrem Status als Reichsstadt, den sie durch Beitritt zu verschiedenen Städtebünden bekräftigte, führten zu zahlreichen Streitereien zwischen Stadt und Herren. Die im frühen 13. Jahrhundert errichtete Stadtmauer um die Stadt schloss ursprünglich durch Schenkelmauern auch die Burg im Nordwesten mit ein. Im Gebiet zwischen diesen Schenkelmauern, unmittelbar unterhalb der Burg, standen Häuser für Priester, Ministeriale und Leibeigene der Herren. Vermutlich 1332 zerstörten die Weinsberger Bürger diesen Stadtteil und schlossen die Stadt im Westen gegenüber der Burg ab, wie Urkunden aus dem Jahr 1375 aussagen. In Ausnutzung der Abwesenheit zweier der drei Burgherren und gegen den Widerstand des dritten errichteten sie eine Mauer zwischen Burg und Stadt mit einem davorliegenden Graben, der als Burgweg heute noch existiert. Die Schenkelmauern wurden vermutlich gleichzeitig abgebrochen. Die Streitereien mit den Herren dauerten an. Schließlich, am 22. Mai 1417, belehnte König Sigismund seinen Reichserbkämmerer Konrad IX. von Weinsberg mit der Stadt Weinsberg, die damit vom Status einer Reichsstadt zu einer den Weinsberger Herren unterstellten Landstadt abgewertet worden wäre. Die Stadt suchte Schutz in einem weiteren Städtebund, dem Weinsberger Bund vom 27. November 1420, in dem sich 33 Reichsstädte zum Schutz der Stadt Weinsberg zusammenschlossen. Weil die Stadt sich weigerte, seine Herrschaft anzuerkennen, und auch die ihm zustehenden Abgaben nicht mehr zahlte, bewirkte Konrad IX. beim königlichen Hofgericht die am 10. Februar 1422 vom König bestätigte Acht über die volljährigen Bürger. Weil diese nichts bewirkte, folgte 1425 die Aberacht. Außerdem verhängte der Papst – vermutlich Martin V. – 1424 den Kirchenbann über sie. All das nutzte jedoch nichts, und Konrad griff zu drastischeren Maßnahmen. Er wollte die mit Weinsberg verbündeten schwäbischen Städte schädigen und erwarb zu diesem Zweck (durch Tausch gegen Weikersheim mit Pfalzgraf Otto I. von Pfalz-Mosbach) die Stadt Sinsheim, durch die einer der Hauptwege zur Frankfurter Messe führte, an dem er damit Rechte erwarb. Im August 1428 überfiel er in Sinsheim zur Messe ziehende Kaufleute und setzte 149 Kaufleute aus 20 mit Weinsberg verbündeten Städten fest, davon allein 37 aus Ulm. Die Frankfurter Messe musste ausfallen. Der König empfand das als persönliche Beleidigung und entzog Konrad seine Gunst. Die Städte einigten sich zwar im Oktober 1428 in Heidelberg mit Konrad, der König verbot ihnen aber diese Einigung. Erst 1430 kam es zu einem neuerlichen Vergleich der Parteien auf Grundlage der zwei Jahre zuvor in Heidelberg erzielten Einigung, dem der König nun zustimmte. In diesem Vertrag musste Konrad die Stadt Weinsberg als (ungeteilte) Reichsstadt anerkennen. Bereits 1440 verlor Weinsberg im Zug der Bebenburger Fehde den Status der Reichsstadt wieder. Bei dieser Fehde, die 1435 über die Besetzung einer Pfarrerstelle in Reinsberg bei Hall ausgebrochen war, standen der Würzburger Bischof und sein Stiftshauptmann Kunz von Bebenburg der Reichsstadt Hall und den mit ihr verbündeten Städten, darunter Weinsberg, gegenüber. Die Haller ließen unter Berufung auf ihre kaiserlichen Privilegien Reiter der Gegenseite als Friedensbrecher aburteilen und aufhängen, wurden dafür aber vor dem Landgericht in Würzburg und Nürnberg verurteilt. Kunz von Bebenburg warb Bundesgenossen gegen die Städte und ging in einer Kette von einzelnen Fehden, die bis 1446 andauerten, gegen sie vor. Der 1596 in Frankfurt am Main erschienenen Schwäbischen Chronik (Paraleipomenos Rerum Sueuicarum Liber) des Tübinger Professors Martin Crusius zufolge soll es einer Schar von Rittern unter Führung von Kunz von Bebenburg und Hans von Urbach am 2. September 1440 gelungen sein, einige Männer in einem großen Weinfass („Trojanisches Fass“) in die Stadt Weinsberg zu schmuggeln, die dann die Tore öffneten und so die Einnahme der Stadt ermöglichten. Am 16. September 1440 verkauften sie die Stadt für 3.000 Gulden an den Pfalzgrafen Ludwig bei Rhein. Da die mit Weinsberg verbündeten Städte die von diesem geforderte Auslöse von 7.966 Gulden nicht aufbringen konnte, wurde die Stadt Teil der Kurpfalz. 1450 kaufte Pfalzgraf Friedrich den Herren von Weinsberg die Burg und die ihnen noch verbliebenen Rechte in der Stadt ab und war damit alleiniger Besitzer Weinsbergs. Im Frühjahr 1460 konnte der kurpfälzische Amtmann Weinsbergs, Lutz Schott von Schottenstein, im Bündnis mit Bürgern der Reichsstädte Heilbronn und Wimpfen die Stadt Weinsberg gegen ein Heer des Grafen Ulrich V. von Württemberg verteidigen, der sich im Krieg mit dem Pfalzgrafen und Kurfürsten Friedrich I. befand und mit 2000 bis 3000 Mann vom Kloster Maulbronn her anrückte. Nach einem Bericht der Speyerischen Chronik verschanzten sich Schott und seine Verbündeten im Gelände und verteidigten Weinsberg erfolgreich, wobei sie außer zwei Rittern und weiteren 60 Mann auch Hans von Rechberg und einen Grafen von Helfenstein erschossen. 16. bis 18. Jahrhundert 1504 eroberte Herzog Ulrich von Württemberg im Landshuter Erbfolgekrieg Burg und Stadt Weinsberg nach dreiwöchiger Belagerung. Mit dem Uracher Vertrag von 1512 zwischen der Kurpfalz und Württemberg wurde Weinsberg dann auch offiziell württembergisch. Der Weinsberger Vogt Sebastian Breuning zählte zu den politischen Gegnern Herzog Ulrichs und wurde 1516 hingerichtet. Während der Vertreibung Herzog Ulrichs kam Weinsberg wie ganz Württemberg unter österreichische Verwaltung (bis 1534). Im Bauernkrieg wurden am 16. April 1525, Ostersonntag, Burg und Stadt von aufständischen Bauern eingenommen. Die Burg wurde geplündert und angezündet und ist seitdem Ruine. Der in Weinsberg gefangen genommene Graf Ludwig Helferich von Helfenstein, Amtmann von Weinsberg und Obervogt über alle württembergische Bauern, wurde vor den Stadtmauern mitsamt seinen Rittern und Reisigen von den Bauern durch die Spieße gejagt und getötet. Dieses Weinsberger Blut-Ostern zog die Vergeltung des Schwäbischen Bundes nach sich, der Weinsberg am 21. Mai niederbrennen ließ. Die Stadt verlor ihre Freiheiten und das Stadtrecht, ihre Einkünfte gingen künftig direkt an die Obrigkeit. Die Bürger mussten eine jährliche Buße von 200 Gulden zahlen. Bis 1534 wurden zudem Sühnegelder für die Hinterbliebenen Helfensteins von den Weinsbergern eingetrieben. Es wurde verboten, die zerstörten Häuser wieder aufzubauen; das Verbot wurde aber noch im selben Jahr wieder aufgehoben. Der Urfehdebrief vom 17. November 1525, der dieses Verbot aufhob, bestimmte auch, dass die gesamte Stadtmauer mitsamt Türmen geschleift werden sollte, was aber nicht geschah. Nach der Rückkehr Ulrichs nach Württemberg 1534 huldigte ihm Weinsberg und nannte sich fortan wieder Stadt, wenngleich ein (neues, württembergisches) Stadtrecht erst 1553 von Herzog Christoph wieder verliehen wurde. Im Schmalkaldischen Krieg wurde Weinsberg am 21. Dezember 1546 von Kaiser Karl V. ohne Kampfhandlungen eingenommen. In der Folge lagen von November 1549 bis Oktober 1551 spanische Truppen in der Stadt. Danach kehrte für mehrere Jahrzehnte Ruhe ein, die nur durch den Durchzug von Infektionskrankheiten – Englischer Schweiß (sudor anglicus) im Jahre 1529, Pest in den Jahren 1571, 1585, 1597 und 1612 – gestört wurde. Im Dreißigjährigen Krieg lagen dann mehrfach Soldaten in Weinsberg. Im September 1634 fielen kaiserliche Truppen ein, plünderten die Stadt und ermordeten zehn Menschen. 1625 und 1635 suchte erneut die Pest die Stadt heim, die bis 1640 fast zwei Drittel ihrer Einwohner verlor. Ebenfalls 1635 schenkte Kaiser Ferdinand II. Stadt und Amt Weinsberg dem Grafen Maximilian von und zu Trauttmansdorff, der beide 1646 an Württemberg zurückgab. Aufgrund dieser Episode nennen sich seine Nachfahren bis heute von Trauttmansdorff-Weinsberg. 1649 bis 1742 gehörte Weinsberg (zusammen mit Möckmühl und Neuenstadt am Kocher) hälftig zur Herrschaft Württemberg-Neuenstadt. Während dieser Zeit wurde die Stadt am 19. August 1707 durch einen großen Brand zu zwei Dritteln zerstört und danach innerhalb weniger Jahre wieder aufgebaut, wobei das mittelalterliche Stadtbild mit engen Gassen wegen der Weiterverwendung der für den Weinbau wichtigen Keller weitgehend erhalten blieb – trotz anderer Wünsche der mit dem Wiederaufbau befassten herzoglichen Baumeister, die ihre barocken Ideale der geraden, breiten Straßen als Sichtachsen nur am Marktplatz durchsetzen konnten. 1755 wurde Weinsberg Sitz eines Oberamtes (Oberamt Weinsberg). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war Weinsberg vor allem vom Weinbau und vom Mühlenwesen geprägt. Als Vorbote des industriellen Zeitalters kann die Gründung der Kleinknechtschen Fabrik im Jahr 1776 gewertet werden, die in den Folgejahren auf den Herrschaftswiesen unterhalb des Schemelsbergs mit Wasserkraft Barchent produzierte, jedoch infolge der Kontinentalsperre von 1806 und dem damit einhergehenden Rohstoffmangel wieder einging. Das Gebäude wurde daraufhin zum Spital, später zum Bezirkskrankenhaus umgenutzt. 19. Jahrhundert Der Beginn des 19. Jahrhunderts war geprägt durch die Umwälzungen, die die Koalitionskriege mit sich brachten. Das 1806 gegründete Königreich Württemberg wurde mehrfach umorganisiert, und somit auch das Oberamt Weinsberg, dessen Amtssitz jedoch bestehen blieb. Nach dem Ende der Befreiungskriege und dem Jahr ohne Sommer setzte 1817 in der Stadt eine Auswanderungswelle vor allem nach Nordamerika ein, die bis ins späte 19. Jahrhundert anhielt. Die Gründe waren zum einen wirtschaftlicher Art (zum Beispiel durch Missernten verursachte Not), zum anderen aber auch politischer Natur. Der später berühmte Nationalökonom Friedrich List, damals noch württembergischer Rechnungsrat, wurde im Frühjahr 1817 nach Weinsberg geschickt, um die Gründe der Auswanderungswilligen zu erforschen. Ihm wurden hauptsächlich Bedrückung durch Feudalrechte (zum Beispiel Fronen) oder persönliche Bedrückung durch willkürlich handelnde Beamte genannt. Lists Bericht an die Regierung in Stuttgart findet seinen Höhepunkt in der Aussage, die Auswanderer „wollen lieber sklaven in Amerika seyn als bürger in Weinsperg“. Erst Jahrzehnte später, 1892, wurde in Weinsberg die letzte Auswanderung nach Nordamerika verzeichnet. Die Industrialisierung und der damit verbundene Wirtschaftsaufschwung verbesserten die Lage der Bürger. Ein Pionierbetrieb war in dieser Hinsicht die Mallsche Schaumweinfabrik des Traubenwirts Johann Georg Mall. Sie zählte zu den ersten dieser Fabriken in Deutschland und bestand von 1837 bis zum Tod des Gründers 1850. Von 1819 bis zu seinem Tod 1862 lebte der Dichter und Arzt Justinus Kerner in Weinsberg. In seinem 1822 erbauten Haus, dem Kernerhaus, trafen sich oft mit ihm befreundete Dichter wie Ludwig Uhland, Gustav Schwab und Nikolaus Lenau und bescherten Weinsberg so den Ruf, ein „schwäbisches Weimar“ zu sein. Auch in der Heimat- und Denkmalpflege war Kerner tätig; er verhinderte den weiteren Abbruch der Burgruine, die im Laufe der Jahrhunderte verfallen und von den Weinsbergern als billige Steinquelle genutzt worden war. Für die weitere Instandhaltung der Burg gründete Kerner zusammen mit 142 Weinsberger Frauen den Frauenverein Weinsberg, der 1824 vom württembergischen König Wilhelm I. mit der Burgruine belehnt wurde und sie noch heute besitzt (jetzt unter dem Namen Justinus-Kerner-Verein und Frauenverein Weinsberg). 1860 bis 1862 wurde die Eisenbahnstrecke von Heilbronn über Weinsberg nach Hall (Kocherbahn) gebaut, bis 1867 deren Fortsetzung nach Crailsheim. Der Anschluss an das Streckennetz der Württembergischen Eisenbahn brachte den Fortschritt und mit einiger Verzögerung auch wirtschaftliche Prosperität in die Stadt. 1868 wurde nach jahrelangen Vorbereitungen eine Königliche Weinbauschule in Weinsberg eingerichtet, die unter anderem Namen bis heute besteht. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg Das erste Viertel des 20. Jahrhunderts sah die Gründung einiger Unternehmen, die sich hauptsächlich in zwei neu angelegten Gewerbegebieten in der Nähe des Bahnhofs ansiedelten und Güter wie Ziegel, Tabak und Möbel produzierten. 1903 wurde etwas außerhalb des Stadtgebietes die neu gebaute Königliche Heilanstalt (für Geisteskranke) eröffnet, die als Klinikum am Weissenhof heute der größte Arbeitgeber in der Stadt ist. 1900 gab es erste Schritte zu einer modernen Wasserversorgung, 1904 wurde ein städtisches Gaswerk errichtet, und ab 1912 war Weinsberg an das Stromnetz angeschlossen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen unternahm es die württembergische Regierung 1923 erneut, die Zahl der Oberämter zu verringern. Auch diese Reform scheiterte und führte zum Rücktritt der Regierung. Die weitere politische Debatte führte schließlich zu einer Mini-Reform, der 1926 als einziges Oberamt das Oberamt Weinsberg zum Opfer fiel, das mit Wirkung vom 1. April gegen den heftigen Protest der Weinsberger aufgelöst und auf die umliegenden Oberämter verteilt wurde. Weinsberg selbst wurde dem Oberamt Heilbronn zugeteilt. Die ehemalige Oberamtsstadt verlor an Bedeutung, die Heilbronn im Gegenzug dazugewann. Die Veränderung von Staat und Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus blieb auch in Weinsberg nicht ohne Folgen. Die Stadt versuchte, den 1926 durch die Auflösung des Oberamtes erlittenen Bedeutungsverlust durch neue Funktionen im nationalsozialistischen Staat zu kompensieren. So wurde 1934 der Plan verfolgt, Weinsberg zur „Hauptstadt der deutschen Frauentreue“ ernennen zu lassen. Ein diesbezüglicher Vorstoß bei Joseph Goebbels scheiterte jedoch. Ebenso wenig von Erfolg gekrönt war der 1936 von Bürgermeister Weinbrenner an die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink gerichtete Vorschlag, auf der Burgruine Weibertreu eine Schulungsstätte der NS-Frauenschaft einzurichten und die Burg so „gleichsam zur Walhalla der deutschen Frauen“ zu erheben. Zum 800. Jahrestag der Treu-Weiber-Begebenheit im Jahr 1940 wurden ab 1938 große Festlichkeiten geplant, anlässlich derer die Burg doch noch als „Walhalla der deutschen Frau“ an die Reichsfrauenführerin übergeben werden sollte. Der Beginn des Krieges am 1. September 1939 machte die Planungen zunichte. Das Militär ließ sich verstärkt in und um Weinsberg nieder. 1934 wurde in der Umgebung des Exerzierplatzes auf der Waldheide zwischen Heilbronn und Weinsberg ein Standortübungsplatz eingerichtet, wozu Weinsberg 80 ha Wald unentgeltlich abgeben sollte. Die Stadt konnte jedoch erreichen, dass zwar 66 ha Wald abgegeben werden mussten, aber nicht umsonst, sondern im Wege des regulären Verkaufs. Vom Erlös wurden 1936 141 ha Wald auf Gemarkung Gemmingen gekauft, die auch 70 Jahre danach noch im Besitz der Stadt Weinsberg sind. Im gleichen Jahr wurden auch im Brühltal im Süden des Stadtgebietes 14 ha Privatgrundstücke beschlagnahmt, um dort einen Militärschießplatz anzulegen. 1937 wurde schließlich am damaligen Stadtrand ein Landwehrübungslager errichtet, das dann zu Kriegszeiten ab 1940 bis Ende März 1945 als Offiziersgefangenenlager (Oflag V A) diente. 1940 erreichte die Reichsautobahn von Stuttgart kommend Weinsberg, wo sie für die folgenden Jahrzehnte endete. Wie fast überall in Deutschland fanden auch in Weinsberg Verbrechen an Behinderten und Juden statt. Im Rahmen der Aktion T4 zur Zeit des Nationalsozialismus wurden auch Weinsberger Patienten in die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck gebracht, wo sie ermordet wurden. Später war das Krankenhaus eine der der Anstalt Hadamar zugeordneten Zwischenanstalten, wo Geisteskranke gesammelt und dann zur Tötung nach Hadamar gebracht wurden. Von Januar 1940 bis Ende 1941 wurden aus der Heilanstalt insgesamt 908 Patienten, davon 426 aus Weinsberg und 482 aus anderen Anstalten, in die Vernichtungsanstalten transportiert. Von 1934 bis zum Kriegsende 1945 wurden zudem 96 männliche und 107 weibliche Patienten der Heilanstalt aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zwangssterilisiert. 1942 wurden zwei Juden aus Weinsberg ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Im Zweiten Weltkrieg kam Weinsberg lange Zeit relativ ungeschoren davon und konnte sogar viele Ausgebombte aus dem am 4. Dezember 1944 stark zerstörten Heilbronn aufnehmen. Es „war so übervölkert, daß es mehr Flüchtlinge zählte als Einheimische“. Die Heilanstalt wurde zum Notlazarett und Ersatz für das zerstörte Heilbronner Krankenhaus umfunktioniert. In der Endphase des Krieges, am 12. April 1945, wurde die Stadt dann doch noch durch Artilleriebeschuss und Bombardierung und die daraus resultierenden Brände großteils zerstört. Insgesamt starben 15 Menschen. 330 Häuser brannten ab, auch das Rathaus und mit ihm das Stadtarchiv, das schon bei den Bränden 1525 und 1707 dezimiert worden war. Weitere wichtige Quellen zur Stadtgeschichte gingen verloren. Nach dem Zweiten Weltkrieg Da Weinsberg Teil der Amerikanischen Besatzungszone geworden war, gehörte die Stadt somit seit 1945 zum neu gegründeten Land Württemberg-Baden, das 1952 im jetzigen Bundesland Baden-Württemberg aufging. Im vormaligen Landwehrübungs- und Kriegsgefangenenlager wurden von den Siegermächten nach Kriegsende ehemalige Zwangsarbeiter und andere Displaced Persons untergebracht. 1953 wurde das DP-Lager umfunktioniert zu einem Landesdurchgangslager für Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten, das noch bis zum 30. November 1972 existierte. Auch Bundespräsident Horst Köhler lebte als Kind für einige Tage hier. Viele Flüchtlinge aus dem Lager ließen sich permanent in Weinsberg nieder und trugen zum Wiederaufbau der Stadt in den späten 1940er- und den 1950er-Jahren bei. Bis 1955 war der Wiederaufbau mit 450 Neubauten oder wieder aufgebauten Gebäuden im Wesentlichen abgeschlossen. In den 1960er- und 1970er-Jahren veränderte der Bau zweier Autobahnen und des Autobahnkreuzes Weinsberg die Stadt in bis dahin ungekanntem Ausmaß. Weinsberg war nun aus allen Himmelsrichtungen bequem und schnell per Automobil zu erreichen, musste dafür aber Flächenabgaben für den Autobahnbau hinnehmen, die von 1936 bis 1972 zusammen 113 ha ausmachten, der Großteil davon ab 1963. Zudem sah sich die Stadt zunehmend Verkehrslärm in bislang unbekanntem Ausmaß ausgesetzt, was Lärmschutzmaßnahmen notwendig machte. Ab Ende der 1960er-Jahre wurde in Baden-Württemberg eine Kreis- und Gemeindereform diskutiert. Die Zielplanung der Landesregierung für diese Reform sah die Eingemeindung der Gemeinden Eberstadt (mit Hölzern), Ellhofen, Gellmersbach, Grantschen und Lehrensteinsfeld in die Stadt Weinsberg vor. Besonders in Eberstadt, Ellhofen und Lehrensteinsfeld stieß dies auf Widerstand. Als Alternative zur Eingemeindung gründete Weinsberg zusammen mit diesen Gemeinden am 21. Dezember 1971 den Gemeindeverwaltungsverband „Raum Weinsberg“ mit Sitz in Weinsberg. Grantschen wurde am 1. Januar 1973, Gellmersbach am 1. Januar 1975 nach Weinsberg eingemeindet. Die Gemeinde Wimmental, die nach der ursprünglichen Zielplanung ein Teil der neu zu bildenden Gemeinde Obersulm hätte werden sollen, entschied sich stattdessen lieber für die Eingemeindung nach Weinsberg, die ebenfalls am 1. Januar 1975 erfolgte. Der Beginn der 1970er-Jahre war eine Zeit, in der allenthalben Veränderungen anstanden und auch Zuschüsse dafür zu erhalten waren. Der Autobahnbau und die Verwaltungsreform kamen von außen. Die Stadt nutzte ihre Chancen, auch intern Neues anzustoßen. Schon ab den 1960ern waren Neubaugebiete ausgewiesen worden, dies wurde verstärkt fortgesetzt und hält mit Pausen bis in die Gegenwart (Stand: 2006) an. Auf der „grünen Wiese“ südlich des Friedhofes entstand im Verlauf dreier Jahrzehnte ab 1971 das Schulzentrum Rossäcker mit Gymnasium, Hauptschule, Realschule, zweiter Grundschule und zwei Hallen. Wenige Jahre später war es schon wieder von Wohngebieten umgeben. 1977 wurde angrenzend an Ellhofen ein großes neues Gewerbegebiet an der A 81 ausgewiesen, dem 2000 ein weiteres folgte. Die Sanierung und Umgestaltung innerstädtischer Gelände wurde vorangetrieben (unter anderem Traubenplatz mit Weinbauschule, 1972 bis 2002, Alte Ziegelei, 1984 bis 1990, und ehemaliges Gelände der Karosseriewerke Weinsberg, 1986 bis 1994). Die Schließung des Flüchtlingslagers 1972 ermöglichte zum einen die Überbauung des Geländes mit Wohnhäusern, zum anderen die Realisierung des Naherholungsgebietes Stadtseebachtal. Rebflurbereinigungen in den Weinsberger Weinbergen ab Mitte der 1970er-Jahre bis 1990 ermöglichten zeitgemäßen Weinbau. Der verstärkte Zustrom von Spätaussiedlern machte 1990 den Bau des Übergangswohnheimes Grabenäcker an der Straße nach Gellmersbach notwendig. Im gleichen Jahr erfolgte die Freigabe der Umgehungsstraße der B 39, die schon seit 1964 in Planung gewesen war. Dem Hochwasserschutz, der im Sulmtal seit dem großen Hochwasser vom Mai 1970 mit Millionenschäden bei Audi in Neckarsulm große Priorität genießt, wurde mit dem Bau zweier Rückhaltebecken 1988 und 1999 Rechnung getragen. Für Streit mit den Nachbargemeinden im Gemeindeverwaltungsverband sorgte die Ansiedlung eines Handelshof-Marktes der Kaufland-Gruppe. Die Nachbargemeinden wollten die Ansiedlung nicht genehmigen, da sie Kaufkraftabflüsse befürchteten. Am 21. Februar 2001 genehmigte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg letztinstanzlich den Bau, die Eröffnung wurde am 10. Oktober 2002 gefeiert. Das in die Jahre gekommene Weinsberger Freibad wurde 2002/2003 mit Baukosten von 3,76 Millionen Euro grundlegend überholt und erweitert. Am 10. Dezember 2005 schließlich erfüllte sich nach über zehnjähriger Planungszeit mit der Eröffnung der Strecke der Stadtbahn Heilbronn nach Öhringen ein lange gehegter Wunsch von Stadtverwaltung und Bevölkerung. Religionen Weinsberg ist seit der Reformation überwiegend evangelisch. Nach Zahlen der Stadtverwaltung waren am 30. Juni 2011 von 8.966 Einwohnern der Kernstadt 4.036 (45,0 %) evangelisch und 1.888 (21,1 %) katholisch. Die Stadt war Hauptort des 1291 erstmals erwähnten Landkapitels Weinsberg des Bistums Würzburg, das 52 Pfarreien umfasste, unter anderem Heilbronn. 1510 bis 1518 hatte Johannes Oekolampadius, der spätere Reformator Basels, eine Prädikantenstelle an der Weinsberger Johanneskirche inne. In Weinsberg erregte er mit seinen reformorientierten Predigten aber Anstoß und verließ die Stadt daher. 1520 kam der Heilbronner Erhard Schnepf als erster ausgesprochen evangelischer Prediger nach Weinsberg. 1522 wurde er von der österreichischen Regierung vertrieben. Nach der Rückkehr Herzog Ulrichs nach Württemberg, 1534, führte Schnepf im Auftrag des Herzogs die Reformation in Württemberg durch. In Weinsberg kam diese Aufgabe dem Pfarrer Johann Geyling zu, der 1548 als Folge des Interims (Versuch einer Rekatholisierung mit geringfügigen Zugeständnissen) abgesetzt wurde. Nach dem Ende des Interims 1552 setzte sich die Reformation in Weinsberg endgültig durch. Weinsberg wurde Teil und zunächst auch Hauptort eines evangelischen Kirchenbezirks. 1586 wurde dessen Hauptort nach Möckmühl, 1612 nach Neuenstadt am Kocher verlegt, bis schließlich 1710 ein neuer Kirchenbezirk mit Hauptort Weinsberg errichtet wurde. Von 1752 bis 1759 war der Pietist Friedrich Christoph Oetinger Dekan in Weinsberg. Während dieser Zeit entstand sein Weinsberger Predigtbuch. Nach verschiedenen Änderungen entsprach der evangelische Kirchenbezirk Weinsberg ab 1812 dem politischen Oberamt Weinsberg und blieb von dessen Auflösung 1926 unberührt, so dass die Grenzen des Dekanats Weinsberg der Evangelischen Landeskirche in Württemberg bis zum Jahresende 2019 die früheren politischen Grenzen widerspiegeln. Seit dem 1. Januar 2020 ist der bisherigen Kirchenbezirk Weinsberg mit dem bisherigen Kirchenbezirk Neuenstadt am Kocher zum neuen Kirchenbezirk Weinsberg-Neuenstadt zusammengeschlossen. Die sich nur auf Weinsberg selbst (einschließlich Klinikum) erstreckende Evangelische Kirchengemeinde Weinsberg hat heute 3.752 Mitglieder (Stand: 30. Juni 2015). Ihre Kirche ist die Johanneskirche. Gellmersbach bildet eine eigene evangelische Kirchengemeinde Gellmersbach mit 558 Mitgliedern (Stand: 30. Juni 2015). Grantschen (448 Mitglieder, Stand: 30. Juni 2015) und Wimmental (198 Mitglieder, Stand: 30. Juni 2015) gehören zur Evangelischen Kirchengemeinde Sülzbach, die insgesamt etwa 1.650 Mitglieder hat (Stand 2016) und den gleichnamigen Ortsteil der Gemeinde Obersulm sowie die Weinsberger Stadtteile Grantschen und Wimmental umfasst. Beide Kirchengemeinden (Gellmersbach und Sülzbach) gehörten ebenfalls zum bisherigen Kirchenbezirk Weinsberg, der seit 1. Januar 2020 mit dem bisherigen Kirchenbezirk Neuenstadt am Kocher zum neuen Kirchenbezirk Weinsberg-Neuenstadt zusammengeschlossen ist. In Weinsberg wurden erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs, durch Zuwanderung von Flüchtlingen, Katholiken in nennenswerter Anzahl ansässig. Als Folge wurde die Katholische Kirchengemeinde St. Josef Weinsberg gegründet, die auch für Gellmersbach, das Klinikum am Weissenhof und die Nachbargemeinde Eberstadt zuständig ist. 1951 bis 1954 wurde die katholische Josefskirche neu gebaut. Gegenwärtig hat die Kirchengemeinde St. Josef 2.690 Mitglieder (Stand: 2013). In Wimmental gibt es eine eigene katholische Kirchengemeinde, die Katholische Kirchengemeinde St. Oswald Wimmental, die auch für Grantschen, Ellhofen und Lehrensteinsfeld zuständig ist und gegenwärtig 1.593 Mitglieder hat (Stand: 2013). Eine jüdische Gemeinde gibt und gab es in Weinsberg nicht; es sind in der Weinsberger Geschichte aber vereinzelt Juden nachgewiesen. 1298 waren Weinsberger Juden von der Rintfleisch-Verfolgung betroffen. 1418 zahlten Juden in Weinsberg 100 Gulden Judensteuer an Konrad von Weinsberg. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden wieder vereinzelt jüdische Familien ansässig, es gab aber keine jüdische Gemeinde. Die jüdischen Patienten der 1903 erbauten Heilanstalt wurden von Rabbinern aus Heilbronn betreut. Am 22. August 1942 wurden mit einem großen Eisenbahn-Transport zumeist betagte Juden aus dem Stuttgarter Raum und dem Kreis Heilbronn ins Ghetto Theresienstadt gebracht, darunter auch zwei Juden aus Weinsberg. Neuapostolische Christen sind seit etwa 1920 in Weinsberg ansässig. Eine eigene Kirchengemeinde wurde 1931 gegründet, ein neugebautes Kirchengebäude am 29. Mai 1965 eingeweiht. Die neuapostolische Kirchengemeinde Weinsberg gehört zum Kirchenbezirk Heilbronn-Pfühl der Neuapostolischen Kirche Süddeutschland und hat 189 Mitglieder (Stand: Jahresende 2014). Die Evangelisch-methodistische Kirchengemeinde Weinsberg hat ein Einzugsgebiet von Neckarsulm bis ins Sulmtal und etwa 90 Mitglieder (Stand 2016) sowie „ebensoviel Freunde und Angehörige in allen Altersstufen“. Erste methodistische Prediger kamen 1851 von Heilbronn nach Weinsberg; ein eigener Gemeindebezirk wurde 1884 geschaffen, eine eigene Kapelle 1887 errichtet. Diese 1934/1935 und 1967 erweiterte und renovierte Kapelle wurde im Jahr 2000 durch die neue Christuskirche mit Gemeindezentrum ersetzt. Weitere in Weinsberg vertretene Konfessionen und Religionen sind unter anderen die Zeugen Jehovas, Evangeliumschristen-Baptisten, die seit der Aufnahme der Spätaussiedler in den 1990er-Jahren in nennenswerter Anzahl hier wohnen, sich in der Evangeliumschristen-Baptisten Brüdergemeinde organisiert und ein eigenes Kirchengebäude errichtet haben, und Muslime, in der Regel Türken bzw. türkischstämmige Deutsche und seit Ankunft der türkischen Gastarbeiter hier ansässig. Eingemeindungen Im Zuge der baden-württembergischen Gemeindereform wurden die bis dahin selbstständigen kleinen Gemeinden Gellmersbach, Grantschen und Wimmental als Ortschaften in die Stadt Weinsberg eingemeindet. Alle drei Gemeinden hatten schon in früheren Jahrhunderten zum Besitz der Herren von Weinsberg gezählt. Die Zielplanung der Landesregierung sah für Gellmersbach und Grantschen die Eingemeindung nach Weinsberg, für Wimmental hingegen die Zuordnung zur neu zu bildenden Gemeinde Obersulm vor. Den Anfang machte Grantschen, dessen Bürger sich in einer Bürgeranhörung am 26. März 1972 für die freiwillige Eingliederung in die Stadt Weinsberg entschieden. Der Ort mit damals 652 Einwohnern wurde am 1. Januar 1973 eingemeindet. Die Wimmentaler Bürger stimmten in einer Bürgeranhörung am 20. Januar 1974 statt für Obersulm lieber für die freiwillige Eingliederung in die Stadt Weinsberg. Gellmersbach schließlich entschied sich im Dezember 1974 für die freiwillige Eingliederung. Beide Orte wurden am 1. Januar 1975 eingemeindet, Gellmersbach mit damals 691 Einwohnern, Wimmental mit 477. Einwohnerentwicklung Konkrete Bevölkerungszahlen werden erstmals mit einem überlieferten Herdstellenverzeichnis von 1525 zugänglich, das 224 Haushalte verzeichnet. Bei einer angenommenen durchschnittlichen Haushaltsgröße von fünf Personen plus Gesinde entspricht das etwa 1.200 Einwohnern. Trotz der Heimsuchung durch mörderische Infektionskrankheiten – Englischer Schweiß (sudor anglicus) im Jahre 1529, Pest 1571, 1585, 1597 und 1612 – zählte die Bevölkerung im Jahr 1620 1.600 Personen. Durch den Dreißigjährigen Krieg und weitere Pestepidemien 1625 und 1635 schrumpfte sie auf 540 Einwohner im Jahre 1640. 1670 zählte die Stadt etwa 1.060 Bewohner, und erst 1810 wurde die Zahl von 1600 Einwohnern wieder überschritten. 1840 wurden dann 2.000 Personen erreicht, woran sich in der Folgezeit nicht viel änderte: Die Beschreibung des Oberamts Weinsberg vermeldet für den 3. Dezember 1858 2.080 Bewohner. 1907, nach der 1903 erfolgten Eröffnung der Königlichen Heilanstalt, lebten 3.097 Einwohner in Weinsberg, davon 654 in der Heilanstalt. Die Eröffnung des Lagers für Displaced Persons, später Landesdurchgangslager für Ostflüchtlinge, ließ die Einwohnerzahl in die Höhe schnellen; zeitweise lebten noch einmal halb so viele Flüchtlinge in Weinsberg wie eigentliche Stadteinwohner, 1955 zum Beispiel 2.616 Lagerbewohner gegenüber 4.982 eigentlichen Stadteinwohnern und 651 Einwohnern des Landeskrankenhauses. Etliche dieser Flüchtlinge ließen sich auch in Weinsberg nieder, was zu Beginn der 1960er-Jahre bei abnehmendem Bevölkerungsstand im Lager zu einer Zahl von etwa 7.000 Einwohnern führte. Es folgte ein stetiges Wachstum, bis Ende 1972 durch die Schließung des Landesdurchgangslagers ein leichter Rückgang eintrat, der aber 1973 und 1975 durch die Eingemeindungen kompensiert wurde. In den 1990er-Jahren wurde erstmals die Zahl von 11.000 Einwohnern erreicht. Bis heute verzeichnet Weinsberg einen leichten Bevölkerungszuwachs durch Zuzug und weist deshalb noch neue Baugebiete aus. Ausländer sind in Weinsberg in nennenswerter Anzahl erst seit Eintreffen der Gastarbeiter in Deutschland ansässig. Die meisten von ihnen kommen aus klassischen Gastarbeiter-Ländern wie der Türkei, Italien und Griechenland. Ihr Anteil hat sich seit Jahren um die 10 % eingependelt und betrug am 30. Juni 2011 in der Gesamtstadt 9,5 %, nicht mitgezählt jene, die inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Ebenfalls in dieser Zahl nicht berücksichtigt sind die seit 1989 in größerer Zahl auch in Weinsberg aufgenommenen Spätaussiedler, die zwar aus dem Ausland kommen, rechtlich gesehen aber Deutsche sind. In der Kernstadt Weinsberg ohne Ortschaften lag der Anteil etwas höher bei 10,8 %. Zur Tabelle: Frühe Zahlen sind Schätzungen, Geschichtsquellen oder der Beschreibung des Oberamts Weinsberg von 1861 entnommen. Spätere Zahlen entstammen amtlichen Zählungen oder Fortschreibungen und sind im Wesentlichen dem Jahrbuch für die Stadt Weinsberg entnommen. Ab 1907 mit Heilanstalt bzw. Krankenhaus/Klinikum, 1947 bis 1970 mit Landesdurchgangslager, ab 1975 mit eingemeindeten Ortsteilen. Einwohnerentwicklung Weinsbergs 1525 bis 2020 Politik Gemeinderat und Ortschaftsräte Der Weinsberger Gemeinderat hat regulär 22 Sitze, wie in der Gemeindeordnung Baden-Württembergs für eine Kommune der Größe Weinsbergs vorgesehen. 16 Sitze sind für die Kernstadt und jeweils zwei für die drei Ortschaften Gellmersbach, Grantschen und Wimmental reserviert. Die Wahlvorschläge der Parteien und Wählervereinigungen enthalten getrennte Listen für die vier einzelnen Wohnbezirke (Weinsberg, Gellmersbach, Grantschen, Wimmental) oder auch nur Listen für manche der Wohnbezirke, etwa wenn sich für die anderen keine Kandidaten finden. Jeder Wahlberechtigte kann aber nicht nur über Kandidaten seines jeweiligen Wohnbezirks abstimmen, sondern über die Kandidaten aus allen Wohnbezirken (sogenannte Unechte Teilortswahl). Konkret heißt das, dass auch die Wahlberechtigten der Kernstadt darüber abstimmen, wer jede der Ortschaften im Gemeinderat vertritt, und umgekehrt. Durch dieses komplizierte Kommunalwahlrecht können sich Ausgleichssitze ergeben, wenn ein Wahlvorschlag in einem Wohnbezirk eine bedeutend höhere Zustimmung erfährt als im Gesamtergebnis. So auch bei der Gemeinderatswahl 2009 in Weinsberg: Die CDU war in den Ortschaften erfolgreicher als insgesamt und konnte jeweils einen der zwei pro Ortschaft reservierten Sitze erringen. Die SPD erhielt einen Ausgleichssitz, so dass der Gemeinderat in der Wahlperiode 2009–2014 23 Mitglieder hat. Die Mitglieder des Gemeinderats tragen als Person jeweils den Titel Stadtrat (StR) oder Stadträtin (StR’in). Dominierende Fraktion im Weinsberger Gemeinderat ist seit ihrem ersten Antreten im Januar 1951 die Freie Wählervereinigung Weinsberg 1950. Auch SPD und CDU sind seit Jahrzehnten vertreten. Die SPD, seit 1909 mit einem Ortsverein vertreten und in den 1950ern und 1960ern zweitstärkste Fraktion (von zweien) mit bis zu 40 % der Mandate, war noch bis 1975 stärker vertreten als die CDU, die 1971 zum ersten Mal überhaupt zu Gemeinderatswahlen angetreten war, von den Eingemeindungen dann aber stark profitieren konnte und seitdem die zweitstärkste Fraktion stellt. Vierte Fraktion waren von 1984 bis 1994 Die Grünen und in deren Nachfolge ab 1994 die Unabhängige Liste Weinsberg, die aber bei der Wahl 2004 nicht mehr genügend Kandidaten fand und deswegen nicht mehr antrat. Bei der Wahl 2014 traten erstmals die Aktiven Bürger Weinsberg (ABW) an, und bei der Wahl 2019 trat erstmals Die Linke an. Seit der letzten Kommunalwahl am 26. Mai 2019 hat der Gemeinderat mit 4 Ausgleichssitzen insgesamt 26 Mitglieder, verteilt auf fünf Fraktionen. Die Wahlbeteiligung lag bei 58,60 %. Die Wahl brachte folgendes Ergebnis: 1 Freie Wählervereinigung Weinsberg 1950 2 Aktive Bürger Weinsberg Weiteres Mitglied des Gemeinderates und dessen Vorsitzender ist der Bürgermeister. In jeder der drei Ortschaften gibt es einen bei jeder Kommunalwahl von der wahlberechtigten Bevölkerung zu wählenden Ortschaftsrat. Die Ortschaftsräte haben jeweils sechs Mitglieder. Auf ihren Vorschlag hin wählt der Gemeinderat für jede Ortschaft einen ehrenamtlichen Ortsvorsteher. Diese Gremien sind zu wichtigen die Ortschaft betreffenden Angelegenheiten zu hören. Bürgermeister Der Weinsberger Bürgermeister ist gemäß der baden-württembergischen Gemeindeordnung Vorsitzender des Gemeinderats und Leiter der Stadtverwaltung. Er ist hauptamtlicher Beamter auf Zeit und wird von den wahlberechtigten Weinsberger Bürgern direkt für eine Amtszeit von acht Jahren gewählt. Vor dem 1. Dezember 1930 führte das Weinsberger Stadtoberhaupt den Titel Stadtschultheiß, seither Bürgermeister. Am 13. Februar 1820 wurde Heinrich Pfaff Stadtschultheiß, der Justinus Kerner bei dessen Bemühungen um die Rettung der Burgruine Weibertreu unterstützte und 1832 bis 1838 das Oberamt Weinsberg als liberaler Abgeordneter im württembergischen Landtag vertrat. Nach Pfaffs Tod am 23. November 1845 wurde am 9. Dezember Franz Fraas zu seinem Nachfolger gewählt, der sich im November 1853 einer drohenden Zwangsversteigerung durch Flucht nach Amerika entzog. Ihm folgte Johann Jakob Haug, der sich erfolgreich für die Anbindung Weinsbergs an das Eisenbahnnetz einsetzte, aber die Einweihung der Bahnstrecke nicht mehr erlebte, da er am 14. Juli 1862 verstarb, wenige Tage vor der Eröffnungsfeier am 2. August 1862. (Johann) Franz Käpplinger, schon seit 1833 Weinsberger Ratschreiber, nach dem Tod Pfaffs Amtsverweser und bei Haugs Wahl dessen Gegenkandidat, wurde erneut Amtsverweser und mit königlichem Dekret am 3. Oktober zum Stadtschultheißen ernannt. In seiner Amtszeit bis zum 30. Juni 1875 vergrößerte sich die Stadt über die von der Stadtmauer vorgegebenen mittelalterlichen Grenzen. Von 1875 bis 1914 war Carl Seufferheld Stadtschultheiß, der Vater des Künstlers Heinrich Seufferheld. In seinen 38 Amtsjahren wurde vor allem die Versorgungs-Infrastruktur (Wasser, Abwasser, Gas, Strom) verbessert oder überhaupt erst aufgebaut, und Industriebetriebe siedelten sich an. In der anschließenden Amtsperiode Adolf Strehles (1914 bis 1924) gab Weinsberg 1923 eigene Notgeld-Scheine heraus. Karl Weinbrenner, dessen Amtszeit von 1924 bis 1945 dauerte, war vor allem damit beschäftigt, die Folgen der 1926 erfolgten Auflösung des Oberamts für die Stadt abzumildern. Nach 1945 durfte er nach dem Willen der amerikanischen Besatzungsmacht nicht Bürgermeister bleiben, auch seine Wiederwahl durch den Gemeinderat 1946 wurde von der amerikanischen Militärregierung nicht bestätigt. Unmittelbar nach der Besetzung der Stadt setzten die Amerikaner zunächst Stadtpfleger Ludwig Mayer (Amtszeit 13. bis 16. April 1945), dann Verwaltungsaktuar Rudolf Ilg (Amtszeit 17. April bis 12. September 1945) als Bürgermeister ein. Mayer wurde wegen Zeigen des Hitlergrußes, Ilg wegen NSDAP-Mitgliedschaft wieder entlassen. Nach der Entlassung Ilgs nahmen der Kreisbaumeister Karl Rebmann und der Weingärtner Karl Vollert als seine Stellvertreter die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters war. Die Wiederwahl Karl Weinbrenners durch den Gemeinderat am 5. Mai 1946 wurde von der amerikanischen Militärregierung nicht bestätigt. Der Gemeinderat wählte dann Gustav Zimmermann zum Bürgermeister, der sein Amt am 1. September 1946 antrat und am 3. Oktober von Landrat Hermann Sihler offiziell eingesetzt wurde. An diesem Tag endete auch die Stellvertretertätigkeit von Rebmann und Vollert. Am 4. April 1948 fand erstmals wieder eine Wahl des Bürgermeisters durch die Bürger statt. Der gewählte Erwin Heim amtierte bis 1972. In seine Amtszeit fiel ein großer Teil des Wiederaufbaus der Stadt und der Beginn großer Umgestaltungsmaßnahmen ab Mitte der 1960er-Jahre (beispielsweise Autobahnbau, Flurbereinigung und Gemeindereform). Jürgen Klatte führte die Umgestaltung ab 1972 bis 1996 fort. Nach der achtjährigen Amtsperiode Walter Kuhns ist seit April 2004 Stefan Thoma Bürgermeister der Stadt Weinsberg, der am 15. Februar 2004 im zweiten Wahlgang mit 43,36 % der Stimmen gewählt wurde. Noch im ersten Wahlgang hatte er auf dem dritten Platz gelegen, konnte sich bei der Wiederholung, bei der einige Kandidaten nicht mehr antraten, dann aber durchsetzen. Wappen und Flagge Die Blasonierung des Weinsberger Wappens lautet: In gespaltenem Schild vorne in Silber ein rotbewehrter und rotbezungter halber schwarzer Adler am Spalt, hinten in Blau auf goldenem Berg ein goldener Rebstock an goldenem Pfahl. Die Weinsberger Stadtfarben sind Blau-Weiß. Die Bestandteile des Weinsberger Wappens (Weinstock als redendes Zeichen, Reichsadler als Zeichen der Reichsunmittelbarkeit) waren nacheinander als Symbole der Stadt im Gebrauch, bis sie im 16. Jahrhundert erstmals in einem Wappenschild vereinigt wurden. Die ältesten bekannten Siegel ab 1318 zeigen den Weinstock auf einem Dreiberg, ab 1423 erscheint auf den Siegeln der Reichsadler und dokumentiert das Streben der Stadt nach Reichsunmittelbarkeit. Der Adler blieb trotz des Verlustes der Reichsunmittelbarkeit zunächst alleinige Wappenfigur und wurde dann auf verschiedene Weise mit dem Weinstock kombiniert. Ab 1521 sind Siegel nachgewiesen, die den halben Adler in gespaltenem Schild mit dem Weinstock kombinieren, meistens mit dem Adler in der vorderen und dem Weinstock in der hinteren Schildhälfte. In Siegeln des 17. und 18. Jahrhunderts wurde der Weinstock auch in einem Brustschild des Adlers dargestellt, ab dem 19. Jahrhundert setzte sich dann die Darstellung mit gespaltenem Schild durch. Die älteste erhaltene farbige Wappenzeichnung zeigt als Weinsberger Wappen einen schwarzen Adler in einem rotbordierten goldenen Schild. In späteren Zeichnungen seit 1535 sind wie in den Siegeln Adler und Weinstock in gespaltenem Schild vereint, meistens mit dem Adler in der vorderen und dem Weinstock in der hinteren Schildhälfte, bis ins 19. Jahrhundert mit der ganzen Adlerfigur, spätestens seit 1860 als halber Adler am Spalt wie schon in den Siegeln seit dem 16. Jahrhundert. Anders als beim Reichswappen befand sich der Adler üblicherweise auf silbernem Grund. Der Weinstock erscheint in verschiedenen Formen, mit und ohne Pfahl, auf einem Dreiberg, auf einem Boden oder frei schwebend; der Schild wurde im 16. Jahrhundert manchmal auch schräg geteilt dargestellt. In seiner heutigen Form wurde das Wappen 1958 von der Stadt festgelegt und am 12. Februar vom Innenministerium des Landes Baden-Württemberg bestätigt. Städtepartnerschaften Partnerstädte bzw. -gemeinden Weinsbergs sind Carignan in Frankreich (seit 9. April 1995) und Costigliole d’Asti in Italien (seit 23. September 2000). Die Beziehungen zu Carignan hatten schon in den frühen 1960er-Jahren mit einem Schüleraustausch des damaligen Justinus-Kerner-Progymnasiums mit dem Collège d’enseignement général in Carignan begonnen; erste Kontakte zu Costigliole kamen dagegen erst 1998 auf einer Weinbautagung in Brackenheim zustande. Beziehungen (ohne offizielle Städtepartnerschaft) bestehen auch zur Ortschaft Cossebaude, die zu Dresden gehört. Das Justinus-Kerner-Gymnasium unterhält darüber hinaus Beziehungen (Schüleraustausche) zur South Wolds Community School in Keyworth (Nottinghamshire), Großbritannien, und zum Istituto Tambosi-Battisti in Trento, Italien; die Realschule Weinsberg zur Wellcome Memorial High School in Lake Crystal (Minnesota), USA. Kultur und Sehenswürdigkeiten Als langjährige Wirkungsstätte des Dichters und Arztes Justinus Kerner versteht sich Weinsberg als Kernerstadt. Von daher gilt das Interesse der Stadt besonders der Bewahrung von Kerners Erbe und Andenken. Dies ist auch Vereinszweck des Justinus-Kerner-Verein und Frauenvereins Weinsberg, der sich auch um Kerners Wohnhaus, das Kernerhaus, und die von ihm vor dem Verfall gerettete Burgruine Weibertreu kümmert, die Werke Kerners und seines Sohnes pflegt und neu herausbringt und Veranstaltungen zu entsprechenden Anlässen organisiert. Die Stadt stiftete 1986 aus Anlass des 200. Geburtstages Kerners den Justinus-Kerner-Preis, der seit 1990 alle drei Jahre verliehen wird. Im Jahr 2001 fanden vom 28. September bis zum 21. Oktober die 18. Baden-Württembergischen Literaturtage mit einer Vielzahl von Veranstaltungen, Lesungen, Vorträgen und Aufführungen in Weinsberg statt. Neben Kerners Erbe pflegt die Stadt auch das Image Weinsbergs als Treu-Weiber-Stadt und Stadt des Weines, was in dem Leitspruch „Die Stadt der Treuen Weiber, des Dichters Justinus Kerner und des Weines“ zusammengefasst wurde. 2007 wurde dieser langjährige Slogan durch den neuen Text „Weinsberg – Treue Weiber, Reben und Romantik“ ersetzt und 2008 mit einem neuen Stadtlogo ergänzt, das mit der Silhouette einer Frau, die ihren Mann trägt, die Treu-Weiber-Begebenheit aufgreift. Theater Der 1994 gegründete Theaterverein Weinsberg zeigt jedes gerade Jahr im Rahmen der Weibertreu-Festspiele Freilichttheater auf der Burgruine Weibertreu und in unregelmäßigen Abständen auch Zimmertheater oder Freilichttheater auf anderen Plätzen. Bei den Festspielen kamen sowohl Stücke, die Stadtgeschichtliches wie die Treuen Weiber oder den Bauernkrieg behandeln, als auch damit nicht verbundene Stücke von Autoren wie Carl Zuckmayer oder William Shakespeare zur Aufführung. Auch Kinderstücke und musikalische Gastspiele haben den Spielplan schon bereichert. Nach den Festspielen 2014 soll die Veranstaltung ab 2017 in den ungeraden statt den geraden Jahren stattfinden. Musik Mit der Schaffung der Stelle eines besoldeten Stadtmusikus auf einen Ratsbeschluss aus dem Jahre 1835 hin nahm das Musikleben in Weinsberg einen Aufschwung. 1839 wurde der Liederkranz, 1845 der Gesangverein Urbanus Weinsberg gegründet, die nach Fusion als Liederkranz Urbanus Weinsberg heute noch bestehen. Weitere Musikvereine sind die auf das Jahr 1883 zurückgehende Stadtkapelle – Musikverein Weinsberg und die 1891 als Männergesangverein Weinsberg gegründete Singvereinigung Weibertreu Weinsberg. Den diversen Kirchengemeinden sind verschiedene Chöre und Orchester angegliedert oder lose angeschlossen, unter anderem der Coro Allegro und der Herrenchor Weinsberg. Seit 1993 verfügt Weinsberg über eine städtische Musikschule. Auch der international bekannte Jazzkontrabassist und Bandleader Jan Jankeje wohnt in Weinsberg. Museen Das am 11. Dezember 1988 eröffnete Weibertreu-Museum im Rathaus beherbergt eine große Anzahl von Kunstwerken zu Weinsberg und seiner Geschichte. Das Kernerhaus ist das 1822 erbaute Wohnhaus Justinus Kerners und später seines Sohnes Theobald Kerner, das 1907 vom Justinus-Kerner-Verein gekauft und im Folgejahr als Museum zugänglich gemacht wurde. In der Nähe des Kernerhauses befindet sich das Alexanderhäuschen, Justinus Kerners Gästehaus, benannt nach Alexander von Württemberg. Die Dokumentationsstätte Lager Weinsberg ist in der letzten noch erhaltenen Baracke des ehemaligen Lagers Weinsberg untergebracht, das von 1937 bis 1972 nacheinander als Landwehrübungslager, Kriegsgefangenenlager, Lager für Displaced Persons und Flüchtlingslager diente. Bauwerke Weinsberg war von Beginn an als Stadt gegründet worden. Es diente schon den Herren von Weinsberg als Verwaltungsmittelpunkt für ihre in der Umgebung befindlichen Besitzungen der Herrschaft Weinsberg, und auch die neuen Besitzer ab 1440, die Pfalzgrafen bei Rhein und die württembergischen Grafen und Herzöge, verfuhren ebenso. Letztere machten die Stadt zum Sitz eines Oberamtes, die mit dem Staat eng verbundene Landeskirche machte sie zum Sitz eines Kirchenbezirkes. Im Lauf der Jahrhunderte entstanden so repräsentative Amtsbauten, die auch nach den Zerstörungen der Stadt im Bauernkrieg 1525 und beim Stadtbrand 1707 wieder errichtet oder ersetzt wurden. Auch die jüngste Zerstörung 1945, die große Teile der Altstadt vernichtete, überstanden dennoch einige Bauwerke. Die Pläne, nach dem Brand von 1707 das mittelalterliche Stadtbild mit den engen Gassen durch neue, breite Straßen zu ersetzen, ließen sich wegen der für den Weinbau lebensnotwendigen großen Gewölbekeller, die erhalten geblieben waren, nicht durchsetzen, nur der Marktplatz wurde großzügiger gestaltet. Auch heute verfügt Weinsberg noch über eine Vielzahl dieser alten Weinkeller, die allerdings zum allergrößten Teil nicht mehr als solche benutzt werden. Der Wiederaufbau 1946 musste nicht mehr so sehr auf sie Rücksicht nehmen, was an manchen Stellen deutlich breitere Straßen ermöglichte, so zum Beispiel in der Hauptstraße, die Jahrzehnte als durch den Ort führende Bundesstraße 39 diente. Römerbad (Überreste einer römischen villa rustica) Das Weinsberger Römerbad, das 1906 beim Pflanzen eines Baumes zufällig entdeckt und ausgegraben wurde, war im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Teil eines römischen Gutshofs an der Römerstraße zwischen Böckingen und Öhringen und zählt heute zu den ältesten Zeugnissen römischer Geschichte in Baden-Württemberg. 1977 wurde die restliche Anlage, soweit nicht überbaut, freigelegt und von der Stadt restauriert. Sie kann ganzjährig kostenlos besichtigt werden. Burgruine Weibertreu Die Weinsberger Burg, auf dem Burgberg oberhalb der Stadt gelegen, wurde als Reichsburg wahrscheinlich im 11. Jahrhundert erbaut. 1504 wurde sie bei der Eroberung der Stadt beschädigt, im Bauernkrieg 1525 zerstört und verfiel im Laufe der Jahrhunderte. Justinus Kerner stoppte ab 1823 den weiteren Verfall. Die Burgruine kann gegen Eintritt besichtigt werden. Stadtmauer und Wachturm Schon bald nach der Stadtgründung, vermutlich im frühen 13. Jahrhundert, wurde die Stadt mit einer Stadtmauer aus Buckelquadern umgeben, die ursprünglich auch die Burg einschloss, im 14. Jahrhundert (vermutlich 1332) aber gegenüber der Burg abgeschlossen wurde. Sie wies sechs Türme und zwei Tore auf: das Obere Tor im Osten, an der Straße nach Ellhofen und Öhringen, und das Untere Tor im Südwesten, an der alten Straße nach Heilbronn. Nach dem Bauernkrieg und der Zerstörung der Stadt 1525 sollte die Mauer mitsamt ihren Türmen geschleift werden, was aber nicht geschah. 1784 wurde nach verheerenden Stadtbränden in anderen Städten mit der Einrichtung eines (offenen) Feuertores beim südlichen Wachturm erstmals eine Bresche in die bis dahin lückenlose Stadtmauer geschlagen. 1803 wurden die noch vorhandenen Teile des Wehrgangs abgebrochen, ab 1805 in einem jahrzehntelangen Prozess nach und nach fast die gesamte restliche Stadtmauer. In zwei Schritten wurde 1811 und 1844/1845 die Straße nach Heilbronn am westlichen Stadtausgang auf eine neue, weniger steile Trasse verlegt, wozu weitere Teile der Stadtmauer und auch einige Häuser abgerissen wurden. Reste der Stadtmauer existieren noch im Norden und Nordosten des alten Stadtkerns; im Süden ist nur noch ein kleines Stück zu finden. Drei der Türme – Wolfsturm, Diebsturm (später Geisterturm genannt) und Küh-, Säu- oder Wachturm – sind ebenfalls noch erhalten, vom Wolfsturm in der Nordwestecke der Stadtbefestigung gleich bei der Kirche allerdings nur der Turmstumpf. Der Wachturm wurde als Teil der südlichen Stadtmauer um 1200/1210 aus für die Stauferzeit typischen Buckelquadern erbaut. Andere Namen des Turms waren Kühturm, Säuturm oder Saubachturm. Er ist eines der ältesten erhaltenen Bauwerke der Stadt und wurde errichtet, um die Stadtverteidigung an dieser Stelle zu verbessern, die sich außer auf die Stadtmauer nur auf einen oft fast ausgetrockneten Wassergraben stützen konnte, der vom Stadtseebach bzw. Saubach gespeist wurde. Die der Stadt zugewandte Nordseite des Turms wurde vermutlich zunächst offen gelassen und erst später mit einer Fachwerkwand geschlossen. Beim großen Stadtbrand von 1707 blieb der Turm unversehrt. Für 1784 ist seine Nutzung als Unterkunft für Arme überliefert. 1853 geriet er in Brand und brannte aus, wurde aber noch im selben Jahr wieder instand gesetzt. Noch bis 1857 befand sich hier auch die Wachstube der städtischen Nachtwächter. Im Lauf der Jahre wurde er außerdem als Wohnung des Hochwächters, Gefängnis, Armenunterkunft und Jugendherberge genutzt. Im Glockenstuhl im obersten Stockwerk hängt heute die Glocke der ehemaligen, 1975 abgerissenen evangelischen Kirche des Lagers Weinsberg. Nach einer umfassenden Sanierung des Turms in den Jahren 1986/1987 sind im Wachturm heute u. a. verschiedene Vertriebenen-Landsmannschaften untergebracht. Sie unterhalten im Turm eine Heimatstube, die besichtigt werden kann. Evangelische Johanneskirche Die Johanneskirche am Ökolampadiusplatz, eine romanische Basilika und Chorturmkirche, ist die Kirche der Evangelischen Kirchengemeinde Weinsberg. Mit dem Bau der Kirche wurde um 1200/1210 wahrscheinlich im Auftrag der Herren von Weinsberg begonnen. Bei der Zerstörung der Stadt im Bauernkrieg 1525 brannte die Kirche aus und wurde danach wieder aufgebaut. Die späteren Zerstörungen der Stadt durch Brände 1707 und 1945 überstand die Kirche unversehrt. An der Ostseite der Kirche befindet sich das Ehrenmal für die Toten und Vermissten des Ersten Weltkrieges. Die Kirche ist im Sommer täglich, sonst nach Voranmeldung zu besichtigen. Sonstige Bauwerke Die ältesten erhaltenen Gebäude der Stadt nach Burg und Johanneskirche stehen an Orten, die von den Stadtbränden 1707 und 1945 nicht erfasst wurden. An der Kirchstaffel, die den Ökolampadiusplatz an der Johanneskirche mit dem tiefer gelegenen Marktplatz verbindet, sind vier Häuser aus dem 16. Jahrhundert erhalten, darunter das ehemalige Pfarrhaus, die ehemalige Lateinschule und die ehemalige Mesnerei und Deutsche Schule. Der Marktplatz entstand in seiner jetzigen Form nach dem Stadtbrand 1707. An seinem oberen Ende überragt ihn das 1708 als Vogtei erbaute jetzige evangelische Dekanatsgebäude. Die westliche Seite des Platzes überstand die Kriegszerstörung 1945, während die Ostseite mit dem Rathaus abbrannte. Das Rathaus wurde durch einen am 29. August 1953 eingeweihten Neubau ersetzt. Südwestlich vom Marktplatz hat in der Mönchhausgasse der ehemalige Stadthof des Klosters Schöntal die Zeiten überdauert und der Gasse den Namen verliehen. Das Kloster hatte mindestens seit dem 14. Jahrhundert Besitz in Weinsberg, sein Stadthof, der für die Verarbeitung und Einlagerung der Produkte der klösterlichen Felder und Weinberge benötigt wurde, wird erstmals 1455 erwähnt. Nach der Zerstörung im Bauernkrieg 1525 wurde das Haus an selber Stelle wieder aufgebaut. Etwas weiter südlich, am ehemaligen unteren Stadttor, erstreckte sich das städtische Spital für Arme, Kranke und Alte, von einem Engelhard von Weinsberg gestiftet und 1354 erstmals bezeugt. Nach den Zerstörungen 1525 wieder aufgebaut und 1707 nicht zerstört, blieb das Spital bis 1799 in Betrieb. Heute sind noch die ehemalige Spitalkirche und eine Hälfte des Pfründnerhauses erhalten. Östlich des Marktplatzes steht am heutigen Seufferheldplatz die Baukelter, eine ehemalige herrschaftliche Kelter. Sie war schon vor dem Brand 1525 entstanden und in diesem Jahr ebenso wie 1707 und 1945 ausgebrannt, konnte wegen ihrer starken Mauern aber immer wieder aufgebaut werden. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Gebäude in städtischem Besitz. Von 1933 bis 1945 diente es als Parteiheim der örtlichen NSDAP, danach von 1949 bis zur Einweihung des neuen Rathauses 1953 als Sitz der Stadtverwaltung. Zuletzt wurde es Mitte der 1990er-Jahre restauriert und beherbergt seitdem die städtische Musikschule und den für Veranstaltungen gedachten Michael-Beheim-Saal. Im Helfensteinkeller getauften Gewölbekeller ist die Vinothek untergebracht. Doppelt versteinte Hällische Straße Ein wenig bekanntes Kulturdenkmal ist die Doppelt versteinte Hällische Straße. Es handelt sich um einen etwa 1,7 km langen Abschnitt eines alten Fernhandelsweges, der hier die Markungsgrenze zwischen Heilbronn und Weinsberg bildet. Um die Grenze nach Grenzstreitigkeiten eindeutiger zu markieren, drängte Heilbronn auf eine „doppelte Versteinung“, also auf einander gegenüberstehende Grenzsteine auf beiden Seiten der Straße. Dies stellt die große Besonderheit dar und ist in Deutschland von keiner anderen Straße bekannt. Parks und Grünanlagen Die älteste „Grünanlage“ Weinsbergs ist der städtische Friedhof, der 1612 nach einem Pestausbruch etwas außerhalb der Stadt angelegt wurde und den früheren Friedhof im Kirchhof rings um die Johanneskirche nach und nach ersetzte. Er befindet sich heute direkt südlich der Bahnlinie und weist einen großen Baumbestand auf. Neben den Gräbern bekannter Weinsberger Bürger wie denen von Justinus Kerner und seiner Frau Friederike befindet sich hier auch das Ehrenmal für die Weinsberger Toten und Vermissten des Zweiten Weltkrieges. Das Tal des Stadtseebachs südlich des bebauten Stadtgebiets wurde ab 1977 zu einer parkähnlichen Naherholungsanlage umgestaltet, um den in den vorigen Jahren und Jahrzehnten durch den Autobahnbau erlittenen Verlust an Erholungsflächen wenigstens zum Teil wieder auszugleichen. Bis zur Einweihung am 17. Juli 1983 wurden Wege und ein künstlicher See neu angelegt sowie 6000 Bäume und Sträucher gepflanzt. 1986 wurde das westlich der Bahnlinie anschließende Gelände bis zur Wohnbebauung ebenso gestaltet, so dass entlang dem Stadtseebach ein geschlossener Grüngürtel bis hin zum südlichen Stadtsee- und Brühltal entstand. Durch den Konkurs der alteingesessenen Weinsberger Ziegelei konnte die Stadt 1984 deren großes Gelände mitten im Stadtgebiet (südlich der Bahnlinie) erwerben. Nach Abbruch der Gebäude wurde das Gelände mit Pflanzung von 10.000 Bäumen und Sträuchern zur Erholungsanlage Alte Ziegelei umgestaltet und am 24. Juni 1990 der Öffentlichkeit übergeben. Der westliche Teil, in dem die Ziegelwerke den benötigten Lehm abgebaut hatten und in dem sich ein kleines Feuchtgebiet mit Tümpeln gebildet hatte, wurde als Großbiotop belassen. Etwas außerhalb des Stadtgebiets befindet sich das Klinikum am Weissenhof, das 1903 als Königliche Heilanstalt inmitten eines 43 ha großen Parks eröffnet wurde, der heute mit 3.800 Bäumen bestanden und mit etwa 10 km Wegen erschlossen ist. Natur Durch die rege Bautätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Anteil der naturbelassenen Flächen an der Weinsberger Markung stetig zurückgegangen. Dennoch verfügt die Stadt vor allem im Süden des Stadtgebiets noch über größere Naturflächen. Das von der Bevölkerung als Erholungsgebiet genutzte Stadtsee- und Brühltal ist seit dem 17. April 1980 als ökologisch wertvolles, 89 ha großes Landschaftsschutzgebiet Brühl- und Stadtseetal (Nr. 1.25.014) eingestuft. Südlich daran anschließend befindet sich im Wald das Feuchtgebiet Hinteres Brühltal, das am 4. Dezember 2002 zum 20,4 ha großen Naturschutzgebiet Brühl (Nr. 1.254) erhoben wurde, nachdem ein Teilgebiet schon ab 1986 Naturdenkmal war. Durch militärische Nutzung seit 1936 (als Schießplatz) und die damit einhergehende Sperrung bis in die 1980er-Jahre hinein entstand hier ein Rückzugsraum für viele seltene Tier- und Pflanzenarten wie beispielsweise das Tausendgüldenkraut, das Fleischfarbene Knabenkraut, die Schlingnatter, die Gelbbauchunke oder den Großen Feuerfalter. Bemerkenswert ist auch das häufige Vorkommen der Elsbeere und des Speierlings im Wald, in den Brühl- und Stadtseetal an der Stadtgrenze zu Heilbronn übergehen. Über 50 Exemplare des seltenen Speierlings wurden hier gezählt. Das 5 ha große Elsbeerwäldle, beiderseits der Autobahn 81 direkt an der Ausfahrt Weinsberg gelegen, wurde am 2. September 1991 als Schonwald (Nr. 302) ausgewiesen, um die Elsbeer- und Speierlingbestände zu schützen. Der Weinsberger Abschnitt des Sulmtals, in früheren Zeiten als landschaftlich sehr reizvoll gerühmt, wird seit dem Autobahnbau vor allem vom Autobahnkreuz dominiert. Dennoch befindet sich auch hier, in der Nordostecke des Autobahnkreuzes, ein Naturschutzgebiet, an dem Weinsberg einen kleinen Anteil hat. Das Naturschutzgebiet Wildenberg (Nr. 1.187) wurde am 16. Oktober 1992 auf dem Westteil des Wildenberges zwischen Weinsberg-Grantschen und Eberstadt, direkt südlich der A 81, eingerichtet. Der Weinsberger Anteil ist mit 1,6 ha aber ziemlich klein, verglichen mit dem 47,8 ha großen Anteil Eberstadts. Das Schutzgebiet besitzt durch mehrere geologische Aufschlüsse besondere geologische Bedeutung als Einblick in die Entstehungsgeschichte des Schilfsandsteins. Das ganze Naturschutzgebiet und ein kleines anschließendes Gebiet, insgesamt 57,5 ha, wurde zudem schon am 2. September 1991 als Schonwald (Nr. 01) ausgewiesen mit dem Ziel, die naturnahe Laubholzbestockung zu erhalten und pflegen. Ein weiteres Landschaftsschutzgebiet ist der Burgberg mit der Burgruine Weibertreu, der seit dem 21. Juli 1978 das 17 ha große Landschaftsschutzgebiet Burgberg mit „Weibertreu“ (Nr. 1.25.002) bildet. Sport und Sportanlagen Größter Sportverein und auch größter Verein Weinsbergs überhaupt ist der TSV 1866 e. V. Weinsberg, der mit zahlreichen Abteilungen unter anderem diverse Ballspiele (Fußball, Handball, Basketball), Tischtennis, Leichtathletik, Gymnastik, Kegeln und Reiten anbietet. Die 1. Männer-Handballmannschaft spielte seit der Saison 1997/98 in der Württemberg-Liga; zur Saison 2011/2012 gelang der Aufstieg in die (viertklassige) Handball-Oberliga Baden-Württemberg. Unter großem Aufsehen gründete sich 2006 der neue Verein Turngemeinschaft TG Weinsberg 2006 e. V. (TG) aus der TSV-Turnabteilung heraus (die TSV-Abteilung besteht in stark reduzierter Größe weiterhin). Außerdem gibt es noch den Fischereiverein Weinsberg e. V., den Radsportverein Weinsberg e. V., die Schützengilde 1862 Weinsberg, die Tauchergruppe Weinsberg und den Tennis-Club Weinsberg e. V. 1960 mit einer Wassersportabteilung, die hauptsächlich auf dem Breitenauer See in Obersulm/Löwenstein aktiv ist. Es gibt in Weinsberg drei Sporthallen: die 1975 eingeweihte Mehrzweckhalle Weibertreuhalle beim Schulzentrum Rossäcker, die 2001/2002 direkt nebenan erstellte und mit ihr verbundene Sporthalle Rossäcker sowie die ältere Mühlrain-Turnhalle von 1958. Beim Schulzentrum befinden sich auch Außensportanlagen. Für Leichtathletik, Rasenspiele und Kegeln steht das 1977 eingeweihte Sportzentrum Stämmlesbrunnen mit TSV-Vereinsheim zur Verfügung; direkt daneben liegt die 1960 bis 1986 erbaute Tennisanlage des Tennis-Clubs. Im Anschluss an diese befindet sich das 1929 am Stadtseebach erbaute Weinsberger Freibad, das mehrfach saniert und erweitert, zuletzt am 31. Mai 2003 neu eingeweiht wurde und nun über vier solarbeheizte Becken mit 25 °C Wassertemperatur verfügt. Das Freibad zählt pro Saison Zehntausende von Badegästen, im heißen Ausnahmejahr 2003 über 100.000, in der Saison 2004 noch über 50.000. Die dem Freibad benachbarte, ab 1978 erstellte Reitanlage der Reitabteilung des TSV bildet den Übergang vom Freibad zum nördlich anschließenden Naherholungsgebiet Stadtseebachtal. Ein 1974 eröffneter Trimm-dich-Pfad im Wald beim Albvereinshaus war nach Jahrzehnten der Nutzung in schlechtem Zustand und wurde im Frühjahr 2008 abgebaut. Stattdessen richtete die Stadt unter dem Namen Fit im Park eine neue, am 27. Juli 2008 der Öffentlichkeit übergebene Lauf- und Fitness-Strecke ein, die in zwei Abschnitten von insgesamt 5,2 km Länge durch das Stadtseetal und das Naherholungsgebiet führt. Im April 2012 wurde im Heerwald auf dem Schemelsberg ein privat betriebener Waldkletterpark eingerichtet. Regelmäßige Veranstaltungen Von 1977 bis 2007 fand jedes Jahr an einem Juni-Wochenende unter freiem Himmel in der Altstadt das Stadtfest statt, bei dem man neben einem kleinen kulturellen Rahmenprogramm im Wesentlichen essen, trinken, sich unterhalten und der Musik von Stadtkapelle und anderen Musikkapellen lauschen konnte. Wegen des Rückzugs mehrerer Vereine musste das Stadtfest 2008 und 2009 abgesagt werden und soll ab 2010 unter dem Titel Weinsberger Verführung durch „Weinsberger Wein- und Rosentage“ am Burgberg ersetzt werden. Ähnlich wie das frühere Stadtfest präsentiert sich der Weibertreu-Herbst, auch bekannt als Herbstfest, das alljährlich an einem Wochenende im September oder Oktober auf dem Festplatz auf dem Grasigen Hag (nördlich der Johanneskirche) stattfindet. Das Festgeschehen findet hier im Festzelt statt. Außerdem gibt es noch eine Auswahl von Fahrgeschäften, Losbuden etc. Seit 1996 finden alle zwei Jahre auf der Burgruine Weibertreu im Sommer die Weibertreu-Festspiele mit Theater und Gastspielen statt. Veranstalter ist der Theaterverein Weinsberg. Nach den Festspielen 2014 soll die Veranstaltung ab 2017 in den ungeraden statt den geraden Jahren stattfinden. Von 1998 bis 2014 sowie 2018 veranstaltete der Gemeindeverwaltungsverband „Raum Weinsberg“ alle zwei Jahre in den sommerlichen Schulferien für jeweils zwei Wochen die Kinderstadt Gnurpsel-City für 260 neun- bis zwölfjährige Kinder aus den Orten des Verbandes. Wirtschaft und Infrastruktur Die für ein Unterzentrum üblichen Einrichtungen wie Lebensmittelgeschäfte, Post, Allgemeinärzte, Apotheken, Grundschulen, Stadtverwaltung etc. sind alle in Weinsberg vorhanden, und auch einige der für ein Mittelzentrum charakteristischen Merkmale wie weiterführende Schulen, Fachärzte, Anwälte und ein Krankenhaus sind anzutreffen, weshalb die Stadt als Unterzentrum mit mittelzentralen Funktionen eingestuft ist. Den Vorstößen der Stadtverwaltung auf eine Einstufung als Mittelzentrum war bislang (Stand: 2006) kein Erfolg beschieden. Die Landwirtschaft, insbesondere der Weinbau, war bis ins 19. Jahrhundert die wesentliche Komponente der Weinsberger Wirtschaft. Auch Handwerk und Gastronomie waren immer schon vertreten. Daneben gab es aber auch früh schon typisch städtische Einrichtungen wie eine Lateinschule. Durch die Einrichtung des Kirchenbezirks und des Oberamtes in Weinsberg nahm die Zahl der Bediensteten an Verwaltungseinrichtungen im weitesten Sinne zu, durch die Ansiedlung staatlicher Institutionen wie Weinbauschule (1868) und Heilanstalt (1903) verstärkte sich dies noch. Auch nach Auflösung des Oberamtes 1926 blieb dies im Wesentlichen so; der Wegfall einiger Einrichtungen wurde durch den Ausbau der anderen (zum Beispiel der weiterführenden Schulen ab den späten 1960er-Jahren) kompensiert. Industrie siedelte sich in der Stadt erst ab Beginn des 20. Jahrhunderts an, vor allem die Dampfziegelei und die Karosseriewerke Weinsberg beschäftigten eine nennenswerte Anzahl von Arbeitern. Trotz Niedergang dieser Unternehmen ist auch heute noch Industrie in Weinsberg ansässig, zwei größere und eine Anzahl kleinerer und mittlerer Betriebe. In den ab den 1970er-Jahren errichteten Gewerbegebieten am Autobahnkreuz siedelten sich unter anderen das Handelsunternehmen Spar (heute Edeka) mit einem großen Lager sowie ein Baustoff-Großhändler an. Der Einzelhandel war noch bis in die 1980er-Jahre typisch kleinstädtisch geprägt mit vielen inhabergeführten Geschäften des Nahrungsmittelhandwerks (Bäcker, Metzger) und Lebensmittelhandels und Fachgeschäften für Kleidung, Schreibwaren, Kurzwaren und anderes mehr, ergänzt durch einige kleinere Supermärkte und eine Filiale einer Lebensmittel-Konsumgenossenschaft (coop). Ab den späten 1980er- und vor allem in den 1990er-Jahren veränderte sich dies. Der inhabergeführte Einzelhandel ist zwar nach wie vor präsent, aber im Rückgang begriffen. Die Supermärkte und coop gaben auf, Lebensmittel-Discounter und ein größerer Verbrauchermarkt (Handelshof) siedelten sich stattdessen an. Da ein Kaufkraftabfluss ins direkt benachbarte Oberzentrum Heilbronn und in das ebenfalls nicht weit entfernte Mittelzentrum Neckarsulm und auch darüber hinaus in weiter entfernte Städte festgestellt worden war, hatte die Stadtverwaltung diese Ansiedlungen für nötig erachtet und deswegen auch einen letztlich vor Gericht entschiedenen Streit mit den Nachbargemeinden in Kauf genommen. Weinbau Der Weinbau war, wie der Stadtname zeigt, in früheren Zeiten die Grundlage der Weinsberger Wirtschaft und spielt auch heute noch eine wichtige Rolle. 1271 wurde der Weinbau in Weinsberg erstmals erwähnt, 1636 sind 28 Keltern in der Stadt nachgewiesen. Mit 417 ha Rebfläche (Stand: 2011, mit Ortschaften), davon ca. zwei Drittel rote Rebsorten, steht Weinsberg heute an fünfter Stelle der Weinbaugemeinden im Weinbaugebiet Württemberg. 1868 wurde die Weingärtnergenossenschaft Weinsberg gegründet, die sich am 14. Juni 1972 mit den Weingärtnergenossenschaften aus Erlenbach und Heilbronn zur Genossenschaftskellerei Heilbronn-Erlenbach-Weinsberg e. G. (heute auf Erlenbacher Gemarkung gelegen) zusammenschloss, der auch heute noch die meisten Weinsberger Weinbauern angeschlossen sind. Es gibt aber auch einige Selbstvermarkter, das heißt Weingüter, die ihren Wein selbst ausbauen und vermarkten. Außerdem gibt es in der Stadt die 1868 gegründete Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau (LVWO oder kurz Weinbauschule), die ausbildet und ihren Wein als Staatsweingut Weinsberg vermarktet. Seit dem 19. Januar 1957 ist zudem die Bundesfachschule für das Weinküferhandwerk in Weinsberg ansässig, die jedes Jahr einen Vorbereitungslehrgang auf die Meisterprüfung in diesem Handwerk durchführt. Seit 1972 hat schließlich der Weinbauverband Württemberg in Weinsberg seinen Sitz, der 2002 das ebenfalls in Weinsberg ansässige Weininstitut Württemberg gründete. Verkehr Auf Weinsberger Gebiet im Sulmtal liegt das ab 1966 erbaute Autobahnkreuz Weinsberg, wo sich die Autobahnen A 6 (Mannheim–Heilbronn–Nürnberg) und A 81 (Würzburg–Stuttgart) kreuzen. Die A 81 Richtung Würzburg ist wenig befahren, die anderen drei Strecken dafür umso mehr. Besonders die in Ost-West-Richtung führende A 6 ist seit der Öffnung des Ostblocks oftmals dem Verkehrsinfarkt nahe mit einem täglichen Verkehrsaufkommen von im Jahre 2001 bis zu 102.000 Fahrzeugen (Strecke Weinsberg–Walldorf), davon etwa 30 % Lkws, einer der höchsten Anteile im deutschen Autobahnnetz. Der sechsspurige Ausbau der bislang noch vierspurigen A 6 ist seit langem dringender Wunsch der ganzen Region Heilbronn, die deshalb in einem bis dahin beispiellosen Schritt auch die Vorfinanzierung der Ausbauplanung vom Weinsberger Kreuz bis zur bayerischen Grenze übernommen hat. Als vorübergehende Abhilfe bis zum Ausbau, der zugesagt, aber nicht terminiert ist, wurden die Standstreifen der A 6 zu behelfsmäßigen Fahrstreifen ummarkiert. Die stark befahrene Bundesstraße 39 (Heilbronn–Schwäbisch Hall) führte früher in West-Ost-Richtung mitten durch die Stadt und teilte Weinsberg praktisch in einen Nord- und einen Südteil. Die Überquerung der B 39 abseits von Ampeln war fast unmöglich, so dass über Jahrzehnte der Wunsch nach einer Umgehungsstraße wuchs, die am 13. Juli 1990 schließlich eingeweiht wurde. Von Heilbronn kommend durchquert sie im Westen den Schemelsberg in einem Tunnel, umgeht Weinsberg im Norden entlang der Trasse der A 6 und trifft schließlich im Osten, Richtung Ellhofen, wieder auf die alte B 39. Die alte Strecke der B 39 durch den Stadtkern wurde verkehrsberuhigt. An der Markungsgrenze zu Ellhofen zweigt der Autobahnzubringer B 39a nach Süden ab, der zur Autobahnanschlussstelle Weinsberg an der A 81 (südlich des Weinsberger Kreuzes) führt. Mit seinen Ortschaften und den übrigen Nachbargemeinden ist Weinsberg durch Landes- und Kreisstraßen verbunden. Der Öffentliche Personennahverkehr wird von der Stadtbahn Heilbronn und den auf sie abgestimmten Bussen im Verkehrsverbund HNV gewährleistet. Weinsberg liegt an der 1860 bis 1867 erbauten Bahnstrecke Heilbronn–Öhringen–Crailsheim. Neben normalen Zügen der Deutschen Bahn fahren seit Dezember 2005 auch von der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft betriebene Stadtbahnzüge von Heilbronn nach Öhringen und stellen so die Anbindung an die Stadtbahn Heilbronn her. Die früher nicht elektrifizierte Strecke, in die schon lange nichts mehr investiert worden war und die sich signaltechnisch noch auf einem Stand von 1900 befand, wurde zu diesem Zweck von 2003 bis 2005 modernisiert und bis Öhringen erstmals mit einer Oberleitung versehen. Außerdem wurden neue Haltepunkte gebaut; in Weinsberg sind dies die Haltepunkte Weinsberg West (seit März 2009) und Weinsberg/Ellhofen Gewerbegebiet (seit Dezember 2006), so dass Weinsberg zusammen mit dem Haltepunkt Weinsberg Bahnhof über drei Haltestellen verfügt. Beschäftigung Von den 11.796 Weinsberger Einwohnern waren am 30. Juni 2004 nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit 436 arbeitslos, was einem Anteil von 5,5 % der 15- bis 65-Jährigen entspricht. 3969 Einwohner waren sozialversicherungspflichtig beschäftigt, von denen aber 3054, also etwa 77 %, als Berufsauspendler außerhalb Weinsbergs arbeiteten. Umgekehrt gibt es aber auch 2843 Berufseinpendler, die außerhalb wohnen, sodass insgesamt 3.759 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Weinsberg arbeiten. Von diesen sind 67,3 % im Tertiären Sektor (Dienstleistungsbereich), 31,5 % im Sekundären Sektor (Verarbeitendes Gewerbe, Bauwirtschaft und andere) und 1,1 % im Primären Sektor (hauptsächlich Land- und Forstwirtschaft) tätig. Zum hohen Anteil des Dienstleistungssektors tragen wesentlich die verschiedenen öffentlichen Einrichtungen wie das Klinikum am Weissenhof, die Weinbauschule, die von der Stadtverwaltung besorgte Verwaltung des Gemeindeverwaltungsverbands und die Schulen bei. Nicht enthalten sind in diesen Zahlen die Selbstständigen. Ansässige Unternehmen In Weinsberg sind zwei größere Unternehmen der Metallbranche ansässig. Die Vollert Anlagenbau GmbH (ehemals: Hermann Vollert KG) ist ein 1925 als Schlosserei gegründetes, mittelständisches Unternehmen im Maschinenbau und Anlagenbau, das mit 200 Mitarbeitern weltweit unter anderem in der Herstellung von Betonfertigteilwerken, Intralogistik- und Rangiersystemen sowie Schwerlast-, Förder-, Transport- und Lagertechnik tätig ist. Die 1958 gegründete Fibro GmbH, seit 1974 ein Tochterunternehmen des Heilbronner Läpple-Konzerns, ist in den Bereichen Normalien, Rundschalttische, Automation und Robotik tätig. In zwei Werken in Weinsberg und Haßmersheim hat Fibro über 900 Beschäftigte. Auch das heute in Heilbronn ansässige Werkzeug- und Formenbau-Unternehmen Läpple AG wurde 1919 in Weinsberg gegründet. Die 1903 als Gärtnerei gegründeten Weinsberger Rosenkulturen sind eine der größeren Rosenschulen in Süddeutschland. Außer Rosen werden auch noch andere Pflanzen kultiviert und verkauft. Im gemeinsamen Gewerbegebiet mit Ellhofen unterhielt das Unternehmen SPAR Handels AG über Jahrzehnte ein Großlager (sowie einen Eurospar-Markt). Nach der vom Bundeskartellamt im Jahr 2005 genehmigten Übernahme der deutschen SPAR durch Edeka ging auch dieses Lager an Edeka über. Von den einst (Stand Mitte Dezember 2005) über 700 Arbeitsplätzen waren zwischenzeitlich nur 370 übrig geblieben; bis September 2006 ist die Zahl aber wieder auf 540 angestiegen. 2002 verlagerte die Neckarsulmer Kaufland-Gruppe ihr Rechenzentrum von Neckarsulm nach Weinsberg. Fast 300 Personen sind hier beschäftigt. Die 1912 gegründeten Karosseriewerke Weinsberg GmbH (KW) waren bis 2011 auch in Weinsberg ansässig. Sie sind vor allem für die Wohnmobile bekannt, die sie unter dem Markennamen Weinsberg von 1969 bis 1992 bauten. Auch für Fiat bzw. NSU wurden Autos hergestellt, unter anderem in den 1960er-Jahren das Fiat Coupé Weinsberg 500. Später konzentrierte sich das Unternehmen auf die Teilefertigung und den Vorrichtungs- und Werkzeugbau. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage der Kunden wurde im April 2002 Insolvenz angemeldet. Die Wirtschaftskrise führte zur erneuten Insolvenz im März 2009. Noch 1987 beschäftigten die KW 560 Mitarbeiter; 2009 waren es noch 23. Nach der Übernahme der KW durch die Bretzfelder Wolpert-Gruppe im Dezember 2009 wurde der KW-Sitz 2011 nach Bretzfeld-Schwabbach verlegt. Ehemalige, heute nicht mehr bestehende Weinsberger Unternehmen sind u. a. die Dampfziegelei Weinsberg, später Ziegelwerke Koch & Söhne, dann Weinsberger Ziegel GmbH (1900 gegründet, Übernahme mehrerer Unternehmen wie der Ziegelei Böckingen, 1983 in Konkurs), auf deren ehemaligem Gelände sich heute die Erholungsanlage Alte Ziegelei befindet, die Tabakfabrik Weinsberg (1924 gegründet, Produktion von Pfeifentabaken, Gebäude in den 1970er-Jahren abgerissen) und die Chemische Fabrik Weinsberg (1909 gegründet, Herstellung von Wachspolitur, Bodencreme und Schuhcreme unter dem Markennamen Weibertreu). Ver- und Entsorgung Die Wasserversorgung Weinsbergs wurde früher über eigene Quellen sichergestellt. Wasserleitungen speisten Brunnen wie beispielsweise den Marktbrunnen von 1803. Ab 1900 verbesserte ein Hochbehälter am Burgberg, der 74 Hydranten im Stadtgebiet versorgte, die Lage. 1937 wurden zur Sicherung der Trinkwasserversorgung im Quellgebiet des Saubaches im Süden des Stadtgebietes zwei kleine Stauseen angelegt, die zusammen mit den vorhandenen und weiteren, neu erschlossenen Quellen bis in die 1970er-Jahre Trinkwasser lieferten. Ab 1961 wurde der Anschluss an die Bodensee-Wasserversorgung erwogen, 1962 erfolgte der Beitritt zum Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung (BSWV). 1974/1975 wurde Weinsberg dann von Heilbronn aus ans Leitungsnetz der BSWV angeschlossen; das erste Bodenseewasser floss am 27. März 1975 ins Weinsberger Leitungsnetz. 1904 wurde ein städtisches Gaswerk errichtet, das die Stadt mit durch Kohlevergasung selbst erzeugtem Stadtgas versorgte. Ab 20. Dezember 1962 wurde die Selbsterzeugung aufgegeben zugunsten von Gas, das durch eine neu erbaute Leitung aus Heilbronn bezogen wurde. Ab 1973 wurde auf Erdgas umgestellt. Gas- und Wasserversorgung werden von der Stadtwerke Weinsberg GmbH übernommen. Um die technische Abwicklung kümmern sich die Stadtwerke Heilbronn. Das selbst erzeugte Stadtgas wurde auch zum Betrieb der öffentlichen Straßenbeleuchtung benutzt, die am 31. Dezember 1904 erstmals mit Gas leuchtete. Am 8. Oktober 1957 wurde mit der Umstellung auf elektrische Straßenbeleuchtung begonnen, die Anfang der 1970er-Jahre wegen der Umstellung auf Erdgas forciert werden musste und am 8. Juni 1972 abgeschlossen war. Die Stromversorgung erfolgte ab 1912 über das Überlandwerk Hohenlohe-Öhringen; später war die Energie-Versorgung Schwaben (EVS) zuständig, die heutige EnBW, die in Weinsberg seit 1964 ein Umspannwerk betreibt. Die offenen Gräben (Dolen), die früher zur Entsorgung der Abwässer dienten, wurden nach 1900 durch unterirdische Rohrleitungen ersetzt. Zur Reinigung des Abwassers betrieb Weinsberg früher zwei eigene Kläranlagen. Seit 1976 benutzt die Stadt zwei gemeinsam mit mehreren Nachbargemeinden erbaute und betriebene Kläranlagen in Ellhofen und Neckarsulm. Medien Über das Geschehen in Weinsberg berichtet die Tageszeitung Heilbronner Stimme in ihrer Ausgabe für das Weinsberger Tal (WT). Vom 5. März 1875 bis 1934 erschien in Weinsberg auch eine eigene Tageszeitung, die Weinsberger Zeitung, und vom 1. Mai 1898 bis zum 21. Juni 1901 erschien mit dem Weinsberger Tagblatt sogar ein Konkurrenzblatt. Seit 1. März 1952 erscheint außerdem wöchentlich ein städtisches Amtsblatt, das Nachrichtenblatt für die Stadt Weinsberg, mit einer Auflage von 3.000 Exemplaren (Stand: 2002). Darüber hinaus gibt es noch das kostenlos verteilte, mittwochs und sonntags erscheinende Anzeigenblatt echo aus der Verlagsgruppe der Heilbronner Stimme. Das seit Oktober 2000 in Obersulm erscheinende wöchentliche Anzeigen- und Nachrichtenblatt sulmtal.de – das extrablatt (für das Weinsberger Tal) wird seit September 2006 auch in Weinsberg verteilt, in Grantschen und Wimmental schon seit August 2002. Seit dem 8. September 2006 bringt ein anderer Verlag von Bad Friedrichshall aus ein weiteres Anzeigenblatt für das Weinsberger Tal heraus, die Sulmtaler Woche. Im Radio berichtet gelegentlich das SWR4 Frankenradio des Südwestrundfunk-Studios Heilbronn über Weinsberg. Der Südwestrundfunk betreibt seit 1. Juli 1976 in Weinsberg auch einen UKW-Radiosender, der sich direkt an der westlichen Markungsgrenze zu Heilbronn im Wald auf dem Galgenberg befindet und bis 5. November 2008 auch ein Fernseh-Grundnetzsender war. Öffentliche Einrichtungen Weinsberg verfügt über ein Notariat, über ein Polizeirevier, das für den südöstlichen Landkreis Heilbronn zuständig ist, und über eine Verkehrspolizeidirektion (seit 2014, zuvor seit 1969 Autobahnpolizeirevier). Die Freiwillige Feuerwehr Weinsberg ist für Brandschutz und Unfallhilfe im Stadtgebiet und auch auf den Autobahnen A 6 und A 81 zuständig (vom Weinsberger Kreuz aus in drei Fahrtrichtungen jeweils einige Kilometer, insgesamt 40 km). Darüber hinaus befinden sich folgende öffentliche Einrichtungen in Weinsberg: Klinikum am Weissenhof Das Klinikum am Weissenhof wurde als Königliche Heilanstalt (für Geisteskranke) 1903 auf dem Gelände der Staatsdomäne Weißenhof eröffnet. Heute ist das Klinikum am Weissenhof ein modernes Krankenhaus für Psychiatrie (mit Abteilungen für Gerontopsychiatrie, Forensische Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie), Neurologie, Sucht und Psychotherapeutische Medizin. Das Krankenhaus beschäftigt über 800 Menschen und ist damit der größte Arbeitgeber in der Stadt Weinsberg. Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau (LVWO) mit Staatsweingut Die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau wurde als Königliche Weinbauschule 1868 gegründet und ist die älteste deutsche Wein- und Obstbauschule. Sie widmet sich der Ausbildung und der Forschung im Wein- und Obstbau, wozu sie in Weinsberg und anderen Orten diverse Obstgüter und Weinberge bewirtschaftet. Einige bedeutende Rebsorten, darunter der Kerner und der Dornfelder, wurden an der Weinbauschule gezüchtet. Die von der LVWO hergestellten Weine und Sekte werden seit 1995 unter der Bezeichnung Staatsweingut Weinsberg vermarktet. Sozialeinrichtungen Mit Kindergärten ist Weinsberg gut versorgt: Neben fünf städtischen gibt es einen evangelischen und einen katholischen Kindergarten. Die Jugendlichen haben das vom Gemeindeverwaltungsverband unterhaltene Jugendhaus, das seit 1995 in einem umgebauten ehemaligen Güterschuppen am Bahnhof untergebracht ist. Vorher hatte seit 1980 an anderer Stelle ein städtisches Jugendhaus existiert. Für hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche betreibt eine evangelische Einrichtung zusammen mit dem Landkreis Heilbronn in Weinsberg die Jugendhilfe im Lebensfeld (JuLe), seit 2002 in einem neu erstellten Gebäude. Beratung und Unterstützung in allgemeinen sozialen Belangen leistet die von der Diakonie getragene Diakonische Bezirksstelle Weinsberg. Die Aufbaugilde Heilbronn eröffnete am 21. Oktober 2005 in Weinsberg das Lebenshaus, eine Einrichtung, die sich zum Ziel gesetzt hat, Suchtkranken bei der Wiedereingliederung ins Leben zu helfen. Bis zu 30 chronisch mehrfach Geschädigte können sich hier nach dem Entzug wieder an das Alltagsleben gewöhnen. Als Treffpunkt der Älteren wurde am 6. Mai 1995 die Begegnungsstätte Backhaus eröffnet. Gleich nebenan entstand 1991 bis 1994 das Altenheim Feierabendstift (heute Wohnstift der Dienste für Menschen gGmbH). Pflegedienste und Nachbarschaftshilfe bietet die vom Gemeindeverwaltungsverband getragene Sozialstation „Raum Weinsberg“ mit insgesamt 35 Beschäftigten. Das Franken-Hospiz, von einem gemeinnützigen Verein getragen und seit Anfang 2003 in Betrieb, ist das erste stationäre Hospiz der Region Heilbronn-Franken. Acht Zimmer stehen hier für sterbenskranke Menschen zur Verfügung, die am Ende ihres Lebens mit Mitteln der Palliativmedizin betreut werden. Bildung Die Weinsberger Grundschule geht auf die alte Volksschule Weinsberg zurück, die in unmittelbarer Nähe zu Rathaus und Johanneskirche lag. Sie hieß zuletzt Grund- und Nachbarschaftshauptschule Weinsberg und wurde am 12. Januar 1973 in Grundschule und Nachbarschaftshauptschule geteilt. Die Grundschule nutzte die bestehenden Gebäude weiter, die Hauptschule zog zusammen mit dem Gymnasium in einen Neubau im Süden der Stadt, das Bildungszentrum Rossäcker. Mit der Errichtung einer zweiten Grundschule, der am 30. April 1997 eingeweihten Grundschule Rossäcker, wurde die Grundschule Weinsberg in Grundschule am Grasigen Hag umbenannt. Zum Schuljahr 2017/18 vereinigten sich die beiden Grundschulen wieder zur (neuen) Grundschule Weinsberg am Standort der Grundschule Rossäcker. Als offene Ganztagsschule bietet die Grundschule Weinsberg an vier Wochentagen eine Ganztagsbetreuung. Das Justinus-Kerner-Gymnasium Weinsberg wurde vermutlich um 1500 als Lateinschule begründet. Für 1540 ist der Bau eines neuen Schulhauses nachgewiesen. Neben der Lateinschule bestand zeitweise eine Deutsche Schule und in der Mitte des 19. Jahrhunderts für zwei Jahrzehnte eine Realschule. 1903 wurde an der Lateinschule ein Realschulzug eingerichtet. Die Schule hieß dann 1907–1909 Latein- und Realschule Weinsberg und ab 1909 endgültig Realschule Weinsberg. Nach weiteren Umbenennungen (1937 Oberschule Weinsberg, 1953 Progymnasium Weinsberg, 1955 Justinus-Kerner-Progymnasium Weinsberg) wurde die Schule schließlich ab 1970 zum Vollgymnasium ausgebaut und trägt seitdem ihren heutigen Namen. Der vom Gemeindeverwaltungsverband getragenen Nachbarschaftshauptschule war seit 1995 eine Werkrealschule angeschlossen. Zum Schuljahr 2010/2011 wurde sie ganz in eine Werkrealschule umgewandelt und trug seitdem den Namen Stauferwerkrealschule Weinsberg. Zum Schuljahr 2015/2016 gingen die Werkrealschule und die 1980 gegründete Realschule Weinsberg zu einer Verbundschule mit den Abteilungen Realschule und Werkrealschule zusammen, die den Namen Weibertreuschule erhielt. Mit dem Gymnasium und der Grundschule Weinsberg ist die Weibertreuschule im ab 1971 errichteten Bildungszentrum Rossäcker im Süden der Stadt untergebracht. Eine Städtische Musikschule wurde im Januar 1993 gegründet. Sie ist seit 1995 in der historischen Baukelter untergebracht. 15 Musiklehrer unterrichten dort rund 250 Musikschüler. Das in der Stadt ansässige Klinikum am Weissenhof bietet für seine schulpflichtigen Patienten eine Schule für Kranke in längerer Krankenhausbehandlung. Zusammen mit der Klinik Löwenstein betreibt das Klinikum auch eine Krankenpflegeschule (an der Krankenschwestern und -pfleger ausgebildet werden). Seit dem 1. Januar 2004 heißt die Schule offiziell Gesundheits- und Krankenpflegeschule und bildet Gesundheits- und Krankenpfleger(innen) aus. In Weinsberg befindet sich außerdem die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau (LVWO – s. o.), die zum Staatl. geprüften Techniker für Weinbau und Kellerwirtschaft, zum Staatl. geprüften Wirtschafter für Weinbau und zum Staatl. geprüften Wirtschafter für Obstbau ausbildet. Die Stadtbücherei Weinsberg mit einem Bestand von knapp 23.000 Medien steht allen Bürgern Weinsbergs und anderer Gemeinden offen. Sie wurde, in Nachfolge anderer Büchereien der Stadt und der evangelischen Kirchengemeinde, am 8. März 1971 eröffnet. Eine Volkshochschule wurde erstmals 1922 eingerichtet. Sie hatte nur wenige Jahre Bestand. Nach Zwischenspielen 1945 und 1950–1959 wurde der Betrieb 1969 endgültig wiederaufgenommen. Seit 20. Juni 1991 ist die Weinsberger VHS Teil der an diesem Tag neu gegründeten Volkshochschule Unterland. Im Herbst 2018 konnte die Volkshochschule mehrere Etagen in einem zuvor von der Grundschule am Grasigen Hag genutzten Gebäude übernehmen und ihre vorher verstreuten Räume so zusammenführen. Tourismus Ab den 1950er-Jahren war Weinsberg ein beliebtes Ziel für Sonderzüge der Deutschen Bundesbahn mit mehreren hundert oder gar über tausend Gästen. Noch bis Mitte der 1980er-Jahre fuhren bis zu vier Sonderzüge jährlich Weinsberg an. Mit der zunehmenden Verbreitung des Automobils und der leichten Erreichbarkeit Weinsbergs durch die neuen Autobahnen verlagerte sich dies später auf den Bustourismus und den Individualtourismus. Weinsberg liegt an der Burgenstraße; die Burgruine Weibertreu ist mit 26.000 Besuchern im Jahr 2004 die touristische Hauptattraktion der Stadt. Auch die Schwäbische Dichterstraße führt Besucher in die Stadt und ins Kernerhaus, das 2004 auf 2.800 Besucher kam. Schließlich liegt Weinsberg auch an der 2004 neu eingerichteten Württemberger Weinstraße, auf der man die Sehenswürdigkeiten der Weinbauregion Württemberg bereisen kann. Die Stadt verfügt seit 1993 über ehrenamtliche Gästeführer, die für allgemeine Stadt- und Burgführungen oder Themenführungen über zum Beispiel den Bauernkrieg in Weinsberg, Wein oder die Frauen Weinsbergs gebucht werden können. Rund 5.000 Gäste nutzten dieses Angebot im Jahr 2004. Die Stadtverwaltung bietet darüber hinaus in Zusammenarbeit mit der örtlichen Gastronomie und Hotellerie verschiedene Besichtigungs- und Übernachtungs-Pakete an und ist bemüht, auch auf individuelle Reisewünsche einzugehen. Persönlichkeiten Ehrenbürger Weinsberg hat in neuerer Zeit folgenden Personen das Ehrenbürgerrecht verliehen (mit Datum der Verleihung): Ehrenbürger Weinsbergs Friedrich August von Heyd (* 1. Dezember 1749; † 12. März 1840), evangelischer Pfarrer und Dekan in Weinsberg (vermutlich 1835) Christian Jakob David Hildt (* 25. Dezember 1814; † 17. Februar 1909), Baumeister und Architekt (vermutlich vor 1895) Johann Wilhelm Philipp Ammon (* 6. Oktober 1829; † 16. November 1897), Stadtpfarrer und Dekan in Weinsberg von 1881 bis 1896 (14. November 1896) Theobald Kerner (* 14. Juni 1817; † 11. August 1907), Sohn Justinus Kerners, Dichter und Arzt (14. Juni 1897) Karl Weller (* 22. November 1866; † 24. Dezember 1943), Historiker, veröffentlichte 1903 „Die Weiber von Weinsberg“ (11. Juni 1903) Erwin Hildt (* 1. Juli 1851; † 25. Februar 1917), Mitbegründer des Justinus-Kerner-Vereins und Stifter der nach ihm benannten Festhalle Hildthalle (21. März 1909) Gottlob Wagner (* 9. November 1839; † 7. September 1926), Oberamtsbaumeister in Weinsberg und langjähriges Gemeinderatsmitglied (17. September 1925) Hermann Ganzenmüller (* 1. Januar 1858; † 20. Dezember 1941), Stadtbaumeister und langjähriges Gemeinderatsmitglied (3. Oktober 1929) Am 16. März 1933 wurden Adolf Hitler und Paul von Hindenburg zu Ehrenbürgern Weinsbergs ernannt. Hitlers Ehrenbürgerrecht wurde am 12. März 1946 rückgängig gemacht. Hindenburg blieb Ehrenbürger, wird aber im Jahrbuch für die Stadt Weinsberg nicht als Ehrenbürger geführt. Karl Rebmann (* 8. März 1883; † 1. Juni 1970), Oberamtsbaumeister, Kreisbrandmeister, langjähriges Gemeinderatsmitglied, Bürgermeister (1945/1946), Neubegründer der Freiwilligen Feuerwehr in Weinsberg und im Landkreis (8. März 1963) Karl Weinbrenner (* 5. Oktober 1888; † 10. Mai 1968), Bürgermeister 1924–1945, Erwerber des Weinsberger Stadtwaldes auf Markung Gemmingen (5. Oktober 1963) Ernst Klenk (* 6. Januar 1905; † 19. Juli 1996), Direktor und Leiter der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau (6. Januar 1970) Erwin Heim (* 15. Februar 1910; † 17. März 1987), Bürgermeister 1948–1972, Träger des Bundesverdienstkreuzes I. Klasse (24. März 1972) Jakob Ringhof (* 6. Juli 1911; † 27. August 1993), langjähriges Gemeinderats- und Kreistagsmitglied, 1. Stellvertretender Bürgermeister 1965–1984 (4. Dezember 1984) Helmut Läpple (* 4. April 1916; † 23. September 2005), langjähriger Gesellschafter und Geschäftsführer (1940 bis 2004) der Läpple-Firmengruppe (11. Dezember 1992) Jürgen Klatte (* 23. August 1942), Bürgermeister 1972–1996 (29. März 1996) Gerhard Scherr (* 23. September 1933), langjähriges Gemeinderats- und Ortschaftsratsmitglied in Wimmental und Weinsberg, 1. Stellvertretender Bürgermeister 1984–2004 (23. September 2004) Ehrenbürger Gellmersbachs Ludwig Bauer (* 16. November 1919; † 6. Juni 2006), 1946–1974 Bürgermeister, 1975–1989 Ortsvorsteher Gellmersbachs (11. Dezember 1974) Söhne und Töchter der Stadt Hans Schweiner (ca. 1473–1534), Baumeister, Erbauer des Westturms der Heilbronner Kilianskirche Johannes Oekolampadius (1482–1531), Theologe, Reformator von Basel Friedrich Vischlin (1566–1626), Kirchenbaumeister Julius Friedrich von Malblanc (1752–1828), Rechtswissenschaftler und Hochschullehrer Franz Fraas (1802–1877), Stadtschultheiß von Weinsberg, Landtagsabgeordneter Friedrich Betz (1819–1903), Arzt und medizinischer Schriftsteller Heinrich Seufferheld (1866–1940), Künstler und Tübinger Universitätsprofessor Hermann Distel (1875–1945), Architekt Emma Joos (1882–1932), Malerin und Grafikerin Carl Krayl (1890–1947), Architekt Jürgen Blätzinger (* 1948), Generaloberstabsarzt der Bundeswehr Lutz Wegner (* 1949), Informatiker Rainer Bähr (* 1958), Jurist und Insolvenzverwalter Weitere Persönlichkeiten, die mit der Stadt in Verbindung stehen Michael Beheim (* 27. September 1416; † um 1474), in Sülzbach bei Weinsberg geborener Meistersinger mit dem Beinamen Poeta Weinsbergensis, ab 1439 in Diensten des Reichserbkämmerers Konrad (IX.) von Weinsberg Sebastian Breuning († 11. Dezember 1516), württembergischer Vogt Weinsbergs, der wegen angeblichen Hochverrats hingerichtet wurde Friedrich Christoph Oetinger (* 2. Mai 1702; † 10. Februar 1782), evangelischer Theologe (seit 1765 Prälat), 1752 bis 1759 Spezialsuperintendent (Dekan) und Stadtpfarrer in Weinsberg Friedrich Christoph Steinhofer (* 16. Januar 1706 in Owen (Teck); † 11. Februar 1761 in Weinsberg), evangelischer Theologe und Pietist. Johann Georg Hildt (* 17. März 1785; † 23. November 1863), Werkmeister und Architekt, Freund Justinus Kerners, Erbauer des Kernerhauses Justinus Kerner (* 18. September 1786; † 21. Februar 1862), Dichter und Arzt, der von 1819 an in der Stadt lebte. Das 1822 von ihm erbaute Wohnhaus, seinerzeit ein Treffpunkt von Dichtern und Denkern, kann heute noch besichtigt werden. Er setzte sich auch für die Erhaltung der Burgruine Weibertreu ein und verhinderte ihren weiteren Abbruch. Mit der Pflege dieses kulturellen Erbes beschäftigt sich heute der Justinus-Kerner-Verein und Frauenverein. Ferdinand Ludwig Immanuel Dillenius (* 2. Januar 1791; † 11. Dezember 1871), langjähriger Stadtpfarrer und Dekan in Weinsberg, der eine Stadtchronik verfasste Immanuel Dornfeld (* 15. Mai 1796; † 29. Dezember 1869), Verwaltungsbeamter, ab 1850 Kameralverwalter für das Oberamt Weinsberg, Hauptinitiator der Weinbauschule in Weinsberg Friederike Hauffe geb. Wanner (* 1801; † 25. August 1829), die sogenannte Seherin von Prevorst, war die bekannteste Patientin Justinus Kerners, der über sie ein Buch verfasste (Die Seherin von Prevorst) Hermann Bauer (* 19. September 1814; † 18. Mai 1872), Dekan in Weinsberg und württembergischer Heimatforscher Theobald Kerner (* 14. Juni 1817; † 11. August 1907), Arzt und Dichter, Sohn Justinus Kerners, pflegte das Erbe seines Vaters Johannes Mühlhäuser (* 27. Oktober 1834; † 2. April 1914 in Ulm), 1869 bis 1895 Leiter der Weinbauschule Richard Meißner (* 23. April 1868; † 12. Januar 1938), Vorstand der Württembergischen Wein-Versuchsanstalt und Vorsitzender des Justinus-Kerner-Vereins, Verfasser mehrerer Schriften zu Stadt und ihrer Geschichte Hermann Essig (* 28. August 1878; † 21. Juni 1918), Dramatiker und Dichter, ging in Weinsberg zur Schule und veröffentlichte 1909 das satirische Lustspiel Die Weiber von Weinsberg Otto Mörike (* 7. April 1897; † 9. Juli 1978), evangelischer Dekan Weinsbergs von 1953 bis Januar 1959, Gerechter unter den Völkern August Herold (* 7. August 1902; † 8. Januar 1973), Rebenzüchter an der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau Weinsberg Rolf Becker (* 12. September 1912; † 9. Mai 1984), Dichter und Lehrer Egon Susset (* 3. Juni 1929; † 26. Dezember 2013), aus Wimmental gebürtiger CDU-Bundestagsabgeordneter Gerhard Götz (* 5. Juni 1931), Direktor der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau Weinsberg, ausgezeichnet mit der Goldenen Ehrenmünze der Stadt Hagen von Ortloff (* Mai 1949), Rundfunkmoderator, ging in Weinsberg zur Schule Jan Jankeje (* 1950), Jazzmusiker und Komponist, lebt in Weinsberg Lutz Hübner (* 1964), Dramatiker, Schauspieler und Regisseur, wuchs in Weinsberg auf Weinsberg, Ohio In Ohio, USA, gab es eine Kleinstadt namens Weinsberg, die im frühen 19. Jahrhundert gegründet und nach ihrem deutschen Vorbild benannt wurde. 1833 wurde sie in Winesburg umbenannt, als dort ein Postamt eröffnete. Unter diesem Namen existiert sie heute noch. Winesburg, Ohio ist auch der Titel eines Romans von Sherwood Anderson aus dem Jahr 1919. Einzelnachweise Literatur Marianne Dumitrache, Simon M. Haag: Archäologischer Stadtkataster Weinsberg. Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, Stuttgart 1999Archäologische Bestandsaufnahme mit Stadtgeschichte. Simon M. Haag: Römer – Salier – Staufer – Weinsberger: kleine Geschichte von Burg und Stadt Weinsberg. Hrsg. vom Stadtarchiv Weinsberg. Verlag Nachrichtenblatt der Stadt Weinsberg, Weinsberg 1996, ISBN 3-9802689-9-3Knapper Überblick auf 74 Seiten im Taschenformat. Simon M. Haag: Zur Baugeschichte der Oberamtsstadt Weinsberg. Verlag Nachrichtenblatt der Stadt Weinsberg, Weinsberg 1995, ISBN 3-9802689-8-5Umfangreiches, reich illustriertes Geschichtswerk, das auf viele Bauten einzeln eingeht. Jahrbuch für die Stadt Weinsberg. Jahrbuch-Verlag, Weinsberg 1956–2004; RichterResponse, Weinsberg 2005–Erscheint jährlich. Mit ausführlichem Jahresrückblick, Einwohnerverzeichnis, Angaben zu Vereinen, Verwaltung und Institutionen. Weblinks Virtueller Rundgang durch Weinsberg Ersterwähnung 1241 Ort im Landkreis Heilbronn Reichsstadt Weinort im Weinanbaugebiet Württemberg Oberamtsstadt in Württemberg Stadt in Baden-Württemberg Stadtrechtsverleihung im 13. Jahrhundert Ort an der Sulm (Neckar) Weinort in Baden-Württemberg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Coleman%20Hawkins
Coleman Hawkins
Coleman „Hawk“ Hawkins (* 21. November 1904 in St. Joseph, Missouri; † 19. Mai 1969 in New York) war ein US-amerikanischer Jazzmusiker (Tenorsaxophon und Klarinette). Er gilt als „Vater“ des Tenorsaxophonspiels und war neben Lester Young einer der ersten stilbildenden Solisten auf dem Instrument. In seiner von 1922 bis 1969 währenden Karriere wurde er zuletzt dem Mainstream Jazz zugeordnet, nahm aber immer wieder Herausforderungen an und spielte mit den jeweiligen Avantgardisten ihrer Zeit. Seine Spitznamen waren Hawk und Bean. Leben Frühe Jahre (1904–1934) Coleman Hawkins stammte aus einer Mittelschichtfamilie und wuchs im Mittleren Westen der USA auf. Seine Mutter spielte Klavier und Orgel; mit vier Jahren brachte sie den jungen Hawkins dazu, Klavierspiel zu lernen; mit sieben Jahren begann er Cello zu spielen und mit neun Jahren bekam er ein C-Melody-Saxophon. Seine ersten Auftritte hatte er im Alter von zwölf Jahren bei Schulveranstaltungen in einer Trio-Besetzung mit Piano und Schlagzeug; durch diese Auftritte wurde er bald zu einer lokalen Berühmtheit. Seine Eltern schickten ihn daraufhin zur weiteren musikalischen Ausbildung nach Topeka; dort traf er mit dem Pianisten Jesse Stone und seinen Blue Serenaders zusammen und gehörte der Band einige Monate an. Deren Musik war ein Territory Jazz mit einem lockeren Two-Beat-Rhythmus. Ab 1921 war er als Musiker in Kansas City aktiv; im April nahm die Vaudeville-Blues-Sängerin Mamie Smith den Siebzehnjährigen in ihre Begleitband Jazz Hounds auf und konnte seine Eltern überreden, ihn mit ihr auf Tournee gehen zu lassen. Hawk spielte dort Blues und New-Orleans-Jazz im Stil von King Oliver und Louis Armstrong. Sein damaliger Kollege Garvin Bushell erinnerte sich, dass Hawkins vor allem deshalb in die Band geholt wurde, weil er Noten lesen konnte; „er war auf diesem Instrument in allem weiter, als ich je gesehen hatte … Er konnte alles lesen und irrte sich in keiner einzigen Note … Und er spielte sein Saxophon nicht, als sei es eine Trompete oder Klarinette, wie es damals üblich war. Er spielte auf den Akkorden, weil er als Kind Klavier gespielt hatte.“ Anfang Mai 1922 gastierten die Jazz Hounds für Schallplatten-Aufnahmen in New York City („Mean Daddy Blues“); in dieser Zeit gab Hawkins auch Einlagen mit dem Cello. Inzwischen war er zum Star und zur Attraktion der Band geworden, bekam aber nur wenige solistische Freiräume, was ihn dazu bewog, auszusteigen und in New York zu bleiben. Dort bekam er Jobs in den Bands von Ralph Jones und Cecil Smith, bis er im angesehenen Orchester von Wilbur Sweatman landete. Dort hörte ihn Fletcher Henderson, der ihn 1924 in seine Band holte. Zunächst war er aber nur bei einigen Plattenaufnahmen anwesend, wie bei „Dicty Blues“ am 9. August 1923. Fest zur Band gehörte er erst, als diese ein Engagement im Club Alabam bekam. Schließlich war es der Roseland Ballroom, wo er ab September 1924 an der Seite von Don Redman und Louis Armstrong zum führenden Solisten aufstieg und seinen eigenen Stil entwickelte, wie etwa in „The Stampede“ 1926 und dem Hit „Queer Notions“ 1933. In diese Zeit fiel seine erste Ehe mit einer Tänzerin namens Gertrude, die er noch aus seiner Zeit mit Mamie Smith kannte. 1929 ließen sich die beiden wieder scheiden. „Spätestens ab 1929 war Hawkins’ Ruf als bester Tenorsaxophonist durch die Platten und Auftritte mit Fletcher Henderson unumstritten, und sein Einfluss auf andere Saxophonisten, nicht nur Tenorsaxophonisten, war überwältigend“, schrieb sein Biograph Teddy Doering. So wurde Hawkins immer häufiger zu Aufnahmen anderer Bandleader oder Produzenten herangezogen, so bei den Little Chocolade Dandies im September 1929, kurz darauf bei den McKinney’s Cotton Pickers und mit Red McKenzies Mound City Blue Blowers, mit denen er „If I Could Be with You“ einspielte. Ende 1930 wechselte die Henderson-Band vom Roseland zu Connie’s Inn, einem Kellerclub mit hohem Ansehen, aus dem Auftritte im Radio ausgestrahlt wurden. Ein Höhepunkt in Hawkins’ Werk bei Henderson war „It's the Talk of the Town“ von 1932, nach Joachim-Ernst Berendt wahrscheinlich die erste große Solo-Balladen-Interpretation der Jazzgeschichte. Am 29. September 1932 entstanden Hawkins’ erste Einspielungen unter eigenem Namen mit dem Engländer Spike Hughes, durch den er erfuhr, wie hoch sein Ansehen in Europa war. Zuvor hatte er einen soeben aus Europa zurückgekehrten Kollegen darüber reden gehört, wie gut dort die Arbeitsbedingungen für Musiker seien, besonders für Schwarze. Umgehend schickte er ein Telegramm an Jack Hylton, den „englischen Paul Whiteman“, in dem nur stand: „Ich möchte nach England kommen.“ Hylton antwortete schon am nächsten Tag; Hawkins nahm Urlaub bei Fletcher Henderson, weil er glaubte, nur ein oder zwei Monate in Europa zu bleiben. Letztlich blieb er aber bis 1939. Kurz vor seiner Abreise nach Europa produzierte John Hammond im März 1934 Duoaufnahmen des Saxophonisten mit dem Pianisten Buck Washington; es scheint, als ob diese Aufnahmen („I Ain't Got Nobody“ und „It Sends Me“) teilweise mit ihrer „Schroffheit und Kühnheit aus heutiger Sicht wie ein Vorschatten des Bebop“ wirkten. Zu der Entscheidung, eine Weile in Europa zu arbeiten, trug auch die „Entthronung“ Hawkins’ Anfang des Jahres 1934 bei, als er mit dem Henderson-Orchester in Kansas City weilte und im neu eröffneten Nachtclub Cherry Blossom auf Lester Young, Ben Webster, Herschel Evans und weitere Kansas-City-Tenoristen traf. Mary Lou Williams war Ohrenzeugin dieser Jamsession: „Bean Hawkins hatte nicht damit gerechnet, dass die Kaycee-Tenoristen so gewaltig waren, und war unsicher und konnte keine rechte Linie finden, obgleich er den ganzen Morgen spielte.“ In Europa (1934–1939) Er verließ New York am 30. März und spielte nach seiner Ankunft in London zunächst in Jack Hyltons großem Orchester wie auch in dem kleineren Ensemble, das von seiner Frau Ennis geleitet wurde; Weihnachten 1934 kam Hawkins erstmals nach Paris. Im Anschluss waren einige Auftritte in Deutschland geplant, doch das nationalsozialistische Regime verbot dem Schwarzen Hawkins die Einreise. Hylton ließ Hawkins in Holland zurück, wo dieser mit Theo Uden Masman und seinen Ramblers spielte. Die Zusammenarbeit mit den Ramblers gipfelte in drei Aufnahmesitzungen, im Februar und August 1935 („I Wanna Go Back to Harlem“). Schon nach der ersten Session beschloss Hawkins, nicht mit Hylton nach England zurückzukehren; ihn lockte Paris. Im Februar trat er bei einem Konzert mit französischen Musikern im Salle Pleyel auf, das der Hot Club de France organisiert hatte. Im März nahm er mit dem Orchester von Michel Warlop auf; mit dabei die Stars des Quintette du Hot Club de France, Django Reinhardt und Stéphane Grappelli. Anschließend ging Hawkins auf eine ausgedehnte Skandinavien-Tournee, wo er begeistert gefeiert wurde. Nach einem längeren Aufenthalt in der Schweiz fanden am 28. April 1937 seine berühmte Aufnahmen mit Benny Carter, Reinhardt und Grappelli für Swing in Paris statt, wo „Honeysuckle Rose“ und „Crazy Rhythm“ eingespielt wurden. Das Jahr 1938 verbrachte Hawkins vorwiegend in den Niederlanden, wo er unter anderem im Negro Palace in Amsterdam spielte, und in Belgien; dort spielte er in Namur in der Band seines Landsmannes Arthur Briggs. Er versuchte eine Arbeitserlaubnis für England zu bekommen, die ihm jedoch von der Musiker-Gewerkschaft verweigert wurde. Mit einem Trick gelang es seinen englischen Fans, ihn ins Land zu holen: der Saxophon-Hersteller Selmer organisierte eine Tournee durch Großbritannien, die der „Schulung“ dienen sollte, da Hawkins nur für Musiker spielen werde. Darauf hatten die Gewerkschaften keinen Einfluss, und Hawkins ging im März/April auf England-Tournee. Danach wollte er eigentlich nach Holland zurückkehren; die angespannte politische Lage in Europa bewog ihn aber zur Rückkehr in die Vereinigten Staaten. Es kam noch zu einigen Auftritten in England, erneut mit Hylton; Hawkins wurde als „Variety-Künstler“ angekündigt. Die letzten Vorkriegsaufnahmen entstanden Ende Mai mit dem Hylton-Orchester; dann kehrte er Anfang Juli nach Holland zurück und war am 31. Juli wieder in New York. Swing Combos, Body and Soul und Bebop (1939–1945) In den fünf Jahren seiner Abwesenheit hatte sich die Szene in den USA verändert; neue Saxophonisten wie Chu Berry und Ben Webster (diese hatten hintereinander Hawkins Platz bei Henderson eingenommen) hatten sich Achtung verschafft, insbesondere aber Lester Young, der nicht mehr die Konkurrenz seines wenige Monate zuvor verstorbenen Rivalen Herschel Evans fürchten musste. In diese Situation kam Coleman Hawkins zurück; und seine Rückkehr machte sofort „die Runde“. Lester Young trat gerade mit Billie Holiday auf, als Hawkins hereintrat; Rex Stewart berichtete von diesem Moment: „Bean marschierte herein, packte sein Instrument aus und spielte zu jedermanns Überraschung mit ihnen.“ Schon vor seiner Abreise in die USA hatte Coleman Hawkins seine künftigen Arbeitsmöglichkeiten abgeklärt; er hatte die Option, mit eigener Band in Kelly’s Stable (141 West, 51st Street) aufzutreten. Da seine Wunschmusiker wie Red Allen, Benny Carter, Roy Eldridge, John Kirby oder Teddy Wilson in anderen Bands erfolgreich arbeiteten, stellte er ein achtköpfiges Ensemble mit jungen Musikern und der Sängerin Thelma Carpenter zusammen. Mit seiner Band trat er im Arkadia auf, einem Tanzlokal am Broadway. Am 11. Oktober 1939 ging die Band ins Studio, um für das Label Bluebird vier Titel einzuspielen. „Drei Stücke sind bereits im Kasten, und quasi als Dreingabe, damit zwei Platten gefüllt werden können, steht ‚Body and Soul‘ auf dem Programm, das gewöhnlich als Abschluss der Clubauftritte diente“, schrieb der Kritiker Werner Wunderlich zu der historischen Session. „Herausragende Musiker hat Hawkins nicht in seinem Ensemble, folglich ist er mit seinem Tenorsaxophon der alleinige Solist bei diesem Stück. Und genau diese, seine Version des oft gespielten Standards wird in einem Meilenstein, zu einer Jahrhundertaufnahme des Jazz, exemplarisch für eine Jazz-Ballade. Mit ‚Body and Soul‘ weist sich Coleman Hawkins als einer der ganz Großen aus, als der ‚Vater des Tenorsaxophons‘“, meinte Wunderlich in seiner Besprechung der „Jahrhundertaufnahmen des Jazz“. „Die vollendete Architektur seines Solos, in dem jeder Ton mit zugleich zwingender Logik und glühender Intensität zum nächsten führt, wurde unzähligen Generationen zur unvergesslichen Lektion über den dramaturgischen Aufbau von Improvisation“, stellt Marcus A. Woelfle fest in seinem Beitrag zu „Body and Soul“ im Buch über Jazz-Standards. Nun gelang Hawkins mit „Body and Soul“ ein überwältigendes Comeback – „Body and Soul“ war der einzige Titel, mit dem Hawkins in die Billboard Top 20 auf Rang 13 vordrang, sechs Wochen in den Hitparaden blieb und damit auch das „große Publikum begeisterte“. Der Down Beat zeichnete ihn als Tenorsaxophonist des Jahres aus, nachdem er während seiner Europa-Zeit etwas von Tenorsaxophonisten wie Lester Young in den Hintergrund gedrängt worden war. Im Februar 1941 endete das Engagement in Kelly’s Stable; der Impresario Joe Glaser fand schließlich eine Auftrittsmöglichkeit in Dave’s Swingland in Chicago. Dort leitete er eine Band unter anderem mit Darnell Howard und Omer Simeon; es entstanden aber durch den recording ban bis 1943 keine Plattenaufnahmen. Während einer Tournee in Indianapolis vom Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg überrascht, merkte er bald, dass sich die Arbeitsmöglichkeiten immens verschlechterten und kehrte mit seiner zweiten Frau Dolores Sheridan, die er in Chicago geheiratet hatte, nach New York zurück. Dort trat er am 24. Dezember erneut in Kelly’s Stable mit einem neuen Sextett auf, zu dem auch Kenny Clarke und Ike Quebec gehörten. Nach langer Abwesenheit von den Aufnahmestudios wirkte er bei einer von Leonard Feather für Commodore organisierten Session der Poll-Gewinner des Magazins Esquire mit; Hawkins’ Mitspieler waren unter anderem Art Tatum, Oscar Pettiford und Cootie Williams. Der junge Bassist Oscar Pettiford, der Hawkins stark mit seinen kühnen harmonischen Ideen beeindruckte, war bei seinen nächsten Sessions mit Eddie Heywood beziehungsweise Ellis Larkins und Shelly Manne im Dezember 1943 dabei, die erste Bebop-Anklänge erkennen ließen („Voodte“ und „The Man I Love“). In einer All-Star-Formation unter anderem mit Armstrong, Eldridge, Jack Teagarden, Lionel Hampton, Red Norvo und Billie Holiday trat Hawkins am 18. Januar 1944 beim legendären Konzert in der Metropolitan Opera auf. Als Mitte der 1940er-Jahre der Bebop aufkam, hatten viele ältere Musiker Probleme mit dem modernen Jazzstil; nicht so Hawkins, denn er wusste, wie viel er zu der neuen Musik beigetragen hatte. Im Februar 1944 kam es zur Begegnung mit dem Bop-Trompeter Dizzy Gillespie, dessen Titel „Woody’n You“ Hawkins daraufhin einspielte, mit dabei waren Don Byas, Clyde Hart und Max Roach; der Titel gilt als eine der frühesten Aufnahmen des kommenden Bebop. Dann holte Hawkins Mitte 1944 Thelonious Monk, dessen progressive Ideen er schätzte, für eine Tournee in sein Quartett. Danach spielte das Quartett im Downbeat Club; eine Aufnahmesession fand am 19. Oktober statt („On the Bean“, „Flyin’ Hawk“ und „Drifting on a Reed“); dies waren Thelonious Monks erste Studioaufnahmen überhaupt. Coleman Hawkins arbeitete aber weiterhin mit den „Traditionalisten“ zusammen, wie mit Eldridge, Ben Webster, Earl Hines, Teddy Wilson und Cozy Cole oder mit weißen Musikern um George Wettling und Jack Teagarden. Ende 1944 nahm er – ohne Monk, der New York nicht verlassen wollte – ein Engagement in Los Angeles an; auf Pettifords Empfehlung kam der Trompeter Howard McGhee in die Gruppe; am Klavier saß Sir Charles Thompson. Nach Auftritten in Buffalo, Detroit und Chicago begannen sie am 1. Februar 1945 in Billy Berg's Club in der Vine Street in Los Angeles; damit waren Hawkins und seine Musiker die ersten, die den neuen Bebop an die Westküste der Vereinigten Staaten brachten, noch vor Dizzy Gillespie und Charlie Parker, die dort Ende des Jahres auftreten sollten. Die Nachkriegszeit (1945–1959) Charlie Parker spielte im New Yorker Spotlite und hatte sich inzwischen durchgesetzt; Hawkins hörte ihm dort mit Interesse zu. Im April und Mai 1946 nahm er mit ihm sowie Lester Young, Buck Clayton, Buddy Rich und anderen an einer ausgedehnten Jazz-at-the-Philharmonic-Tournee teil; interessant war für die Zuhörer vor allem das Aufeinandertreffen von Hawkins und Lester Young. 1946 nahm er noch zusammen mit J. J. Johnson und Fats Navarro einige Balladen auf. Im Mai 1947 kehrte Hawkins nach New York zurück und spielte eine Zeit lang im Three Deuces; im Juni ’47 spielten Miles Davis, Hank Jones und Kai Winding in Hawkins’ All-Stars-Formation (Bean A Re-Bop). 1948 nahm er seine Solo-Improvisation „Picasso“ auf, eine Improvisation über die Akkorde von „Body and Soul“, die erste unbegleitete Saxophon-Soloaufnahme im Jazz; die Idee zum Titel stammte von Norman Granz. Angesichts der schwierigen Arbeitsmöglichkeiten war Hawkins froh, zum ersten Jazzfestival in Paris im Marigny-Theater und weiteren Konzerten eingeladen zu werden. Dort spielte er mit Howard McGhee, Erroll Garner, John Lewis und Kenny Clarke, der in Paris bleiben sollte. Zurück in den USA arbeitete er meist als freischaffender Musiker; doch es drängte ihn nach einer erneuten JATP-Tournee und zurücklassendem Interesse des Publikums, wieder in Europa zu arbeiten. In Paris stellte er eine Formation für eine Tournee nach London und Brüssel zusammen, zu der Clarke und James Moody gehörten. Wieder in Paris, nahm er mit Clarke und Pierre Michelot für Vogue „Sophisticated Lady“ auf. Zeitweise hatte Hawkins Alkoholprobleme, da er an Depressionen erkrankt war; außerdem litt er darunter, von manchen Kritikern als „veraltet“ abgestempelt zu werden. Mit dem Rückgang des Bebop-Welle stieg sein Stern im Zuge des zunehmenden Interesses am Mainstream Jazz wieder. Zudem wurde er von den jungen Kollegen der Bop-Szene bewundert; im September 1950 fand die einzige Studiobegegnung mit Charlie Parker für den Film Improvisation statt. Ende 1950 bildete er eine kurzlebige Formation mit Kenny Drew, Tommy Potter und Art Taylor, die es als Ehre betrachteten, mit ihm zu spielen. Im Herbst ’51 konnte er einen Plattenvertrag mit Decca abschließen; die Aufnahmen waren jedoch wenig befriedigend, da die Firma von ihm eingängige Versionen von Popsongs mit Streichern erwartete. 1953 verlängerte er daher den Vertrag nicht und spielte in einer Gruppe mit Roy Eldridge, zu der Art Blakey und Horace Silver gehörten, mit der aber keine Aufnahmen existieren. Bei Savoy erschien 1954 entstand eine erste LP unter Hawkins Namen, die jedoch kein geschlossenes Album ist, sondern eine Ansammlung von älteren und jüngeren Session in teilweise katastrophaler Klangqualität. Mit Illinois Jacquet tourte er 1954 durch amerikanische Militärstützpunkte in Europa. Im Sommer 1954 wirkte er an Jamsessions mit, die unter dem Namen von Buck Clayton von Columbia produziert wurden und zu den ersten Langspielplatten gehörten. Hier trafen vor allem Musiker aus dem alten Basie Orchester aufeinander. Auf dem Newport Jazz Festival 1956 wurde Hawk gefeiert; 1956 begleitete er Billie Holiday bei ihrem letzten Konzert in der New Yorker Carnegie Hall. Nach einigen Alben für die Label Jazztone, Coral, Urania nahm er für RCA Victor (Hawk in HiFi mit Streichorchester) und Riverside auf. Für letztere entstand im März 1957 The Hawk Flies High, mit dem er an die glanzvollen Bebop-Jahre anknüpfte. Dabei griff er auf Musiker dieser Zeit zurück, J. J. Johnson, Hank Jones, Oscar Pettiford und Idrees Sulieman, der aus dem Monk-Umfeld stammte, während Jo Jones und Barry Galbraith eher dem Mainstream Jazz zuzurechnen waren. Trotz der anwesenden Bopper war es eher eine Antwort Hawkins’ auf die Back to the Roots-Tendenzen im damals aktuellen Hard Bop; Blues und Gospel spielen hier eine fundamentale Rolle. Schließlich hatte Hawk 1957 Gelegenheit einige Alben für Granz’ neues Label Verve einzuspielen; so sein Duett mit Ben Webster, das auf Coleman Hawkins Encounters Ben Webster erschien, und kurz danach mit dem Oscar Peterson Trio auf dem Album The Genius of Coleman Hawkins. Er nahm zunehmend eine Elder Statesman-Rolle im Jazz ein, stellte sich aber immer wieder Herausforderungen. Seine Offenheit für neuere Strömungen hat er in Aufnahmen mit Max Roach und Sonny Rollins demonstriert, mit denen er die Freedom Now Suite aufnahm; dann wirkte er an der Seite von John Coltrane an Monks Album Monk’s Music mit und spielte mit Eric Dolphy in der Begleitband von Abbey Lincoln. Am Ende des Jahres war er an der legendären Fernsehproduktion The Sound of Jazz beteiligt, wo er bei „Fine and Mellow“ ein letztes Mal mit Lester Young zusammentraf. Daneben spielte er Mitte der 1950er meist im Metropole und in der 7th Avenue beim Times Square ohne feste Formation und wirkte an Aufnahmesessions von J. J. Johnson, Charlie Shavers, Red Allen und Cootie Williams/Rex Stewart mit. Schon 1958 begann Hawkins Platten für das Label Prestige einzuspielen, beginnend mit dem gemeinsam mit Tiny Grimes geleiteten Swingtet, mit dem Bluesgroove entstand; es folgten Alben wie Soul, Hawk Eyes, At Ease und Night Hawk mit wechselnden Begleitbands, in denen Hawkins auf die junge Hardbop-Generation traf, wie Ray Bryant, Ron Carter, Kenny Burrell, Tommy Flanagan und Red Garland. Musikalisch nahm er in dieser Phase Anklänge von Soul, Rhythm and Blues und Hardbop hinzu; sein breiter, vibratoreicher Tenorklang war wieder gefragt. Unmittelbar vor dem Tod seines langjährigen Rivalen Lester Young, als dieser nach jahrelangem, fast ununterbrochenem Alkohol- und Marihuana-Genuss nur noch ein Schatten seiner selbst war, hatte Hawkins, obwohl er früher als Young zu Starruhm gelangte, nach Einschätzung des Kritikers Joachim Ernst Berendt noch immer seine alte, unzerstörbare Vitalität und Kraft. Die letzten Jahre (1960–1969) Im April 1960 trat er in Essen mit Pettiford, Kenny Clarke und Bud Powell auf; 1960/61 kam es zu einer „Reunion“ mit Benny Carter; zunächst auf Hawkins eigenem Album Bean Stalkin’, dann mit Carters Impulse-Album Further Definitions, einem „remake“ ihrer legendären Paris-Session von 1937 mit Grappelli und Django Reinhardt. 1962 tourte er mit Duke Ellington und nahm in Quartettbesetzung das Impulse-Album Today and Now auf; 1963 lieferte er sich in Newport ein Duell mit Sonny Rollins und 1963/1964 war er wieder mit Jazz at the Philharmonic auf Tour; ansonsten spielte er im Village Gate mit seiner neuen Begleitband aus Flanagan, Major Holley und Eddie Locke. Eine neue Krise entstand, als er sich als Sechzigjähriger mit drei Kindern in eine Zwanzigjährige verliebte, die ihn aber bald wieder verließ; noch stärkere Depressionen und Alkoholexzesse folgten. 1964 wurden die Auftritte seltener; Anfang 1965 trat er im Five Spot mit Eddie Locke, Barry Harris und Buddy Catlett auf. Bei Hawkins, der schon immer ein starker Trinker war, machte sich der hohe Alkoholkonsum auch äußerlich bemerkbar: „Der einst so gepflegte Mann hörte auf sich zu rasieren und zum Friseur zu gehen (…) Seine Kleidung wurde ungepflegt und auch sein schleppender Gang und sein nun gebrechlich wirkender Körper waren typisch für einen alten Mann“. Norman Granz gehörte zu den wenigen verbliebenen Freunden, die versuchten, ihm zu helfen; er holte ihn 1966 noch einmal zu Jazz at the Philharmonic (Solo „September Song“). Obwohl die Tournee zu den geglückteren Momenten seiner späten Jahre gehörte, waren die Zeichen des Verfalls unübersehbar; der Kritiker Arrigo Polillo schrieb damals: „Sollte dieser bärtige und ungepflegte Mann, der älter als siebzig Jahre zu sein schien, tatsächlich er, Coleman Hawkins sein? Man wollte seinen eigenen Augen nicht trauen. Seinen Ohren durfte man trauen, und das war das Erstaunliche; trotz allem war der Hawk immer noch ein großer Meister.“ Nachdem er im selben Jahr in Oakland auf der Bühne kollabierte, musste Hawkins ins Krankenhaus. Er erholte sich noch einmal, machte aber auf der Europa-Tour 1967 mit Oscar Petersons Trio einen so deprimierenden Eindruck, dass Ralph Gleason sogar vermutete, er wolle sterben. Hawk, der immer eine Vorliebe für elegante Anzüge hatte, „sah wie ein struppiger Vagabund aus.“ In Barcelona wurde er ausgebuht; während das Londoner Publikum einen passabel spielenden Hawkins erleben durfte. Am 13. Februar entstanden bei einer Dänemark-Tournee seine letzten Aufnahmen für Storyville mit Kenny Drew und NHOP, die ihn noch einmal in überraschend guter Form zeigten; „ein passender Abschluss nach einer so langen Aufnahmekarriere“, so Teddy Doering. Im Januar 1969 verstarb seine Mutter im Alter von 96 Jahren, was ihn noch tiefer in die Depression fallen ließ. Den Rest des Winters verbrachte Hawkins meist in seinem New Yorker Appartement; aber im März spielte er im Fillmore East; in Chicago kam es anlässlich einer Fernseh-Produktion zu einem letzten Treffen mit Roy Eldridge und Barry Harris. Nach seiner Rückkehr kam es zum völligen Zusammenbruch; diagnostiziert wurde eine bronchiale Lungenentzündung und eine allgemeine Schwäche durch Unterernährung. Barry Harris sorgte für seine Einlieferung in das Wickersham Hospital, wo ihn einige wenige Freunde noch besuchten, Monk, die „Jazz-Baroness“ Nica und der New Yorker „Jazzpfarrer“ John Gensel. Er starb am 19. Mai 1969. Das noch in Chicago aufgezeichnete Programm wurde im ganzen Land als Gedächtnissendung ausgestrahlt. Die Trauerfeierlichkeiten Hawkins’ Trauerfeier und Begräbnis fanden am 23. Mai in der St. Peter’s Lutheran Church in Manhattan beziehungsweise auf dem Woodlawn Cemetery in der Bronx statt; Eddie Locke war von Hawkins’ Familie gebeten worden, die Sargträger zu organisieren. Dies waren Zutty Singleton, Zoot Sims, Major Holley, Big Nick Nicholas und Roy Eldridge. Eine große Schar bedeutender Kollegen war gekommen, so Dizzy Gillespie, Johnny Hodges, Illinois Jacquet, Yusef Lateef, Charles Mingus, Ornette Coleman, Horace Silver, Jackie McLean, Charlie Shavers, Clifford Jordan und viele andere, um Dolores Hawkins, ihren Sohn Rene und die Töchter Mimi und Colette zu begleiten. Nach der Predigt las die Ehefrau von Howard McGhee ein eigenes Gedicht, Hold Out Your Hand; Roland Hanna spielte eines von Hawkins Lieblingsstücken, Robert Schumanns „Träumerei“, gefolgt von seiner eigenen Komposition „After Paris“. Thad Jones spielte am Flügelhorn sein Stück „Say It Softly“. Außerdem waren Hunderte von Fans in die Kirche gekommen; weitere, die keinen Einlass gefunden hatten, standen außen auf der Lexington Avenue. Wenige Tage nach seiner Beerdigungsfeier ernannte das Repräsentantenhaus seines Heimatstaates Missouri Coleman Hawkins zu ihrem Ehrenbürger. Am 25. Mai wurde die Fernsehshow lokal ausgestrahlt, an der Hawkins zuletzt noch mitgewirkt hatte. In überarbeiteter Form, versehen mit Beiträgen von Dan Morgenstern, Eldridge, Harris, Truck Parham und Bob Cousins wurde sie im Juli landesweit übertragen. Dabei sang Eddie Jefferson den Songtext, den er über Hawkins’ Version von „Body and Soul“ geschrieben hatte. Seine Musik und Bedeutung Die Entwicklung von Coleman Hawkins’ Stil Coleman Hawkins, der oft als der „Erfinder“ des Tenorsaxophon bezeichnet wurde, wehrte sich gegen diese Zuschreibung und erwähnte frühe Saxophonisten wie Happy Cauldwell in Chicago oder Stump Evans aus Kansas City. „Wenn er nicht der erste war, der Saxophon gespielt hat, so war er doch der erste, der seine vielen Möglichkeiten entdeckt, seinen Klangcharakter festgelegt und seine Technik perfektioniert hat“, so Arrigo Polillo in einer Würdigung, „derjenige, der dem Instrument (und nicht nur dem Tenor, sondern der ganzen Familie der Saxophone) in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in der Jazzwelt Geltung verschafft hat“. „Ich spielte sehr laut“, erinnerte sich Hawkins 1967 in einem Downbeat-Interview, „und benutzte ein sehr hartes Rohrblatt, weil ich versuchen musste, meine Soli über sieben oder acht gleichzeitig spielenden Blasinstrumenten durchzuführen. Meine Klangfülle hat sich so entwickelt, während ich diese Rohrblätter ausprobierte und im Laufe des Abends immer wieder die Mundstücke wechselte. Ich musste es mit Leuten wie Armstrong, Charlie Green, Buster Bailey und Jimmy Harrison aufnehmen.“ Polillo schrieb weiter: „Die erste Platte, auf der Hawkins zeigte, dass er inzwischen die volle Meisterschaft auf seinem Instrument und einen persönlichen Stil entwickelt hatte, ist The Stampede von 1926. Diese (frühe) Aufnahme bildete für alle Saxophonisten ihrer Zeit ein Vergleichskriterium.“ Nach Ansicht von Martin Kunzler leitete diese Platte „den Siegeszug eines Instruments ein, das zuvor im Jazz ein nicht minder kümmerliches Dasein geführt hatte“. „Er war der Erste, der es wirklich als Instrument spielte“, so Ronnie Scott. „Sein früher Stil war noch von der Klarinetten-Spielweise des Instruments beeinflusst“, so Carlo Bohländer; „in den dreißiger Jahren war seine Akkordmelodik in zunehmendem Maße durch harmonische Erweiterungen, punktierte Achtelnotenbewegung und Legato-Artikulation gekennzeichnet. Seine reiche Erfindungsgabe ließ ihn Phrasen immer wieder fortspinnen und ohne Ruhepunkte aneinanderreihen.“ So war es die eher unbeabsichtigte Aufnahme von Body and Soul, die Hawks Position endgültig festigte; „zur großen Überraschung von Hawk wurde es seine berühmteste und meistverkaufte Aufnahme und gilt als ein immer wieder zitiertes Beispiel für Jazzimprovisation.“ Es waren die Aufnahmen von 1939 und der frühen vierziger Jahre, die den Kern seines Schaffens ausmachen: „When Lights are Low“, 1939 in einer Session mit Lionel Hampton entstanden, dann „Sweet Lorraine“ und „The Man I Love“ von 1943 mit Eddie Heywood, Oscar Pettiford und Shelly Manne. Seinen Rang im aufstrebenden Bebop zeigen seine Sessions für das Label Apollo im Februar 1944, als der Saxophonist mit kleinen Combos auf der 52nd Street arbeitete. Er war einer der allerersten Musiker seiner Generation, die dem Bop Respekt und Vertrauen entgegenbrachten und „setzte sich für deren Aufnahmen ein, die ein neues Kapitel in der Geschichte des Jazz eröffnen sollten“. Obwohl für ihn selbst diese musikalische Ausdrucksweise neu war, nahm er mit Pettiford, Dizzy Gillespie und Max Roach Titel wie „Rainbow Mist“, „Yesterdays“ und die Bebop-Nummern „Woody'n You“, „Disorder at the Border“ und „Bu Dee Dah“ auf, die ihm den Respekt der damaligen Avantgarde-Musiker einbrachten. Hawkins zeichnete „ein runder, voller, vibratoreicher und expressiver Ton aus“, so Carlo Bohländer. Martin Kunzler hebt die Autorität seines Spiels, das Vibrato, die rhapsodierende Grundhaltung, seine gewaltige Motorik in schnellen Zügen und die romantische Dimension seines Balladen-Interpretation hervor. Der Autor zitiert Miles Davis mit den Worten: Indem ich Hawk hörte, habe ich Balladen spielen gelernt. Paul Gonsalves betrachtete Hawkins „als eine der größten Musikerpersönlichkeiten des Jahrhunderts, die ihren persönlichen Stil nie zur Masche haben werden lassen.“ Teddy Doering nennt chronologisch fünf Merkmale von Hawkins’ Personalstil: „Ein überraschender, prägnanter Einstieg, gewissermaßen ein Springen in ein Solo“, zu hören in Hawkins’ frühen Titeln wie „Whenever There's a Will“ mit den Cotton Pickers, „Sugar Foot Stomp“ (1931) mit Fletcher Henderson oder noch in der Pariser Session in „Crazy Rhythm“ (1937). „Das Erfinden einer einfachen Riff-Melodie, die dann mit leichten Abwandlungen mehrmals wiederholt wird“. Dieses Stilmittel verwendete er nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten 1939 bis etwa 1944 in „One O’Clock Jump“ oder „Esquire Bounce“ mit den Esquire All-Stars. „Die Balladentechnik; sie ist spätestens seit 1929 voll entwickelt und gehört zu seinen größten Leistungen“. Doering nennt hier Hawkins’ „Ornamentik, die individuelle Verschönerung des Grundthemas im melodischen Bereich sowie die harmonische Erforschung und Veränderung der zugrunde liegenden changes.“ „Das Fetzen in schnellen Stücken.“ Als Beispiel führt der Autor den Gershwin-Standard „The Man I Love“ an oder die bei JATP-Liveauftritten angewandte Methode der R&B-Musiker, kurz angehackte Wiederholungen zu spielen, das „Kreischen“ in hoher Lage über zwei oder drei Noten hinweg, rasende Läufe, um das Publikum zu beeindrucken. „Seine Spielweise der letzten Jahre mit ihren kurzen, manche sagen: kurzatmigen Phrasen“. Doering ist der Ansicht, dass Hawkins, der in den letzten Jahren Atemprobleme hatte, das Beste daraus machte und sich bemühte, „diese Kurzphrasen, diese motivische Improvisation, zu überzeugenden Aussagen zusammenzubauen.“ Die unterschiedlichen Spielauffassungen von Hawkins und Lester Young Teddy Doering führt in seiner Hawkins-Biographie aus, dass die späten 1930er Jahre von der Rivalität der Tenorsaxophonisten Hawkins und Lester Young geprägt waren. Spätestens mit der berühmten Jam-Session 1934 war Hawkins auf einen ebenbürtigen Rivalen gestoßen. Sein erster Auftritt nach seiner Rückkehr aus Europa 1939 war dann mit diesem Zusammentreffen verbunden. Trotz seines Erfolgs mit „Body and Soul“ musste er „aber feststellen, dass die nächste Generation von Tenoristen fast ausnahmslos der Spielweise von Lester Young folgte. Vordergründig liegt der Hauptunterschied im Stil der beiden Musiker im Ton. Hawks breiter, vibratoreicher, expressiver und aggressiv wirkender Ton steht im schroffen Gegensatz zu der subtilen, introvertierten, lyrischen und zurückhaltenden Auffassung von Lester Young.“ Als weiteren Unterschied sieht Doering in den Improvisationen: Hawkins legte diese vertikal an, „d. h. die Changes waren ihm wichtiger als die Melodien. In Melodien sah er nur aufgelöste Akkorde. Ganz anders dagegen Lester Young; seine Auffassung war eher linear: Die Melodielinien, die er erfand, waren ihm wichtig. In rhythmischer Hinsicht verharre Hawkins ‚auf seinen 4/4 mit seinen regelmäßigen punktierten Noten‘, während Young sich von diesem rhythmischen Konzept löste.“ Die „Hawkins-Schule“ Hawkins’ Stil war schon in den 1930er Jahren Vorbild für Zeitgenossen wie Ben Webster und den früh verstorbenen Chu Berry, die seine direkten Nachfolger bei Fletcher Henderson waren. „Ben Webster gelang es sogar, diesen (Hawkins)-Ton und die damit verbundene Expressivität noch zu steigern, während sich Chu Berry bemühte, Hawk in seiner Ornamentik zu übertreffen.“ Später beeinflusste sein Sound eine ganze Generation – sein Biograph Teddy Doering spricht von der „Hawkins-Schule“ – von Swing, R&B- und Bop-Spielern wie Illinois Jacquet, Arnett Cobb, Lucky Thompson, Dexter Gordon und Sonny Rollins, ferner Don Byas, der seine Stärke in der Gestaltung von Balladen sah, und Eddie „Lockjaw“ Davis mit seiner rauen, vorantreibenden und aggressiven Spielweise, und schließlich die Blues-Tenorsaxophonisten wie Hal Singer, Houston Person, Al Sears, Jack McVea und Jimmy Forrest. um nur einige zu nennen. Doering erwähnt außerdem die R&B-Saxophonisten, die sich auf Hawkins bezogen, wie Big Jay McNeely, Bull Moose Jackson oder Sam „the Man“ Taylor. Hinzu kamen zahlreiche weiße Musiker, die in den großen Swing-Orchestern spielten, wie Sam Donahue, Flip Phillips, Tex Beneke, Vido Musso oder Georgie Auld. Bedeutende Einspielungen 1923 – Dicty Blues (Fletcher Henderson Orchestra) 1929 – The Stampede (Fletcher Henderson Orchestra) 1929 – Hello Lola, One Hour (Mound City Blue Blowers) 1933 – Jamaica Shout – (1. Session von Coleman Hawkins and His Orchestra) 1935 – I Wish I Were Twins – (Coleman Hawkins acc. by The Rambles) 1937 – Honeysuckle Rose, Crazy Rhythm, Out of Nowhere, Sweet Georgia Brown (Coleman Hawkins All-Star Jam band, Paris) 1939 – When Lights Are Low (Lionel Hampton and His Orchestra) 1939 – Body and Soul – (Coleman Hawkins and His Orchestra) 1943 – The Man I Love – (Coleman Hawkins Quintet, mit E.Heywood und O. Pettiford) 1944 – On the Bean – (Coleman Hawkins Quartett mit Thelonious Monk) 1946 – Bean and the Boys – (mit Fats Navarro, J. J. Johnson, Milt Jackson, Curly Russell, Max Roach) 1948 – Picasso (C. H. solo) 1957 – Blues for Yolande (C.H., Ben Webster und Oscar Peterson) Diskografie (Auswahl) Das frühe Werk der 78-er Schallplatten-Ära von 1929 bis 1950 ist umfassend auf der Classics (Jazz)-Reihe dokumentiert 1922 -1947 Classic Coleman Hawkins Sessions (Mosaic Records) 1939 Body and Soul (Bluebird) 1944 The Complete Coleman Hawkins on Keynote (Mercury) 1946 Bird and Pres – The ’46 Concerts Jazz at the Philharmonic 1951 Body and Soul Revisited (Decca/GRP) 1955 The Stanley Dance Sessions (Lonehill Jazz, 1955–1958) 1956 The Hawk in Hi-Fi (Bluebird) 1957 The Genius of Coleman Hawkins (Verve) 1957 At the Opera House (Verve) 1957 The Hawk Flies High (Prestige/OJC) 1958 Soul (Prestige/OJC) 1959 Coleman Hawkins Encounters Ben Webster (Verve) 1960 At Ease with Coleman Hawkins, Night Hawk (Prestige/OJC) 1961 The Hawk Relaxes (Prestige/OJC) 1962 Verve Jazz Masters 34 (Verve, guter Überblick über das Schaffen auf dem Clef-Label 1944–1962) 1962 Today and Now, Desafinado (Impulse) 1966 Supreme (Enja) Auf der bei Riverside erschienenen Doppel-LP Coleman Hawkins – a Documentary (RLP 12-119) erzählt er aus seinem Leben. Literatur Joachim Ernst Berendt, Günther Huesmann Das Jazzbuch. Von New Orleans bis ins 21. Jahrhundert. Fischer, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-10-003802-9. Carlo Bohländer, Karl Heinz Holler, Christian Pfarr: Reclams Jazzführer. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Reclam, Stuttgart 2000, ISBN 3-15-010464-5. John Chilton: The Song of the Hawk: The Life and Recordings of Coleman Hawkins. University of Michigan Press, Ann Arbor 1993, ISBN 0-472-08201-9. Teddy Doering: Coleman Hawkins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten. Oreos, Waakirchen 2001, ISBN 3-923657-61-7. Leonard Feather, Ira Gitler: The Biographical Encyclopedia of Jazz. Oxford University Press, New York 1999, ISBN 0-19-532000-X. Scott DeVeaux: Jazz in transition. Coleman Hawkins and Howard McGhee, 1935–1945. Berkeley, Univ., Dissertation. University Microfilms International, Ann Arbor, MI. 1985. Burnett James: Coleman Hawkins. 1984, mit Diskographie. Martin Kunzler: Jazz-Lexikon. Band 1: A–L (= rororo-Sachbuch. Bd. 16512). 2. Auflage. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, ISBN 3-499-16512-0. Albert McCarthy: Coleman Hawkins. Cassell, London 1963. Richard Cook, Brian Morton: The Penguin Guide to Jazz on CD. 6. Auflage. Penguin, London 2002, ISBN 0-14-051521-6. Robert Nippoldt / Hans Jürgen Schaal: Jazz im New York der wilden Zwanziger. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2007, ISBN 978-3-8369-2581-5 Arrigo Polillo: Jazz. Die neue Enzyklopädie. Schott, Mainz 2007, ISBN 3-254-08368-7. Marcus Woelfle: Liner Notes. zu Coleman Hawkins 100th Birthday Collection. (zyx) Marcus Woelfle: Body and Soul. In: Hans-Jürgen Schaal (Hrsg.): Jazz-Standards. Das Lexikon. 3., revidierte Auflage. Bärenreiter, Kassel u. a. 2004, ISBN 3-7618-1414-3. Weblinks , arte, 8. September 2006, Reihe: «30 Jahrhundertaufnahmen des Jazz» „Coleman Hawkins: Body, Soul und zwei Stück Seife“, Porträt mit ausgewählter Diskografie von Jörg Alisch Thomas Mau: 21.11.1904 - Geburtstag von Coleman Hawkins WDR ZeitZeichen vom 21. November 2019 (Podcast) Quellen und Anmerkungen Jazz-Saxophonist Komponist (Jazz) US-Amerikaner Geboren 1904 Gestorben 1969 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische%20Sommerspiele%201968
Olympische Sommerspiele 1968
Die Olympischen Sommerspiele 1968 (offiziell Spiele der XIX. Olympiade genannt) fanden vom 12. bis zum 27. Oktober 1968 in Mexiko-Stadt statt. Die Hauptstadt Mexikos setzte sich auf der 61. IOC-Session in Baden-Baden gegen die Mitbewerber Detroit, Lyon und Buenos Aires durch. An den Spielen nahmen 5516 Athleten (4735 Männer und 781 Frauen) aus 112 Nationen teil. Erfolgreichste Nation waren die USA vor der Sowjetunion und Japan. Die erfolgreichsten Sportler waren die Turnerin Věra Čáslavská (Tschechoslowakei) mit vier Gold- und zwei Silbermedaillen und der japanische Turner Akinori Nakayama mit vier Gold- und einer Silbermedaille. Die Olympischen Spiele 1968 markierten einen Höhepunkt der olympischen Leichtathletikwettbewerbe, bei denen 17 Weltrekorde aufgestellt wurden. Herausragend war dabei vor allem Bob Beamons Weitsprungweltrekord, der als „Sprung ins nächste Jahrhundert“ bezeichnet wurde und heute noch immer olympischer Rekord ist. Aufsehen erregte auch die „Black Power“-Geste der beiden US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos, die im Rennen über 200 Meter Gold und Bronze gewannen, im Anschluss an ihren Podiumsprotest allerdings vom amerikanischen Komitee des olympischen Dorfes verwiesen wurden und das Land binnen 48 Stunden verlassen mussten. In Mexiko-Stadt traten erstmals die beiden deutschen Staaten mit getrennten Mannschaften, aber immer noch ohne ihre Flaggen und verschiedenen Hymnen an. Nachdem 40 afrikanische Staaten mit Boykott gedroht hatten, wurde Südafrika ebenso wie Rhodesien von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. 1968 fanden erstmals Dopingtests statt. Die Olympischen Spiele 1968 waren außerdem die ersten, die in einem Entwicklungsland ausgetragen wurden. Wahl des Austragungsortes Mexiko-Stadt bewarb sich erstmals 1949 in Rom um die Austragung der Olympischen Spiele 1956, schied jedoch bereits in der zweiten Runde der Abstimmung aus. In der Folge richtete Mexiko erfolgreich sportliche Großereignisse aus: 1954 fanden die Zentralamerika- und Karibikspiele und im März 1955 die Panamerikanischen Spiele in Mexiko-Stadt statt. Auf den daraus resultierenden Erfahrungen und den existierenden guten Sportstätten basierte die zweite Bewerbung um Olympische Spiele im Jahr 1955 bei der IOC-Session in Paris. Nachdem Mexiko-Stadt im ersten Wahlgang aber nur sechs Stimmen erhalten hatte, wurde die Kandidatur zurückgezogen. Für die Olympischen Spiele 1964 bewarb sich Mexiko-Stadt nicht erneut, unternahm aber eine Bewerbung um die Olympischen Sommerspiele 1968. Unter der Leitung des Staatspräsidenten Adolfo López Mateos wurde eine 180 Seiten umfassende Broschüre erstellt, in der die Bewerbung von Mexiko-Stadt begründet und ausführlich dargestellt wurde. Sie wurde am 7. September 1962 beim IOC eingereicht. Diese Art der Präsentation war zu dieser Zeit noch nicht üblich, sie enthielt neben den Antworten auf den IOC-Fragebogen auch Informationen zur Geschichte des Landes, Darstellungen der Sportstätten, Klimainformationen und ärztliche Informationen über die Auswirkungen der Höhe auf die Sportler. Zudem ließ López Mateos bereits am 28. Mai 1963 ein provisorisches Organisationskomitee gründen, um die Ernsthaftigkeit der Bewerbung zu unterstreichen. Des Weiteren erklärte sich Mexiko bereit, die Kosten für einen früheren Aufenthalt der Mannschaften zur Akklimatisierung an die Höhenlage zu übernehmen. Die Entscheidung über den Austragungsort fiel auf der IOC-Session 1963 in Baden-Baden. Die Versammlung war kurzfristig nach Deutschland verlegt worden, nachdem der eigentliche Austragungsort Nairobi nach Konflikten um die Teilnahme Südafrikas ausgefallen war. Bei der Abstimmung am 18. Oktober, vor der erstmals Fragen an die Kandidaten gerichtet werden konnten, setzte sich Mexiko-Stadt bereits im ersten Wahlgang mit 30 Stimmen gegen die Mitbewerber Detroit, Lyon und Buenos Aires durch. Diese Entscheidung war eine Überraschung. Lyon und Detroit hatten keine Chance, da sie in Ländern lagen, die aufgrund der NATO-Mitgliedschaft nach der Krise 1961 infolge des Baus der Berliner Mauer und nach Einschränkung für die Westmächte Athleten aus der DDR blockiert hatten. IOC-Präsident Avery Brundage selbst bevorzugte Mexiko-Stadt und sah die USA als zu tief in den Kalten Krieg verwickelt an. Vorbereitungen Organisation Nach der geglückten Bewerbung wurde das provisorische Organisationskomitee in das Comité Organizador de los Juegos de la XIX Olimpiada umgewandelt. Die Leitung übernahm erst das IOC-Mitglied José Clark Flores, während das Präsidentenamt des Organisationskomitees vorerst unbesetzt blieb. Als Vizepräsidenten wurden Agustín Legorreta und Pedro Ramírez Vázquez eingesetzt, die außerdem die Finanz- beziehungsweise die Bauverwaltung leiteten. Nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 1964 ernannte das neu gewählte Staatsoberhaupt Gustavo Díaz Ordaz, der Schirmherr des Organisationskomitees war, seinen Vorgänger Adolfo López Mateos zum Präsidenten des Organisationskomitees. Dieser musste aber Mitte 1966 von diesem Amt zurücktreten, weil er schwer erkrankt war. Seine Nachfolge als OK-Präsident übernahm Pedro Ramirez Vázquez. Wichtige Entscheidungen behielt sich jedoch der mexikanische Präsident vor. Kurz nach der Ernennung wies der IOC-Präsident Ramirez Vázquez darauf hin, dass das negative Image der Olympiavorbereitungen verbessert werden müsse. Auf einer Pressekonferenz versicherte dieser daraufhin, dass die Olympiavorbereitungen im sozial verträglichen Rahmen bleiben würden. Er veränderte die Ausrichtung von Mateos Ziel – eine Erhöhung der Ausgaben als Antrieb für wirtschaftlichen Aufschwung und Stadtentwicklung – hin zu Effizienz und Nützlichkeit und wollte verstärkt auf bereits bestehende kulturelle Ressourcen und Infrastruktur zurückgreifen. Mexiko sollte nicht dem japanischen Beispiel mit hohen Ausgaben und hoher Verschuldung folgen. Dieser Wandel in der Herangehensweise erhielt auch die öffentliche Unterstützung des IOC-Präsidenten. Eine der ersten Ankündigungen von Ramirez Vázquez war außerdem die Kulturolympiade, mit der er das Engagement der Mexikaner und deren Unterstützung der Olympischen Spiele stärken wollte. Zudem sollte sie auch nach außen hin wirken und der Kritik ein positives Bild entgegensetzen. Das Organisationskomitee hatte ab dem 25. Juli 1967 den Rang einer Staatsorganisation. Es hatte sieben Direktoren, die für Kultur, Öffentlichkeitsarbeit, Besucherbetreuung, Verwaltung, Sporttechnik, Programmkontrolle und Kontrolle der Sportanlagen zuständig waren. Außerdem gab es einen Leiter der olympischen Hilfstruppen und weitere 18 Spezialabteilungen. Das Organisationskomitee beschäftigte während der Olympischen Spiele 14.531 Mitarbeiter, hinzu kamen noch Armeeangehörige und Pfadfinder als Hilfspersonal. Trotz der großen Zahl bereits existierender Sportstätten löste die Olympiavorbereitung den Bau weiterer Anlagen aus. Die Verwaltungsbehörde des Bundesdistriktes, die Nationalbank für Staatsbauten und das Ministerium für Staatsbauten errichteten für 670 Millionen Pesos neue Gebäude. So entstanden das Centro Deportivo Olimpico Mexicano und das olympische Dorf Libertador Miguel Hidalgo mit den Hallen für die Wettbewerbe im Ringen und Boxen. Wegen Diskussionen um die Finanzierung kam es bei den Bauarbeiten jedoch zu Verzögerungen, die zusammen mit dem Hinweis auf die Höhenproblematik etwa das Olympische Komitee der USA erklären ließen, dass es bereit sei, die Austragung der Spiele kurzfristig zu übernehmen. Insgesamt kosteten die Olympischen Spiele 1968 2,189 Milliarden Pesos, von denen die Regierung 710,2 Millionen Pesos übernahm. Außerdem wurden Einnahmen von 128,8 Millionen Pesos erzielt, wovon 80,2 Millionen auf den Verkauf der Fernsehrechte entfielen. Die 2,189 Milliarden Pesos, etwa 176 Millionen Dollar, waren ein Bruchteil der Aufwendungen Japans für die Olympischen Spiele 1964. Dennoch war es eine für das Land bedeutende Summe, die auch in den vor Beginn der Olympischen Spiele aufkommenden und dann niedergeschlagenen Studentenprotesten ein Hauptkritikpunkt war. Mexikanische Innenpolitik Der mexikanische Präsident Gustavo Díaz Ordaz, dessen Amtszeit von 1964 bis 1970 reichte, war eng in die Organisation der Olympischen Spiele eingebunden. Er war aber kein Unterstützer der Spiele, sondern betrachtete diese als Hinterlassenschaft der Vorgängerregierung von Adolfo López Mateos, der ein starkes Interesse an der Austragung Olympischer Spiele im Land hatte. Mateos übernahm dann auch die Führung des Organisationskomitees nach dem Ende seiner Amtszeit. Er sah die finanziell aufwendige Ausrichtung der Olympischen Spiele 1964 in Tokio, die zu einem Schub in der Stadtentwicklung geführt hatte, als ein Vorbild für die mexikanische Hauptstadt an. Die Frage der Schwerpunktsetzung für die nationale Entwicklung wurde aber politisch und in den mexikanischen Medien kontrovers diskutiert. Als sich zwei Jahre nach der erfolgreichen Bewerbung kaum Fortschritte bei den Vorbereitungen abzeichneten und noch weniger positive Effekte der Austragung, sondern vermehrt interne und ausländische Kritik geäußert wurde, überlegte Präsident Díaz Ordaz im späten Sommer 1965, die Unterstützung für die Spiele einzustellen. Avery Brundage hingegen blieb optimistisch, vor allem auch aufgrund der engen Verzahnung des Nationalen Olympischen Komitees von Mexiko und der mexikanischen Politik. Die finanziellen Probleme und der Mangel an Glaubwürdigkeit wurden erst Ende Juni 1966 gelöst, als López Mateos seine Posten an der Spitze des Organisationskomitees aufgab. Offizieller Grund dafür waren gesundheitliche Probleme, jedoch wurde der Bruch zwischen Präsident und dem Vorsitzenden des Organisationskomitees und der Streit über die Finanzierung der Olympischen Spiele als Grund angenommen. Am 16. Juli 1966 verkündete Präsident Díaz Ordaz, dass Pedro Ramírez Vázquez der neue OK-Chef werden sollte. Dieser hatte kaum Verbindungen zum Internationalen Olympischen Komitee und der olympischen Bewegung. Er war zwar ein Mitglied des Systems, stand als Architekt zugleich aber etwas außerhalb. Mexiko war das erste Entwicklungsland, das Olympische Spiele ausrichten durfte. In den 1960er-Jahren galt Mexiko als Land, das möglicherweise die Modernisierungstheorie erfüllen und sich in enger Anbindung an die USA erfolgreich wirtschaftlich und demokratisch entwickeln könnte. Die Frage der Unterentwicklung war deshalb ein Aspekt, den die Planer der Olympischen Spiele in ihre Überlegungen mit einbezogen und versuchten, den diesbezüglichen Diskurs zu kontrollieren. Dieser Umstand führte zum einen zu Fragen bezüglich des materiellen Aufwandes, zum anderen auch zur Frage, ob das Land überhaupt in der Lage wäre, eine solche Veranstaltung durchzuführen. Die Spiele galten als Gradmesser für das „Mexikanische Wunder“. Sie sollten nicht mehr die Leistungsfähigkeit Mexikos vor der Welt und vor allem in Bezug auf die Vereinigten Staaten von Amerika zeigen, womit sie sich von bisherigen Teilnahmen an Weltausstellungen oder auch den Jahrhundertfeierlichkeiten der Unabhängigkeit 1910 unterschieden. Sie hatten vielmehr die Funktion der Selbstvergewisserung des nationalen Selbstbewusstseins und Kosmopolitismus. Die herausgestellte Beachtung der beschränkten nationalen Ressourcen verweist auf eine eher ökonomisch denn nationalistisch geprägte Motivation hinter den Planungen sowie auf einen entspannteren Umgang mit den Spielen. Dennoch spielten auch Betonung nationaler Stärken und die Korrektur negativer Mexiko-Bilder im Ausland eine Rolle in den Planungen. Die Olympischen Spiele gelten als zentraler Punkt in der Geschichte Mexikos der 1960er-Jahre, an denen politische und wirtschaftliche Fragen kulminierten. Teile der Mexikaner sahen die Olympischen Spiele als exzessiv und verschwenderisch an. Eine wirkliche Untersuchung der Reaktion der Bevölkerung und des gesellschaftlichen Rückhalts gibt es jedoch bisher nicht. Ab Juni 1968 gab es Proteste von Studenten, die sich ab September verstärkten, aber nicht hauptsächlich gegen die Austragung der Olympischen Spiele richteten. Die Studenten griffen jedoch auf Symbole der Spiele für ihren Protest zurück. Am 2. Oktober schlugen Militär und Geheimpolizei die Proteste mit dem Massaker von Tlatelolco nieder. In der Folge sorgten sich die mexikanischen Funktionäre um das Ansehen des Landes und eine Beschädigung der Olympischen Spiele. Vor allem US-amerikanische Zeitungen berichteten sehr kritisch über die Vorgänge, auch wenn Avery Brundage nicht beabsichtigte, die Spiele zu entziehen, und sich optimistisch äußerte, dass Mexiko sichere Spiele garantieren und die Proteste eindämmen könne. Am Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele zeigte die New York Times auf ihrer Hauptseite statt des Olympiastadions mit der Skulptur und den farbigen Ringen einen Bildausschnitt, der diese Aspekte ausblendete und stattdessen bloß eine Kette von Soldaten vor dem Stadion zeigte. Sportpolitik Die Höhenlage von Mexiko-Stadt von 2310 Metern über NN, die bei der Vergabe der Spiele kaum eine Rolle gespielt hatte, wurde im Nachhinein verstärkt diskutiert. Dies war vor allem eine Folge der entworfenen Schreckensszenarien, für die stellvertretend das dem ehemaligen Meilenweltrekordler Roger Bannister zugeschriebene Zitat „Der Tod läuft mit …“ stand. Auf der IOC-Session 1966 in Rom stellte das Internationale Olympische Komitee den Expertenberichten folgend fest, dass von der Höhe keine Gefahr für die Sportler ausgehe. Es beschloss aber, dass zur Wahrung der Chancengleichheit kein Sportler in den drei Monaten vor Olympia mehr als vier Wochen in Höhenlagen verbringen durfte. Wie bereits auf der IOC-Session in Baden-Baden angekündigt, veranstaltete das Organisationskomitee drei Internationale Sportwochen. So konnten die Athleten die Bedingungen der Höhe bereits vor den Olympischen Spielen testen. Die erste Sportwoche, an der 508 Sportler von 18 NOKs teilnahmen, fand im Oktober 1965 statt, die zweite im Oktober 1966 nutzten 784 Athleten von 25 NOKs. An der dritten Internationalen Sportwoche nahmen im Oktober 1967 schließlich 2564 Sportler von 56 NOKs teil. Diese Sportveranstaltungen trugen dazu bei, die Besorgnis ob der Auswirkungen der Höhenlage auf die Sportler zu verringern. Die Sportmedizin und -wissenschaft beschäftigte sich im Vorfeld der Olympischen Spiele des Jahres 1968 intensiv mit den Auswirkungen der Höhe auf Sportler. Bis dahin waren die Erkenntnisse über die Auswirkungen auf den Hämoglobingehalt des Blutes nur unvollständig. Zudem änderte sich die Trainingsmethodik. So errichtete die Sowjetunion in Zaghkadsor im Kaukasus auf 2100 Metern Höhe ein Trainingszentrum, während die USA ein ähnliches Zentrum in South Lake Tahoe in Kalifornien einrichteten, wo sie zudem auf einer Tartanbahn trainieren ließen. Der Kunststoffbelag hatte 1968 seinen ersten Einsatz bei Olympischen Spielen, zudem wurde die Zeitmessung in Hundertstelsekunden eingeführt. Ebenso führte das IOC für die Olympischen Spiele 1968 in Grenoble und Mexiko-Stadt Dopingtests ein. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1968 behandelte das IOC zudem erneut die deutsch-deutsche Frage. Von 1956 bis 1964 war eine gesamtdeutsche Mannschaft angetreten. Auf der IOC-Session in Madrid am 8. Oktober 1965 wurde das NOK der DDR, das seit 1955 provisorischen Status besaß, unter dem Namen Ostdeutschland anerkannt. Trotz dieser Entscheidung, die dazu führte, dass 1968 erstmals zwei deutsche Mannschaften antreten sollten, beschloss das IOC, dass die beiden NOKs erneut gemeinsam unter der Deutschlandfahne mit den olympischen Ringen ins Stadion marschieren sollten und bei den Siegerehrungen der Schlusschor aus Beethovens neunter Symphonie anstatt der Hymnen gespielt werden sollte. Zudem konnte die Berlin-Frage geklärt werden. Ost-Berlin wurde dem NOK der DDR zugehörig erklärt, West-Berlin dem NOK der BRD. Auf der IOC-Session 1968 in Mexiko-Stadt kam die Frage aber erneut auf, da das NOK der DDR die volle Souveränität erlangen wollte. Zuerst wurde eine Entscheidung jedoch mit 24 zu 17 Stimmen auf das Folgejahr vertagt. Am 12. Oktober, dem Eröffnungstag der Spiele, reagierte die IOC-Exekutive jedoch auf eine Anfrage des von der DDR entsandten IOC-Mitglieds Heinz Schöbel positiv und empfahl eine erneute Beschäftigung mit den strittigen Punkten. In der Folge wurde die Bezeichnung NOK der Deutschen Demokratischen Republik (GDR) für die Zeit ab dem 1. November 1968 zugelassen. Zugleich erhielten Nordkorea den Namen Demokratische Volksrepublik von Korea (DRPK) und die Republik China die Bezeichnung Republic of China (CRO). Da Nordkorea nicht an der Eröffnungsfeier teilgenommen und damit die getroffene Vereinbarung verletzt hatte, revidierte IOC-Präsident Avery Brundage am 14. Oktober die Entscheidung. Südafrika war von den Olympischen Spielen 1964 in Tokio aufgrund der Apartheid ausgeschlossen worden. Das IOC versuchte in der Folge, das Nationale Olympische Komitee Südafrikas zu integrieren, was jedoch zu Protesten der afrikanischen Mitgliedsländer führte. Die neu aufgenommenen afrikanischen NOKs schlossen sich zum Supreme Council for Sports in Africa zusammen und forderten den Ausschluss Südafrikas von den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt. Für den Fall, dass die Forderung nicht erfüllt werden sollte, drohten sie mit dem Boykott der Spiele. Dabei fanden die afrikanischen Länder die Unterstützung muslimischer und kommunistischer Länder sowie der karibischen Staaten. Auch die westlichen Nationen unterstützten unterschiedlich stark diese Forderung. Das IOC gab dem Druck nach und schloss Südafrika von der Teilnahme aus. 1970 beschloss das IOC dann, dass Südafrika bis zum Ende der Apartheid aus der olympischen Bewegung ausgeschlossen bleiben würde. Auch Rhodesien durfte nicht teilnehmen. Dieser Schritt erfolgte von Seiten der mexikanischen Regierung, weil sie auch in Rhodesien ein Apartheidregime sah, und gegen den Willen von IOC-Präsident Avery Brundage, für den das Land nicht gegen die Olympische Charta verstieß, weil es einigen schwarzen Athleten die Teilnahme gestattete. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 in München setzte das Supreme Council for Sports in Africa ebenfalls einen offiziellen Bann gegen Rhodesien durch. Gebäude Sportstätten Als Olympiastadion für die Olympischen Spiele 1968 wurde das 1953 eröffnete Estadio Olimpico de la Ciudad Universitaria im Südwesten Mexiko-Stadts genutzt. Es wurde für die Spiele jedoch umgebaut. Die Mosaikfresken von Diego Rivera an der Außenwand des Stadions blieben unvollendet, da der Künstler während der Arbeiten verstarb. Es war der Schauplatz der Eröffnungs- und Schlussfeier und Austragungsort der Leichtathletikwettbewerbe, wobei der Marathon auf dem Zocalo gestartet wurde. Am Schlusstag fand zudem der Mannschaftswettbewerb im Springreiten im Olympiastadion statt. Die Dressurwettbewerbe und das Einzelspringen wurden im Pferdesportzentrum Campo Marte nahe dem Chapultepec-Park veranstaltet, die Wettbewerbe in der Vielseitigkeit fanden im Club de Golf Avándaro in Valle de Bravo, rund 160 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt, statt. Austragungsstätte der Turnwettkämpfe war das 1952 errichtete Auditorio Nacional. Die Boxkämpfe fanden in der Arena México statt, die in den 1950er-Jahren gebaut worden war. In der Pista de Hielo Insurgentes wurden die Wettkämpfe im Ringen ausgetragen, das Gewichtheben im 1953 eröffneten Teatro de los Insurgentes. Im September 1967 war die Fechthalle Fernando Montes de Oca fertiggestellt worden, in der sowohl die Fechtwettbewerbe wie auch das Fechten des Modernen Fünfkampfes ausgetragen wurden. Das Reiten und Laufen des Fünfkampfes wurden auf dem Campo Militar 1 veranstaltet, der auch die temporären Anlagen für den Schießsport beheimatete. Im Alberca Olímpica Francisco Márquez fanden die Wettbewerbe im Schwimmen und im Wasserspringen sowie das Schwimmen des Fünfkampfes statt. Zudem wurde darin wie auch in der Schwimmhalle der Universidad Nacional Autónoma de México Wasserball gespielt. Im kurz vor den Spielen eröffneten Velódromo Olímpico Agustín Melgar fanden die Bahnradrennen statt, während die Straßenrennen auf einem Innenstadtkurs gefahren wurden. Die Regatten im Rudern und die Wettfahrten im Kanu wurden auf einem neu gebauten Kanal im Bezirk Xochimilco veranstaltet. Das Segeln bei den Olympischen Spielen 1968 wurde in Acapulco im Club de Yates de Acapulco veranstaltet. Er war bereits 1953 eröffnet worden und fand im Anschluss weiterhin Verwendung als Austragungsort für Segelregatten. Im Estadio Municipal wurden während der Olympischen Spiele die Spiele des Feldhockeyturniers ausgespielt. In der Pista de Hielo Revolución wurden die Volleyballspiele ausgetragen, einige waren zudem in das Gimnasio Olímpico Juan de la Barrera und in den Palacio de los Deportes, der zudem Austragungsort des Basketballturniers war, gelegt worden. Die Vorrunden- und K.-o.-Spiele des Fußballturniers fanden im Estadio Jalisco in Guadalajara, das bereits im Vorfeld der Spiele existierte und 31.891 Zuschauer fasste, und in den neu errichteten Stadien Estadio Cuauhtémoc in Puebla mit einer Zuschauerkapazität von 35.563, das am 6. Oktober 1968 eröffnet wurde, und Estadio Nou Camp in León mit einer Kapazität von 23.609 statt. Das Finale wurde vor 100.000 Zuschauern im Aztekenstadion in Mexiko-Stadt ausgetragen. Olympisches Dorf Für die Olympischen Spiele 1968 wurden zwei olympische Dörfer errichtet. Das Libertador Miguel Hidalgo in der Nähe des Olympiastadions im Süden der Stadt hatte 5044 Zimmer. Im Südosten von Mexiko-Stadt, in der Nähe der Regattastrecke, lag das Villa Narcisco Mendoza, das 3474 Zimmer hatte und vor allem Teilnehmern der Kulturolympiade Platz bot. Die Bauarbeiten am Libertador Miguel Hidalgo begannen am 2. Mai 1967, eröffnet wurde das Dorf am 12. September 1968. Die Finanzierung übernahmen Banken und der Staat, das Organisationskomitee zahlte die anfallenden Zinsen mit der Miete für den Komplex. Insgesamt handelte es sich um 29 Gebäude, von denen 24 für männliche Athleten, drei für Sportlerinnen und zwei für Pressevertreter genutzt wurden. Nach den Olympischen Spielen wurden die Wohnungen als Eigentumswohnungen verkauft. Das olympische Dorf verfügte über eine Mensa, zwei Kliniken sowie Trainingsanlagen und Räumlichkeiten für die Delegationen. Zudem befand sich dort das Pressezentrum. Diese Anlagen waren temporär. Das Villa Narcisco Mendoza wurde zwischen August 1967 und September 1968 erbaut und umfasste 686 Häuser. Das Organisationskomitee zahlte auch für dieses Dorf die anfallenden Zinsen als Miete und finanzierte die Anpassungen für die Zeit der Olympischen Spiele. Nach den Spielen wurden die Häuser verkauft. Kulturolympiade Das Kulturprogramm setzte in seiner Fülle neue Maßstäbe. Zwar war die Bedeutung kultureller Veranstaltungen in der Olympischen Charta festgeschrieben, dennoch war Mexiko das erste Land, das diese zu einem integralen Bestandteil der Ausrichtung der Olympischen Spiele machte. Die Kulturolympiade, an der sich 97 Länder beteiligten, umfasste verschiedene künstlerische, musikalische, theatrale und wissenschaftliche Aktivitäten. Es gab etwa Kunst- und Tanzfeste, Treffen von Dichtern und Bildhauern, verschiedene Ausstellungen, Wissenschaftskongresse und ein olympisches Jugendlager mit 865 Teilnehmern aus 20 Ländern. Der mexikanische Staat hatte eine große Erfahrung im Organisieren und Fördern von kulturellen Veranstaltungen noch aus seinen Kulturprogrammen der 1920er-Jahre. Trotz des sehr engen Budgetrahmens fanden letztlich rund 1500 Veranstaltungen statt, an denen sich nationale und internationale Künstler beteiligten. 550 von ihnen fanden im Land verteilt statt, womit sie auch die Akzeptanz der Spiele jenseits der Hauptstadt stärken sollten. Neben mexikanischen Künstlern und Intellektuellen waren auch Hunderte von Studenten, Journalisten und Staatsangestellte beteiligt, die so miteinbezogen werden sollten. Diskursstrategie Die Kulturolympiade begann am 19. Januar 1968 und hatte die Funktion, Mexiko-Stadt für die sportlichen Wettkämpfe im Oktober vorzubereiten und die gesellschaftliche Unterstützung zu stärken. Neben dieser nationalen Funktion sollte das Kulturprogramm international die Kritiker überzeugen, die mit der Vergabe der Spiele nach Mexiko unzufrieden waren. Das Programm verbreitete Motive wie Mexiko als Land, das nicht in Rassenkonflikte oder den Systemkonflikt involviert war und als „harmonisierende Nation“ wirken könne. Damit würde das Land die Harmonie der olympischen Idee verkörpern. Zudem spielte das Bild von Mexiko als „Land der Zukunft“ eine Rolle im Rahmen dieser kulturellen Präsentation. Die Kulturolympiade hatte fünf diskursive Elemente. Erstens die zentrale Rolle der Friedenstaube, zweitens die Verwendung der Op-Art als zentrales Designelement, drittens die große Präsenz von Frauen im Erscheinungsbild der Spiele, viertens den Einbezug der Folklore und fünftens den Einsatz bunter Farben. Mit der Wahl der Friedenstaube als zentrales Element bezog sich das Organisationskomitee auf einen der Hauptgründe für die Wahl als Austragungsort, nämlich die Wahrnehmung als nicht in den Kalten Krieg involviertes und für den Frieden einstehendes Land. Die weiße Friedenstaube, deren Gestaltung in einem Wettbewerb gefunden worden war und vom mexikanischen Karikaturisten Abel Quezada stammte, wurde in nahezu allen offiziellen Plakaten, Bannern und Promotionsmaterial verwendet. Auch das offizielle Motto „Todo es posible en la paz“ (Alles ist möglich im Frieden) nahm dieses Thema auf. Es nahm Bezug auf den Satz „El respecto al derecho ajeno es la paz“ (Respekt für die Rechte anderer im Frieden) des ehemaligen Präsidenten Benito Juárez, der damit den Nichtinterventionismus des Landes begründete. Die Organisatoren der Olympischen Spiele baten jede Mannschaft, ein zeitgenössisches und ein altes Kunstwerk mit nach Mexiko zu bringen, woraus sich ein Querschnitt vergangener und zeitgenössischer Kunst ergab. Mexiko selbst präsentierte seine Kulturgeschichte im Rahmen von Choreographien und Veranstaltungen vor internationalem Publikum. Mit der Präsentation der traditionellen Kunstformen als grundsätzlich verschieden von der zeitgenössischen Kulturproduktion trug die Kulturolympiade dazu bei, das Bild Mexikos als modernes Land zu stärken. Tänzer aus den verschiedenen Regionen des Landes kamen nach Mexiko-Stadt, um dort ihre traditionellen Tänze zu zeigen, ergänzt von Tanzgruppen aus den Teilnehmernationen. Die Kontextualisierung der Tradition in einer modernen Präsentation spiegelt sich auch in den Feierlichkeiten zum Kolumbus-Tag wider, an dem das Treffen von alter und neuer Welt zelebriert wurde. Hinzu kam, dass das olympische Feuer auf Hernán Cortés’ Weg nach Mexiko-Stadt gebracht wurde und in Teotihuacán mit einer 3000 Tänzer umfassenden Darstellung der Zeremonie des neuen Feuers, die im alten Mexiko alle 52 Jahre stattfand, empfangen wurde. In diesem Zusammenhang blendete man die Gewalt der Eroberung aus. Die Betonung der Modernität war auch mit dem Einsatz von 1700 Hostessen verbunden, die meist aus der eher weißen Mittel- und Oberschicht stammten und das Bild moderner, selbstbewusster Frauen verkörperten, die gegen den verbreiteten Machismo gesetzt wurden. Die Betonung der Frauen im Bild der Spiele fand auch ihren Ausdruck darin, dass das olympische Feuer von einer Frau entzündet wurde. Logo und optisches Erscheinungsbild Das Logo der Olympischen Spiele 1968 nahm in seinem psychedelischen OP-Art-Design Bezug auf die präkolumbische indianische Kultur Mexikos und griff damit auch den kosmopolitischen Anspruch des Landes auf. Der Bezug auf die OP-Art sollte zudem Dynamik und ein modernes Gefühl vermitteln. Der Schriftzug „MEXICO 68“, der auf den geometrischen Formen der Huichol-Indios basierte, wurde von dem US-Amerikaner Lance Wyman und dem Briten Peter Murdoch entworfen. Die beiden Grafiker nahmen auf Einladung des Chefs der Grafikabteilung der Olympischen Spiele 1968 Eduardo Terrazas am Wettbewerb teil. Das Logo war in Mexiko-Stadt omnipräsent. Selbst die Uniformen der Olympiahostessen waren mit ihm gestaltet. Der Bezug auf die mexikanische Tradition setzte sich in weiteren Symbolen fort. Der Azteken-Kalender aus dem Anthropologischen Museum wurde als Emblem der Spiele 1968 verwendet. Die Olympischen Spiele waren optisch im Stadtbild sehr präsent. An den Durchgangsstraßen verteilt fanden sich große pinkfarbene, gelbe und blaue Banner, die Friedenstauben zeigten. Über das ganze Stadtgebiet waren an Werbetafeln Fotografien mit körperlichen oder künstlerischen Aktivitäten mit Bezug zu den Spielen angebracht, in deren Ecken die Taube als wiederkehrendes Motiv ebenfalls zu sehen war. Ebenso waren von Kindern gestaltete Plakate und das Motto „Alles ist im Frieden möglich“ in verschiedenen Sprachen auf bunten Plakaten präsent. Große Flächen um das Olympiastadion waren mit großen farbigen Kreisen bemalt, die das Design des Logos wieder aufgriffen. Im Zentrum der blauen und weißen Kreise befand sich die Skulptur „El Sol Rojo“ (Rote Sonne) von Alexander Calder. Über den Süden von Mexiko-Stadt erstreckte sich die „Route der Freundschaft“, an der abstrakte, bunt bemalte Skulpturen von internationalen Künstlern aufgestellt wurden. Fackellauf Die olympische Fackel, die aus Weißmetall gefertigt worden war und 780 Gramm wog, gab es in zwei Ausführungen. Die schwarze Variante war 52,3, die silberne 53 Zentimeter hoch. Sie wurde von 2778 Läufern über die Gesamtstrecke von 13.536 Kilometer getragen. Das olympische Feuer wurde am 23. August 1968 im griechischen Olympia entzündet. Über Pyrgos, Amalias, Patras, Egio, Xylokastro, Kiato, Korinth, Megara und Elefsina gelangte es nach Athen, wo es am 24. August an Bord der „H.H. Navarino“ der griechischen Marine gebracht wurde. Auf dem Seeweg gelangte das Feuer nach Genua, wo am 27. August im Geburtshaus von Christoph Kolumbus eine Gedenkfeier stattfand. Mit dem italienischen Schulschiff „Palinuro“ wurde das olympische Feuer anschließend nach Barcelona gebracht. Der Fackellauf in Spanien umfasste 1286 Kilometer und führte über Lleida, Saragossa, Madrid, Toledo, Navalmoral de la Mata, Trujillo, Melida und Sevilla nach Puerto de Palos, wo das Feuer am 12. September eintraf. Mit der „Princesa“ wurde es anschließend auf Kolumbus’ Route nach Mexiko transportiert. Am 14. September erreichte es Las Palmas, dann San Sebastián auf La Gomera und am 29. September San Salvador, wo es von einer 17-köpfigen Schwimmstaffel transportiert wurde. Am 6. Oktober erreichte das olympische Feuer schließlich Veracruz. In Mexiko umfasste der Fackellauf 855 Kilometer. Er führte von der Hafenstadt über Xalapa, Córdoba, Puebla, Tlaxcala, Llano Grande, Los Reyes de Salgado, Texcoco, Chiconcoac, Tizayuka, Tequistlán, Tepexpan, Acolman und Acatlongo in die Ruinenstadt Teotihuacán, wo es um 19 Uhr am 11. Oktober die Mondpyramide erreichte. Am 12. Oktober, dem Tag der Eröffnungsfeier, wurden dort zwei Fackeln entzündet. Mit der einen kam das olympische Feuer in Mexiko-Stadt an, mit der anderen wurde das Feuer nach Acapulco, dem Austragungsort der Segelwettbewerbe, gebracht, wo es unter anderem von Wasserskiläufern transportiert wurde. Teilnehmer An den Olympischen Spielen 1968 nahmen 112 Nationen teil, die 5510 Sportler, von denen 781 Frauen waren, entsandten. Damit war ein neuer Teilnehmerrekord aufgestellt worden. Zudem nahmen erstmals mehr als 100 Nationen an Olympischen Spielen teil. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik nahmen erstmals als unabhängige Mannschaften teil, was bis zu den Olympischen Spielen des Jahres 1988 in Seoul so bleiben sollte. Erst 1992 trat das wiedervereinigte Deutschland wieder mit einer Mannschaft an. Ihr olympisches Debüt feierten die Amerikanischen Jungferninseln, Barbados, Britisch-Honduras, die Demokratische Republik Kongo als Kongo-Kinshasa, El Salvador, Guinea, Honduras, Kuwait, Nicaragua, Paraguay, Sierra Leone und die Zentralafrikanische Republik. Nachdem Singapur an den Olympischen Spielen 1964 in Tokio als Teil der malayischen Mannschaft teilgenommen hatte, trat es nun wieder unabhängig an. Zeremonien Eröffnungsfeier Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1968 fand am Mittag des 12. Oktobers 1968 im Estadio Olímpico Universitario statt. Sie begann mit dem Empfang des Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz im Stadion mit 21 Salutschüssen und der mexikanischen Hymne. Vier Heliumballons trugen die olympischen Ringe in den Himmel. An diesen kurzen Auftakt schloss sich der Einmarsch der 119 teilnehmenden Nationen an, während eine 300 Musiker umfassende Band spielte. Traditionsgemäß marschierte die griechische Mannschaft als erste ein, den Abschluss bildete Mexiko. Als sich die über 7000 Sportler, Sportlerinnen und Offizielle im Inneren des Stadions befanden, hielten der Präsident des Organisationskomitees Pedro Ramírez Vázquez und der IOC-Präsident Avery Brundage ihre Willkommensansprachen. Kurz nach 12 Uhr Ortszeit eröffnete der mexikanische Präsident die Spiele mit den Worten: „I declare inaugurated the Mexico City Games, which celebrate the Nineteenth Olympiad of the modern era.“ Im Anschluss an diese offizielle Eröffnung wurde eine olympische Flagge gehisst. Sechs mexikanische Kadetten und sechs japanische Mädchen trugen die seit 1920 in Gebrauch stehende Flagge zu den Klängen des japanischen Liedes „Sakura“ und übergaben sie dem Bürgermeister von Tokio, der sie dann an seinen Amtskollegen aus Mexiko-Stadt überreichte. In diesem Moment wurden 40.000 Ballons in den Himmel aufsteigen gelassen. Mit indianischen Instrumenten wie Trommeln, Flöten und dem Ton einer großen Schneckenmuschel wurde das aus dem 50 Kilometer entfernten Teotihuacan eintreffende olympische Feuer willkommen geheißen. Es wurde von der jungen mexikanischen Sportlerin Enriqueta Basilio in das Stadion getragen. Sie war die erste Frau in der Geschichte, die das olympische Feuer entzündete. Sie stieg 90 Stufen zum höchsten Punkt des Stadions hinauf, präsentierte die Fackel und grüßte in die vier Himmelsrichtungen, dann entzündete sie das Feuer in einem großen Kessel. Danach legte Pablo Garrido den olympischen Eid ab. Nachdem er geendet hatte, wurden 10.000 Friedenstauben in die Luft entlassen. Auf der großen Ergebnistafel erschienen die Worte „We offer and desire friendship with all the peoples of the world“ und zum Abschluss erklang erneut die Nationalhymne. Da der Veranstalter Angriffe der Studierenden befürchtete, die noch immer die nahe gelegene Universitätsbibliothek besetzt hielten, sammelten sich die einmarschierenden Mannschaften auf dem Nebenplatz unter dem Schutz von Panzern und auch im Stadion an der der Universitätsbibliothek zugewandten Seite standen hunderte bewaffnete Fallschirmjäger in voller Montur. Schlussfeier Die Schlussfeier der Olympischen Spiele fand am Abend des 27. Oktober nach dem letzten Wettbewerb, dem Springreiten, das im Olympiastadion ausgetragen worden war, statt. Zu Beginn wurde Präsident Gustavo Díaz Ordaz mit 21 Salutschüssen begrüßt. Dann marschierten die 113 Fahnenträger in das Stadion ein, gefolgt von jeweils sechs Vertretern der teilnehmenden Mannschaften. Nur Mexiko als Gastgeber zog mit der ganzen Mannschaft ein. Die Sportler versammelten sich in der Mitte des Stadions, als IOC-Präsident Brundage die Spiele von Mexiko-Stadt für beendet erklärte und die Jugend der Welt für die Olympischen Spiele 1972 nach München einlud. Daraufhin wurde die olympische Flagge eingeholt und von mexikanischen Kadetten hinausgetragen. Die Stadionbeleuchtung war gelöscht worden, so dass nur noch das olympische Feuer Licht spendete. Dann erlosch es langsam. Auf der Ergebnistafel verschwand der Schriftzug „Mexiko 68“ und es erschien stattdessen „München 72“ und dann gab es zum Abschluss der Feier ein großes, 15 Minuten dauerndes Feuerwerk. Währenddessen wurde der Schlusschor aus Beethovens neunter Symphonie als Verweis auf die nächsten Olympischen Spiele in Deutschland gespielt, zudem traten dann 1000 Mariachi auf. Die Fahnenträger gingen eine letzte Runde auf der Laufbahn und verließen dann das Stadion, womit die Veranstaltung zu Ende ging. Wettkampfprogramm Das Programm der Olympischen Spiele war vom IOC auf der Session 1963 in Baden-Baden diskutiert worden. Dabei war darüber abgestimmt worden, welche der 18 Sportarten im Programm vertreten sein sollten. Dabei zeigte sich, dass nur Schwimmen und Leichtathletik unumstritten waren. Gegen den Verbleib im Programm votierten die Mitglieder bei Volleyball mit 25, Bogenschießen mit 32, Handball mit 33 und Judo mit 37 Gegenstimmen. Da Wasserball, das 12 Gegenstimmen erhielt, aber einzeln statt als Teil der Schwimmwettbewerbe gezählt worden war, durfte letztendlich Volleyball im Programm für die Olympischen Spiele 1968 verbleiben. Es wurden 172 Wettbewerbe (115 für Männer, 39 für Frauen und 18 offene Wettbewerbe) in 18 Sportarten/24 Disziplinen ausgetragen. Das waren 9 Wettbewerbe mehr aber eine Sportart/Disziplin weniger als in Tokio 1964. Die größte Veränderung im Programm war die Erweiterung der Schwimmwettbewerbe, was vor allem im Interesse der Vereinigten Staaten lag. Gestrichen wurden die erstmals in Tokio ausgetragenen Wettbewerbe im Judo. Insgesamt 3.792.344 Zuschauer verfolgten die Wettkämpfe und Zeremonien. Die Leichtathletik war mit 1.674.795 Zuschauern am beliebtesten, gefolgt vom Schwimmen mit insgesamt 474.569 Zuschauern. Nachfolgend die Änderungen zu den vorherigen Sommerspielen im Detail: Beim Boxen wurde die Gewichtsklasse Halbfliegengewicht hinzugefügt. Judo fehlte in Mexiko-Stadt 1968 nach der olympischen Premiere in Tokio 1964. Beim Schießen wurden die Männerklassen Trap, Kleinkalibergewehr Dreistellungskampf, Schnellfeuerpistole, Freies Gewehr Dreistellungskampf 300 m, Kleinkalibergewehr liegend, 50 m und Freie Pistole 50 m in offene Klassen umgewandelt – des Weiteren wurde die offene Klasse Skeet hinzugefügt. Im Schwimmen wurde das Programm für Männer und Frauen um 200 m Freistil, 100 m Brust und 200 m Lagen erweitert – für Männer kamen die 100 m Rücken und 100 m Schmetterling hinzu – für Frauen die 800 m Freistil, 200 m Rücken und 200 m Schmetterling. Olympische Sportarten/Disziplinen 1968 Anzahl der Wettkämpfe in Klammern Zeitplan Farblegende Wettbewerbe Basketball Am olympischen Basketballturnier nahmen wie in Tokio 16 Mannschaften teil, die in zwei Gruppen antraten. Nach der Positionierung in der Gruppenphase wurden die Halbfinalgruppen gebildet, aus denen jeweils die beiden Gewinner und die beiden Verlierer die Plätze in der Finalrunde ausspielten. Von den ersten acht Mannschaften aus Tokio, USA, UdSSR, Brasilien, Italien, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Polen und Uruguay, verzichteten die Tschechoslowakei und Uruguay auf eine Teilnahme. Die weiteren Teilnehmer waren Bulgarien und Spanien für Europa, Puerto Rico, Panama und Kuba für Amerika, Marokko und Senegal für Afrika, Korea und die Philippinen für Asien sowie Mexiko als Gastgeberland. Erstmals seit dem olympischen Debüt des Basketballs 1936 waren die Vereinigten Staaten im Vorfeld nicht der Favorit. Die favorisierten Mannschaften kamen aus der Sowjetunion und Jugoslawien. In der Gruppe 1 konnten sich die USA vor Jugoslawien platzieren, während in Gruppe zwei die Sowjetunion sich vor Brasilien setzte. In der Halbfinalgruppe konnten sich die USA deutlich gegen Brasilien durchsetzen. Das Spiel zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien war hingegen bis zum Schluss offen. Erst in den letzten Sekunden entschied Vladimir Svetković mit zwei verwandelten Freiwürfen das Spiel 63:62 für Jugoslawien. Im Finale gewannen die Außenseiter aus den USA mit 65:50. Die erste Hälfte endete knapp mit 32:29, nach Beginn der zweiten Spielhälfte konnten die USA sich jedoch mit 17 Punkten in Folge absetzen. Der siebte Erfolg bei Olympia in Folge, ohne den Verlust eines Spiels, basierte vor allem auf der Taktik von Henry Iba, der auf eine schnell organisierte Verteidigung setzte, die die angreifende Mannschaft vor allem nach außen drückte. Bronze gewann die Mannschaft aus der Sowjetunion, die deutlich das Spiel um Platz 3 gewann. Mexiko erreichte den fünften Platz. Boxen In Mexiko-Stadt wurden im Boxen Medaillen in elf Gewichtsklassen vergeben. Das Halbfliegengewicht war dabei erstmals olympisch. Es traten 315 Boxer aus 65 Nationen an, die insgesamt 301 Kämpfe austrugen. Die fünf Kampfrichter für einen Kampf wurden aus einer Gruppe von 39 Richtern ausgelost. Da es nur sehr wenige K.-o.-Siege gab, entschieden die Urteile der Kampfrichter die meisten Kämpfe. Insgesamt konnten Boxer aus 21 Ländern die Halbfinals und damit die Medaillen erreichen, da jeweils zwei Bronzemedaillen pro Gewichtsklasse an die Unterlegenen der Halbfinals vergeben wurden. Die Sowjetunion konnte ihre führende Rolle in dieser Sportart verteidigen und wie in Tokio drei Olympiasiege sowie einige weitere Medaillen verbuchen. Polen, dessen Boxer bei den vorherigen Spielen ebenfalls drei Goldmedaillen gewannen, konnte diese Position nicht halten. Lediglich Jerzy Kulej konnte seinen Olympiasieg im Leicht-Weltergewicht wiederholen und gewann damit das einzige polnische Boxgold in Mexiko. Im Leicht-Mittelgewicht verteidigte Boris Lagutin aus der UdSSR seinen Titel ebenfalls. Für das Gastgeberland war Boxen die erfolgreichste Sportart bei diesen Spielen. Von den insgesamt neun Medaillen gewannen die Boxer vier. Im Fliegengewicht erkämpfte Ricardo Delgado Gold, im Federgewicht gelang dies Antonio Roldán. Hinzu kamen zwei Bronzemedaillen. Im Weltergewicht gewann Manfred Wolke aus der DDR sein Finale gegen den Kameruner Joseph Bessala und wurde Olympiasieger. Fechten Im Fechten fanden bei den Männern drei Einzel- und Mannschaftswettbewerbe, bei den Frauen ein Einzel- und ein Mannschaftswettbewerb statt. Die Gefechte wurden auf fünf Treffer hin ausgetragen beziehungsweise dauerten sechs Minuten. Die Mannschaften bestanden aus fünf Fechtern, von denen pro Gefecht jedoch nur vier eingesetzt werden durften. Insgesamt traten 220 Männer und 58 Frauen aus 35 Ländern an. Im Florett-Einzel der Männer konnte Ion Drîmbă das erste Gold für Rumänien in dieser Disziplin gewinnen, nachdem er im Halbfinale gegen den Silbergewinner von Tokio, Jean Magnan aus Frankreich, bei einer zeitgleichen Attacke zu Boden gegangen war. Im Säbel gewann der Pole Jerzy Pawłowski ebenfalls erstmals Gold für sein Land. Zudem ging damit die Serie von neun ungarischen Olympiasiegen in Folge in dieser Disziplin zu Ende. Bei den Männern gingen alle Medaillen nach Europa, bei den Frauen konnte die Mexikanerin Pilar Roldán Silber gewinnen, die einzige nichteuropäische Medaille bei diesen Spielen im Fechten und Mexikos erste Fechtmedaille bei Olympia. Fußball Im Vorfeld des olympischen Fußballturniers kam es aufgrund der Vorkommnisse um die Nichtzulassung der italienischen Mannschaft 1964 zu Diskussionen um die Teilnahmevoraussetzungen. IOC-Präsident Avery Brundage befürwortete zwar den Verbleib des Fußballs im olympischen Programm, forderte jedoch von der FIFA Nachbesserungen. Diese schlug 1966 der IOC-Session in Rom vor, ein unabhängiges Amateurkomitee wie im Radsportverband einzuführen. Dieser Vorschlag ging dem IOC aber nicht weit genug. Letztendlich durften nur Spieler teilnehmen, die weder offizielle Zahlungen angenommen noch an einer WM-Endrunde teilgenommen hatten. Am Turnier nahmen 16 Mannschaften teil. Europa war mit Bulgarien, Spanien, Frankreich, der Tschechoslowakei und dem Olympiasieger von 1964 Ungarn vertreten. Aus Nord- und Mittelamerika nahmen El Salvador, Guatemala und Mexiko teil, aus Südamerika Brasilien und Kolumbien. Asien war mit Japan, Thailand und Israel, Afrika mit Guinea, Nigeria und Marokko vertreten. Nachdem Marokko angab, nicht gegen Israel spielen zu wollen, wurde stattdessen die Mannschaft Ghanas zum Turnier eingeladen. Ungarn musste auf die Spieler verzichten, die 1966 an der WM teilgenommen hatten. In Mexiko floh zudem Zoltán Varga. Dennoch konnte sich Ungarn ins Finale durchkämpfen und gewann dort 4:1 gegen Bulgarien, das innerhalb von zwei Minuten drei Spieler durch Platzverweise verloren hatte. Die Bulgaren hatten sich in der Qualifikation für Olympia gegen die Mannschaft der DDR durchgesetzt. Im Spiel um Bronze besiegte Japan Mexiko mit 2:0. Gewichtheben Im Gewichtheben gab es Entscheidungen in sieben Gewichtsklassen. Verlangt wurde von den Sportlern ein Dreikampf aus Drücken, Reißen und Stoßen. Jedes NOK konnte insgesamt sieben Gewichtheber melden, von denen aber höchstens zwei in einer Gewichtsklasse antreten durften. In Mexiko-Stadt wurden 18 olympische Rekorde und 4 Weltrekorde aufgestellt. Im Bantamgewicht konnte der Iraner Mohammad Nassiri zwei olympische Rekorde und einen Weltrekord aufstellen. Im Federgewicht wiederholte der Japaner Yoshinobu Miyake seinen Olympiasieg von 1964, Bronze gewann sein Zwillingsbruder Yoshiyuki Miyake. Dem Polen Waldemar Baszanowski gelang im Leichtgewicht ebenfalls die Verteidigung seines Olympiasiegs von Tokio, wobei er zwei seiner eigenen Rekorde überbot. Im Schwergewicht setzte sich Leonid Schabotinski durch und gewann damit auch seine zweite Goldmedaille. Hockey Die Plätze für das olympische Hockeyturnier waren bei einem Weltturnier 1967 in London vergeben worden. Dort qualifizierten sich Pakistan, Indien, die Niederlande, Neuseeland, die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Belgien, Japan, Frankreich, Spanien, die DDR und Australien. Hinzu kamen die Mannschaften von Kenia für Afrika, Argentinien für Südamerika, Malaysia für Asien und Mexiko als Gastgebernation. Die Mannschaften spielten in zwei Gruppen, jeweils die ersten beiden Mannschaften zogen in die Halbfinals ein. Die übrigen Platzierungen wurden zwischen den gleichplatzierten Mannschaften beider Gruppen ausgespielt. Die Leistungen der Schiedsrichter wurden stark kritisiert. Die Fédération Internationale de Hockey hatte trotz der Höhenbedingungen und Hitze sogar Schiedsrichter über 60 Jahre nominiert, die teils nicht mithalten konnten. Als Reaktion führte der Verband nach den Spielen eine Altersgrenze von 55 Jahren ein. Vor dem Turnier war Indien favorisiert worden. In einem turbulenten Turnierverlauf konnte sich der Rekordolympiasieger erstmals seit 40 Jahren nicht einmal fürs Finale qualifizieren. In diesem besiegte Pakistan Australien mit 2:1 und gewann damit nach den Olympischen Spielen 1960 zum zweiten Mal olympisches Gold. Indien gewann im Spiel um den dritten Platz gegen die Bundesrepublik Bronze. Im Verlauf des Turniers hatte Japan ein Spiel aufgrund des Protests gegen eine Fehlentscheidung nicht beendet. Mit dem Spiel der Niederlande gegen Spanien, das 144 Minuten dauerte, fand zudem bei diesen Olympischen Spielen eines der längsten Hockeyspiele statt. Kanu Im Kanurennsport fanden fünf Wettbewerbe für Männer und zwei für Frauen statt. Der Internationale Kanuverband hatte 1966 auf seinem Kongress in Berlin dem IOC vorgeschlagen, zusätzlich Kanuslalomwettbewerbe auszutragen. Dieser Vorschlag wurde aber erst auf der IOC-Session in Mexiko-Stadt diskutiert und dort angenommen. Die Wettbewerbe wurden auf dem neu angelegten Cuemanco-Ruder- und Kanukanal ausgetragen, die bis dahin modernste Rennstrecke bei Olympischen Spielen. Es nahmen 183 Sportler aus 27 Nationen teil. Die sowjetischen Kanuten, die in Tokio mit drei Olympiasiegen am erfolgreichsten gewesen waren, konnten in Mexiko-Stadt zwei Goldmedaillen gewinnen. Zudem erreichten sie in sechs der sieben Wettbewerbe eine Medaille. Als erfolgreichste Nation setzte sich diesmal jedoch Ungarn mit drei Olympiasiegen durch. Im Vergleich zu Tokio, wo nur eine Silbermedaille gewonnen werden konnte, stellte dies eine starke Verbesserung dar. Den ungarischen Kanuten gelang es ebenfalls, in sechs der Rennen eine Medaille zu erreichen. Insgesamt dominierten die Osteuropäer. Im Zweier-Kajak der Männer gewannen die Österreicher Gerhard Seibold und Günther Pfaff Bronze hinter dem sowjetischen und ungarischen Boot. Der norwegische Sieg im Vierer-Kajak war eine Überraschung, nachdem vier Jahre zuvor kein einziges Boot aus Norwegen an den Wettbewerben teilgenommen hatte. Die vier Kanuten, die vier Monate vor den Spielen von Mexiko erstmals gemeinsam angetreten waren, konnten sich im olympischen Finale knapp durchsetzen und erhielten somit die Goldmedaille. Westdeutsche Kanuten erreichten mit Roswitha Esser und Annemarie Zimmermann-Weber Gold im Zweier-Kajak. Hinzu kamen mit den zweiten Plätzen von Renate Breuer im Einer-Kajak und Detlef Lewe im Einer-Kanadier zwei Silbermedaillen. Leichtathletik In der Leichtathletik wirkte sich die Höhenlage Mexiko-Stadts besonders aus. Es wurden einige Weltrekorde aufgestellt wie etwa im Weitsprung, die lange Zeit nicht wieder erreicht werden sollten. Vor allem in den Langstreckendisziplinen konnten zudem die Läufer aus Kenia und Äthiopien ihre Stärke ausspielen und neun Medaillen auf Distanzen von 1500 Metern bis zum Marathon gewinnen. Besondere Brisanz erhielt dabei das Duell im 1500-Meter-Lauf zwischen dem amerikanischen Weltrekordhalter Jim Ryun und dem Kenianer Kipchoge Keino, der mit Gallensteinen an den Start ging. Keino konnte sich dabei am Ende durchsetzen. Er startete auch über die 5000 und 10.000 Meter, wo sich seine Symptome aber stärker auswirkten. Auf den ersten acht der zehn Kilometer gab es elf verschiedene Führende, wobei die nichtafrikanischen und aus dem Flachland stammenden Starter an ihre Leistungsgrenzen gingen. Das Rennen gewann Naftali Temu aus Kenia vor dem Äthiopier Mamo Wolde und dem Tunesier Mohamed Gammoudi. Der Australier Ron Clarke, der den Weltrekord über diese Distanz hielt, versuchte das zwei Minuten über seinem Rekord liegende Tempo mitzugehen, erreichte das Ziel aber bloß als sechster und benötigte Sauerstoff, da er beinahe ohnmächtig wurde und selbst 20 Minuten nach Überquerung der Ziellinie bewegungslos am Boden lag. In Mexiko-Stadt erreichten erstmals nur schwarze Athleten das Finale über die 100 Meter, das Jim Hines aus den USA gewann, vor Lennox Miller aus Jamaika und Charles Greene aus den USA. Hines war vier Monate vor den Spielen mit 9,9 s erstmals unter die Marke von zehn Sekunden gelaufen und lief bei den Olympischen Spielen mit automatisch gestoppten 9,95 s zur Goldmedaille. Im Rennen über die 200 Meter gewann der Amerikaner Tommie Smith, Bronze holte sein Landsmann John Carlos. Aufsehen erregten beide mit ihrem „Black Power“-Gruß bei der Siegerehrung, woraufhin das IOC das NOK der USA dazu aufforderte, die Athleten nach Hause zu schicken, was noch am 16. Oktober geschah. Der spätere Olympiasieger über die 400 Meter, der Amerikaner Lee Evans, überlegte erst mit den beiden Ausgeschlossenen abzureisen, trat dann aber an und gewann in Weltrekordzeit vor seinen Mannschaftskollegen Larry James und Ron Freeman. Die 400 Meter Hürden zeigten ebenfalls, wie stark der Einfluss der Höhe auf die Leistungen war. Die ersten sieben Läufer im Ziel unterboten den olympischen Rekord. Der Sieger David Hemery aus Großbritannien stellte mit 48,1 s einen neuen Weltrekord auf und deklassierte seine Konkurrenten mit einem Vorsprung von beinahe einer Sekunde auf den Deutschen Gerhard Hennige und den Briten John Sherwood. Über 50 Kilometer Gehen gewann Christoph Höhne aus der DDR die Goldmedaille vor dem Ungarn Antal Kiss und dem Amerikaner Larry Young. Über die 20 Kilometer erreichte José Pedraza für Mexiko Silber. Im Weitsprung sprang Bob Beamon zu Gold und verbesserte mit 8,90 m den Weltrekord um 55 Zentimeter. Diese Marke wurde 23 Jahre lang nicht übertroffen und hat immer noch als olympischer Rekord Bestand. Silber gewann der Ostdeutsche Klaus Beer, der mit seiner Weite von 8,19 m deutlich distanziert worden war. Im Hochsprung kam es zu einer technischen Revolution mit einem neuen Sprungstil, dem „Fosbury-Flop“ von Olympiasieger Dick Fosbury, der mit 2,24 m olympischen Rekord erzielte. Im Stabhochsprung siegte Bob Seagren aus den USA mit 5,40 m. Silber ging an Claus Schiprowski aus der Bundesrepublik Deutschland, Bronze an Wolfgang Nordwig aus der DDR, die beide ebenfalls 5,40 m übersprungen hatten, jedoch mehr Fehlversuche aufwiesen. Im Diskuswurf gewann der Amerikaner Al Oerter seine vierte olympische Goldmedaille in Folge und wie schon zuvor mit neuem olympischen Rekord (64,78 m). Die Silbermedaille gewann Lothar Milde für die DDR. Mit 8193 Punkten, die olympischen Rekord bedeuteten, entschied der Amerikaner Bill Toomey den Zehnkampf für sich. Hinter ihm platzierten sich die beiden Westdeutschen Hans-Joachim Walde und Kurt Bendlin. Im Finale der Frauen über 100 Meter traten vier Weltrekordläuferinnen an. Die Amerikanerin Barbara Ferrell und die Polin Irena Szewińska verbesserten den Weltrekord in der zweiten Runde auf 11,1 s. Wyomia Tyus konnte im Finale den Rekord noch einmal auf 11,08 s verbessern und war damit die erste Sprinterin, die ihren Olympiasieg wiederholen konnte. Dies war vorher auch keinem Mann gelungen. Über die 200 Meter sicherte sich dann die Polin mit Weltrekord die Goldmedaille. Im Rennen über die 400 Meter war die 19-jährige Britin Lillian Board favorisiert. Sie führte das Rennen an, wurde auf der Ziellinie aber noch von der Französin Colette Besson abgefangen. Auf den 800 Metern konnte die jugoslawische Favoritin Vera Nikolić den in sie gesetzten Hoffnungen von politischer Seite nicht gerecht werden. Nach weniger als einer Runde des Halbfinals musste sie das Rennen aufgeben. Das Finale gewann Madeline Manning in 2:00,9 min und stellte damit einen olympischen Rekord auf. Europäische Frauen dominierten die Wurfdisziplinen. Im Kugelstoßen gewann Margitta Gummel aus der DDR Gold mit der Weltrekordweite von 19,61 m vor ihrer Landsfrau Marita Lange. Die Rumänin Lia Manoliu gewann im Diskuswurf mit olympischem Rekord. Silber erreichte Liesel Westermann mit 57,76 m für die Bundesrepublik Deutschland. Eva Janko aus Österreich belegte im Speerwurf hinter Angéla Németh aus Ungarn und der Rumänin Mihaela Peneș den Bronzerang. Den Fünfkampf konnte die Westdeutsche Ingrid Becker für sich entscheiden. Silber gewann die Österreicherin Liese Prokop vor der Ungarin Annamária Tóth. Moderner Fünfkampf Im Modernen Fünfkampf fanden ein Einzel- und ein Mannschaftswettkampf der Männer statt, an fünf aufeinanderfolgenden Tagen in der Reihenfolge Reiten, Degenfechten, Pistolenschießen, Schwimmen und Geländelauf. Für die Mannschaftswertung wurden die Einzelergebnisse addiert. Den Einzelwettbewerb gewann der Schwede Björn Ferm mit 4964 Punkten vor András Balczó aus Ungarn mit 4953 Punkten und Pawel Lednjow aus der UdSSR mit 4795 Punkten. Balczó konnte wie auch sein Mannschaftskollege István Móna bei den Olympischen Spielen teilnehmen, nachdem sie die Spiele von Tokio aufgrund einer Sperre infolge von Zollvergehen verpasst hatten. Gemeinsam trugen sie erheblich zum Gold der Mannschaft bei. Bronze mit der Mannschaft erhielten zuerst die Schweden, mussten es aber an Frankreich abgeben, nachdem Hans-Gunnar Liljenwall am Tag der Disziplin Schießen positiv auf Alkohol getestet und damit der erste olympische Dopingfall geworden war. Radsport Auf Druck des IOC hatte der internationale Radsportverband UCI 1965 mit der Fédération Internationale de Cyclisme Amateur einen eigenen Amateurverband gegründet und die Profis in einen eigenen Profiverband ausgegliedert, deren beider Dachverband aber die UCI blieb. In Mexiko gab es insgesamt sieben Wettbewerbe, fünf auf der Bahn und zwei Straßenrennen. Im Vorfeld galt Italien, das 1964 in Tokio drei Olympiasiege erreicht hatte, zusammen mit Frankreich als favorisierte Nation. Tatsächlich konnte jedoch nur Pierfranco Vianelli im Straßenrennen Gold gewinnen. Das 100-Kilometer-Mannschaftszeitfahren gewannen überraschend die Niederländer vor Schweden und Italien. Auf der Bahn dominierte Frankreich mit vier Siegen. In der 4000-Meter-Mannschaftsverfolgung konnte die westdeutsche Mannschaft bestehend aus Udo Hempel, Karl-Heinz Henrichs, Jürgen Kißner und Karl Link Silber hinter der Mannschaft aus Dänemark und vor der italienischen gewinnen. Die Medaille wurde ihr aber erst im Rahmen der Querfeldein-Weltmeisterschaft 1969 in Magstadt überreicht, da die deutsche Mannschaft im Finale zwar als erste ins Ziel kam, jedoch aufgrund eines unerlaubten Anschiebens in der letzten Runde vom Schiedsgericht disqualifiziert wurde und ihr nicht einmal die Silbermedaille zugestanden werden sollte. Reiten Auf dem Programm standen jeweils ein Einzel- und ein Mannschaftswettbewerb im Dressur-, Spring- und Vielseitigkeitsreiten. Die Flugreise war wie schon vier Jahre zuvor für die Pferde belastend. Hinzu kamen die Höhenbedingungen, weswegen die Pferde eine Eingewöhnungszeit von drei bis vier Wochen benötigten. Das Springen und die Dressur fanden direkt in Mexiko-Stadt statt, die Wettbewerbe der Vielseitigkeit rund 160 Kilometer von der Hauptstadt entfernt in Valle de Bravo. Das Dressurreiten der Vielseitigkeit dominierten die sowjetischen Reiter, nach allen drei Wettbewerben setzte sich der Franzose Jean-Jacques Guyon durch. Die Mannschaftswertung gewannen die Briten vor den USA und Australien. Im Dressurreiten wiederholte die deutsche Mannschaft mit Liselott Linsenhoff, Reiner Klimke und Josef Neckermann ihren Olympiasieg von Tokio. Neckermann und Klimke gewannen zudem Silber und Bronze im Einzel hinter Iwan Kisimow aus der UdSSR. Gold im Springreiten gewann der Amerikaner William Steinkraus. Im Mannschaftswettbewerb im Springen erreichte das deutsche Team bestehend aus Alwin Schockemöhle, Hermann Schridde und Hans Günter Winkler die Bronzemedaille. Der Sieg ging an Kanada, Silber an Frankreich. Ringen Die Regeln des Ringen waren mit Blick auf die Höhenlage von Mexiko-Stadt angepasst worden. Die Kampfzeit wurde auf dreimal drei Minuten festgelegt und das Punktesystem verändert. Im Freistilringen und im Griechisch-römischen Ringen wurden jeweils in acht Gewichtsklassen Medaillen vergeben. Erfolgreichste Nation war Japan mit vier Olympiasiegen, während die Sowjetunion mit neun insgesamt die meisten Medaillen erkämpfen konnte. Im Freistil siegten Japaner in den drei leichtesten Gewichtsklassen, wobei Yōjirō Uetake im Bantamgewicht seinen Olympiasieg von Tokio wiederholte. Dies gelang ebenso Alexander Medwed aus der UdSSR im Schwergewicht. Im Halbschwergewicht gewann der Türke Ahmet Ayık, der vier Jahre zuvor noch Silber errungen hatte. Im griechisch-römischen Stil konnte nur der Ungar István Kozma im Schwergewicht seinen Titel verteidigen. Im Federgewicht gewann der Silbermedaillengewinner der vorherigen Spiele Roman Rurua aus der UdSSR sein Finale. Die Ringer der DDR verbuchten zwei Olympiasiege: Rudolf Vesper gewann im Weltergewicht, Lothar Metz, Bronzemedaillengewinner von Tokio, im Mittelgewicht. Der einzige Ringer, der in beiden Stilarten Medaillen gewann, war der Franzose Daniel Robin mit zwei Silbermedaillen im Weltergewicht. Rudern Im Rudern wurden Medaillen in sieben Bootsklassen vergeben. Die Regattastrecke war ein neu gebauter Kanal in Xochimilco. Die erfolgreichste Rudernation war die DDR mit zwei Gold- und einer Silbermedaille. Im Zweier und Vierer ohne Steuermann konnten die ostdeutschen Boote den Olympiasieg feiern, im Vierer mit Steuermann wurde das Boot der DDR Zweiter mit deutlichem Abstand auf Neuseeland und vor der Schweiz. Die Bundesrepublik gewann die prestigeträchtigste Bootsklasse, den Achter. Horst Meyer, Dirk Schreyer, Rüdiger Henning, Wolfgang Hottenrott, Lutz Ulbricht, Egbert Hirschfelder, Jörg Siebert, Niko Ott und Gunther Tiersch brachen dabei die Dominanz der Amerikaner, die bei zehn Olympischen Spielen neun Goldmedaillen in dieser Klasse gewonnen hatten, dieses Mal aber die Medaillenränge nicht erreichten. Im Einer gewann Jochen Meißner Silber hinter dem Niederländer Jan Wienese. Damit ging in dieser Bootsklasse die Dominanz der sowjetischen Ruderer, die seit 1952 den Einer-Olympiasieger gestellt hatten, zu Ende. Schießen Im Schießen standen sieben Wettbewerbe auf dem Programm. Im Vergleich zu Tokio kam Skeet als neue Disziplin hinzu. Frauen erhielten zwar keine eigenen Wettbewerbe, durften jedoch im allgemeinen Starterfeld antreten, wovon drei Teilnehmerinnen Gebrauch machten. Insgesamt nahmen 450 Schützen aus 66 Ländern teil. Erstmals wurden alle Wettbewerbe an einem Ort ausgetragen, da ein modernes Schießzentrum auf einem Kasernengelände errichtet worden war. Im Kleinkaliber-Dreistellungskampf gewann Bernd Klingner für die Bundesrepublik die Goldmedaille, mit der freien Scheibenpistole gewann der bundesdeutsche Heinz Mertel Silber bei gleicher Anzahl von Ringen wie der Olympiasieger, die zudem olympischer Rekord bedeutete, vor dem Ostdeutschen Harald Vollmar. Im Trap belegte Kurt Czekalla für die DDR zudem den Bronzerang. Im erstmals ausgetragenen Skeetwettbewerb wurden die Medaillen erst im Stechen vergeben, in dem Konrad Wirnhier für die Bundesrepublik Deutschland Bronze erreichte. Die Athleten der USA konnten an ihre Leistung von Tokio mit sieben Medaillen nicht anknüpfen, sondern erreichten bloß drei. Jedoch war der Amerikaner Gary Anderson im Dreistellungskampf mit dem freien Gewehr der einzige Schütze, der seinen Olympiasieg wiederholte. Hinter ihm mit seinem olympischen Rekord platzierten sich ein sowjetischer Schütze und der Schweizer Kurt Müller. Schwimmen Die Schwimmwettbewerbe wurden von den Athleten der Vereinigten Staaten dominiert. Von den 107 vergebenen Medaillen gingen mehr als die Hälfte an die USA, deren Schwimmer 23 Gold-, 15 Silber- und 20 Bronzemedaillen gewannen. Die beiden Titel über die Freistilsprintstrecken gewann der Australier Michael Wenden. Über 100 Meter stellte er mit 52,22 s einen neuen Weltrekord auf. Auf der 200-Meter-Strecke setzte er sich gegen den favorisierten Amerikaner Don Schollander durch. Die beiden Rückenstrecken gewann der Ostdeutsche Roland Matthes. Für Euphorie bei den Gastgebern sorgte Felipe Muñoz mit seinem überraschenden Sieg über die 200 Meter Brust. Mark Spitz, vier Jahre später bei den Olympischen Spielen 1972 in München der dominierende Schwimmer, konnte mit den Staffeln seine ersten Goldmedaillen gewinnen. Auf den Einzelstrecken erfüllte er jedoch die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Auf beiden Schmetterlingdistanzen kam er als Weltrekordhalter nach Mexiko-Stadt, gewann über die 100 Meter nur Silber und wurde über die 200 Meter sogar nur Achter. Nur über die 100 Meter Freistil konnte er sich im Vergleich zu seinen Vorleistungen steigern und Bronze gewinnen. Beim Wasserspringen gingen die beiden Goldmedaillen vom Brett in die Vereinigten Staaten. Das Turmspringen der Männer gewann der Italiener Klaus Dibiasi, der vom Brett bereits Silber erreicht hatte. Der Mexikaner Álvaro Gaxiola platzierte sich mit deutlichem Abstand auf dem Silberrang. Bei den Frauen wurde die Tschechoslowakin Milena Duchková Olympiasiegerin vom Turm. Im Wasserball traten 15 Mannschaften in zwei Gruppen und dann einer K.-o.-Phase an. Im Finale besiegte die Mannschaft aus Jugoslawien die Sowjetunion mit 13 zu 11. Im Spiel um Platz 3 gewann Ungarn mit 9:4 gegen Italien. Damit setzte die ungarische Mannschaft ihre Serie fort, seit 1928 immer eine Medaille zu gewinnen. Ungarn setzte sich dabei in einem hart umkämpften Spiel erst nach der Hälfte der Zeit mit sechs Toren in Folge ab. Auch die anderen beiden Medaillengewinner hatten bereits bei vorherigen Spielen Medaillen gewinnen können. Das Finale stand nach Ende der regulären Spielzeit bei 11:11. In der vierminütigen Verlängerung konnte Jugoslawien dann zwei Tore erzielen und feierte damit seinen ersten Olympiasieg im Wasserball. Segeln Im Segeln wurden Wettbewerbe in denselben fünf Bootsklassen ausgetragen wie in Tokio 1964, wobei die 5,5-Meter-Klasse letztmals auf dem olympischen Programm stand. In jeder Klasse wurden sieben Wettfahrten ausgetragen, wobei das schlechteste Ergebnis als Streichresultat zählte. Das Punktesystem war für Olympia geändert worden. Austragungsort der Wettbewerbe war Acapulco. Insgesamt nahmen 247 Segler aus 41 Nationen teil. Am Montag, dem 14. Oktober, begannen die Wettfahrten, eine Woche später, am 21. Oktober, wurden die Medaillen in einer abendlichen Zeremonie vergeben. Die Entscheidungen um Silber und Bronze fielen in allen Bootsklassen recht knapp aus, während sich die Olympiasieger deutlich durchsetzen konnten. In der 5,5er-Klasse gewannen die Sundelin-Brüder aus Schweden mit 8 Punkten Gold, während Silber an das Schweizer Boot mit 32 Punkten vor Großbritannien mit 39,8 Punkten ging. An den Wettfahrten nahm auch Kronprinz Harald von Norwegen teil. In der Star-Klasse gewann der dreimalige Weltmeister Lowell North zusammen mit Peter Barrett aus den USA mit 14,4 Punkten Gold. Die norwegischen und italienischen Boote auf dem zweiten und dritten Platz trennte nur ein Punkt. Die Goldmedaille im Drachen ging ebenfalls in die USA. Im Finn-Dinghy gewann Hubert Raudaschl aus Österreich mit 53,4 Punkten hinter Walentin Mankin aus der UdSSR mit 11,7 Punkten und vor dem Italiener Fabio Albarelli die Silbermedaille. Im Flying Dutchman gewannen Rodney Pattison und Iain MacDonald-Smith aus Großbritannien mit nur 3 Punkten die Goldmedaille, nachdem sie in der ersten Wettfahrt disqualifiziert worden waren. Mit 40,7 Punkten mehr gewannen Ullrich Libor und Peter Naumann für die Bundesrepublik Silber vor dem brasilianischen Boot. Turnen Im Turnen gewann Věra Čáslavská für die Tschechoslowakei vier Gold- und zwei Silbermedaillen. Aufgrund des niedergeschlagenen Prager Frühlings genoss sie die besonderen Sympathien des Publikums. Für ihre Bodenübung wählte sie zudem einen mexikanischen Tanz als musikalische Begleitung, der beim Publikum Begeisterung auslöste. Außerdem heiratete sie vor 10.000 Menschen in der Kathedrale am Zocalo den Mittelstreckenläufer Josef Odložil. Sportlich ragte sie heraus, weil ihre vier Goldmedaillen in den Individualdisziplinen ein Meilenstein in der olympischen Geschichte waren. Vorher war dies keinem Olympioniken gelungen. Den Mannschaftswettbewerb gewannen die Turnerinnen aus der Sowjetunion vor der Tschechoslowakei. Bronze gewannen Maritta Bauerschmidt, Karin Janz, Marianne Noack, Magdalena Schmidt, Ute Starke und Erika Zuchold für die DDR. Zuchold beim Pferdsprung und Janz am Stufenbarren gewannen zudem Einzelsilber. Bei den Männern dominierten die japanischen Turner. Sie gewannen den Mannschaftswettbewerb und zudem die Hälfte der 18 Medaillen in den Einzelwettbewerben. Akinori Nakayama gewann drei Gold- und eine Silbermedaille. Michail Woronin aus der UdSSR gewann zwei Gold-, zwei Silber- und eine Bronzemedaille. Im Mannschaftswettbewerb konnte die Mannschaft der DDR mit Günter Beier, Matthias Brehme, Gerhard Dietrich, Siegfried Fülle, Klaus Köste und Peter Weber Bronze hinter Japan und der UdSSR gewinnen. Volleyball Volleyball war nach den Olympischen Spielen von Tokio das zweite Mal olympisch. Im Männerturnier starteten zehn Mannschaften, im Frauenturnier waren es acht. Die Qualifikation für das Männerturnier erfolgte bei der WM 1966 in Prag, wo sich die Tschechoslowakei, Rumänien, die Sowjetunion, die DDR, Japan, Polen, Bulgarien und Jugoslawien durchsetzten. Rumänien zog später die Teilnahme zurück. Hinzu kamen Brasilien und die USA, die sich bei den Panamerikanischen Spielen 1967 qualifizierten, und das Gastgeberland Mexiko. Die Qualifikation für das Frauenturnier verlief nicht wie geplant, da die Weltmeisterschaft 1967 in Japan aufgrund diskriminierender Bedingungen vom Ostblock boykottiert worden war. So traten dort nur Japan, die USA, Südkorea und Peru an, die auch für Olympia qualifiziert waren. Das Teilnehmerfeld wurde dann durch die ersten drei der Europameisterschaften Sowjetunion, Polen und die Tschechoslowakei sowie Mexiko komplettiert. Der Turniermodus war jeder gegen jeden, wobei es für einen Sieg zwei und eine Niederlage einen Punkt gab. Im Männerturnier konnte die Mannschaft aus der Sowjetunion ihren Olympiasieg verteidigen, obwohl sie zwischen und vor den Spielen den Weltmeistertitel verlor und mehrmals gegen die DDR verloren hatte. Vor dem Spiel gegen die DDR steckte der Mannschaftsbus im Verkehr fest, die gegnerische Mannschaft verzichtete jedoch darauf, sich die zwei Punkte kampflos zuschreiben zu lassen und verlor das dann später begonnene Spiel mit 2:3. Gegen die USA, die im Kampf um den Titel keine Rolle spielten, unterlag das sowjetische Team. Silber gewann die japanische Mannschaft, Bronze ging an die Tschechoslowakei. Die Mannschaft der DDR schloss das Turnier auf dem vierten Platz ab. Bei den Frauen gewann die Sowjetunion, wobei sie alle Spiele für sich entscheiden konnte, vor Japan und Polen. Mexiko erreichte den siebten und damit vorletzten Platz vor den USA. Demonstrationssportarten Bei den Olympischen Spielen 1968 wurden Tennis und Pelota als Demonstrationssportarten ausgetragen. Tennis war zuletzt 1924 in Paris olympische Sportart gewesen. 46 Spieler aus 15 Ländern traten im Einzel und Doppel an. Die Spiele fanden auf Tennisplätzen in Mexiko-Stadt und Guadalajara statt. Pelota wurde in fünf Versionen in Mexiko-Stadt und Acapulco ausgetragen. An den zwei Wochen umfassenden Wettbewerben nahmen sieben Mannschaften teil. Insgesamt konnten sich die Teams aus Mexiko, Spanien und Frankreich gegenüber denen aus Argentinien, den USA, den Philippinen und Uruguay durchsetzen. Herausragende Sportler Die erfolgreichste Sportlerin der Olympischen Spiele 1968 war die tschechoslowakische Turnerin Věra Čáslavská, die vier Gold- und zwei Silbermedaillen gewinnen konnte. Hinter ihr lag der Japaner Akinori Nakayama, der ebenfalls im Turnen antrat, mit vier Gold-, einer Silber- und einer Bronzemedaille. Die meisten Medaillen konnte der sowjetische Turner Michail Woronin gewinnen, der zwei Gold-, vier Silber- und eine Bronzemedaille holte. Die jüngste Teilnehmerin war die Schwimmerin Liana Vicens aus Puerto Rico mit 11 Jahren und 327 Tagen, ältester Teilnehmer war der Schütze Roberto Soundy aus El Salvador mit 68 Jahren und 229 Tagen. „Black Power“-Protest von Tommie Smith und John Carlos Die Wahrnehmung der Olympischen Spiele von Mexiko-Stadt prägten international zu einem Großteil das Bild des Protests der beiden amerikanischen Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos sowie die anschließende Kontroverse, während in Mexiko selbst eher die Proteste im Vorfeld der Spiele die Erinnerung dominieren. Smith hatte über die 200 Meter in Weltrekordzeit Gold gewonnen, während Carlos Bronze holte. Die Siegerehrung nutzten die beiden für ihren Protest für Menschenrechte und gegen Rassendiskriminierung. Den Weg zum Siegerpodest legten Smith und Carlos barfuß zurück, um auf die Armut Farbiger, die sich in vielen Teilen der Welt keine Schuhe leisten konnten, aufmerksam zu machen. Carlos ließ zudem seine Trainingsjacke offen, um an die Arbeiter zu erinnern, denen seiner Meinung nach die ihnen zustehende Anerkennung verweigert wurde. Während der Zeremonie zogen die beiden jeweils einen schwarzen Handschuh an. Während der amerikanischen Nationalhymne schlossen sie die Augen, senkten den Kopf und reckten die behandschuhte Hand zur Faust geballt in die Luft. Das von John Dominis geschossene Foto dieser „Black Power“-Geste wurde zu einer Ikone der Bürgerrechtsbewegung und der 1960er-Jahre im allgemeinen. Hinzu kommt, dass bei den Olympischen Spielen 1968 schwarze Sportler insgesamt selbstbewusster auftraten. So äußerten zwei kenianische Läufer in einem Interview wiederholt: „Wir sind schwarz, wir sind stolz, wir sind stark.“ Das Internationale Olympische Komitee stellte das United States Olympic Committee (USOC) nach dem Protest von Smith und Carlos vor die Wahl, die gesamte Leichtathletikmannschaft von den Spielen in Mexiko-Stadt zurückzuziehen oder nur die beiden Athleten in die USA zurückzuschicken. Das USOC entschied sich für letzteres, was die Wirkung des Protests noch verstärkte. Die Handlung der beiden Sportler wurde in den Vereinigten Staaten kontrovers aufgenommen. Während sie in der Bürgerrechtsbewegung Anerkennung fand, gab es auch viele ablehnende Stimmen. Rassisten bedrohten ihre Familien, während ihnen neben dem Ausschluss aus dem Nationalkader auch alle Fördergelder gestrichen wurden. Mit Verweis auf diese teilweise negative Rezeption der Ereignisse verzichtete John Carlos beispielsweise auch auf ein Engagement für Barack Obama bei dessen Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2008. Der „Black Power“-Protest bei den Olympischen Spielen von 1968 wurde zu einem Maßstab für politisches Engagement von Sportlern. Er wurde erneut 2008 im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 in Peking verstärkt diskutiert, als Sportlern mit Verweis auf die Regeln des IOC Proteste und das Tragen von Protestslogans untersagt wurden. Doping Bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio arbeitete erstmals eine vom IOC eingesetzte Medizinische Kommission, die von Arthur Porritt geleitet wurde. Zudem hatte das IOC den Gebrauch von Doping im Vorfeld dieser Spiele verurteilt und Sanktionen angedroht. Auf der 66. IOC-Session, die 1967 in Teheran stattfand, beschlossen die IOC-Mitglieder, dass sowohl bei den Olympischen Winterspielen 1968 in Grenoble als auch bei den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt Dopingtests durchgeführt werden sollten. Als Grundlage diente eine 1966 erstellte Liste von Dopingmitteln, die Alkohol, Kokain, Opiate, Cannabis, Vasodilatoren, Amphetamine und Ephedrine umfasste. Zudem verurteilte das IOC Anabolika als Dopingmittel, jedoch bestanden zum Zeitpunkt der Olympischen Spiele noch keine Testverfahren zu deren Nachweis. Die Auswirkungen der Höhe auf den Organismus vergrößerten die Gefahren, die vom Doping ausgingen, weshalb sich Sportmediziner verstärkt diesem Thema zuwandten. So wurden vermehrt Tests durchgeführt, die etwa 1965 in der belgischen Radsportliga ergaben, dass 25 Prozent der belgischen Fahrer und sogar 36 Prozent der ausländischen mit Amphetaminen gedopt waren. Während der zweiten Internationalen Sportwoche in Mexiko-Stadt 1966 führte die Medizinische Kommission der UCI mit der Internationalen Föderation für Sportmedizin Untersuchungen durch, die höhere Risiken von Doping in Höhenlagen und bei starker Hitze belegten. In Mexiko-Stadt wurde in Zusammenarbeit mit dem neuen Vorsitzenden der Medizinischen Kommission des IOC, Prinz de Mérode, das Dopingkontrolllabor „Centrol Quimico“ auf dem Gelände der Universität eingerichtet. Der Präsident der Mexikanischen Föderation für Sportmedizin, Gilberto Bolanos Cacho, und das spätere mexikanische IOC-Mitglied Eduardo Hay unterstützten in hohem Maße die Einführung der Tests. Nachdem die Zahl der Dopingsünder bereits zur dritten Internationalen Sportwoche rapide gesunken war, verschwanden sie zu den Olympischen Spielen fast vollkommen. Bei 667 durchgeführten Tests wurde lediglich dem schwedischen Modernen Fünfkämpfer Hans-Gunnar Liljenwall Alkoholkonsum vor der Disziplin Schießen nachgewiesen, weshalb der schwedischen Mannschaft die Bronzemedaille aberkannt wurde. Es steht aber zu vermuten, dass die tatsächliche Zahl von gedopten Athleten deutlich größer war, was zum einen im System des Staatsdopings begründet liegt und daran, dass etwa Anabolika gar nicht nachgewiesen werden konnten. 1968 wurden zudem erstmals Geschlechtskontrollen bei weiblichen Athleten durchgeführt, um die Teilnahme von Hermaphroditen an Frauenwettbewerben zu verhindern. Dies hatte das IOC bereits 1964 angeregt. 1966 bei den Leichtathletik-Europameisterschaften ließ die IAAF erstmals solche Tests durchführen, 1967 beschloss das IOC sie dann für die Olympischen Spiele. In Mexiko-Stadt ließen die meisten Sportverbände Doping- und Geschlechtskontrollen zentralisiert durchführen, nur der Schwimmverband verweigerte sich vollständig. Berichterstattung Der Pressechef der Olympischen Spiele 1968 war Rafael Solana. Insgesamt waren 2249 Journalisten akkreditiert, von denen 835 für die Presse und 385 für Nachrichtenagenturen arbeiteten. Für das Fernsehen waren 845 tätig, wobei diese Zahl auch Techniker umfasst. Die Rechte für die Fernsehübertragungen wurden für 9,75 Millionen Dollar verkauft. Der amerikanische Sender ABC zahlte davon allein 4,5 Millionen. Die Fernsehverbünde OTI für Lateinamerika, Spanien und Portugal und die EBU zahlten jeweils 2,5 Millionen und eine Million. Die Rechte für Japan wurden ebenfalls für den Betrag von einer Million Dollar verkauft. Alle 23 Sportstätten verfügten über ein eigenes Pressezentrum mit jeweils einem Fotolabor, einer Interviewzone und Plätzen für nationale und internationale Journalisten. Insgesamt waren 237 Fernseh- und 390 Radioplätze an den Sportstätten verfügbar. 1968 wurden die Olympischen Spiele erstmals in Farbe übertragen. Die Übertragungen hatten wie während des gesamten Kalten Krieges auch eine politische Funktion. So hatten Fernsehübertragungen des Sieges der tschechoslowakischen Mannschaft im Basketball über die UdSSR und der Erfolge von Věra Čáslavská den Effekt der Stärkung nationalen Selbstbewusstseins in der Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Der mexikanische Schwimmer und Filmemacher Alberto Isaac drehte die vierstündige Kino-Dokumentation Olimpiada en México, die 1970 für einen Oscar nominiert wurde. Literatur Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik III. Mexiko-Stadt 1968 – Los Angeles 1984. Sportverlag Berlin, Berlin 2000, ISBN 3-328-00741-5. David Miller: The Official History of the Olympic Games and the IOC: Athens to London 1894–2012. Mainstream Publishing, Edinburgh 2012, ISBN 978-1-84596-611-9 Organizing Committee of the Games of the XIX Olympiad Mexico 1968: The Official Report of the Organizing Committee of the Games of the XIX Olympiad Mexico 1968, Volume 1: The Country. Mexiko-Stadt 1968. Teil 1 (PDF; 15,0 MB), Teil 2 (PDF; 18,1 MB) Organizing Committee of the Games of the XIX Olympiad Mexico 1968: The Official Report of the Organizing Committee of the Games of the XIX Olympiad Mexico 1968, Volume 2: The Organization. Mexiko-Stadt 1968. Teil 1 (PDF; 16,4 MB), Teil 2 (PDF; 18,8 MB) Organizing Committee of the Games of the XIX Olympiad Mexico 1968: The Official Report of the Organizing Committee of the Games of the XIX Olympiad Mexico 1968, Volume 3: The Games. Mexiko-Stadt 1968. Teil 1 (PDF; 25,6 MB), Teil 2 (PDF; 11,5 MB) Kevin B. Wamsley, Kevin Young: Global Olympics – Historical and Sociological Studies of the Modern Games. Elsevier, Amsterdam/London 2005, ISBN 978-0-7623-1181-1. Eric Zolov: Showcasing the 'Land of Tomorrow: Mexico and the 1968 Olympics. In: The Americas, Vol. 61, No. 2 (Oktober 2004), S. 159–188. Weblinks Offizieller Report der Olympischen Spiele 1968 (englisch) auf library.la84.org (PDF), abgerufen am 1. November 2017 Seite des IOC zu den Sommerspielen 1968, abgerufen am 27. Juli 2021 Die Olympischen Spiele 1968 auf sports-reference.com (englisch), abgerufen am 1. November 2017 Einzelnachweise 1968 Multisportveranstaltung 1968 Sportveranstaltung in Mexiko-Stadt Sommerspiele 1968
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https://de.wikipedia.org/wiki/Goldmulle
Goldmulle
Die Goldmulle (Chrysochloridae) sind eine im südlichen und teilweise im mittleren Afrika lebende Familie der Säugetiere. Die Tiere ähneln in ihrem Körperbau den Maulwürfen und führen auch eine ähnliche unterirdische Lebensweise, sind mit diesen jedoch nicht näher verwandt. Der Körper zeigt spezielle Anpassungen an eine grabende Lebensweise. Er ist spindel- bis rautenförmig gestaltet, äußerlich sichtbare Ohren und ein Schwanz fehlen, die Augen liegen unter dem Fell verborgen. Vor allem die Vordergliedmaßen sind besonders gut zum Graben geeignet. Sie haben einen kurzen und kräftigen Bau, an den Händen sind große Grabklauen ausgebildet. Der Unterarm verfügt über einen dritten Knochen, die Anzahl der Finger- und Handwurzelknochen ist durch charakteristische Verwachsungen reduziert. Ein kennzeichnendes Merkmal der Goldmulle stellt auch das seidige Fell dar, das teilweise bei bestimmtem Lichteinfall metallisch glänzt. Goldmulle bewohnen offene bis wüstenartige Regionen und geschlossene Wälder, sie sind sowohl in Tief- als auch in Hochländern anzutreffen. Aufgrund ihrer grabenden Lebensweise stellen sie Habitatspezialisten dar, die teilweise nur eng begrenzte, an zumeist lockeren Untergrund gebundene Lebensräume besiedeln. Über die Lebensweise der Tiere liegen nur in wenigen Fällen genauere Informationen vor. Sie sind nachtaktiv und einzelgängerisch. Die Nahrung der Goldmulle besteht hauptsächlich aus Wirbellosen wie Regenwürmern und Insekten. Stark vergrößerte Gehörknöchelchen befähigen sie, die Beutetiere anhand der von diesen erzeugten Vibrationen aufzuspüren. Auffallend ist die labile Körpertemperatur, die sich der Umgebung anpasst und daher eine energiesparende Funktion hat. Die Fortpflanzung ist bisher wenig untersucht, pro Wurf kommen ein bis drei Jungtiere zur Welt, die als Nesthocker im unterirdischen Bau verbleiben. Die Individualentwicklung läuft vermutlich sehr langsam ab. Die Stammesgeschichte der Familie ist nur spärlich belegt. Sie reicht aber bis in das Mittlere Eozän vor etwa 47 Millionen Jahren zurück. Fossilfunde umfassen mit Ausnahmen nur einzelne Schädel- und Gebissreste. Goldmulle sind bereits seit dem 18. Jahrhundert bekannt, sie wurden aber anfangs mit den Maulwürfen gleichgesetzt. Erst in der Wende zum 19. Jahrhundert erfolgte eine Abtrennung von der Gruppe, wobei die Benennung der Familie in das Jahr 1825 datiert. Aufgrund ähnlicher Lebensweise und vergleichbarer Körpermerkmale galten die Goldmulle bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als Mitglied der Ordnung der Insektenfresser (Lipotyphla). Jüngere molekulargenetische Untersuchungen stellen sie zusammen mit den Tenreks in eine gänzlich eigene Säugetiergruppe, die Tenrekartigen (Afrosoricida) innerhalb der Afrotheria. Gegenwärtig umfasst die Familie zehn Gattungen mit 21 Arten, von denen mehr als zwei Drittel in unterschiedlichen Maßen in ihrem Bestand gefährdet sind. Beschreibung Habitus Die Goldmulle sind relativ kleine Vertreter der Säugetiere. Zu den kleinsten Formen gehört der Wüstengoldmull (Eremitalpa granti) mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 7,6 bis 8,5 cm, der Riesengoldmull (Chrysospalax trevelyani) wird dagegen 20,8 bis 23,5 cm lang. Das Körpergewicht schwankt dementsprechend zwischen 15 und 40 g beziehungsweise zwischen 410 und 500 g. Die meisten Vertreter besitzen aber Gesamtlängen von 9 bis 14 cm und ein Gewicht von 20 bis 100 g. Die einzelnen Arten weisen starke Ähnlichkeiten im Körperbau auf, unterscheiden sich aber zum Teil erheblich in Bezug auf ihre Fellfärbung, die trotz des Familiennamens der Goldmulle nicht nur goldgelb gefärbt erscheint, sondern auch zwischen schwarzen, grauen oder bräunlichen Farbtönen variiert. Der Körperbau der Goldmulle ist an eine grabende, unterirdische Lebensweise angepasst. Äußerlich ähnelt er etwa dem der Maulwürfe, mit denen die Goldmulle aber nicht näher verwandt sind. Der kompakte Rumpf zeigt einen spindelförmigen bis rautenförmigen Bau, ein Schwanz ist äußerlich nicht sichtbar. Die Nase bedeckt ein derbes, lederartiges Polster, das unterstützend beim Graben eingesetzt wird. Die Nasenlöcher liegen in einer Hautfalte an der Unterseite der Nasenspitze. Wie viele andere grabend lebende Säugetiere haben die Goldmulle keine äußeren Ohrmuscheln, auch sind die Augen von Fell bedeckt. Häufig treten im Gesicht und vor allem im Bereich der Augen akzentuierende helle Farbflecken auf. Die Gliedmaßen sind kurz und kräftig und liegen eher unterhalb des Rumpfes, im Gegensatz zu den Maulwürfen, bei denen sie eher seitlich angebracht sind. Die Vordergliedmaßen weisen vier Zehen auf – der äußere fünfte Strahl ist reduziert – und sind zu Grabwerkzeugen umgebildet. Die Kralle am Mittelfinger (Strahl III) ist stark vergrößert und kann länger als der Unterarm sein. Am ersten und zweiten Finger (Strahl I und II) tragen die Goldmulle jeweils eine kürzere, spitze Kralle, deren Länge aber je nach Art unterschiedlich ausfällt. Lediglich der Wüstengoldmull besitzt auch einen kleinen, krallenartigen Nagel am markant verkürzten vierten Finger (Strahl IV). Die Hinterbeine enden in fünf Zehen, die mit kleinen scharfen Krallen ausgestattet sind. Die einzelnen Zehen werden durch kleine Membranen miteinander verbunden, die Fußsohle ist unbehaart. Weibliche Tiere besitzen zwei Paar Zitzen. Schädel- und Gebissmerkmale Der Kopf ist kegel- bis tropfenförmig gestaltet, die größte Breite befindet sich im Bereich des Hirnschädels. Das Rostrum ist meist verlängert. Das Verhältnis der größten Breite des Schädels zur größten Länge variiert von Art zu Art. Bei langen und schmalen Schädeln erreicht die größte Schädelbreite nur 60 % der größten Schädellänge, bei kurzen und breiten Schädeln liegt der entsprechende Wert bei bis zu 96 %. Zu den besonders schmalschädeligen Formen gehören die Kupfergoldmulle (Amblysomus), Arends’ Goldmull (Carpitalpa), die Riesengoldmulle (Chrysospalax) oder die Vertreter der Gattungen Neamblysomus und Chlorotalpa. Zu den breitschädeligen zählen dagegen die Kapgoldmulle (Chrysochloris), der Wüstengoldmull oder die Angehörigen der Gattung Cryptochloris. Auch das Rostrum ist dementsprechend unterschiedlich kräftig gestaltet und kann schmal (mit einer Gaumenbreite von circa 28 % der größten Schädellänge) oder breit (mit einem entsprechenden Wert von bis zu 35 %) sein. Auffälligerweise fehlen bei den Goldmullen Einschnürungen im Bereich der Augen. Die Jochbögen sind vollständig geschlossen, das Jochbein ist allerdings zurückgebildet und der Bogen besteht aus einem Knochenfortsatz des Oberkiefers, der mit dem Schläfenbein artikuliert. Als Besonderheit findet sich bei den Goldmullen eine Gelenkverbindung zwischen dem Unterkiefer und dem Zungenbein. Die Gelenkverbindung besteht zwischen dem Winkelfortsatz des Unterkiefers und dem Stylohyale, welches zur Aufhängevorrichtung des Zungenbeins gehört. Eine ähnliche Gelenkung ist von anderen Höheren Säugetieren nicht bekannt. Sie unterstützt eventuell die Zunge beim Zerkauen der Nahrung. Eine weitere Auffälligkeit findet sich im Bereich des Mittelohres. Bei einigen Arten sind die Gehörknöchelchen stark vergrößert. Dies betrifft vor allem den Hammer (Malleus), dessen Kopf kugelartig aufgebläht oder keulenartig verlängert sein kann. Die Vergrößerungen sind teilweise enorm: beim Wüstengoldmull (Körpergewicht rund 40 g) kann der Malleus ein Gewicht von 70 mg erreichen, beim Riesengoldmull (Körpergewicht rund 500 g) bis zu 185 mg (im Vergleich: beim Menschen mit einem durchschnittlichen Körpergewicht von 70 kg wiegt der Malleus 28 mg). In einigen Fällen geht die Vergrößerung des Hammers mit einer Zunahme der Knochendichte einher, die beim Wüstengoldmull einen Wert von 2,44 g/cm³ erreicht. Dies stellt einen der höchsten Werte bei terrestrisch lebenden Säugetieren dar und wird nur von einigen Walen und Seekühen übertroffen. Zur Aufnahme des aufgeblähten Hammerkopfes ist an der Oberseite der Paukenhöhle eine weitere Nebenhöhle ausgebildet, die sich bei einigen Arten äußerlich sichtbar als Knochenblase über der Schläfengrube hinter der Orbita aufwölbt. Die knöcherne Blase wird aufgrund ihrer Lage am Schläfenbein als temporal bulla (etwa „Schläfenblase“) bezeichnet. Darüber hinaus weist die Hörschnecke einen komplexen Bau auf und besitzt wenigstens vier Windungen mit insgesamt kombiniert 1200° Drehwinkel, was mehr ist als bei zahlreichen anderen, unterirdisch lebenden Säugetieren. Die besonderen Ausprägungen sowohl der Gehörknöchelchen als auch der Hörschnecke stehen in Verbindung mit der auditiven Wahrnehmung der Goldmulle. Die Goldmulle können stark niederfrequente Töne von weniger als einigen hundert Hertz wahrnehmen, ebenso vermögen sie seismische Schwingungen und Vibrationen zu empfangen, etwa von den Bewegungen von Beutetieren. Die Übertragung erfolgt mittels Knochenleitung, die durch die stark asymmetrische Form des Malleus aufgrund des vergrößerten Kopfes und einer damit einhergehenden Verschiebung des Schwerpunktes ausgelöst wird. Die Befähigung ist bei Tieren mit vergrößertem Hammer besser ausgeprägt als bei solchen mit normal gebautem. Die Goldmulle haben ein leicht reduziertes Gebiss mit 36 bis 40 Zähnen. Das vordere Gebiss ist vollständig, lediglich im hinteren sind einzelne Backenzähne zurückgebildet. Die Zahnformel lautet demzufolge: . Der vorderste Schneidezahn in der oberen Gebissreihe und der zweite Schneidezahn im Unterkiefer sind vergrößert, die übrigen Schneidezähne haben eine eckzahnähnliche und kleine Gestalt. Der vordere Prämolar kann variabel geformt sein – so kommen sectoriale (mit scharfen Schneidkanten), bicuspide oder tricuspide (mit zwei oder drei Höckerchen) Typen vor. Die Molaren selbst haben auffallend hohe (hypsodonte) Kronen und ein tricuspides Kauflächenmuster. Die drei Haupthöcker stellen der Paraconus, der Metaconus und der Protoconus dar (bezogen auf die Oberkieferzähne). Der Protoconus ist häufig, aber nicht bei allen Arten, in seiner Größe stark reduziert, der Metaconus und der Paraconus stehen eng beieinander – letzterer bildet den Haupthöcker der Mahlzähne. Zusätzlich verläuft eine V-förmige Scherleiste (Ectoloph) über die Zahnfläche, deren Spitze der Paraconus darstellt. Aufgrund der gesamten Konfiguration kann die Zahnstruktur als typisch zalambdodont angesehen werden. An den Unterkiefermolaren ist bei einigen Arten ein Talonid ausgebildet, ein tiefliegender Vorsprung der Kaufläche, in welchen der Protoconus der oberen Backenzähne bei Gebissschluss greift. Sofern der hinterste Molar auftritt, ist dieser überwiegend sehr klein und besitzt entweder die Form der anderen Mahlzähne oder ähnelt einem Stift. Das Merkmal kann aber stark durch die Abkauung der Zähne überprägt sein. Skelettmerkmale Die Wirbelsäule setzt sich aus 7 Hals-, 16 Brust-, 3 Lenden-, 5 Kreuzbein- und 9 Schwanzwirbeln zusammen. Die Halswirbelsäule verläuft nach unten gebogen. Die Dornfortsätze der ersten zwölf Brustwirbel stehen senkrecht, die der hinteren Brust- und der Lendenwirbel zeigen nach hinten. Von den sechzehn Rippenpaaren sind acht freistehend. Die vorderen, mit dem Brustbein verbundenen und dieses selbst sind nach innen gerichtet, wodurch Raum für die komplexe Vorderbeinmuskulatur entsteht. Vor allem der vordere Bewegungsapparat zeigt besondere Anpassungen an die grabende Lebensweise. Der gesamte Schultergürtel ist vorverlagert, so dass sich die Schultern etwa auf der Höhe des hinteren Kopfabschnittes befinden. Der so nach vorn verschobene Körperschwerpunkt erlaubt es den Tieren, eine kraftvolle Vorwärtsbewegung beim Graben auszuführen. Schulterblatt und Brustbein sind markant verlängert; ersteres verläuft etwa parallel zur Wirbelsäule und ist zudem außerordentlich schmal. Die stark vergrößerte Schultergräte dient als Ansatzstelle der massigen Schultermuskulatur. Ein Schlüsselbein ist vorhanden, ihm fehlt aber die typische geschwungene Form. Durch die vorgelagerte Position am Körper nimmt es einige Energie beim Graben auf. Der Oberarmknochen fällt durch seine kurze kompakte Form und den gedrehten Schaft auf. Diesem entlang verläuft eine massive deltopectorale Leiste, an der Teile der Arm- und Schultermuskulatur ansetzen. Das Ellenbogengelenk ist stark asymmetrisch geformt; hier sticht der seitlich stark ausladende innere (mediale) Knochenvorsprung des Humerus (Epicondylus medialis) hervor. Dadurch kann die Breite des unteren Gelenkendes des Oberarmknochens 65 % und mehr der gesamten Knochenlänge betragen. Der Grad der Ausbildung des Epicondylus medialis hängt mit der Intensität der Grabungsaktivität der einzelnen Arten zusammen. Ebenso ist das Olecranon, der obere Gelenkfortsatz der Elle, stark ausgezogen und auffallend geschwungen. Es macht etwa 35 % der gesamten Knochenlänge aus. An beiden Gelenkfortsätzen setzt die Armstreckermuskulatur des Unterarmes an, beide Knochenvorsprünge verhindern aber auch zu starke seitliche Bewegungen des Arms. Hervorzuheben ist die Bildung eines stabförmigen Knochens, der gewissermaßen einen dritten Unterarmknochen darstellt. Er entstand wohl aus der Verknöcherung einer Sehne eines Unterarmmuskels, möglicherweise des Musculus flexor digitorum profundus, welcher die Mittelfinger bewegt. Aus diesem Grund wird er häufig als „Flexor“-Knochen bezeichnet. Der „Flexor“-Knochen liegt unterhalb der Elle und besitzt etwa die Größe der Speiche. Die Anzahl der Handwurzelknochen und der Fingerglieder ist reduziert. Die Handwurzelknochen zeichnen sich durch eine abgeflachte Form aus, was die Rotationsfähigkeit der Hand einschränkt. Von den vier Strahlen der Hand bestehen der erste, zweite und vierte aus je einem Mittelhandknochen und zwei Phalangen, wobei die jeweils vordere Phalanx ein Resultat der Verwachsung des ersten und zweiten Fingerglieds ist. Der hypertrophierte dritte Strahl stellt eine Fusion aus dem Mittelhandknochen und den ersten beiden Fingergliedern dar und wird daher auch teilweise „Triplex“-Knochen genannt. Eine weitere charakteristische Bildung liegt am zweiten Fingerstrahl vor. Hier ist der entsprechende Mittelhandknochen mit dem Großen Vieleckbein und dem Kleinen Vieleckbein zum sogenannten Trapezium-trapezoid-metacarpal-II-Komplex (auch „ttm“- beziehungsweise „Totem“-Knochen genannt) verwachsen. Die einzelnen Knochenverwachsungen bilden sich im Verlauf der Embryonalentwicklung heraus. Das jeweils letzte Fingerglied ist vergrößert und am Ende gespalten, was das Bestehen der Kralle anzeigt. Eine Ausnahme bildet der erste Finger (Daumen), dessen letztes Glied nicht eingekerbt ist. Gegenüber den vorderen Gliedmaßen finden sich nur wenige charakteristische Merkmale an den hinteren. Schien- und Wadenbein sind oben und im unteren Drittel miteinander verwachsen. Dazwischen befindet sich durch die deutlichen Schaftkrümmungen beider Knochen ein weiter Zwischenraum. Ebenso sind die ersten beiden Phalangen der Strahlen II bis IV miteinander verwachsen, so dass alle fünf Fußstrahlen jeweils nur zwei Zehenglieder aufweisen. Fell Das Fell besteht aus dem Deckhaar und einer dichten Unterwolle. Es ist zumeist seidig und weich. Die Leithaare sind nach hinten gerichtet und wasserabweisend. Die Einzelhaare des Deckfells werden zwischen 7 und 21 mm lang, der Durchmesser liegt bei 78 bis 190 μm. An der Basis sind sie schmaler als im oberen Drittel. Im Querschnitt weisen sie häufig im oberen Drittel eine flache bis gepresste, an der Basis eine rundliche Form auf, die Haarschuppen zeigen eine wellige Anordnung, die Medulla ist gitterartig strukturiert. Bei einigen Arten tritt ein metallischer Glanz auf, der von rötlich über gelblich, grünlich, bräunlich bis hin zu silbern reicht. Der Glanz entsteht in dem abgeplatteten, oberen Drittel der Haare, wo sehr flache Schuppen in mehreren Schichten ausgebildet sind. Das Licht trifft somit auf eine große ebene Fläche zur Reflexion und wird aufgrund der übereinander angeordneten Schuppenschichten mehrfach gebrochen. Irisierende Farben bei Lebewesen bieten häufig einen Vorteil bei der Partnerwerbung während der Fortpflanzung; dies kann aber bei den Goldmullen aufgrund ihrer blinden Natur ausgeschlossen werden. Möglicherweise ist der Farbschimmer ein Nebeneffekt, der durch die Abflachung und stärkere Schichtung der Haaroberflächen entstand. Was diese Haarveränderungen verursachte ist unbekannt, sie stehen aber eventuell im Zusammenhang mit der Fortbewegung im Untergrund. Weichteilanatomie Der Verdauungstrakt ist einfach und schlauchförmig gebaut. Er besitzt bei mittelgroßen Arten wie dem Hottentotten-Goldmull (Amblysomus hottentotus) ein Gewicht von 4,9 g und eine Länge von 43,9 cm. Beim Riesengoldmull wiegt er 24,5 g. Der Magen nimmt insgesamt 11 bis 20 % der Länge des Verdauungstraktes ein, letzterer selbst macht zwischen 9 und 12 % der Gesamtkörpermasse aus. Wie bei vielen anderen insektenfressenden Säugetieren fehlt ein Blinddarm, wodurch eine Trennung zwischen Dickdarm und Dünndarm kaum möglich ist. Der Bereich des Magenpförtners (Pylorus) dehnt sich sehr weit aus. Der gesamte Darmabschnitt ist mit fadenförmigen Fortsätzen (Mikrovilli) bedeckt. Das Urogenitalsystem endet wie bei den Kloakentieren in einer einzigen Körperöffnung, der Kloake. Bei den Männchen liegen die Hoden in der Bauchhöhle, ihr Gewicht beträgt zusammen etwa 23 mg. Der Penis ist relativ kurz und misst nur 3 bis 4 mm, Penisstacheln fehlen. Das Acrosom der Spermien ist zurückgebildet, dafür sind am Kopf kleine Widerhaken ausgebildet. Die Weibchen haben eine zweihörnige Gebärmutter (Uterus bicornis). Die Kloake und die im Körperinneren liegenden Hoden stellen Gemeinsamkeiten mit den Tenreks dar und können als Anzeichen für die Verwandtschaft beider Taxa gewertet werden. Die Nieren sind einfach gebaut und besitzen eine relativ große Medulla und große Markkegel, die bis in den Harnleiter hineinreichen. Beides spricht dafür, dass die Niere Urin hoch konzentrieren kann. Das Gehirn erreicht bei mittelgroßen Arten ein Volumen von 700 bis 736 mg und ist damit nur etwa halb so groß wie bei vergleichbar großen Rüsselspringern. Die Augen sind bei den Goldmullen zurückgebildet und unter der Haut verborgen. Bei erwachsenen Tieren ist allerdings noch ein Augapfel vorhanden, der rund 0,5 mm lang und 0,4 mm tief wird. Ebenso sind der Bindehautsack und die Tränendrüsen sowie die Tränenwege entwickelt, jedoch fehlen die Linse, die Iris und die gesamte Augenmuskulatur. Möglicherweise hat der Tränenapparat bei den Goldmullen die gleiche Funktion wie bei anderen Säugetieren und hält das Bindehautgewebe frei von Fremdkörpern. Insgesamt ist das Auge weiter zurückentwickelt als vergleichbar bei den Maulwürfen, aber nicht ganz so stark wie bei den Beutelmullen. Die Anlage des Auges beginnt bei den Goldmullen analog zu den übrigen Säugetieren im Embryonalstadium, eine Weiterentwicklung und ein Wachstum finden aber kaum statt. Am Aufbau der Nase sind wenigstens fünf Muskeln beteiligt, die teils am Jochbogen ansetzen und bis zur Nasenspitze reichen. Trotz der kurzen und breiten Form der Nase bei den Goldmullen ist diese somit sehr beweglich und kann als taktiles Organ fungieren, mit dem die Tiere nach Nahrung suchen und graben. Verbreitung und Lebensraum Die Goldmulle sind ausschließlich in Afrika südlich der Sahara beheimatet, wobei der Schwerpunkt ihres Verbreitungsgebietes im südlichen Afrika liegt. Mehr als die Hälfte der Arten kommt dabei endemisch in der Republik Südafrika vor; einzelne Vertreter bewohnen auch Gebiete in Namibia, in Lesotho und in Mosambik. Außerhalb des südlichen Afrika sind bislang nur drei Arten belegt: der Kongo-Goldmull (Huetia leucorhina) im zentralen, Stuhlmanns Goldmull (Chrysochloris stuhlmanni) im zentralen und östlichen und der Somalia-Goldmull (Huetia tytonis) im nordöstlichen Afrika. Aufgrund ihrer unterirdischen Lebensweise stellen die Goldmulle Habitatspezialisten dar. Ihre Lebensräume sind dadurch stark zersplittert oder eng begrenzt. Häufig lassen sich die einzelnen Arten nur an wenigen, lokal eng begrenzten Fundpunkten feststellen – die wenigsten Vertreter sind aus einem größeren Verbreitungsgebiet bekannt. Andere Goldmulle wie etwa der Somalia-Goldmull, aber auch Visagies Goldmull (Chrysochloris visagiei), De Wintons Goldmull (Cryptochloris wintoni) oder Van Zyls Goldmull (Cryptochloris zyli) wurden bisher nur über einige wenige Exemplare nachgewiesen. Die verschiedenen Arten der Goldmulle lassen sich in zwei unterschiedliche ökologische Gruppen teilen: Bewohner trockener halbwüstenartiger bis teils wüstenartiger Regionen, dazu gehören der Wüstengoldmull (Eremitalpa), die Vertreter der Kapgoldmulle (Chrysochloris) des südlichen Afrikas und die Arten der Gattung Cryptochloris Bewohner von offenen Gras- und Savannenlandschaften sowie von Wäldern, dazu gehören die Kupfergoldmulle (Amblysomus), Arends’ Goldmull (Carpitalpa), die Riesengoldmulle (Chrysospalax) sowie die Vertreter der Gattungen Neamblysomus, Calcochloris und Chlorotalpa. Die Tiere sind dabei sowohl in küstennahen Tiefländern als auch in Hochgebirgen in Höhenlagen bis zu 4000 m verbreitet. Grundvoraussetzungen für die Anwesenheit von Goldmullen stellen neben einem ausreichenden Nahrungsangebot auch lockere, durchdringbare Böden dar. Ausbreitungsgrenzen bilden Felslandschaften und Flüsse. Die Anpassungsfähigkeit an durch Menschen veränderte Landschaften ist bei den einzelnen Arten unterschiedlich ausgeprägt. Kommen einige Formen in einer gemeinsamen Region vor, wie das etwa beim Fynbos-Goldmull (Amblysomus corriae) und bei Duthies Goldmull (Chlorotalpa duthieae) sowie beim Highveld-Goldmull (Amblysomus septentrionalis) und bei Sclaters Goldmull (Chlorotalpa sclateri) der Fall ist, bestehen in der Regel unterschiedliche Biotopansprüche. Lebensweise Über die Lebensweise der Goldmulle ist generell relativ wenig bekannt. Das liegt zum einen an der scheuen und unterirdischen Lebensweise und zum anderen an der Seltenheit vieler Arten. Einzelne Aspekte der Lebensweise sind nur bei wenigen Arten wie dem Wüstengoldmull, dem Hottentotten-Goldmull, dem Riesengoldmull oder Stuhlmanns Goldmull sowie dem Kap-Goldmull genauer erforscht, weitere Informationen gehen häufig auf zufällige Beobachtungen zurück. Aktivitätszeiten, Grabetätigkeit und Sozialverhalten Die Goldmulle leben weitgehend unterirdisch. Da das Graben im Untergrund etwa 26-mal kostenintensiver ist als eine oberirdische Fortbewegung, haben sich bei den Goldmullen einige energiesparende Eigenschaften ausgebildet. Der Großteil der Arten ist nachtaktiv, einige wenige können auch tagsüber gesichtet werden. Die Aktivitätszeit richtet sich dabei häufig nach der Umgebungstemperatur. Ursache dafür ist die geringe Befähigung der Tiere, eine stabile Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. Die durchschnittliche Körpertemperatur liegt bei 29 bis 33 °C und ist damit sehr gering. Da die Goldmulle bei Ruhe nicht thermoreregulieren und die Wärmeleitfähigkeit hoch ist, kann die Körpertemperatur abhängig von der Aktivität stark schwanken. Sie variiert beispielsweise beim Hottentotten-Goldmull von 27 bis 38 °C, beim Kap-Goldmull von 26 bis 36 °C und beim Wüstengoldmull von 18 bis 32 °C. Dabei bestehen optimale Bedingungen für eine stärkere Aktivität bei Außentemperaturen in einem Bereich der mittleren 20-Grad bis mittleren 30-Grad-Marke, was in etwa der thermoneutralen Zone entspricht. Außerhalb von dieser Temperaturspanne schwankt die Körpertemperatur erheblich und liegt dann teilweise nur wenige Grad über der des umgebenden Bodens, beim Wüstengoldmull beträgt diese Differenz nur 0,7 °C. Bei sehr hohen und sehr niedrigen Außentemperaturen fallen einige Arten in einen Torpor (Starrezustand), etwa der Hottentotten-, der Kap- und der Wüstengoldmull. Darüber hinaus kennzeichnet die Goldmulle eine vergleichsweise niedrige Stoffwechselrate, die deutlich niedriger ist als bei vergleichbar großen insektenfressenden Säugetieren. Der Stoffwechsel steigert sich mit fallenden Außen- und Körpertemperatur, fällt beim Eintreten in den Torpor aber wieder rapide ab. Die niedrige Stoffwechselrate in Verbindung mit der Thermolabilität (schwankende Körpertemperatur) führt zu einer adaptiven Hypothermie, womit die Tiere befähigt sind, ihre Körpertemperatur aus Gründen der Energieersparnis der Umgebungstemperatur anzupassen. In diesem Sinne dient daher die häufig nachtaktive Lebensweise der Goldmulle nicht primär der Vermeidung von Begegnungen mit Fressfeinden, sondern stellt zumindest bei den Bewohnern trockener Habitate eine Anpassung an eine energiesparende Lebensweise dar. Im Gegensatz zu den Maulwürfen, die ihre Grabetätigkeit durch eine seitliche Rotation des Oberarmes verrichten, sind Goldmulle Scharrgräber und graben sich mit nach vorn gerichteten Armbewegungen vorwärts. Ein Grabungszyklus besteht aus einer Anpressphase mit dem Kopf und dem gesamten Körper, bei der das Bodensubstrat verdichtet wird. Darauf folgen mehrere schaufelartige Grabbewegungen. Die vergrößerten Klauen fungieren ähnlich wie eine Spitzhacke, das lockere Bodenmaterial wird unter dem Bauch geschoben und dann mit den Hinterbeinen weggescharrt. Dieser Ablauf der Grabetätigkeit wiederholt sich zyklisch, der Hottentotten-Goldmull beispielsweise kann auf diese Weise je nach Beschaffenheit des Untergrundes täglich 4 bis 12 m weit graben. Viele Arten legen Gänge auf zwei Ebenen an: in Tunneln knapp unterhalb der Erdoberfläche suchen die Tiere nach Nahrung, diese bestehen oft nur temporär und sind oberflächlich als schmale Rippeln erkennbar. Tieferreichende Gänge besitzen einzelne Kammern, die oft durch Tunnel verbunden werden und teilweise mit Pflanzenmaterial wie Gräsern nestartig ausgekleidet werden. Sie dienen als Ruheplätze und zur Aufzucht der Jungen. Der Wüstengoldmull, dessen Lebensraum aus Sanddünen besteht, errichtet hingegen – soweit bekannt – keine dauerhaft beständigen Gänge, was dem lockeren Dünensand geschuldet ist. Die instabilen Grabgänge brechen in der Regel hinter den Tieren ein, so dass der Eindruck entsteht, dass sie durch den Sand „schwimmen“. Von einigen Arten ist bekannt, dass sie manchmal die Baue mit Strandgräbern, Graumullen oder Lamellenzahnratten teilen. Dies könnte ein symbiotisches Verhalten sein, da die Goldmulle mit diesen Tieren nicht in Nahrungskonkurrenz stehen und so der Grabaufwand des einzelnen Tieres verringert wird. Die meisten Goldmulle leben einzelgängerisch und sind territorial, jedes Tier unterhält ein eigenes Revier. Begegnungen zwischen zwei Tieren resultieren häufig in heftigen Kämpfen, die durch Ringen mit den kräftigen Vorderpfoten oder mit Bissen ausgetragen werden. Dabei stoßen sie hohe Quietschtöne aus. Der eigene Bau wird vehement gegen Artgenossen des gleichen und teilweise auch des anderen Geschlechts verteidigt, an den Rändern können sich die Reviere allerdings überlappen. Lediglich beim Riesengoldmull wird aufgrund von allerdings unbestätigten Berichten über Beobachtungen von mehreren Tieren, die in einem Bau überwinterten, ein sozialeres Verhalten angenommen. Ernährung Die Nahrung der Goldmulle besteht vorwiegend aus Wirbellosen wie Regenwürmern sowie Insekten und deren Larven. Hinzu kommen Hundert- und Tausendfüßer, Asseln, Weichtiere und Spinnen. Manche Arten nehmen auch kleine Wirbeltiere wie Skinke zu sich. Die Nahrungssuche erfolgt sowohl oberirdisch als auch unterirdisch. Hier spielt wahrscheinlich die Ausprägung des Gehörs und somit des Hammers im Mittelohr eine große Rolle. Arten mit aufgeblähtem Malleus kommen häufiger an die Oberfläche als solche mit normal gebautem. Erstere können verstärkt niederfrequente Töne wahrnehmen und besser Vibrationen orten, was ihnen bei der Nahrungssuche, aber auch bei der Vermeidung von Begegnungen mit Fressfeinden hilft. Viele Arten verlassen aber nach ergiebigen Regenfällen ihre Baue und suchen an der Erdoberfläche nach Fressbarem. Aufgrund der niedrigen Stoffwechselrate und einer effizienten Nierenfunktion, wodurch Urin im Wasser hochkonzentriert angereichert werden kann, brauchen die meisten Arten keine Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Insbesondere bei Arten, die in trockenen Habitaten leben wie dem Wüstengoldmull, ist diese Fähigkeit entwickelt. Weitere Faktoren zur Reduzierung des Wasserverlustes stellen die nächtliche und unterirdische Lebensweise dar. Fortpflanzung Über die Fortpflanzung der Goldmulle ist wenig bekannt. Bei Arten, die in Regionen mit stark jahreszeitlich schwankenden Klimaverhältnissen leben, gibt es eine feste Paarungszeit, bei anderen kann sie das ganze Jahr über erfolgen. Die Weibchen zumindest mancher Arten können mehrere Würfe im Jahr austragen, die meisten Geburten fallen jedoch in die Regenzeit. Während der Balz geben die Männchen des Hottentotten-Goldmull zwitschernde Laute von sich, heben und senken den Kopf und stampfen mit den Füßen auf den Boden. Unter Laborbedingungen konnte beobachtet werden, wie die Männchen die Weibchen verfolgen, um die Paarung zu erzwingen, wobei es auch zu Todesfällen bei den Weibchen kommen kann. Da die Tiere blind sind, erfolgt die Suche nach einem bereitwilligen Paarungspartner wohl über Rufe und Sekretmarkierungen. Das Weibchen wählt seinen Partner möglicherweise über die Länge des Penis aus. Das Fehlen der Penisstacheln beim Männchen bedingt, dass Weibchen spontan ovulieren. Die Dauer der Tragzeit ist unbekannt. In der Regel werden zwischen ein und drei (meist zwei) Jungtiere zur Welt gebracht. Sie verbleiben zunächst in einer Kammer, die mit Gras ausgelegt ist. Die Neugeborenen sind Nesthocker und zunächst unbehaart und haben weiche Krallen. Über die Individualentwicklung liegen kaum Daten vor. Entsprechende Beobachtungen beim Riesengoldmull lassen annehmen, dass diese recht langsam erfolgt. Vom Kap-Goldmull wird angenommen, dass die Jungen zwei bis drei Monate im Bau des Muttertiers verbleiben. Bemerkenswert ist dabei auch der sehr späte Durchbruch der Dauerzähne, was erst kurz vor dem Erreichen des Erwachsenenalters erfolgt. Informationen zur Lebenserwartung freilebender Tiere liegen nicht vor. Natürliche Feinde Zu den bedeutendsten natürlichen Feinden der Goldmulle zählt die Schleiereule, in deren Gewöllen regelmäßig Reste der Tiere gefunden werden. Weitere Predatoren stellen Greif- und Rabenvögel sowie Schlangen dar. Unter den Säugetieren sind das Weißnackenwiesel oder der Schabrackenschakal zu nennen. Häufig erlegen auch Hauskatzen und -hunde einzelne Tiere, teilweise aber ohne diese zu fressen. Vor allem an der Erdoberfläche sind die Tiere stets alarmiert und fliehen bei geringen Bedrohungen in den nächstgelegenen Bau. Angehörige einiger Arten stellen sich tot, wenn sie berührt werden, etwa die des Rauhaar-Goldmulls. Systematik Äußere Systematik Die Goldmulle sind eine Familie innerhalb der Ordnung der Tenrekartigen (Afrosoricida), ihre nächsten Verwandten stellen die Tenreks (Tenrecidae) und Otterspitzmäuse (Potamogalidae) dar. Die Tenrekartigen wiederum bilden einen Teil der Überordnung der Afrotheria, einer der vier Hauptlinien innerhalb der Höheren Säugetiere. Bei den Afrotheria handelt es sich um eine überwiegend aus Afrika stammende oder dort heimische Verwandtschaftsgemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit vor allem auf molekulargenetischen Untersuchungen beruht, weniger auf anatomischen Gemeinsamkeiten. Es können innerhalb der Afrotheria zwei größere Linien unterschieden werden, die Paenungulata und die Afroinsectiphilia. Erstere umfassen die heutigen Elefanten, die Schliefer und die Seekühe, die Gruppe galt schon länger als eine gemeinsame Abstammungseinheit. Zur zweiten Linie werden neben den Tenrekartigen auch die Rüsselspringer und teilweise das Erdferkel gestellt. Einige genetische Untersuchungen unterstützen eine Schwestergruppenbeziehung der Afrosoricida zu den Rüsselspringern, wobei beide dann unter dem Taxon der Afroinsectivora vereint werden. Andere wiederum sehen die Tenrekartigen in einer Schwestergruppenposition zu allen anderen Afrotheria, während die Rüsselspringer eine engere Beziehung zum Erdferkel formen. Den molekulargenetischen Untersuchungen zufolge entstanden die Afrotheria in der Oberkreide vor 90,4 bis 80,9 Millionen Jahren. Die Aufspaltung der beiden Hauptgruppen fand etwa 15 Millionen Jahre später statt. Die Afrosoricida traten dann kurz vor der Kreide-Tertiär-Grenze vor etwa 68 Millionen Jahren auf. Dem gegenüber diversifizierten sich die Goldmulle erst im Verlauf des Oligozäns vor rund 28 Millionen Jahren. Der bisher älteste Fossilnachweis von Goldmullen stammt aber bereits aus dem Eozän und wird auf ein Alter von 48 bis 41 Millionen Jahre geschätzt. Innere Systematik Die innere systematische Gliederung der Goldmulle wurde im Lauf der Jahrzehnte unterschiedlich bewertet, was auf einer abweichenden Wichtung von Merkmalen beruhte. Nachdem bereits im 19. Jahrhundert mehrere Gattungen beschrieben worden waren, führte diese Robert Broom Anfang des 20. Jahrhunderts allesamt innerhalb von Chrysochloris, unterteilte die Gattung aber anhand des Vorkommens oder Fehlens einer äußerlich sichtbaren Knochenblase an der Schläfengrube des Schädels und der Anzahl der Zähne (36 oder 40) in vielfacher Weise. In den 1920er Jahren gliederte Austin Roberts die Goldmulle auf Gattungsebene auf, führte mehrere neue Gattungen ein und etablierte einige vorher beschriebene neu, was sich in der Folgezeit durchsetzte. Allerdings kam es in späteren Jahrzehnten zu einem häufigen Zusammenführen und Auftrennen von einzelnen Gattungen, was wiederum aus der unterschiedlichen Betonung von Einzelmerkmalen resultierte. In den meisten Fällen lagen diesen Gliederungsversuchen keine statistischen Erhebungen zugrunde. Dies änderte sich erst Mitte der 1990er Jahre mit den Untersuchungen von Gary N. Bronner, der intensive morphometrische und zytogenetische Analysen vornahm. Auf Bronner basiert auch weitgehend die heutige systematische Gliederung der Goldmulle auf Art- und Gattungsebene. Die genauen verwandtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen Gattungen der Goldmulle zueinander blieben lange Zeit ungeklärt und wurden nur in Einzelfällen untersucht. Im Jahr 1957 legte dann Alberto M. Simonetta eine Aufteilung der Familie in drei Unterfamilien vor. Als Basis dafür diente ihm die Ausbildung des Hammers am Mittelohr. Zwar hatten schon im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert zahlreiche Wissenschaftler auf die teils auffallend vergrößerten Gehörknöchelchen hingewiesen, doch war es Clive Forster Cooper, der diese 1928 genauer beschrieb, er erkannte ihren möglichen taxonomischen Wert aber zu diesem Zeitpunkt nicht. Simonetta gliedert die Goldmulle folgendermaßen: Amblysominae Simonetta, 1957: mit einem normal gebauten Malleus (Amblysomus, Neamblysomus, Calcochloris, Huetia) Chrysochlorinae Gray, 1825: mit einem stark verlängerten Kopf des Malleus (Carpitalpa, Chlorotalpa, Chrysochloris, Cryptochloris) Eremitalpinae Simonetta, 1957: mit einem kugelig aufgeblähten Kopf des Malleus (Chrysospalax, Eremitalpa) Simonetta nahm dabei eine graduelle Entwicklung des Kopfes des Hammers von einem relativ kleinen bei den Amblysominae hin zu einem relativ großen bei den Eremitalpinae an. Andere Autoren sahen später dagegen den kugelig aufgeblähten oder keulenartig verlängerten Malleus-Kopf nur als Variation eines Merkmals, dass sich auch innerhalb der einzelnen Arten und Gattungen nicht eindeutig abtrennen lässt. Sie fassten daher die Eremitalpinae mit den Chrysochlorinae in eine Unterfamilie, den Chrysochlorinae, zusammen. Die Methode der Molekulargenetik erbrachte zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein von dieser traditionellen Gliederung der Goldmulle etwas abweichendes Bild. Demzufolge lassen sich innerhalb der Familie zwei große Hauptlinien erkennen, die aber nur bedingt mit den Unterfamilien übereinstimmen. Eine Gruppe setzt sich aus den Gattungen Amblysomus und Neamblysomus sowie Carpitalpa zusammen, die ersten beiden verfügen über einen kleinen Hammerkopf, letztere über einen leicht vergrößerten. Sie werden informell als „amblysomine Gruppe“ bezeichnet. Dieser gegenüber steht eine „chrysochlorine Gruppe“ mit Gattungen und Arten mit vergrößertem Kopf des Malleus. Die „chrysochlorine Gruppe“ schließt aber mit Calcochloris und Huetia auch Formen mit normal großem Hammer ein. Eine eher mittlere Stellung zwischen diesen beiden Kladen hält Chlorotalpa, deren Hammerkopf ebenfalls vergrößert ist. Es ist daher anzunehmen, dass die besonderen Ausprägungen im Bereich des Mittelohres nicht auf ein einzelnes Ereignis innerhalb der Stammesgeschichte der Goldmulle zurückgehen, sondern ein stärker homoplastisches Merkmal darstellen, das mehrfach innerhalb der Familie entstand. Im Jahr 2018 wurde ein neuer vorläufiger Gliederungsversuch der Goldmulle vorgestellt. Dieser beinhaltet die drei vorher schon etablierten Unterfamilien. Die Amblysominae würden sich demnach aus den Gattungen Amblysomus, Neamblysomus, Carpitalpa, Chlorotalpa, Chrysospalax und Calcochloris zusammensetzen, die Chrysochlorinae wiederum aus der Gattung Chrysochloris (einschließlich Kilimatalpa und Cryptochloris) und die Eremitalpinae aus der Gattung Eremitalpa. Zusätzlich sieht er mit den Huetinae bestehend aus der Gattung Huetia eine vierte eigenständige Unterfamilie vor. Überblick über die rezenten und fossilen Gattungen der Goldmulle Die Familie der Goldmulle gliedert sich in zehn heute lebende Gattungen, zu denen gegenwärtig insgesamt 21 Arten gehören: Familie: Chrysochloridae Gray, 1825 Amblysomus Pomel, 1848 (Kupfergoldmulle; fünf rezente Arten) Calcochloris Mivart, 1867 (Gelber Goldmull; eine rezente Art) Carpitalpa Lundholm, 1955 (Arends’ Goldmull; eine rezente Art) Chlorotalpa Roberts, 1924 (zwei rezente Arten) Chrysochloris Lacépède, 1799 (Kapgoldmulle; drei rezente Arten) Chrysospalax Gill, 1883 (Riesengoldmulle; zwei rezente Arten) Cryptochloris Shortridge & Carter, 1938 (zwei rezente Arten) Eremitalpa Roberts, 1924 (Wüstengoldmull; eine rezente Art) Huetia Forcart, 1942 (zwei rezente Art) Neamblysomus Roberts, 1924 (zwei rezente Arten) Studien aus dem Jahr 2015 lassen vermuten, dass innerhalb der Goldmulle eine höhere Artenvielfalt zu erwarten ist. Dies resultiert aus der starken Anpassung an bestimmte Habitate mit Herausbildung von Subpopulationen, die teilweise isoliert voneinander bestehen. Bestätigt wird die Ansicht durch weitere genetische Analysen aus dem Jahr 2018. Deren Ergebnisse befürworten die Anerkennung weiterer Arten, die vor allem die Gattungen Eremitalpa und Amblysomus betreffen. Die Gesamtartanzahl der Goldmulle könnte so auf wenigstens rund zwei Dutzend ansteigen. Darüber hinaus sprechen sich die Studien für einen eigenständigen Gattungsstatus für Kilimatalpa aus, welche bisher innerhalb von Chrysochloris geführt wurde, während Cryptochloris wiederum nur als Untergattung von Chrysochloris aufzufassen wäre. Fossil sind folgende Gattungen anerkannt: Diamantochloris Pickford, 2015 Damarachloris Pickford, 2019 Namachloris Pickford, 2015 Prochrysochloris Butler & Hopwood, 1957 Proamblysomus Broom, 1941 Eine weitere Gattung, Eochrysochloris Seiffert, Simons, Ryan, Bown & Attia, 2007, gehört wohl nicht direkt zu den Goldmullen, sondern in ein weiteres Verwandtschaftsfeld, den Chrysochloroidea. Forschungsgeschichte Taxonomie Die erste wissenschaftliche Benennung eines Vertreters der Goldmulle erfolgte durch Linnaeus (1707–1778) in seinem Systema Naturae aus dem Jahr 1758. Er benannte den heutigen Kap-Goldmull als Talpa asiatica, womit er diesen einerseits zu den Eurasischen Maulwürfen stellte, andererseits seine Verbreitung in Asien vermutete. Die Angaben, die Linnaeus über den Kap-Goldmull zur Verfügung standen, entnahm er aus Albert Sebas 1734 erschienenem Werk Thesaurus. Bernard Germain Lacépède (1756–1825) führte im Jahr 1799 den Gattungsnamen Chrysochloris für den Kap-Goldmull ein und benannte somit erstmals einen Gattungsvertreter der Goldmulle. Der Name Chrysochloris ist dem Griechischen entlehnt und besteht aus den Wörtern χρύσεος (chryseos „golden“) und χλωρός (chlōrós „hellgrün“ oder „frisch“). Allerdings bezeichnet Chloris auch die griechische Göttin der Blüte, die in Flora ihr römisches Gegenstück findet. Der Gattungsname ist dabei nicht als Verweis auf die Fellfarbe zu verstehen, die sehr unterschiedlich sein kann, sondern bezieht sich auf den metallischen Glanz des Fells unter bestimmten Lichtverhältnissen. Von Chrysochloris leitet sich auch der Familienname Chrysochloridae ab. Allgemein wird dieser heute John Edward Gray (1800–1875) zugesprochen und auf eine Publikation von ihm aus dem Jahr 1825 verwiesen, in der Gray einen Versuch der Gliederung der Säugetiere in Familien und Triben unternahm. In dieser verwendete Gray allerdings die Bezeichnung Chrysochlorina, mit der er die Goldmulle von den Maulwürfen (Talpina), den Spitzmäusen (Soricina), der Igeln (Erinacina), den Tenreks (Tenrecina) und den Spitzhörnchen (Tupaina) absetzte und alle unter der Familie Talpidae vereinigte. Die heute gültige und richtige Schreibweise Chrysochloridae für die Familie der Goldmulle geht auf St. George Jackson Mivart zurück, der sie im Jahr 1868 erstmals verwendete. Er galt lange Zeit auch als Erstbenenner der Familie. Zur Stellung der Goldmulle innerhalb der Höheren Säugetiere Linnaeus hatte 1758 die Goldmulle mit den eurasischen Maulwürfen in Verbindung gebracht. Er ordnete sie in die Gruppe der „Bestiae“, in der er unter anderem auch die Spitzmäuse und die Igel, aber auch die Gürteltiere, die Opossums und Schweine sah. Auch nachdem Lacépède vierzig Jahre später die Goldmulle durch die Etablierung der Gattung Chrysochloris von den Maulwürfen abgesetzt hatte, blieb die enge Gruppierung zu anderen insektenfressenden Tieren bestehen. So sah Johann Karl Wilhelm Illiger sowohl die Goldmulle als auch die Maulwürfe, Spitzmäuse und Igel sowie die Tenreks gemeinsam in einer von ihm als „Subterranea“ benannten Gruppe, womit er erstmals alle jene Taxa zusammenfasste, die später als „Insektenfresser“ bezeichnet werden sollten. Informell benutzte bereits Georges Cuvier im Jahr 1817 den Begriff Les insectivores mit einer ähnlichen Zusammensetzung wie Illiger, die offizielle Bezeichnung Insectivora stammt von Thomas Edward Bowdich aus dem Jahr 1821. Bowdich unterschied innerhalb der Insectivora zwei Gruppen, eine mit langen inneren Schneidezähnen wie bei den Goldmullen und Igeln und eine zweite mit großen Eckzähnen, etwa bei den Maulwürfen und den Tenreks. Die Zugehörigkeit der Goldmulle zu den Insektenfressern wurde in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten nur selten in Frage gestellt, zur Debatte standen weitgehend nur die genaueren verwandtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Ordnungseinheit. Wilhelm Peters arbeitete im Jahr 1863 zwei namenlose Gruppen heraus, eine mit Blinddarm, zu denen er die Rüsselspringer und Spitzhörnchen verwies, und eine ohne, welche alle anderen Insectivora inklusive der Goldmulle einschloss. Diesen beiden Gruppen gab Ernst Haeckel drei Jahre später im zweiten Band seines Werkes Generelle Morphologie der Organismen die formellen Namen Menotyphla (mit Blinddarm) und Lipotyphla (ohne Blinddarm). Einen anderen Ansatz verfolgte Theodore Gill Mitte der 1880er Jahre, indem er innerhalb der Insectivora zwischen den Zalambdodonta und den Dilambdodonta unterschied. Die Aufteilung erfolgte anhand der Zahngestaltung, wobei die Zalambdodonta eine V-förmige Zahnschmelzleiste auf den Backenzähnen besitzen (von griechisch ζα (za-) für eine Übersteigerung und dem griechischen Buchstaben Λ (Lambda)), die Dilambdodonta eine W-förmige (von griechisch δι (di „zwei“) und dem griechischen Buchstaben Λ (Lambda)). Die Goldmulle bildeten dabei zusammen mit den Tenreks und den Schlitzrüsslern die zalambdodonten Insektenfresser, während die Igel, Maulwürfe und Spitzmäuse (und zudem die Rüsselspringer und Spitzhörnchen) zu den dilambdodonten gehörten. Gill erkannte damit eine nähere Verwandtschaft der Goldmulle mit den Tenreks. Die Ansichten von Haeckel und Gill wurden 1910 teilweise von William K. Gregory in seinem Werk The orders of Mammals übernommen. Er führte die eigentlichen Insectivora unter dem Begriff Lipotyphla, die Menotyphla positionierte er dagegen außerhalb der Insektenfresser. Dabei behielt er die Goldmulle, Tenreks sowie die Schlitzrüssler in den Zalambdodonta, teilte die verbliebenen Dilambdodonta aber in die beiden Großgruppen Erinaceomorpha (Igel) und Soricomorpha (Spitzmäuse und Maulwürfe) auf. Abweichend von anderen Autoren schloss Robert Broom die Goldmulle aufgrund der Schädelgestaltung in den Jahren 1915 und 1916 komplett aus den Insektenfressern aus und verneinte auch eine nahe Verwandtschaft dieser zu den Tenreks, er schuf für die Goldmulle eine Ordnungsgruppe unter der Bezeichnung Chrysochloridea. Dem widersprach aber George Gaylord Simpson in seiner 1945 veröffentlichten generellen Taxonomie der Säugetiere und sah diesen Schritt als zu radikal an. Er untergliederte die damaligen Insectivora in fünf rezente Überfamilien, von denen eine die Goldmulle unter der Bezeichnung Chrysochloroidea repräsentierten, während er die Tenreks als weitere Überfamilie (Tenrecoidea) sah und diese in relative Nähe zu den Goldmullen stellte. Eine engere Beziehung der beiden Gruppen innerhalb der Insektenfresser wurde später immer wieder thematisiert, etwa von Percy M. Butler 1956, der die Gliederung von Gregory in die beiden Großgruppen der Erinaceomorpha und der Soricomorpha übernahm und die Goldmulle und Tenreks in die Soricomorpha verwies. Für ihn stellten die Goldmulle aufgrund des stark überprägten Schädels infolge der unterirdischen Lebensweise abgeleitete Formen innerhalb der Soricomorpha dar. Zu einem ähnlichen Ergebnis, aber unter anderer Schlussfolgerung, kam Malcolm C. McKenna im Jahr 1975. Er ordnete die Goldmulle ebenfalls den Soricomorpha zu, die sich von diesen aber durch einen vollständigen Jochbogen unterschieden. Da aber das Jochbein fehlt, sah McKenna den geschlossenen Bogen bei den Goldmullen als erneute, sekundäre Bildung an. In seiner Klassifikation der Säugetiere, 1997 zusammen mit Susan K. Bell erschienen, schloss McKenna die Goldmulle allerdings aus den Soricomorpha aus und etablierte sie in einer eignen Ordnungsgruppe innerhalb der Insektenfresser. Erst Ende der 1990er Jahre ordneten molekulargenetische Untersuchungen die Verwandtschaftsverhältnisse der ursprünglichen Insektenfresser (Insectivora, später Lipotyphla) neu. Demnach bilden die Goldmulle keine monophyletische Einheit mit den Maulwürfen oder den Spitzmäusen, sondern formen zusammen mit den Tenreks eine in Afrika endemisch auftretende Gruppe insektenfressender Tiere, die daraufhin in die eigenständige Ordnung der Tenrekartigen (Afrosoricida; eigentlich übersetzt „afrikanische Spitzmausartige“) verwiesen wurde. Zudem ließ sich eine nähere Verwandtschaft der Tenrekartigen mit den Rüsselspringern, dem Erdferkel, den Elefanten, den Schliefern und den Seekühen und somit zu zumeist afrikanisch beheimateten Tieren erkennen, insgesamt eine äußerlich stark heterogene Gruppe, die die Bezeichnung Afrotheria erhielt. Nachfolgende Analysen untermauerten dieses Ergebnis, unter anderem durch die Isolierung eines spezifischen Retroposons, des sogenannten AfroSINEs, das alle Vertreter der Afrotheria gemein haben. Aus diesem Grund beruhen die Ähnlichkeiten der Goldmulle mit Maulwürfen und anderen Insektenfressern lediglich auf Konvergenz. Stammesgeschichte Die fossile Überlieferungsgeschichte der Goldmulle ist spärlich. Alle ausgestorbenen Vertreter ähneln in ihrem Körperbau schon weitgehend den heutigen Arten. Sie besitzen einen tropfenförmigen Schädel mit zehn Zähnen je Kieferhälfte und zeigen, soweit das Körperskelett überliefert ist, Anpassungen an eine grabende Lebensweise. Unterschiede lassen sich häufig nur in verschiedenen Zahnmerkmalen und in der zunehmenden Reduktion des letzten Molaren erkennen. Eozän Die bisher frühesten bekannten Funde reichen bis in das Eozän zurück und konnten im südlichen Afrika entdeckt werden. Einige isolierte Molaren, ein Unterkiefer und möglicherweise auch einzelne Oberkieferfragmente stammen aus der Fundlokalität Black Crow im Diamantensperrgebiet von Namibia und werden der Gattung Diamantochloris zugewiesen. Mit einem Alter von etwa 48 bis 41 Millionen Jahren gehören die Funde dem Mittleren Eozän an. Die unteren Zähne zeigen bereits die für Goldmulle typische Verschmelzung von zwei der drei Haupthöcker auf der Kauoberfläche (Paraconid und Metaconid). Da zusätzlich noch ein besonders großes Talonid ausgebildet ist, sehen andere Autoren Diamantochloris nicht in der unmittelbaren Vorgängerlinie der heutigen Goldmulle. Die gleiche Fundstelle barg auch einen Oberkieferrest und einzelne isolierte Unterkieferzähne. Sie gehören zu einem Tier mit vergleichbaren Zahnmerkmalen, das jedoch deutlich kleiner als Diamantochloris war. Im Jahr 2019 wurden die Funde als zur Gattung Damarachloris gehörig beschrieben. Etwas jünger ist Namachloris, dessen Nachweis auf mehr als 100 Funden beruht. Entdeckt wurde die Gattung am Eocliff, ebenfalls im Sperrgebiet liegend. Die Entstehung der Formation liegt etwa 41 bis 38 Millionen Jahre in der Vergangenheit, was dem Oberen Eozän entspricht. Der aufgefundenen Säugetierfauna zufolge wäre auch ein etwas jüngeres Alter möglich. Das Fossilmaterial setzt sich neben vollständigen Schädeln und Unterkiefern aus nahezu allen Teilen des Körperskelettes zusammen. Erstmals konnte für einen fossilen Goldmull der „Flexor“-Knochen nachgewiesen werden, ebenso sind der „Triplex“- und der „Totem“-Knochen belegt. Die Gliedmaßen zeigen Anpassungen an eine sandgrabende Lebensweise. Das Fundmaterial geht wahrscheinlich auf Beutereste von Greifvögeln oder Eulen zurück, die hier am Ufer eines ehemaligen Sees auf Jagd gingen. Oligozän Aus dem nachfolgenden Oligozän sind Reste von Goldmullen oder deren nächsten Verwandten bisher nur aus der Gebel-Qatrani-Formation des Fayyum-Beckens im nördlichen Ägypten überliefert. Gefunden wurden zwei Unterkieferfragmente, die der Gattung Eochrysochloris angehören. Das geschätzte Alter von 34 bis 30 Millionen Jahren entspricht dem unteren Abschnitt der geologischen Serie. Ein auffälliges Kennzeichen stellen die drei Haupthöcker der Molaren dar, die alle nahezu gleich groß und eigenständig sind. Möglicherweise steht Eochrysochloris dadurch nicht in der direkten Verwandtschaftslinie mit den heutigen Goldmullen, sondern gehört einem Seitenzweig an. Miozän Danach sind Goldmulle erst wieder mit Prochrysochloris im Verlauf des Miozäns fassbar. Das bisher umfangreichste Material kam in westlichen Kenia im Bereich des Victoriasees zu Tage und setzt sich aus nahezu einem halben Dutzend Schädeln und einigen Unterkieferresten zusammen. Bedeutende Lagerstätten stellen hier die Legetet-Formation und die Kapurtay-Agglomerate dar, die beide dem Unteren Miozän angehören und zwischen 20 und 17,5 Millionen Jahre alt sind. Letztere beinhaltet unter anderem die bedeutende Fundstelle von Songhor. Wie auch bei einigen älteren Fossilfunden der Goldmulle war der hinterste Mahlzahn von Prochrysochloris in seiner Größe noch weitgehend unreduziert, eine markante knöcherne Aufwölbung an der Schläfengrube wie bei den Kapgoldmullen bestand nicht. Dieselbe Gattung konnte auch mit einem Unterkieferfragment in Arrisdrift im südlichen Namibia nachgewiesen werden. Der Fund ist etwas jünger als die aus Ostafrika, die fossilführenden Schichten datieren an den Beginn des Mittleren Miozän. Aus der gleichen Region liegen aus den mehr oder weniger gleichalten Fundstellen von Elisabethfeld und Langental weitere Unterkieferfragmente und einzelnen Zähne von Prochrysochloris vor. Pliozän und Pleistozän Im Pliozän treten erstmals Vorläufer der heutigen Arten in Erscheinung. Aus Langebaanweg im südwestlichen Südafrika, das mit einem Alter von 5 Millionen Jahren am Beginn dieser Phase steht, wurden zwei Vertreter von Chrysochloris dokumentiert. Anhand des umfangreichen Fossilmaterials, das aus Schädel- und Unterkieferresten sowie Teilen des Körperskeletts besteht, kann auf sandgrabende Tiere vergleichbar dem Wüstengoldmull geschlossen werden. In den Übergang zum Pleistozän vor etwa 2,5 Millionen Jahren datieren einige wenige Funde von Amblysomus, Neamblysomus, Chlorotalpa und Chrysospalax. Sie wurden in den bedeutenden südafrikanischen Höhlenfundstellen von Makapansgat und Sterkfontein entdeckt. Aus der Nähe von Sterkfontein, von Bolts Farm, stammt ein 29 mm langer und 20 mm breiter Schädel, der aufgrund seines schmalen Baus an den der Kupfergoldmulle erinnert. Abweichend von diesen besitzt er aber eine aufgewölbte, knöcherne Blase an der Schläfengrube, was bei den heutigen Vertretern der Gattung nicht vorkommt. Die Aufwölbung zeigt zudem seitliche Erweiterungen, was wiederum bei keiner anderen Form der Goldmulle mit derartigen Strukturen belegt ist. Der Schädel wurde daher zu Proamblysomus verwiesen. Bedrohung und Schutz Mehrere Arten werden von der IUCN als gefährdet oder bedroht gelistet. Hauptursachen der Bedrohung sind der Verlust des Lebensraumes durch die Ausdehnung der menschlichen Siedlungen allgemein, durch Umwandlung in Felder oder Weidegebiete, durch Bergbau oder durch Infrastrukturmaßnahmen infolge von touristischen Erschließungen bestimmter Regionen. Lokal hat auch die Nachstellung durch Haushunde und Hauskatzen einen Einfluss auf die Populationen. Hinzu kommt, dass viele Arten nur ein kleines Gebiet bewohnen und so besonders anfällig für Störungen sind. Zwölf der 21 Arten sind laut IUCN „vom Aussterben bedroht“ (critically endangered), „stark gefährdet“ (endangered), „gefährdet“ (vulnerable) oder „potentiell gefährdet“ (near threatened), für drei weitere Arten fehlen genaue Daten, diese dürften jedoch auch bedroht sein. Ein größerer Teil der Arten ist in Naturschutzgebieten präsent, in vielen Fällen fehlen aber genauere Informationen zur Biologie der Tiere. Literatur Gary N. Bronner: Family Chrysochloridae Golden-moles. In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume I. Introductory Chapters and Afrotheria. Bloomsbury, London, 2013, S. 223–257 Gary N. Bronner und Nigel C. Bennett: Order Afrosoricida. In: John D. Skinner und Christian T. Chimimba (Hrsg.): The Mammals of the Southern African Subregion. Cambridge University Press, 2005, S. 1–21 Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9 Gerhard Storch: Lipotyphla, Insektenfresser. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin 2004, 712 Seiten, ISBN 3-8274-0307-3 William A. Taylor, Samantha Mynhardt und Sarita Maree: Chrysochloridae (Golden moles). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 8: Insectivores, Sloths and Colugos. Lynx Edicions, Barcelona 2018, S. 180–203 ISBN 978-84-16728-08-4 Don E. Wilson und DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. 3. Ausgabe. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, ISBN 0-8018-8221-4 Einzelnachweise Weblinks Goldmulle bei der Afrotheria Specialist Group Goldmulle bei Animal Diversity Web: Informationen (englisch) und Abbildungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ortler
Ortler
Der Ortler () ist mit einer Höhe von , nach österreichischer Vermessung , die höchste Erhebung der italienischen Provinz Südtirol und der Region Tirol. Der größtenteils aus Hauptdolomit aufgebaute, stark vergletscherte Berg ist der Hauptgipfel der Ortler-Alpen, einer Gebirgsgruppe der Südlichen Ostalpen. Seine Erstbesteigung auf Befehl von Erzherzog Johann von Österreich im Jahre 1804 zählt zu den bedeutendsten alpinistischen Ereignissen jener Zeit. Bis zur Abtrennung Südtirols von Österreich 1919 war der Ortler der höchste Berg Österreich-Ungarns. Während des Ersten Weltkriegs richtete die k.u.k. Armee auf dem Berg die mit mehreren Geschützen ausgestattete höchstgelegene Stellung dieses Krieges ein. Heute gilt der Ortler unter Bergsteigern als eines der bedeutendsten Gipfelziele der Ostalpen. Alle Routen zum Gipfel sind anspruchsvolle Hochtouren, von denen der Normalweg von Norden die am meisten begangene ist. Alpinistisch bedeutend ist auch die Nordwand des Berges, die als größte Eiswand der Ostalpen gilt, in der jedoch immer mehr Fels zutage tritt. Geographie Lage und Umgebung Der Ortler liegt im Westen Südtirols, im oberen Vinschgau, nahe der Grenze zur Provinz Sondrio in der Lombardei und der Staatsgrenze zur Schweiz. Er ist Teil des gewaltigen Gebirgszugs des Ortler-Hauptkamms in den nördlichen Ortler-Alpen, wobei er sich in einem am Zebrù () gegen Norden abzweigenden Seitenkamm erhebt, der das Trafoital mit der Stilfser-Joch-Straße und der Ortschaft Trafoi () im Westen vom Suldental mit dem Ort Sulden () im Osten trennt. Nördlich des Ortlers folgen im Kammverlauf die Tabarettaspitze (), der Bärenkopf () und die Hochleitenspitze (), hinter der das Trafoital beim Weiler Gomagoi () in das Suldental einmündet. Das gesamte Gebiet gehört zur Gemeinde Stilfs und ist Bestandteil des Nationalparks Stilfserjoch. Die Aussicht vom Gipfel umfasst die Ötztaler Alpen, die Silvretta- und Berninagruppe sowie die Adamello-Presanella-Alpen, die Brenta und die Dolomiten. An klaren Tagen reicht sie im Westen bis zum etwa 185 Kilometer entfernten Finsteraarhorn in den Berner Alpen. Auch das ganze Gebiet um den Reschenpass und die Malser Haide ist gut zu sehen. Im Hauptkamm erheben sich nahe neben dem Zebrù weitere Hochgipfel wie die Königspitze () und die Thurwieserspitze (), benachbarte Gebirgszüge sind der Chavalatschkamm mit der Rötlspitze (Piz Cotschen, Punta Rosa, ) westlich des Trafoitals, und die Laaser Berge mit der Vertainspitze () östlich des Suldentals. Alle diese Gebirgskämme werden ebenfalls zu den Ortler-Alpen gezählt. Der Ortler ist der höchste Berg im Umkreis von 49 Kilometern, bis zum Piz Zupò (). Dieser befindet sich in der Berninagruppe mit dem Piz Bernina (). Um dorthin zu gelangen, müsste bis zum hohen Passo di Fraele abgestiegen werden. Die Schartenhöhe des Ortlers beträgt somit 1950 Meter. Diese Schartenhöhe wird in den Alpen nur von 13 weiteren Bergen übertroffen. Topographie Der Ortler weist eine verhältnismäßig starke Gliederung aus zahlreichen Graten, Wänden und Gletschern auf. Der Gipfel selbst ist eine nur etwa 20 Meter hohe Erhebung über dem Ortlerplateau, einer großen, nach Nordwesten in Richtung zur Hohen Eisrinne (auch Trafoier Eisrinne) und zum Trafoital hin leicht abfallenden Hochfläche, die vom Oberen Ortlerferner bedeckt ist. Auf allen Seiten schließen steile Felswände an dieses Gletscherplateau an, insbesondere an seiner östlichen Begrenzung, dem Nordgrat oder Tabarettakamm. Dieser verläuft über die unbedeutende Graterhebung Tschierfeck (auch Tschirfeck, ) zur hohen Tabarettaspitze und bricht in östlicher Richtung, also zum Suldental hin, mit Eisbrüchen zur 1200 Meter hohen vereisten Nordwand und zu dem darunter liegenden Marltferner ab. Dieser wird im Südosten vom nach Nordosten verlaufenden Marltgrat begrenzt, von dem in nordnordöstlicher Richtung ein Seitenast, der Rothböckgrat abzweigt. Die Ostwand des Ortlers wird von einem steilen Couloir, der Schückrinne, durchzogen, die in den darunterliegenden End-der-Welt-Ferner mündet. Im Südosten zieht der teilweise vergletscherte Hintergrat über den Signalkopf (), den Oberen () und Unteren Knott () hinab zum Hintergratkopf (). Die Südostwand wird von der Minnigeroderinne durchzogen, unter der der Suldenferner liegt. In Richtung Süden führt vom Ortler-Vorgipfel (Anticima, ) der Hochjochgrat zum hohen Hochjoch, dem Übergang zum Monte Zebrù. Westlich des Hochjochs liegt der Zebrùferner, der zum bereits zur Lombardei gehörenden Val Zebrù (Zebrùtal) abfließt. Im Norden trennt der hohe Ortlerpass den Zebrùferner vom nordwestlich in Richtung Trafoital fließenden Unteren Ortlerferner. Den nördlichen Abschluss dieses Gletschers bildet der bis zu 1000 Meter hohe Felsaufschwung der Hinteren Wandlen, die den südwestlichen Abbruch des Oberen Ortlerferners bilden. Nach Nordwesten münden die Hinteren Wandlen in den Pleißhorngrat, der das hohe Pleißhorn (Corno di Plaies) trägt. Geologie Der Gipfelaufbau des Ortlers besteht im Wesentlichen aus Hauptdolomit, einem Flachwasser-Sedimentgestein der Obertrias, genauer des Noriums. Er weist die typische waagrechte Bankung auf, wie sie auch in den nahe gelegenen Dolomiten auftritt. Im Unterschied zu den dortigen Gesteinen ist der Ortlerdolomit jedoch schwach metamorph überprägt, das heißt, er wurde in der Oberkreide vor etwa 90 Millionen Jahren unter hohem Druck auf etwa 400 °C erhitzt. Nach der heute vorherrschenden Interpretation des geologischen Aufbaus der Alpen geschah dies bei der nordwärts gerichteten Verschiebung der Nördlichen Kalkalpen über die Ortler-Alpen hinweg. Das Gestein zeichnet sich daher neben seiner dunkleren, grauen Farbe vor allem durch das Fehlen von Fossilien aus, da diese während der Metamorphose zerstört wurden. Darüber hinaus liegt der Dolomit des Ortlers viel höher als in allen anderen Verbreitungsgebieten dieses Gesteins. Nach dem Eiger ist der Ortler der zweithöchste aus Sedimentgestein bestehende Gipfel der Alpen. Der Ortlerdolomit unterliegt daher in weitaus höherem Ausmaß der Frostverwitterung als der Fels der Dolomiten, der von der Verwitterung durch flüssiges Wasser (chemische Verwitterung) geprägt ist, und weist glattere Oberflächen und eine große Brüchigkeit auf, wodurch er sich auch schlechter zum Klettern eignet. Eingelagert in den bankigen Hauptdolomit sind neben einigen mehrere Meter dicken Olisthostromen auch Schichten von „Kalkschiefer“. Insgesamt erreicht der Dolomit des Ortlers eine Mächtigkeit bis zu 1000 Metern, wobei häufig vermutet wird, durch mehrfache Überschiebung habe sich hier eine ursprünglich dünnere Dolomitabfolge zu solcher Dicke aufgestapelt. Diese These gilt jedoch bis heute nicht als vollständig gesichert, da der Ortler immer noch ungenügend geologisch untersucht ist. Geologische Forschungen waren aufgrund der Gletscherbedeckung lange Zeit schwierig. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde durch den Gletscherschwund mehr Gestein freigelegt. Unterlagert wird der Dolomit von schwach metamorphen Konglomeraten, Sandsteinen und Gips aus der Untertrias sowie von Alpinem Verrucano aus dem Perm. Diese Schichten sind aber nur wenige Meter mächtig. Sie ruhen auf einem Fundament aus Veltliner Basiskristallin. Dieses Kristallin hat vor der kreidezeitlichen schon während der Kaledonischen und der Variszischen Orogenese jeweils Metamorphosen erfahren, die überdies intensiver waren. Es handelt sich heute hauptsächlich um Gneis, Glimmerschiefer und Phyllit, die das Bild der Landschaft bis in eine Höhe von etwa prägen. Tektonisch gehört der Ortler zum ostalpinen Deckenstapel. Klima und Vergletscherung Das Gebiet um den Ortler ist von einer hohen Reliefenergie geprägt: Das nur zwölf Kilometer entfernte Prad am Stilfserjoch im Etschtal liegt 3000 Meter unterhalb des Ortlergipfels. Diese außergewöhnlichen Höhenunterschiede führen dazu, dass verschiedene Vegetationsstufen besonders eng nebeneinander zu finden sind. Die in sonnigen tiefen Lagen etwa des nahegelegenen Martelltals vertretene submediterrane Vegetation ist am Ortler selbst zwar nicht zu finden, insgesamt ist das Klima des Gebietes jedoch vom Mittelmeerklima beeinflusst und daher trockener und milder als das in den nahegelegenen Zentralalpen, die die Ortler-Alpen vor den Niederschlägen der Alpennordseite abschirmen. Die Jahresniederschläge übersteigen daher kaum 1000 Millimeter pro Jahr. Die Schneegrenze liegt um einiges höher als in den Zentralalpen. Das hohe Ausmaß an Vereisung am Ortler ist daher nur am höchstgelegenen Gletscher, dem Oberen Ortlerferner, auf die in der Höhe niedrigen Temperaturen zurückzuführen. Am Gipfelplateau wurden schon Temperaturen von etwa −40 °C gemessen. Die Entstehung der tiefer liegenden Gletscher um den Berg, insbesondere des Suldenferners, ist eher eine Folge der topographischen Verhältnisse. Diese Gletscher haben nur kleine Niederschläge akkumulierende Nährgebiete und werden großteils von Eis- und Schneelawinen gespeist, die über die steilen Flanken abgehen. Der Eisschlag vom Oberen Ortlerferner kann dabei 2000 Höhenmeter überwinden und die Straße nach Sulden gefährden. Auch durch Schneelawinen aus der Ortlernordwand wurde die Straße schon mehrmals verlegt, dabei starben beispielsweise im April 1975 mehrere Menschen. Im flacheren Gelände unterhalb der Steilwände können sich diese Schnee- und Eismassen zu neuen Gletschern sammeln. Durch den anhaltenden Steinschlag aufgrund des brüchigen Gesteins des Ortlers kommt es auf diesen Gletschern zu einer besonders starken Schuttbedeckung, insbesondere am Sulden-, End-der-Welt- und Marltferner, die teilweise komplett unter Gestein verborgen liegen. Der Rückgang der Gletscher nach der Kleinen Eiszeit unterschied sich am Ortler deutlich von den meisten anderen Alpengletschern, die etwa um 1860 ihren Höchststand erreichten. Am Suldenferner kam es viel früher, zwischen 1817 und 1819, zu einem äußerst raschen Vorstoß, der sogar das Siedlungsgebiet von Sulden bedrohte. Von einem kleineren weiteren Vorstoß Mitte des 19. Jahrhunderts abgesehen ging er seither ebenso wie die anderen Gletscher der Region fast ständig zurück. Ende des 20. Jahrhunderts nahm der Gletscherschwund stark zu. Die Ursache liegt dabei nicht im stärkeren Abschmelzen in der Zehrzone der Gletscher, sondern im Rückzug der Nährgebiete bis in eine Höhe von über wegen der höheren Sommertemperaturen. In den tieferen Regionen bildet die mächtige Schuttbedeckung einen Schutz gegen das Abschmelzen, sodass die Gletscher dort nach wie vor bis etwa , also etwa 300 Meter tiefer als auf der anderen Talseite des Suldentals, hinabreichen. Das zurückgehende Eis hat Auswirkungen auf den Alpinismus am Ortler, da viele klassische Routen schwieriger und durch die erhöhte Steinschlaggefahr auch gefährlicher werden, sodass sie teilweise kaum noch begehbar sind. Die Nordwand hingegen ist etwas flacher und ihre Begehung damit einfacher geworden: Der mächtige Hängegletscher, der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wand dominierte, ist mittlerweile komplett verschwunden. Flora und Fauna Die tiefsten Regionen an den Hängen des Ortlers sind von Fichtenwäldern bedeckt, landwirtschaftliche Flächen finden sich nur in den Talsohlen des Sulden- und Trafoitals. In den höheren Regionen nimmt der Bestand an Kiefern und Lärchen zu, die bis zur Waldgrenze auf etwa bis häufig von Zirbenbeständen abgelöst werden. Diese Waldgrenze liegt wegen der jahrhundertelangen Almwirtschaft niedriger als die natürliche Höhenlage, in den letzten Jahrzehnten kam es jedoch zu einem Rückgang der Weidewirtschaft und damit auch zu einem Anstieg der Waldgrenze. Oberhalb folgen Latschenkiefergürtel, insbesondere auf den aus Dolomitschutt bestehenden Moränenablagerungen. Auf kristallinen Böden nehmen häufig Grün-Erlengebüsche ihren Platz ein. Oft ist in den oberen Regionen der Bergwälder und in der Zwergstrauchheide darüber die Alpenrose zu finden. Diese Heiden und die Matten der Alpinen Vegetationszone weisen aufgrund der Vielfalt von Böden und Landschaftsformen eine hohe Artenvielfalt auf. Die Pflanzengemeinschaft umfasst hier sowohl typisch west- als auch ostalpine Arten ebenso wie kalkstete und auf Silikatböden spezialisierte. Besonders seltene Pflanzen sind der Blattlose und der Felsen-Steinbrech, das Flattnitz-Felsenblümchen, das Moosglöckchen und die Inntaler Primel. Enziane kommen häufig vor, das Edelweiß ist hingegen selten zu finden. Die am höchsten steigende Blütenpflanze ist der Gletscherhahnenfuß, in den höchsten Lagen wachsen nur noch vereinzelte Moose und Flechten. Häufigstes großes Säugetier des Ortlergebietes ist der Rothirsch, der in den Wäldern, manchmal aber auch auf den alpinen Matten, weit verbreitet ist und mangels natürlicher Feinde für das Ökosystem problematische Bestandszahlen erreichen kann. Das Reh ist hingegen etwas seltener vertreten. Ebenfalls in den Bergwäldern, vor allem aber im Bereich der Waldgrenze bis hinauf an die Gletschergrenzen sind die Gämse und das Alpenmurmeltier zu finden. Der Schneehase ist hier relativ selten, dafür steigt der Feldhase bis in die almwirtschaftlich genützten Höhenlagen. Vorherrschendes Raubtier ist der Fuchs, dessen Bestandszahlen allerdings starken Schwankungen unterworfen sind, Dachs und Wiesel kommen seltener vor. Der Braunbär, der lange Zeit in diesem Gebiet nicht mehr vorkam, trat in den letzten Jahren manchmal wieder am Fuße des Ortlers auf. Der Alpensteinbock wurde vermutlich im 18. Jahrhundert in den Ortler-Alpen ausgerottet. Im Zebrùtal im lombardischen Teil des Nationalparks Stilfserjoch wurden aber in den 1960er Jahren wieder Tiere ausgewildert. Der Bestand von mittlerweile mehreren hundert Tieren hält sich jedoch nach wie vor fast ausschließlich in diesem Gebiet auf, im Ortlergebiet gibt es nur sporadische Sichtungen. Mit einer weiteren Besiedlung wird aber gerechnet, der Ortler wird als für Steinböcke geeignetes Habitat eingeschätzt. Das am weitesten hinaufsteigende Säugetier ist die Schneemaus, die bis in die Gletscherregionen vorkommt. Prominentester Vertreter der Vogelfauna ist der Steinadler das Symboltier des Nationalparks Stilfserjoch. Am Ortler ist er hauptsächlich im Trafoital zu finden und jagt hier neben Murmeltieren Schnee- und Haselhühner. Der größte Greifvogel ist jedoch der Bartgeier, der hier vereinzelt wieder vorkommt. In den Wäldern leben der Auerhahn und Tannenhäher, Schneefink, Uhu und Kolkrabe sind auch in den alpinen Regionen zu finden. In den höher gelegenen Felsen jagt der Mauerläufer, die Alpendohle kommt bis zum Gipfel hinauf vor. Die Reptilien weisen als Besonderheit wie in anderen alpinen Höhenlagen die schwarze Varietät der Kreuzotter auf, die Höllenotter. Ein bemerkenswerter Wirbelloser in der Eisregion ist der Gletscherfloh, der vor allem am Suldenferner häufig zu finden ist. Namensherkunft, Sagen und Geschichten Der Ursprung des Namens Ortler ist umstritten. Vielfach wird der heutige italienische Name Ortles, auch in der Variante Orteles, als älter angesehen. Er war bis ins 19. Jahrhundert auch auf deutschsprachigen Karten zu finden. Julius Payer berichtete im Zuge seiner kartografischen Arbeiten, in Sulden sei bei der ansässigen Bevölkerung der Name Ortler in Gebrauch und verwendete daher diesen, der sich in der Folge im deutschsprachigen Raum durchsetzte. Häufig wird eine Ableitung des Bergnamens von dem bereits 1382 belegten Ortlerhof in Sulden („Abraham dictus Ortla“) und der darüber liegenden Ortleralm, auch Ortls genannt, angenommen. Dieser Hofname soll wiederum auf Ortl, eine Kurzform des Namens Ortwin oder Ortnit zurückzuführen sein. Eine andere Theorie setzt hingegen den Bergnamen als älter und somit als Ursprung des Hofnamens an. Etymologisch ließe sich Ortler demnach als Ableitung aus dem althochdeutschen ort mit der Bedeutung „Spitze“ deuten. Die populäre Bezeichnung „König Ortler“ ist bereits im frühen 19. Jahrhundert dokumentiert. Auch als „König der Ostalpen“ wird der Berg häufig bezeichnet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Berninagruppe bis ins 20. Jahrhundert den Westalpen zugerechnet wurde und der Ortler daher lange Zeit als höchster Berg der Ostalpen galt. Aus der Germanischen Religion stammt die Vorstellung der Wilden Jagd, die hier als Wilde Fahr bekannt war, und die ebenfalls am Ortler ihren Ausgangspunkt nehmen sollte. Auch in diesem Mythos wird der Ortler mit dem Totenreich in Verbindung gebracht. Bekannter ist eine später entstandene Sage, in der der Ortler als Riese erscheint. Dieser wird vom Stilfser Zwerg bezwungen und in einem Gedicht verspottet („Ach, Riese Ortler, wie bist du noch so klein …“) und erstarrt daraufhin in Eis und Schnee. Aus dem 19. Jahrhundert stammt die Geschichte von einem Bären, der 1881 auf der Flucht vor seinen Jägern über den Hintergrat nach Trafoi entkommen sein soll. Auch das Bärenloch, ein Gletscherbecken unterhalb des Tschierfecks, wird mit einem Bären im Ortlereis in Zusammenhang gebracht: Es soll seinen Namen dem Fund eines Bärenskeletts an dieser Stelle zu verdanken haben. Stützpunkte und Routen Zum Gipfel des Ortlers führen zahlreiche Routen, die alle als ernsthafte Hochtouren einzustufen sind. Die meisten dieser Wege sind jedoch fast ausschließlich von historischem Interesse und werden sehr selten begangen, viele wurden nach ihrer Erstbegehung nie mehr wiederholt. Ausgangspunkt des Normalwegs auf den Ortler ist die nördlich der Tabarettaspitze gelegenen Payerhütte (), die über die Tabarettahütte () von Sulden aus oder von Westen von Trafoi aus erreichbar ist. Von dort führt der Weg, teilweise als Klettersteig versichert, über den Nordgrat und dann im bis zu 40° steilen Eis und Firn über das Tschierfeck mit der Biwakschachtel Tschierfeckhütte (Bivacco Lombardi, ) und den Oberen Ortlerferner zum Gipfel. Die Schwierigkeit wird mit III− (UIAA), nach anderen Angaben II bis III+ angegeben, für die Begehung werden drei bis fünf Stunden veranschlagt. Diese Route ist der leichteste und am häufigsten begangene Anstieg auf den Ortler und wird meist auch in Verbindung mit anderen Anstiegen als Abstiegsroute benutzt. Die Tabarettahütte (Rifugio Tabaretta, ) ist Ausgangspunkt für die Durchsteigung der Nordwand. Die Routen durch die Nordwand sind durch den Gletscherschwund erheblichen Veränderungen unterworfen. Teilweise wurden sie durch die zurückgehende Steilheit leichter, die Schwierigkeits- und Steilheitsangaben für den Ertlweg und seine mehreren Varianten sind daher unterschiedlich und reichen von 55° bis senkrecht. Manche Routen wie der überhängende Direkte Hängegletscher existieren nicht mehr. Der Holl-Witt-Weg im Westen der Nordwand gilt mit V− und bis zu 90° steilem Eis als eine der schwierigsten kombinierten Routen der Ostalpen. Der Nordostpfeiler (V+, 60°) und die Nordostwand (VI−, 60°) verlaufen überwiegend im Fels. Auch der Rothböckgrat (IV, 55°) kann von der Tabarettahütte aus erreicht werden. Die K2-Hütte () liegt unterhalb des Marltgrates und ist von Sulden aus über den Langenstein-Sessellift zugänglich, ein zweiter Lift erschließt von hier aus den unteren Teil des End-der-Welt-Ferners für das Skigebiet Sulden. Die wichtigste Route von der Hütte hier aus ist der Marltgrat (III, 50°), daneben kann auch die Schückrinne (III, 55°) begangen werden. Ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt ist die Hintergrathütte (Rifugio Alto del Coston, ) unterhalb des Suldenferners. Von dort führt die beliebte Route über den Hintergrat zum Gipfel, die Kletterschwierigkeiten bis IV- und Steigungen in Eis und Firn bis zu 40° aufweist. Weitere Anstiege von der Hintergrathütte aus sind der Untere Hintergrat (III, 45°), die Minnigeroderinne (45°) mit ihrer Direkten Ausstiegsvariante (50°), die Südsüdostwand (auch Lannerführe, III, 45°–50°), und die Harpprechtrinne (III, 50°) zum Hochjochgrat. Von der Minnigeroderinne abgesehen werden diese Wege jedoch kaum begangen. Das Hochjochbiwak (Bivacco città di Cantù, ) zwischen Ortler und Monte Zebrù ist Ausgangspunkt für den Weg über den Hochjochgrat (IV, 50°). Die weiteren Routen auf dieser Seite wie der Südwestgrat (IV, 50–55°) sowie die Linke (45–50°) und Rechte Westwand (IV, 55°) sind kaum von Bedeutung. Die weiteren Anstiege auf der Südwestseite des Ortlers werden neben dem Hochjochbiwak auch von der Berglhütte (Rifugio Borletti, ) aus erreicht. Neben der unbedeutenden Südwestwand Pinggera-Tomasson (III, 50°) ist hier hauptsächlich der nur historisch bedeutsame, heute aber nicht mehr begangene Weg der Erstersteiger, die Pichlerführe durch die Hinteren Wandlen (II, 45–50°) zu nennen. Weitere Routen sind der Soldàweg (IV, 60°), der Südwestpfeiler (V+) und der Nördliche Weg durch die Südwestwand (IV). Verhältnismäßig häufig wird der stellenweise versicherte Meraner Weg (III, 40°) über den Pleißhorngrat begangen. Zum Pleißhorngrat führt auch die Stickle-Pleiß-Rinne (IV−, 45°), östlich davon sind die Nordwestwand (IV, 50°), La casa di Asterione (V, 80°) und Via un battito d’ali (60°) zu finden. Von der Berglhütte aus wird auch der Weg über die Hohe Eisrinne begangen, der zum Nordgrat und von dort über den Normalweg zum Gipfel führt. Dieser Weg ist im Sommer kaum von Bedeutung, gilt jedoch im Frühjahr als der einzige Skianstieg zum Ortlergipfel. Erschließungsgeschichte Erstbesteigung und weitere frühe Expeditionen Die große Höhe des Ortlers war trotz fehlenden Vermessungen schon früh bekannt, im Atlas Tyrolensis aus dem Jahr 1774, in dem der Berg erstmals auf einer Karte erscheint, ist er als „Ortles Spiz der Höchste im ganzen Tyrol“ verzeichnet. Damit war er auch der höchste Berg der Donaumonarchie. 1804 reiste Erzherzog Johann von Österreich durch Tirol und sah den Ortler vom Reschenpass aus. Er beauftragte daraufhin den Beamten Johannes Gebhard, die Erstbesteigung des Berges zu organisieren. Gebhard kam am 28. August 1804 in Sulden an und versprach den dortigen Bauern Geld für das Finden eines Weges zum Gipfel. In seiner Begleitung waren die zwei erfahrenen Bergsteiger Johann Leitner und Johann Klausner aus dem Zillertal, die als Erstbesteiger ausgewählt worden waren. Am nächsten Tag wurde mit der Erkundung des Weges begonnen, bis zum 13. September unternahmen die Männer vier weitere vergebliche Versuche, meist in der Nähe des heutigen Normalwegs. Der sechste Anlauf mit einem reisenden Harfenisten, der sich als erfahrener Bergsteiger dargestellt hatte, aber als Scharlatan erwies, scheiterte nach drei Tagen. Mehrere andere Anwärter, die einen unseriösen Eindruck hinterließen, lehnte Gebhard ab. Am 26. September stellte sich Josef Pichler, genannt Pseyrer Josele, Gämsenjäger auf der Churburg in Schluderns, bei Gebhard vor. Er konnte durch das Angebot, nur im Erfolgsfall einen Lohn zu verlangen, Gebhards Vertrauen gewinnen. Noch am selben Tag brach er mit Leitner und Klausner auf. Anders als bei den vorigen Versuchen führte Pichler die Gruppe nicht von Sulden aus auf den Berg, sondern zuerst nach Trafoi und am nächsten Tag von dort aus auf den Unteren Ortlerferner. Ohne Kletterseil und Eispickel durchstiegen sie dann die Hinteren Wandlen. Ihre Route gilt heute als schwierig (II-III, 50° im Firn) und sehr gefährlich, wenngleich der genaue Verlauf bisweilen angezweifelt wird. Sie wurde später nur noch selten wiederholt. Als Grund dafür, einen so schwierigen Anstieg zu wählen, wird vermutet, dass Josef Pichler als Gämsenjäger sich im felsigen Gelände wohler fühlte und die für ihn ungewohnten Gletscherflächen zu meiden versuchte. Zwischen 10 und 11 Uhr vormittags erreichten Pichler, Klausner und Leitner den Gipfel, wo sie sich wegen heftigen Windes und großer Kälte nur wenige Minuten aufhalten konnten. Nach dem Abstieg über denselben Weg kamen sie um 8 Uhr Abends wieder in Trafoi an. Gebhard meldete am 1. Oktober Erzherzog Johann die Vollendung des „großen Werks“. Der Erzherzog beauftragte daraufhin im Jahr 1805 Gebhard, eine erneute Besteigung des Ortlers zu organisieren und einen neuen Weg von Sulden aus zum Gipfel finden zu lassen. Wiederum unter der Leitung Josef Pichlers, diesmal mit der Hilfe von Johann und Michael Hell aus Passeier und einem unbekannten Jäger aus Langtaufers, wurde in der Nähe der heutigen Hintergrathütte ein Unterstand errichtet. Zwischen Juli und August bestiegen die vier Alpinisten den Ortler von hier aus zweimal über den „Hinteren Grat“. Dieser wird heute allgemein mit dem Hintergrat gleichgesetzt, vereinzelt wird aber auch vermutet, mit dem Hinteren Grat könnte der heutige Hochjochgrat gemeint gewesen sein. Diese Besteigungen, während denen der Weg auch teilweise mit Seilen versichert wurde, um später auch Gebhard den Aufstieg zu ermöglichen, gelten aus heutiger Sicht als herausragende alpinistische Leistungen. Da Schlechtwetter die Versicherungen wieder zerstörte und Gebhards Aufstieg vereitelte, zog sich dieser zeitweise nach Mals zurück. Dort erfuhr er, dass die Ortlerbesteigungen von vielen Menschen massiv angezweifelt wurden. Für die nächsten, hauptsächlich zur Wiederherstellung des Weges durchgeführten, Besteigungen am 27. und 28. August gab er Pichler daher eine große Fahne auf den Gipfel mit, die am 28. August auch tatsächlich von Mals aus erkannt werden konnte. Am 30. August konnte Gebhard schließlich, geführt von Pichler, in Begleitung des Stilfser Priesters Rechenmacher selbst den Gipfel erreichen und somit die erste touristische Besteigung des Ortlers vermelden. Die Gruppe verbrachte zwei Stunden am Gipfel, die für wissenschaftliche Messungen und das Suchen eines Ortes für eine geplante Steinpyramide genutzt wurden. Um alle restlichen Zweifel an den Besteigungen auszuräumen, organisierte Gebhard in den nächsten Tagen den Transport einer großen Menge brennbaren Materials auf den Gipfel, das schließlich am Abend des 13. September entzündet wurde. Das Feuer brannte zwei Stunden und war bis ins 20 km entfernte Mals mit freiem Auge zu sehen. Wenige Tage später bestieg Gebhard den Ortler abermals. Der Gipfel sollte in der Folge durch den Bau einer Hütte und eines dauerhaft versicherten Weges leichter zugänglich gemacht werden. Als 1805 infolge des Friedens von Pressburg Tirol und damit der Ortler bis 1814 an Bayern fiel, waren diese Pläne vorerst obsolet. Der Ortler wurde daraufhin 21 Jahre lang nicht mehr bestiegen. 1826 verpflichtete ein alpinistisch unerfahrener Wiener Offizier namens Schebelka wiederum Josef Pichler als Führer. Da der Hintergrat zu dieser Zeit nicht begehbar war, wählte Pichler den Weg der Erstbesteigung über die Hinteren Wandlen. Auch am 13. August 1834 wurde der Gipfel über diesen Anstieg erreicht: Peter Karl Thurwieser bestieg den Ortler abermals unter der Führung des mittlerweile 70 Jahre alten Josef Pichler, der allerdings am Oberen Ortlerferner zurückblieb, und dreier weiterer Einheimischer. Spätes 19. Jahrhundert Nach Thurwiesers Besteigung 1834 blieb der Ortler in den folgenden 30 Jahren unbestiegen. Zwei Versuche, über eine neue Route durch die Stickle-Pleiß-Rinne nahe dem Pleißhorngrat den Gipfel zu erreichen, scheiterten. Die meisten namhaften Alpinisten konzentrierten sich in dieser Zeit vornehmlich auf die Viertausender der Westalpen; der Misserfolg der wenigen Besteigungsversuche in dieser Zeit wird den fehlenden alpinistischen Kenntnissen der einheimischen Führer zugeschrieben. 1864 kam der englische Bergsteiger Francis Fox Tuckett mit E.N. und H.E. Buxton und den zwei Schweizer Führern Christian Michel und Franz Biner in die Ortler-Alpen. Nachdem sie unter anderem den Monte Confinale und die Königspitze bestiegen hatten, versuchten sie eine neue Route von Trafoi über die Hohe Eisrinne und erreichten den Gipfel des Ortlers am 5. August 1864. Im September 1864 fand der Engländer Headlam den Weg von Trafoi über den heutigen Standort der Payerhütte. Ein Jahr später, am 7. Juli 1865, erreichten Johann August Edmund Mojsisovics von Mojsvár und V. Reinstadler mit dem Führer Johann Pinggera diesen Weg erstmals von Sulden aus. Am 4. September desselben Jahres führte Pinggera Julius von Payer, der später die ersten genauen Karten des Ortlers und seiner Umgebung zeichnete, in einer Variante dieses Weges zum Gipfel und fand dabei den leichtesten Anstieg. Dies war die erste Ersteigung auf dem heutigen Normalweg und mit dem Abstieg der Seilschaft nach Trafoi auch die erste Überschreitung des Ortlers. Der neue Weg über den Tabarettakamm wurde schnell populär, und der Ortler wurde immer häufiger bestiegen: während 1868 noch von 12 Besteigungen berichtet wurde, waren dies 1871 schon 51 und 1881 bereits 183. 1899 konnten bis zu 60 Besteiger pro Tag gezählt werden. 1875 wurde zu Erleichterung des Aufstiegs die erste Schutzhütte, die Payerhütte, errichtet. Mit der Berglhütte 1884, der als Bäckmannhütte bekannten ursprünglichen Hintergrathütte 1892, der Tabarettahütte 1894 und der Hochjochhütte 1901 folgten weitere Unterkünfte. Mit den später zerstörten Schutzhütten Edelweißhütte (erbaut 1899) und Alpenrosenhütte (erbaut 1910) im Trafoital gab es zwischenzeitlich sogar mehr Unterkünfte am Ortler als heute. Der Normalweg wurde 1888 mit Stahlseilen ausgebaut, um die Besteigung zu erleichtern. Der Meranerweg über den Pleißhorngrat wurde 1910 auf Initiative des Tourismuspioniers Theodor Christomannos versichert. Zu dieser Blütezeit des Ortler-Alpinismus entstanden darüber hinaus in Sulden und Trafoi zahlreiche Hotels und ein gut ausgebautes Bergführerwesen. Der Bergführerverband Sulden-Trafoi war bereits 1865 gegründet worden. Theodor Harpprecht und sein Führer Peter Dangl entdeckten am 19. Juli 1872 den Weg über den Hintergrat wieder und erschlossen im Abstieg die Route über die Stickle-Pleiß-Rinne. Ein Jahr später, am 9. August 1873 fanden die beiden mit der Harpprecht-Rinne einen neuen Weg vom Suldenferner zum Hochjochgrat und gelangten über diesen zum Gipfel. Die durchgehende Begehung vom Hochjoch bis zum Gipfel, die bereits seit 1867 mehrfach versucht worden war, gelang jedoch erst Otto Schück mit Alois Pinggera und Peter Dangl am 15. Juni 1875. Damit war der vierte Weg zum Ortlergipfel gefunden, den Otto und Emil Zsigmondy 1881 erstmals führerlos begehen konnten. Otto Schück erschloss 1879 schließlich noch die nach ihm benannte, damals noch stark vereiste Rinne durch die Ostwand. Bei dieser Route handelte es sich ebenso wie bei der 1878 von B. Minnigerode, Alois und Josef Pinggera durchstiegenen Südwestrinne um einen reinen Eis- und Firnanstieg, der fast ausschließlich mit Hilfe der damals üblichen Technik des Stufenschlagens bewältigt wurde. Die britische Alpinistin Beatrice Tomasson durchstieg mit ihrem Führer Hans Sepp Pinggera 1898 erstmals die Südwestwand. Mit der Erstbegehung des Marltgrates durch O. Fischer, E. Matasek, R.H. Schmitt und L. Friedmann am 22. August 1889 und des Rothböckgrates durch H. Rothböck, F. Pinggera und F. Angerer am 30. Juni 1904 waren alle großen Grate des Ortlers begangen. Der Rothböckgrat galt daraufhin lange Zeit als schwierigste Route am Ortler. 20. Jahrhundert Alle mit den damaligen Mitteln möglichen Wege waren Anfang des 20. Jahrhunderts durchstiegen. Während des Ersten Weltkriegs hatte der Ortler ausschließlich militärische Bedeutung (siehe Abschnitt „Gebirgskrieg“). Der Alpinismus im üblichen Sinn kam zum Erliegen; im Rahmen militärischer Operationen kam es jedoch zu Leistungen, die aus sportlicher Sicht bemerkenswert sind, wie etwa der Bewältigung des Normalwegs von der Payerhütte in 1:20 h. Die 1200 Meter hohe Nordwand, die höchste Eiswand der Ostalpen, galt nach dem Krieg als letztes ungelöstes Problem am Ortler. Nach einem gescheiterten Versuch durch Willy Merkl und Willo Welzenbach gelang am 22. Juni 1931 Hans Ertl und Franz Schmid in 17 Stunden die erste Durchsteigung. Anschließend wurde die Nordwand bis 1956 nicht mehr begangen. 1963 fanden P. Holl und H. Witt eine neue Route durch die Nordwand, die bis heute als eine der schwierigsten kombinierten Routen der Ostalpen gilt. Im selben Jahr gelang Dieter Drescher die erste Alleinbegehung der Ertlführe, am 22. Juli 1964 durchstiegen Reinhold und Günther Messner direkt den damals noch bestehenden Hängegletscher der Nordwand. Zwar wurden seit den 1930er Jahren mehrere Neutouren auch außerhalb der Nordwand begangen, wie etwa der Soldàweg (1934), die Nordnordwestwand (1935) oder der Südwestpfeiler, dessen Erstbegehung durch Reinhold Messner, Hermann Magerer und Dietmar Oswald am 15. August 1976 filmisch dokumentiert wurde. Bei diesen Wegen handelte es sich jedoch um selten oder niemals wiederholte Touren. Die Alpinisten des späten 20. Jahrhunderts suchten neue Herausforderungen am Ortler durch Winterbegehungen und Skibefahrungen. Nachdem der Normalweg bereits am 7. Januar 1880 durch Robert von Lendenfeld und Peter Dangl seine erste Winterbegehung erfahren hatte, wurden nun auch die schwierigeren Routen bei winterlichen Verhältnissen begangen, so die Nordwand 1964, der Marltgrat 1965 und der Rothböckgrat 1966. Heini Holzer befuhr 1971 die Schückrinne mit Skiern; 1975 gelang ihm auch die Abfahrt durch die Minnigeroderinne. K. Jeschke und M. Burtscher fuhren 1969 durch die Nordwand ab, wobei sie allerdings mehrmals abseilen mussten. 1982 gelang Andreas Orgler die erste durchgehende Befahrung. 1986 glückte Kurt Walde der erste Start vom Ortlergipfel mit einem Gleitschirm, nachdem er über die Nordwand aufgestiegen war. Heute ist die Erschließungstätigkeit am Ortler weitgehend zum Stillstand gekommen. Erstbegehungen neuer Routen finden praktisch nicht mehr statt. Reinhold Messner fand 2004, als er anlässlich der 200-Jahr-Feiern der Erstbesteigung den Weg Josef Pichlers durch die Hinteren Wandlen wiederholen wollte, eine neue Variante zu diesem historischen Anstieg. 2004 wurde auch der lange Zeit verfallene Meraner Weg saniert und neu versichert, sodass es heute mit diesem, dem Normalweg und dem Hintergrat drei häufiger begangene Routen gibt. Gebirgskrieg Zu Beginn des Gebirgskriegs 1915 schien das hochalpine Gelände der Ortlergruppe für militärische Operationen überhaupt nicht von Interesse, die österreichisch-ungarische Armee plante sich am Stilfser Joch, hauptsächlich jedoch tiefer, an der Straßensperre Gomagoi, gegen Italien zu verteidigen. Die k.k. Standschützen begannen jedoch bereits damals mit der Besetzung mancher Gipfel bis in eine Höhe von . Als die Alpini 1916 das Hochjoch, den Ortlerpass, die Trafoier Eiswand und die Thurwieserspitze okkupierten und erste italienische Patrouillen am Ortlergipfel gesichtet wurden, befürchtete man eine Besetzung dieses strategisch wichtigen Punktes durch Italien und verlagerte den Kampf zusehends ins Gebirge. Von Sulden aus wurde eine Seilbahn errichtet, mit der man in 20 Minuten die Payerhütte erreichen konnte. Eine weitere kleine Materialseilbahn führte bis knapp unter den Gipfel, am Tschierfeck wurde ein erster Unterstand erbaut. Ab Sommer 1916 befand sich am Gipfelplateau des Ortlers die höchste Stellung des gesamten Krieges. Hier lebten bis zu 30 Soldaten in einem Stollen, der in das Gletschereis gesprengt und geschlagen worden war. Es wurde eine Reserve an Proviant und Brennstoff für bis zu drei Wochen gelagert, es gab eine hochwertige Feldtelefonleitung, eine Wetterstation und sogar ein kleines Fotolabor. Ein weiterer Stollen von 150 Metern Länge erstreckte sich vom Vorgipfel zum Hochjochgrat. Hier wurde mit Stacheldrahtverhauen und einer dauernd besetzten Maschinengewehrstellung versucht, einen etwaigen italienischen Angriff über den Hochjochgrat abzuwehren. Während der Hauptgipfel selbst nur von einer kleinen Feldwache besetzt war, befanden sich am Vorgipfel ein Schützengraben und bereits ab 1916 eine erste Kanone. Es handelte sich um eine Gebirgskanone M99 mit einem Kaliber von 7 cm, die sich heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien befindet. Dieses veraltete Geschütz mit Baujahr 1899 verfügte über keinen Rohrrücklauf und wenig Treffsicherheit, war aber wegen seiner höheren Position den wesentlich moderneren italienischen Kanonen auf Thurwieserspitze und Trafoier Eiswand überlegen, die das Gipfelplateau des Ortlers fast nie trafen. Später wurde die Kanone durch eine zweite verstärkt, auch am Pleißhorn wurden noch Geschütze aufgestellt. 1917 zogen russische Kriegsgefangene zwei größere 10,5-cm-Geschütze zum Gipfel. Bei diesen M75-Feldgeschützen des Baujahres 1875 handelte es sich um bereits sehr alte, aber qualitativ hochwertigere Geräte, die neben einer höheren Treffsicherheit auch eine größere Reichweite aufwiesen. Eine wichtige Rolle spielten die Stellungen am Ortler-Vorgipfel und am Pleißhorn bei der Zerstörung der italienischen MG-Stellung auf der Thurwieserspitze im August 1916 und bei der Eroberung der Trafoier Eiswand durch die österreichische Armee am 3. September 1917, auch die Hohe Schneide () konnte von hier beschossen werden. Die größten Gefahren auf der Ortlerstellung kamen nicht vom Beschuss durch die italienische Armee, sondern von den klimatischen Verhältnissen in der großen Höhe. Am 4. März 1914 kamen beim Aufstieg zur Payerhütte 15 Angehörige einer militärischen Schiabteilung durch eine Lawine ums Leben. Besonders im strengen Winter 1916/1917 kam es an der Ortlerfront zu vielen Lawinenunglücken, die Gipfelstellung war mit mehreren Metern Schnee bedeckt und bis zu einer Woche von der Außenwelt abgeschnitten. Das Telefonnetz brach des Öfteren zusammen, sodass ein Netz aus optischen Signalstationen, die zumindest bei guter Sicht Nachrichten von Gipfel zu Gipfel übermitteln konnten, als Notbehelf dienen musste. Als 1918 abermals die Telefonleitung zerstört wurde, griff man auf Brieftauben zurück. Etwas tiefer hingegen, auf der per Seilbahn leicht erreichbaren Payerhütte, gab es kaum solche Probleme. Sie wurde als sicherer Ort häufig von Prominenten besucht, die die Front besichtigen wollten. Darunter war etwa der Entdecker Sven Hedin, Erzherzog Joseph bestieg sogar den Gipfel. Die Ortlerfront wurde infolge solcher Besuche häufig als „Salonfront“ bezeichnet. Dieser auch militärintern verbreitete Ruf spielte eine große Rolle bei der trotz ihrer wichtigen strategischen Rolle lange Zeit mangelnden Bewaffnung der Stellungen am Ortler. 1918 erfolgte ein weiterer Ausbau der Stellung, allerdings wurde nun die Versorgungssituation schlechter. Militärische Zwischenfälle waren im letzten Kriegsjahr kaum zu verzeichnen. Nachdem es bereits in den Tagen davor zu einigen Irritationen um einen vermeintlichen Waffenstillstand gekommen war, wurde schließlich am 4. November der Ortlergipfel geräumt. Viel Ausrüstung blieb dabei zurück. Der Verbleib einiger der Kanonen ist bis heute ungeklärt, sie befinden sich vermutlich im Gletschereis. Neben Resten der Unterstände ist bis heute ein Stacheldrahtverhau am Hochjochgrat zu finden, das Eis gibt immer wieder Ausrüstungsgegenstände der Soldaten und sogar noch scharfe Munition frei. Gipfelzeichen auf dem Ortler Die ersten Pläne zur Errichtung eines Gipfelzeichens auf dem Ortler fasste bereits der Organisator der Erstbesteigung, Johannes Gebhard, im Jahr 1804. Er legte auch schon den genauen Ort fest. Geplant war eine 26 Fuß hohe Steinpyramide sowie eine Wetterstation. Mit den Vorarbeiten am Gipfel wie dem Einebnen eines Platzes und dem Brechen von Steinen wurde schon begonnen. Der zeitweilige Verlust Tirols für das Habsburgerreich zwischen 1805 und 1814 bedeutete neben einer langjährigen Unterbrechung der Ortlerbesteigungen auch das Ende dieser Pläne. Erst 1888 wurde in Wien aus Anlass des 40-jährigen Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. das Ortler-Komité gegründet, das sich die Aufstellung des fünf Meter hohen Kaiser-Franz-Joseph-Obelisken auf dem Ortler zur Aufgabe machte. Zu dieser Zeit wurden auf Gipfeln vermehrt statt der üblichen Gipfelkreuze Pyramiden, Fahnen und andere Zeichen weltlicher Macht angebracht. Die Aufstellung wurde jedoch von den alpinen Vereinen, besonders vom Vizepräsidenten des österreichischen Alpenklubs Julius Meurer, als undurchführbar bekämpft und schließlich verhindert. So kam es zum Jubiläum am 3. Dezember 1888 nicht zur geplanten Einweihung des Denkmals, stattdessen wurde die Fahne des Hauses Habsburg am Gipfel gehisst. Der Obelisk wurde später am Stilfser Joch aufgestellt und trägt heute eine 1925 von den Faschisten angebrachte Inschrift. Er ist nicht zu verwechseln mit einem weiteren Obelisken an der Stilfser-Joch-Straße, der 1884 vom Österreichischen Alpenklub zu Ehren des Erstbesteigers Josef Pichler errichtet wurde. Am 1. August 1954 errichtete schließlich die Sektion Vinschgau des Alpenvereins Südtirol zum 150. Jahrestag der Erstbesteigung ein Gipfelkreuz. Das 3,5 Meter hohe Kreuz war mit den Worten „Gott mit uns“ und „1804 – 150 Jahre Ortlerbesteigung – 1954“ beschriftet und wurde am 29. September 1954, dem Tag nach der 150-Jahr-Feier in Trafoi eingeweiht. Aus Anlass des 200. Jubiläums der Erstbesteigung wurde das Kreuz 2004 renoviert und am 31. Mai neu errichtet und gesegnet. Am Kreuz war auch ein Gipfelbuch angebracht. Vermutlich am 26. August 2012 wurde das Kreuz aus seiner Verankerung gerissen und stürzte in die Schückrinne. In der Folge fertigten Berufsschüler aus Schlanders und Brixen ein neues, etwa 380 kg schweres Gipfelkreuz aus Edelstahl. Am 12. Juni 2013 wurde es mit einem Hubschrauber auf den Berggipfel gebracht und dort montiert. Der Ortler in Kunst und Populärkultur Darstellungen des Ortlers zur Zeit seiner Erstbesteigung, wie etwa jene des Wiener Malers Ferdinand Runk, stellen den weithin sichtbaren Berg noch vorwiegend als Hintergrund der abgebildeten Dörfer und Burgen dar. Neben Darstellungen lokaler Künstler wie etwa Johann Georg Schaedler kam es ab den 1820er Jahren zu einer Popularisierung der Ortleransichten vor allem durch Druckgrafiken in Reiseberichten und touristischen Alben. Ein Beispiel hierfür war Jakob Alt, der den Berg in mehreren Lithografien und Aquarellen darstellte. Weitere Künstler dieser Zeit, wie Thomas Ender und Eduard Gurk, stellten den Ortler bereits äußerst detailliert dar, eine Entwicklung, die mit Edward Theodore Compton ihren Höhepunkt erreichte. Compton, selber erfahrener Alpinist, malte den Ortler nicht nur in Gesamtansichten aus zahlreichen Perspektiven, sondern stellte auch Details der Gletscher sowie Bergsteiger beim Aufstieg und am Gipfel dar. Im Gegensatz dazu gestalteten Künstler wie Franz Richard Unterberger und Heinrich Heinlein ihre Ortlerdarstellungen aus einer romantischeren Perspektive. In der Literatur entsprachen etwa die Ballade „Die Bergfrau vom Ortles“ von Karl Egon Ebert, in der die Reise eines mystischen Bergfräuleins vom Ortler in die Welt beschrieben wird, oder das Gedicht „Ortles“ von Angelika von Hörmann dieser romantischen Sicht. Der Expressionist Emil Nolde stellte den Berg 1898 in seinem Bild „Der Ortler träumt von verschwundenen Zeiten“ als schlafenden Riesen dar. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer starken nationalistisch-ideologischen Vereinnahmung des Ortlers. Bereits 1838 wird in Johann Chrysostomus Senns patriotischem Gedicht Der rothe Tiroler Adler das Alpenglühen am Ortlergipfel als Grund für die rote Farbe des Tiroler Wappentiers genannt. Adolf Pichler griff dieses Motiv auf und stilisierte den Ortler in seinem Gedicht Am Orteles zum Sitz des Tiroler Adlers, der dort an die Siege Andreas Hofers erinnert. Politische Vereinigungen wie der Südmark-Bund der Deutschen zur Erhaltung ihres Volkstums im In- und Ausland inszenierten später den höchsten Berg der Monarchie auf Wehrschatzmarken als Grenzpfeiler der deutschen Kultur. Durch die Bedeutung während des Gebirgskriegs wurde diese Tendenz noch verstärkt und der Ortler in der Kriegspropaganda instrumentalisiert. Eine Darstellung der Ortlergeschütze vom österreichischen Maler Max von Poosch (1872–1968) mit dem Titel „Ortlerwacht“ wurde in Nachdrucken in der ganzen Monarchie verbreitet, das Kriegsfürsorgeamt brachte Postkarten des Ortlers heraus. Auch in der Literatur wurde die Ortlerfront glorifiziert, Georg von Ompteda etwa beschrieb die Besatzung der Ortlerstellung als „Die letzten Goten vom Vesuv“. Das Bozner Bergsteigerlied aus dem Jahr 1926 greift während der offiziellen Nichtexistenz Südtirols in der Zeit des Faschismus die symbolische Bedeutung des „König Ortler“ als westliche Begrenzung des Landes auf. Ab Ende des 19. Jahrhunderts rückte der Ortler in den Fokus der Fremdenverkehrswerbung und wurde als Werbeträger für verschiedenste Produkte, wie etwa Liebigs Fleisch-Extract oder Milka-Schokolade eingesetzt. Bis heute werden etwa Speck und Käse unter dem Namen Ortler vermarktet. Literatur Wolfgang Jochberger, Südtiroler Kulturinstitut (Hrsg.): Ortler. Der höchste Spiz im ganzen Tyrol. Athesia, Bozen 2004, ISBN 88-8266-230-6. Peter Holl; Deutscher Alpenverein, Österreichischer Alpenverein, Alpenverein Südtirol (Hrsg.): Alpenvereinsführer Ortleralpen. 9. Auflage. 2003, ISBN 3-7633-1313-3, S. 196–227, Google Books. Moritz Erwin von Lempruch, Helmut Golowitsch (Hrsg.): Der König der deutschen Alpen und seine Helden. Ortlerkämpfe 1915–1918, ergänzt durch Beiträge von Mitkämpfern sowie von Peter Brandl. Buchdienst Südtirol Kienesberger, Nürnberg 2005, ISBN 3-923995-28-8. Reinhold Messner: König Ortler. Tappeiner, Lana 2004, ISBN 88-7073-349-1. Wolfgang Pusch: Ortler – Königspitze – Zebrù. Rother, München 2004, ISBN 3-7633-7027-7. Weblinks Einzelnachweise Berg in den Ortler-Alpen Berg in Europa Berg in Südtirol Italienfront (Erster Weltkrieg) Stilfs Nationalpark Stilfserjoch
160005
https://de.wikipedia.org/wiki/Schabrackenhy%C3%A4ne
Schabrackenhyäne
Die Schabrackenhyäne (Parahyaena brunnea oder Hyaena brunnea), auch Braune Hyäne oder Strandwolf genannt, ist eine Raubtierart aus der Familie der Hyänen (Hyaenidae). Sie wiegt rund 40 Kilogramm und ist die einzige Hyänenart, deren Fell kaum gemustert oder gestreift ist. Sie lebt in trockenen Gebieten im südlichen Afrika. Sie ist überwiegend nachtaktiv und hat ein komplexes Sozialverhalten: Sie lebt in „Clans“ genannten Gruppen, deren Mitglieder aber allein auf Nahrungssuche gehen. Ihre Nahrung besteht vorwiegend aus dem Aas größerer Tiere, daneben jagt sie auch selbst kleinere Tiere. Merkmale Körperbau und Fell Die Schabrackenhyäne ist von der Größe her die mittlere der drei Eigentlichen Hyänen (Hyaeninae), sie ist größer als die Streifenhyäne, aber kleiner als die Tüpfelhyäne. Die Kopf-Rumpf-Länge beträgt 110 bis 136 Zentimeter, wozu noch ein 19 bis 27 Zentimeter langer Schwanz kommt. Die Schulterhöhe beträgt bei Männchen rund 70 Zentimeter und bei Weibchen rund 74 Zentimeter. Das Gewicht variiert zwischen 28 und 47,5 Kilogramm und beträgt durchschnittlich 40 Kilogramm. Es ist ein moderater Geschlechtsdimorphismus vorhanden: die Männchen sind etwas länger und schwerer als die Weibchen, aber niedriger. Wie bei allen Hyänen sind die Vorderbeine länger und kräftiger als die Hinterbeine, wodurch der Rücken nach hinten abfällt. Die Vorder- und die Hinterpfoten enden jeweils in vier Zehen mit stumpfen, nicht einziehbaren Krallen. Wie alle Hyänen sind sie digitigrad (Zehengänger). Das lange Fell erweckt einen zotteligen Eindruck, auch der Schwanz ist buschig. Diesem langen Fell verdanken die Tiere ihren deutschen Namen. Von den Schultern an verlaufen längere Haare entlang des Rückens bis zum Schwanz; sie bilden eine Mähne, die aufgerichtet werden kann. Als einzige Hyänenart ist die Schabrackenhyäne nicht gemustert oder gestreift, ihr Fell ist überwiegend einfarbig dunkelbraun. Lediglich der Nacken und die Schultern sind kontrastierend dazu gelblich beige gefärbt, und entlang der Beine verlaufen einige dunkle und helle Querstreifen. Schabrackenhyänen haben einen gut entwickelten Analbeutel, dessen Sekret zur Reviermarkierung eingesetzt wird. Die Weibchen haben zwei bis sechs Paar Zitzen, allerdings sind nur die hinteren beiden Paare funktional. Den Männchen fehlt wie bei allen Hyänen der Penisknochen. Im Gegensatz zu Streifen- oder Tüpfelhyänen zeigen Schabrackenhyänen keine Auffälligkeiten im Bau des Genitaltraktes. Kopf und Zähne Der Bau des Schädels und der Zähne der Schabrackenhyäne gleicht dem der anderen Eigentlichen Hyänen. Der Nacken und die Schultern sind massiv und kräftig. Der Kopf ist rundlich, die unbehaarte Schnauze breit gebaut. Die Augen haben als Anpassung an die nachtaktive Lebensweise ein Tapetum lucidum, die Ohren sind lang und zugespitzt. Die Kiefer sind kräftig, die starke Kiefermuskulatur, insbesondere der Musculus temporalis, hat einen hohen Sagittalkamm am Schädel als Ursprungsstelle. Die Zahnformel lautet I 3/3 – C 1/1 – P 4/3 M 1/1, insgesamt hat die Schabrackenhyäne also 34 Zähne. Die Schneidezähne sind unauffällig, die Eckzähne sind etwas verlängert. Die an das Aufbrechen von Knochen angepassten Prämolaren sind stark vergrößert und kräftig gebaut. Sie weisen eine komplexe Struktur des Zahnschmelzes auf, was ein Zerbrechen der Zähne verhindert. Vor allem der dritte obere und der dritte untere Prämolar werden für das Aufbrechen von Knochen verwendet. Der vierte obere Prämolar und der untere Molar sind wie bei allen Landraubtieren zu Reißzähnen entwickelt und bilden ein Scherengebiss; diese Zähne sind klingenförmig gebaut und dienen dem Zerschneiden von Fleisch. Verbreitung und Lebensraum Schabrackenhyänen leben ausschließlich im südlichen Afrika und haben somit das kleinste Verbreitungsgebiet aller Hyänenarten. Es reicht vom südlichen Angola und dem südlichen Simbabwe über weite Teile Namibias und Botswanas bis nach Südafrika. Die Schwerpunkte der Populationsverteilung liegen vermutlich in der mittleren und südlichen Kalahari sowie entlang der Küste Namibias. Seit dem 18. Jahrhundert ist ihr Verbreitungsgebiet deutlich geschrumpft, so sind sie im Süden der ehemaligen Kapprovinz ausgestorben. Sichtungen einzelner Tiere könnten allerdings ein Hinweis sein, dass sie diese Region langsam wieder besiedeln – sofern es nicht einzelne, wandernde Tiere sind. Sie bewohnen eine Reihe von trockenen Habitaten und kommen beispielsweise in Wüsten und Halbwüsten, aber auch in Buschland und Savannen vor. Sie bevorzugen dabei Gebiete mit weniger als 100 Millimeter bis 650 Millimeter Jahresniederschlag. Sie sind relativ selten, die Populationsdichten betragen 1 bis 3 Tiere auf 100 km². Lebensweise Aktivitätszeiten und Sozialverhalten Schabrackenhyänen sind überwiegend nachtaktive Tiere, lediglich bei kühlem, bewölktem Wetter begeben sie sich manchmal auch tagsüber auf Nahrungssuche. Es gibt zwei Aktivitätszeiten: von 19:30 bis 24:00 Uhr und von 2:30 bis 6:00 Uhr, dazwischen halten sie eine kurze Rast. Mit Radio-Halsbändern ausgestattete Tiere waren im Schnitt 42,6 % von 24 Stunden und 80,2 % in der Zeit von 18:00 bis 6:00 Uhr aktiv. Tagsüber schlafen sie in einem Erdloch oder unter einem Busch. Die Tiere leben in stabilen Gruppen, die „Clans“ genannt werden. Allerdings bilden nur rund zwei Drittel der Individuen eines Gebietes Clans, die übrigen leben als einzelgängerische Nomaden. Ein Clan umfasst 4 bis 14 Tiere, die Zusammensetzung kann regional variieren. Da die Weibchen häufig in ihrer Geburtsgruppe verbleiben, die Männchen diese jedoch verlassen müssen, bildet eine Gruppe miteinander verwandter Weibchen häufig den Kern eines Clans. In jedem Clan leben ein bis fünf ausgewachsene Weibchen, wenn es mehr werden, werden die überzähligen Weibchen von den anderen aus der Gruppe verjagt. In einigen Fällen bildet sich eine Hierarchie aus, die unter anderem in bevorzugtem Zugang zu Nahrungsressourcen zum Tragen kommt. Diese Rangordnung etabliert sich sowohl innerhalb der Männchen als auch innerhalb der Weibchen, das ranghöchste Männchen und das ranghöchste Weibchen sind gleichberechtigt. Ob sich eine Hierarchie bildet, hängt von der Populationsdichte und vom Fortpflanzungsverhalten ab. Bei geringer Populationsdichte, das heißt besserem Nahrungsangebot, ist dies nicht notwendig, ebenso wenig wenn die Jungtiere regelmäßig von clanfremden Männchen gezeugt werden. Clans bewohnen große, dauerhafte Reviere. Die Reviergröße korreliert mit dem Nahrungsangebot und variiert zusätzlich je nach Jahreszeit. In der südlichen Kalahari beträgt die durchschnittliche Reviergröße 308 km², in der mittleren Kalahari ist sie mit 170 km² deutlich kleiner. An der Küste Namibias mit dem reichen Angebot an Robben kann die Größe nur 32 km² betragen, während sie im Landesinneren auf über 1000 km² steigen kann. Die Reviere überlappen sich um nicht mehr als 20 %. Da sich Schabrackenhyänen weitgehend allein fortbewegen, ist die wichtigste Kommunikationsform die olfaktorische Kommunikation, das heißt mittels Gerüchen. Die Reviere werden mit Drüsensekreten markiert, dabei streifen die Tiere ihren Analbeutel über einen Grasbüschel oder ein ähnliches Objekt, wobei eine intensiv riechende weiße Flüssigkeit und eine schwächere schwarze Flüssigkeit abgesondert werden. Zwar markieren alle Hyänenarten ihre Reviere mit Analbeutelsekret, die zwei verschiedenen Sekrete kommen aber nur bei Schabrackenhyänen vor. Die weiße Flüssigkeit kann selbst von Menschen noch nach 30 Tagen gerochen werden, während die schwarze nach ein paar Stunden nicht mehr wahrnehmbar ist. Vermutlich dient die schwarze Flüssigkeit dazu, Hinweise auf den Zeitpunkt der Absonderung zu geben und so andere Clanmitglieder auf die eigene Anwesenheit hinzuweisen. Damit kann verhindert werden, dass mehrere Tiere das gleiche Gebiet nach Nahrung absuchen. Die langanhaltende weiße Flüssigkeit macht clanfremde Tiere auf das Revier des Clans aufmerksam. Neben den Drüsensekreten legen sie auch Kotgruben an, die ebenfalls den Artgenossen Hinweise auf die eigene Anwesenheit geben. Kotgruben befinden sich häufig bei markanten Landschaftspunkten. Treffen sich zwei Tiere aus demselben Clan, nachdem sie getrennt waren, zeigen sie wie alle Eigentlichen Hyänen ein typisches Begrüßungsverhalten. Sie gehen in die Hocke und präsentieren dem anderen ihren Analbeutel, der ihn beschnuppert. Dabei legen sie die Ohren an und ziehen die Lippen zurück, sodass die Zähne sichtbar werden. Diese Begrüßungen können bis zu fünf Minuten dauern. Im Bedrohungsfall richten die Tiere ihre Mähne auf, wodurch sie größer erscheinen. Kämpfe mit Artgenossen werden durch häufig ritualisierte Nackenbisse ausgetragen. Diese Kämpfe können sich sowohl zwischen clanfremden Tieren als auch zwischen Mitgliedern desselben Clans zur Festigung der Hierarchie abspielen. Das überlegene Tier packt dabei den Nacken des anderen mit den Schneide- und Eckzähnen und schüttelt es wild hin und her. Schabrackenhyänen sind leise Tiere, die wenig Laute von sich geben. Bekannt sind Kreischlaute, die Unterwerfung ausdrücken, und ein bedrohliches Knurren, das aggressive Haltungen begleitet. Weithin schallende oder lachende Laute, wie sie von der Tüpfelhyäne bekannt sind, lassen diese Hyänen nicht erklingen. Nahrung Schabrackenhyänen sind vorwiegend Aasfresser, ernähren sich aber auch von selbst erlegten Tieren und pflanzlichem Material. Hauptbestandteil ihrer Nahrung macht das Aas größerer Tiere aus. Dank ihres kräftigen Gebisses können sie auch dicke Knochen zerbrechen, ihr effizientes Verdauungssystem verwertet alle Körperteile eines Tiers mit Ausnahme der Haare, der Hufe und der Hörner. Die im Aas enthaltenen bakteriellen Gifte beeinträchtigen weder ihr Verdauungs- noch ihr Immunsystem. An selbst gejagten Tieren fressen sie beispielsweise junge Springböcke, Springhasen, Löffelhunde und bodenbrütende Vögel. Sie sind keine geschickten Jäger, ihr Jagdstil ist unspezialisiert, die meisten Jagden scheitern. Insekten, Straußeneier und anderes ergänzen ihren Speiseplan. Im Gegensatz zu den größeren Tüpfelhyänen können sie diese Eier mit ihren Kiefern aufbrechen. Die Hyänen der namibischen Küstenregion haben eine eigene Ernährungsform entwickelt: Sie fressen vorwiegend die Jungtiere des Südafrikanischen Seebären, die sie im Gegensatz zu den übrigen Tieren auch mit beträchtlichem Erfolg selbst jagen. Sie leben in teilweise sehr trockenen Regionen – in der Kalahari ist acht Monate im Jahr kein Wasser verfügbar – und brauchen nicht zu trinken. Wenn Wasser verfügbar ist, trinken sie aber täglich. Ansonsten decken sie ihren Flüssigkeitsbedarf mit verschiedenen Kürbisgewächsen wie Tsama-Melonen, Gemsbok-Gurken oder Hookeri-Melonen. Sie gehen einzeln auf Nahrungssuche und legen dabei große Distanzen zurück. In Namibia messen die nächtlichen Streifzüge 15 bis 47 Kilometer, in der Kalahari können es bis zu 54 Kilometer sein. Dabei bewegen sie sich auf Zick-Zack-Routen fort und verlassen sich vorwiegend auf ihren Geruchssinn, um Nahrung aufzuspüren. Bei größeren Kadavern können sich mehrere Tiere versammeln und friedlich nebeneinander fressen. In der Regel fressen sie das Aas an Ort und Stelle, allerdings werden Teile größerer Kadaver manchmal im hohen Gras oder unter Büschen versteckt. Diese Verstecke werden mit Drüsensekret markiert und in den nächsten Tagen immer wieder aufgesucht. Es gab eine Beobachtung, bei der eine Schabrackenhyäne ein leeres Straußennest mit 26 Eiern fand. Sie transportierte in den nächsten vier Stunden 14 Eier weg und lagerte sie 150 bis 600 Meter vom Nest entfernt. Währenddessen fraß sie nur drei Eier. Fortpflanzung Das Paarungsverhalten der Schabrackenhyänen ist variabel. Manchmal paaren sich die Weibchen nur mit nomadischen Männchen, die im Gebiet des Clans ohne eigenes Revier und einzelgängerisch herumziehen. In anderen Fällen übernehmen die in den Clan eingewanderten Männchen diese Rolle. Die Bindung der eingewanderten Männchen bleibt lose und hält selten länger als drei Jahre. Die Gründe für diese Abwechslung sind nicht genau bekannt. Möglicherweise hängt sie mit dem Nahrungsangebot zusammen: Die Paarung mit nomadischen Männchen findet vorwiegend in der Trockenzeit statt, wenn das Nahrungsangebot gering ist und sich die Streifgebiete ausdehnen, kann es schwierig sein, den Kontakt mit anderen Clanmitgliedern aufrechtzuerhalten. Die Paarung kann das ganze Jahr über erfolgen. Nach einer rund 96-tägigen Tragzeit bringt das Weibchen meist zwei oder drei Jungtiere zur Welt, die Zahl kann von eins bis fünf variieren. Neugeborene kommen mit geschlossenen Augen zur Welt, ihre Fellfärbung gleicht der der ausgewachsenen Tiere. Sie verbringen ihre ersten Lebenswochen in einem Erdbau. In manchen Regionen hat jedes Weibchen einen eigenen Bau, in der mittleren Kalahari hingegen gibt es Gemeinschaftsbaue, in denen sich die Jungtiere von verschiedenen Weibchen und verschiedenen Alters aufhalten. Manchmal säugen auch die Weibchen andere Jungtiere, sie bevorzugen jedoch stets das eigene. Mit acht Tagen beginnen sich ihre Augen zu öffnen, in den ersten drei Lebensmonaten verlassen sie den Bau bestenfalls in Begleitung eines Erwachsenen. Ab dem vierten Lebensmonat beginnen sowohl die Mutter als auch andere Clanmitglieder, Futter zu den Jungtieren zu bringen. Dabei wird das Futter getragen und nicht wieder hochgewürgt. Mit rund zehn Monaten beginnen die heranwachsenden Tiere, längere Streifzüge außerhalb des Baus zu unternehmen, mit spätestens 15 Monaten verlassen sie den mütterlichen Bau für immer. Wie bei allen Eigentlichen Hyänen dauert die Stillzeit relativ lang, endgültig entwöhnt werden die Jungtiere mit 12 bis 16 Monaten. Ab 22 Monaten beteiligen sich die heranwachsenden Tiere daran, Nahrung zu den Jungtieren zu bringen, mit rund 30 Monaten sind sie ausgewachsen. Mit etwa 36 bis 40 Monaten müssen die Männchen und manchmal auch die Weibchen ihren Geburtsclan verlassen. Im gleichen Alter kann die erste Fortpflanzung erfolgen. Im günstigsten Fall bringt das Weibchen alle zwölf Monate Nachwuchs zur Welt, dieses Geburtsintervall kann sich jedoch auf 41 Monate ausdehnen. Das bekannte Höchstalter eines Tieres in freier Wildbahn betrug zwölf Jahre, in Gefangenschaft kann die Lebenserwartung rund 29 Jahre betragen. Interaktion mit anderen Arten Schabrackenhyänen sind gegenüber Löwen und Afrikanischen Wildhunden unterlegen und ziehen sich vor diesen Tieren zurück. Sie vermeiden auch den Kontakt zu Tüpfelhyänen und legen in Gebieten, wo sie sympatrisch vorkommen, ihre Baue nicht wie diese entlang der Flüsse, sondern in trockeneren Gegenden an. Gegenüber Leoparden, Geparden und Karakalen sind sie dominant. Ein starker Nahrungskonkurrent ist der Schabrackenschakal, der sich häufig ebenfalls von Jagdüberresten anderer Tiere ernährt. Zwischen diesen beiden Arten kann es mitunter zu heftigen Kämpfen kommen. Auch Geier können Nahrungskonkurrenten sein. An Ektoparasiten sind die Flohart Echidnophada larina und eine bislang unbekannte Lausfliegenart, an Endoparasiten der Bandwurm Taenia hyaenae und der Fadenwurm Spirocerca lupi bekannt. Schabrackenhyänen und Menschen Schabrackenhyänen haben sehr niedrige Populationsdichten und sind darum selten. Ihre Körperteile werden manchmal zu medizinischen Zwecken oder bei Ritualen verwendet, allerdings weit seltener als bei der Streifenhyäne. Im südlichen Afrika haben sie immer noch einen schlechten Ruf und gelten als feige oder dumme Tiere. Ihnen wird häufig unterstellt, Haustiere zu reißen, auch weil sie manchmal beim Fressen von Kadavern beobachtet werden. Zwar kann es gelegentlich vorkommen, dass Schabrackenhyänen Haustiere töten und fressen, das geschieht aber nicht in einem den Gesamtbestand gefährdenden Ausmaß. Dessen ungeachtet werden sie von Viehzüchtern erschossen, vergiftet oder mit Hunden bejagt. Weitere Bedrohungen sind die Verkleinerung und Zerstückelung ihres Lebensraumes sowie der Straßenverkehr. Diese Gefahr wird dadurch gesteigert, dass Hyänen häufig direkt auf der Straße die Kadaver von überfahrenen Tieren fressen und dabei unvorsichtig gegenüber Fahrzeugen sind. Gegenüber Menschen scheinen Schabrackenhyänen nicht aggressiv zu sein, über unprovozierte Angriffe wurde bisher nichts bekannt. Sie kommen in einer Reihe von Schutzgebieten in Südafrika, Namibia und Botswana vor. Die Gesamtpopulation wird auf 5000 bis 8000 Tiere geschätzt, aufgrund der nachtaktiven und weiträumigen Lebensweise könnte die Zahl aber höher sein als bisher bekannt. Die IUCN listet die Art bei sinkenden Populationszahlen als „potenziell gefährdet“ (near threatened). Systematik Als wissenschaftlicher Name der Schabrackenhyäne finden sich zwei Bezeichnungen: Parahyaena brunnea und Hyaena brunnea. Vom Erstbeschreiber, Carl Peter Thunberg, wurde sie in die Gattung Hyaena und damit in die gleiche Gattung wie die Streifenhyäne (Hyaena hyaena) eingeordnet. Hendey stellte 1974 die enge Verwandtschaft beider in Zweifel, er vermutete, dass die Schabrackenhyäne näher mit der ausgestorbenen Gattung Pachycrocuta verwandt sei und ordnete sie deshalb als deren Untergattung Parahyaena ein. Von Werdelin und Solounias wurde diese Trennung 1991 bestätigt, sie erhoben Parahyaena aber in den Rang einer eigenen Gattung. Aufgrund morphologischer und molekularer Daten gilt heute als gesichert, dass die Streifenhyäne der nächste lebende Verwandte der Schabrackenhyäne ist und die beiden Arten somit Schwestertaxa bilden. In manchen Taxonomien wird die Zugehörigkeit zur Gattung Hyaena aufgrund dieser Verwandtschaft aufrechterhalten, beispielsweise von W. C. Wozencraft. Andere Werke berufen sich auf morphologische Unterschiede und führen die Schabrackenhyäne in der eigenen Gattung Parahyaena. Unterschiede liegen unter anderem im Bau der Prämolaren und anderen Details des Schädelbaus – so ist bei Parahyaena der erste obere Prämolar kleiner, der Gaumen reicht weiter nach hinten und Atlas und Axis überlappen sich länger. Die Trennung der beiden Arten erfolgte vor rund 4,2 Millionen Jahren. Die Schabrackenhyäne selbst ist monotypisch, das heißt, es werden keine Unterarten anerkannt. Literatur Kay E. Holekamp und Joseph M. Kolowski: Family Hyaenidae (Hyenas). In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 1: Carnivores. Lynx Edicions, 2009, ISBN 978-84-96553-49-1, S. 234–261. M. G. L. Mills: Hyaena brunnea. In: Mammalian Species 194 (1982), S. 1–5. PDF Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999 ISBN 0-8018-5789-9. Einzelnachweise Weblinks Brown Hyaena (Parahyaena brunnea) bei Hyaena Specialist Group Brown Hyena Research Project Hyänen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Werner%20Best%20%28NSDAP%29
Werner Best (NSDAP)
Karl Rudolf Werner Best (* 10. Juli 1903 in Darmstadt; † 23. Juni 1989 in Mülheim an der Ruhr) war ein deutscher Jurist, Polizeichef, SS-Obergruppenführer und Politiker der NSDAP. Als „Theoretiker, Organisator und Personalchef der Gestapo“ hatte er eine wichtige Funktion bei der Etablierung der Gestapo und der Gründung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Die Konzeption und die erstmalige Aufstellung sogenannter Einsatzgruppen geht auf ihn zurück. Innerhalb der SS galt er zeitweise als „führender Großraumtheoretiker“. Bekannt wurde er als Planer eines nicht erfolgten Putsches der NSDAP (1931), später dann als Stellvertreter von Reinhard Heydrich in der Führung des SD (1934–1940) sowie als deutscher Statthalter im besetzten Dänemark (1942–1945). Weniger bekannt ist seine Tätigkeit als hoher Offizier der Wehrmacht in der deutschen Militärverwaltung des besetzten Frankreich (1940–1942). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in Dänemark als Kriegsverbrecher verurteilt. Nach seiner Entlassung spielte er eine wichtige Rolle bei dem erfolgreichen Versuch, durch verdeckte Einflussnahme auf Prozesse und Gesetzgebung in der Bundesrepublik die Strafverfolgung von NS-Tätern zu erschweren. Einer Ahndung seiner eigenen Verbrechen konnte er sich weitestgehend entziehen. Er starb kurz vor der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn. Herkunft und Prägung Werner Best wurde 1903 als ältester Sohn des Postinspektors Georg Konrad Best und dessen Frau Karoline, geborene Noll/Nohl, in Darmstadt geboren. Sein Bruder Walter Best folgte 1905. Die Eltern zogen 1905 von Darmstadt nach Liegnitz und 1912 nach Dortmund. Der Vater starb als Oberleutnant nach einer schweren Verwundung zu Beginn des Ersten Weltkrieges in Frankreich. Daraufhin zog die Mutter mit den beiden Kindern nach Gonsenheim bei Mainz. Best besuchte das neue humanistische Gymnasium bis zum Abitur 1921. Werner heiratete 1930 in Mainz Hildegard Regner, die Tochter des Zahnarztes Josef Regner. Sie hatten fünf Kinder. Jugend Best war seit frühester Jugend dem Lager des völkischen Nationalismus in Deutschland verbunden. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gründete er in Mainz die erste Ortsgruppe des Deutschnationalen Jugendbundes und wurde in der Deutschnationalen Volkspartei aktiv. Noch als Gymnasiast auf dem Neuen Mainzer Gymnasium war er Gründungsmitglied der Mainzer Ortsgruppe des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. Der frühe Verlust des Vaters durch den Krieg und das Erlebnis der alliierten Rheinlandbesetzung prägten den jungen Best entscheidend. Überregional bekannt wurde er erstmals, als er als Schüler einen Französischwettbewerb gewann und sich dann ausdrücklich weigerte, den Preis aus den Händen eines französischen Besatzungsoffiziers entgegenzunehmen. Studium und Ruhrkampf Von 1921 bis 1925 studierte Best Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main, Freiburg, Gießen und Heidelberg. In dieser Zeit wurde er auch Mitglied des stark antisemitischen Deutschen Hochschulringes, wo er erst in die Führung des Frankfurter Ringes aufstieg und dann in den „Führerrat“ des reichsweiten Gesamtverbandes. Innerhalb des Verbandes gehörte er zur radikal „rassenbiologisch orientierten“ Richtung, die sich mit ihren Positionen – wie etwa in der Ablehnung von Juden als Mitgliedern – gegenüber den gemäßigteren Strömungen durchsetzte, die einzelne Ausnahmen zulassen wollten. Politische Aktivitäten im Ruhrkampf und kritische Distanz zur jungen NSDAP Gegen die französisch-belgische Ruhrbesetzung 1923 engagierte sich Best parallel zu Studium und Verbandsarbeit öffentlich und im Untergrund. Dabei unterstützten staatliche Stellen, wie die Reichszentrale für Heimatdienst des Reichsinnenministeriums, ihn und seinen Verband durch lockere Koordinierung der Tätigkeit und unregelmäßige Geldleistungen. Als Leiter des sogenannten Rheinlandamtes des Deutschen Hochschulringes organisierte Best Veranstaltungen, schrieb für die rechtsgerichtete Mainzer Tageszeitung, entwarf und veröffentlichte Denkschriften und reiste zu völkischen Jugendorganisationen an westdeutschen Universitäten, wodurch er weitverzweigte Kontakte knüpfte. 1923 meldete sich Best in den Wintersemesterferien als sogenannter Zeitfreiwilliger zur Reichswehr, um an einem militärischen Schnellkursus teilzunehmen. Zwar nahm er nicht selbst an Sabotageakten teil, trat aber für den Übergang zum bewaffneten Kampf gegen die Franzosen ein. Einen neuen Krieg hätte er in Kauf genommen. Anlässlich einer Demonstration gegen den von Frankreich unterstützten rheinischen Separatismus vor dem Gebäude der Mainzer Notgelddruckerei wurde er verhaftet, für eine Woche inhaftiert und nach der Freilassung in Abwesenheit zu 25 Tagen Gefängnis verurteilt. Der im rechtsradikalen Lager langsam bekannter werdenden NSDAP stand Best zu dieser Zeit noch kritisch gegenüber, da Adolf Hitler den Ruhrkampf an der Seite der Reichsregierung aus taktischen Gründen ablehnte. Verhaftung und Verurteilung durch die französischen Besatzungsbehörden 1924 wurde Best von den französischen Besatzungsbehörden erneut inhaftiert, entging durch Glück jedoch einer Anklage wegen Spionage und konspirativer Unterstützung von Sabotagetätigkeiten, die zur Todesstrafe hätte führen können. Er wurde lediglich wegen Mitgliedschaft im Hochschulring und Waffenbesitzes – er hatte einige Schlagwaffen für Straßenkämpfe beschafft – zu einer Strafe von drei Jahren Haft und Zahlung von 1.000 Mark verurteilt. Ein Gnadengesuch zu stellen hatte Best abgelehnt, was sein Ansehen im völkischen Lager steigerte. Da seine Mutter jedoch ein Gnadengesuch einreichte und die Reichsregierung während der Londoner Reparationsverhandlungen eine allgemeine Amnestie für die „Ruhrkämpfer“ zu erreichen suchte, wurde Best im September 1924 nach etwa sechs Monaten Haft entlassen. Es enttäuschte ihn, dass die Reichsregierung den passiven Widerstand gegen die Besatzung aufgab. Weder war es gelungen, die Ruhrbesetzung zu beenden, noch änderte sich etwas an der alliierten Rheinlandbesetzung. Examina und rechtsintellektuelle Vertiefung In der folgenden Konsolidierungsphase der Weimarer Republik konzentrierte Best sich neben seiner politischen Arbeit nun vermehrt auf sein Studium, das er als „fleißiger und ehrgeiziger Student“ 1925 erfolgreich mit dem Examen abschloss. 1927 wurde er mit einer Dissertation Zur Frage der gewollten Tarifunfähigkeit zum Dr. jur. promoviert. Sein Referendariat absolvierte er an hessischen Gerichten, auf Verwaltungsstellen und in Rechtsanwaltskanzleien mit sehr positiven Benotungen als einer der „besten Studenten seines Prüfungsjahrganges“. Daneben versuchte Best, seine publizistische Arbeit von reiner Propaganda zunehmend zu theoretischer Arbeit zu vertiefen, um sich im rechten Lager auch als ernsthafter Autor zu etablieren. Er knüpfte freundschaftliche Gesprächskontakte zu Intellektuellen wie Ernst Jünger und Edgar Julius Jung und veröffentlichte verschiedene Aufsätze in völkischen Zeitschriften. Für den von Ernst Jünger herausgegebenen Sammelband Krieg und Krieger verfasste er einen völkerrechtlich orientierten Aufsatz mit dem Titel Der Krieg und das Recht, in dem er gegen die aus seiner Sicht westlich utopistische Ablehnung des Krieges den Krieg als nicht zu ändernde und zu bejahende Naturgegebenheit verteidigte. Best nannte seine diesbezügliche Grundhaltung „heroisch-realistisch“, eine Formulierung, die Jünger aufgriff und in seinem Kreis weiterverwendete. Politische Karriere im Volksstaat Hessen Berufliche Etablierung und Aufstieg in der NSDAP 1929 wurde Best Gerichtsassessor am Amtsgericht in Gernsheim. 1930 heiratete er in Mainz Hildegard Regner, mit der er fünf Kinder hatte. Das Ehepaar zog nach Darmstadt und Best trat noch zum 1. November 1930 in die NSDAP ein (Mitgliedsnummer 341.338). Dieser Schritt erschien ihm nun folgerichtig, da ihm zwar nach eigenem Bekunden die „Massenwerbung der NSDAP und ihr ganzer Stil“ nicht gefielen, aber ihr Erfolg bei Wahlen die politische „Möglichkeit aufzeigte, dass auf diesem Weg etwas erreicht werden konnte“. Hinzu kam, dass das Programm der NSDAP „praktisch mit allen Programmen in der nationalen oder völkischen Bewegung übereinstimmte“. Es war eine Entscheidung für eine neue Kampfform, nicht für ein neues Kampfziel. Da die NSDAP in dieser Zeit im Volksstaat Hessen zwar einen großen Mitgliederzuwachs vermelden konnte, jedoch nur wenig geeignetes und akademisch gebildetes Führungspersonal vorzuweisen hatte und es Best zusätzlich gelang, ihm persönlich bekannte Jungakademiker oder Freunde aus dem Hochschulring in die Partei mitzubringen, verfügte er von Anfang an innerhalb der hessischen NSDAP über eine gewisse Hausmacht und gehörte als ihr „Rechtsberater“ seit seinem Eintritt zur Leitung des NSDAP-Gaues Hessen-Darmstadt. Bereits 1931 bezeichnete ihn die Frankfurter Zeitung als „geistigen Führer der Nationalsozialistischen Partei in Hessen“. Sein erstes und flüchtiges Zusammentreffen mit Hitler (noch ohne persönliches Kennenlernen) auf einer Tagung der Harzburger Front empfand Best dagegen als enttäuschend: Auftritt und Ansprache Hitlers in einem kleinen und elitären Kreis beeindruckten ihn nicht. Fern von einem Erweckungserlebnis sah er in Hitler eher einen massentauglichen „Propheten“ als einen „Staatsmann“ und in seiner Bewegung vor allem die Chance, eine „von den Besten der Nation, von den echten Führern regierte völkische Republik“ zu erreichen. In der Folgezeit versuchte Best in Aufsätzen und Zeitungsartikeln, weltanschauliche Positionen der NSDAP klarer zu formulieren und zu vertiefen. Dabei setzte er unbekümmert eigene Akzente. Er bestritt in Auseinandersetzung mit Kritik aus Kreisen der katholischen Amtskirche, dass die NSDAP generell von der absoluten Minderwertigkeit von Juden überzeugt sei. Stattdessen argumentierte er: Die NSDAP gehe davon aus, dass Völker die „Urphänomene des Menschentums“ und von außen nicht zu hierarchisieren seien. Jedes Volk müsse seinen eigenen Interessen folgen, deswegen sei der Antisemitismus der NSDAP keine „Weltanschauung, sondern politische, wirtschaftliche und kulturelle Notwehr“. Best erläuterte weiter: „In Konflikten vertreten wir selbstverständlich die Lebensnotwendigkeiten unseres Volkes bis zur Vernichtung des Gegners aber ohne den Hass und die Verachtung, die jede absolut wertende Einstellung dem Gegner entgegenbringt“. Er zeigte sich überzeugt von einer von Juden ausgehenden Gefahr für die Deutschen: „Wir erkennen nur, dass bestimmte Völker und Wesensarten unser Volk schädigen und in seinem Dasein bedrohen, und wir setzen uns zur Wehr. Auch im Kampfe gegen das Judentum ist unser Ziel die Freiheit von der Überfremdung, reinliche Scheidung und Fremdenrecht für die Volksfremden“. Skandal um die Boxheimer Dokumente 1931 1931 errang die NSDAP im Volksstaat Hessen deutliche Stimmenzuwächse und Werner Best wurde als designierter Vorsitzender der Fraktion in den Landtag gewählt. Politisch hatte die Wahl in Hessen reichsweite Bedeutung, weil Reichskanzler Heinrich Brüning eine Zusammenarbeit mit der NSDAP prüfen wollte und in Hessen deswegen Koalitionsverhandlungen zwischen NSDAP und Zentrum eingeleitet wurden. Während dieser vielversprechenden Verhandlungen wurden die sogenannten Boxheimer Dokumente bekannt. In ihnen war – vor dem Hintergrund eines fiktiven kommunistischen Aufstands – ein Szenario für eine Machtübernahme der NSDAP entwickelt worden. Politische Gegner sollten verhaftet und ermordet werden. Diese von Werner Best verfassten „Dokumente“ waren innerhalb der Partei zuvor auf wenig Gegenliebe gestoßen, weil ihr drängender Ton gegenüber Hitler als anmaßend wahrgenommen wurde. Daher hatten sie zuvor keine praktische Relevanz gehabt, in der Öffentlichkeit konterkarierten sie nach der Veröffentlichung jedoch den „Legalitätskurs“ der NSDAP. Der NS-Landtagsabgeordnete Karl Wilhelm Schäfer hatte nach einem fraktionsinternen Streit mit Best die Dokumente aus Rache an die hessische Polizei weitergeleitet, die dem sozialdemokratischen Innenminister Wilhelm Leuschner unterstand. Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Best eingeleitet und die Presse informiert. Best wurde im Gefolge der öffentlichen Empörung von seinem Amt als Richter suspendiert. Seine bürgerliche Existenz war in Gefahr. Da das negative und besorgte Echo in den Medien der NSDAP ungelegen kam, drohte kurzzeitig auch ein Ende seiner politischen Karriere. Er fuhr deswegen persönlich nach München zu Hitler, um sich zu rechtfertigen. Der empfing ihn jedoch freundlich und verständnisvoll, sodass die von Best zusätzlich befürchteten parteiinternen Konsequenzen ausblieben. Hitler tadelte lediglich den ungünstigen Zeitpunkt des Öffentlichwerdens, während er die politische Härte und Entschlossenheit des jungen Juristen positiv vermerkte. Best hatte sich nun unverhofft auch in München bei Hitler und seiner Umgebung einen gewissen Namen gemacht. Das gegen ihn eingeleitete Untersuchungsverfahren wegen Hochverrats wurde im Oktober 1932 mit der Begründung eingestellt, die Pläne hätten sich nicht gegen die legale Regierung, sondern gegen etwaige kommunistische Revolutionäre in einer fiktiven Situation gerichtet. Mit Verweis auf die Boxheimer Dokumente wurde versucht, ein Verbot der NSDAP auf Reichsebene durchzusetzen. Mitglieder und Sympathisanten der NSDAP im Reichsinnenministerium konnten dies jedoch verhindern. Allerdings stellte sich Reichskanzler Brüning unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Reichswehr, die über das Bürgerkriegszenario besorgt war, stärker gegen die NSDAP. In Hessen kam daher keine Koalition von NSDAP und Zentrum zustande. Eintritt in die SS und Landtagsarbeit 1931 trat Best in die SS (SS-Nr. 23.377) ein. Ihr elitärer Korpsgeist – wesentlicher Unterschied zur damals noch sehr viel mächtigeren und auf die Massen abzielenden SA – sagte ihm zu. Die SS wurde ihm „in der Folgezeit in immer stärkerem Maße zur eigentlichen politischen Heimat“ und blieb es auch bis zum „Ende des Zweiten Weltkrieges“. Aufgrund des Boxheimer Skandals wurde Best nicht offiziell Fraktionsvorsitzender im Landtag, nahm aber informell die Führungsposition ein. 1932 wurde Best auch zum Kreisleiter der NSDAP im damals hessischen Mainz ernannt. Die Politik der NSDAP-Fraktion im Landtag gestaltete er für die demokratischen Parteien überwiegend destruktiv und bewusst konfrontativ, wobei er fortlaufend den Rücktritt der nach dem Verlust ihrer Mehrheit nur noch geschäftsführend amtierenden Regierung unter Bernhard Adelung forderte. Besonderes Interesse hatte die NSDAP-Fraktion an einer Entmachtung des sozialdemokratischen Innenministers Wilhelm Leuschner. Ein von Reichskanzler Brüning geförderter neuer Versuch, eine Koalition von NSDAP und Zentrum zu bilden, scheiterte erneut. Diesmal war es Hitlers Befürchtung, dass er in die Falle eines „Zähmungskonzepts“ laufen könnte. Machtergreifung in Hessen Erst nachdem Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, gelang es, die Regierung Adelung durch massiven Druck aus Berlin zur Entlassung Leuschners zu bewegen. Nach dem Erlass der Reichstagsbrandverordnung setzten polizeiliche Aktionen gegen die KPD auch in Hessen ein. Spätestens mit der Bestellung eines Reichskommissars – ausgewählt wurde der hessische Nationalsozialist Heinz Müller – kontrollierte die NSDAP die hessische Polizei, die sofort mit Verhaftungen und Hausdurchsuchungen gegen politische Gegner, insbesondere gegen Kommunisten, vorging. Best behauptete in der Öffentlichkeit, dass die Ergebnisse der Hausdurchsuchungen seine Boxheimer Dokumente im Kern bestätigt hätten: „Die bolschewistische Gefahr, über deren Ankündigung der weise Spießer noch vor zwei Jahren lächelte, ist im letzten Augenblick in ihrem ganzen Umfang enthüllt worden“. Best selbst wurde vom Reichskommissar vorläufig zum „Sonderkommissar für das Polizeiwesen“ ernannt. Etwa ein Drittel der höheren hessischen Polizeioffiziere wurde umgehend aus politischen Gründen entlassen und durch der NS-Regierung gewogene Beamte ersetzt. Am 13. März 1933 war Ferdinand Werner im Landtag zum ersten nationalsozialistischen Staatspräsidenten des Volksstaates gewählt und am 15. Mai 1933 vom Reichsstatthalter Jakob Sprenger zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Best wurde „Staatskommissar für das Polizeiwesen in Hessen“. Staatskommissar für das Polizeiwesen in Hessen In dieser Position setzte Best charakteristische Akzente. Während er tausende von SA- und SS-Angehörigen zu „Hilfspolizisten“ vereidigen ließ, achtete Best entschieden darauf, dass die SA stets unter dem Oberbefehl der Polizei stand und eigenständige Aktionen unterblieben. Für den politischen Terror nach der Machtübernahme griff er daher bereits früh auf staatliche Stellen zurück. Seine Personalpolitik gab unpolitischen Fachleuten den Vorzug vor den altgedienten NS-Aktivisten. Dabei nahm er auch den Konflikt mit dem Reichsstatthalter Sprenger in Kauf, der mit diesem Kurs und der Ernennung des neuen Chefs der uniformierten Polizei – Best wählte einen zentrumsnahen Polizeioberst – nicht einverstanden war. Relativ schnell löste Best die Hilfspolizei wieder auf, Teile von ihr überführte er jedoch in den normalen Polizeidienst Hessens. Dadurch steigerte er die „Loyalität im Polizeiapparat“ ihm und der neuen NS-Regierung gegenüber. Die politische Polizei, vorher Teil des Polizeipräsidiums Darmstadt, unterstellte er sich selbst und machte aus ihr dann am 28. März 1933 eine eigenständige Dienststelle unter der Bezeichnung „Staatskommissar für das Polizeiwesen in Hessen (Zentralpolizeistelle)“. Diese wurde drei Monate später in „Hessisches Staatspolizeiamt Darmstadt“ umbenannt. Damit war Hessen noch vor Preußen das erste Land im Reich, das über eine von der normalen Polizei organisatorisch geschiedene politische Polizei „als mit umfassenden Befugnissen ausgestattete Sonderbehörde“ verfügte. Ähnlich wegweisend war das auf seine Anordnung hin errichtete KZ Osthofen; dessen Aufbau begann bereits Anfang März 1933, wenige Tage nach dem KZ Nohra und noch vor dem KZ Dachau. Mordfall Schäfer und Ende der Karriere in Hessen Bests Karriere geriet in Gefahr, als er zunehmend in Konflikt mit dem hessischen Reichsstatthalter Sprenger kam. Dieser ernannte ihn mit Wirkung vom 10. Juli 1933 zwar noch zum „Landespolizeipräsidenten“ und übertrug ihm damit die Leitung der Polizeiabteilung im Innenministerium, allerdings war er damit einem Staatssekretär des Reichsstatthalters untergeordnet. Best jedoch leistete Widerstand gegen Versuche, geringqualifizierte NS-Parteigenossen in den Staats- und Polizeiapparat einzuschleusen, und verlangte auch von diesen das Bestehen entsprechender Fachprüfungen – eine Forderung, die den Interessen des stärker parteiorientierten Reichstatthalters widersprach. Die Machtprobe mit Sprenger verlor Best trotz seines starken Rückhalts im Polizeiapparat und in Teilen der hessischen NSDAP auf eine spektakuläre und undurchsichtige Weise: Am 18. Juli 1933 wurde im preußischen Frankfurt die Leiche von Wilhelm Schäfer gefunden, eben jenes NS-Landtagsabgeordneten, der die Boxheimer Dokumente weitergegeben und damit Bests Karriere stark gefährdet hatte. Offensichtlich war er unmittelbar zuvor durch Schüsse getötet worden, nachdem er bereits im März 1933 auf Befehl Bests in „Schutzhaft“ genommen und aus dieser seither auch nicht förmlich entlassen worden war. Der öffentliche Verdacht richtete sich naturgemäß unmittelbar gegen Best. Nach dem Krieg gab Best an, er habe Schäfer von drei Polizeibeamten über die Landesgrenze nach Frankfurt bringen lassen, wo diese ihn anordnungsgemäß freigelassen hätten. Für den Mord seien – ohne Bests Zutun und Wissen – wohl Leute Sprengers verantwortlich gewesen. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt 1948 legten hingegen nahe, dass der SS-Standartenführer Willy Herbert an der Sache beteiligt war, der Best unterstellte Polizeidirektor von Mainz. Sein Auto war kurz nach der Tatzeit von Zeugen in der Nähe des Tatorts gesehen worden. Reichsstatthalter Sprenger selbst fasste 1933 interne Ermittlungen gegenüber Ferdinand Werner so zusammen, dass Best den Mordauftrag gegeben und dabei Fehler in der Planung gemacht habe. Dadurch sei Best zu einer nicht mehr tragbaren Belastung geworden. Sprenger nutzte die Gelegenheit, den Konkurrenten loszuwerden, entließ Best und säuberte die hessische Polizei und NSDAP von dessen Unterstützern. Aufstieg im Sicherheitsapparat Tätigkeit für Heinrich Himmler und den SD Das Aus in Hessen erwies sich für Best allerdings als Gelegenheit zum weiteren Aufstieg. Der ihm bereits bekannte Heinrich Himmler – zu dieser Zeit Reichsführer SS und „Chef der Polizei in Bayern“ – holte ihn als Polizeifachmann zu sich nach München. Zuvor hatte Hitler wohl bereits die Entscheidung getroffen, die politischen Polizeien der Länder auf Reichsebene zu vereinheitlichen und parallel dazu jene Verbindung von SS und Polizei generell durchzusetzen, die Himmler als das „bayrische Modell“ bereits etabliert hatte. Dieses Modell galt es nun gegen den Widerstand der Justizbehörden und der allgemeinen Verwaltung durchzusetzen und auch gegen den Widerstand der SA, die über eine Reihe eigener Polizeipräsidenten in den Ländern verfügte. Himmler bot Best an, nach der angestrebten Entmachtung der anderen Länderpolizeien unter ihm Verwaltungschef einer reichsweiten Polizei zu werden. Da diese erst noch zu gründen war, teilte Himmler Best vorläufig dem noch eher nachrangigen Sicherheitsdienst (SD) zu. Beim SD war Best Reinhard Heydrich unterstellt und sollte Kontakte in die politischen Polizeien der anderen Länder knüpfen. Der Versuch, Kontrolle über die nichtbayerischen politischen Polizeien zu erlangen, verlief anfangs erfolglos. Erst Druck aus Berlin bewog die Reichsstatthalter allmählich, die Kontrolle an Himmler abzugeben. Wichtig für die Bereitschaft dazu war der spürbar aufkommende Konflikt mit der SA, deren Eigenständigkeit und Aggressivität von der NS-Führung, den Parteigliederungen und in den Ministerien gleichermaßen gefürchtet wurde. Als letzte Bastion wurde im April 1934 die mächtige „Preußische Geheime Staatspolizei“, nun unter der Führung von Reinhard Heydrich, faktisch dem Einflussbereich der SS zugeschlagen. Nach der Ernennung von Heinrich Himmler zum „Chef der Deutschen Polizei“ im Juni 1936 wurden die verschiedenen Politischen Polizeien der Länder reichseinheitlich unter der preußischen Bezeichnung „Gestapo“ zentralisiert. Beteiligung an den Röhm-Morden Im März 1934 wurde Best zum Organisationschef des SD ernannt, den er reorganisierte und in Süddeutschland auch operativ führte. Da Heydrich und Himmler inzwischen in Berlin amtierten, hatte Best in München eine große Machtstellung inne. Der SD legte sein Augenmerk vor allem auf Aktivitäten der SA, die er nach Berlin weitermeldete. Innerhalb der NS-Führung nahmen zu dieser Zeit Pläne Gestalt an, die SA gewaltsam zu entmachten. Dasselbe Schicksal war, nach der kritischen Marburger Rede von Vizekanzler Franz von Papen, auch den deutschnationalen Eliten zugedacht, die noch mit den Nationalsozialisten verbunden waren. Über SA-Führer, die als oppositionell eingeordnet wurden, und Angehörige der deutschnationalen „Reaktion“ wurden Listen erstellt. Die Listen der im Süden zu Ermordenden führte Best vermutlich persönlich. Am 27. Juni 1934 flog Best nach Berlin zu Heydrich, um die Einzelheiten der bevorstehenden Aktion zu besprechen, die später unter der irreführenden Bezeichnung Röhm-Putsch bekannt wurde: Einheiten der SS sollten den SD-Oberabschnittsleitern vor Ort unterstellt werden, die dann die Operation anzuführen hätten. Am 28. Juni 1934 war Best wieder in München und instruierte seine Untergebenen. Einen Tag später holte er in Augsburg die Leibstandarte SS Adolf Hitler am Bahnhof ab und begab sich mit ihr nach München. Vom bayerischen Innenministerium aus gab er gemeinsam mit Karl Oberg die Befehle, während seine SD-Offiziere ausschwärmten, um an der Spitze von SS-Kommandos die Verhaftungen durchzuführen. Best und Oberg ließen sich per Fernschreiber aus Berlin bestätigen, wer zu exekutieren war – insgesamt wurden in Süddeutschland so 28 Menschen ermordet. Dabei strich Best möglicherweise auch Personen von der Liste: Rechtsintellektuelle wie Ernst Jünger, Ernst Niekisch und Hans Zehrer sollen ihm ihr Leben zu verdanken haben; die Rettung des Münchner Polizeipräsidenten August Schneidhuber sei ihm dagegen nicht geglückt. Der mit Best befreundete konservative Intellektuelle Edgar Julius Jung wurde im Rahmen der Aktion bei Berlin ermordet. Unmittelbar nach den Morden ernannte Himmler Best zum SS-Obersturmbannführer. Er gehörte spätestens jetzt zum „engsten Führungskreis von SS und SD“. SD und SS konnten ihre Macht innerhalb der Polykratie des NS-Regimes weiter institutionell ausbauen. Der SD wurde zum einzigen Nachrichtendienst der Partei bestimmt und die SS als eigenständige Formation aus der SA herausgelöst. Himmler stieg auch formell zum obersten Herrn der politischen Polizeien auf. Innerhalb des preußischen Geheimen Staatspolizeiamts (Gestapa) wurde ein entsprechendes, ihm unterstelltes Koordinierungsbüro eingerichtet, sodass das Gestapa die Führung der politischen Polizeien in den Ländern übernahm. Diese Sonderrolle der SS als herausgehobene Aristokratie in Staat und NS-Bewegung kam Bests Anschauung entgegen, dass die „Besten der Nation“ als „weltanschauliches Elitekorps“ die Masse zu führen hätten. Rollen innerhalb der politischen Polizei Einfluss auf die Gestapo Im Sommer 1934 kam Best zusätzlich, ab Januar 1935 ausschließlich, zur preußischen Gestapo. Während Himmler als „Inspekteur“ der Gestapo die reichsweite Oberleitung hatte, war Heydrich Leiter des Gesamtamtes und der Hauptabteilung II (Politische Polizei). Best wurde stellvertretender Leiter des Amtes und Chef der Hauptabteilung I (Recht, Personal, Verwaltung). Innerhalb der Hierarchie stand er damit an dritter Stelle. Sein Einfluss auf die Herausbildung des Amtes war jedoch noch größer, da Himmler als Reichsführer SS und Heydrich als Chef des SD oft anderweitig in Anspruch genommen wurden. Innerhalb kurzer Zeit wurde Best so der „Organisator, Personalchef, Justitiar und Ideologe der Gestapo“. Schutzhaft als dauerhafte Vollmacht der Gestapo Best sorgte dafür, die Gestapo gegen Einhegungsversuche zu verteidigen. Er erarbeitete für die Gestapo eine eigene Ermächtigungsgrundlage und sorgte für die Beibehaltung der bisherigen Form der „Schutzhaft“. Dies war für das Vorgehen der Politischen Polizei äußerst wichtig, während Justiz- und Innenministerium die Schutzhaft Regeln unterstellen wollten. Das Reichsinnenministerium hatte in einem Erlass ausgeführt, dass die Schutzhaft nicht von der Polizei als „Ersatzstrafe“ neben der Gerichtsbarkeit zu verhängen sei. Rechtsanwälte seien generell von der Schutzhaft auszunehmen. Dahinter stand die Vorstellung, dass die Schutzhaft ein vorübergehendes Notinstrument sein sollte, das zukünftig durch andere Verfahren etwa über die klassische Rechtsprechung zu ersetzen sei. Gegen die Wehrlosigkeit des Einzelnen gegenüber der Schutzhaft, insbesondere gegen die Beschränkung des Zugangs zu Rechtsanwälten hatte sogar der Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen protestiert. Heydrich und Best dachten gänzlich anders darüber. Best begründete daher die Schutzhaft als polizeiliches und dauerhaftes Verfahren jenseits des Rechtes. Es orientiere sich allein an den Interessen von Staat und politischer Führung. Im Gegensatz zu den üblichen rechtsstaatlichen Vorstellungen gehe es nicht um formelles Recht, sondern um die Zweckmäßigkeit. Best forderte, die „für den Kampf gegen Staatsfeinde“ unzulänglichen „Verfahrensformen der Justiz“ abzuschaffen und durch einen allein polizeilich und politisch zu begründenden – und damit nicht zu hinterfragenden Ermessensraum zu ersetzen. Durch einen Führerbefehl bestätigte Hitler diese Auffassung und verbot den Zugang von Rechtsanwälten zu Schutzhäftlingen. Dementsprechend urteilten nun auch die Gerichte, dass die Schutzhaft als politische Maßnahme jenseits einer gerichtlichen Überprüfung stehe. Reaktion auf Beschwerden über Misshandlungen Ähnlich argumentierte Best bei Beschwerden gegen die Misshandlung von KZ-Gefangenen: Ausgehend vom „Staatsnotstand“ und dem „nationalsozialistischen Standpunkt der Allgemeinheit, die über dem Einzelnen steht“ seien die Beschwerden zurückzuweisen. Denn gewähre man dem Gefangenen Rechte, könne er diese nutzen, um die Arbeit der Polizei zu unterlaufen und so den Staat zu schädigen. Er sei als Individuum jedoch „ein Mitglied des Staatsorganismus. Solange es mitarbeitet, trägt es den Staat mit. Wenn es sich außerhalb der Gemeinschaft stellt, zum Verbrecher wird, ist es ein Schädling an allen und wird von allen, d. h. vom Staate bekämpft. Der Staat nimmt an diesem Kampfe die durch das Notwehrrecht gerechtfertigte Abwehrstellung ein.“ In konkreten Fällen sorgte Best dafür, dass in der Anfangszeit von der Justiz noch angestrengte Verfahren gegen besonders brutale Beamte der Gestapo niedergeschlagen wurden. Auf eine vom Berliner Domkapitular Bernhard Lichtenberg eingebrachte Beschwerde über die Verhältnisse im KZ Esterwegen ging er detailliert ein. Seine Antwort machte deutlich, dass er mit den konkreten Verhältnissen in den Lagern vertraut war. Generalermächtigung der Politischen Polizei und Ausbau zur Sicherheitspolizei Im dritten Gestapogesetz vom Februar 1936 gelang es ihm, gegenüber Innen- und Justizministerium seine Vorstellungen als Ermächtigungsklauseln zu verankern: Die Gestapo behielt ihr Schutzhaftmonopol und bekam zusätzlich das Recht, eigenständig zu entscheiden, auf welchen Gebieten sie tätig werden wollte. Damit war die Gestapo als „autonome Sonderbehörde“ etabliert und Best hatte sich durch ständigen Rückgriff auf Himmler, der wiederum Hitler vortrug, durchgesetzt. Im Juni 1936 wurde die Gesamtpolizei Himmler unterstellt, dessen Machtstreben damit vom Erfolg gekrönt wurde. Gemäß Bests Vorstellungen wurden zwei „Hauptämter“ der Polizei geschaffen: Das Hauptamt Ordnungspolizei und das Hauptamt Sicherheitspolizei, das hauptsächlich die bisherige Gestapo umfasste. Best übernahm das Amt Verwaltung und Recht, das Amt Politische Polizei führte Heydrich, während die neu hinzugekommene Kriminalpolizei im Amt Kriminalpolizei ebenfalls von Heydrich und seinem dortigen Stellvertreter Arthur Nebe geführt wurde. In diplomatisch heikler Abgrenzung zur militärischen Abwehr wurde Best auch mit der Aufgabe betraut, die gestapoeigene Abwehrpolizei, die mit der Aufklärung von Landesverrat und Spionage betraut war, als Abteilung III der politischen Polizei auszubauen und kommissarisch zu leiten. Best gelang es, zum Leiter der militärischen Abwehr, Wilhelm Canaris, ein gutes Verhältnis aufzubauen, das auch die Blomberg-Fritsch-Affäre, in der Best Werner von Fritsch persönlich verhörte, einigermaßen unbeschadet überstand. Radikalisierung der Judenverfolgung Systematisierung der Ausgrenzung Großen Einfluss hatte Best darauf, die Judenpolitik des nationalsozialistischen Staates zu systematisieren. Während er für spontane Gewaltexzesse der SA wenig übrig hatte, lag ihm viel an einer für ihn seit den ersten Tagen seiner politischen Aktivität völkisch und quasi-naturgesetzlich begründeten systematischen Aussonderung der Juden. Gemeinsam mit Heydrich entwickelte er deshalb Vorschläge, die sich bereits 1935 teilweise in den Nürnberger Gesetzen niederschlugen. Ihre verwaltungstechnische Durchführung erleichterte Best dadurch, dass seine Behörde durch genaue Erfassung der Juden in einer „Judenkartei“ die Grundlage für die Umsetzung der Gesetze bereits geschaffen hatte. Lange gingen SD und Gestapo noch von der Vorstellung einer erzwungenen Auswanderung der deutschen Juden (zuletzt im Madagaskarplan von 1940) aus, die durch ihre öffentliche Diskriminierung vorbereitet werden sollte. In der Zentralstelle für jüdische Auswanderung unter Adolf Eichmann in Wien, das seit dem Anschluss Österreichs 1938 Teil des Deutschen Reiches war, wurde eine radikale Unterdrückungs- und Enteignungspolitik gegenüber den österreichischen Juden konzipiert. Sie ließ tatsächlich viele von ihnen ins Ausland flüchten. Dieses Modell wurde im übrigen Deutschland als geglückter Testlauf angesehen. Für Ausweisungen war in der Gestapo Werner Best zuständig, dem auch die Ausländerpolizei unterstand. Allerdings wurde die an sich erwünschte Auswanderung durch die hohe Reichsfluchtsteuer erschwert: Viele auswanderungswillige Juden, die durch die nationalsozialistischen Berufsverbote und durch „Arisierungen“ verarmt waren, mussten daher bleiben. Die polnische Regierung versuchte etwa deswegen, die Rücknahme eigener verarmter Staatsbürger zu verhindern, was das Auswärtige Amt 1938 bewog, alle polnischen Juden im Reichsgebiet sofort auszuweisen. Durchgeführt wurde dieser Beschluss von der Gestapo unter Best in der sogenannten Polenaktion. Best ließ etwa 17.000 polnische Juden verhaften und in Sammeltransporten zur Grenze verbringen. Da die Polnische Republik ihre Aufnahme anfänglich verweigerte, blieb die Mehrzahl der Juden im Niemandsland zwischen Polen und Deutschland in improvisierten Lagern unter sehr schlechten Bedingungen gefangen. Ausnutzung der Novemberpogrome 1938 Heydrich und Best wurden von der sogenannten Reichskristallnacht überrumpelt, da diese judenfeindliche Aktion nicht von der Geheimpolizei, sondern von der Partei und Joseph Goebbels ausging. Sie schlossen sich ihr jedoch insofern improvisierend an, als sie das Verhalten und Stillhalten der ebenso überraschten Polizei zu koordinieren hatten. In der Folge der Pogrome verhaftete die Sicherheitspolizei ab dem 10. November 1938 kurzfristig, aber effektiv koordiniert, mehrere Tausend wohlhabende Juden und deportierte sie in Konzentrationslager. In der Folgekonferenz am 12. November 1938 unter Beteiligung von Göring und Goebbels gelang es Heydrich, die Federführung wieder zu übernehmen und das bereits von ihm und Best 1935 entwickelte Konzept, welches bereits Eingang in die Nürnberger Rassegesetze gefunden hatte, in den Ausführungsbestimmungen noch zu verschärfen: Äußere Kennzeichnung und erzwungene Ghettoisierung der Juden waren nun möglich. Dies gelang, weil Heydrich anders als Goebbels klare Vorstellungen hatte: Demnach sollten Juden radikal von Nichtjuden getrennt werden, um die Auswanderung der Ersteren zu erzwingen. Dank Bests verwaltungstechnischer Vorarbeit schien eine solche Trennung auch möglich zu sein, zumal die Sicherheitspolizei durch die schnelle Verhaftungswelle ihre Fähigkeiten bereits bewiesen hatte. Folgen der Novemberpogrome Es wurden so viele Menschen verhaftet, dass Best bei Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk weitere Mittel für die Konzentrationslager beantragen musste. Insgesamt ging der Plan der Sicherheitspolizei auf: Von den in Konzentrationslager verbrachten Juden erklärten sich beispielsweise im KZ Dachau 10.415 Häftlinge zur Auswanderung bereit, nachdem sie zuvor ihrer Enteignung durch Arisierung hatten zustimmen müssen. Best selbst als Leiter der Abteilung Recht und Verwaltung verhandelte in der Folgezeit mit dem Staatssekretär des Reichsinnenministeriums Wilhelm Stuckart in mehreren Planungskonferenzen die Einzelheiten des weiteren Vorgehens. Die Errichtung der Reichszentrale für jüdische Auswanderung, das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden (→ Judenhaus) und die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland waren deren direkte Ergebnisse. Aufstellung von Einsatzgruppen Österreich und die Tschechoslowakei Bereits beim Anschluss Österreichs hatte Best in Absprache mit Wilhelm Canaris gemischte Einheiten (aus Gestapo, Kripo und SD) aufgestellt, die hinter der einrückenden Wehrmacht Verhaftungen von (vorher in Karteien erfassten) Gegnern vornahmen und innerhalb kürzester Zeit die Sicherheitspolizei auch in Österreich aufbauten. Ähnlich gingen die Sicherheitseinheiten nach dem Münchner Abkommen auch beim Einmarsch ins Sudetenland vor, wobei die Sicherheitspolizei prinzipiell noch die Vorrangstellung der Wehrmacht akzeptieren musste. Zwei Einsatzgruppen mit sieben Unterkommandos folgten der Wehrmacht und wurden dabei von Best aus Berlin koordiniert, während Heydrich vor Ort die Befehle gab. In der 1939 folgenden Einvernahme tschechischer Bürger in die Reichsbürgerschaft (→ Reichsgau Sudetenland) sah Best eine Gefährdung des völkischen Grundgedankens des Nationalsozialismus. Er protestierte jedoch bei Heydrich vergebens. In eigens für das Verhalten seiner Beamten in vormals tschechischem Gebiet verfassten Richtlinien verbot er jeden „nichtdienstliche[n] Verkehr mit der fremdvölkischen Bevölkerung“, worin er selbst eine Form völkischen Respektes sah. Vorgehen in Polen Das in Österreich und im Sudetenland eingeübte Konzept der Einsatzgruppen wurde beim Überfall auf Polen weiter ausgebaut und perfektioniert. Parallel zu seinen diesbezüglichen Planungs- und Koordinierungsfunktionen wickelte Best auch die Überführung der Sicherheitspolizei in das neue Reichssicherheitshauptamt ab. Allerdings war gegenüber Polen von vorneherein ein schärferes Vorgehen vorgesehen. Am 5. Juli 1939 hatte Best in einer Konferenz vier Einsatzgruppen zu je vierhundert Mann vorgeschlagen und die Gesamtplanung und allgemeine Personalplanung übernommen, die er bis zum Kriegsbeginn weit vorantrieb. Zu Beginn des Krieges waren es schließlich fünf Einsatzgruppen, befehligt von Bruno Streckenbach, Ernst Damzog, Lothar Beutel, Emanuel Schäfer und Hans Fischer, die sämtlich von Best gründlich instruiert worden waren. Am 29. August 1939 zerstreuten Heydrich und er auf einer Konferenz mit Generalquartiermeister Eduard Wagner dessen Besorgnisse gegenüber dem geplanten Vorgehen der SS-Verbände. Es wurde vereinbart, vorerst bis zu 30.000 vorab bestimmte Polen in Konzentrationslager zu verbringen, womit die Wehrmacht wohl glaubte, die SS eingebunden zu haben. Best wurde zu Heydrichs Stellvertreter auch als Chef der Sicherheitspolizei und des SD ernannt und übernahm die Organisationsleitung des Einsatzes in Berlin. Heydrich und Himmler begaben sich nach Polen, um die operative Aufsicht zu führen. Nach dem Bromberger Blutsonntag verschärfte Himmler das Vorgehen der Einsatzgruppen deutlich. Mit dem Militär vereinbarte Beschränkungen waren nun hinfällig. Umfangreiche Geiselerschießungen und der Beginn einer umfassenden Deportierung polnischer Führungsschichten wurden nun die Kennzeichen der Einsatzgruppen. Hitler bestätigte trotz der Proteste der Wehrmacht deren Vorgehen und Unabhängigkeit von Weisungen des Militärs. Best war an der Organisation dieses Vorgehens immer beteiligt. Am 12. September 1939 hatte er eine neue Einsatzgruppe VI und das Einsatzkommando 16 aufgestellt, die von Anfang an vollständig als mobile Erschießungseinheiten konzipiert waren. Während die Wehrmacht in Person Eduard Wagners anfänglich gegen diese Verschärfung protestierte, akzeptierte sie im Verlauf des Überfalls auf Polen, dass die SS-Einsatzgruppen tatsächlich unabhängig von ihr operierten und weitergehende Ziele der „völkischen Flurbereinigung“ verfolgten, womit die SS die Kraftprobe mit der Wehrmacht gewonnen hatte. Bis Anfang 1940 wurden auf diese Weise mehr als 11.000 Menschen ermordet. Best selbst deckte dabei die Brutalität seiner Männer, sofern sie politisch begründet war. So untersuchte er in einem Fall, ob der betreffende SS-Führer, der mehrere Morde zu verantworten hatte, aus politischer Überzeugung oder privater Disziplinlosigkeit gehandelt und damit das Gebot „sachlicher Kälte“ missachtet hatte, und enthob ihn erst seines Postens, als Letzteres feststand. Auch an der Entscheidung, hunderttausende von Juden in das neugegründete Generalgouvernement zu deportieren, war Best verwaltungsplanerisch beteiligt. Dies hatte für die Beteiligten offensichtlich die Folge, dass durch die massenhafte Umsiedlung von Juden in Ghettos im Osten, wo es für sie keine Lebensgrundlagen gab, ein Problem geschaffen wurde, das irgendwann auf eine grausame Lösung zusteuern musste. Möglicherweise lag genau darin das Kalkül. Ende der Karriere im Reichssicherheitshauptamt Best hatte bis 1939 innerhalb der NSDAP und ihres Sicherheitsdienstes eine steile Karriere gemacht, die ihn zum Stellvertreter Reinhard Heydrichs und damit drittmächtigsten Mann im Sicherheitsapparat hatte aufsteigen lassen. Himmler und Heydrich hatten ihn dabei stets gefördert und sein juristisches Wissen, das Organisationstalent und seinen Fleiß überaus geschätzt. Mit Heydrich verwickelte Best sich allerdings zunehmend in Konflikte, die ihr gutes Verhältnis immer mehr störten. Zum endgültigen Bruch kam es in der Frage um die innere Struktur des Reichssicherheitshauptamts als Sicherheitszentrum für den totalen Kriegszustand 1939. Nicht nur, dass Heydrich zur konzeptionellen Vorbereitung dieser Schritte nicht den versierten Juristen und seinen Stellvertreter beauftragt hatte. In drei entscheidenden Grundpositionen ging ihre Auffassung so weit auseinander und führte zum Teil zur Austragung dieses Streits in der Öffentlichkeit. Das betraf auch die Besetzung von Führungspositionen im Amt. Strittig war für beide auch das Verhältnis von Sicherheitsdienst und Sicherheitspolizei sowie die berufliche Profilierung des Personals. Best trat für ein Aufgehen des Sicherheitsdienstes in den Strukturen der Sicherheitspolizei ein und erhob eine juristische Qualifikation zum Primat der Grundbefähigung des Personals im Amt. Der Konzeptionsentwurf von Walter Schellenberg ging von einer konsequenten Trennung von Sicherheitsdienst und Sicherheitspolizei aus. Das entsprach den Positionen von Heydrich und Himmler, die auch das Hauptgewicht auf nationalsozialistische Berufsmotivation des Personals und keine juristische Grundbefähigung des Mitarbeiterstamms sahen. Als Best seinen Standpunkt mithilfe einer Publikation in einer Fachzeitschrift öffentlich bekräftigte und sich damit offen gegen Heydrich stellte, war der Bruch endgültig. Eigentlicher Kern des Problems war der latent vorhandene Gegensatz zwischen den von Himmler und Heydrich bevorzugten Angehörigen des SD, deren Ausbildung oft ungenügend erschien, und den Juristen und ausgebildeten Polizisten der Gestapo. Best gehörte als hochqualifizierter Jurist zur zweiten Gruppe, die er in seiner Personalpolitik auch beinahe ausschließlich berücksichtigt hatte, wobei er die Juristen wiederum gegenüber den Polizisten bevorzugt hatte. Best vereinsamte im Amt nach seinem Konflikt mit Heydrich – dem engsten Mitarbeiter des beinahe allmächtigen Himmler – zusehends. Er schrieb und vollendete noch sein, die Polizei betreffendes Lehrbuch Die deutsche Polizei, in dem er seine Vorstellungen über die Rolle der Polizei im nationalsozialistischen Staat und ihre organisatorische Verzahnung mit der SS zusammenfasste. Zwar wurde er noch als Chef des Amtes I eingesetzt, die Gegensätze Heydrich und ihm waren aber so gravierend, dass er sich bereits zum Jahreswechsel 1939/1940 um neue Verantwortungen bemühte. Zwischen März und April 1940 beendete er die noch laufenden Themen und verließ im Mai 1940 das RSHA im Range eines SS-Brigadeführers. Er hatte sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Übergangsweise wurde Walter Tempelhagen (1898–1945) mit der Führung der Geschäfte des neu gebildeten Amtes II beauftragt. Die Führung des Amt I wurde Generalmajor der Polizei Bruno Streckenbach übertragen, der sich noch in Krakau befand. Tätigkeit nach dem Ausscheiden aus dem Reichssicherheitshauptamt In der Militärverwaltung Frankreichs Im Ersatzbataillon des Regiments 15 in Friedberg in Hessen (dieselbe Einheit, in der sein Vater gedient hatte und gefallen war) wurde Werner Best zwei Monate lang – er hatte so gut wie keine ernsthaften militärischen Vorkenntnisse – ausgebildet. Er wurde jedoch nicht als normaler Offizier verwendet, sondern trat, vermutlich aufgrund einer Verabredung Himmlers mit Stuckart und Canaris, in die Verwaltung des Militärbefehlshabers in Frankreich ein. Seinem Beamtenrang als Ministerialdirektor entsprechend kam für ihn, der deswegen von der Wehrmacht als sogenannter „Beamtengeneral“ (Träger einer Generalsuniform mit blauem statt rotem Kragenspiegel) mit der Rangstufe eines Generalleutnants eingestuft worden war, nur eine höhergestellte Tätigkeit in Betracht. Aufsichtsverwaltung Best wurde zum Leiter der Abteilung Verwaltung im Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers Frankreich ernannt. Daneben gab es noch die Elmar Michel unterstehende Wirtschaftsabteilung. Bests und Michels Dienstbezeichnung war Kriegsverwaltungschef. Best war damit der beinahe unsichtbare „Über-Innenminister Frankreichs“, denn die Herrschaft über Frankreich beruhte auf der Bereitschaft der französischen Verwaltung und insbesondere auf der der französischen Polizei, mit dem Militärbefehlshaber zu kollaborieren. Je weniger offene Konflikte aufkamen und je mehr die französische Bevölkerung mit „ihrer“ Verwaltung zu tun hatte, desto reibungsloser funktionierte die Hinnahme der Besetzung. Best konzipierte deswegen eine Art von „Aufsichtsverwaltung“, die hauptsächlich über die Genehmigung des französischen Haushalts und über die feste Zuordnung von hochrangigen Ansprechpartnern innerhalb der Militärverwaltung für die französischen Regierungsvertreter durch materielle Sachzwänge und eingeübte Absprachen sehr geschickt den gewünschten Einfluss nehmen konnte. Die Loyalität der französischen Polizei stellte er sicher, indem er erst eine Säuberung von als unzuverlässig eingestuften Offizieren durchführen ließ, ihr dann aber weitgehende Vollmachten zurückgab. So sorgte er beispielsweise dafür, dass die immerhin 20.000 Mann starke und militärisch verwendbare Gendarmerie wieder mit Schusswaffen ausgestattet wurde. Einführung von Sicherungs- und Polizeihaft Best versuchte sogar, das in Deutschland in seinen Augen bewährte Instrument der „Schutzhaft“ auch in Frankreich einzuführen. Da das jedoch in der Militärverwaltung auf Besorgnis traf, beschränkte man sich auf die Verhängung der durch Erlass eingeführten Sicherungs- und Polizeihaft durch deutsche Behörden. Die sogenannte Sicherungshaft bezog sich auf Personen, die durch begangene oder vermutete zukünftige Taten in den Fokus der Polizei gerieten. Die „Polizeihaft“ orientierte sich an pauschal verdächtigten Personengruppen unabhängig von deren Handeln, faktisch sehr häufig Juden. Die Haft konnte von den Feldkommandanturen bis zu sieben Tage, von den Bezirkskommandanten bis zu 14 Tage, und von der Verwaltungsspitze des Militärbefehlshabers zeitlich unbegrenzt verhängt werden. Da durch diese neuen Haftvoraussetzungen die Zahl der Inhaftierten stieg, wurden neue Internierungslager geschaffen. Verschärfung der Judenverfolgung in Frankreich Das Vichy-Regime hatte in vorauseilendem Gehorsam 1940 bereits einzelne antisemitische Maßnahmen (Aufhebung des Verbots antisemitischer Propaganda, Überprüfung von Einbürgerungen von Juden) erlassen und in einem sogenannten „Judenstatut“ das Judentum nicht mehr allein als Religion, sondern als Rasse definiert. Selbst ausländische Juden wurden ab Ende 1940 in französische Internierungslager verbracht. Best in Verbindung mit Otto Abetz vom Auswärtigen Amt schlug weitere Verschärfungen vor, die auf eine vollständige Enteignung der Juden in der deutschen Besatzungszone und ihre anschließende Entfernung hinauslaufen sollten. Er konnte sich damit innerhalb der Militärverwaltung ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen. Am 27. September 1940 erließ Best die sogenannte „Erste Judenverordnung“, die die Einreise von Juden verbot und die französischen Präfekten anwies, ein Judenregister, das die Personen ebenso wie ihren Besitz erfasste, zu erstellen. Jüdische Geschäfte und Betriebe mussten fortan als solche gekennzeichnet sein. In der zweiten Verordnung wurde eine Meldepflicht für alle jüdischen Unternehmen eingeführt. Binnen weniger Monate hatte sich in Frankreich unter Bests Einfluss eine Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen der Judenverfolgung vollzogen, die zuvor in Deutschland mehrere Jahre gedauert hatte. Volkstumspolitische Konzepte Die zunehmenden Requirierungen französischer Kulturgüter und Kunstschätze unter Otto Abetz auf Anweisungen Joachim von Ribbentrops hingegen trafen in der Militärverwaltung auf Widerstand und Empörung. Als Rosenberg und Göring gleichfalls mit Beschlagnahmungen begannen, reagierte auch Best darauf mit scharfer Kritik. Auch in anderen Fragen wandte sich Best entschieden gegen Einzelaspekte der NS-Politik in Frankreich. Die Ausweisung elsässischer Franzosen nach Frankreich durch die Gauleiter Josef Bürckel und Robert Wagner empfand er aus völkischer Sicht als widersinnig, da diese, wie er es selbst auch sah, überzeugten Franzosen, was ihre biologische Abkunft betreffe, nun einmal wertvolle Deutsche seien und gerade deswegen kulturell wieder eingedeutscht werden müssten. Anders als die antisemitische Wagner-Bürckel-Aktion widersprach die Ausweisung von Franzosen deutscher Herkunft Bests Überzeugungen, und er wagte indirekt auch den Konflikt mit Hitler, dessen Position ganz auf der Linie der beiden Gauleiter lag. Gleichfalls sah Best in den Ausweisungen eine Belastung für seine störungsfreie Zusammenarbeit mit der französischen Verwaltung. Seine Bedenken trugen ihm ebenso wie seine Konfliktbereitschaft mit den NS-Spitzen in der Militärverwaltung und im Auswärtigen Amt Sympathien ein. Bests bevorzugter Ansatz gegenüber Frankreich zielte nicht auf offene Demütigungen und Bereicherungen ohne langfristige Perspektive ab, sondern gemäß seinen völkischen Grundauffassungen auf die Aufspaltung der französischen Nation in regionale Volksgruppen. Mit Staunen nahm er die Verschiedenheit von Basken, Bretonen und Provençalen (→ Okzitanische Sprache) wahr und vertrat die Auffassung, dass die Besatzungspolitik langfristig eher deren partikulare Interessen zu fördern habe, anstatt die seiner Ansicht nach künstliche französische Staatsnation als Referenzpunkt der Verwaltung zu betrachten. Die Stärkung der zentralistischen Struktur Frankreichs, auf die sich auch die Militärverwaltung stützte, sah Best deswegen mit Unbehagen. Es sei vielmehr darauf zu achten, mittels einer „völkischen Mittelstelle“ partikulare Nationen in Westeuropa zu fördern und „städtische Mischzentren“ – Best dachte insbesondere an Paris – gesondert zu behandeln, mit dem Ziel eines „Aussterben[s] der städtischen Mischbevölkerung“. Für diese Vorstellungen allerdings fand er nirgendwo Gehör, weder in der Militärverwaltung noch in Berlin. Dem Militär waren sie fremd und vom Verwaltungsalltag weit entfernt. Die SS als Institution hingegen hatte kein besonderes Interesse an Frankreich, sondern blickte auf Osteuropa. Expertendiskussion in Reich – Volksordnung – Lebensraum Seine Vorstellungen diskutierte Best stattdessen in der 1941–1943 erschienenen und von ihm mitherausgegebenen juristischen Fachzeitschrift Reich, Volksordnung, Lebensraum. Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung (RVL), die für eine versuchte Intellektualisierung des Nationalsozialismus und deswegen insbesondere für Akademiker aus den Reihen der SS eine nicht unwichtige Rolle spielte. 1942 verfasste Best für die RVL den Aufsatz Herrenschicht oder Führungsvolk, der aufgrund seiner Brisanz anonym veröffentlicht wurde. Die Brisanz lag darin, dass Best das nationalsozialistische Deutsche Reich mit dem Römischen Reich parallelisierte, das, so Best, dadurch untergegangen sei, weil es Fremdvölkische als arbeitende Unterschichten inkorporiert habe, was zur Rassenmischung geführt habe, statt sich lediglich als anführendes Volk zu begreifen. Eine solche Gefahr sah Best auch für das Deutsche Reich. Echte Führung hingegen beschränkte sich für Best nicht auf „kurzen Herrenwahn“, sondern sei nie ohne den „Willen der Geführten“ denkbar, die darum gewonnen werden müssten. Best schloss – für einen SS-Brigadeführer, der er mittlerweile war, mehr als ungewöhnlich – ein Scheitern des Deutschen Reiches deswegen nicht aus. Daneben führte er bezogen auf die nationalsozialistischen Europapläne aus, dass die Deutschen auch „ganze Völker dieses Großraums in ihrer gesamten lebenden Substanz vernichten bzw. sie aus dem beherrschten Großraum“ entfernen könnten, womit er ebenfalls ungewöhnliche Offenheit an den Tag legte. Zu den Herausgebern der Zeitschrift zählten mit Wilhelm Stuckart und Gerhard Klopfer auch zwei Teilnehmer der Wannsee-Konferenz. Ein weiterer Herausgeber war Bests Bekannter Reinhard Höhn. Umgang mit Attentaten der Résistance Ab Mitte 1941 gingen Gruppen der Résistance zunehmend mit Attentaten gegen die deutsche Besatzungsmacht vor, was Bests Konzept der Aufsichtsverwaltung erschütterte, denn von Hitler persönlich wurde nun aus Berlin die Forderung nach umfassenden Vergeltungsmaßnahmen erhoben. Zwar waren präventiv rund 4.000 Zivilisten – bezeichnenderweise alles Juden – verhaftet worden, und der Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel hatte drei inhaftierte Kommunisten erschießen lassen. Hitler forderte jedoch, für jeden erschossenen Deutschen einhundert Geiseln zu erschießen, was die Militärverwaltung einschließlich Best für kontraproduktiv hielt. Als nach zähen Verhandlungen zwischen der Militärverwaltung und Berlin im Oktober 1941 tatsächlich 98 Geiseln erschossen wurden, war die Erbitterung in der französischen Öffentlichkeit und entsprechend auch in der französischen Verwaltung groß. Es folgten weitere Attentate und – von Hitler gefordert – weitere Erschießungen. Die Entwicklung führte letztlich nach monatelangen Eskalationen zum Protest und Rücktritt des Militärbefehlshabers Stülpnagel am 12. Februar 1942. Bests Position in diesem sich steigernden Konflikt war identisch mit der der Militärverwaltung. Er sah in den Erschießungen kein geeignetes Mittel zur Eindämmung des Widerstands, im Gegenteil: Er ging von einer Stärkung des Widerstandes aus. Zunehmend versuchten die Militärverwaltung und Best deswegen, die Erschießungen durch Deportation von Geiseln in Lager in Deutschland oder weiter im Osten Europas zu ersetzen. Dafür kamen insbesondere Juden in Frage, unabhängig davon, ob sie Kontakt zum Widerstand hatten oder nicht, zumal ihre Erfassung und Verhaftung dank Bests Vorarbeit leicht war. Best versuchte noch, der Vichy-Regierung die Federführung bei der Verhaftung französischer Juden zuzuweisen, wurde jedoch von ihr hingehalten, weswegen deutsche Stellen die Verhaftungen abseits von den Prinzipien der Aufsichtsverwaltung anordneten. Inzwischen hatte Helmut Knochen, der BdS in Frankreich, Best bereits weitere Verschärfungen gegenüber den Juden vorgeschlagen, und Best ließ knapp 4.000 Juden mit nichtfranzösischer Staatsbürgerschaft internieren. Durchgeführt wurden die Verhaftungen von der französischen Polizei unter der Aufsicht deutscher Offiziere. Weitere Aktionen folgten, bei denen nun auch französische Juden interniert wurden. Otto Abetz erbat bei Himmler die Genehmigung, 10.000 internierte Juden in den Osten deportieren zu dürfen, was Himmler sofort bewilligte. Best organisierte mit seiner Abteilung die Einzelheiten, und am 24. März 1942 fuhr der erste Eisenbahntransport nach Auschwitz. Der Konflikt mit Hitler endete mit der Niederlage der Militärverwaltung. Tatsächlich fanden nun sowohl Erschießungen von Geiseln als auch Deportationen statt, die diese Erschießungen ursprünglich hatten ersetzen sollen. Ende der Karriere in Frankreich Bests Position war mit der Niederlage seiner Behörde deutlich schlechter geworden. Das Gewicht der Militärverwaltung und damit auch das von Best war geschwächt, nachdem der Militärbefehlshaber zurückgetreten war, als er zunehmend unter Druck der SS geraten war, die ihren Einfluss nun auch in Frankreich ausbauen wollte. Best war zwar selbst hochrangiger SS-Offizier, aber immer noch in Ungnade bei Heydrich. Als nun mit Karl Oberg ein Höherer SS- und Polizeiführer für Frankreich eingesetzt wurde, auf den die bisher von Bests Verwaltungsstab ausgeübte Polizeiaufsicht überging, sah Best sich auf eine nachrangige Position zurückgestuft und gab folgerichtig seinen Posten auf. Bests Tätigkeit im Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers endete nach zwei Jahren offiziell am 10. Juni 1942, wobei er noch für sechs weitere Wochen dem Militärbefehlshaber für Sonderaufgaben zur Verfügung stand. Versuche, in das Reichsinnenministerium oder in das Auswärtige Amt zu wechseln, verliefen anfangs erfolglos, da Heydrich gegen eine Versetzung Bests sein Veto einlegte. Ein von Best ausgegangener persönlicher Kontaktversuch zu Heydrich war vollständig gescheitert. Heydrich hatte Best zwar bei seinem Paris-Besuch anlässlich Obergs Ernennung in einer Dienstkonferenz nun auch offiziell in die laufende „Endlösung der Judenfrage“ eingeweiht, an einer Versöhnung jedoch nicht das mindeste Interesse gezeigt und ihn schroff abgewiesen. Erst Heydrichs Tod am 4. Juni 1942 brach die Isolation von Best innerhalb der SS wieder auf. Himmler, der auf Best nie so zornig gewesen war wie Heydrich, rief ihn zu sich und bot ihm, nachdem er kurz sogar als Heydrichs Nachfolger im RSHA im Gespräch gewesen war, einen Wechsel in das Auswärtige Amt an. Best nahm an, erhielt „endlich“ seine Beförderung zum SS-Gruppenführer und wurde als dem Auswärtigen Amt unterstehender Gesandter Statthalter Deutschlands im besetzten Dänemark und damit Nachfolger von Cécil von Renthe-Fink. Reichsbevollmächtigter in Dänemark Sonderrolle Dänemarks Dänemark war im nationalsozialistisch besetzten Europa ein Sonderfall: Militärisch war das Land zwar seit April 1940 besetzt, ansonsten aber hatte die Besatzungsmacht nur sehr wenig Einfluss auf das parlamentarische Regierungssystem einer konstitutionellen Monarchie genommen. Die deutschen Interessen wurden – anders als in Norwegen und den Niederlanden – nicht durch einen Reichskommissar, sondern einen „Reichsbevollmächtigten“, den bisherigen Gesandten Cécil von Renthe-Fink, gegenüber der dänischen Regierung vertreten. Die nach der Besetzung gebildete Allparteienregierung wurde bis zum Mai 1942 sogar von einem Sozialdemokraten (Thorvald Stauning) geführt. König, Parlament und Verwaltung arbeiteten weitgehend autonom und nicht einmal das (schwache) dänische Militär war entwaffnet worden. Die Presse war weitgehend frei und folgte lediglich einer von der dänischen Regierung koordinierten Selbstzensur. Vor Ort waren zudem internationale Korrespondenten der Weltpresse. Die Außenwirkung des Modells Dänemark auf die deutsche Propaganda, wie auch auf alliierte Befürchtungen, der dänischen Praxis könnten sich auch andere Länder anschließen, war beträchtlich. Durch seine Agrarexporte spielte das Land eine wichtige Rolle bei der Versorgung Deutschlands, und militärisch war die Küste Jütlands von eminenter Bedeutung für die Verteidigung Norddeutschlands. Mit nur wenigen Beamten steuerte das Auswärtige Amt – Dänemarks Souveränität wurde formal anerkannt – die dänische Politik indirekt und auf dem Verhandlungswege. Auch bei Heinrich Himmler genoss Dänemark als nordgermanisches Land Sympathie, und so unterstützte auch er den eher milden Kurs des Auswärtigen Amtes. Kooperative Besatzungsherrschaft Best stellte sich schnell auf diese Gegebenheiten in Dänemark ein. Er ging noch weit hinter das in Frankreich erprobte Konzept der „Aufsichtsverwaltung“ zurück und setzte ausschließlich auf indirekte Vorgaben, deren Umsetzung er mit der frei gewählten dänischen Regierung aushandelte, ohne Kompromisse auszuschließen. Konflikte traten dabei hauptsächlich mit dem Militärbefehlshaber Hermann von Hanneken auf, der mit Best konkurrierte, da ihm seine rein militärische Funktion ohne politische Macht nicht ausreichte. Problematisch für Best war, dass Hanneken von Hitler auf ein eher scharfes Vorgehen gegenüber Dänemark eingestellt worden war. Bests Instruktionen kamen hingegen von Himmler, der im Unterschied zum sprunghaften Hitler die Dänen nur locker geführt wissen wollte. Regiert wurde Dänemark zu Bests Dienstantritt von einer Allparteienkoalition unter Führung des Sozialdemokraten Vilhelm Buhl. Dies war für die NS-Führung unter Hitler nicht akzeptabel. Best wurde dringend ersucht, Buhl zu ersetzen und vorzugsweise die DNSAP, die Dänische Nationalsozialistische Arbeiterpartei, mit der Regierungsbildung zu betrauen. Davon hielt Best, der die Isolation der DNSAP in der dänischen Bevölkerung schnell durchschaute, gar nichts. Er schaffte es, nachdem er selbst die DNSAP zum Verzicht genötigt hatte, Erik Scavenius zum Ministerpräsidenten an der Spitze der bewährten Allparteienkoalition wählen zu lassen. In Berlin stellte Best diese Wahl als das von Deutschland Gewollte dar. Die weitere Zusammenarbeit mit der dänischen Regierung und der ihr gegenüber loyalen dänischen Verwaltung und Polizei verlief anfangs reibungslos. Best ließ sogar zum Erstaunen des Auswärtigen Amtes am 23. März 1943 turnusgemäß demokratische Parlamentswahlen abhalten, welche die kooperativ, aber auch eigenständig agierende Regierung bestätigten – ein im besetzten Europa beispielloser Vorgang und ein großer Erfolg Bests. Dass die Wahlen tatsächlich frei und demokratisch abliefen, wurde durch das Abschneiden der DNSAP bestätigt, die gerade zwei Prozent der Wähler für sich gewinnen konnte. Nach Berlin meldete er mit Stolz, dass in Dänemark alles zum Besten stünde. Damit beeindruckte er sogar Hitler, und Goebbels erwähnte ihn lobend in seinem Tagebuch. Über Bests Kontakte zu dänischen Personen beispielsweise aus Politik und Widerstandsbewegung geben seine eigenen Kalendernotizen im Zeitraum 1943–1944 Auskunft. Ausnahmezustand in Dänemark Die Harmonie endete, als im Laufe des Jahres 1943 unter dem Eindruck zunehmender deutscher Niederlagen im Osten und in Italien der dänische Widerstand (mit Unterstützung britischer Waffenlieferungen und Agenten) zunehmend aktiver wurde und Sabotageakte an Hafenanlagen und Verkehrswegen durchführte. Wilde Streiks machten deutlich, dass die Politik der dänischen Regierung, die deutsche Herrschaft aus Einsicht in die Machtverhältnisse hinzunehmen, in der Bevölkerung an Unterstützung verlor. Eine allmähliche Verschlechterung der Lage trat ein, die Best wohlweislich gegenüber Berlin verschwieg. Stattdessen versuchte er, auf den sich steigernden Widerstand, der bisher keine Menschenleben gefordert hatte, nicht mit übertriebener Gewalt zu antworten. Die dänische Polizei und die dortigen Gerichte sollten selbständig gegen den Widerstand vorgehen. Dies wurde für die dänischen Behörden aufgrund des sich vollziehenden Stimmungsumschwunges jedoch politisch zunehmend schwieriger. Drängender noch war Bests neu hinzutretendes Problem, dass sich auch Hitler, der inzwischen begriffen hatte, dass Best seine Berichte an Berlin geschönt hatte, einschaltete und ein scharfes Vorgehen einforderte. Am 29. August 1943 wurde in Dänemark auf Hitlers persönlichen Befehl und gegen den Widerspruch Bests der Ausnahmezustand verhängt. Die Wehrmacht unter Hanneken entwaffnete und internierte das dänische Militär, wobei es bewaffneten dänischen Widerstand und Tote gab, und übernahm den Befehl über das Land. Bald darauf sah sich Hanneken vor das Problem gestellt, dass er nicht wusste, wie er Dänemark ohne dänische Mitwirkung regieren sollte. Eine eigenständige deutsche Verwaltung gab es nicht, und die Wehrmacht war nicht vorbereitet, an ihre Stelle zu treten. Die dänische Verwaltung leistete zähen und hinhaltenden Widerstand und machte deutlich, dass sie Befehle nur von einer in irgendeiner Form legitimierten dänischen Stelle entgegenzunehmen gedachte. Die Regierung jedoch war ja gerade durch den Ausnahmezustand entmachtet worden, ohne formal zurückzutreten. Zu allem Überfluss versenkten sich bei der Entwaffnung des dänischen Militärs Teile der dänischen Flotte selbst (→ Selbstversenkung der Dänischen Flotte), was den Küstenschutz gegenüber der britischen Marine empfindlich schwächte und Hannekens Ansehen im Oberkommando der Wehrmacht nicht förderlich war. Best rückte so erneut ins Zentrum des Geschehens und versuchte, eine neue Form dänischer Mitverwaltung zu finden. Eine Rückkehr zur kooperativen Verwaltung vor dem Ausnahmezustand war nicht mehr möglich, weswegen er sein Vorgehen der geänderten Realität anpasste. Dabei griff er nun selbst zu polizeilichen Mitteln, als er noch am 29. August 400 prominente Dänen verhaften ließ, um sie nach Deutschland zu bringen. Gegenüber Hanneken setzte er sich durch, indem er mit Himmlers Hilfe einen Befehl Hitlers erwirkte, der Bests politische Führungsrolle klarstellte. Um seine eigene Position zwischen Dänen und Wehrmacht zu stärken, forderte er in Berlin Einheiten der Sicherheitspolizei an und schlug vor, ihn selbst gleichzeitig zum HSSPF mit eigenen Polizeitruppen und eigenem SS-Gericht zu machen. Himmler signalisierte Zustimmung; das Auswärtige Amt, das fürchtete, seine Rolle nun ganz an die SS zu verlieren, widersprach hingegen. So wurde nicht Best HSSPF, sondern Günther Pancke, dessen Untergebene in der Funktion der BdS seine Aufgaben wahrnahmen. Best wurde zwar zeitgleich mit Pancke noch „der Form halber“ zum SS-Obergruppenführer befördert, seine Macht geriet nun langfristig auch von dieser Seite aus unter Druck. Gefährdung und Rettung der dänischen Juden Der Ausnahmezustand eröffnete der deutschen Besatzungsmacht Möglichkeiten, die vorher verschlossen waren. Best nutzte sie und forderte in einem Telegramm an das Auswärtige Amt am 8. September 1943 die Verhaftung und die Deportation der dänischen Juden. Zu diesem Zweck wurden Polizeieinheiten aus dem besetzten Norwegen nach Kopenhagen verlegt. Da ein Verzeichnis der dänischen Juden anders als in Frankreich, wo Best durch seinen direkten Durchgriff auf die französische Polizei für ein solches hatte sorgen können, noch fehlte, wurden Personenstandsunterlagen der jüdischen Gemeinde beschlagnahmt. In der dänischen Öffentlichkeit wurde das ebenso wie die neuangetroffenen Polizeieinheiten bemerkt und Gerüchte über eine kommende Verhaftungswelle machten die Runde. Der Termin für die Verhaftungen wurde auf den 2. Oktober 1943 festgelegt und von Georg Ferdinand Duckwitz mit Duldung Bests an die Dänen verraten. Im schwedischen Rundfunk – der schwedische Botschafter in Dänemark war von der entmachteten dänischen Regierung informiert worden – wurde bekanntgegeben, dass jeder dänische Jude in Schweden Zuflucht finden könne. Daraufhin organisierte der dänische Widerstand in versteckter Zusammenarbeit mit der dänischen Verwaltung eine Rettungsaktion, in der die Mehrzahl der dänischen Juden übers Meer evakuiert wurde. Die deutsche Marine hatte, ob zufällig oder nicht, für ein paar Tage den Küstennahschutz unterbrochen, um ihre Boote zu warten, und die Polizeieinheiten hatten, vermutlich nicht von Best, sondern vom Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Rudolf Mildner, den Befehl erhalten, bei den Razzien nicht mit Gewalt in die Wohnungen einzudringen, so dass die Evakuierung problemlos vonstattenging und nur 481 der insgesamt etwa 7500 dänischen Juden verhaftet und deportiert werden konnten. Bests Rolle bei der Rettungsaktion erscheint insgesamt diffus: Jahre später stellte er sein Telegramm so dar, als ob er eine Deportation gerade durch ihre Fehlplanung hätte verhindern wollen, wozu er sie zunächst hätte anfordern müssen. Diese Darstellung rettete ihm vor dänischen Gerichten das Leben. Für wahrscheinlicher wird mittlerweile gehalten, dass er anfangs sehr wohl eine umfassende Deportation geplant hatte und erst die Umstände ihn davon haben Abstand nehmen lassen. Entscheidend dürfte das nicht erwartete Erschrecken in der dänischen Bevölkerung und der Widerstand der dänischen Regierungs- und Verwaltungsstellen gewesen sein. Auch die internationale Aufmerksamkeit durch die in Dänemark akkreditierten Korrespondenten der Weltpresse könnte ihn umgestimmt haben, zumal ein Erfolg nach dem Durchsickern der Pläne und bei erkennbarer Renitenz der Dänen sowieso unmöglich geworden war. In der Angelegenheit der dennoch deportierten Juden erwies sich der Druck der dänischen Verwaltung, welche die Unversehrtheit ihrer Staatsbürger einforderte, in der Folgezeit als kompromisslos, und da die Aktion in der Weltpresse Wellen schlug, auch als erfolgreich: Ihre Deportation endete in Theresienstadt und nicht in Auschwitz. Sie wurden gut verpflegt und von Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz dort besucht. Um Platz für sie zu schaffen, wurden bisherige Inhaftierte des Lagers Theresienstadt nach Auschwitz verlegt, wo sie an Stelle der dänischen Juden ermordet wurden. Insgesamt starben von den 481 verhafteten dänischen Juden 52 in deutschen Konzentrationslagern, eine im besetzten Europa beispiellos niedrige Zahl. Best selbst meldete nach Deutschland, dass Dänemark wie gewünscht „judenfrei“ sei – eine Darstellung, mit der man sich begnügte. Zusammenarbeit in der Eskalation Bruch mit der dänischen Regierung Die dänische Regierung, die bis dahin im Wartestand verharrt hatte, verweigerte nach dem Schock der Verhaftungsaktion endgültig eine Zusammenarbeit. Sie betrachtete sich formal durch den Ausnahmezustand als aufgelöst und schloss eine erneute legale Regierungsbildung kategorisch aus. Der dänische Widerstand formierte sich im sogenannten „Freiheitsrat“, der als landesweites Netzwerk eine Art Untergrundregierung bildete und die Unterstützung breiter Kreise der Bevölkerung und der Verwaltung hatte. Prekäre Führung Dänemarks durch Best Best stützte sich im Gegensatz dazu auf ein Gremium der dänischen Verwaltungschefs, die jedoch klarstellten, dass sie nur auf Druck und ohne eigene Verantwortung zur Kooperation bereit waren. Die Unterstützung der dänischen Verwaltung erschien vor diesem Hintergrund zunehmend prekär und musste von Best in einer Mischung aus Drohung und Werbung immer neu errungen werden. Faktisch folgte die dänische Verwaltung den Anordnungen Bests, wo es sich nicht vermeiden ließ, war zu einer echten Zusammenarbeit aber nur noch begrenzt bereit. An ihrem Interesse, Dänemark vom Krieg zu verschonen und deutsche Zwangsmaßnahmen zu vermeiden, änderte sich aber nichts, sodass Best Dänemark begrenzt weiter steuern konnte. Der Freiheitsrat hingegen intensivierte seine Aktivitäten und ging nun auch zu Attentaten auf Kollaborateure und deutsches Militärpersonal über; als Signal an Best wurde im Verlauf der Kampagne auch dessen Chauffeur erschossen. Diese Eskalation konterte Best mit seinem durch die SS- und Polizeieinheiten mittlerweile deutlich erweiterten polizeilichen Handlungspotential in Zusammenarbeit mit dänischen Gerichten, dem SS-Gericht und der Wehrmachtsgerichtsbarkeit. Dabei versuchte er, neben präziser Prävention durch Verhaftung von Gegnern bei gleichzeitiger, aber nicht durchgängiger Schonung ihres Lebens die Situation noch ruhig zu halten. Konflikt mit Hitler und Himmler Hitlers Forderung, nun auch in Dänemark zu massiven Geiselerschießungen überzugehen, verweigerte sich Best entschieden auch bei persönlichen Terminen im Führerhauptquartier, wo er Hitler offen widersprach. Auch die Forderung, statt Geiselerschießungen Gegenterror durch verdeckte Morde zu vollziehen, lehnte Best ab – womit er sich auch gegen Himmler stellte, der dies befürwortet hatte. Nur nach weiterem Druck akzeptierte Best dieses Vorgehen, das wie von ihm erwartet zu mehr Attentaten durch den dänischen Widerstand führte. Daraufhin beendete Best eigenmächtig die verdeckten Erschießungen und ging – nachdem er sich, was von Berlin aus ausdrücklich untersagt worden war, durch Erlass einer neuen Gerichtsordnung selbst das Anordnungs- und Begnadigungsrecht zugesprochen hatte – wieder zur gerichtlichen Aburteilung von Widerstandskämpfern über, die meist vor das SS-Gericht gestellt und in schweren Fällen zum Tod verurteilt wurden. Damit gelang es ihm nicht, den Aufstand niederzuschlagen. Er hoffte aber, ihn zu verlangsamen und in nicht willkürlichen Bahnen verlaufen zu lassen, da sich der Terror der SS so in der Regel gegen tatsächliche Täter richtete und nicht unterschiedslos gegen die Bevölkerung. Generalstreik in Kopenhagen Auch dieses Konzept war jedoch auf Dauer nur begrenzt erfolgreich. Der dänische Widerstand nahm an Kraft zu und ging nun auch tagsüber zu militärischen Angriffen auf Industrieanlagen über. Als in Kopenhagen daraufhin durch Angehörige des dänischen Schalburg-Korps – eine von Best aus dänischen Freiwilligen zusammengestellte Einheit (→ Dänische SS-Einheiten und Christian Frederik von Schalburg) – Teile des Tivoli gesprengt und zudem mehrere inhaftierte Widerstandskämpfer hingerichtet wurden, gingen die Arbeiter und Angestellten in Kopenhagen Ende Juni 1944 zu einem umfassenden Generalstreik über. Am 30. Juni wurde der Belagerungszustand über die Stadt verhängt, Schießbefehl erteilt und Flugzeuge der Luftwaffe mit Brandbomben ausgerüstet, um die aufständischen Teile Kopenhagens zu bombardieren. Best schreckte aber vor dieser letzten Eskalationsstufe zurück und nutzte die Gelegenheit, die dänische Verwaltungsspitze mit Verweis auf die Alternative davon zu überzeugen, die Bevölkerung zur Beendigung des Streiks aufzurufen. Als der Streik am 3. Juli 1944 tatsächlich endete, hatte Best einen letzten Teilsieg errungen. Zeitweilige Teilentmachtung Best wurde wegen der Verhältnisse in Dänemark zu Hitler zitiert, der ihm in einer aufgebrachten Unterredung vorwarf, er sei an der Eskalation schuld, weil er gerichtliche Aburteilungen den verdeckten Vergeltungsmorden vorgezogen habe. Hitler verbot ihm ausdrücklich, weiterhin auf Gerichtsurteile statt auf verdeckte Erschießungen zu setzen. Nun war Best zeitweilig in der Polizeipolitik entmachtet. Am 19. September 1944 wurde die gesamte dänische Polizei von den in Dänemark stationierten SS- und Polizeieinheiten entwaffnet. 2.235 Polizisten wurden ins KZ Buchenwald deportiert, ohne dass Best vorher in die Aktion eingeweiht gewesen wäre. Hitler und Himmler hatten über seinen Kopf hinweg dem HSSPF entsprechende Weisungen erteilt. Best flog umgehend zu Hitler, um seinen Rücktritt einzureichen, wurde jedoch nicht vorgelassen und kehrte nach Dänemark zurück. Nur auf Bitten des Auswärtigen Amtes und der dänischen Verwaltung blieb er im Amt. Seine Führungsrolle gewann er jedoch noch einmal zurück. Nach Anschlägen gegen dänische Werftanlagen erließen Himmler und Hitler den Befehl, dänische Werftarbeiter und ihre Familien in Sippenhaft zu nehmen und nach Deutschland zu bringen – was Best offen verweigerte. Denn dies – so Best – sei der sicherste Weg, die Werften stillzulegen, da der dänische Widerstand nur einige weitere Anschläge unternehmen müsste, worauf die SS den Rest der Arbeit erledigen würde, indem sie die unersetzbaren Arbeiter verhaftete. Sein Protest war erfolgreich – nicht weil er Hitler und Himmler überzeugt hatte, sondern weil der fortschreitende Untergang des Deutschen Reiches nach der vollständig gescheiterten Ardennenoffensive Dänemark hatte unwichtig werden lassen. Als Best befehlswidrig erneut ein ihm allein unterstelltes Sondergericht einrichtete und sich auch sonst nicht um die ihm auferlegten Restriktionen scherte, kommentierte Hitler nur noch, Best solle doch machen, was er wolle. Kriegs- und Karriereende in Dänemark Auch in Dänemark war schließlich die nahende Kriegsniederlage spürbar. Die Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern wurden auf ihrer Flucht vor der Roten Armee – soweit möglich – nach Dänemark evakuiert. Geplant war, zwei Millionen Ostdeutsche in dänischen Familien unterzubringen. Dies hielt Best angesichts der deutschfeindlichen Stimmung und der begrenzten dänischen Mittel für völlig ausgeschlossen. Statt in Häusern versuchte er, die vertriebenen Deutschen in erster Linie in Behelfslagern unterzubringen, wo sie zur Not auch geschützt werden konnten. Auch hier überholte ihn die Entwicklung. Am Ende flohen 500.000 Deutsche über Dänemark, von denen rund 250.000 mehrere Monate in Dänemark blieben und entgegen Bests anfänglichen Planungen auch in dänischen Privatquartieren Zuflucht fanden. Einem möglichen Endkampf im Norden, der etwa von Karl Dönitz mit Unterstützung von Josef Terboven – Bests Amtskollege in Norwegen – erwogen worden war, verweigerte sich Best gemeinsam mit den Gauleitern von Hamburg, Karl Kaufmann, und Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse. Nachkriegszeit Nach der Kapitulation der Wehrmacht im Norden und Nordwesten am 4. Mai 1945 stellte Best sich in den Morgenstunden des folgenden Tages den dänischen Behörden, die ihn unter Bewachung stellten. Zunächst konnte er mit seiner Familie an seinem Wohnsitz verbleiben. Am 21. Mai 1945 wurde er offiziell verhaftet und in das Gefängnis der Kopenhagener Festung eingeliefert. Zeuge der Verteidigung in Nürnberg Best wurde im März 1946 nach Deutschland gebracht, um vor dem Internationalen Militärgerichtshof in den Nürnberger Prozessen auszusagen. Als Zeuge der Verteidigung gelang es ihm, die Ankläger und Richter über die tatsächlichen Gegebenheiten im RSHA im Unklaren zu lassen und insbesondere das Verhältnis von SS und Politischer Polizei zu verschleiern. Er stellte die Gestapo als rein polizeiliche Behörde dar, die ohne eigenes Zutun und Interesse wie jede Polizei lediglich politische Vorgaben des Staates umzusetzen gehabt habe. Seine eigene Rolle beim Aufbau des RSHA und der ideologischen Fundierung der Sicherheitspolizei verschwieg er. Persönlich genoss Best die Nähe zu den mit ihm internierten NS-Größen; insbesondere Görings unberührte Haltung und Überzeugung beeindruckten ihn tief. Best als Beschuldigten in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse anzuklagen wurde jedoch verworfen. Stattdessen wurde er am 27. Februar 1947 in Nürnberg entlassen, nach Dänemark zurückgebracht und dort vor Gericht gestellt – nachdem Frankreich an einer Auslieferung keinerlei Interesse gezeigt und sogar geleugnet hatte, seinen früheren deutschen Verwaltungschef überhaupt zu kennen. Best hatte naturgemäß sehr genaue Kenntnisse über das Ausmaß der Kollaboration in Frankreich. Prozesse und Haft in Dänemark Auf die dänische Haft reagierte Best mit einer tiefen Depression, in der er Ärzten und seiner Familie immer wieder mit Suizid drohte und sich zu der Behauptung verstieg, er würde schlimmer als die KZ-Häftlinge des Deutschen Reiches behandelt. Das Kopenhagener Stadtgericht verurteilte ihn beim Großen Kriegsverbrecherprozess am 20. September 1948 erstinstanzlich zum Tode. Im Berufungsverfahren wurde die Strafe jedoch in fünf Jahre Haft umgewandelt, von denen er vier bereits abgesessen hatte. Bests Verteidigung war es gelungen, ihm einen sehr günstigen Beitrag bei der Rettung der dänischen Juden zuzuschreiben und so sein Leben zu retten trotz der Hunderte Dänen, die unter seiner politischen Verantwortung ermordet worden waren und deren Angehörige Sühne verlangten. Vor dem obersten dänischen Gericht wurde Best schließlich nach wütenden öffentlichen Protesten gegen das zweite Urteil zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Ab Juni 1950 bis zur Entlassung war er im Staatsgefängnis Horsens (Horsens Statsfængsel) untergebracht. Auf bundesdeutschen Druck hin, und nachdem auf die erste Aufarbeitungsphase der NS-Besatzung in Dänemark eine Schlussstrichdebatte folgte, wurde Best am 24. August 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen und in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Beruflicher Neuanfang in der Bundesrepublik Nach seiner Ausweisung in die Bundesrepublik fand Best in Essen schnell als Jurist (ohne Anwaltszulassung) in der Kanzlei von Ernst Achenbach, der sich als Rechtsanwalt und Politiker für die Rehabilitierung von NS-Tätern einsetzte, eine Stelle. Erstmaligen unfreiwilligen Kontakt mit der westdeutschen Justiz bekam Best durch Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft, die den Mordfall Schäfer von 1934 wieder aufrollte. Zwar hielten ihn die Staatsanwälte für schuldig, das Verfahren jedoch wurde eingestellt, da die Beweise für eine Anklage nicht ausreichten und eine gründlichere Beweiserhebung nach der langen Zeit nicht mehr möglich erschien. Gefährlicher noch waren Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft wegen Bests Beteiligung am „Röhm-Putsch“. Hier war die Beweislage deutlich besser und beschränkte sich nicht allein auf einige Best nur indirekt belastende Zeugenaussagen. Ernst Achenbach jedoch richtete sich persönlich mit verschiedenen Schreiben an seinen FDP-Parteifreund Thomas Dehler, der zu dieser Zeit Bundesjustizminister war, und forderte von ihm, auf das Verfahren direkten Einfluss zu nehmen. Achenbach betonte in diesem Zusammenhang, dass das nationalsozialistische Deutsche Reich die Morde von 1934 amnestiert habe, das grundsätzliche Vertrauen in die Wirkung von Amnestien nicht erschüttert werden dürfe und es sich bei der Verfolgung von NS-Tätern sowieso nur um reine „Rache“ handele. Dehler reagierte mit einer Anfrage bei der bayerischen Justiz. Diese kam daraufhin zu dem Schluss, dass ohne ein ausdrückliches Geständnis Bests eine Verurteilung nicht sicher genug erscheine. Sie stellte das Verfahren nach einer flüchtigen Vernehmung Bests ein. Kampagne für eine Generalamnestie Nachdem Best einer strafrechtlichen Verfolgung entgangen war, arbeitete er in der Kanzlei Achenbach sowohl juristisch wie publizistisch intensiv an der Rehabilitierung von NS-Belasteten unter besonderer Berücksichtigung von Gestapo- und RSHA-Beamten. Er übernahm die Koordination der Kampagne für eine Generalamnestie, welche die Kanzlei Achenbach durch zahlreiche Presseerklärungen, die monatlich an Redaktionen verschickt wurden, und persönliche Einflussnahme auf Entscheidungsträger auch im Deutschen Bundestag zu fördern suchte. Im Juli 1952 wandte sich jedoch der amerikanische Hochkommissar John McCloy scharf gegen eine Generalamnestie. Der Deutsche Bundestag lehnte im September 1952 die Amnestie ab, sprach sich aber für eine wohlwollende Spruchpraxis in den mit den Amerikanern betriebenen gemeinsamen Prüfausschüssen für Kriegsverbrecher-Urteile aus, so dass diese zu umfangreichen Begnadigungen übergingen. Best und Achenbach konnten das als Teilerfolg ihrer Arbeit bewerten. Naumann-Skandal und Wechsel in die Privatwirtschaft Auch politisch zeichneten sich im westdeutschen Parteiensystem Einflussmöglichkeiten ab. Im Umfeld der nordrhein-westfälischen FDP gelang es verschiedenen nationalsozialistischen Funktionären der mittleren bis gehobenen Ebene um Werner Naumann, im Landesverband und vor allem in dessen hauptamtlicher Verwaltung Fuß zu fassen. Von dort aus versuchte diese nationalsozialistische Seilschaft mit offener und verdeckter Unterstützung Ernst Achenbachs die Politik der Bundesrepublik zu infiltrieren. Rechtsorientierte Kreise innerhalb der Ruhr-Industrie um Edmund Stinnes unterstützten dieses Anliegen durch finanzielle Zuwendungen, die den nordrhein-westfälischen FDP-Verband zum reichsten Landesverband der Gesamtpartei machten. Werner Best wurde dabei ähnlich wie viele Jahre zuvor in der hessischen NSDAP der offizielle „Rechtsberater“ des Landesverbandes. Möglicherweise sah Best die Parteiarbeit (ohne allerdings förmlich in die FDP einzutreten) als Auftakt für eine politische Karriere in der jungen Bundesrepublik an. Er galt als Mitverfasser eines stramm national orientierten „Deutschen Programms“, das der Landesverband Nordrhein-Westfalen beim Parteitag von Bad Ems 1952 als Alternative zum Wahlprogramm der FDP vorlegen sollte. Darin wurde „zur nationalen Sammlung“ aufgerufen, „Deutschlands tiefste Erniedrigung“ beklagt und den „Urteilen der Alliierten, mit denen unser Volk und insbesondere sein Soldatentum diskriminiert werden sollten“, eine Absage erteilt. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz und vor allem der britische Geheimdienst wurden auf diese Infiltrationsversuche jedoch aufmerksam und registrierten sie mit großer Besorgnis. Nachdem auch Konrad Adenauer durch den britischen Hochkommissar Ivone Kirkpatrick über die Erkenntnisse der Dienste informiert worden war, signalisierte er volle Unterstützung und politische Rückendeckung für eine Zerschlagung der Naumann-Gruppe. Daraufhin verhaftete die britische Militärpolizei unter großem Aufsehen in der westdeutschen Öffentlichkeit, die mit einer direkten Inanspruchnahme alliierter Besatzungsrechte nicht mehr gerechnet hatte, am 15. und 16. Januar 1953 Naumann und sieben seiner Mitarbeiter, darunter auch Bests alten Bekannten Karl Kaufmann. Best hatte organisatorisch nur am Rande der Naumann-Gruppe gestanden und entging der Verhaftung. Für Ernst Achenbach erwies sich die Zerschlagung der Naumann-Gruppe jedoch als ernsthaftes Karrierehindernis. Innerhalb der FDP gewannen die Liberalen fortan gegenüber den Nationalisten die Oberhand und konnten Achenbach zumindest zeitweise entmachten. Um dennoch in der FDP als prominenter Politiker verbleiben zu können, gab Achenbach allmählich seine nationalistischen Positionen auf und trennte sich von alten Weggefährten, darunter auch Werner Best. Für Best ergaben sich daraus Probleme. Sein Antrag auf Wiederzulassung als Anwalt wurde mit dem Verweis auf seine Vergangenheit und auf die fehlende Entnazifizierung abgelehnt; seine Tätigkeit für Achenbachs Kanzlei endete Ende 1953. Versuche, wieder in den Staatsdienst übernommen zu werden – Best dachte an eine erneute Tätigkeit für das Auswärtige Amt im Range eines Ministerialdirektors und hatte einen Antrag auf Wiederaufnahme gestellt –, scheiterten vorerst (und endgültig 1958) aus demselben Grund. Best trat nun auf Vorschlag von Hugo Hermann Stinnes in dessen Unternehmen ein und wechselte damit endgültig in die Privatwirtschaft. Als Justitiar und Direktoriumsmitglied der Dachgesellschaft der Stinnesschen Unternehmungen (der Hugo-Stinnes Industrie- und Handels GmbH) gelang ihm in kurzer Zeit der Aufstieg ins gehobene Bürgertum. Obwohl Wirtschaftsrecht ihn eigentlich nicht interessierte, arbeitete er sich schnell in die für ihn ungewohnte Thematik ein. Seine ökonomischen Verhältnisse besserten sich zusehends, er wurde mit den Jahren wohlhabend. Einfluss im Hintergrund Best begnügte sich jedoch nicht damit, beruflich wieder Fuß gefasst zu haben. Mit Einverständnis und Förderung von Stinnes bemühte er sich weiterhin über viele Jahre hinweg, ehemaligen Kollegen und Mitarbeitern aus der Gestapo juristisch zur Seite zu stehen. Einfallstor war dabei der Artikel 131 des Grundgesetzes, der die Wiedereinstellung ehemaliger Beamter in den Staatsdienst ermöglichte, sofern sie von ihren Posten „verdrängt“ worden waren (→ 131er). Ursprünglich für politisch und rassisch Verfolgte des NS-Staates sowie für aus den Ostgebieten und der SBZ vertriebene Beamte geschaffen, wurden auch Beamte, die nach 1945 von den Westalliierten wegen ihrer NS-Belastung entlassen worden waren, wieder in Dienst genommen. Das umfasste auch ehemalige Beamte der Gestapo, der Ordnungspolizei und des RSHA – allerdings nur, wenn sie als „Mitläufer“ eingestuft worden waren, oder wenn sie nachweisen konnten, zur Gestapo versetzt worden zu sein. Best gab bis in die 1960er-Jahre hunderte eidesstattliche Versicherungen ab, die ehemaligen Beamten der Gestapo bescheinigten, durch Versetzung und ohne besondere nationalsozialistische Überzeugung zur Gestapo gekommen zu sein. Er ermöglichte so deren Wiedereinstellung oder mindestens Entschädigungszahlungen für den Stellungsverlust. Auf Treffen der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit (HIAG) hielt Best Gastvorträge als juristischer Experte. Anwälten, die ehemalige Angehörige der Gestapo und der Polizei in Wiedereinstellungsverfahren vertraten, stand er mit Argumentationsvorschlägen zur Seite. Als die öffentliche Meinung, die zu Anfang der 1950er-Jahre noch eher gegen eine Verfolgung von NS-Tätern eingestellt gewesen war, sich im Gefolge des Ulmer Einsatzgruppenprozesses mit zunehmender Empörung gegen ehemalige Gestapobeamte wandte, wurde Bests Aufgabe schwieriger. Mit der Billigung von Stinnes verwandte er sein Geschäftsbüro in immer stärkerem Maße dazu, als eine Art „Nebenkanzlei“ für NS-Prozesse zu fungieren. Insbesondere die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg verursachte den ehemaligen Beamten der Gestapo Kopfzerbrechen. Nicht nur gefährdete sie noch nicht vollzogene Einstellungen, sie bedrohte auch bereits eingestellte oder sonst wie anderweitig etablierte NS-Täter mit strafrechtlicher Verfolgung, die im Gegensatz zu früheren Ermittlungsverfahren nun wesentlich sachkundiger und mit größerer Entschlossenheit durchgeführt wurden. Hunderte von Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet. Bests „Nebenkanzlei“ bei Stinnes koordinierte dabei die Abwehr, die darin bestand, juristisch tragfähige Strategien und einheitliche Sprachregelungen herzustellen und sei es über bestellte unrichtige, aber unwiderlegbare Entlastungsaussagen. Publizistische Selbstverteidigung Daneben war Best die Verteidigung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit vor sich selbst und der Gesellschaft ein Anliegen. Er verfasste eine Schrift mit dem Titel Philosophie des Dennoch, in der er „Heilslehren“ wie das Christentum, den Kommunismus, den westlichen Individualismus und den Nationalsozialismus moralisch gleichsetzend gemeinsam als überholt bezeichnete und die Vermutung äußerte, gerade ehemalige Nationalsozialisten (wie er selbst) seien – aufgrund der Erkenntnis der Sinnlosigkeit ihres vergangenen politischen Tuns – besonders geeignet, erneut die Führung zu übernehmen. Mit dieser Ansicht fand er immerhin Beifall bei Armin Mohler und Ernst Jünger, die beide die Schrift lobten. Deutlicher wurde er in einer Verteidigungsschrift für das RSHA, die er Die Gestapo nannte. Hier verteidigte er seine alte Behörde als rein sachlich orientiertes Instrument in den Händen des Staates, das mit der Judenvernichtung als „polizeifremder Aufgabe“ im Rahmen der Amtshilfe betraut worden sei und insgesamt nur insoweit als verbrecherisch zu bezeichnen sei, als jede Polizei verbrecherisch sei, sobald ihr Staat einen Krieg verloren hat. Auch dort, wo es zu Verbrechen gekommen sei, seien diese im „Befehlsnotstand“ erfolgt und nicht den beteiligten Beamten zuzurechnen. Entnazifizierung Best selbst allerdings scheiterte bei dem Versuch, den Artikel 131 des Grundgesetzes für sich zu nutzen. Seine Wiedereinstellung war mit Verweis auf die fehlende Entnazifizierung abgelehnt worden, Entschädigungszahlungen für die Haft in Dänemark wurden mit Verweis auf ein laufendes West-Berliner Spruchkammerverfahren der Entnazifizierung abgelehnt (in West-Berlin verliefen Verfahren unter alliierter Aufsicht deutlich strenger und wurden auch spät noch eröffnet), das 1958 mit der Einstufung Bests in der Kategorie der Hauptschuldigen endete und ihn zu einer Geldstrafe von 60.000 DM verurteilte. Best gelang es durch gute Kontakte zur nordrhein-westfälischen FDP, die den Landesfinanzminister stellte, die Vollstreckung auf ein altes Berliner Konto zu beschränken, das ein Guthaben von 118,45 DM aufwies. Per Weisung hatte der nordrhein-westfälische Finanzminister Willi Weyer den Finanzämtern verboten, West-Berliner Forderungen aus Entnazifizierungsverfahren einzutreiben. An einen Wiedereintritt in den Staatsdienst war nun jedoch endgültig nicht mehr zu denken. RSHA-Prozesse und kalte Amnestie 1963 geriet Bests Rolle im RSHA selbst in das Blickfeld Berliner Staatsanwälte. Gegen Hunderte ehemalige RSHA-Mitarbeiter wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet – Mitarbeiter, die Werner Best aus seiner Zeit im Amt teilweise gut kannte. Ihre Verurteilung war aufgrund der inzwischen besser gewordenen Kenntnisse der Staatsanwälte durch die Vorarbeit der Ludwigsburger Zentralstelle zu erwarten. Dies bedeutete, dass auch Best irgendwann ins Visier der Justiz geraten würde. Best betrieb seit Jahren ein Archiv von NS-Akten, die er strategisch nach Opportunität in NS-Prozessen den Verteidigern zur Verfügung stellte. Bests Dienstleistungen, die mittlerweile in einem ausgezeichnet koordinierten Netzwerk und einer umfangreichen Dokumentenhilfe bestanden, drohten bei den ebenso gut informierten Staatsanwälten an eine unüberwindbare Grenze zu stoßen, welche die Arbeit des RSHA inzwischen bewerten konnten und sich vom Störfeuer der Anwälte nicht mehr beirren ließen. Hier kamen Bests Bemühungen um eine Amnestie auf kaltem Wege zu Hilfe, deren genaue Umstände nebulös erscheinen: Seit Mitte der 1950er-Jahre hatte eine Kommission von Juristen, initiiert von Thomas Dehler, das Strafrecht einer Generalrevision unterzogen. Ein Ergebnis dieser Arbeit war versteckt zwischen einer Vielzahl weiterer Änderungen, die das Strafrecht insgesamt liberalisierten: der Vorschlag, das Handeln von Mordgehilfen den Verjährungsfristen der Beihilfe zuzuordnen und diese auf 15 Jahre zu verkürzen. Geführt wurde die Kommission von Eduard Dreher, einem Fachbeamten  – in der NS-Zeit Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck –, der mit Bests altem Förderer Ernst Achenbach in engem Kontakt gestanden hatte und mit ihm Jahre zuvor – allerdings ergebnislos – bereits die Möglichkeit einer Amnestie für NS-Täter besprochen hatte. Die Vorschläge der Kommission wurden 1970 im Bundestag beschlossen und traten 1975 in einer Strafrechtsreform in Kraft, mit einer Ausnahme: Die veränderte Verjährung bei Beihilfe und die Zuordnung der Gehilfen zu ihr wurden bereits 1968 dem Parlament vorgelegt und von ihm beschlossen. Dies geschah verborgen in einem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, EGOWiG). Jedes Verfahren gegen NS-Beschuldigte, die selbst nach neuer Rechtslage nur der Beihilfe schuldig waren, musste damit bereits vor dem ersten Januar 1965 eröffnet worden sein, worunter die RSHA-Verfahren eben in der Regel nicht fielen. Da es meist unmöglich war, wie nun vom Gesetz gefordert, den Tätern des RSHA persönliche Motive und Mordmerkmale nachzuweisen (um die Verjährung zu verlängern), wurde ein Großteil der Ermittlungsverfahren eingestellt und die Beschuldigten aus der Untersuchungshaft entlassen. Ein großer Teil der weiteren möglichen Verfahren gegen NS-Täter in der Bundesrepublik wurden so für immer verhindert, sodass „kein anderes Gesetz oder Amnestiegebot in der Nachkriegszeit so weitreichende Folgen für die Straffreiheit von hochrangigen NS-Tätern gehabt [hatte] wie dieses“. 1969 bestätigte auch der Bundesgerichtshof in einem Prozess die Verkürzung der Verjährung, nicht ohne sie mit Hinblick auf die NS-Täter ausdrücklich zu bedauern. Inwieweit sich diese versteckte Amnestierung von NS-Tätern Best und seinem Netzwerk zurechnen lässt, ist ungewiss. Zwar liegt durch die Beteiligung Eduard Drehers ein gewisser Verdacht nahe, jedoch „lässt sich irgendeine Beteiligung der Gruppe um Best auf die Referentenentwürfe im Bundesjustizministerium nicht nachweisen“. Möglicherweise halfen mangelnder Überblick und eine fehlerhafte Folgenabschätzung – nicht aber eine „strafvereitelnde Intervention“ – die von Best erstrebte Amnestierung versehentlich doch noch zu verwirklichen. Anklage als Haupttäter Best selber allerdings wurde nun doch am 11. März 1969 verhaftet und nach Berlin überstellt. Ihn sahen die Berliner Staatsanwälte nicht im mindesten als Gehilfen oder Nebentäter an, sondern als Haupt- bzw. Mittäter, der mit der Aufstellung von Einsatzgruppen beim Überfall auf Polen für die Ermordung von etwa 10.000 Menschen verantwortlich war. Das soeben mehrheitlich gescheiterte RSHA-Verfahren wurde nun für Best doch noch eine Bedrohung: Die umfangreichen Vorermittlungen, die seine Rolle nebenbei enthüllt hatten, wendeten sich gegen ihn. Inzwischen war der Justiz auch die aufeinander abgestimmte Verteidigung in einer Vielzahl von NS-Prozessen aufgefallen, und als deren Urheber kam vor allem Best in Frage. Eine Hausdurchsuchung bei Best und in den Geschäftsräumen von Stinnes führte zur Beschlagnahmung von Bests Unterlagen, mit denen er die Verteidigung in vielen Prozessen gefüttert und Aussagen koordiniert hatte. Von nun an hatte die Justiz Gewissheit über Bests Rolle, wie auch über eine Vielzahl belastender Dokumente und bestellter Entlastungszeugen. Bests eigene Möglichkeiten, sich so zu verteidigen, wie er es anderen NS-Tätern ermöglicht hatte, schwanden damit dahin. 1971 wurde die Anklageschrift formuliert und die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbereitet. Zwar wurde der Haftbefehl – unter dem Protest der Staatsanwälte, die eine politisch motivierte Intervention des neuernannten Haftrichters vermuteten – aufgehoben und Best vorläufig entlassen, dies erschien angesichts der Entschlossenheit der Staatsanwaltschaft und ihrer gründlichen Vorbereitung aber nur als Teilsieg. Mit einer Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe musste nun auch Best rechnen. Derweil hatte Stinnes 1971 Konkurs anmelden müssen, so dass Bests Tätigkeit dort endete. Best konzentrierte sich fortan auf seine Familie, sein Privatleben und die Vermeidung eines Prozesses gegen ihn. Daneben arbeitete er bis 1988 mit dem deutsch-dänischen Journalisten Siegfried Matlok für einen dänischen Verlag an dem Buch Dänemark in Hitlers Hand, das in Dänemark große Aufmerksamkeit fand und in dem er seine eigene Rolle noch einmal zu rechtfertigen versuchte. Verhandlungsunfähigkeit Der Justiz entging er, indem er unter Verweis auf seine angegriffene Gesundheit – Best hatte auf die Haft erneut mit Depressionen reagiert – einen Antrag auf Haftverschonung stellte, dem vorläufig stattgegeben wurde. Die folgenden Jahre sahen eine erbitterte Abfolge von ärztlichen Gutachten und Gegengutachten, während deren Best für ein halbes Jahr erneut in Untersuchungshaft kam, nur um dann – einige Gutachten später – wieder entlassen zu werden. Am 10. Februar 1972 erhob die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen Best wegen der „gemeinschaftlich mit Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und Müller“ begangenen Ermordung von mindestens 8723 Menschen in Polen. Jedoch wurde das Hauptverfahren mit Verweis auf Bests psychische Gesundheit nicht eröffnet. Ende der 1970er-Jahre lehnte das Landgericht Duisburg eine Wiederaufnahme des Verfahrens wieder mit einem Verweis auf Bests Gesundheit (und nun auch sein Alter) ab und stellte seine dauernde Verhandlungsunfähigkeit fest. 1987 sagte Best in einem Prozess für den Offizier der Sicherheitspolizei Modest Graf von Korff aus, den er aus seiner Zeit in Frankreich kannte. Einem Bonner Staatsanwalt fiel Bests waches und überaus gesundes Auftreten auf, und er wies die Duisburger Staatsanwaltschaft darauf hin. Diese ordnete eine erneute Begutachtung Bests an. Der medizinische Gutachter stellte am 13. April 1989 eine partielle Verhandlungsfähigkeit fest, und die Staatsanwaltschaft stellte am 5. Juli 1989 – unter Vorlage der alten Anklageschrift – einen Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens. Werner Best lebte zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr. Er war am 23. Juni 1989 gestorben. Bedeutung für den Nationalsozialismus Theoretischer Beitrag zum Polizeistaat Best spielte als Theoretiker der Sicherheitspolizei eine entscheidende Rolle. In seinem Lehrbuch zum Polizeirecht von 1940 versuchte Best, die generalpräventive Loslösung der Polizei und der Gestapo von jeglicher Gesetzesbindung zu legitimieren. Dadurch sorgte er für eine quasi-juristische Rechtfertigung von Willkürmaßnahmen: Nachdem er weiter ausführte, dass auch ohne ein abschließend zusammengefasstes neues Polizeirecht ältere Gesetze und Rechtsvorstellungen über den Führererlass vom 17. Juni 1936, durch den Heinrich Himmler mit der Leitung und Vereinheitlichung der deutschen Polizei betraut worden sei und das Preußische Gesetz über die Geheime Staatspolizei vom 10. Februar 1936 neu interpretiert werden müssten, so dass auch kam er zum Ergebnis: Für die Gestapo hatte er 1936 festgehalten: Theoretischer Beitrag zur NS-Herrschaft über Europa Bests Vorstellungen über die Art und Weise, wie die NS-Herrschaft über Europa begründet und ausgestaltet werden sollte, konnte er nach seinem Ausscheiden aus dem RSHA nicht mehr nahtlos in Gesetze und informelle Richtlinien überführen. Daher war er auf die Veröffentlichung in Fachzeitschriften (wie der von ihm mitgegründeten RVL), Festschriften und auf Vorträge angewiesen. In einer Festschrift für Heinrich Himmler erläuterte er seine Vorstellungen exemplarisch: In kritischer Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, der in Staaten die eigentlichen Träger politischer Ordnung sah, hatte Best zuvor die Vorstellung einer „Völkischen Großraumordnung“ entwickelt, in der dominierende Völker eine Zone der Herrschaft um sich aufrichteten und sich darin keinerlei normativen Einschränkungen ausgesetzt sehen müssten. Allein die Macht sei die alles stiftende Quelle politischer Ordnung, und neben den Völkern (und nicht wie bei Schmitt in erster Linie den Staaten) gäbe es keine sonstigen Fixpunkte normativer Werte, die gegen die errichtete Ordnung des Nationalsozialismus aufgerechnet werden könnten. Es gebe völkische Lebensgesetze, die in unveränderbaren Interessen der Völker bestünden, und denen einerseits zu folgen sei, deren Rahmen andererseits steuernd ausgestaltet werden könne. Dies erlaube es auch, unerwünschte Völker aus der Großraumordnung zu vertreiben – oder eben auch zu vernichten –, ganz wie es dem dominierenden Großraum-Volk nach erfolgter Sachabwägung günstig erscheine. In Bests sorgfältig – und in juristisch nüchternem Ton formulierter – abgestufter Herrschaftsmethodik liegt die eigentliche Radikalität seiner Weltanschauung. Diese Methodik reichte von einer „Bündnis“- oder „Aufsichts“-Verwaltung für die einen (Dänen und Franzosen) über die nur noch begrenzt eigenständige „Regierungs“-Verwaltung – in der wie im tschechischen Beispiel nur noch Teile der unterworfenen Verwaltung unter deutscher Regierung bestehen bleiben sollten – bis hin zur ungleich härteren „Kolonial-Verwaltung“ für andere Völker (Generalgouvernement Polen, Völker der Sowjetunion). Die normative Bindungslosigkeit und die mögliche und leidenschaftslose Vernichtung missliebiger Völker (Juden) bildeten den Hintergrund dieser Methodik. Best versuchte, Himmler in dieser Festschrift von den ressourcenschonenden Möglichkeiten der indirekten Form einer „relativ lockeren Besatzung zu überzeugen“ (womit er scheitern sollte), dies aber nicht aus ethischen Gründen, sondern um die Steuerungsfähigkeit gegenüber dem besetzten Europa zu gewährleisten. Ziel war nicht die Vermeidung von Völkermord, sondern seine präzisierte Indienststellung nach Prinzipien politischer Klugheit im Rahmen vorausgesetzter völkischer „Lebensgesetze“. In einem weiteren Aufsatz führte Best mit lakonischer Deutlichkeit aus: . Sie sei nur kein Zweck an sich, sondern gegen andere Interessen und Herrschaftserfordernisse sorgfältig abzuwägen. Kein anderer Vertreter des Nationalsozialismus bekundete bereits 1941 in derart breiter Öffentlichkeit die Bereitschaft zu „systematischer Rassenvernichtung“, wie Best es in aller Selbstverständlichkeit tat. Anders als in den Gestapogesetzen wurden diese Überlegungen Bests nach seinem Ausscheiden aus dem RSHA nicht sofort Richtschnur für die Verwaltung, sie repräsentierten eher einen elitär-nationalsozialistischen Diskurs innerhalb der SS. Aber sie gingen von einer laufenden und sich radikalisierenden Herrschaftspraxis in Osteuropa aus und lieferten den Funktionsträgern aus der SS das theoretische Rüstzeug für ihr Vorgehen. Best wurde – so Ulrich Herbert – trotz seiner Bereitschaft zur Teilkritik an Einzelaspekten der NS-Herrschaft „als führender Großraumtheoretiker der SS“ wahrgenommen und anerkannt. Typus des nationalsozialistischen Intellektuellen Best war während seiner politischen Karriere im NS-Staat in hohem Maße daran interessiert, dessen Herrschaft nicht nur praktisch durchzusetzen, sondern auch theoretisch zu begründen. Dieser Anspruch ging sowohl auf seine Jugend und Adoleszenz in elitär-akademischen völkischen Organisationen zurück, wie auch auf seine Prägung als fähiger Prädikatsjurist sowie auf seine Sicht der SS als der intellektuellen Elite des Nationalsozialismus. Sein Anspruch führte Best schon früh zu einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit. In gewisser Weise gingen diese Überzeugungen jeder persönlichen und institutionellen Bindung – ob an Himmler, Hitler oder die NSDAP – voraus und fanden in der Ideologie des Nationalsozialismus nicht ihre Ursache, sondern ihren Träger. Tatsächlich gab Best in alliierten Verhören – in denen er wahrheitswidrig jede Kenntnis des Holocaust bestritt – nach dem Krieg in Nürnberg an, seine Weltanschauung sei nicht erst unter dem Einfluss Hitlers und der NSDAP entstanden, und er sei durchaus in der Lage gewesen, Hitler immer auch kritisch zu sehen: In seinen Überzeugungen war er deshalb alles andere als ein widerspruchsloser Befehlsempfänger, tatsächlich wagte er in seiner Laufbahn mehrfach den Konflikt mit Heydrich, Himmler und Hitler selbst. Gegenüber politischer Unbeherrschtheit oder Unklarheit vertrat Best stets die Haltung eines kühlen, zielgerichteten Rationalismus auf völkischer Grundlage, den er selbst als „Sachlichkeit“ verstand und der ihn durch seine Karriere trug. Wie sein Bruch mit Heydrich zeigt, war diese Haltung seinem beruflichen Vorankommen manchmal jedoch zugleich ein Hindernis. Noch nach dem Krieg verwahrte er sich gegen den Vorwurf, er habe aus Hass gegen die Juden gehandelt. Vielmehr sah er seine Tätigkeit als die sachliche Ausführung des Notwendigen an. Damit prägte Best den Nationalsozialismus und vor allem die Führungsstrukturen des Reichssicherheitshauptamtes deutlich als Teil jener relativ jungen, meist akademisch gebildeten „Generation des Unbedingten“, die im Habitus rational auftrat, aus diesem Habitus heraus auch Einzelaspekte des Nationalsozialismus kritisch bewerten konnte, hinter dieser Rationalität aber zutiefst radikale völkische Prämissen offenbarte, die politisch fast ungebremst wirksam wurden und im millionenfachen Massenmord endeten. Bests theoretische Überlegungen über die Rolle der Polizei ermöglichten es ihm, die unumschränkte Herrschaft der Sicherheitspolizei zu etablieren. Seine Überzeugungen über die Völker Europas erlaubten es ihm, Herrschaftstechniken zu entwickeln, die flexibel anpassbar waren: Völkische Härte für Osteuropäer, ein gewisser Freiraum für die Völker Frankreichs und völkische Liberalität für die Dänen, ohne dass Best selbst in einer milderen Herrschaftspraxis einen Konflikt mit seinen völkischen Überzeugungen sehen musste. Bests theoretische und intellektuelle Bemühungen lassen sich insofern nicht von seinen praktischen Funktionen in der Hierarchie des NS-Systems trennen. Seine nie hinterfragte axiomatische Prämisse, dass Völker grundverschieden und die ausschließlichen Träger der Geschichte seien und die Juden deswegen – bis hin zu ihrer Vernichtung – von den Deutschen zu trennen seien, gestattete es ihm, umfangreiche und höchst radikale antisemitische Gesetze frei von Hass und Mitleid zu formulieren und sie auf das besetzte Europa auszudehnen, ohne dass er je nach einer tieferen und über diese Prämissen hinausgehenden Begründung für den Mord an den Juden gefragt hätte. Offenbar hat er eine solche Begründung auch nicht vermisst. Geschichtswissenschaftliche Rezeption Bests Rolle als akademisch gebildeter nationalsozialistischer Funktionär und SS-Intellektueller mit beträchtlichem Gestaltungsraum blieb über Jahrzehnte hinweg unentdeckt, ehe Ulrich Herbert sie für seine Habilitationsschrift bis 1992 ausführlich untersuchte und 1996 in der erweiterten Fassung der Biographie Best veröffentlichte. Dadurch wurde das Interesse der Geschichtswissenschaft auf die Rolle, den großen Einfluss, die sozialen Merkmale, die Motivation und die Beweggründe der von Himmler und Heydrich geförderten Führungsschicht im Sicherheitsapparat des Dritten Reiches gelenkt. Deren Angehörige konnten bereits aufgrund ihres relativ geringen Lebensalters nicht zur obersten Führungsschicht im nationalsozialistischen Herrschaftsapparat gehören, und ihre politische Sozialisation war auch nicht allein in den Untergliederungen der NSDAP erfolgt, sondern – bürgerlich unauffällig – an den Schulen und Universitäten der Weimarer Republik: Akademisch gebildet, meist dem völkischen Milieu verbunden und oft überdurchschnittlich begabt und aufstiegsorientiert, war ihr Dienst am Nationalsozialismus kein Ergebnis blinder Verführung oder propagandistischer Überwältigung, sondern Ausdruck einer bewussten Entscheidung, der sie mit moralischer Kälte nachkamen. Herberts aufsehenerregende Habilitationsschrift, die gilt, wurde zum Anknüpfungspunkt weiterer Studien etwa von Karin Orth, Michael Wildt oder Lutz Hachmeister. Diese Arbeiten konzentrierten sich auf die Lebensläufe, Karrieren und charakteristischen Merkmale, Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser NS-Führungskader der zweiten Reihe, deren wichtiger Beitrag zur Entstehung und zum Ablauf der Besatzungs- und Vernichtungspolitik des Dritten Reiches bis dahin übersehen worden war. Innerhalb der NS-Forschung wurde damit neben den Positionen der Intentionalisten und der Strukturalisten eine dritte Sichtweise begründet, die das Augenmerk auf die eigenständigen ideologischen Antriebe von NS-Eliten legte, die mit Hitlers Intentionen und den institutionellen Interessen der NS-Polykratie dynamische Querverbindungen eingingen. Weder die Intention Hitlers noch der Konkurrenzkampf zwischen den formalen Organisationen und den Interessengruppen des Dritten Reiches allein erklären deswegen die Entstehung und den Ablauf des NS-Vernichtungsprogramms, sondern vielmehr auch das tätige und ideologisch motivierte Mitwirken von NS-Kadern (wie Werner Best) innerhalb eines Rahmens von ihnen auf diesen Zweck hin ausgerichteten Institutionen (wie beispielsweise dem RSHA) muss zur Erklärung herangezogen werden. Veröffentlichungen (unvollständig) Zur Frage der „Gewollten Tarifunfähigkeit“. Dissertation. Universität Heidelberg 1929. „… wird erschossen“: die Wahrheit über das Boxheimer Dokument. Selbstverlag, Mainz 1932. Die Geheime Staatspolizei, in: Deutsches Recht 6 (1936), S. 125–128. Erneuerung des Polizeirechts. In: Kriminalistische Monatshefte. 12, 1938, S. 26–29. Apologie des Juristen, in: Deutsches Recht Nr. 9, Jahrgang 1939, S. 196ff Der politischste Beruf, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 12. April 1939, Die Verwaltung in Polen vor und nach dem Zusammenbruch der polnischen Republik. von Decker, Berlin 1940. Herrenschicht oder Führungsvolk? In: Reich-Volksordnung-Lebensraum. Bd. 3, 1942, S. 122–139 (erschienen mit anonymisiertem Verfassernamen). Die deutsche Polizei. L.C. Wittich, Darmstadt 1940 (Forschungen zum Staats- und Verwaltungsrecht, Bd. 5, hrsg. von Reinhard Höhn). Grundfragen einer deutschen Grossraum-Verwaltung. In: Festgabe für Heinrich Himmler … für den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler zu seinem 40. Geburtstag verfasst und ihm am 5. Jahrestag der Übernahme der Deutschen Polizei am 17. Juni 1941 überreicht. 1941, S. 33–60. Die deutsche Militärverwaltung in Frankreich. In: Reich, Volksordnung, Lebensraum. Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung. (RVL) 1, 1941, S. 29–76. Grossraumordnung und Grossraumverwaltung. In: Zeitschrift für Politik. 32, 1942, S. 406–412. Siegfried Matlok (Hrsg.): Dänemark in Hitlers Hand. Der Bericht des Reichsbevollmächtigten Werner Best über seine Besatzungspolitik in Dänemark mit Studien über Hitler, Göring, Himmler, Heydrich, Ribbentrop, Canaris u. a. Husum-Verlag, Husum 1988, ISBN 3-88042-436-5. Die „Philosophie des Dennoch“. Grundzüge einer zeitgemäßen Philosophie. Manuskript ohne Datum (etwa 1953), aufbewahrt im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Rep 242 (Verfahren gegen Best und andere wg. Mordes), Dokumentenordner 32 Die Gestapo. Manuskript ohne Datum (ebenfalls etwa 1953), aufbewahrt im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Rep 242 (Verfahren gegen Best und andere wg. Mordes), Dokumentenordner 32 Literatur Tôviyyā Friedman (Hrsg.): Die zwei Nazi-Herrscher in Dänemark. Günther Pancke; Werner Best. Eine dokumentarische Sammlung. Institute of Documentation in Israel for the Investigation of Nazi War Crimes, Haifa 1998 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989. Dietz, Bonn 1996, ISBN 3-8012-5019-9. Ulrich Herbert: Werner Best – Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. Verlag Willmuth Arenhövel, Berlin 1997 (Broschüre, 24 Seiten). Serge Klarsfeld: Vichy – Auschwitz: die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der Endlösung der Judenfrage in Frankreich. Übersetzt von Ahlrich Meyer. Greno, Nördlingen 1989, ISBN 3-89190-958-6. Jochen Lengemann: MdL Hessen. 1808–1996. Biographischer Index (= Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen. Bd. 14 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Bd. 48, 7). Elwert, Marburg 1996, ISBN 3-7708-1071-6, S. 73. Franz Maier: Biographisches Organisationshandbuch der NSDAP und ihrer Gliederungen im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz. Mainz 2007, ISBN 978-3-7758-1407-2, S. 142–144. Ahlrich Meyer: Großraumpolitik und Kollaboration im Westen. Werner Best, die Zeitschrift „Reich-Volksordnung-Lebensraum“ und die deutsche Militärverwaltung in Frankreich. In: Götz Aly (Hrsg.): Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum. Rotbuch Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-88022-959-7 (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Bd. 10), S. 29–76. Ahlrich Meyer: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2000, ISBN 3-534-14966-1. Fritz Petrick: Werner Best – ein verhinderter Generalgouverneur. In: Ronald Smelser/ Enrico Syring (Hrsg.): Die SS. Elite unter dem Totenkopf. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2000, S. 60–76. Klaus-Dieter Rack, Bernd Vielsmeier: Hessische Abgeordnete 1820–1933. Biografische Nachweise für die Erste und Zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen 1820–1918 und den Landtag des Volksstaats Hessen 1919–1933 (= Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen. Bd. 19 = Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission. NF Bd. 29). Hessische Historische Kommission, Darmstadt 2008, ISBN 978-3-88443-052-1, Nr. 49. Hans Georg Ruppel, Birgit Groß: Hessische Abgeordnete 1820–1933. Biographische Nachweise für die Landstände des Großherzogtums Hessen (2. Kammer) und den Landtag des Volksstaates Hessen (= Darmstädter Archivschriften. Bd. 5). Verlag des Historischen Vereins für Hessen, Darmstadt 1980, ISBN 3-922316-14-X, S. 64. Hermann Weiß (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-13086-7. Sebastian Werner: Werner Best – Der völkische Ideologe. In: Ronald Smelser/Enrico Syring/Rainer Zitelmann (Hrsg.): Die braune Elite 2. 21 weitere biographische Skizzen, 2. aktualisierte Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, S. 13–25. Film, Filmbeiträge Gerolf Karwath: Hitlers Eliten nach 1945. Teil 4: Juristen – Freispruch in eigener Sache. Regie: Holger Hillesheim. Südwestrundfunk (SWR, 2002). Weblinks Nazis und „Nationale Sammlung“: „Pflicht nach rechts“. Die FDP in den fünfziger Jahren. In: AIB, Heft 59, 2003, S. 44–46. Zeugenschrifttum Werner Best. In: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München, Signatur ZS 0207/1-2. (online, PDF, 23,9 MB) Hitlers Eliten nach 1945. Teil 4: Freispruch in eigener Sache. Dokumentation, Saarländischer Rundfunk 2002 (Video bei YouTube). Nachlass Bundesarchiv N 1023 Einzelnachweise Person (deutsche Besetzung Frankreichs 1940–1945) Person (deutsche Besetzung Dänemarks 1940–1945) Person (deutsche Besetzung Polens 1939–1945) Person (Reichssicherheitshauptamt) Jurist in der Polizeiverwaltung Polizeipräsident (Landespolizeipräsident) Rechtsanwalt (Deutschland) Jurist (Nationalsozialismus) Landtagsabgeordneter (Volksstaat Hessen) Mitglied im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund Zeuge in den Nürnberger Prozessen Zum Tode verurteilte Person (NS-Kriegsverbrechen) Ministerialdirektor (NS-Staat) SS-Obergruppenführer Kreisleiter (NSDAP) NSDAP-Mitglied Gestapo-Personal Deutscher Geboren 1903 Gestorben 1989 Mann
166528
https://de.wikipedia.org/wiki/Mot%C3%B6rhead
Motörhead
Motörhead [] war eine 1975 in London gegründete Rockband. Die Musik von Motörhead vereinte Einflüsse aus Punk, Hard Rock, Rock ’n’ Roll und Bluesrock. Ihr Einfluss auf andere Musiker und Bands war und ist im Vergleich zum eigenen kommerziellen Erfolg sehr groß. Zwischen 1979 und 1982 hatte die Band ihre kommerziell erfolgreichste Phase. Die Alben aus dieser Zeit wie Overkill, Bomber (beide 1979) und Ace of Spades (1980) gelten als wegweisend für den Heavy Metal und als Klassiker des Genres. Seit den frühen 2000er Jahren verzeichnete Motörhead wieder eine steigende Popularität. Die Bandgeschichte war von zahlreichen Wechseln in der Besetzung, beim Management und der Plattenlabel geprägt. Motörhead stand bei insgesamt 16 verschiedenen Labels unter Vertrag. Seit 1995 war die Gruppe unverändert in der Besetzung Lemmy Kilmister (E-Bass, Gesang), Phil Campbell (E-Gitarre) und Mikkey Dee (Schlagzeug) aktiv. Einen Tag nach dem Tod von Lemmy Kilmister am 28. Dezember 2015 erklärte Mikkey Dee das Ende der Band. Charakteristisch für Motörhead war, dass der E-Bass die Rolle der Rhythmusgitarre übernahm, wodurch die Klangfarbe der Musik deutlich basslastiger als die vergleichbarer Gruppen wie AC/DC war. Im Auftreten und in den Liedtexten präsentierte die Gruppe sich als „Outlaws“. Damit sicherte sich Motörhead die Sympathien der Punk-Szene der späten 1970er Jahre und diente so als Bindeglied zwischen Punk und Heavy Metal. Geschichte Gründung und frühe Jahre Die Geschichte von Motörhead ist untrennbar mit der des Sängers und Bassisten Ian „Lemmy“ Kilmister verbunden. Der am 24. Dezember 1945 in Stoke-on-Trent, Staffordshire, England geborene Ian Kilmister, Sohn eines Feldkaplans der Royal Air Force und einer Bibliothekarin, spielte seit 1971 Bass bei der britischen Space-Rock-Band Hawkwind. Während einer Nordamerika-Tournee wurde er an der Grenze der USA zu Kanada im Mai 1975 wegen Besitzes von Amphetaminen festgenommen. Die Band stellte die Kaution für Kilmister und flog ihn für den Auftritt nach Toronto ein, weil sie auf die Schnelle keinen Ersatz finden konnte, allerdings wurde er nach dem Konzert gefeuert. Kilmister kehrte nach England zurück und begann sofort mit der Zusammenstellung einer neuen Band. Gitarrist Larry Wallis kannte er von gemeinsamen Auftritten mit UFO und den Pink Fairies, Schlagzeuger Lucas Fox wurde ihm von einer Freundin empfohlen. Kilmister spielte Bass und übernahm den Gesang. Ursprünglich sollte die Band Bastard heißen, allerdings hielt der damalige Bandmanager Douglas Smith den Namen nicht für medientauglich. Daraufhin wählte Kilmister „Motörhead“ als Bandnamen. Die Bezeichnung stammt aus dem US-amerikanischen Slang, bedeutet „geschwindigkeitssüchtig“ und ist auch ein Synonym für Konsumenten amphetaminhaltiger Drogen. Zugleich ist „Motorhead“ der Titel des letzten Liedes, das Kilmister für Hawkwind geschrieben hatte. Dieses Lied wurde ursprünglich als B-Seite der Hawkwind-Single Kings of Speed veröffentlicht. Die Verwendung des in der englischen Sprache nicht gebräuchlichen Buchstabens ö im Bandnamen geht auf die Gruppe Blue Öyster Cult zurück. Das Motörhead-Logo mit diesem Umlaut stammt vom Grafiker Joe Petagno, der das Cover für das erste Album der Gruppe anfertigte. Dieser sogenannte Heavy-Metal-Umlaut fand auch Verwendung in den Spitznamen der Bandmitglieder Phil Campbell („Wizzö“) und Mick Burston („Würzel“) sowie in verschiedenen Albumtiteln. Am 20. Juli 1975 absolvierten Motörhead ihren ersten Auftritt im Londoner Roundhouse im Vorprogramm der Band Greenslade und im Oktober 1975 spielte die Band als Opener für Blue Öyster Cult im Hammersmith Odeon. United Artists, das Plattenlabel von Hawkwind, nahm Motörhead unter Vertrag und im Frühjahr 1976 ging die Band ins Tonstudio, um ihr erstes Album On Parole aufzunehmen. Bereits während der Aufnahmen kam es zu Spannungen mit Schlagzeuger Lucas Fox, der mit dem von übermäßigem Konsum von Alkohol und anderen Drogen gekennzeichneten Lebensstil der übrigen Musiker nicht mithalten konnte. Durch einen gemeinsamen Freund lernte Kilmister Phil „Philthy Animal“ Taylor kennen, und nach einer Jamsession mit ihm wurde Fox gefeuert, durch Taylor ersetzt und die Aufnahmen in dieser Besetzung fertiggestellt. Allerdings verhinderte das Plattenlabel die Veröffentlichung des Albums und einer Single, die Motörhead für ihr neues Label Stiff Records im Sommer 1976 aufgenommen hatte. Während dieser Zeit kam Kilmister auf die Idee, die Band mit „Fast“ Eddie Clarke um einen zweiten Gitarristen zu erweitern. Zur ersten gemeinsamen Probe erschien Larry Wallis um mehrere Stunden verspätet und verließ danach die Band. Als Hauptgrund für seinen Weggang gab Wallis später an, er hätte wegen der Probleme bei den Aufnahmen die Lust an Motörhead verloren und das Gefühl, Clarke wäre von Anfang an dazu gedacht gewesen, ihn zu ersetzen. Kommerzieller Durchbruch und Erfolg Ende 1976 entließ United Artists die Band aus dem bestehenden Vertrag. Ohne gültigen Plattenvertrag beschloss Motörhead im Frühjahr 1977, sich wegen Erfolglosigkeit aufzulösen und ein letztes Konzert zu geben. Während dieses Konzerts war Ted Carroll von Chiswick Records anwesend und bot den Musikern im Anschluss einen Plattenvertrag für eine Single an. Aus den Aufnahmen zur Single wurden Aufnahmen für ein vollständiges Album, das im September 1977 unter dem Titel Motörhead erschien. Eingespielt wurde es in der Besetzung Kilmister, Taylor und Clarke und bedeutete mit Platz 43 der britischen Albumcharts den ersten kommerziellen Erfolg der Band. Die Beyond the Tresholds of Pain Tour zum Album musste Motörhead nach fünf Auftritten abbrechen, weil Phil Taylor sich das Handgelenk gebrochen hatte. Nachdem es Mitte 1978 zum Bruch mit Bandmanager Tony Secunda gekommen war, weil dieser den Vertrag mit Chiswick Records gekündigt hatte, übernahm Douglas Smith wieder das Management und besorgte Motörhead einen Vertrag mit Bronze Records. Das erste Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die Single Louie Louie, die am 25. August 1978 erschien und Platz 68 der britischen Singlecharts erreichte. Nach einer Tournee im Herbst 1978 wurde das Album Overkill aufgenommen und am 24. März 1979 veröffentlicht. Es erreichte in Großbritannien Platz 24 der Albumcharts und erhielt eine „Silberne Schallplatte“ für mehr als 60.000 verkaufte Einheiten. Nach Abschluss der Tournee zu Overkill nahm Motörhead das nächste Album auf, das am 27. Oktober 1979 unter dem Titel Bomber erschien; es erreichte Platz 12 der britischen Albumcharts und ebenfalls Silber-Status. Damit erzielten die Musiker erstmals Einnahmen, von denen sie leben konnten, und investierten einen Großteil der Tantiemen in die Ausrüstung der Band. Kurz nach Bomber und dem damit verbundenen kommerziellen Erfolg veröffentlichte United Artists Records im Herbst 1979 das bereits 1976 aufgenommene On Parole. Da die Rechte an dem Album beim Plattenlabel lagen, benötigten sie dafür nicht das Einverständnis der Band. Während der Tournee zu Bomber wurden vier Titel live mitgeschnitten und erschienen im Mai 1980 als EP The Golden Years, die mit Platz 8 die britischen Top Ten erreichte. Die Strapazen des Tourneelebens forderten ihren Tribut, als Kilmister nach einem Konzert in der Stafford Bingley Hall im Juli 1980 kollabierte. Nach einer kurzen Erholungsphase begann die Band Anfang August mit den Aufnahmen zu Ace of Spades, das am 8. November 1980 erschien. Das Album war der größte Erfolg von Motörhead in Großbritannien mit Platz 4 der Albumcharts und Gold-Status für mehr als 100.000 verkaufte Einheiten. Die Single Ace of Spades erreichte Platz 15 der britischen Singlecharts. Im November begann die Ace-Up-Your-Sleeve-Tour durch Großbritannien und Nordirland. Nach einem Auftritt in Belfast verletzte sich Phil Taylor an der Halswirbelsäule, sodass die für Anfang 1981 geplanten Auftritte in Europa verschoben werden mussten. Während dieser Zeit nahm Motörhead gemeinsam mit Girlschool die EP St. Valentine’s Day Massacre auf, auf der sich mit Please Don’t Touch eine Coverversion von Johnny Kidd & the Pirates befand. Die EP erreichte Platz 5 der Charts. Im März 1981 wurde die Tournee fortgesetzt. Während der Auftritte in Leeds und Newcastle wurden die Aufnahmen gemacht, die auf dem im Juni 1981 veröffentlichten Live-Album No Sleep ’til Hammersmith zu hören sind. Dieses Album stieg in der ersten Chartwoche auf Platz 1 der britischen Albumcharts ein. Für das Album erhielt Motörhead ihre bislang letzte Goldene Schallplatte in Großbritannien. Bandinterne Streitigkeiten und Besetzungswechsel Nach Abschluss der USA-Tournee mit Ozzy Osbourne kehrte Motörhead nach Europa zurück und begann mit den Aufnahmen zum nächsten Album Iron Fist. Während dieser Zeit kam es zu Differenzen zwischen dem Management und der Band, da die Mitglieder von Motörhead vermuteten, dass sie in finanzieller Hinsicht betrogen worden waren. Diese Probleme schlugen sich in den Aufnahmen nieder, weil das Management nicht die nötigen 10.000 Pfund für die Produktion des Albums zur Verfügung stellte. Daraufhin entschied Kilmister, dass Eddie Clarke das Album produzieren sollte. Nachdem Kilmister während der laufenden Tournee zum Iron-Fist-Album Clarke dazu verpflichtet hatte, auch die Aufnahmen zur Stand-by-Your-Man-EP mit Wendy O. Williams zu produzieren, kam es im Studio zum offenen Streit zwischen beiden Musikern, in dessen Folge Clarke Motörhead verließ. Zwar spielte Clarke noch zwei ausstehende Shows in New York und Toronto, war aber zu dem Zeitpunkt kein offizielles Mitglied von Motörhead mehr. Ersetzt wurde Clarke durch Brian Robertson (ehemals Thin Lizzy), den Kilmister bereits seit Jahren kannte. Weil er kurzfristig verfügbar war, ließ die Band ihn von Europa nach Kanada einfliegen. Nach einer kurzen Probe spielte er das erste Konzert mit Motörhead in Detroit im Juni 1982. Es folgten weitere Auftritte in Japan und Europa, bevor im März 1983 die Aufnahmen zu Another Perfect Day begannen. Das Album gilt wegen Robertsons Gitarrenarbeit als motörhead-untypisch, weil es raffiniertere und extravagantere Melodien als die anderen Alben enthält. Mit dem im Juni 1983 veröffentlichten Album begann der kommerzielle Erfolg von Motörhead nachzulassen, es erreichte nicht mehr die Top Ten der Albumcharts und erhielt keine Auszeichnung für die Anzahl der Verkäufe. Die Fans von Motörhead mochten Another Perfect Day zunächst nicht und warfen der Band vor, eher kommerzielle als musikalische Interessen zu verfolgen; heute gilt das Album als Geheimtipp. Die Zusammenarbeit mit Robertson währte bis zum Herbst 1983. Während der laufenden Tournee weigerte er sich zunächst, alte Motörhead-Lieder zu spielen. Zum Eklat kam es nach einem Konzert in Hannover, bei dem Robertson trotz Ermahnung durch Kilmister dreimal das Lied Another Perfect Day anstimmte. Daraufhin feuerte Kilmister ihn und sagte den Rest der Tour ab. In einem Interview mit der Musikzeitschrift Melody Maker gab Kilmister bekannt, dass Motörhead auf der Suche nach einem neuen Gitarristen sei. Aus der Vielzahl der Bewerbungen wurden Phil Campbell und Michael „Würzel“ Burston ausgewählt. Um sich für einen entscheiden zu können, setzte Kilmister ein Vorspielen an, zu dem Schlagzeuger Taylor jedoch nicht erschien und stattdessen erklärte, aufhören zu wollen. Auf Vorschlag des Bandmanagers wurde er durch Pete Gill (ehemals Saxon) ersetzt, den Kilmister seit einer gemeinsamen Tour 1979 mit Saxon kannte. Weiterhin wurde entschieden, die Band mit zwei Gitarristen fortzuführen. In dieser Besetzung setzte Motörhead im Frühjahr 1984 die im Herbst 1983 unterbrochene Tournee fort. Zur Promotion der neuen Besetzung veröffentlichte Bronze Records im September 1984 das Best-of-Album No Remorse, das neben bereits veröffentlichten Stücken vier in der aktuellen Besetzung aufgenommene neue Titel enthielt. Aufgrund von Problemen mit dem Label, das sich laut Kilmister „nicht mehr für die Band interessierte“, verließ Motörhead Ende 1984 Bronze Records, war aber wegen Rechtsstreitigkeiten bis auf weiteres daran gehindert, ein neues Album zu veröffentlichen. Während dieser Zeit bestritt die Band verschiedene Auftritte, unter anderem zum zehnjährigen Jubiläum im Juni 1985 im Hammersmith Odeon. Im November 1985 war der Streit mit Bronze Records beigelegt, und Bandmanager Douglas Smith nahm Motörhead bei seinem eigenen Plattenlabel GWR Records unter Vertrag. Das Anfang 1986 aufgenommene Studioalbum Orgasmatron erschien am 9. August 1986, gefolgt von einer Tournee. Anfang 1987 fanden die Dreharbeiten zu Motörheads Cameo-Auftritt im Film Eat the Rich statt. Während des Drehs wurde Pete Gill von Kilmister wegen persönlicher Differenzen gefeuert, und Phil Taylor kehrte zur Band zurück. Mit ihm nahm Motörhead im Juni 1987 das nächste Album Rock ’n’ Roll auf, das im September des Jahres erschien. Die darauf folgende Tournee führte die Band 1988 im Vorprogramm von Alice Cooper in die USA. Im Juli 1988 wurde ein Konzert im finnischen Hämeenlinna beim Giants of Rock aufgenommen und als Live-Album No Sleep at All veröffentlicht. Nach einer kurzen Auszeit Anfang 1989 begann die Band mit dem Songwriting für das nächste Album. Dessen Veröffentlichung verschob sich allerdings erheblich, weil sich Motörhead im Herbst 1989 von ihrem Manager und damit auch von dessen Plattenfirma GWR Records trennte. Grund für die Trennung war der Verdacht finanzieller Unregelmäßigkeiten, der schließlich zu einem Vertrauensbruch zwischen Smith und Motörhead führte. Major-Deals und die Suche nach einem neuen Plattenlabel 1990 fand Motörhead mit Phil Carson einen neuen Manager, der bereits für Robert Plant gearbeitet hatte. Carson verschaffte Motörhead einen Plattenvertrag bei WTG Records, einem Sublabel von Sony Music. Der Sitz des Unternehmens war Los Angeles, weshalb Kilmister im Juni 1990 seinen Wohnsitz dorthin verlegte, während die übrigen Bandmitglieder in England blieben. Kurz darauf begannen die Aufnahmen zum Album 1916, das im Februar 1991 erschien. Es erreichte mit Platz 142 die bis dahin höchste Notierung in den US-amerikanischen Billboard-200-Albumcharts. Während der anschließenden Tournee trennte sich Manager Carson von der Band, weil er ein besseres Angebot bekommen hatte. Das Management übernahm zunächst Sharon Osbourne, die allerdings finanzielle Unregelmäßigkeiten während der Japan-Tour der Band anlastete und den Vertrag kündigte. Ohne Management ging Motörhead auf Tour durch Australien. Darauf folgte die vom Sony-Konzern organisierte Operation-Rock-'n'-Roll-Tournee durch Nordamerika. Neben Motörhead nahmen mit Alice Cooper, Judas Priest, Metal Church und Dangerous Toys insgesamt fünf Bands daran teil, die alle bei verschiedenen Labels des Sony-Konzerns unter Vertrag standen. Gegen Ende der Tour fand Motörhead mit Doug Banker einen neuen Manager. Anfang 1992 begannen die Aufnahmen zum Album March ör Die, während der Schlagzeuger Taylor gefeuert wurde. Die Trennung hatte sich bereits abgezeichnet, endgültiger Auslöser war, dass Taylor zu den Aufnahmen erschien, ohne die neuen Stücke einstudiert zu haben. Als neuer Schlagzeuger wurde der Schwede Mikkey Dee verpflichtet, den Kilmister von einer gemeinsamen Tour mit King Diamond kannte. Dee ist erstmals auf March ör Die zu hören, das im August 1992 erschien. Erneut wechselte Motörhead das Management, neuer Manager wurde Todd Singerman. Zu dieser Zeit zeichnete sich zudem der Bankrott des Labels WTG ab. Anfang 1993 wechselte die Band zu dem auf Dance-Musik spezialisierten deutschen Label ZYX Music, weil es das beste finanzielle Angebot machte. Im November 1993 erschien mit Bastards das nächste Studioalbum. Nach der Tour zum Album trennten sich Motörhead und ZYX und die Band wechselte zu CBH, dem Label ihres deutschen Promoters Rainer Hänsel. Für das im März 1995 veröffentlichte Album Sacrifice konnte mit CMC Records erst im Nachhinein ein Distributor für die Märkte außerhalb Europas gefunden werden. Kurz darauf verließ Gitarrist Michael „Würzel“ Burston die Band, der gemeinsam mit seiner Ehefrau Lemmy Kilmister beschuldigte, ihn finanziell auszunehmen. Motörhead beschloss, keinen Ersatz für Burston zu suchen, und war seitdem als Trio in der Besetzung Kilmister, Campbell und Dee aktiv. Nach einer Tournee erschien im Oktober 1996 das nächste Studioalbum Overnight Sensation. Die dazugehörige Tournee führte die Band erstmals nach Russland, wo sie vier Auftritte in Moskau, Rostow und Sankt Petersburg bestritt. Im März 1998 erschien das Album Snake Bite Love. Auf der anschließenden Tour wurde ein Auftritt in Hamburg mitgeschnitten und 1999 als Live-Album Everything Louder than Everyone Else veröffentlicht. Ebenfalls im Jahr 1999 wurde während der Pausen der laufenden Tournee das fünfzehnte Studioalbum aufgenommen. Am 16. Mai 2000 erschien We Are Motörhead, gefolgt von einer gut ein Jahr dauernden Tournee. Steigende Popularität Einen Wendepunkt in kommerzieller Hinsicht stellte das im April 2002 veröffentlichte Album Hammered dar. Motörhead verkaufte von der Platte innerhalb eines Monats mehr Exemplare als von den beiden vorangegangenen Alben bis dahin zusammen. Da die Band wieder für größere Konzertveranstaltungen gebucht wurde, bedeutete dies einen finanziellen Aufschwung für die Musiker. Es folgte ein Plattenvertrag beim renommierten deutschen Independentlabel SPV und 2004 das Album Inferno. Weiterhin nahm Motörhead im Jahr 2004 das Lied You Better Swim für den SpongeBob-Schwammkopf-Film auf. Für ihren Titel Whiplash, eine Metallica-Coverversion, erhielt Motörhead 2005 den Grammy Award in der Kategorie Best Metal Performance. Am 16. Juni 2005 wurde im Hammersmith Apollo in London das 30-jährige Bandjubiläum gefeiert. Für Motörhead eröffneten die langjährigen Weggefährten von Saxon und Girlschool. Ebenfalls im Jahr 2005 spielte Motörhead auf dem Vaya-con-tioz-Abschiedsfestival der Böhsen Onkelz auf dem Lausitzring. Motörhead hat seit 2000 mehrmals mit der amerikanischen Wrestling-Promotionsfirma World Wrestling Entertainment (WWE) zusammengearbeitet. So wurden drei Lieder aufgenommen (The Game, Line in the Sand (Evolution) und King of Kings), die als Einzugsmusik für den Wrestler Triple H verwendet werden. Auch sind die Lieder auf den verschiedenen CDs der Promotion zu finden. Zudem hatte Motörhead Auftritte bei Wrestlemania 17 (1. April 2001) und WrestleMania 21 (3. April 2005), wo sie Triple Hs Einzüge live begleiteten. Im August 2006 wurde das Album Kiss of Death veröffentlicht – das erste seit dem 1992er-Album March ör Die, das sich in den britischen Albumcharts platzieren konnte. In Deutschland stieg es in der ersten Chartwoche auf Platz 4 der Albumcharts ein. Im Jahr 2008 erschien das Album Motörizer. Für einen Teil der Amerika-Tour 2009 wurde als Ersatz für Schlagzeuger Mikkey Dee, der wegen der Teilnahme an der schwedischen Ausgabe des Dschungelcamps nicht verfügbar war, Ex-Guns-N’-Roses-Schlagzeuger Matt Sorum verpflichtet. Im Zuge der Vorarbeiten zum 20. Studioalbum The Wörld Is Yours, das im Dezember 2010 anlässlich des 65. Geburtstages von Lemmy Kilmister und des 35-jährigen Bandjubiläums erschien, gründete die Band ein eigenes Plattenlabel unter dem Namen Motörhead Music. Während der Tournee zum Album The Wörld Is Yours wurde ein Auftritt in Santiago de Chile am 9. Juli 2011 mitgeschnitten und im November 2011 als DVD The Wörld Is Ours Vol. 1: Everywhere Further Than Everyplace Else veröffentlicht. Aufgenommen wurde das Konzert von Sam Dunns Produktionsfirma Banger Films. Seit 2011 bietet Motörhead eine eigene Getränkekollektion an. Sie besteht aus dem Rotwein Motörhead Shiraz, einem Rosé und einem Wodka mit dem Namen Vödka. Daneben wird verschiedenes Zubehör wie Wein- und Whiskygläser angeboten. Gesundheitliche Probleme Da Kilmister nach einer Operation und einem Sturz körperlich stark geschwächt war, sagten Motörhead am 2. Juli 2013 alle Festivalauftritte des Jahres ab. So musste der Auftritt der Band beim Wacken Open Air 2013 wegen Kilmisters schlechtem Zustand nach einer halben Stunde abgebrochen werden. Die gesundheitlichen Probleme des Frontmanns überschatteten auch die Aufnahmen für das 21. Studioalbum Aftershock, das am 18. Oktober 2013 erschien. Die für den Winter 2013 geplante Europatour musste zunächst verschoben und letztlich abgesagt werden. Als Grund wurde Kilmisters schlechter Gesundheitszustand genannt, bedingt durch eine seit Jahren bestehende Diabetes. 2014 nahmen Motörhead gemeinsam mit Biff Byford den Song Starstruck für ein Ronnie-James-Dio-Tributealbum auf. Es wurde am 1. April 2014 veröffentlicht und heißt This Is Your Life. Im selben Jahr hatten sie ein Konzert in Birmingham, bei dem sie zum ersten Mal wieder mit Phil Taylor und Eddie Clarke auf der Bühne standen. Diese hatten bei Ace of Spades einen Gastauftritt. Im September 2014 fand die erste Motörhead-Kreuzfahrt unter dem Titel The Motörboat Experience statt. In einem Interview mit dem Magazin Rock Hard kündigte Kilmister für 2015 ein neues Studioalbum an. Dieses wurde mit dem Titel Bad Magic am 28. August 2015 veröffentlicht. Es erreichte in der ersten Woche nach Veröffentlichung Platz 1 der deutschen Albumcharts und ist damit das erste Nummer-eins-Album der Band nach No Sleep ’til Hammersmith, das 1981 Platz 1 der britischen Albumcharts erreichte. Am Vorabend der Albumveröffentlichung musste Motörhead ein Konzert in Salt Lake City abbrechen, weil Kilmister über Atemnot klagte, das Konzert in Denver am darauf folgenden Tag wurde aus diesem Grund abgesagt. Es folgten Anfang September 2015 weitere Konzertabsagen, begründet wurde dies mit der Höhenkrankheit, die sich Kilmister in Salt Lake City zugezogen haben soll. Am 8. September setzte Motörhead die begonnene Tour in St. Louis fort. Tod von Lemmy Kilmister Am 28. Dezember 2015 verstarb Lemmy Kilmister an einer Krebserkrankung. In einem Interview mit der schwedischen Zeitung Expressen sagte der Schlagzeuger Mikkey Dee, dass durch den Tod des Sängers die Band nicht mehr bestehen würde. Künftige Tourneen und neue Alben schloss er kategorisch aus, womit das Ende der Band offiziell besiegelt wurde. UDR Music gab bekannt, am 27. Mai 2016 mit Clean Your Clock ein Live-Album der Band veröffentlichen zu wollen. Das Album, welches Material ihrer Shows vom 20. und 21. November 2015 im Münchner Club Zenith zeigt, wurde als DVD, Blu-Ray-Disc, CD, Vinyl und als Boxset veröffentlicht. Das letzte Konzert der Band fand am 11. Dezember 2015 in der Max-Schmeling-Halle in Berlin statt, nachdem es am 27. November 2015 aufgrund einer Erkrankung von Gitarrist Phil Campbell verschoben wurde. Stilistische Einordnung Motörhead wird in der Literatur und in Musikzeitschriften meist dem Genre des Heavy Metal zugeordnet, obwohl in die Musik Stilelemente aus dem Hard Rock, dem Punk- und dem Bluesrock einfließen. Der Musikwissenschaftler Dietmar Elflein kommt in einer Analyse der Musik der Band 2010 zu dem Schluss, dass aufgrund der Backbeat-Technik im Schlagzeugspiel, der Shuffles sowie der verwendeten Bluesschemata musiktheoretisch eine Zuordnung der Band zum Heavy Metal nicht in Betracht kommt, in einem Interview mit der taz bezeichnete er die Musik von Motörhead als „Chuck Berry, nur verzerrter und lauter“. Steve Waksman schreibt in einer Studie aus dem Jahr 2009, dass Motörhead im musikalischen Gesamtkontext die erste Band war, die Punk und Heavy Metal kombinierte. Ian Christe bezeichnet Motörhead als das Bindeglied zwischen Black Sabbath und dem aufkommenden Punk Mitte/Ende der 1970er Jahre. Black Sabbath habe den Heavy Metal erfunden, Judas Priest habe ihn bekannt gemacht und Motörhead habe ihn definiert. Das Musikmagazin Rolling Stone schreibt, dass die Musik der Band „der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Punk und Metal“ sei. Das deutsche Musikmagazin Rock Hard bezeichnet das Debütalbum Motörhead als „völlig eigenständigen Bastard aus Rock ’n’ Roll und Punk“. Jörg Scheller nennt Motörhead einen Sonderfall, da die Band einerseits eine klassische Heavy-Metal-Band sei, andererseits aber auch eine Rock-’n’-Roll-Band. Im Tagesspiegel präzisiert Scheller: „Aus den sechziger Jahren brachten sie [Motörhead] den Freiheitsdrang mit, aus ihrer Gegenwart sogen sie den Anarchismus und Nihilismus des Punk auf, verquirlten ihn mit der maschinellen Kälte des Heavy Metal und konterkarierten diesen mit der Lebenslust urwüchsigen Rock’n’Rolls.“ Die Gruppe selbst und besonders der Bandgründer Lemmy Kilmister betrachtete die Gruppe allerdings nicht als Metal-Band. In einem Interview mit dem Rolling Stone anlässlich der Veröffentlichung des 2004er-Albums Inferno äußerte Kilmister, dass es Zeit sei, für die Musik eine neue Kategorie zu schaffen: „Motörhead Music“. In anderen Interviews weist er darauf hin, dass er sich dem Punk stets mehr verbunden fühlte als dem Metal, Motörhead habe mehr mit The Damned als mit Black Sabbath gemeinsam und keine Gemeinsamkeiten mit Judas Priest; für ihn sind Bands wie Black Sabbath und Judas Priest Metal, schnellere Bands wie die der New Wave of British Heavy Metal (NWoBHM) und Metallica klingen für ihn mehr nach Punk als nach Metal. Punks seien interessanter und wütender, Metaller verlören ihre Wut schnell, wenn Geld im Spiel sei, und Metal habe seinen revolutionären Geist verloren, als er in die Arenen kam, wo Punks niemals gespielt hätten. Die Band selbst bezeichnet ihren Stil als Rock ’n’ Roll und beruft sich damit auf das Lebensgefühl, die Thematiken und die Songstruktur des 1950er-Genres betreffende Traditionen, was besonders bei Liedern wie Angel City, Going to Brazil, Don’t Waste Your Time und Coverversionen wie Blue Suede Shoes und Hoochie Coochie Man deutlich wird. Allerdings ist dies nicht als Motörheads Hauptgenre zu bezeichnen, da die Band auch andere Stile bedient oder von ihnen beeinflusst ist. Einige Stücke sind dem Hard Rock zuzuordnen, so ist You Better Run mit Bad to the Bone von George Thorogood vergleichbar, auf das auch die Textzeile „I’m iron & steel, I’m bad to the bone“ anspielt. Titel wie R.A.M.O.N.E.S., ein Lied über die US-amerikanische Band Ramones, sind wiederum eindeutig dem Punk zuzuordnen, die Band trat unter anderem mit The Damned auf, und Lemmy hatte Kontakte zur frühen Punk-Subkultur, unter anderem zu Sid Vicious und Wendy O. Williams. Musikalische Bedeutung Motörhead wird zu den Wegbereitern des Speed Metal gezählt. Das Billboard Magazine weist auf den weitreichenden Einfluss von Motörhead hin und schreibt, dass der „überwältigende, laute und schnelle Heavy Metal [der Band] einer der wegweisendsten Stile der späten 1970er war“, die Musik der Band sei kein Punk-Rock, vielmehr war sie die erste Metal-Band, die „dessen Energien gebündelt und damit den Grundstein für spätere Genres“ des Heavy Metal legte. So werden Lieder wie Overkill oder Bomber als Basis für den Thrash Metal angesehen. Dem 1979er-Album Overkill wird eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der New Wave of British Heavy Metal zugesprochen, das 1980er-Album Ace of Spades wird als eines der wichtigsten Alben der Rock-Geschichte bezeichnet. Des Weiteren bereitete Motörhead mit der Kombination aus schnellem Tempo und Doublebass-Technik, die erstmals auf Overkill (1979) zu hören war, den Weg für spätere Schlagzeugtechniken wie den Blastbeat. Über alle Subgenres des Metals sind Musiker und Bands von Motörhead beeinflusst. Bereits Ende der 1970er Jahre spielten Gruppen wie die Tygers of Pan Tang Coverversionen der Band, und die Black-Metal-Pioniere Venom und Bathory ließen sich neben anderen Bands wie Black Sabbath auch von Motörhead inspirieren. Motörhead gehörte zu den Haupteinflüssen der Anfang der 1980er Jahre aufkommenden Metal-Szene in den USA. Lars Ulrich, Schlagzeuger von Metallica, begleitete Motörhead auf deren 1981er-USA-Tournee und war Leiter des US-amerikanischen Motörhead-Fanklubs. In Bezug auf die soziale gemeinschaftsbildende Wirkungsmacht von Motörhead innerhalb der Hard-Rock-Szene erklärte Lars Ulrich in dem Dokumentarfilm Classic Albums: Motörhead – Ace of Spades von 2004: „Damals gab es eine große Kluft zwischen Punks und Metalfans. Aber Motörhead rissen all diese Schranken nieder.“ Jeff Becerra, Sänger der US-amerikanischen Death-Metal-Pioniere Possessed, verwies darauf, dass der Anspruch von Possessed gewesen sei, „so schnell und so laut zu spielen … wie Motörhead“. Die ebenfalls zu den Pionieren dieser Musikrichtung zählenden Bands Master und Death Strike von Paul Speckmann zählen Motörhead ebenfalls zu ihren Einflüssen. Auch die Kanadier Voivod zeigten sich auf ihrem 1984er-Debüt War and Pain hörbar unter dem Einfluss der Musik von Motörhead. Die Mitte der 1980er Jahre in den USA aufkommende Metalcore-Bewegung bezieht sich ebenso auf Motörhead wie die 1990er-Crust-Bewegung. Der Einfluss der Band reicht bis in die heutige Zeit. Fenriz von der norwegischen Band Darkthrone verwies darauf, dass er sich bei dem in den 2000ern vollzogenen Stilwechsel von den frühen Veröffentlichungen von Motörhead inspirieren ließ und nannte die von Motörhead praktizierte Verbindung von Heavy Metal und Punk „Metalpunk“. Musik und Texte Die Musik von Motörhead wird als Kombination aus schnellem Schlagzeugspiel, stark verzerrtem und übersteuertem Bass, Lautstärke und einem Gesang, der traditionelle Gesangstechniken mit Shouting kombiniert, bezeichnet. Die frühen Veröffentlichungen zeigten sich stark von Rock ’n’ Roll und Punk beeinflusst. So ist das Debütalbum Motörhead (1977) von 12-taktigen Gitarrenriffs und Doppelgriffen nach Art von Rock-Musikern wie Chuck Berry geprägt. Mit der Veröffentlichung von Overkill (1979) definierte Motörhead seinen Stil durch stark verzerrte, um einen Halbton tiefer gestimmte Gitarren, den verstärkten Einsatz der Doublebass-Schlagzeugtechnik, verbunden mit schnellen Sechzehntel-Rhythmen nach dem Vorbild von Gruppen wie Deep Purple neu. Die Musik basierte weitgehend auf zwei statt auf drei Akkorden. Als eher untypisch für Motörhead wird das Album Another Perfect Day angesehen, das wegen der Mitwirkung von Gitarrist Brian Robertson (ehemals Thin Lizzy) raffiniertere und extravagantere Melodien als andere Veröffentlichungen der Gruppe bietet. Als typisch für Motörhead wird der Klang des E-Bass bezeichnet, der weitestgehend die zweite Gitarre ersetzt. Beim Spielen wird durchgehend eine Leersaite angeschlagen, die in Kombination mit gegriffenen Saiten einen Klang erzeugen, der den E-Bass die Rolle der Rhythmusgitarre übernehmen lässt. Ein weiteres stilistisches Merkmal ist dabei, dass viele Lieder mit einem markanten Bassriff eröffnet werden. Dies ist beispielsweise der Fall bei Motörhead, Stone Dead Forever, Ace of Spades und Overnight Sensation. Die Klangfarbe der Gitarren wird als stark verzerrt beschrieben und verzichtet außer bei Soli auf klangformende Effekte wie Wah Wahs. Dadurch ist die Klangfarbe der Musik von Motörhead deutlich basslastiger als die vergleichbarer Bands wie AC/DC. Der Schlagzeugklang ist unverzerrt und erzeugt durch eine Wall of Sound eine klangliche „Konzertsituation“. Ausgangspunkt des Schlagzeugspiels ist stets ein Backbeat. Der raue Gesang von Lemmy Kilmister hat seinen Ursprung im Shouting, wie es im traditionellen Blues verwendet wurde. Obwohl die Stimmlage Kilmisters als Tenor anzusehen war, wirkte sie durch die gutturalen Elemente tiefer. Motörhead adaptierte seit Bandgründung Elemente der Biker-Szene. Während zeitgenössische Gruppen wie Judas Priest die Verbindung durch das Tragen von Lederkleidung mit Nieten und Ketten dokumentierten, äußerte sich die Verbindung bei Motörhead durch die Adaption des Ethos des Verlierers in den Liedtexten. Durch diese eher einfache und bescheidene Sichtweise erschien Motörhead bodenständiger als andere Bands und sicherte sich so die Sympathien der Punk-Bewegung der späten 1970er Jahre. Lemmy Kilmister schrieb den überwiegenden Teil der Liedtexte, die Themen sind breit gefächert. So wird das Titellied des Debütalbums Motörhead als Rock-’n’-Roll-Ode an die Droge Amphetamin bezeichnet. Als weiteres Thema findet sich in Liedtexten wie Born to Lose das Image des Verlierers und Outlaws. Aber auch das Textkonzept gesamter Alben wie Ace of Spades beruht auf diesem Thema. Auch Kilmisters Faszination für Militärgeschichte spiegelt sich in den Texten wider. So handelt Bomber vom Einsatz einer Bomber-Besatzung im Zweiten Weltkrieg, 1916 thematisiert die Schlacht an der Somme im Ersten Weltkrieg und Marching off to War handelt von der empfundenen Sinnlosigkeit des Krieges. Kritik brachten Kilmister einige seiner Texte über Frauen wie Jailbait oder I’m So Bad ein, die als sexistisch und frauenverachtend angesehen wurden. In einigen Texten übt Kilmister Kritik an Missständen in der Gesellschaft und besonders an Religionen ((Don’t Need) Religion, God Was Never on Your Side). Ein besonderer Liedtext ist (We Are) The Roadcrew, den Kilmister zu Ehren der Roadies von Motörhead schrieb. Das Band-Maskottchen Snaggletooth Zusätzlich zum Band-Logo benutzt Motörhead, ähnlich wie die Heavy-Metal-Band Iron Maiden, eine speziell für die Gruppe entworfene Fantasiefigur, die als Maskottchen dient und die in verschiedenen Variationen auf vielen ihrer Albumhüllen sowie auf Bühnenhintergründen und Band-T-Shirts abgebildet ist. Die Figur stellt einen Schädel mit bedrohlich aufgerissenem Maul dar und trägt den Fantasienamen „Snaggletooth“ ( in etwa für „Krummzahn“ oder „Schiefzahn“), vollständig „Snaggletooth B. Motörhead“. Die Figur besteht aus dramatisch überzeichneten Elementen eines Keiler- und eines Hundeschädels sowie einigen martialisch anmutenden militärischen Elementen – darunter ein mit Stacheln besetzter Stahlhelm, ein Eisernes Kreuz und eine an den übergroßen Hauern befestigte Kette. Snaggletooth erschien erstmals auf dem Plattencover des 1977er-Debütalbums Motörhead. Entworfen wurde die Figur 1975 vom Künstler Joe Petagno, der damit seine Vorstellungen eines Hells-Angels-Schädels umsetzen wollte. Im Jahr 2007 beendete Petagno die Zusammenarbeit mit Motörhead. Motörhead-Alkoholika Seit 2016 braut die Camerons Brewery in Hartlepool, England, Motörhead Roadcrew Beer, ein American Pale Ale mit 5 % ABV, das von Gitarrist Phil Campbell und Schlagzeuger Mikkey Dee mitentwickelt wurde. Bereits seit 2012 gibt es das Motörhead Bastards Lager, ein untergäriges Bier mit 4,7 % ABV, das von der Krönleins-Brauerei in Schweden hergestellt wird. Außerdem gibt es noch ein Imperial Pils Lager sowie eine eigene Whisky-Marke und den ebenfalls in Schweden hergestellten Motörhead Vödka. Diskografie Da die Rechte der frühen Motörhead-Alben nicht bei der Band liegen, werden diese Alben immer wieder in verschiedenen Formaten herausgebracht. Neben den offiziellen 22 Alben gibt es noch diverse Bootlegs und dutzende Best-of-Alben. Literatur Verschiedene Autoren: Motörhead. Sonderausgabe der Zeitschrift Rock Hard. Rock Hard Verlag, Dortmund 2011. Weblinks Offizielle Webpräsenz WDR Rockpalast, Motörhead live am 15. Dezember 2014 Einzelnachweise Heavy-Metal-Band Multinationale Band Grammy-Preisträger Träger des Kerrang Award Musikgruppe als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wiesmoor
Wiesmoor
Wiesmoor ist eine Stadt in Ostfriesland in Niedersachsen und liegt im äußeren Nordwesten Deutschlands. Die Stadt bildet den südöstlichsten Zipfel des Landkreises Aurich. Mit Einwohnern, die auf 82,99 Quadratkilometern leben, ist Wiesmoor im Vergleich zu anderen ostfriesischen Städten nur dünn besiedelt. Unter den Städten auf dem ostfriesischen Festland ist sie nach Einwohnerzahl nach Esens die zweitkleinste. Bis ins späte 18. Jahrhundert war das heutige Stadtgebiet völlig unbewohnt, da es einen Teil des Ostfriesischen Zentralhochmoors bildete und somit über Jahrhunderte eher Barriere zwischen den historischen Gauen Auricherland und Östringen war. Bislang ließen sich nur wenige Spuren finden, die überhaupt die frühere Anwesenheit von Menschen belegen. Erst ab 1780 wurden Teile des heutigen Stadtgebietes dauerhaft besiedelt. Die Entwicklung erfolgte dabei von außen nach innen, das heißt, dass die am Stadtrand liegenden Ortschaften deutlich älter sind als der heutige Stadtkern selbst. Wiesmoor ist die jüngste Stadt Ostfrieslands und eine der jüngsten Städte Niedersachsens. Als einzige der ostfriesischen Städte verdankt Wiesmoor seine Entstehung der Industrialisierung, konkret der ab 1906 einsetzenden industriellen Abtorfung des Moores. In der Stadt wurden nacheinander die drei wesentlichen Phasen der Moorkolonisierung in Ostfriesland durchlaufen: zuerst die ungeplante Moorkolonisierung in Streusiedlungen, die Kolonisierung durch Fehnkanäle und schließlich die industrielle Moorkolonisierung. Die Stadtrechte erhielt die Kommune am 16. März 2006. Über einen Zeitraum von rund 60 Jahren wurde in Wiesmoor aus Torfverbrennung elektrischer Strom gewonnen. Die Stadt nennt sich selbst Blumenstadt, da die Verbrennung des Torfs im ehemaligen Kraftwerk und die Nutzung der daraus resultierenden Abwärme für die Aufzucht von Pflanzen, insbesondere Blumen, untrennbar mit der Wirtschaftsgeschichte der Kommune verbunden ist. Die Stadt ist seit 1977 als Luftkurort anerkannt; der Tourismus ist neben dem Gartenbau und der Milchwirtschaft ein maßgeblicher Wirtschaftsfaktor. Daneben gibt es eine gewisse Anzahl von Industriebetrieben. Wegen des jungen Alters der Stadt sind im Gegensatz zu anderen ostfriesischen Kommunen nur wenige historische Gebäude zu finden. So datiert die älteste Kirche der Stadt erst aus dem Jahr 1907. Nur einige Gebäude aus der Zeit der Industrialisierung stehen unter Denkmalschutz, zudem gibt es eine Reihe von historischen Gulfhöfen in den älteren Außenbereichen der Stadt. Geografie Lage und Ausdehnung { "type": "ExternalData", "service": "geoshape", "ids": "Q511989" } Wiesmoor liegt im Nordwesten Deutschlands im Zentrum der historischen Landschaft Ostfriesland. Die Entfernung zur Nordsee beträgt rund 30 Kilometer. Nahe gelegene größere Städte sind Wilhelmshaven (gut 30 Kilometer nordöstlich), Oldenburg (gut 45 Kilometer südöstlich), Bremen (gut 80 Kilometer südöstlich) sowie Groningen (gut 80 Kilometer südwestlich). Die Landesplanung des Landes Niedersachsen weist Wiesmoor als Unterzentrum aus. Angestrebt wird seit langem die Anerkennung Wiesmoors zu einem Mittelzentrum. Der geschätzte Einzugsbereich der Stadt beläuft sich auf 35.000 bis 40.000 Personen. Das gesamte Stadtgebiet Wiesmoors erstreckt sich auf einer Fläche von 82,99 Quadratkilometer. Im Jahre 1919 hatte der Gutsbezirk Friedeburger Wiesmoor eine Fläche von 27,5 Quadratkilometer. Im Jahre 1922 wurde die Gemeinde Wiesmoor nach Abtretung des Ortsgebietes an den Landkreis Aurich gegründet, die bis 1924 auf eine Fläche von 34,7 Quadratkilometer anwuchs. Bis 1951 wurden daraus durch Eingemeindungen in mehreren Zügen 52,74 Quadratkilometer. Das machte den Ort zur größten Landgemeinde Ostfrieslands jener Zeit, der jedoch mit 95 Einwohnern je Quadratkilometer nur dünn besiedelt war. Durch die Gemeindegebietsreform von 1972 erreichte die Stadt mit einem Flächenzuwachs von rund 60 Prozent ihre heutige Ausdehnung. Damit liegt sie innerhalb der ostfriesischen Kommunen auf Rang 17. Die größte Ausdehnung des Stadtgebietes in nord-südlicher Richtung beträgt rund 11 Kilometer, in west-östlicher Richtung etwa 7 Kilometer. Mit 161 Einwohnern je Quadratkilometer ist Wiesmoor im Vergleich zu vielen anderen Städten nur dünn besiedelt, was auch im innerostfriesischen Vergleich gilt: So betragen die Vergleichswerte für Leer 497, für Emden 460 Einwohner je Quadratkilometer, für Norden 241 und für Aurich 206 Einwohner je Quadratkilometer. Die Einwohnerdichte bleibt auch knapp unter der allgemeinen niedersächsischen Bevölkerungsdichte von 168 Einwohner/Quadratkilometer, sehr deutlich hingegen unter dem bundesrepublikanischen Durchschnitt (230 Einwohner/Quadratkilometer). Geologie Das gesamte Stadtgebiet Wiesmoors liegt im mittleren Teil des Ostfriesischen Zentralhochmoores. Dieses Moor liegt auf einem Höhenrücken, dem Oldenburgisch-Ostfriesischen Geestrücken, der von Nordwest nach Südost verläuft. Früher verlief es in etwa vom Osten des heutigen Aurich und dem Nordwesten der Gemeinde Friedeburg über Großefehn und Wiesmoor bis in die Gemeinde Uplengen im Landkreis Leer und die Stadt Westerstede im Landkreis Ammerland. Es verband also das Collrunger Moor im Nordwesten mit dem Stapeler- sowie Spolsener Moor in südöstlicher Richtung. Im Lauf der letzten Jahrtausende wurde das Moor nach der Saale-Eiszeit über der Grundmoräne gebildet und wies um 1900 Torfschichten bis zu acht Meter auf. Unter der Sanddecke der Geest findet man bereits nach kurzem Graben in geringer Tiefe eine kalkhaltige Lehmschicht, zumindest an einigen Stellen. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts dehnte sich das Moor hier auf einer Fläche von 100 Quadratkilometer aus. Der Großteil davon wird heute von der Stadt Wiesmoor bedeckt. In den Stadtrandgebieten befinden sich bis heute vereinzelte kleine Hochmoorflächen, die wenig vom Stadtausbau berührt wurden. An einzelnen Stellen des heutigen Stadtgebietes flossen querab Bäche und andere Rinnsale vom Geestrücken, die Flussablagerungen der Niederterrasse hinterlassen haben, die aus Sand und Kies bestehen. Nur an einer Stelle des Stadtgebietes finden sich Sande und Flugsande der Weichsel-Kaltzeit, die den Untergrund der ältesten Schichten bilden. Dabei handelt es sich um jenen schmalen Streifen, auf dem in früheren Jahrhunderten ein schmaler Weg im sonst schwer passierbaren Moor verlief und auf dem sich heute die Bundesstraße 436 befindet. Der Ort wurde auf einer Höhe von 10,6 bis 14 Meter über Normalnull angelegt. Nach der Entwässerung durch den Nordgeorgsfehnkanal liegt er heute durchschnittlich bei 11 Meter über Normalnull. Nachbargemeinden Wiesmoor liegt zentral auf der ostfriesischen Halbinsel. Innerhalb des Landkreises Aurich ist Wiesmoor die Kommune im äußersten Südosten. Die Stadt ist neben Ihlow eine von zwei Kommunen im Landkreis Aurich, die an zwei Nachbarlandkreise bzw. einen anderen Kreis und eine kreisfreie Stadt grenzen. Im Osten grenzt die Stadt an die Gemeinde Friedeburg (Landkreis Wittmund), im Süden an die Gemeinde Uplengen (Landkreis Leer). Westlich von Wiesmoor liegt die Gemeinde Großefehn, nördlich der Auricher Stadtteil Brockzetel (beide Landkreis Aurich). Wiesmoor ist wegen der Lage im äußersten Südosten des Landkreises die Kommune mit den wenigsten Nachbargemeinden innerhalb des Kreises Aurich. Stadtgliederung und Eingemeindungen Wiesmoor besteht aus der Kernstadt (Wiesmoor Mitte) und zehn weiteren Stadtteilen. Es handelt sich dabei um (im Uhrzeigersinn beginnend im Norden): Marcardsmoor, Wiesederfehn (beide eingemeindet 1972), Mullberg, Rammsfehn, Hinrichsfehn (alle 1951), Zwischenbergen, Voßbarg (beide 1972), Auricher Wiesmoor II, Wilhelmsfehn II und Wilhelmsfehn I (alle 1951). Klima Wiesmoor liegt in der gemäßigten Klimazone. Das Stadtgebiet steht generell im Einfluss der Nordsee. Im Sommer sind die Tagestemperaturen tiefer, im Winter häufig höher als im weiteren deutschen Binnenland. Das Klima ist insgesamt von der mitteleuropäischen Westwindzone geprägt. Klimatisch besondere Verhältnisse herrschen hingegen in den Hochmoor-Gebieten, die große Teile des Stadtgebietes ausmachen. Wegen der Untergrundverhältnisse in einem Regenmoor sind die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht extrem. Im Sommer kann es tagsüber zu sehr hohen Temperaturen am Boden kommen, so dass durch Selbstentzündung Moorbrände entstehen können. Zudem sind Moorgegenden sehr viel nebelintensiver als die Umgebung. Nach der effektiven Klimaklassifikation von Köppen befindet sich Wiesmoor in der Einteilung Cfb. Klimazone C: Warm-Gemäßigtes Klima Klimatyp Cf: Feucht-Gemäßigtes Klima Klimauntertyp b: warme Sommer Die nächstgelegene Wetterstation befindet sich in der knapp 18 Kilometer entfernten Stadt Aurich (Entfernung von Stadtkern zu Stadtkern), die sehr ähnliche klimatische Bedingungen aufweist. Die Werte der Klimatabelle der dortigen Station beziehen sich auf das langjährige Mittel der Jahre 1961 bis 1990: Geschichte Der Großteil des Gebiets der heutigen Stadt Wiesmoor sowie angrenzende Teile von Nachbargemeinden waren bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts unwegsames Hochmoorgebiet, das sich als Ostfriesisches Zentralhochmoor auf einer Fläche von 241 Quadratkilometern ausdehnte. Das heutige Stadtgebiet blieb lange völlig unbesiedelt, selbst Wege in der frühgeschichtlichen Zeit werden bislang nur vermutet. Eine Besonderheit ist somit, dass die ersten dauerhaften Siedlungen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die heute an der Peripherie gelegenen Ortsteile die ersten waren, die besiedelt wurden, während der heutige Stadtkern eine der jüngsten Siedlungen in dem Moorgebiet ist. Vereinzelte Funde Früheste Belege für die Anwesenheit von Menschen sind eine Steinaxt der Jungsteinzeit und ein Tongefäß der vorrömischen Eisenzeit, die in Marcardsmoor entdeckt wurden. Sie werden nicht als Hinweise auf eine dauerhafte Besiedelung gewertet. Möglicherweise sind sie als Mooropfer zu interpretieren. Im Moor bei Wilhelmsfehn wurde ein Halsring gefunden, der auf die Zeit um 700 v. Chr. datiert wird. Die Fundumstände, die zur Entdeckung eines Bronzebeils führten, sind ungeklärt, da es 1999 im Sperrmüll in Ostgroßefehn entdeckt wurde. Es wird auf die mittlere Bronzezeit datiert. Nachforschungen der Ostfriesischen Landschaft ergaben, dass das Beil wahrscheinlich vom ersten Finder in den 1950er Jahren auf einem genossenschaftlichen Grundstück in Wiesmoor beim Abtorfen entdeckt worden ist. Das Beil wird zu den nordwesteuropäischen Absatzbeilen mit Hängebogen- und Y-Zier gezählt und ist als solches ein bisher einzigartiger Fund in Ostfriesland. Im Ergebnis weiterer Untersuchungen zeigte sich, dass es sich bei dem Beil wohl um einen Fehlguss handelt, der im Moor entsorgt wurde. Moorkolonisierung von 1633 bis 1878 Im Jahre 1633 begann im Westen des Ostfriesischen Zentralhochmoors die Fehnkolonisation in Westgroßefehn (heute Gemeinde Großefehn). Diese Fehnkolonie berührt zwar nicht das heutige Stadtgebiet, ist aber insofern von Bedeutung, als die heutigen Stadtteile Wilhelmsfehn I und II die östlichen Fortsetzungen der Großefehntjer Kolonien sind. Nach 1744 kam Ostfriesland durch eine Exspektanz an Preußen. Friedrich der Große zeigte großes Interesse an der Kultivierung bislang ungenutzter Landstriche, wobei er vor allem fiskalische Interessen im Blick hatte. So wurden in Ostfriesland sowohl neue Polder eingedeicht als auch neue Kolonien im Moor angelegt. Grundlage war das Urbarmachungsedikt von 1765, das alle noch nicht örtlichen Bauern gehörenden Moorflächen in den Besitz des Staates übereignete. In den folgenden Jahrzehnten entstanden in Ostfriesland etwa 80 neue Moorkolonien, davon drei auf dem heutigen Stadtgebiet. Es handelt sich dabei um Voßbarg (1780), Wiesederfehn (1796) und Zwischenbergen (1810), wobei letzteres bereits zu einem Zeitpunkt angelegt wurde, als Ostfriesland nicht mehr preußisch war, sondern infolge der Napoleonischen Kriege zum Königreich Holland gehörte. Dabei wurden Voßbarg und Zwischenbergen von (Süd-)Westen aus besiedelt, Wiesederfehn von (Nord-)Osten aus. Die Besiedlung des Wiesmoors erfolgte also aus dem Bereich der Ämter Aurich (Westen) und Friedeburg (Osten). Voßbarg (plattdt.: Fuchsberg) wurde ab 1780 vom ersten Kolonisten namens Rencke Janßen besiedelt, der aus Strackholt, dem nächstgelegenen Bauerndorf stammte. Einen Antrag auf Zuteilung eines Kolonats stellte er bereits zwei Jahre zuvor, musste sich aber zunächst mit den Strackholter Bauern über die genauen Grenzen des zugeteilten Lands einig werden. Ein Feldmesser namens von Northeim maß schließlich das erste Kolonat aus und nutzte dabei urkundlich erstmals den Namen Wiesmoor für das angrenzende Hochmoorgebiet: „[…] habe ich dem Rencke Janßen zu Strackholt ein Stück Heidefeld auf dem Wies-mohrer Feld zugemeßen, ostwärts gränzet es an das Wies-mohr […]“. In den folgenden Jahren folgten weitere Kolonisten dem Pionier Rencke Janßen; zumeist stammten sie aus den umliegenden Dörfern oder nahe gelegenen Fehnkolonien. Die Gründung Wiesederfehns erfolgte durch eine Gruppe von Siedlern, die sich vergeblich um die Zuteilung eines Kolonats in Voßbarg bemüht hatten. Beim Amtmann in Friedeburg hatten sie Erfolg. Die Zumessung eines Grundstücks, ebenfalls durch den Geodäten von Northeim, erfolgte 1797. Weitere Siedler schlossen sich 1800 an. Die ersten Siedler von Wiesederfehn profitierten davon, dass sie nicht nur Landwirtschaft betrieben, sondern auch eine Absatzquelle für Torf hatten, den sie in größerem Umfang abbauten. Das Brennmaterial fand in Wittmund und Jever seine Abnehmer. Um 1800 wurde ein Weg von Voßbarg nach Wiesederfehn durch das Wiesmoor geplant, der schließlich auch angelegt wurde. Es handelte sich dabei um einen Sandweg, der an geeigneten Stellen auf dem Moor angelegt wurde und in etwa der Vorläufer der heutigen Bundesstraße 436 ist. Für die Benutzung des Weges, der die Strecke zwischen dem südlichen Auricher Amt und dem Amt Friedeburg erheblich verkürzte, wurde ab 1804 Wegegeld erhoben. Mit dem Wegegeld wurden die nicht unerheblichen Unterhaltungskosten für einen Weg quer durchs Moor beglichen. Für das Jahr 1805 wird ein Voßbarger Einwohner namens Heere Heeren genannt, der für die Entrichtung des Wegegeldes an der Zollschranke verantwortlich war. Zeitweise war mit der Aufgabe der Zollerhebung auch eine Schankerlaubnis verbunden. Die dritte Moorkolonie auf dem heutigen Stadtgebiet war Zwischenbergen, so genannt aufgrund der Tatsache, dass es zwischen den Erhebungen Voßbarg und Windbarg lag, die sich beide etwa vier bis fünf Meter aus der sonst recht flachen Landschaft erhoben. Die Zwischenberger Siedler verfügten über nur wenig Land (die ersten Kolonate maßen vier bis sechs Diemat), so dass Zwischenbergen in den folgenden Jahrzehnten mehr noch als Voßbarg und Wiesederfehn von Armut betroffen war, weil die Ernährungsgrundlage nicht ausreichte. Landwirtschaftliche Grundlage der Moorkolonien war die Moorbrandkultur. Dabei wurden im Sommer kleine Gräben angelegt, um ein Stückchen Moor zu entwässern. Im Herbst wurde das Moor in Schollen gehackt, die im Winter durchfroren und im darauffolgenden Frühjahr geeggt wurden. Im späten Frühjahr zündeten die Kolonisten die solcherart bearbeiteten Moorflächen an und legten Samen von (zumeist) Buchweizen in die Asche. Buchweizen wächst sehr schnell und konnte demnach nach wenigen Wochen geerntet werden. Der Buchweizen, ein Knöterichgewächs, wurde im Anschluss verarbeitet. Angebaut wurden auch Kartoffeln, Roggen und Hafer. Der Moorboden wurde durch diese Form der Bearbeitung allerdings nach einigen Jahren ausgelaugt, so dass die Erträge sanken. Eine Ausnahme bildete die Bodenbearbeitung in Wiesederfehn, da die dortigen Kolonisten zunächst Torf abgruben und den Boden erst hernach bearbeiteten. In den Moorkolonien stellte sich daher in den nächsten Jahrzehnten nach dem Beginn der Kolonisierung große Armut ein. Viele Kolonisten, vor allem in Voßbarg und Zwischenbergen, suchten sich Arbeit in den nahe gelegenen aufstrebenden Fehnkolonien wie Großefehn. Für andere blieb die Auswanderung, vor allem nach Amerika, die Alternative. Dementsprechend stagnierten die Bevölkerungszahlen oder verringerten sich sogar. Die Einwohnerzahl Voßbargs ging beispielsweise von 394 (1848) auf 314 (1871) zurück. Nach zwei aufeinanderfolgenden Missernte-Jahren 1867 und 1868 setzte die preußische Regierung eine Kommission „zur Hebung der Zustände in den Moorkolonien Ostfrieslands sowie zur besseren Nutzbarmachung der fiskalischen Moore“ ein. Diese machte Vorschläge, wie die Kolonisierung nachhaltiger zu bewerkstelligen sei, von denen zumindest einige umgesetzt wurden. Das betraf vor allem ein Verbot der weiteren Zuwanderung in Moorkolonien, zum anderen die Vergrößerung der Kolonate, damit die Kolonisten auf einer breiteren wirtschaftlichen Basis arbeiten konnten. Die Kommission schlug zudem vor, neue Kanäle zu bauen, um das Moor besser zu entwässern. Das wurde in den folgenden Jahren umgesetzt, und so entstand 1878 nicht nur der Voßbargkanal, der den Ort an das überörtliche Wasserstraßennetz anschloss. Am östlichen Ende der bereits bestehenden Fehnsiedlungen Ostgroßefehn und Spetzerfehn wurden durch Vorantreiben der Kanäle weitere Kolonien erschlossen: Wilhelmsfehn I und II sowie Auricher Wiesmoor II. Fehnsiedlung und Deutsche Hochmoorkultur (1878 bis 1906) Wilhelmsfehn I und Wilhelmsfehn II wurden von der Großefehngesellschaft bzw. der Spetzerfehngesellschaft angelegt und nach Kaiser Wilhelm I. benannt. Das Auricher Wiesmoor II hingegen wurde als staatliche Fehnsiedlung von Preußen angelegt. Im Jahre 1890 wurde es eine selbstständige politische Gemeinde. Wilhelmsfehn I ist die letzte Erweiterung des Gebietes, das die Großefehn-Gesellschaft kultivierte. Sie erhielt 1878 den Zuschlag zur Abtorfung und anschließenden landwirtschaftlichen Nutzung von 400 Moordiemat Land, was recht genau 400 Hektar entsprach. Der Haupt-Fehnkanal wurde ostwärts ins Moor getrieben. Erstmals wurden danach von der Großefehn-Kompagnie auch sogenannte Inwieken, also Seitenkanäle angelegt, an denen Kolonisten siedeln konnten. Die Interessenten verpflichteten sich, neben der Entwässerung ihres Stückes Moor zur Anlegung von Wegen an den Wieken. Außerdem mussten sie einen Beitrag zur Unterhaltung der Entwässerungsanlagen wie Schleusen zahlen. Wer in Wilhelmsfehn I siedeln wollte, musste demzufolge bereits einiges Geld investieren können. Die Besiedlung erfolgte erst Jahre nach der Anlegung der Fehnkanäle, der erste der Siedler war ein Mann namens Gerhard Schoone, der 1888 ein Stück Land zur Untererbpacht in Besitz nahm. Vier Jahre später zählte die Siedlung vier Häuser, erst danach kam ein zügigerer Ausbau in Gang. 1904 wohnten in 27 Häusern 104 Menschen. Sie lebten nur teils von der Landwirtschaft, sondern verschifften zumeist den abgegrabenen Torf in die Stadt Emden und in die Krummhörn. Wilhelmsfehn II war das letzte Siedlungsvorhaben der Spetzerfehn-Gesellschaft, die dort 300 Hektar Moor vom Staat pachtete und an Untererbpächter weiterverpachtete. Um den Ausbau der Siedlung zügig zu bewerkstelligen, wurden die Kolonate bewusst klein gehalten, eine rein landwirtschaftliche Nutzung damit erschwert. Auch in Wilhelmsfehn II wurde Torf abgebaut und verschifft. Allerdings litten die Schiffer dieser beiden Fehne unter der relativ größeren Entfernung zu den Hauptabsatzgebieten im Vergleich zu den älteren Großefehntjer Siedlungen. Diesen wirtschaftlichen Nachteil konnten sie nicht wettmachen, so dass sie sich in den folgenden Jahrzehnten anderweitig Arbeit suchen mussten. Das etwa 1800 Hektar große Auricher Wiesmoor II hatte als staatliche Gründung den Vorteil, dass die Fehnkanäle zügig angelegt wurden. Viele Kolonate wurden von Alteingesessenen aus Großefehn und Spetzerfehn für ihre Kinder erworben. Bereits 1885 hatte Auricher Wiesmoor II 53 Einwohner, 15 Jahre später waren es 118. Auch der Viehbestand nahm schnell zu, was an der im Vergleich zu den Wilhelmsfehnen größeren Kolonatsfläche lag. Die nächste Stufe der Moorkolonisierung erfolgte im heutigen Stadtteil Marcardsmoor in Gestalt der Deutschen Hochmoorkultur. Federführend war die 1876 eingerichtete Moor-Versuchsstation in Bremen. Die Deutsche Hochmoorkultur verzichtete auf Moorbrand einerseits und auf den Abbau des Torfes andererseits, übernahm von der Fehnkultur jedoch die gründliche Entwässerung des fraglichen Moorgebietes. Nach der Zuwegung wurden die Flächen gepflügt und geeggt und anschließend mit dem inzwischen entdeckten Kunstdünger gedüngt. Die Erfindung des Kunstdüngers war wesentliche Voraussetzung für die erste ostfriesische Siedlung, die nach der Deutschen Hochmoorkultur angelegt wurde. Der Bau des Ems-Jade-Kanals von Emden nach Wilhelmshaven in den Jahren 1880 bis 1888 war die andere. Südlich des Kanals wurde nach 1890 eine Fläche von 2100 Hektar urbar gemacht. Gedüngt wurde mit Kainit ebenso wie mit Chilesalpeter und Thomasmehl. Die Siedler wurden zuvor einer gründlichen Prüfung unterzogen und mussten Erklärungen unterschreiben, welche Arbeitsleistungen ebenso beinhalteten wie Abgaben. Der Staat blieb Eigentümer der Flächen, was jedoch dazu führte, dass die Bindung der Kolonisten an ihre Scholle geringer blieb als wenn sie Eigentümer gewesen wären. Benannt wurde die Kolonie 1892 nach dem Staatssekretär im preußischen Innenministerium, von Marcard, der sich für die Moorkolonisation eingesetzt hatte. Die Einwohnerzahl stieg von 32 (1890) über 266 (1900) auf 391 (1910). Nach 1900 wurde sukzessive die Infrastruktur ausgebaut, mit Gemeindehaus, Krankenstation und Apotheke und schließlich auch einer Kirche (1907), die damit die älteste im Stadtgebiet ist. Nach anfänglicher ackerwirtschaftlicher Nutzung des Bodens gingen die Siedler später mehr und mehr zur Grünlandwirtschaft über, da sie erkannten, dass der Boden dafür trotz intensiver Düngung besser geeignet war. Zudem waren die Siedlerstellen zwar ausreichend bemessen, um Ackerbau zu betreiben, jedoch reichte die Arbeitskraft einer Familie nicht für die Bestellung des gesamten Bodens, weshalb vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges auch Strafgefangene und Kriegsgefangene zur Arbeit eingesetzt wurden. Die Anfänge Wiesmoors Am Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Pläne, den verbliebenen Rest des auf die Landkreise Aurich und Wittmund verteilten Gebiets industriell abzutorfen. Im Gegensatz zu den Fehngebieten, die fast ausnahmslos mit Hacke und Spaten und durch menschliche Muskelkraft entstanden, sollten in Wiesmoor schwere Maschinen zum Einsatz kommen. Dazu gehörten von Anbeginn neue technische Errungenschaften wie Lokomobilen, die auch auf dem moorigen Untergrund genügend Standfestigkeit hatten, und Eimerkettenbagger sowie weitere Bagger. Treibende Kraft zu diesem Plan war der preußische Geheime Rat und spätere Staatssekretär Eberhard Ramm aus dem Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, nach dem später der Stadtteil Rammsfehn benannt wurde. Er überzeugte den Industriellen Carl Friedrich von Siemens von dem Projekt, das Gebiet abzutorfen und ein Torfkraftwerk zu errichten. Als Standort wurde nach Probebohrungen ein Standort im heutigen Stadtkern von Wiesmoor, an dem damals noch unzureichend ausgebauten Sandweg von Strackholt nach Wiesede ausgewählt. Aus wirtschaftlichen Gründen kam der reine Torfabbau und die Verfeuerung anderenorts nicht in Frage. Technisches Hindernis war, wie bei allen Moorkolonisierungsvorhaben, die Entwässerung des Gebietes. Der bereits 1891 bis Neudorf (Gemeinde Uplengen), heute unmittelbar südlich der Wiesmoorer Stadtgrenze gelegen, vorangetriebene Nordgeorgsfehnkanal sollte dazu bis zum Ems-Jade-Kanal verlängert werden und das Rückgrat der Entwässerung bilden. Erst später kam als weitere Funktion die Herstellung einer Wasserstraßenverbindung hinzu. 1906 wurde auf dem heutigen Stadtgebiet mit dem Bau des Kanals begonnen, der Lückenschluss zog sich jedoch bis 1922 hin. Während zu Beginn nur Fachleute und Strafgefangene zum Einsatz kamen, siedelten 1907 die ersten weiteren Einwohner im unerschlossenen Wiesmoor an. 1909 wurde die Überlandzentrale – das Torfkraftwerk Wiesmoor – nach zweijähriger Bauzeit in Betrieb genommen. Es wurde von den Siemens Elektrischen Betrieben eröffnet und 1921 von den Nordwestdeutschen Kraftwerke AG (NWK) übernommen. Das Kraftwerk versorgte große Gebiete zwischen Ems und Unterelbe mit Strom, nachdem die entsprechenden Stromleitungen errichtet worden waren. Erster Betriebsdirektor war Knud Nielsen, nach dem später der Nielsen-Park im Stadtgebiet benannt wurde. Neue Siedler zogen aus den umliegenden Dörfern nach Wiesmoor, darunter auch solche aus den erst nach 1878 angelegten neuen Fehngebieten. Der Bau und Betrieb des Kraftwerks und der dazu nötige Torfabbau versprachen dauerhafte Arbeitsstellen. Sichtbares Zeichen des Wachstums war der Bau einer ersten Schule, der 1913 fertiggestellt wurde. Die Einwohnerzahl Wiesmoors stieg von 151 im Jahre 1914 über 383 (1919) auf 686 (1923). Während des Ersten Weltkriegs wurden Kriegsgefangene für verschiedene Arbeiten eingesetzt, unter anderem legten sie einen Friedhof an. Hintergrund war ein Mangel an Torfarbeitern, die zum Militär eingezogen worden waren. Zugleich stieg der Strombedarf vor allem im Kriegshafen Wilhelmshaven, weshalb über den Ems-Jade-Kanal zeitweise auch Kohle angeliefert und im Kraftwerk mitverfeuert wurde. Weimarer Republik und Nationalsozialismus Der Domänenfiskus stellte die Abtorfung 1921 ein, das wurde ebenfalls von der NWK unter ihrem Direktor Jan Hinrichs übernommen, nach dem heute ebenfalls ein Stadtteil benannt ist: Hinrichsfehn. Auf den abgetorften Flächen wurden zunächst in Staatsregie Gemüse und Gartenpflanzen angebaut. Die im Torfkraftwerk entstandene Abwärme wurde ab 1925 dafür genutzt, Treibhäuser zu wärmen. Treibende Kraft hinter diesem Plan war Direktor Hinrichs. Mit einer Unterglas-Fläche von 30 Morgen (etwa 75.000 Quadratmeter) entstanden die damals größten Treibhausanlagen Europas. Die Zahl der NWK-Mitarbeiter (inklusive Torfstecherei) betrug 608. Bis 1937 stieg sie auf 745, davon 125 in der Gärtnerei. Die ersten Baumschulen wurden in den Jahren 1926 und 1928 im heutigen Hinrichsfehn ins Leben gerufen, gehörten jedoch im Gegensatz zum Gemüseanbau nicht direkt der NWK an. Die Gemeinde Wiesmoor wurde nach Auflösung des Gutsbezirks Friedeburger Wiesmoor am 1. Juni 1922 gegründet, desgleichen die ebenfalls aus dem Gutsbezirk herausgelöste Gemeinde Mullberg. In den 1920er Jahren wurde der zwölf Hektar große Nielsen-Park angelegt, der damit zu den größten Parkanlagen Ostfrieslands zählte. Eine (lutherische) Kirche am Nordgeorgsfehnkanal wurde in den Jahren 1929/1930 errichtet, es war der erste Kirchenbau im Kernstadtgebiet. Während es bereits 1908 eine erste Postdienststelle gab, siedelte sich die erste Bank (Sparkasse) erst 1924 an. Der weitere Zuzug von Arbeitern führte in den frühen 1930er Jahren zum Anlegen einer weiteren Siedlung im Süden des heutigen Stadtgebiets, Rammsfehn. Sozialdemokratische Ortsvereine sind für den 1. Mai 1919 in Wiesmoor und Voßbarg nachgewiesen, im Kernort zudem seit 1919 eine Ortsgruppe der KPD. Die Sozialdemokraten spielten besonders im Kernort Wiesmoor eine bedeutende Rolle bis in die Endphase der Weimarer Republik. Bei den Wahlen zur preußischen Landesversammlung 1919 hatten sie in Wiesmoor eine ihrer wenigen Hochburgen im Landkreis Wittmund und erzielten die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, bei den Reichstagswahlen 1920 erhielten sie 41,1 Prozent. Bei der ersten Reichstagswahl 1924 (Mai) konnte die SPD im Kernort 50 Prozent der Wählerstimmen erringen, der Völkische Block kam auf 23,7 Prozent. Im damals noch selbstständigen Marcardsmoor hingegen errangen die Völkischen rund 90 Prozent der Wählerstimmen, ähnlich wie in heute zu Friedeburg gehörenden Nachbargemeinden. In der Zeit der Weimarer Republik stellte sich das politische Leben auf dem Gebiet der heutigen Stadt Wiesmoor sehr unterschiedlich dar. Während der Kernort selbst aufgrund des hohen Arbeiteranteils eine Hochburg von SPD und teils auch KPD war, konnten die Nationalsozialisten in einigen älteren Moorkolonien herausragende Ergebnisse erzielen, ähnlich wie es seinerzeit in den Nachbargemeinden Großefehn und Friedeburg der Fall war. Die erste Ortsgruppe der NSDAP im heutigen Stadtgebiet bildete sich 1930 in Wiesederfehn, im Februar 1932 schließlich folgte auch im sozialdemokratisch orientierten Kernort eine solche Ortsgruppe. Bei den Wahlen bis 1933 setzte sich das fort. So erhielten die Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen 1928 in Wiesmoor 97 Stimmen gegenüber 52 für die rechtsradikalen Parteien, zu einem Zeitpunkt, an dem der Landkreis Wittmund in seiner Gesamtheit bereits die Hochburg der NSDAP in Ostfriesland war und im Reichsvergleich weit überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 errangen die Sozialdemokraten 50,2 Prozent im Kernort, im benachbarten, damals noch selbstständigen Mullberg erhielt die KPD 14,8 Prozent, einen der höchsten Anteile im Landkreis Wittmund. Die Reichstagswahlen im Juli 1932 erbrachten für die Nationalsozialisten erneute Stimmengewinne. Neben Marcarsmoor, wo sie bereits seit langem hohe Ergebnisse holten, waren sie auch im Stimmbezirk Friedeburger Wiesmoor überaus erfolgreich: Sie holten dort 100 Prozent. Selbst im Kernort Wiesmoor, der Torfarbeiter- und Kraftwerksgemeinde, errang die SPD nur noch eine Stimme mehr als die NSDAP. Bei der Moorkultivierung wurden während der NS-Herrschaft Zwangsarbeiter und Dienstverpflichtete eingesetzt, in einem Falle auch freiwillige Kräfte. So bestand im Sommer 1935 ein Barackenlager in Wiesmoor, in dem etwa 50 arbeitslose Berliner Jugendliche untergebracht waren. Die Jugendlichen mussten zehn Wochen im Moor arbeiten und erhielten danach drei Tage frei, der Tageslohn betrug vier Reichsmark. Schon zuvor war von Arbeitslosen der Sportplatz in Wilhelmsfehn angelegt worden. Junge Frauen wurden ab 1940 vom Reichsarbeitsdienst zwangsverpflichtet, ein Barackenlager bestand in Marcardsmoor. Während des Krieges wurde auch in Wiesmoor ein Arbeitslager für ausländische Zwangsarbeiter eingerichtet. Das Lager wurde von deutschen Sicherheitskräften bewacht, dennoch entkamen am 30. Juni 1942 drei französische Kriegsgefangene, über deren weiteres Schicksal jedoch nichts bekannt ist. Von Kampfeinwirkungen wurde Wiesmoor während des Zweiten Weltkriegs kaum in Mitleidenschaft gezogen. Außer einzelnen „verirrten“ Bombentreffern oder Notabwürfen wurden keine weiteren verzeichnet. Bei Kriegsende in Ostfriesland Anfang Mai 1945 wurde das heutige Stadtgebiet kampflos von kanadischen und polnischen Truppen besetzt. Nachkriegszeit – Die Großgemeinde entsteht Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auf dem heutigen Stadtgebiet nicht nur Flüchtlinge aus den an Polen und die Sowjetunion abgetretenen Gebieten des Deutschen Reiches aufgenommen. Auch aus der „Sowjetischen Besatzungszone“, der späteren DDR, siedelten Menschen nach Wiesmoor über, darunter auch die Erfurter Blumenzuchtfirma Ernst Benary. Sie errichtete einen Saatzuchtbetrieb mit 20 Gewächshäusern und 40 Hektar Freilandfläche. Das kann als der Beginn Wiesmoors als Blumengemeinde angesehen werden. Zwischen 1946 und 1949 entstand eine weitere Torfarbeitersiedlung, die 1951 den Namen Hinrichsfehn erhielt, zu Ehren des Betriebsdirektors der NWK, der den Bau initiiert hatte. Es entstanden 63 einheitlich aussehende Häuser. 1952 fand das erste Blütenfest statt. In jener Zeit besuchten jährlich bereits etwa 40.000 Menschen die Gemeinde, und es entstanden Pläne zum Bau eines Moorbades, einer Freilichtbühne und zum Ausbau des Parks in eine Kuranlage – Anliegen, die zwar 1954 mit dem Bau der Freilichtbühne begannen, teils aber erst nach Jahrzehnten ihren Abschluss fanden. So wurde eine Blumenhalle erst 1969 errichtet. Im Jahre 1951 wurde die Großgemeinde Wiesmoor gebildet. Die Gemeinden Wiesmoor und Mullberg sowie die Gutsbezirke Friedeburger Wiesmoor/nördlicher Teil und Friedeburger Wiesmoor Ost (alle aus dem Kreis Wittmund) sowie die Gemeinden Auricher Wiesmoor II und Wilhelmsfehn, der Gutsbezirk Wilhelmsfehn II und ein kleiner Teil der Gemeinde Voßbarg (alle aus dem Landkreis Aurich) wurden dazu zusammengefasst. Die Großgemeinde wurde nach teils heftiger politischer Diskussion komplett in den Landkreis Aurich integriert. Mit 51,64 Quadratkilometern war sie die flächengrößte Gemeinde Ostfrieslands und zählte 5.166 Einwohner. Der Landkreis Wittmund musste gegen seinen Willen per Gesetz die Gemeinde Wiesmoor und die angrenzenden Gebiete an den Landkreis Aurich abgeben, was durchaus dem Wunsch der dortigen Einwohner entsprach. Allerdings hatte alleine der Kernort Wiesmoor mit seinen Industriebetrieben zuletzt 14,7 Prozent der gesamten Kreisumlage des Landkreises Wittmund aufgebracht, die dieser nun entschädigungslos verlor. Im Zuge der Vereinigung der Gemeinden wurde auch der Straßenbau erheblich verstärkt. So entstand 1952 die wichtige Straßenverbindung entlang des Nordgeorgsfehnkanals (heute Landesstraße 12) nach Remels, durch das seinerzeit noch die B 75 führte – mit Anbindung an Leer einerseits, vor allem aber Oldenburg andererseits. Der Ausbau der Hauptstraße von Strackholt nach Wiesede zur heutigen Bundesstraße 436 erfolgte bis 1961. 1952 beschäftigte das Kraftwerk etwa 1.200 Arbeitnehmer und war damit im damals ansonsten industriearmen Landkreis Aurich der mit weitem Abstand größte industrielle Arbeitgeber. Etwa 120.000 Tonnen Torf wurden jährlich abgebaut und im Kraftwerk damit 100 Millionen Kilowattstunden Strom erzeugt. 60 Hektar Fläche wurden jährlich abgetorft und im Anschluss landwirtschaftlich genutzt. Weitere 200 Personen fanden in den angegliederten Gärtnereien der NWK Beschäftigung, deren Produkte wie Tomaten und Gurken bis in europäische Nachbarländer exportiert wurden. Die Bedeutung Wiesmoors für den Landkreis Aurich, der damals noch aus dem Gebiet der heutigen Kommunen Aurich, Wiesmoor, Ihlow, Großefehn und Südbrookmerland bestand, wird dadurch ersichtlich, dass der Bürgermeister Wiesmoors als beratendes Mitglied dem Auricher Kreistag angehörte und dass der Landkreis die Zusage gab, „von der von Wiesmoor aufgebrachten Kreisumlage jährlich einen erheblichen Teil zum wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau dieses Gebiets zu verwenden“. Die Produktion von Strom aus Torf war jedoch zunehmend unrentabler geworden, weshalb die Nordwestdeutschen Kraftwerke die Torfproduktion 1964 einstellten. Um sowohl die Stromerzeugung als auch die Arbeitsplätze zu sichern, gab es ab 1962 Pläne der Norddeutschen Kraftwerke, in Wiesmoor ein Kernkraftwerk mit der Leistung von 40 MW zu errichten, welches das Torfkraftwerk ersetzen sollte. Die Leistung hätte bis 1970 auf 300 MW erweitert werden sollen. Mitte 1964 wurden diese Pläne allerdings eingestellt. Als Hauptursache gilt die mangelnde Rentabilität eines so kleinen Atomkraftwerks. Auch die Versorgung mit Kühlwasser wäre wegen der mangelnden Kapazität des Nordgeorgfehnkanals problematisch geworden. Dennoch gab es Pläne der VEBA für ein größeres Atomkraftwerk mit der Leistung von 600 MW. Ende 1965 gab die VEBA allerdings bekannt, dieses Atomkraftwerk mit noch größerer Kapazität an einem anderen Ort bauen zu wollen. Stattdessen wurde das 1964 abgerissene Torfkraftwerk durch ein Gasturbinenkraftwerk mit 25 MW ersetzt. Wirtschaftliche Erfolge hatte die Gemeinde jedoch einerseits durch den Ausbau des Fremdenverkehrs, womit Wiesmoor eine der ersten Binnenland-Gemeinden Ostfrieslands war, die explizit auf diese Branche setzte. In den 1960er Jahren kam es andererseits auch zur Ansiedlung weiterer Industriebetriebe, die jedoch in späteren Jahrzehnten ihre Produktion wieder einstellen mussten. Dazu gehörten kleinere Textilfabriken, darunter ein Zweigwerk des Herstellers Klaus Steilmann, sowie eines von drei ostfriesischen Zweigwerken (neben Leer und Norden) des Büromaschinenherstellers Olympia-Werke. Das 1950 von Heinrich Bohlen und Heinrich Doyen gegründete Fuhrunternehmen Bohlen und Doyen expandierte hingegen aus eigener Kraft durch den Aufbau neuer Geschäftsfelder und entwickelte sich im Laufe der Jahre zum heute größten privaten Arbeitgeber Wiesmoors. Bis 1964 unbekannt war die dauerhafte Präsenz von Militär in Wiesmoor. In jenem Jahr bezog das Flugabwehrraketen-Bataillon 26 die neu gebaute Fehnkaserne im Süden Wiesmoors. Das Bataillon war Teil des Flugabwehrgürtels der NATO während des Kalten Krieges. Neben Luftwaffen-Angehörigen waren in der Kaserne amerikanische Soldaten stationiert, da in der Abgeschiedenheit Wiesmoors auch Atomwaffen gelagert wurden. Von 1972 bis heute Bei der niedersächsischen Gebietsreform 1972 wurde der Raum Wiesmoor erneut (und bislang letztmals) verwaltungstechnisch neu geordnet. Ziel der Gebietsreform war die Senkung der Zahl von Kleinstgemeinden und die Schaffung von großflächigeren und leistungsstärkeren Gemeinden. Rund um Wiesmoor gab es noch vier Gemeinden, die mit Wirkung zum 1. Juli 1972 an Wiesmoor angeschlossen wurden. Das waren im Landkreis Aurich die Gemeinden Voßbarg und Zwischenbergen sowie im Landkreis Wittmund die Gemeinden Marcardsmoor und Wiesederfehn. Damit musste der Landkreis Wittmund erneut zwei Gemeinden an den Landkreis Aurich abtreten. Alle Gemeinden standen jedoch bereits vor der Kommunalreform in engem Kontakt mit der bisherigen Gemeinde Wiesmoor, was besonders auf die Pendlerbeziehungen zutraf, und hier wiederum in besonders hohem Maße auf Voßbarg und Wiesederfehn. Der zwischenzeitlichen Schließung von Industriebetrieben, vor allem im Textilbereich, begegnete die Gemeinde mit dem weiteren Ausbau des Tourismus als wirtschaftlichem Standbein. Die Gemeinde wurde 1977 zum „staatlich anerkannten Luftkurort“ erhoben. Der Ausbau der touristischen Infrastruktur ging damit einher. So entstanden am Ems-Jade-Kanal in Marcardsmoor ein Campingplatz und ein Bootshafen. Das Radwegenetz wurde ausgebaut. 1977 wurde der bereits in den frühen 1950ern geplante, 15 Hektar große Kur- und Landschaftspark erschaffen, in unmittelbarer Nachbarschaft entstand drei Jahre später das Torf- und Siedlungsmuseum. 1987 kam eine Golfanlage in Hinrichsfehn hinzu, die inzwischen mit 27 Loch die größte Ostfrieslands ist. Am Freitag, dem 13. Januar 1989, kam es über dem Wiesmoorer Ortsteil Hinrichsfehn zur Kollision mehrerer Militärjets im Tiefflug. Ein Tornado der Royal Air Force stieß dabei in nur 150 Metern Höhe mit einer Staffel deutscher Alpha Jets vom Jagdbombergeschwader 43 in Oldenburg zusammen. Einer der Alpha Jets wurde von der britischen Maschine voll getroffen, ein weiterer wurde durch Trümmer leicht beschädigt und konnte noch notlanden. Die Trümmer des Tornado und des Alpha Jet gingen unweit der Grundschule Wiesmoor-Süd nieder, ohne dass es am Boden zu Verletzten kam. Die Insassen der britischen Maschine kamen bei dem Unglück ums Leben. Der Pilot des deutschen Alpha Jet konnte sich schwer verletzt mit dem Schleudersitz retten. In den 1990er Jahren musste Wiesmoor zwei wirtschaftliche Rückschläge verkraften. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde 1993 die Fehnkaserne geschlossen, 1995 die Stromerzeugung in Wiesmoor beendet und im selben Jahr auch das Gasturbinenkraftwerk abgerissen. Nach 88 Jahren endete damit die Phase, der das heutige Wiesmoor seine Entstehung verdankt: der Erzeugung elektrischer Energie. Der daraus hervorgegangene Gartenbau hingegen bildet bis heute ein wirtschaftliches Standbein. Auf dem Kraftwerksgelände wurde ein Bürogebäude errichtet. Am 16. März 2006 wurde Wiesmoor das Stadtrecht verliehen. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann überbrachte persönlich die Urkunde und betonte, dass damit die rasante Entwicklung Wiesmoors innerhalb von nur 100 Jahren gewürdigt werde. Einem Antrag auf Aufstufung von einem Grundzentrum zu einem Mittelzentrum wurde hingegen bereits 1994 nicht entsprochen, und auch im Zuge der Verleihung des Stadtrechts wurden entsprechende Begehrlichkeiten des Rates vom Land nicht beachtet. Im Jahre 2008 zog die Stadtverwaltung in das Bürogebäude um, das auf dem ehemaligen Kraftwerksgelände errichtet wurde. Seither wird die Stadt von dem Ort aus regiert und verwaltet, dem sie ihre Entstehung verdankt. Entwicklung des Ortsnamens Der Ort ist nach einem Moorgebiet benannt, das unter diesem Namen erstmals 1778 in einer Karte erscheint und das den mittleren Teil des Ostfriesischen Zentralhochmoores bezeichnet. Über die Herkunft des Stadtnamens gibt es verschiedene Hypothesen. Vermutlich wurde das Gebiet so mit den Nachbargemeinden Wiesede und Wiesedermeer in Verbindung gebracht. Der Name selbst wird tautologisch gedeutet, da Wies die Bedeutung von Moor haben könne. Andere mögliche Bedeutungen sind das Wiesige Moor oder Nasses Moor. Einwohnerentwicklung 1906 gegründet, lebten acht Jahre später in Wiesmoor erst 151 Einwohner. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte die Einwohnerzahl die 1000er-Marke noch nicht durchbrochen; das geschah erst nach dem Krieg durch die Aufnahme von Flüchtlingen. Die Sprünge in der Einwohnerentwicklung 1951 und 1972 erklären sich durch die Bildung der Großgemeinde Wiesmoor und die Eingemeindung von umliegenden Kleinstgemeinden bei der Niedersächsischen Kommunalreform. Seit den 1990er Jahren ist Wiesmoor durch Zuwanderung aus den neuen Bundesländern, von Spätaussiedlern, aber auch durch den Zuzug von Rentnern und Pensionären aus anderen Teilen Deutschlands gewachsen. Am 31. Dezember 2008 hatte Wiesmoor 13.261 Einwohner, die sich auf etwa 4.000 Haushaltungen verteilten. Das entspricht einer Einwohnerdichte von 160 Personen je Quadratkilometer. Politik Ostfriesland ist in seiner Gesamtheit eine traditionelle Hochburg der SPD. Dabei sind jedoch deutliche Unterschiede zwischen dem westlichen und dem östlichen Ostfriesland festzustellen. Im westlichen, größeren Teil Ostfrieslands liegt die SPD zumeist deutlich vor der CDU. Im östlichen Teil – dem Landkreis Wittmund, dem östlichen Teil des Landkreises Leer und Teilen des Landkreises Aurich inklusive Wiesmoor – hingegen hat die CDU eine starke Stellung und liegt im Allgemeinen bei Wahlen etwas vor der SPD. Innerhalb dieses östlichen Teils Ostfrieslands ist allerdings Wiesmoor als Industriesiedlung seit Jahrzehnten eine Hochburg der SPD. Das zeigte sich bereits in den Jahren der Weimarer Republik und änderte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Die SPD stellt auf Gemeindeebene seit langem die Mehrheit, der Bürgermeister ist Sozialdemokrat und der Bundestagsabgeordnete gehört ebenfalls der SPD an. Auch der Landtagsabgeordnete ist SPD-Mitglied: Wiesmoor gehört zusammen mit einigen anderen Kommunen des Landkreises Aurich zum Landtagswahlkreis 87 Wittmund/Inseln. Innerhalb der Gemeinde lassen sich jedoch einige Unterschiede festmachen. In einer Untersuchung des Wahlverhaltens bei Bundestagswahlen zwischen 1949 und 1972 hat Theodor Schmidt anhand von detaillierten Statistiken gezeigt, dass vor allem der Kernort und die bereits 1951 eingemeindeten Ortsteile der SPD stets zumindest die relative, meist aber die absolute Mehrheit der Stimmen bescherten. Die einwohnerschwächeren, tendenziell etwas ländlich-bäuerlicher strukturierten und erst 1972 eingemeindeten Ortsteile (Zwischenbergen, Marcardsmoor, Wiesederfehn, Voßbarg) hingegen votierten des Öfteren für relative bis absolute CDU-Mehrheiten. Mit Abstrichen ist das bis heute festzustellen. Stadtrat Der Rat der Stadt Wiesmoor besteht aus 30 Ratsfrauen und Ratsherren. Dies ist die festgelegte Anzahl für eine Stadt mit einer Einwohnerzahl zwischen 12.001 und 15.000 Einwohnern. Die 30 Ratsmitglieder werden durch eine Kommunalwahl für jeweils fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit beginnt am 1. November 2021. Stimmberechtigt im Stadtrat ist außerdem der amtierende hauptamtliche Bürgermeister. Das amtliche Endergebnis der niedersächsischen Kommunalwahl am 12. September 2021 lautete wie folgt: Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2021 lag mit 60,14 % über dem niedersächsischen Durchschnitt von 55,5 %. Bürgermeister Hauptamtlicher Bürgermeister der Stadt Wiesmoor ist Sven Lübbers (parteilos). Bei der letzten Bürgermeisterwahl 2021 erhielt er im ersten Wahlgang 60,38 Prozent der Stimmen, womit er den nicht mehr angetretenen, bisherigen Amtsinhaber Friedrich Völler (SPD) ablöste. Lübbers Gegenkandidaten waren Arnold Eilers (16,91 %), Karsten Peters (10,80 %), David Boddenberg (7,65 %), Michael Kugler (2,53 %) und Christian Rademacher-Jelten (1,73 %) (alle parteilos). Die Wahlbeteiligung lag bei 60,09 Prozent. Bisherige Amtsinhaber 2014–2021: Friedrich Völler (SPD) 1998–2014: Alfred Meyer Vertreter in Landtag und Bundestag Die Stadt Wiesmoor gehört zum Landtagswahlkreis 87 Wittmund/Inseln, der den gesamten Landkreis Wittmund sowie im Landkreis Aurich die Städte Norderney und Wiesmoor, die Gemeinde Dornum und die Inselgemeinden Juist und Baltrum umfasst. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 wurde das Direktmandat von Karin Emken (SPD) gewonnen. Sie erhielt 38,5 % der Stimmen. Emken löst damit den vorherigen Landtagsabgeordneten Jochen Beekhuis (parteilos, zuvor SPD) ab, der seit seinem Ausschluss aus der SPD-Fraktion am 22. Oktober 2019 dem Landtag als fraktionsloser Abgeordneter angehörte. Bei Bundestagswahlen gehört Wiesmoor zum Wahlkreis 24 Aurich – Emden. Dieser umfasst die Stadt Emden und den Landkreis Aurich. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Sozialdemokrat Johann Saathoff direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zog kein Kandidat der Parteien aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein. Wappen Städtepartnerschaften Wiesmoor unterhält seit 1991 eine Partnerschaft mit dem polnischen Turek in der Woiwodschaft Großpolen. Diese wird hauptsächlich von den Schulen und verschiedenen Vereinen in beiden Städten gepflegt. So gibt es regelmäßig einen Schüleraustausch und die Vereine stehen in einem regen Austausch, der sich vor allem in Besuchen zu offiziellen Anlässen wie Festen und Jubiläen ausdrückt. Darüber hinaus wird mit der verbandsfreien Gemeinde Budenheim im Landkreis Mainz-Bingen eine freundschaftliche Beziehung gepflegt. Religion Wiesmoor zählt zum Kirchenkreis Aurich, der mit rund 73.000 Gemeindemitgliedern der zweitgrößte Kirchenkreis der Hannoverschen Landeskirche ist. In den Landkreisen Aurich und Wittmund gibt es prozentual die höchsten Anteile von Lutheranern (an der Gesamtbevölkerung) in ganz Deutschland. Heute gehören etwa 90 Prozent der Einwohner Wiesmoors der evangelisch-lutherischen Kirche an. Ungefähr 4 Prozent der Einwohner sind katholischen Glaubens. Der Rest verteilt sich auf andere Religionsgemeinschaften und die Gruppe der Konfessionslosen. In Wiesmoor gibt es die lutherischen Gemeinden Wiesmoor, Marcardsmoor und Hinrichsfehn. Bis zur Gründung einer eigenen Kirchengemeinde im Jahre 1928 waren die Lutheraner in Wiesmoor Teil der Kirchengemeinde Marcardsmoor, welche die älteste im Stadtgebiet ist. Im Jahre 1930 wurde im Zentrum die Friedenskirche Wiesmoor errichtet. 1965 wurde im Ortsteil Hinrichsfehn die Versöhnungskirche als Filialkirche der Friedenskirche geweiht. Seit 1987 ist die Gemeinde selbstständig und damit die jüngste des Kirchenkreises Aurich. Teile des Stadtgebiets gehören darüber hinaus zu den lutherischen Gemeinden Spetzerfehn, Strackholt und Ostgroßefehn. Die römisch-katholische Kirchengemeinde verdankt ihre Entstehung polnischen Gastarbeitern. Für sie wurde 1913 im heutigen Ortsteil Hinrichsfehn eine Kirche gebaut, die auch als Lagerkirche für Strafgefangene katholischen Glaubens diente. Während des Ersten Weltkrieges wurden hier zudem katholische Kriegsgefangene betreut. Diese Kirche wurde bis Mitte der 1930er Jahre genutzt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des dadurch bedingten Zustroms von katholischen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus Schlesien wurde 1953 die Kirche Maria Hilfe der Christen errichtet, die bis 1990 selbstständig geführt wurde. Priestermangel führte in diesem Jahr dazu, dass die Gemeinde von der St.-Ludgerus-Kirche Aurich mitversorgt wurde. Seit 2007 ist die katholische Kirche Wiesmoor Teil einer Pfarreiengemeinschaft, der auch die katholischen Kirchengemeinden Wittmund, Neustadtgödens und Aurich angehören. Die evangelisch-methodistische Kirchengemeinde besteht seit 1923. Sie hat heute etwa dreißig Mitglieder. Eine Neuapostolische Kirchengemeinde Wiesmoor existierte in Wiesmoor von 1966 bis 2013. Bis 1982 kam die Gemeinde an verschiedenen Orten zum Gottesdienste zusammen, darunter auch in der Aula der Kooperativen Gesamtschule (KGS) Wiesmoor. 1982 begann sie mit dem Bau einer Kirche, der im folgenden Jahr abgeschlossen werden konnte und über 30 Jahre das jüngste Gotteshaus der Stadt war. Im Mai 2013 wurde die Kirche entwidmet. Kultur und Sehenswürdigkeiten Museen und Bauwerke Das zwischen dem Landschaftspark und dem „Blumenreich“ gelegene Torf- und Siedlungsmuseum wurde 1980 gegründet. Es besteht aus mehreren originalen, wiederaufgebauten Gebäuden. Dazu gehören unter anderem auch eine historische Dorfschule, eine Schmiede und das Kolonistenhaus. Gezeigt wird die Geschichte der Moorkolonisation ab 1780 bis zur Urbarmachung des Wiesmoors ab 1906. Das Museum ist über eine Moorbahn mit der Blumenhalle verbunden. Das historische Gebäudeensemble der Wiesmoor-Gärtnerei wurde unter Denkmalschutz gestellt. Von März bis Oktober werden Führungen angeboten. Das ehemalige Verwaltungsgebäude der Nordwestdeutschen Kraftwerke AG wurde 1936 als Torhaus errichtet, um so eine zügige Durchfahrt zu den dahinter liegenden Gewächshäusern zu sichern. In dem zweigeschossigen, lang gestreckten Rohziegelbau sind seit 1987 Teile der Stadtverwaltung und des Gewerbevereins untergebracht. Von 1963 bis 1965 wurde in Hinrichsfehn nach Plänen des Oldenburger Architekten Rainer Herrmann eine evangelische Kirche errichtet, die als ein Beispiel für den Stil der Klassischen Moderne gilt. Die Glasbetonfassaden der Süd- und der Nordseite wurden von dem ebenfalls aus Oldenburg stammenden Informell-Künstler Max Herrmann gestaltet, der ein Schüler von Otto Dix und Max Beckmann war. Im Jahre 1987 wurde ihr der Titel Versöhnungskirche verliehen. Theater, Kunst und Musik In Wiesmoor gibt es neun Chöre, mehrere kirchliche und weltliche Blasorchester sowie Gitarrenchöre. Die Niederdeutsche Bühne Wiesmoor führte bis in die 1970er Jahre ihre Stücke auf der Freilichtbühne auf. Seither ist das Forum der KGS Wiesmoor zweimal im Jahr Spielort des Ensembles, das Mitglied im Bühnenbund Niedersachsen/Bremen ist. Der Kultur- und Kunstkreis Wiesmoor, der seit 1995 besteht, fördert Bildende Kunst, Konzerte und Literaturveranstaltungen in Wiesmoor. Die Freilichtbühne wird für Open-Air-Konzerte genutzt. Seit Dezember 2009 hat sich die Künstlervereinigung Nordbrücke e. V. im Kunsthaus in Wiesmoor niedergelassen. Die Künstlervereinigung besteht inzwischen aus rund einem Dutzend bildender Künstler und präsentiert sechs bis acht Ausstellungen jährlich. Parks, Blumenpräsentation und Naturdenkmäler Der Wild- und Gemeindepark wurde 1952 angelegt und hat eine Fläche von 14 ha. 1954 wurde im Zentrum des Parks eine Freilichtbühne mit 3.000 Plätzen errichtet. Der Kur- und Landschaftspark dehnt sich auf einer Fläche von 15 ha aus. Er wurde 1977 eröffnet und liegt zwischen der Blumenhalle und dem Torf- und Siedlungsmuseum. Diese beiden Sehenswürdigkeiten sind mit einer Moorbahn verbunden, welche den Park durchquert. Die Anlage des Nielsenparks von 1927 steht in ihrer Gesamtheit unter Denkmalschutz. Die Blumenhalle gilt als Wahrzeichen des Ortes. Sie wurde 1969 für wechselnde Gartenausstellungen errichtet. Auf einer Fläche von rund 1.500 Quadratmeter werden in jährlich wechselnden Ausstellungen von März bis Oktober mehr als 10.000 Blumen präsentiert. Die Halle wird zudem für Kunstausstellungen genutzt. Die Wasserorgel ist die einzige fest installierte Ostfrieslands. Im Jahre 2007 wurde die Blumenhalle um ein 5 ha großes Freigelände, den Gartenpark, erweitert. Blumenhalle und Gartenpark bilden zusammen das „Blumenreich“. Westlich des „Blumenreichs“ wurde eine „Erlebnisgolf-Anlage“ errichtet. Das Ottermeer wurde 1977 als künstlicher Hochmoorsee angelegt. Sein Name geht zurück auf einen verlandeten Hochmoorsee, der etwas weiter nördlich lag. Der See liegt inmitten einer Moorlandschaft und wird vor allem als Naherholungsgebiet genutzt. Er ist von einem Wanderweg umgeben. Das Nordufer verfügt über einen Sandstrand und wird touristisch genutzt. Hier befindet sich der Camping- und Bungalowpark. Das Ottermeer und seine Umgebung sind Teil eines 104 Hektar großen Landschaftsschutzgebietes, das seit 1991 unter Schutz steht. Im Jahr 2006 wurde der Hochmoorkomplex Wiesmoor-Klinge als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Das Naturdenkmal umfasst 351 ha und erstreckt sich teils auf das Gebiet der Nachbargemeinde Großefehn. Als Naturdenkmal mit einer Größe von weniger als einem Hektar kommt ein Findling bei Hinrichsfehn hinzu. Sprache In Wiesmoor wird neben Hochdeutsch auch Ostfriesisches Platt gesprochen. Die Stadt selbst bildet dabei eine Sprachscheide zwischen dem westlichen und mittleren Teil Ostfrieslands und dem östlich gelegenen Harlingerland, in dem der lokale Dialekt Harlinger Platt gesprochen wird. Er unterscheidet sich nicht nur in Einzelheiten des Wortschatzes, sondern auch in bestimmten grammatikalischen Eigenheiten vom übrigen Ostfriesischen Platt. So wird im Harlingerland wie im Großteil Norddeutschlands „ges(ch)nackt“, wenn von „reden/sprechen“ die Rede ist, während im westlichen Teil Ostfrieslands das entsprechende Verb „proten“ lautet, was auf den Einfluss des westlichen Nachbarn Niederlande zurückgeht: Dort heißt das entsprechende Wort „praten“. Zudem wird im Harlingerland der Einheitsplural auf „(e)t“ gebildet und nicht auf „(e)n“ wie im westlichen Ostfriesland. „Wir sprechen“ heißt dementsprechend im Harlingerland „Wi s(ch)nackt“, während näher zur Ems „Wi proten“ gesagt wird. Sport Die Turngemeinschaft Wiesmoor, 1930 gegründet, ist mit rund 3600 Mitgliedern der größte Sportverein der Stadt und der zweitgrößte im Landkreis Aurich nach dem MTV Aurich. Angeboten werden unter anderem Basketball, Volleyball, Turnen, Leichtathletik, Tennis, Radsport, Gymnastik und Tanzen. Der Bezirksfischereiverband Ostfriesland ist seit 1926 im Ortsteil Marcardsmoor mit einem Anglerheim vertreten. Auch in Wiesmoor selbst gibt es eine Ortsgruppe des Vereins. Anfang 2007 wurden diese beiden Ortsgruppen zusammengelegt. Die so neu entstandene Ortsgruppe trägt, da sie das Gebiet der Stadt Wiesmoor jetzt komplett abdeckt, den Namen Ortsgruppe Wiesmoor. Seit 1952 gibt es in Wiesmoor einen Schwimmverein. Auf Initiative des Schwimmvereins wurde 1958 mit der Planung eines Wiesmoorer Hallenbads begonnen, das 1964 fertiggestellt wurde. Nachdem die Mitgliederzahl bei der Gründung des Vereins lediglich zehn betrug, zählte der Wiesmoorer Schwimmverein im Jahr 2010 mehr als 500 Mitglieder. Der Wassersportverein Marcardsmoor wurde 1994 gegründet. In mehreren Stadtteilen gibt es Sportvereine, die die Friesensportarten Boßeln und Klootschießen anbieten. In Wiesmoor ist eine der ältesten Gliederungen der DLRG im Bezirk Ostfriesland beheimatet. Die Einsatztauchergruppe der DLRG arbeitet eng mit den Feuerwehren der Stadt zusammen und ist in den regionalen sowie überregionalen Katastrophenschutz integriert. Wiesmoor verfügt über ein Hallen- und ein Freibad. Als weitere Sportstätten unterhält die Stadt sechs Sporthallen, acht Sportplätze, eine Tennishalle und zwei Tennisplätze. Dazu kommen ein Minigolf- und ein 27-Loch-Golfplatz. Die KGS Wiesmoor unterhält zudem einen öffentlichen Freizeit- und Bewegungspark mit diversen Sportplätzen. Regelmäßige Veranstaltungen Die größte jährlich wiederkehrende Veranstaltung ist das Blütenfest, das vom Verkehrs- und Heimatverein organisiert wird. Es findet am ersten Septemberwochenende an fünf aufeinander folgenden Tagen statt. Das 1951 gegründete Fest zieht jedes Jahr Tausende Touristen in den Luftkurort. Ein Höhepunkt der fünftägigen Veranstaltung ist der Blumenkorso, der in jedem Jahr einem anderen Motto gewidmet ist und aus mehreren – mit Tausenden von Blüten besteckten – Wagen besteht und langsam einen Rundkurs durch die Gemeinde fährt. Beim Dämmerschoppen am Samstagabend springen die alte Blütenkönigin und ihre Hofdamen mit dem Fallschirm über dem Fußballstadion ab. Anschließend findet dort eine Feier statt, die mit einem großen Feuerwerk ihren Höhepunkt erreicht. Am Sonntagnachmittag wird auf der Freilichtbühne von den Zuschauern eine neue Blütenkönigin gewählt. Die Zweit- und Drittplatzierte werden ihre Hofdamen. Das Königshaus repräsentiert Wiesmoor ein Jahr lang bei vielen regionalen und überregionalen Veranstaltungen. Begleitet wird das Fest von einem Flohmarkt sowie einem Rummel auf dem Marktplatz. Am Montagabend wird das Blütenfest durch „Kanal in Flammen“ beendet. Dabei handelt es sich um ein Feuerwerk, das direkt am und über dem Nordgeorgsfehnkanal gezündet wird. Der Gewerbeverein der Stadt organisiert mehrere regelmäßig stattfindende Veranstaltungen. Dazu zählen das Wiesmoorer Frühlingsfest (jährlich im März), der Blumen- und Pflanzenmarkt (jährlich im Frühjahr), das Oktoberfest, das Stadtfest und der an den vier Adventssonntagen stattfindende Weihnachtsmarkt. Das Sommerfest wird von der Stadt und dem Gewerbeverein gemeinsam ausgerichtet. Wirtschaft und Infrastruktur Separate Arbeitsmarktdaten für die Stadt Wiesmoor werden nicht erhoben. Gemeinsam mit der Stadt Aurich sowie den Gemeinden Großefehn, Ihlow und Südbrookmerland bildet Wiesmoor den Bereich Geschäftsstelle Aurich innerhalb des Bezirks Emden-Leer der Agentur für Arbeit. Im Bereich der Geschäftsstelle Aurich lag die Arbeitslosenquote im September 2012 bei 7,4 Prozent und damit etwa einen Prozentpunkt über dem niedersächsischen Durchschnitt. Wiesmoor hat einen leichten Auspendler-Überschuss. Wiesmoor zählt damit neben Wittmund und Weener zu den drei (von zehn) ostfriesischen Städten, deren Auspendlerzahl die Einpendlerzahl übersteigt. In der Stadt gibt es (Stand 2022) 5257 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, aber nur 4898 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. 3542 Auspendlern stehen 3182 Einpendlern gegenüber. Landwirtschaft und Gartenbau Landwirtschaft – und hier insbesondere der Gartenbau – spielen seit jeher eine wichtige wirtschaftliche Rolle in der Stadt. Die Wiesmoor-Gärtnerei entstand 1925, als die Nordwestdeutsche Kraftwerke AG (NWK) begann, überschüssige Wärme des Kraftwerkes zur Beheizung von Gewächshäusern für Gemüse zu nutzen. Im Jahre 1965/66 wurde die Wiesmoor-Gärtnerei GmbH gegründet, deren alleinige Gesellschafterin die NWK blieben. Im Jahre 2001 gingen die Geschäftsanteile im Rahmen eines Management-Buy-out-Verfahrens an fünf leitende Mitarbeiter über. Mehrere Gärtnerei-Betriebe haben sich zudem mit Gärtnereien aus anderen Orten zur Genossenschaft Nordwest-Blumen zusammengeschlossen. Die Gärtnereibetriebe verfügen zusammen über die größte zusammenhängende Fläche unter Glas in Europa, die sich in der Stadt auf 80.000 m² ausdehnt. Die Landwirtschaft in der Stadt ist darüber hinaus wesentlich von der Milchwirtschaft geprägt. Neben Grünland finden sich auch Anbauflächen für Futterpflanzen wie Mais. Der Landkreis Aurich lag 2021 auf Platz 14 der größten Milcherzeuger-Landkreise in Deutschland, wozu Wiesmoor in einem gewissen Umfang beiträgt, wenn auch weniger als flächengrößere Gemeinden. Tourismus und andere Dienstleistungen Als staatlich anerkannter Luftkurort mit einer Reihe Sehenswürdigkeiten und Freizeitmöglichkeiten ist Wiesmoor Ziel von Urlaubern. 2007 wurden in Wiesmoor 41.000 Übernachtungen in Herbergen mit mehr als sieben Betten verzeichnet, in kleineren Unterkünften weitere 65.000 bis 70.000. In der Stadt gibt es mehr als 40 Beherbergungsbetriebe, darunter vier Hotels und Pensionen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um Ferienwohnungen und -häuser. Außerdem sind ein Campingplatz und Wohnmobilstellplätze am Ottermeer vorhanden, ein weiterer Campingplatz befindet sich in Marcardsmoor am Ems-Jade-Kanal. Die Touristen blieben im Durchschnitt 2,9 Tage in der Stadt. Die Blumenhalle verzeichnete 2007 59.000 Besucher. Die Tourismus-Wertschöpfung in der Stadt wurde mit zirka 21 Millionen Euro angegeben. Die Stadt liegt an der Deutschen Fehnroute, der Tour de Fries sowie der Radroute Rad up Pad. Die wichtigste Einkaufsstraße ist die Hauptstraße (B 436), an deren beiden Straßenseiten sich Fachgeschäfte und Einkaufsmärkte aufreihen. In einem Gewerbegebiet im Ortsteil Wiesederfehn befinden sich weitere Einzelhandelsbetriebe, im Ortsteil Voßbarg zudem ein größeres Möbelkaufhaus. Industrie und Grundstoffe Die Stadt gilt als die einzige Kommune Ostfrieslands, die ihren Ursprung der Industrialisierung verdankt: durch den maschinellen Torfabbau und die Nutzung des Torfs für ein Kraftwerk. Noch heute wird in Wiesmoor in industriellem Maßstab Torf abgebaut. Dieser wird als Dünger (teils unter Beimischung von Rinderdung) verwendet. Die Torf-Betriebe finden sich in den Außenbereichen der Stadt, nahe den Grundstoff-Vorkommen. Der Abbau wird derzeit von der Firma Aurich-Wiesmoorer Torfvertriebs GmbH durchgeführt. Größter Industriebetrieb ist die Firma Bohlen & Doyen, die in der Energiewirtschaft, dem Baugeschäft und im Anlagenbau tätig ist und in Wiesmoor ihren Sitz hat. Bundesweit beschäftigt sie mehr als 500 Mitarbeiter und ist an fünf Standorten tätig. Sie ging aus einem Zwei-Mann-Fuhrbetrieb hervor, der 1950 von Heinrich Bohlen und Heinrich Doyen gegründet wurde. Die Firma Bohlen und Doyen ist im Südwesten der Kernstadt an der Bundesstraße 436 ansässig. Darüber hinaus gibt es Industriebetriebe aus den Bereichen Fahrzeugbau und Metallbau sowie dem Bereich Bauchemie. Die meisten anderen produzierenden Betriebe konzentrieren sich in zwei Gewerbegebieten an der in Richtung Süden führenden Oldenburger Straße, am Ortsausgang Wiesmoors und im Stadtteil Hinrichsfehn. Sie liegen den Anschlussstellen der A 28 am nächsten. Medien Wiesmoor liegt im Verbreitungsgebiet von drei Tageszeitungen. Das ist zum einen die Ostfriesen-Zeitung, die in Wiesmoor eine Geschäftsstelle mit Redaktionsbüro unterhält. Ebenfalls mit einer Geschäftsstelle vertreten ist der Anzeiger für Harlingerland. Dieser hat sein Verbreitungsgebiet traditionell im Landkreis Wittmund. Da weite Teile des heutigen Wiesmoorer Stadtgebiets jedoch bis zur Bildung der Großgemeinde Wiesmoor noch zum Landkreis Wittmund gehörten, ist der Anzeiger weiterhin in der Stadt verankert. Dritte der Tageszeitungen sind die Ostfriesischen Nachrichten, die in Aurich erscheinende Zeitung, die vornehmlich im historischen Auricherland (Altkreis Aurich, bis 1977) gelesen wird. Die redaktionelle Betreuung erfolgt bei den ON von Aurich aus. Aus Wiesmoor berichtet zudem der Bürgerrundfunksender Radio Ostfriesland. Bildung Bildung gewährleistet in erster Linie die Kooperative Gesamtschule (KGS) im Zentrum Wiesmoors mit mehr als 1450 Schülern (Stand 2010). Sie verfügt neben dem Haupt-, Real- und Gymnasialzweig auch über eine Grundschule und eine gymnasiale Oberstufe, die 1999 ihren ersten Abiturjahrgang verabschiedete. Die KGS Wiesmoor wird auch von Schülern aus den Nachbargemeinden in den Landkreisen Leer und Wittmund besucht. Separate Haupt- und Realschulen oder Gymnasien gibt es in Wiesmoor nicht. Das nächstgelegene Gymnasium befindet sich in Aurich, ebenfalls Berufsbildende Schulen. Grundschulen gibt es in Wilhelmsfehn II (Grundschule Am Ottermeer), in Hinrichsfehn (Grundschule am Fehnkanal) und im Wiesmoorer Zentrum (Grundschule Wiesmoor-Mitte). Schulen für Lernhilfe (Förderschulen) gibt es Wiesmoor nicht, die nächstgelegene befindet sich in der Nachbargemeinde Großefehn. Die Kreisvolkshochschule Aurich unterhält in Wiesmoor eine Außenstelle. Öffentliche Einrichtungen Nach der Schließung der Fehnkaserne gibt es in Wiesmoor keine öffentlichen Einrichtungen von überregionaler Bedeutung mehr. Die für Wiesmoor zuständigen Behörden wie Finanzamt und Katasteramt sowie das zuständige Amtsgericht befinden sich in der Kreisstadt Aurich, desgleichen die Kreisverwaltung. Neben der Stadtverwaltung und ihren nachgeordneten Betrieben wie dem Bauhof gibt es noch die Tourist-Info, die sich im Eigentum der Stadt befindet. Die Stadtbibliothek liegt in unmittelbarer Nähe der KGS Wiesmoor. Die Freiwillige Feuerwehr Wiesmoor wurde 1930 gegründet und ist seit 1951 Teil des Feuerwehrverbands des Landkreises Aurich. Heute hat die Stadtfeuerwehr jährlich 70 bis 90 Einsätze. Ihr Einsatzgebiet ist nicht nur auf Wiesmoor beschränkt, sondern umfasst auch Nachbargemeinden bis zur Bundesstraße 72. Die Freiwillige Feuerwehr Wiesmoor hat heute 75 aktive Mitglieder in Wiesmoor und 30 im Ortsteil Marcardsmoor. Neben den zwei einsatzbereiten Feuerwehren gibt es noch eine Jugendfeuerwehr mit 31 sowie eine Altersabteilung mit 17 Mitgliedern (Stand: 2013). Der Bestand der Stadtfeuerwehr umfasst neun einsatzbereite Fahrzeuge, einschließlich des Fahrzeugs der Feuerwehr Marcardsmoor. Verkehr Wiesmoor liegt inmitten der ostfriesischen Halbinsel und damit abseits der die Region durchziehenden Autobahnen 28, 29 und 31. Eine Bundesstraße und eine Landesstraße erschließen die Stadt und verbinden sie mit dem überregionalen Verkehr. Es handelt sich um die Bundesstraße 436, die von Weener nach Sande in Südwest-Nordost-Richtung quer durch die ostfriesische Halbinsel führt. Die Länge auf Wiesmoorer Stadtgebiet beträgt elf Kilometer. Im Wiesmoorer Stadtkern kreuzt sie sich mit der Landesstraße 12, die von Wittmund in südlicher Richtung nach Remels führt. Die auf Stadtgebiet 14 Kilometer lange L 12 stellt für Wiesmoor die kürzeste Verbindung zur A 28 (Leer – Oldenburg) dar. Des Weiteren führen Kreisstraßen von Wiesmoor in die Nachbargemeinden, auch die Kreisstadt Aurich ist auf dem kürzesten Wege über Kreisstraßen erreichbar. Die Länge der Kreisstraßen in Wiesmoor beträgt 15 Kilometer. Hinzu kommen weitere städtische Straßen von etwa 200 Kilometern Länge, so dass das Straßennetz in der Stadt insgesamt ungefähr 240 Kilometer lang ist. Überland-Buslinien verbinden Wiesmoor mit Aurich und Leer. Busse fahren von zirka 6 Uhr morgens bis ungefähr 19 Uhr abends einmal pro Stunde. Buslinien in Richtung Wittmund und Wilhelmshaven sind mit einer deutlich schlechteren Vertaktung und längeren Fahrtzeiten verbunden. Einen Anschluss an das nationale Eisenbahnnetz hat Wiesmoor nie besessen. Die nächstgelegenen Personenbahnhöfe befinden sich in Wittmund, Leer, Sande und Augustfehn, wobei Leer und Augustfehn ein Intercity-Halt sind. Von Wittmund und Sande aus verkehren Züge der NordWestBahn nach Oldenburg und Wilhelmshaven, Oldenburg ist jedoch auch von den Bahnhöfen Leer und Augustfehn aus erreichbar. Da von diesen Bahnhöfen allein der in Leer mit einer Schnellbuslinie erreichbar ist, stellt er den bevorzugten Bahnhof für Bahnreisende dar. Die nächstgelegenen Flugplätze befinden sich in Leer und Mariensiel bei Wilhelmshaven. Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen ist der in Bremen. Für den Bootstourismus sind die Kanäle von großer Bedeutung, ihre frühere Funktion im Frachtverkehr haben sie hingegen längst eingebüßt. Im Norden durchquert der Ems-Jade-Kanal in West-Ost-Richtung das Stadtgebiet. Im Stadtteil Marcardsmoor zweigt der in südlicher Richtung durch Wiesmoor verlaufende Nordgeorgsfehnkanal von ihm ab und führt in Richtung Leda und Jümme. Persönlichkeiten Der ehemalige Direktor des Torfkraftwerkes und der Wiesmoor-Gärtnerei, Johann Gerhard (genannt: Jan) Hinrichs (1887–1974), der sich um die Entwicklung des Ortes verdient gemacht hat, ist bisher der einzige Ehrenbürger der Stadt (1954). Der Schriftsteller und Sprachforscher Johann Loet Schoon (1894–1968), dem 1966 der Freudenthal-Preis zuerkannt wurde, hatte in Wiesmoor nach dem Ersten Weltkrieg eine Anstellung als Büroangestellter gefunden. Die niederdeutsche Dichterin Greta Schoon (1909–1991) arbeitete von Mitte der 1930er Jahre bis 1945 als Gemeindeschwester in Wiesmoor. Für ihr literarisches Wirken wurde sie 1980 mit dem Freudenthal-Preis, 1981 mit dem Klaus-Groth-Preis und 1984 mit dem Roswitha-Preis ausgezeichnet. Die Kinderbuchautorin und Illustratorin Andrea Reitmeyer wurde 1979 in Wiesmoor geboren. Die unter ärmlichen Bedingungen lebende Moorkolonistin Jantje Wilms Brinkmann (1803–1908), genannt Jantjemöh, erlangte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als älteste Ostfriesin überregionale Bekanntheit. Literatur Karl-Heinz Frees (Hrsg.): Das große Wiesmoor. Die Blumengemeinde Ostfrieslands. Soltau-Kurier, Norden 1987, ISBN 3-922365-74-4. Karl-Heinz Frees: Wiesmoor. Der lange Weg vom Moor zur Blumenstadt. Rautenberg, Leer 2005. Jan Hinrichs: Wiesmoor. Entstehung und Zukunft. Hinck, Hannover 1961. Helmut Sanders: Großefehn-Wiesmoor. Sutton, Erfurt 1999, ISBN 3-89702-162-5. Helmut Sanders: Wiesmoor. Seine Kultivierung und Besiedlung von den Randgemeinden aus. Mettcker, Jever 1990, ISBN 3-87542-006-3. Helmut Sanders: Wiesmoor 1906–1996. Von der Überlandzentrale zum zentralen Ort. Rautenberg, Leer 1997, ISBN 3-7921-0587-X. Horst Wöbbeking, Hermann Gutmann, Friedrich Schröder: Stromlandschaften Wiesmoor. Christians, Hamburg 1987, ISBN 3-7672-1026-6. Weblinks Offizielle Homepage der Stadt Wiesmoor Chronik Wiesmoor Beschreibung von Wiesmoor (PDF; 280 kB) in der Historischen Ortsdatenbank der Ostfriesischen Landschaft Literatur über Wiesmoor in der Niedersächsischen Bibliographie Einzelnachweise Ort im Landkreis Aurich Gemeindegründung 1922 Staatlich anerkannter Luftkurort in Niedersachsen Stadt in Niedersachsen Stadtrechtsverleihung 2006
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https://de.wikipedia.org/wiki/Vectrex
Vectrex
Das Vectrex ist eine Spielkonsole des US-amerikanischen Unternehmens General Consumer Electronics (GCE), das ab Sommer 1982 zum Spielzeughersteller Milton Bradley gehörte. Das Gerät basiert auf dem Mikroprozessor Motorola 6809 und setzt sich von anderen zeitgenössischen Spielkonsolen durch seinen eingebauten Vektorbildschirm ab. Die Konsole kam Ende 1982 zunächst nur in ausgewählten Städten der Vereinigten Staaten in den Handel, Anfang 1983 dann dort landesweit. Der Verkauf in Europa begann im Herbst desselben Jahres. Den Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland übernahm die Niederlassung von Milton Bradley in Fürth. Wegen des Niedergangs der nordamerikanischen Videospieleindustrie im Jahr 1983 waren auch für Milton Bradley die finanziellen Verluste sehr groß. Spätestens im Januar 1984 stellte deshalb das Unternehmen die Produktion des Geräts ein und zog sich vollständig aus dem Spielkonsolengeschäft zurück. Auch wenn das Vectrex ein wirtschaftlicher Misserfolg war, gilt es wegen zahlreicher technischer und gestalterischer Innovationen dennoch als wegweisend in der Videospielgeschichte. Geschichte Ende der 1970er Jahre erlebte die noch junge Videospielebranche in den USA einen großen Aufschwung. Vor allem Arcade-Automaten, die auf öffentlichen Plätzen und in Spielhallen aufgestellt waren, erfreuten sich großer Beliebtheit. Zahlreiche populäre Arcadetitel erschienen deshalb auch als Umsetzungen für die damals noch relativ neuen programmierbaren Spielkonsolen und Computer aus dem Heimbereich. Deren vergleichsweise geringe Leistungsfähigkeit war jedoch unweigerlich mit Vereinfachungen der Spiele verbunden. Besonders problematisch gestaltete sich die Portierung von Automatenspielen mit sogenanntem Vektormonitor, wozu beispielsweise der Erfolgstitel Asteroids von Atari gehörte. Für automatennahe Heimversionen solcher Spiele planten deshalb Jay Smith und Gerry Karr eine neuartige Spielkonsole. Anders als zeitgenössische Systeme, die an das heimische Fernsehgerät angeschlossen wurden, war sie zum Gebrauch mit einem Vektormonitor gedacht. Weil solche Anzeigen außer in Arcade-Automaten und Messgeräten wenig verbreitet waren, sahen die Entwickler für ihr Gerät einen integrierten Vektormonitor vor. Entwicklung Einen ersten Entwurf der Konsole noch mit der Bezeichnung Mini-Arcade stellten Smith und Karr, auf der Suche nach einem Investor, Ende 1980 dem US-amerikanischen Spielzeughersteller Kenner vor. Nach dessen Absage gelang es schließlich Mitte 1981, das Unternehmen General Consumer Electronics (GCE) für das Projekt zu gewinnen. Auf Betreiben von GCE nahmen die Entwickler einige Änderungen an der Konsole vor: Die Bildröhre wurde von 5 auf 9 Zoll vergrößert und aus vermarktungstechnischen Gründen nun hochkant stehend verbaut. Die technisch einfach zu handhabende schwarzweiße Bildausgabe behielt man dagegen bei. Um später dennoch mit Spielen in Farbe werben zu können, griff GCE auf kolorierte Überlegefolien für den Bildschirm zurück, wie sie auch schon Hersteller von älteren Arcade-Automaten verwendet hatten. Zur Steuerung des Geräts setzten die Entwickler auf eine damals übliche 8-Bit-Mikroprozessorarchitektur. Ihre Wahl fiel auf den vergleichsweise leistungsfähigen Motorola 6809 und weitere spezielle elektronische Beschaltungsbausteine. Die Unterbringung dieser empfindlichen digitalen Schaltkreise direkt neben der störstrahlungsreichen Bildröhre sollte sich jedoch als sehr schwierig erweisen. Erst spezielle Abschirmungen konnten Abhilfe schaffen. Weil das Gehäuse der Konsole durch die zahlreichen Einzelkomponenten ohnehin groß ausfiel, war auch die Integration eines herausnehmbaren Bedienpults möglich. Zudem stand viel Platz im Bedienpult selbst zur Verfügung. Das erlaubte den Konstrukteuren den Einbau von zusätzlichen Funktionstasten und vor allem eines analog arbeitenden Joysticks, dessen Technik mehr Raum als die der sonst üblichen digitalen Modelle einnahm, der aber auch mehr Steuerungsmöglichkeiten bot. Die von den Ingenieuren gewählte Anordnung des Joysticks auf der linken Seite des Controllers hat sich seitdem als Standard etabliert. Parallel zur Hardwareentwicklung wurde die Firmware, die Software zur Koordination der systeminternen Abläufe erstellt. Darauf aufbauend begannen nur wenig später auch die Arbeiten an dem Spiel Mine Storm. Diese Umsetzung von Asteroids sollte zusammen mit dem Gerät ausgeliefert werden und so als zusätzlicher Kaufanreiz dienen. Eigens eingestellte Entwickler programmierten etwa zur selben Zeit weitere, optional erhältliche Spiele. Wie bei anderen Konsolen auch, plante GCE diese als robuste und leicht auswechselbare Steckmodule in den Handel zu bringen. Noch während der Entwicklung erhielt die Spielkonsole ihren neuen Namen Vectrex. Diese Bezeichnung hob die Vektorgrafik, das Alleinstellungsmerkmal im Heimvideospielmarkt, besonders hervor. GCE versprach sich davon eine größere Werbewirksamkeit. Vermarktung Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde die Konsole Anfang Juni 1982 auf der Summer Consumer Electronics Show (CES) in Chicago. Die Messeveranstalter bewerteten das Gerät als „besonders innovatives Produkt“ und präsentierten es daher in der prestigeträchtigen Design und Engineering Exhibition, einer Bestenschau innerhalb der CES. Die Konsole zog möglicherweise schon zu diesem Zeitpunkt das Interesse von Milton Bradley auf sich. Der US-amerikanische Spielzeughersteller, der bereits das von Smith entwickelte Handheld Microvision vermarktete, übernahm GCE dann im August 1982. Das weltweite Vertriebsnetz des Spielzeugherstellers eröffnete der Vectrex-Konsole völlig neue wirtschaftliche Perspektiven. Die Herstellung der Konsole hatte zuvor eine Fabrik in Hongkong übernommen. Markteinführung und Werbekampagne Die Auslieferung der Geräte begann im August 1982. Allerdings blieb der laut Smith im November gestartete Verkauf für das Jahr 1982 auf acht größere Städte in den Vereinigten Staaten beschränkt. Der Preis für die Konsole lag während dieser Testvermarktungsphase zwischen 199 und 229 US-Dollar, was heute etwa bis Euro entspricht. Die zwölf verschiedenen Spiele kosteten jeweils etwa 30 US-Dollar. In der Produktwerbung pries der Hersteller seines selbstbetitelten „revolutionären Durchbruchs“ vor allem die Vorteile des eingebauten Bildschirms an („Ohne Fernseher spielbar“). Daneben hob GCE die Nähe zu den Arcade-Automaten hervor („Nur Vectrex bietet echte Herausforderungen mit umwerfend realistischer Arcade-Grafik und Sound.“). Selbst Besitzer von Ataris Erfolgsmodell VCS 2600 und Mattels Intellivision hätten zugegeben, dass mit Vectrex-Spielen das bessere Arcade-Gefühl aufkomme. Dazu passend warb GCE mit den „rasanten“ Umsetzungen populärer Arcade-Titel wie beispielsweise Berzerk und Scramble. Obwohl der von Milton Bradley für die Konsole angestrebte Jahresumsatz für 1982 etwa 20 Millionen US-Dollar betrug, ging das Unternehmen wegen der hohen Entwicklungs- und Werbekosten Ende des Jahres von einem Verlustgeschäft aus. Anfang 1983 war die Konsole in den gesamten Vereinigten Staaten erhältlich. Der Hersteller kündigte zudem neue Spiele an. Damit einher ging ein höheres Werbebudget, das auch Fernsehwerbung ermöglichte, auf die 1982 noch gänzlich verzichtet worden war. Für diese Werbespots hatte Milton Bradley unter anderem den bekannten Autorennfahrer Jackie Stewart als Markenbotschafter gewinnen können. Ebenfalls zur Unterstützung der Vectrex-Verkäufe erschienen 1983 Hardware-Erweiterungen für die Konsole, darunter eine 3D-Brille. Dieser 3-D Imager war in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Datascan entstanden und auf der Summer CES 1983 im Juni vorgestellt worden. Wegen der zunehmenden Marktsättigung im Videospielbereich hatte der Hersteller den Verkaufspreis des Vectrex im Laufe des Jahres 1983 drastisch senken müssen, spätestens im Juni auf unter 100 US-Dollar. Dennoch erwartete Milton Bradley im September 1983 für seine Spielkonsole einen Jahresumsatz von etwa 100 Millionen US-Dollar. Weltweiter Verkauf In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Vectrex erstmals auf der Nürnberger Spielwarenmesse Anfang 1983 vorgestellt. Eine weitere Präsentation folgte auf der Kölner US Computer Show, die Ende Juni stattfand. Im Herbst 1983 war das Gerät dann für etwa 450 DM erhältlich, was heutzutage rund Euro entspricht. Die „Spielecassetten“ kosteten jeweils 120 DM. Die deutsche Niederlassung von Milton Bradley in Fürth bewarb ihr Gerät als kompakt und benutzerfreundlich: Die Konsole sei „das erste komplette Videospiel-System“, mit dem man spielen könne, „wann und wo man Lust dazu hat!“ Niemand brauche mehr zu warten, bis der Fernseher „frei wird“. Man habe auch nicht jedes Mal „Antennenkabel raus- und Verbindungskabel reinzustecken“. Vielmehr gelte: „Nur [Netz]Stecker rein und ran ans Spiel.“ Neben der Bundesrepublik Deutschland war die Konsole auch in anderen europäischen Ländern und in Japan erhältlich. In Großbritannien, einem weiteren umsatzstarken Videospielmarkt, begann der Verkauf ebenfalls im Herbst 1983. Der Einführungspreis des Vectrex lag dort bei rund 125 Pfund Sterling. Produktionseinstellung und Abverkäufe Der weitestgehende Zusammenbruch des Videospielmarktes in den Vereinigten Staaten, der Video Game Crash, hatte im Jahr 1983 auch bei Milton Bradley zu Verlusten in Millionenhöhe geführt. Das Unternehmen verkündete deshalb Ende Januar 1984 seinen Rückzug aus der Videospielebranche. Die Herstellung, Produktpflege und der Vertrieb des Vectrex-Systems wurden umgehend eingestellt. Sämtliche noch verbliebene Bestände an Konsolen, Zubehör und Spielen veräußerte Milton Bradley binnen kurzer Zeit an Discounter. Im Juni konnte die Konsole daraufhin für unter 50 US-Dollar im Einzelhandel erworben werden. Auch in der Bundesrepublik Deutschland kam es 1984 zu Preissenkungen. Das Handelsunternehmen Metro beispielsweise bot das Grundgerät für 300 DM an, Spielkassetten waren für 50 DM erhältlich. Genaue Verkaufszahlen sind nicht bekannt, es existieren lediglich Schätzungen. Bernstein Research, ein US-amerikanischer Finanzdienstleister und Marktforschungsunternehmen, legte Ende 1982 entsprechende Zahlen vor. Für 1982 wurden Verkäufe von 100.000 Konsolen und 300.000 Steckmodulen vorhergesagt, was etwa 1 Prozent Marktanteil entsprach. Für 1983 ging man von 600.000 in den Vereinigten Staaten verkauften Geräten aus, ergänzt um 200.000 weitere im Ausland. Die weltweit erwarteten Spieleverkäufe lagen nach Bernstein Research für dasselbe Jahr bei 2,5 Millionen Stück. Der Marktanteil des Vectrex-Systems sollte laut der Prognosen damit bei etwa 6 bis 7 Prozent gelegen haben. Die maximalen Produktionskapazitäten des Herstellers schätzte Bernstein Research für 1983 auf 1 Million Konsolen. Technische Informationen Zum Spielen wird das Grundgerät (in der deutschen Anleitung als „Basis-Gerät“ bezeichnet), mindestens ein kabelgebundener Controller („Integral-Keyboard“) und wahlweise eine Überlegefolie („Bildschirm-Folie“) für Farbeffekte benötigt. Das Spiel Mine Storm ist vorinstalliert („einprogrammiert“), weitere sind mithilfe von Steckmodulen („Cassetten“) optional ausführbar. Ein Batteriebetrieb ist nicht möglich. Aufbau des Grundgeräts In das 36 × 29,5 × 24 cm (H/T/B) messende kompakte Gehäuse aus schwarzem Plastik sind neben der Bildröhre verschiedene Schächte und diverse Bedienelemente eingelassen. Im größten Schacht, der sich unterhalb des Bildschirms befindet, wird der kabelgebundene Controller mit dem darin verbauten Joystick aufbewahrt. Nach Entnahme dieses Bedienpultes wird der Zugang zur Resettaste („Rückstell-Knopf“), dem Netzschalter mit integriertem Lautstärkeregler und den Anschlussbuchsen („Steckbuchsen“) für insgesamt zwei Controller frei. Ein weiterer Schacht in der rechten Seite des Konsolengehäuses dient zur Aufnahme eines Steckmoduls. Auf der Rückseite des Geräts befindet sich der Helligkeitsregler für den Bildschirm und im oberen Bereich eine größere Vertiefung, die als Einfassgriff zum Transportieren der Konsole dient. An den schmalen Seiten der Bildröhre befinden sich kleine Haltenasen, die zum Einstecken der farbigen Überlegefolien dienen. Sämtliche elektrische und elektronische Komponenten sind im Gehäuseinneren untergebracht. US-amerikanische Variante des Grundgeräts mit Controller in ausgeschaltetem Zustand Das Gerät beherbergt neben der Bildröhre, dem Lautsprecher und dem Netzteil zwei größere Platinen mit den elektronischen Bauteilen. Die Leiterplatte im unteren Teil des Gehäuses, das Logic-Board, enthält hauptsächlich digitale Bauteile, darunter der Mikroprozessor. Die restliche Elektronik vor allem zur Bereitstellung von Versorgungsspannungen ist auf dem Power-Board untergebracht, das auch die für die Bildröhre benötigte Hochspannung erzeugt. Auf dem Power-Board befindet sich ebenfalls ein Blechgehäuse zur Abschirmung von elektromagnetischer Störstrahlung. Funktionsweise Wie andere Spielkonsolen seiner Zeit auch basiert das Vectrex auf einer 8-Bit-Mikroprozessorarchitektur. Wegen seines frühen Erscheinungsdatums ist die Leistungsfähigkeit jedoch sehr begrenzt und mit heutigen Spielkonsolen nicht vergleichbar. Mikroprozessor, Speicher, Ein & Ausgabe Der eingesetzte Mikroprozessor Motorola 68A09 mit einem Systemtakt von 1,6 MHz ist eine Variante des Motorola 6809. Er dient als zentrale Verarbeitungseinheit zur Steuerung des gesamten Spielgeschehens und seiner audiovisuellen Präsentation. Die CPU kann auf einen Adressraum von 65536 Byte zugreifen, was auch die theoretisch mögliche Obergrenze des Arbeitsspeichers von 64 Kilobytes (KB) festlegt. Verbaut sind im Vectrex jedoch nur 1 KB statischer Arbeitsspeicher (SRAM) und 8 KB Festwertspeicher (ROM). 4 KB des Festwertspeichers sind dabei vom Betriebssystem der Konsole belegt, das alle systeminternen Abläufe steuert. Die andere Hälfte enthält das Programm und die audiovisuellen Daten für das Spiel Mine Storm. Befindet sich ein Cartridge im Modulschacht, so werden stattdessen seine Inhalte ausgeführt. Zur Übermittlung der Controllereingaben beispielsweise dient ein weiterer spezieller Baustein, der MOS 6522 (englisch Peripheral Interface Adapter, kurz PIA). Vektormonitor, Grafik und Ton Im Vectrex ist eine monochromatische Kathodenstrahlröhre von Samsung mit der Modellbezeichnung 240RB40 verbaut. Die Abmessungen betragen 229 × 279 Millimeter (9 × 11 Zoll) mit einer Bilddiagonale von 240 Millimeter. Im Gegensatz zu damaligen Fernsehgeräten und anderen Spielkonsolen mit integriertem Röhrenbildschirm erfolgt die Bilddarstellung im Vectrex nicht mit Hilfe des rasterbasierten Zeilensprungverfahrens. Der Elektronenstrahl wird vielmehr von einem beliebigen Anfangspunkt in gerader Linie zu einem beliebigen Endpunkt, d. h. vektoriell geführt. Die darzustellenden Objekte müssen also nicht erst in die einzelnen Punkte eines Rasters zerlegt werden, was Treppeneffekte vermeidet und hohe Auflösungen des Bildes erlaubt. Zudem fällt der Speicherverbrauch für das Vorhalten der grafischen Daten geringer aus. Es können jedoch keine größeren gefüllten Flächen erzeugt werden. Aus diesem Grund besteht die vom Vectrex ausgegebene Spielegrafik auch nur aus Linien und daraus konstruierten Drahtgittermodellen. Die Ausgabe von flächigen Buchstaben und Zahlen unterliegt ebenfalls Einschränkungen. Die Steuerung der Bildschirmanzeige erfolgt durch den Mikroprozessor, der aus den vorgegebenen Grafikdaten des Spiels das Bild in Echtzeit erzeugt. Ein spezieller Grafikbaustein beispielsweise in Form eines Cathode Ray Tube Controllers (kurz CRTC) oder eines Kundenschaltkreises wie Ataris Television Interface Adapter (kurz TIA) ist im Vectrex nicht verbaut. Die vom Mikroprozessor aus dem Speicher gelesenen digitalen Grafikdaten werden vielmehr an den Ein-/Ausgabebaustein MOS 6522 übertragen. Danach übernehmen weitere Baugruppen die Umwandlung in zeitveränderliche elektrische Signale. Diese wiederum dienen zur Ablenkung des Elektronenstrahls in der Bildröhre, d. h. zum eigentlichen Zeichnen des Bildschirminhalts. Die zugehörigen programmtechnische Abläufe auch für andere Manipulationen des Elektronenstrahls sind in der Firmware des Vectrex als Unterprogramme enthalten. Diese Subroutinen entsprechen im Wesentlichen Zeichenbefehlen und können von Spielen zum effizienten Erstellen und Ändern grafischer Objekte aufgerufen werden. Zur Erzeugung von Musik und Geräuschen kommt der programmierbare Synthesizerbaustein AY-3-8912 von General Instrument zum Einsatz, der seine Instruktionen via MOS 6522 ebenfalls vom Mikroprozessor erhält. Die Ausgabe der Tonsignale erfolgt über den in der Konsole eingebauten Lautsprecher. Bedienpult, Lichtstift und 3D-Brille Zur Steuerung der Spiele sind verschiedene Bediengeräte vorgesehen. Sie werden jeweils an eine der beiden 9-poligen Controllerbuchsen angeschlossen, die nicht kompatibel zu denen anderer Hersteller wie beispielsweise von Atari sind. Eines der Bediengeräte, das bereits im Lieferumfang des Vectrex enthalten war, ist das beidhändig zu haltende „Integral-Keyboard“. Dieses Joypad wiegt etwa 200 Gramm und wird über ein dehnbares, maximal 1 Meter langes Spiralkabel mit der Konsole verbunden. Der in diesem Bedienpult verbaute selbstzentrierende Spielhebel ist statt der damals üblichen Kontaktpunkte oder Mikroschalter mit Drehwiderständen ausgestattet. Eine Hebelbewegung wird somit analog, das heißt stufenlos weitergegeben. Eine heftigere Bewegung des Joysticks führt – bei entsprechender programmtechnischer Abfrage – auch zu einer schnelleren Bewegung beispielsweise einer Spielfigur. Die Funktionen der vier ebenfalls integrierten Tasten werden vom jeweils ausgeführten Spiel festgelegt und sind leicht erkennbar auf der mitgelieferten Bildschirmfolie vermerkt. Am Vectrex können maximal zwei Controller gleichzeitig betrieben werden, wobei der zweite optional zu erwerben war. Dazu gehörte auch ein Lichtgriffel, der ebenfalls von Milton Bradley produziert, aber nur in Nordamerika vertrieben wurde. Die Nutzbarkeit des Lichtgriffels ist auf zwei eigens dafür programmierte und von Milton Bradley vertriebene Spiele beschränkt. In Nordamerika war neben den Controllern auch eine 3D-Brille für das Vectrex erhältlich. Es handelt sich dabei um ein elektromechanisches Shutter-3D-System, das mit Halteriemen am Kopf befestigt wird. Beim Tragen werden dann auf dem Konsolenbildschirm dargestellte Inhalte in farbige Bilder mit räumlicher Tiefe umgewandelt. Dabei kommt eine teiltransparente Kunststoffscheibe zum Einsatz, die in der Brille rotiert. Der Blick des Betrachters auf den Bildschirm wird so für jedes Auge abwechselnd freigegeben oder verdeckt. Zur korrekten Erzeugung des stereoskopischen Bildes muss die Drehzahl der Scheibe auf das jeweilige Bildschirmgeschehen abgestimmt sein. Dazu werden speziell programmierte Spiele und passende, wechselbare Scheiben benötigt. Insgesamt erschienen drei solcher Spiele für das Vectrex. Steckmodule und Überlegefolien Die auch Cassette, Cartridge, Steckmodul oder Spielmodul genannten Speichermedien enthalten jeweils eine Platine mit Kontaktzungen. Nach dem Einstecken in den Modulschacht führt der Mikroprozessor die auf dem Cartridge befindlichen Programme aus. Diese sind zusammen mit den audiovisuellen Daten in elektronischen Speicherbausteinen (ROM-Chips) hinterlegt. Mit jedem Spiel lieferte der Hersteller auch eine passende transluzente Kunststofffolie aus, die häufig mehrfarbig war. Diese kann vom Spieler vor der Bildröhre eingesteckt werden, womit ohne technischen Aufwand das Bildschirmgeschehen in verschiedenen Bereichen unterschiedlich eingefärbt wird. Weitere auf die Folie teilweise deckend aufgedruckte Grafiken bringen zusätzliche Darstellungen wie Dekorationen oder Feldbegrenzungen ins Spiel, um die Immersion zu stärken. Darüber hinaus finden sich auf den Folien auch immer Hinweise zur Funktion der Bedienpulttasten, d. h. zur Spielesteuerung. Spiele Für das Vectrex erschienen bei Milton Bradley insgesamt 28 verschiedene Spiele, wobei Mine Storm im Festwertspeicher der Konsole integriert ist. Mine Storm II ist eine fehlerbereinigte Version von Mine Storm, die Milton Bradley aber nur auf Kundenanfrage auslieferte. Drittanbieter für Spiele gab es nicht. Rezeption Zeitgenössisch In seinem zusammenfassenden Übersichtswerk zu Außenseiter-Videospielsystemen führt der Medienwissenschaftler Benjamin Nicoll im Jahr 2019 aus, dass das Vectrex von den englischsprachigen Computer- und Videospielzeitschriften 1982 und 1983 übereinstimmend als völlig neuartiges und zudem portables Videospielsystem gesehen wurde. Besonders gut hätten die Kritiker den eingebauten Monitor aufgenommen: Zum einen werde damit das Spielen vom „Familienfernseher“ gänzlich unabhängig und zum anderen sei die Darstellungsqualität überragend, so die Rezensenten aus auflagenstarken Zeitschriften wie Electronic Games und Radio-Electronics. Wegen seiner „brillant leuchtenden“ Vektorgrafik und den „wundervollen“ 3D-Effekten bringe das Vectrex laut dem damals sehr bekannten Computermagazin Byte die besten Umsetzungen der Arcade-Vorbilder „nach Hause“. Als klaren Nachteil des Systems benannten viele zeitgenössische Publikationen die fehlende Darstellbarkeit flächiger Objekte. Kritische Stimmen gab es auch bei der Beurteilung des neuartigen Steuerpultes. Die Zeitschrift Joystik Magazine beispielsweise empfand den Spielhebel als zu klein und damit wenig kontrollierbar. Außerdem bevorzuge seine Platzierung auf der linken Seite des Controllers Linkshänder, so der Sachbuchautor David H. Ahl in einem Beitrag in Video & Arcade Games weiter. Die bundesdeutsche Presse nahm das neue System ebenfalls wohlwollend, teilweise sogar überschwänglich auf: Der „König der Videospiele“ könne mit „millimetergenaue[r] Darstellung“ und „enorme[r] Bildschärfe“ aufwarten, so die damals auflagenstärkste Videospielezeitschrift TeleMatch. Ähnlich urteilt mit „hervorragende Bildqualität“ durch „äußerst genaue Darstellung“ und „erstaunlich hohe Bildauflösung“ das Spielemagazin HC Mein Home-Computer. Das Vectrex biete grafische Effekte, die für den Heimbereich bis vor kurzem „unvorstellbar“ gewesen seien. Obwohl die eigentliche Bildausgabe nur in Schwarzweiß erfolge, erzeugten die beiliegenden Folien dennoch „verblüffende Farbeffekte“. Der Joystick sei nach übereinstimmender Meinung der Rezensenten jedoch zu klein geraten, seine gekonnte Bedienung laut Telematch aber nur „eine Frage der Zeit und Eingewöhnung“. Alles in allem schaffe das Vectrex durchaus die Atmosphäre eines Spielautomaten, so HC weiter. Dem stimmte die TeleMatch zu: Der Spieler bekomme die versprochene „Arkadenqualität“ geliefert und das auch gar nicht so teuer, denn zumindest die Spiele schienen „preisgünstig“. Allerdings handele es sich laut HC bei diesen großteils um „Weltraum-Ballerspiele“. In späteren Spieletests äußerte sich die TeleMatch etwas zurückhaltender. Mit lapidaren Worten wurde nun auch auf „das alte Vectrex-Übel“ hingewiesen, nämlich die auf Punkte und Linien beschränkte Grafik: „Die [Spiel]Gestalten sind wieder einmal sehr abstrakt“. Retrospektiv Rückblickend bemerkt Nicoll, dass das Vectrex als die erste „wirklich“ portable Spielkonsole gelten könne. Zudem handele es sich um das erste System mit einem rechteckig geformten Controller. Darüber hinaus sei auch mit der 3D-Brille und dem Lichtstift, d. h. bei der Interaktion zwischen Spiel und Spieler, sowohl optisch als auch haptisch Neuland betreten worden. Überhaupt breche das Vectrex radikal mit allem, was andere zeitgenössische Konsolen ausmache. Dadurch seien erstmals hochwertige Arcade-Spiele für den heimischen Bereich möglich geworden. Der eingebaute Monitor habe zudem eine neue Richtung hin zu tragbaren Spielkonsolen aufgezeigt. Winnie Forster, Verfasser eines Übersichtswerkes über klassische Videospielkonsolen und Heimcomputer, führt zur Einordenbarkeit des Vectrex im Jahr 2009 aus: „Mobiler Spielautomat, Tabletop oder «programmierbare» Konsole? Mit seinem eingebauten Vektor-Monitor entzieht sich das technisch faszinierendste Spielgerät der 80er-Jahre der Kategorisierung.“ Insgesamt gesehen habe das Vectrex bedeutende Beiträge in der Geschichte der Videospiele geleistet, resümiert Nicoll. Aus rein wirtschaftlicher Perspektive sei es jedoch ein Misserfolg gewesen, eine Einschätzung, die auch die Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey S. Harrison und Caron H. St. John teilen („geflopptes System“). Forster und Brett Weiss, ebenfalls Autor eines Übersichtswerkes für Videospielklassiker, sehen neben dem Video Game Crash einen weiteren Grund für das Scheitern des Vectrex in seiner fehlenden Unterstützung durch Activision, Atari und andere Dritthersteller von Spielen. Seit den späten 1990er Jahren ist das Vectrex in den Blickpunkt von nostalgischen Spielebegeisterten gerückt. Neben dem möglichst vollständigen Sammeln der originalen Komponenten werden auch neue Spiele von dieser Retrogaming-Gemeinschaft erstellt. Die Entwickler sogenannter Homebrews machen dabei Gebrauch von Emulatoren, die ebenfalls von Enthusiasten programmiert wurden. Damit können sämtliche Entwicklungsarbeiten inklusive Fehleranalyse auf einem wesentlich komfortableren System wie etwa einem modernen PC ausgeführt werden. Das Überspielen auf die Vectrex-Konsole ist anschließend durch ebenfalls neu entwickelte Adapter direkt vom PC aus möglich, so dass das aufwändige Brennen beispielsweise von EPROMs entfallen kann. Zu den bekanntesten Homebrews, die in kleiner Auflage zum Kauf angeboten wurden, zählten im Jahr 2007 Protector, I Cyborg, Gravitrex und Spike’s Circus. Weitere erschienen später. Neben Privatpersonen interessieren sich auch Museen für klassische Heimcomputer und Videospielsysteme. So ist das Vectrex als ständiges Ausstellungsstück beispielsweise im Computerspielemuseum Berlin zu sehen. Literatur Benjamin Nicoll: Minor Platforms in Videogame History. Amsterdam University Press, Amsterdam, 16. September 2019, ISBN 978-94-6298-828-6. Mat Allen: Retrospection Vectrex. In: Retro Gamer. Ausgabe 35, 29. März 2007, ISSN 1742-3155. Weblinks Hardware und Programmierung des Vectrex von John Hall, Entwickler des Spiels Fortress of Narzod (englisch) Vectrex-Emulatoren für verschiedene Betriebssysteme (englisch) Einzelnachweise Spielkonsole
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wendehals%20%28Vogel%29
Wendehals (Vogel)
Der Wendehals (Jynx torquilla) ist der einzige europäische Vertreter der Gattung Jynx, die außer ihm noch den in Afrika beheimateten Rotkehl-Wendehals (Jynx ruficollis) umfasst. Die Art ist von Nordwestafrika ostwärts in einem breiten Gürtel bis an die asiatische Pazifikküste verbreitet. Europa ist fast flächendeckend besiedelt, doch gingen die Bestände vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. in vielen Regionen gravierend zurück. Die meisten Populationen der Art sind Langstreckenzieher mit Überwinterungsgebieten südlich der Sahara, beziehungsweise südlich des Himalaya und in Südostasien. Der Wendehals ist damit der einzige weitgehend obligate Zugvogel unter den europäischen Spechten. Nur einige Populationen in den südlichsten Verbreitungsgebieten verbleiben das gesamte Jahr über im Brutgebiet. Er ist wie alle anderen Spechte auch Höhlenbrüter, vermag aber keine eigenen Nisthöhlen anzulegen, sondern verwendet solche anderer Spechtarten, insbesondere die des Buntspechtes, sowie Nistkästen. Wendehälse ernähren sich fast ausschließlich von Ameisen. Vor allem in Mitteleuropa ist der Bestand der Art anhaltend rückläufig; dennoch ist der Gesamtbestand – vor allem aufgrund des sehr großen Verbreitungsgebietes – zurzeit nicht gefährdet. Ihren Namen bekam die nur etwa lerchengroße Art wegen der auffälligen Kopfdrehungen. Diese wurden in vielen nationalen Trivialnamen sowie im Artepitheton torquilla (lateinisch torquere „drehen, winden“) namengebend. Aussehen Die Nominatform (J. t. torquilla) ist insgesamt sehr gut bestimmbar. Sie erinnert eher an eine kleine Drossel als an einen Specht. Die Körperlänge liegt mit etwa 17 Zentimetern deutlich unter der einer Singdrossel, das Gewicht beträgt bis zu 50 Gramm. Der Vogel hat ein rindenfarbenes, graubraunes Gefieder ohne deutliche Feldkennzeichen, kurze hellgraue Beine, einen grauen, ebenfalls recht kurzen, spitzen Schnabel sowie einen auffallend langen, graubraunen Schwanz mit drei undeutlich dunkelbraunen Querbinden. Schnabel und Beine können einen leicht grünlichen Anflug aufweisen. Bei gutem Licht sind die pfeilspitzförmige Zeichnungen der Unterseite sowie die isabellfarbene Kehle erkennbar. Das Kopfgefieder wird in Erregungssituationen gesträubt und bildet so eine auffallende, undeutlich gebänderte Haube. Vom Oberkopf bis zum Rücken verläuft ein dunkelbraunes Band, das bei Altvögeln klar vom übrigen Graubraun des Obergefieders abgegrenzt ist. Bei Jungvögeln ist es verwaschener und verschmilzt stärker mit den Farbkonturen des übrigen Obergefieders. In derselben Farbe verläuft ein Zügelband bis weit hinter das Auge. Die Geschlechter unterscheiden sich kaum voneinander; Weibchen sind etwas matter gefärbt, rötlichbraune Töne des Bauchgefieders, die bei Männchen im Brutkleid häufig sind, fehlen bei ihnen. Auch die Jungvögel sind den Altvögeln sehr ähnlich, insgesamt überwiegen bei ihnen allerdings mattere Brauntöne, die Kehle kann sehr hell, fast weiß sein. Die pfeilspitzförmige Zeichnung des Bauchgefieders ist kaum erkennbar, am ehesten wirkt diese Körperregion leicht dunkelbraun gebändert. Stimme Während der Balz-, Brut- und Fütterungszeit können Wendehälse sehr auffällig sein. Außerhalb dieser Periode bemerkt man ihre Anwesenheit kaum. Der Gesang ist sehr deutlich und unverwechselbar und besteht aus in der Tonhöhe ansteigenden 'gäh'-Elementen, die schnell gereiht zuerst nasal und später gellend 'kje' klingen. Oft singen die Partner, auf einem Pfahl sitzend, im Duett, daneben geben sie bei Brutablösung ein leises Trommeln und Klopfen von sich. Vor allem Jungvögel, zuweilen aber auch Altvögel setzen einen schlangenähnlichen Zischlaut in Bedrohungssituationen ein, auch schlangenähnliche Bewegungen werden in solchen Situationen simuliert. Dieses Verhalten wurde Schlangenmimikry benannt. Verbreitung Brutgebiet Das Brutgebiet umfasst Teile Nordwestafrikas, die Iberische Halbinsel, Frankreich, Schottland, das südliche Nordsee-Hinterland, Fennoskandien und weite Teile des übrigen Europas. Nach Osten erstreckt es sich in einem breiten Gürtel bis an den Pazifischen Ozean. Im äußersten Osten bestehen Brutvorkommen auf Sachalin, Hokkaido und in Nordkorea. Im nördlichen Lappland erreicht die Art bei etwa 70° Nord ihre nördlichste Verbreitungsgrenze; sonst liegt diese etwa zwischen 61° – 65° Nord. Die Südgrenze ist uneinheitlich und umfasst einige inselartige Vorkommen. In Europa sind Südspanien, Sizilien und Nordgriechenland lückenhaft besiedelt, in der Türkei ebenfalls sehr lückenhaft die Schwarzmeerküste. Vereinzelt brütet die Art im Kaukasusgebiet. In Asien verläuft die südliche Verbreitungsgrenze bei etwa 50° Nord. In China liegen die südlichsten Brutvorkommen im Norden der Provinz Sichuan bei etwa 35° Nord. Ein deutlich isoliertes inselartiges Brutgebiet liegt im nordwestlichen Himalaya. Wanderungen Der Wendehals ist der einzige Langstreckenzieher unter den europäischen Spechten. Nur die Inselpopulationen (Korsika, Sardinien, Sizilien sowie Zyperns) sind zum Teil Standvögel oder Kurzstreckenzieher, wie auch J. t. mauretanica und die südlichsten Populationen der asiatischen Unterarten. Der Wegzug der Nominatform erfolgt in breiter Front ab Mitte August. Die Alpen werden meistens überflogen, das Mittelmeer wird hingegen von den Westziehern über Spanien und Gibraltar, von den Ostziehern über den Balkan und die Ägäisinselbrücke, bzw. die Bosporus-Sinai-Strecke umflogen. Zunehmend werden Überwinterungen in Südspanien, dem südgriechischen Festland sowie auf einigen griechischen Inseln festgestellt. Nordskandinavische Populationen ziehen zum Teil über Großbritannien, wo einige Exemplare erfolgreich überwintert haben. In Mitteleuropa erscheinen die Heimzieher nicht vor der zweiten Märzdekade, häufiger erst Mitte April. In der Nordpaläarktis brütende Vögel erreichen ihr Brutgebiet erst Anfang Mai oder später. Wendehälse ziehen vor allem nachts und meist einzeln. Das Überwinterungsgebiet der europäischen Arten liegt südlich der Sahara, und zwar in einem breiten Streifen von Senegal, Gambia und Sierra Leone im Westen bis nach Äthiopien im Osten; nach Süden reicht es bis zur Demokratischen Republik Kongo und Kamerun. Auch die westasiatischen Populationen bevorzugen diese Überwinterungsgebiete. Die zentral- und ostasiatischen Brutvögel überwintern auf dem indischen Subkontinent beziehungsweise im südlichen Ostasien einschließlich Südjapans. Vereinzelt gelangen ostasiatische Heimzieher nach West-Alaska. Lebensraum Wendehälse besiedeln offene und halboffene klimatisch begünstigte Landschaften mit zumindest einzelnen Bäumen. Geschlossene Wälder werden ebenso gemieden wie baumlose Steppen, Wüsten und Hochgebirge. Vor allem Parklandschaften, Streuobstwiesen, große Gärten sowie Weinbaugebiete, gerne mit Bruchmauerwerk, sind dagegen ideale Habitate dieser Art. Auch lichte Birken-, Kiefern- und Lärchenwälder, seltener sogar Auwälder, werden besiedelt. Das Angebot an bestimmten Ameisenarten sowie Brutmöglichkeiten in Spechthöhlen, natürlichen Baumhöhlen oder Nistkästen begrenzen das Vorkommen. In letzter Zeit haben Wendehälse vor allem im südwestlichen Mitteleuropa Windbruchschneisen und großflächige, durch Windbruch entstandene Lichtungen besiedelt. Allgemein bevorzugen die Vögel Gegenden mit kontinentalem Klima; solche mit feuchtem Meeresklima, etwa die französische Atlantikküste, kann der Wendehals als Brutgebiet nicht oder nur in sehr geringer Zahl nutzen. Der Wendehals ist vor allem eine Art der Niederungen und der Hügellandstufe unter 1000 Metern. Vereinzelt wurden im Kaukasus und in den Alpen Brutvorkommen in über 1600 Metern Höhe festgestellt. In den Überwinterungsregionen werden vielfältige insektenreiche Habitate, vor allem aber Akaziensavannen aufgesucht. Sie reichen vom Flachland bis weit in die montane Stufe. Reine Wüstengebiete werden nur temporär und an ihren Rändern aufgesucht, geschlossener Regenwald überhaupt nicht. Nahrung und Nahrungserwerb Im Brutgebiet ist der Wendehals sehr stark auf das Vorkommen bestimmter Ameisenarten angewiesen: Rasen-, Wiesen- und Wegameisen werden bevorzugt, Formica-Arten, wie etwa die Rote Waldameise meistens gemieden. Larven und Puppen überwiegen, doch gehören voll ausgebildete Ameisen und auch Geschlechtstiere ebenso zur Nahrung der Art. In sehr geringem Umfang werden noch andere Insekten wie Blattläuse, Schmetterlingsraupen oder Käfer sowie Früchte und Beeren verzehrt. Auffallend und nicht zur Gänze geklärt ist die Neigung des Wendehalses, verschiedene, meist glänzende Gegenstände aufzusammeln, in die Nisthöhle einzutragen und möglicherweise an die Jungen zu verfüttern. Dazu gehören Plastikmaterialien, Metallteile, Alufolien, Porzellanbruchstücke und anderes. Im Magen einiger toter Küken wurden solche Materialien gefunden. Wendehälse überfallen gelegentlich die Bruthöhlen anderer Höhlenbrüter, vornehmlich die von Meisen und Fliegenschnäppern. Aufgefundene Gelege werden zerstört und meist außerhalb der Bruthöhle fallen gelassen. Ob Wendehälse manchmal auch Eier oder Jungvögel fressen, ist unklar. Die Nahrung wird fast ausschließlich am Boden mit Hilfe der langen, klebrigen Zunge aufgelesen. Zuweilen werden Ameisenbauten mit Schnabelhieben geöffnet. Unverdauliche Nahrungsbestandteile werden in Speiballen (auch Gewölle genannt) abgesetzt. Seltener jagen Wendehälse an Bäumen oder Mauern. Sie sind jedoch nicht wie andere Spechte imstande, mit Hilfe des Schnabels die Baumrinde zu lösen und darunter nach Insekten zu suchen. Verhalten Der Wendehals ist tagaktiv und oft im Eingang seiner Bruthöhle zu sehen. Der Vogel gehört zu den mäßig schnellen Fliegern, wobei er im Wellental die Flügel anlegt. Er klettert kaum und kann sich nur schlecht mit den nicht steifen Schwanzfedern abstützen. Sehr häufig befindet er sich am Boden, meistens hüpfend; dort ist er am ehesten verwechselbar. Die namensgebenden ruckartigen Kopfdrehungen sind nur in Bedrohungssituationen sehr auffällig. In dieser Situation werden bei meistens aufrechter Körperhaltung die Kopffedern aufgestellt und der Schwanz gespreizt. Der Kopf wird gedreht und gewendet, auch die Zunge kann vorgeschleudert werden. Der Vogel ist nicht sehr scheu. Während der Brutzeit lebt er paarweise und territorial, sonst, insbesondere im Überwinterungsraum, einzelgängerisch und umherstreifend. Jungvögel sind während der Führungszeit akustisch recht auffällig. Wendehälse können nicht wie andere Spechte an senkrechten Stämmen landen. Sie sitzen wie Singvögel entweder quer zur Astrichtung oder nach Art der Nachtschwalben in der Längsrichtung. Während der Brutzeit sind Wendehalspaare streng territorial und verteidigen ihr Brutgebiet energisch. Andere Vögel, insbesondere andere Spechte, werden sofort angeflogen und oft direkt attackiert. Auffallend ist ein besonders aggressives Verhalten gegenüber anderen Höhlenbrütern, deren Bruten von Wendehälsen oft zerstört werden. Brutbiologie Balz Anders als einige andere Spechte, bei denen auch über die Wintermonate ein loser Paarzusammenhalt bestehen bleibt, führen Wendehälse eine Brutsaisonehe; die Bindung der Partner erlischt mit dem Flüggewerden der Jungen. Schon bei Zweitbruten kann es zu einem Partnerwechsel kommen. Auf Grund der sehr großen Brutorttreue beider Geschlechter kommt es jedoch relativ häufig zu Wiederverpaarungen. Sofort nach Ankunft im Brutrevier beginnen die Partner mit der Balz, die vor allem aus langen Verfolgungsflügen, Bruthöhlenzeigen und auffälligen Rufreihen besteht; letztere werden meist von niedrigen, oft exponiert liegenden Singwarten, wie einzelstehenden Büschen oder Pfählen, sowohl an den Reviergrenzen als auch im Revierzentrum vorgetragen. An der Nistplatzexploration beteiligen sich beide Geschlechter. Kopulationen finden meist auf dem Boden, nur selten auf Ästen statt. Gegen Ende der Balz reduziert das Männchen seine Gesangsaktivität und beschränkt sie auf nur eine Singwarte in der Nähe der Nisthöhle. Nach Ablage des ersten Eies halten sich Wendehälse sehr verborgen. Fortpflanzung und Brut Als Höhlenbrüter, der sich selbst keine Höhlen schaffen kann, ist der Wendehals auf das Vorhandensein von natürlichen Baumhöhlen oder Spechthöhlen angewiesen. Auch Nistkästen nimmt er an. Oft werden schon besetzte Bruthöhlen okkupiert und die Vorbesitzer samt Eiern oder Jungen entfernt. Unter solchen Überfällen leidet die Art selbst aber auch, vor allem Buntspecht (Dendrocopos major) und Blutspecht (Dendrocopos syriacus) räumen zuweilen Wendehalsbruten radikal aus. Daneben kommen in sehr geringer Zahl auch Niststandorte in Gemäuern oder Höhlen von Uferschwalben oder Eisvögeln vor. Nistmaterial wird nach Spechtart nicht oder nur in sehr geringem Maße eingetragen. Auch die Höhle selbst wird nicht bearbeitet, sieht man davon ab, dass Wendehälse Nistmaterial, Eischalen und andere Hinterlassenschaften von Vorbesitzern rigoros entfernen. Die Gelegegröße ist sehr variabel, liegt meistens aber zwischen sechs und zehn, in Ausnahmefällen bei bis zu 14 glatten, mattweißen Eiern, in einer durchschnittlichen Größe von etwa 21 × 16 Millimetern. Bei Erstbrütern, beziehungsweise bei sehr schlechter Nahrungsverfügbarkeit, wurden auch Kleingelege mit weniger als 5 Eiern festgestellt. Bei Verlust des Erstgeleges, oft aber auch bei erfolgreicher Erstbrut, kommen auch Zweitgelege mit meistens geringerer Eianzahl vor. Zweitbruten gehören bei weiter südlich lebenden Populationen eher zur Regel, dort brüten manche Paare – dann meist verschachtelt – auch ein drittes Mal. Zuweilen wurden Gelege mit über 20 Eiern festgestellt. Es wird angenommen, dass bei solchen Supergelegen intraspezifischer Brutparasitismus vorliegt, also zumindest noch ein zweites Weibchen an seinem Zustandekommen beteiligt war. Die Eier werden im Tagesabstand gelegt und zuerst nur vom Weibchen gewärmt, nicht aber fest bebrütet. Nach Ablage der letzten Eier brüten beide Partner, sodass die Küken nur in geringen Zeitintervallen schlüpfen. Die Nestlingszeit, während der beide Eltern die Brut versorgen, beträgt etwa 20 Tage. Flügge Wendehälse werden nur mehr kurze Zeit (maximal zwei Wochen) von den Eltern geführt. In dieser Zeit sind ihre Bettelrufe sehr auffällig. Danach verlassen sie, meistens bereits in Zugrichtung, das Elternrevier. Systematik Die beiden Arten der Gattung Jynx stellen eine sehr unterschiedliche Kleingruppe innerhalb der Spechte dar. Sie bilden die Unterfamilie Jynginae. Diese ist das Schwestertaxon zu den beiden anderen Unterfamilien der Spechte den Picumninae und den Picinae. Wahrscheinlich zählen sie zu den ältesten Entwicklungsstufen innerhalb der Familie. Es wurden viele Unterarten beschrieben, von denen jedoch die meisten als individuelle Färbungsvarianten zu betrachten sind. Mit Stand 2016 werden noch vier Unterarten anerkannt. Jynx torquilla torquilla Linnaeus, 1758: Großteil von Europa und Asien. Überwintert im südlichen Spanien, auf den Balearen sowie südlich des Himalaya und im südlichen Ostasien. Die früher beschriebenen Unterarten J. t. sarudnyi, J. t. chinensis und J. t. japonica werden nicht mehr allgemein anerkannt. Jynx torquilla tschusii Kleinschmidt, 1907: Korsika, Süditalien, Sardinien, Sizilien und östliche Adriaküste. Deutlich dunkler als die Nominatform mit kontrastreicherer dunkler Zeichnung auf Ober- und Unterseite. Überwintert in Afrika, zum Teil schon nördlich der Sahara. Einige Populationen in Sizilien und Kalabrien sind Jahresvögel. Jynx torquilla mauretanica Rothschild, 1909: Maghreb. Ähnlich wie J. t. tschusii jedoch etwas kleiner und an der Unterseite blasser. Meist resident. Jynx torquilla himalayana Vaurie, 1959: Nordwestlicher Himalaya: Nordwestpakistan bis Himachal Pradesh. Deutlicher als die anderen Unterarten auf der Unterseite gebändert. Überwintert in niedriger gelegenen Regionen oder etwas südlich des Verbreitungsgebietes. Bestand und Bestandtrends In seinem großen Verbreitungsgebiet ist der Gesamtbestand der Art gegenwärtig nicht bedroht. Quantitativ und populationsdynamisch ist der Gesamtbestand nur in Europa zu erfassen. Er wird auf knapp 600.000 Brutpaare geschätzt. Hier geht der Bestand seit Beginn des 19. Jh. zurück. Die Bestandsabnahmen verliefen in längeren Zyklen, denen gebietsweise wieder Bestandserholungen und Arealausweitungen folgten. Seit Beginn der 60er Jahre des 20. Jh. beschleunigte sich die Bestandsausdünnung enorm, sodass die Art aus Großbritannien fast zur Gänze verschwand und große Gebiete Nordwesteuropas weitgehend räumte. In Zentraleuropa dünnte die zuvor flächige Besiedelung aus und reduzierte sich auf Inselvorkommen in klimatisch und strukturell begünstigten Regionen. Auch in Südwest- und Südosteuropa geht der Bestand der Art kontinuierlich zurück. Seit Beginn des 21. Jh. scheint sich der Rückgang zu verlangsamen, gebietsweise wurden auch Wiederbesiedelungen festgestellt. Zurzeit brüten in der Schweiz 2000–3000 Paare. Auch in Österreich wird eine ähnliche Bestandsgröße vermutet, doch weisen detaillierte regionale Untersuchungen auf bedeutend geringere Bestandszahlen hin. Aus Deutschland liegen ebenfalls nur wenige aktuelle Bestanderhebungen vor. In Niedersachsen und Bremen brüteten 1985 noch mindestens 1250 Brutpaare. 1997 wurden 250 besetzte Reviere gezählt und 2005 180. Zurzeit (2016) dürfte die Anzahl der Brutpaare in Deutschland 10.000 nicht wesentlich überschreiten. In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2020 wird die Art in der Kategorie 3 als gefährdet geführt. Hauptursachen dieser Entwicklung liegen in landschaftlichen Veränderungen wie Ausräumen der Landschaft, Vernichtung der Streuobstwiesen, Verlust von Trockenrasengebieten u. a., in geänderten landwirtschaftlichen Kulturmethoden wie Vorverlegung von Mähterminen, häufige oder auch fehlende Mahd sowie im verstärkten Einsatz von Bioziden. Besonders gravierend scheinen sich der Verlust von Rand- und Pufferzonen (ungedüngte Feldraine, Brachen, Trockenrasen, offene, vegetationsarme Flächen) und das Verschwinden unbefestigter Wege auszuwirken. Auch Umstellungen in der Waldbewirtschaftung, insbesondere die Abkehr von der Kahlschlagwirtschaft und die großräumige Umwandlung lichter Kiefernwälder in hochstämmige Buchen- und Douglasienbestände führen zum Verlust geeigneter Habitate. Die bevorzugten Beutetiere des Wendehalses sind Ameisen. Deren Bestand nimmt bereits bei geringen Stickstoffeinträgen signifikant ab; zusätzlich ziehen sie sich in immer tiefer liegende Bauten zurück, so dass sie für ihn nicht mehr erreichbar sind. Ferner ist das zunehmend atlantischer werdende Klima für die Art ungünstig, doch gehen die von dieser Klimaentwicklung kaum betroffenen Bestände in Süd- und Südosteuropa ebenfalls drastisch zurück. Namensherleitung Nach der griechischen und der römischen Mythologie war Jynx eine Dienerin der Io. Durch Zauberei hat sie Jupiter (Zeus) zur Liebe mit Io verlockt. Zur Strafe wurde sie von Juno (Hera) in einen Vogel verwandelt und auf ein Rad festgebunden. Dieses Rad wurde als magisches Werkzeug für Liebeszauber verwendet. Torquilla leitet sich vom lateinischen Verb ab, was „winden, drehen“ bedeutet und die außerordentlich auffälligen Kopfdrehungen dieser Art beschreibt. In anderen Sprachen sprechen die nationalen Gattungsnamen ebenfalls diese Verhaltensweise an, zum Beispiel im Englischen ( – „Schiefhals“) oder im Niederländischen ( – „Drehhals“). Im übertragenen Sinn Weil der Wendehals leicht und häufig seinen Blickwinkel wechselt, wurde sein Name schon früh zur Bezeichnung von Opportunisten angeführt. Sehr verbreitet wurde diese Übertragung im Verlauf der Wende in der DDR. Rosa Luxemburg erwähnte den Wendehals als Vogel, dessen klagenden Ruf sie wiedererkenne, noch ohne diese Zweitbedeutung in einem Brief aus dem Gefängnis an Sophie Liebknecht. Kulturelle Bezüge Der Sänger Werner Böhm hat sich den Künstlernamen „Gottlieb Wendehals“ zugelegt. Der Asteroid (8773) Torquilla wurde nach dieser Art benannt. Siehe auch Iynx (Mythologie) Iynx (magisches Objekt) Literatur Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 9. Aula, Wiesbaden 1994, ISBN 3-89104-562-X, S. 881–916. Gerard Gorman: Woodpeckers of Europe. A Study of the european Picidae. Bruce Coleman 2004. pp 47–56. ISBN 1-872842-05-4 Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Aula, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 283f. Ludwig Sothmann, Schreiner, Ranftl: Das Braunkehlchen – Vogel des Jahres 1987. Der Wendehals – Vogel des Jahres 1988. Bayrische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege, Laufen/Salzach 1989. ISBN 3-924374-55-4 Viktor Wember: Die Namen der Vögel Europas. Bedeutung der deutschen und wissenschaftlichen Namen. AULA-Verlag GmbH Wiebelsheim 2005. S. 114. ISBN 3-89104-678-2 Hans Winkler und David A. Christie: Woodpeckers (Picidae). In: J. del Hoyo, A. Elliott, J. Sargatal, D. A. Christie und E. de Juana (Hrsg.): Handbook of the Birds of the World Alive. Lynx Edicions, Barcelona. (Abgerufen von http://www.hbw.com/node/52286 am 9. September 2016). Hans Winkler, David A. Christie, David Nurney: . Robertsbridge, 1995, ISBN 0-395-72043-5. Einzelnachweise Weblinks Tarnfärbung des Vogels – Revierruf (niederländisch) Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Wendehalses Spechte Vogel des Jahres (Deutschland) Vogel des Jahres (Schweiz) Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bundeshaus%20%28Bern%29
Bundeshaus (Bern)
Als Bundeshaus (, , ) wird der Sitz von Regierung und Parlament der Schweizerischen Eidgenossenschaft in der Bundesstadt Bern bezeichnet. Das Bundeshaus ist ein unter Denkmalschutz stehender symmetrischer Gebäudekomplex von etwas mehr als 300 Metern Länge. Es gilt als eines der bedeutendsten historistischen Bauwerke des Landes und ist im Schweizerischen Inventar der Kulturgüter von nationaler Bedeutung verzeichnet. Es besteht aus drei miteinander verbundenen Gebäuden im Südwesten der Berner Altstadt. Mittelpunkt ist das Parlamentsgebäude am Bundesplatz. Darin tagen der Nationalrat und der Ständerat, die beiden Kammern der Bundesversammlung. Darüber hinaus dient es als Tagungsort der Fraktionen und weiteren zum Parlamentsbetrieb gehörenden Zwecken. Das Bundeshaus West an der Bundesgasse ist Hauptsitz zweier Departemente der Bundesverwaltung sowie Standort der Bundeskanzlei und der Parlamentsbibliothek (ehemals Eidgenössische Parlaments- und Zentralbibliothek), ausserdem hält der Bundesrat hier seine Sitzungen ab. Zwei weitere Departemente haben ihren Hauptsitz im Bundeshaus Ost an der Kochergasse. Ältester Teil des Bundeshauses ist das von 1852 bis 1857 erbaute Bundeshaus West (damals «Bundes-Rathaus» genannt). Ferdinand Stadler hatte den von der Stadt Bern ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen, zog sich aber aufgrund diverser Einwände zurück. Den Auftrag erhielt schliesslich Jakob Friedrich Studer zugesprochen. Das Gebäude vereinte Bundesverwaltung, Regierung und Parlament unter einem Dach. Zur Lösung drängender Platzprobleme entstand von 1884 bis 1892 das Bundeshaus Ost. Alfred Friedrich Bluntschli war als Sieger aus dem Projektwettbewerb hervorgegangen, doch die Bundesversammlung setzte sich über die Entscheidung des Preisgerichts hinweg und erteilte Hans Wilhelm Auer die Zustimmung. Ebenfalls unter Auers Leitung wurde zwischen 1894 und 1902 zum Abschluss das Parlamentsgebäude errichtet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erfolgte erstmals eine umfassende Sanierung des Bundeshauses. Das Bundeshaus West und das Bundeshaus Ost sind im schlichten Rundbogenstil errichtet. Ihre Nüchternheit entspricht dem hauptsächlichen Zweck als Verwaltungsgebäude. Im Gegensatz dazu ist das Parlamentsgebäude ein monumentales Repräsentationsbauwerk im Neorenaissancestil mit Portikus und markanter, weitherum sichtbarer Kuppel. Die reiche künstlerische Ausstattung, deren Symbolik sich an der Geschichte, den Verfassungsgrundlagen und der kulturellen Vielfalt des Landes orientiert, sowie die verwendeten Baumaterialien aus allen Landesteilen unterstreichen den Charakter des Parlamentsgebäudes als Nationaldenkmal der Schweiz in besonders ausdrucksvoller Weise. Lage und städtebauliche Einordnung Das Bundeshaus liegt am südwestlichen Rand der als UNESCO-Welterbe deklarierten Altstadt von Bern, auf einer Bundesterrasse genannten Befestigung des Abhangs zum Marziliquartier. Der Gebäudekomplex erstreckt sich über eine Länge von etwas mehr als 300 Metern und besteht aus drei Teilen: dem Bundeshaus West an der Bundesgasse, dem Parlamentsgebäude am Bundesplatz und dem Bundeshaus Ost an der Kochergasse. Während das Bundeshaus Ost von Osten nach Westen ausgerichtet ist, sind die beiden anderen Gebäudeteile jeweils leicht nach Südwesten abgewinkelt. Trotz seiner Grösse und seiner beherrschenden Stellung fügt sich das Bundeshaus harmonisch in das Stadtbild ein. Dazu trägt vor allem die Verwendung von Berner Sandstein für die Fassaden bei. Aus diesem Baumaterial, das eine grünlichgraue Färbung aufweist, bestehen auch die übrigen Häuser der Altstadt. Im Westen wird das Bundeshaus vom ehemaligen Hotel Bernerhof flankiert, im Osten vom Hotel Bellevue Palace, das zugleich die offizielle Residenz für Staatsgäste ist. Nebst dem Bundeshaus säumen das Kantonalbankgebäude und das Gebäude der Schweizerischen Nationalbank den Bundesplatz. Auf der Bundesterrasse zwischen dem Bundeshaus West und dem Bernerhof befindet sich die Bergstation der Marzilibahn, die ins Marziliquartier hinunter führt. An der Stelle des heutigen Bundeshauses Ost stand zuvor das alte Inselspital, von 1718 bis 1724 nach Plänen des Vorarlberger Barockbaumeisters Franz Beer erbaut. Beim Abbruch des Spitalgebäudes kam 1888 neben Mauerresten des mittelalterlichen Klosters «St. Michael zur Insel» auch ein jüdischer Grabstein zum Vorschein, ein weiterer 1901 bei der Erstellung des Bundesplatzes. Diese Grabsteine gehörten zu einem Friedhof («Judenkilchhof»), der 1294 nach der Vertreibung der Juden enteignet und verkauft worden war. Seit September 2009 erinnert eine Informationstafel an diesem Ort an die jüdische Vorgeschichte. Planungs- und Baugeschichte Ausgangslage Mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung entstand am 12. September 1848 der moderne schweizerische Bundesstaat, doch die Hauptstadtfrage blieb zunächst ungeklärt. Am 28. November 1848 entschied sich die Bundesversammlung im ersten Wahlgang für Bern als Bundesstadt und somit als Sitz der Bundesbehörden (de jure kennt die Schweiz bis heute keine Hauptstadt). Für die zentrale Unterbringung von Regierung, Parlament und Bundesverwaltung gab es in Bern noch kein geeignetes Gebäude, weshalb provisorische Lösungen erforderlich waren. Der Bundesrat erhielt den Erlacherhof an der Junkerngasse zur Verfügung gestellt, der Nationalrat versammelte sich im 1821 erbauten, «Casino» genannten Musiksaal und bei Bedarf im Berner Rathaus, während der Ständerat im Rathaus zum Äusseren Stand an der Zeughausgasse tagte. Bundesgericht und -verwaltung bezogen verschiedene Häuser in der Altstadt. Die Burgergemeinde Bern, die Körperschaft der Stadtbürger und des einst mächtigen Patriziats, war damals noch der übergeordnete Gemeindetyp. Ihre Versammlung beschloss mit knapper Mehrheit, die Wahl Berns zur Bundesstadt anzunehmen. Allerdings übertrug sie die Verantwortung für den Bau des Parlaments- und Regierungsgebäudes der erst 15 Jahre zuvor gebildeten Einwohnergemeinde, der Körperschaft sämtlicher Einwohner (der Bund besass damals noch nicht die Kompetenz zum Bau eigener Gebäude). Dieser Beschluss beschleunigte die von liberalen Kräften angestrebte politische Entmachtung der Burgergemeinde, die 1852 mit der Übertragung der allgemeinen Kompetenz an die Einwohnergemeinde und der Güterausscheidung (Aufteilung der Vermögenswerte) ihren Abschluss fand. Im Februar 1849 erhielten die Stadtbehörden vom Bundesrat den Auftrag, einen geeigneten Standort für ein zentrales Gebäude ausfindig zu machen. Es sollte die Säle beider Parlamentskammern, Räume für den Bundesrat, 96 Büros und die Wohnung des Bundeskanzlers umfassen. Aus mehreren Vorschlägen entschied sich der Bundesrat für das Areal des städtischen Holzwerkhofes neben dem Casino, am Südrand der Altstadt und an der Oberkante des Abhangs hinunter zur Aare gelegen. Der Gemeinderat schrieb am 8. April 1850 einen Architektenwettbewerb für das «Bundes-Rathaus» aus. Die Einwohner Berns sollten nicht zu sehr mit Anleihen und Sondersteuern belastet werden, weshalb die Ausschreibung von einer haushälterischen Gesinnung geprägt war. Das zu errichtende Gebäude sollte würdevoll, aber dennoch möglichst zweckmässig und einfach sein. Die «Herren Concurrenten» wurden gebeten, «unnütze Pracht und übertriebene Dimensionen» zu vermeiden sowie Berner Sandstein als Baumaterial zu verwenden, da die «Umgebung von Bern einen Reichthum des besten und schönsten Sandsteins» besitze. Bescheidener Beginn: Das Bundes-Rathaus Dem offiziellen Preisgericht gehörten die Architekten Melchior Berri, Ludwig Friedrich Osterrieth, Robert Roller und Gustav Albert Wegmann sowie der Bauinspektor Bernhard Wyss an. Aus 37 eingereichten Entwürfen ging jener von Ferdinand Stadler siegreich hervor. Das Preisgericht vergab drei weitere Preise: Der zweite Platz ging an Felix Wilhelm Kubly, der dritte an Johann Carl Dähler und der vierte an Jean Franel. Eine vom Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA) eingesetzte Sonderjury, die aber keinen Einfluss auf das Projekt hatte, beurteilte die drei erstplatzierten Entwürfe in der umgekehrten Rangfolge. In ihren Entwürfen wiesen die unterlegenen Konkurrenten den Ratssälen den Zentraltrakt und der Verwaltung die Seitenflügel zu. Dähler und Franel gestalteten den grösseren Nationalratssaal in Form eines Amphitheaters. Während Dähler ihn als Dachkrone aus dem Baukörper herausragen liess, plante Franel eine halbkreisförmige Ausbuchtung der Fassade. Kubly erkannte, dass anders als bei den bisherigen europäischen Parlamentsneubauten zwei gleichberechtigte Räte zu berücksichtigen waren und gab deshalb das zu sehr dominierende Halbrund zugunsten zweier rechteckiger Säle auf. Allen drei Projekten gemeinsam war die Platzierung beider Säle auf der Mittelachse, was zu unvorteilhaften Proportionen des Zentraltraktes führte. Stadler hingegen vermochte mit einer hufeisenförmigen Anlage zu überzeugen. Er teilte Bundesrat und Verwaltung den Mitteltrakt zu und verwies die Parlamentskammern in die ausgreifenden Seitenflügel. Ausserdem orientierte er sich stilistisch nicht am Klassizismus, sondern am neuartigen Rundbogenstil der Neuromanik. Als Vorbild dienten ihm die Gebäude an der Ludwigstrasse in München, insbesondere die Bayerische Staatsbibliothek. Einzelnen Kritikern missfielen die Staffelung des Baukörpers und die durchgehenden Rundbögen. Stadler liess sich durch die Einwände verunsichern und überarbeitete seinen Entwurf, indem er klassizistische Elemente hinzufügte. Der revidierte Entwurf stiess jedoch auf noch weniger Zustimmung. Der Berner Gemeinderat beschloss am 23. Juni 1851, den Baumeister Jakob Friedrich Studer mit der Ausarbeitung eines neuen Entwurfs zu beauftragen. Studer, der nicht am Wettbewerb teilgenommen hatte, übernahm Stadlers ursprünglichen Entwurf. Er führte die Staffelung wieder ein und verstärkte den Rundbogenstil, anstatt ihn abzuschwächen. Die Überarbeitung fand Gefallen und Studer erhielt den Bauauftrag zugesprochen. Nachdem zunächst die Terrasse aufgeschüttet worden war, erfolgte am 21. September 1852 die Grundsteinlegung. Nach knapp fünfjähriger Bauzeit fand am 5. Juni 1857 die feierliche Übergabe statt. 1858 wurde im Ehrenhof des Bundes-Rathauses der Bernabrunnen aufgestellt und fünf Jahre später mit einer Statue versehen. Die Ausschmückung der Ratssäle fiel aus Kostengründen sehr spärlich aus. August Hövemeyer und sein Bruder Ludwig fertigten im Nationalratssaal vier allegorische Wandbilder an, hinzu kamen ornamentale Muster. 1861 stifteten die Kantone Wappenscheiben für den Ständeratssaal, die jedoch bereits zehn Jahre später wegen ungünstiger Lichtverhältnisse wieder entfernt wurden. Eine von Bundesrat Jakob Dubs geleitete Kommission schlug vor, das Bundes-Rathaus mit Landschafts- und Historiengemälden sowie mit Büsten berühmter Schweizer Persönlichkeiten in eine Art Nationalmuseum zu verwandeln. Während der Ständerat 1865 diesem Vorschlag zustimmte, lehnte ihn der Nationalrat 1866 zweimal ab. Ebenfalls nicht zur Ausführung gelangte ein Projekt von Frank Buchser: Der Sieg der Nordstaaten im Sezessionskrieg hatte in der Schweiz eine Welle von Sympathiekundgebungen ausgelöst. Buchser plante Ende 1865 für den Nationalratssaal ein Wandbild mit den wichtigsten amerikanischen Persönlichkeiten jener Zeit, wodurch die Verbundenheit der Schweiz mit den USA ausgedrückt werden sollte. Zwar konnte er während seines vierjährigen Amerika-Aufenthaltes Porträts von zahlreichen prominenten Personen anfertigen, doch General Ulysses S. Grant verweigerte seine Zustimmung, da auch sein Widersacher Robert Edward Lee porträtiert worden war. Das Gruppenbild kam aus diesem Grund nicht zustande. Die Bauherrin, die Stadt Bern, legte weitaus grösseren Wert auf eine einwandfrei funktionierende Haustechnik als auf Prunk. Die Dampfheizung von Sulzer garantierte auch im Winter angenehme Wärme in allen Räumen. Als schönster Schmuck im ansonsten nüchternen Gebäude galten die Kandelaber der Gasbeleuchtung. Das städtische Gaswerk befand sich von 1841 bis 1876 unterhalb der Bundesterrasse, also in unmittelbarer Nähe. Überwindung der Platznot: Das Bundeshaus Ost Als am 29. Mai 1874 die Totalrevision der Bundesverfassung in Kraft trat, hatte dies eine markante Verlagerung von Kompetenzen von den Kantonen zum Bund zur Folge. Die rasch anwachsende Bundesverwaltung klagte bald über akute Platznot. Der Bundesrat forderte die Stadt auf, für die zahlreichen neuen Bundesämter ausreichend Arbeitsräume zur Verfügung zu stellen. Bern sah sich jedoch nicht in der Lage, diese Forderung zu erfüllen. 1876 trat die Stadt deshalb das Bundes-Rathaus sowie die Verantwortung für Erweiterungs- und Neubauten an den Bund ab. 1861 war das dritte Stockwerk des Mitteltraktes der Bernischen Kunstgesellschaft zur Verfügung gestellt worden. Die Verlegung ihrer Sammlung in das neue Kunstmuseum im Jahr 1879 brachte nur vorübergehend eine Linderung der Platznot. Ebenfalls 1876 erwarb der Bund die Kleine Schanze westlich des Hotels Bernerhof als Baugrundstück. Er schrieb einen Wettbewerb für ein Verwaltungsgebäude aus, das vom Militär-, vom Eisenbahn- und vom Handelsdepartement genutzt werden sollte. Nur ein Jahr später wurde das Vorhaben aufgegeben; an dieser Stelle steht heute das Weltpostdenkmal. 1880 kaufte der Bund das Gebäude des Inselspitals, das vom Bundes-Rathaus durch das Casino getrennt war. Geplant war zunächst der Umbau des Inselspitals, doch der Nationalrat verlangte einen Neubau. Im Eidgenössischen Oberbauinspektorat reifte die Idee heran, zwischen dem Neubau und dem bestehenden Bundes-Rathaus (also anstelle des Casinos) in einer zweiten Etappe ein Parlamentsgebäude zu errichten. Diesem Vorsatz entsprechend schrieb der Bund am 23. Februar 1885 einen Architektenwettbewerb aus. Preisrichter waren die Architekten Louis Bezencenet, James Édouard Collin, Johann Christoph Kunkler, Heinrich Viktor von Segesser und Arnold Geiser sowie Arnold Flückiger, Adjunkt des Oberbauinspektorats. Von 36 eingereichten Entwürfen erhielt jener von Alfred Friedrich Bluntschli den ersten und jener von Hans Wilhelm Auer den zweiten Preis. Bluntschli gewichtete die Architektur nach der Aufgabe der Gebäude. Dabei sollte das neue Bundeshaus Ost ein kompakter, bescheidener Verwaltungstrakt sein und das Parlamentsgebäude die Form eines streng klassizistischen griechischen Rundtempels aufweisen. Auer hingegen nahm keine hierarchische Gliederung vor. Er entwarf einen symmetrischen Gebäudekomplex, der das Bundes-Rathaus als Westflügel miteinbezog. Für den Ostflügel übernahm er dessen Rundbogenstil, während er für das Hauptgebäude den Neorenaissancestil vorsah. Entsprechend der damals vorherrschenden und massgeblich von Gottfried Semper geprägten Architekturtheorie kritisierte das Preisgericht Auers Symmetrie als funktional nicht nachvollziehbar. Es bemängelte insbesondere die Kuppel, die nicht über einem würdevollen Ratssaal, sondern über dem profanen Treppenhaus angeordnet sei. Auer hatte sich am Kapitol in Washington, D.C. orientiert und argumentierte, die Kuppel kröne das Parlament als Ganzes und bevorzuge keinen der beiden gleichberechtigten Räte. Bundesverwaltung und Parlamentarier fanden Gefallen an Auers Kuppelmotiv. 1887 setzte sich die Bundesversammlung über die Entscheidung des Preisgerichts hinweg und vergab den Bauauftrag für das Bundeshaus Ost an Auer. Sie überging Bluntschli mit der Begründung, dass es bei diesem Wettbewerb in erster Linie um die Grunddisposition gegangen sei; über die Gestaltung des Parlamentsgebäudes werde erst zu einem späteren Zeitpunkt entschieden. Das Inselspital, das seit 1884 leer stand, wurde 1887 abgerissen. Die Bauarbeiten am Bundeshaus Ost begannen Ende 1888 und waren im Mai 1892 abgeschlossen. Während beim Bundes-Rathaus (ab 1895 als Bundeshaus West bezeichnet) nur spärlich Marmor als dekoratives Gestein verwendet worden war, wurden im Innern des Bundeshauses Ost neun verschiedene Gesteinsarten verarbeitet. Das umfangreiche Bauprojekt bot die Gelegenheit, das Eidgenössische Oberbauinspektorat zur Direktion für Eidgenössische Bauten aufzuwerten, aus dem sich das heutige Bundesamt für Bauten und Logistik entwickelte. Nationaldenkmal als Abschluss: Das Parlamentsgebäude 1891 erhielten die Architekten Auer und Bluntschli die Einladung zu einem weiteren Architektenwettbewerb. Auf ausdrücklichen Wunsch des Bundesrates war das Preisgericht international besetzt. Dessen Mitglieder waren Léo Châtelain, Ernst Jung, Hans Konrad Pestalozzi (Nationalrat und Stadtpräsident von Zürich), Heinrich Reese (Bauinspektor des Kantons Basel-Stadt), Friedrich Wüest (Nationalrat und Stadtpräsident von Luzern) und Arnold Flückiger (Direktor für Eidgenössische Bauten) sowie der Franzose Gaspard André und der Deutsche Paul Wallot (Architekt des Berliner Reichstagsgebäudes). Bluntschli war sich bewusst, dass das Bundeshaus Ost vollendete Tatsachen geschaffen hatte und dass das Parlamentsgebäude ohne Kuppel kaum zwischen den symmetrischen Bauten auffallen würde. Er gab seine architektonische Zurückhaltung auf und versuchte seinen Konkurrenten mit einem pompösen Kuppelbau zu übertrumpfen, der an den Palais du Trocadéro in Paris erinnerte. Auers Entwurf wirkte im Vergleich dazu gemässigt und zurückhaltend. Gleichwohl konnte sich das Preisgericht zu keiner Entscheidung durchringen, denn es empfand eine Kuppel über einem Vestibülraum weiterhin als «ungeheuerlich». Am 30. Juni 1891 entschied sich der Bundesrat in eigener Kompetenz für Auer. Der Nationalrat gab am 24. März 1893 seine Zustimmung zum entsprechenden Baubeschluss, der Ständerat folgte am 30. März 1894. Auer erarbeitete die Ausführungspläne und berücksichtigte die Kritik seiner Fachkollegen. Durch die Ausdehnung des Kuppelraums zu einem griechischen Kreuz nahm er diesem den Charakter eines Vestibüls. Die Treppe konzipierte er nach dem Vorbild der Pariser Opéra Garnier als frei im Raum stehendes, brückenartiges Gebilde. Ausserdem nahm er die Anregung der Schweizerischen Bauzeitung auf, der Kuppelhalle durch das Aufstellen von Statuen eine höhere Weihe zu verleihen. Der Bildhauer Anselmo Laurenti fertigte ein Gipsmodell an, das 1895 dem SIA präsentiert und im darauf folgenden Jahr an der Landesausstellung in Genf ausgestellt wurde. Die Absicht Auers war es, im Parlamentsgebäude die ganze Schweiz sinnbildlich entstehen zu lassen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, wies er den Bau- und Dekorationsgesteinen bei seinen Planungen eine zentrale Rolle zu. In diesem Zusammenhang beabsichtigte er eine umfassende nationale Gesteinspräsentation, wobei mit verschiedenartigen Gesteinen alle bekannten und bereits genutzten Vorkommen des Landes repräsentativ in das Gebäude eingebracht werden sollten. Dieses Ziel konnte nicht vollständig erreicht werden, es kamen aber alle bedeutsamen Gesteine der Schweiz zum Einsatz. Diese verkörpern die Vielfalt des Landes nach petrografischen, erdgeschichtlichen und föderalen Gesichtspunkten. Besonders bemerkenswert ist dabei die fast lückenlose Verwendung von Gesteinen, die bereits seit dem 18. Jahrhundert durch die Werkstätten Funk in Bern und Doret in Vevey zu ausschliesslich exklusiven Zwecken eingesetzt wurden. Zusätzlich kamen einige Dekorations- und Bildhauergesteine aus Belgien, Frankreich und Italien zur Anwendung, darunter die für Bildhauerzwecke unverzichtbaren Gesteine Carrara-Marmor und Savonnières-Kalkstein. In der Architektur des Bundeshauses dominieren die Kalksteine des Landes. Weitere eingesetzte Gesteinsgruppen aus Schweizer Steinbrüchen sind Marmore, Sandsteine, Gneise, Granite und Serpentinit. Insgesamt kamen beim Bau des Gebäudes nicht weniger als 30 Gesteinssorten aus 13 verschiedenen Kantonen und Halbkantonen zur Anwendung. Beinahe sämtliche tektonischen Struktureinheiten der Schweiz sind vertreten, die erdgeschichtlich zwischen fünf und tausend Millionen Jahre zurückreichen: das kristalline Grundgebirge des Aarmassivs und des Gotthardmassivs, das Helvetikum und das Penninikum, die Südalpen, der Kalkstein des Juragebirges sowie die Molasse des Mittellandes. Der aufwändige Umgang mit diesen Gesteinen ist in der Schweizer Architekturgeschichte einmalig. Auer plante auch die übrige Gestaltung des Bundeshauses. Er suchte die 38 ausführenden Schweizer Künstler zum grössten Teil persönlich aus und verpflichtete sie, nach seinen detaillierten Vorgaben zu arbeiten. Sein Vorgehen entsprach jenem seines Lehrers Theophil von Hansen, der für das Wiener Parlamentsgebäude ebenfalls ein ikonografisches Programm aufgestellt und rigoros durchgesetzt hatte. Bei der Auswahl der Künstler hatte Auer jedoch nicht in allen Fällen freie Hand. Bundesrat Adrien Lachenal, dessen Departement des Innern unter anderem für das Bauwesen und die Kunst zuständig war, vergab einige Aufträge selbst, da seiner Meinung nach die Romandie zu wenig berücksichtigt worden war. An den Bauarbeiten waren ausschliesslich Schweizer Unternehmen beteiligt. Mit einer reichhaltigen und symbolträchtigen Ikonografie, welche die Geschichte, die Verfassungsgrundlagen und die Tätigkeiten der Einwohner des Landes darstellt, schuf Auer ein Schweizer Nationaldenkmal. Der Bund kaufte der Stadt die Casino-Liegenschaft ab, woraufhin am 5. September 1894 die Bauarbeiten am Parlamentsgebäude begannen. Die Bundesterrasse auf der Südseite wurde erweitert, jedoch nicht wie ursprünglich geplant bis zur Kirchenfeldbrücke durchgezogen. Am 11. April 1900 konnte die Aufrichte der grossen Kuppel gefeiert werden. Anlässlich einer offiziellen Feier erfolgte am Vormittag des 1. April 1902 die Übergabe des Parlamentsgebäudes. Die Baukosten für das Parlamentsgebäude betrugen 7,2 Millionen Franken (nach heutigem Wert etwa 700 Millionen). Davon entfielen 16,2 % auf die künstlerische Ausstattung. Nutzungsänderungen Nach der Eröffnung des Parlamentsgebäudes wurden die beiden Ratssäle im Bundeshaus West aufgehoben; die ursprüngliche Nutzung lässt sich nur noch erahnen. Anstelle des Ständeratssaales entstanden Büroräume und ein Postschalter (bis 2005 in Betrieb). Der ehemalige Nationalratssaal wurde verkleinert und durch eine Eisenkonstruktion mit Treppen und Umgängen weiter unterteilt. Seit 1904 ist hier eine Bibliothek untergebracht, die Mitarbeitern der Bundesverwaltung und Parlamentariern zur Verfügung steht. Im Laufe der Zeit musste die Raumnutzung des Parlamentsgebäudes immer wieder den sich ändernden, oftmals kurzfristigen Bedürfnissen angepasst werden. Neben notwendigen technischen Verbesserungen wurden aber insbesondere in den 1960er Jahren dem damaligen Zeitgeist entsprechende Umgestaltungen vorgenommen. In zahlreichen Zimmern verdeckte man Gewölbe, Decken und Wandgliederungen oder brach sie ab. Durch das Überstreichen der farbigen Tapeten mit weisser Farbe und dem Ersatz von Stuck durch Gipskartonplatten wurden vermeintlich moderne Räume geschaffen. 1965 nahmen Radio und Fernsehen im dritten Stockwerk über dem Ständeratssaal das Bundeshausstudio in Betrieb, wofür der Einbau einer massiven, weit gespannten Betondecke notwendig war. Da auch die Dachräume immer intensiver genutzt wurden, schien es angebracht, die Lünettenfenster zur Kuppelhalle zu vermauern. Dies hatte zur Folge, dass kein natürliches Licht mehr einfiel und die Halle dadurch düster wirkte. Umbauten, Restaurierungen und Renovationen Der Architekt Martin Risch präsentierte 1950 ein Umbauprojekt, mit dem die Platzprobleme der Bundesverwaltung hätten bewältigt werden sollen. Gemäss seiner Idee wäre die Kuppel entfernt und durch einen quadratischen Turm ersetzt worden, in dem Büros untergebracht worden wären. 1991 beschloss die mit der Ausarbeitung einer Parlamentsreform beauftragte Kommission des Nationalrates, eine weitgehende Erweiterung der Räumlichkeiten für das Parlament zu prüfen. In einem Projektwettbewerb obsiegte das Projekt von Mario Botta für einen Erweiterungsbau in Form eines zitadellenartigen Bauwerks am Hang unterhalb des Parlamentsgebäudes. Gegen das Projekt wurden massive denkmalschützerische und städtebauliche Bedenken laut. Das Vorhaben wurde schliesslich vom Nationalrat am 17. März 1993 auf Antrag der Parlamentsreform-Kommission mit der Begründung der schlechten Finanzlage des Bundes abgebrochen. Im Herbst 1993 erfuhr der Nationalratssaal erstmals seit seiner Einweihung eine umfassende Restaurierung. Aus diesem Grund hielten die Räte in Genf zum ersten Mal überhaupt eine Session ausserhalb von Bern ab (Session «extra muros»). 1999 beschloss die Bundesversammlung auf Anregung von Ständerat Dick Marty, die Frühjahrssession 2001 in Lugano durchzuführen. Dadurch war es möglich, auch den Ständeratssaal zu restaurieren. Die unterschiedlichen Ansprüche von Parlamentariern, Medien und Verwaltung bei der Nutzung des Bundeshauses führten zu immer grösseren organisatorischen Problemen. Die Fraktionen bemängelten fehlende Räume für Sitzungen und Sekretariate, die individuellen Arbeitsplätze der Parlamentarier lagen zu weit von den Ratssälen entfernt im Dachgeschoss des Bundeshauses Ost. Ausserdem stand die Gesamterneuerung der Haustechnik an. Das Parlamentsgebäude sollte wieder hauptsächlich die Bedürfnisse der Ratsmitglieder befriedigen, ausserdem sollte das architektonische und künstlerische Konzept von Hans Wilhelm Auer wieder stärker zur Geltung kommen. Die erste Etappe bildete die Auslagerung der Arbeitsplätze der Medienschaffenden. Zu diesem Zweck entstand zwischen Oktober 2003 und Mai 2006 in den Gebäuden Bundesgasse 8–12 (gegenüber dem Bundeshaus West gelegen) ein neues Medienzentrum; die Bau- und Ausstattungskosten betrugen 42,5 Millionen Franken. Die Arbeiten am Bundeshaus West begannen im Februar 2005 und dauerten etwas mehr als drei Jahre. Im Vordergrund standen die Sanierung der Fassade und des Daches. Hinzu kamen die Schaffung neuer Arbeitsräume, ein Umbau des Dachgeschosses sowie diverse Sicherheits- und Brandschutzmassnahmen. Unter der Leitung des Architekturbüros Aebi & Vincent begann im Juni 2006 die erstmalige umfassende Renovation und Restaurierung des Parlamentsgebäudes. National- und Ständerat hatten dafür im Rahmen der zivilen Bauprogramme 2004 und 2006 insgesamt 83 Millionen Franken bewilligt. Inflation und diverse Zusatzkosten mit eingerechnet, betrugen die Kosten schliesslich 103 Millionen Franken. Im dritten Stockwerk entstanden Arbeitsräume für die Parlamentarier, Sitzungszimmer für die Fraktionen und ein multifunktionaler Konferenzsaal. Das Öffnen der Lünettenfenster (rückseitig durch Oberlichter erhellt), die Reinigung der Innenwände von Schmutz, die Ausbesserung von Rissen und das Entfernen von jüngeren Möblierungen verwandelten die Kuppelhalle wieder in einen hellen Tageslichtraum mit repräsentativer Wirkung. Verlängerte Wendeltreppen und neue Lifte verbesserten die Vertikalerschliessung. Unter dem Nationalratssaal entstand ein neuer Besuchereingang, darunter ein neues Technikgeschoss mit Informatikraum. Im Allgemeinen galt der Grundsatz, modernere Einbauten zu entfernen und die Originalausstattung stärker zur Geltung zu bringen. Die Gebäudehülle wurde mitsamt der Sandsteinfassaden, der Simse und Figuren, des Daches und der Kuppeln, der Oberlichter und der Beleuchtung umfassend saniert. Im Nationalratssaal erneuerte man die Haustechnik, die Abstimmungsanlage, die Übersetzunganlage und die Oberflächen. Während der intensivsten Umbauphase führten National- und Ständerat die Herbstsession 2006 in Flims durch. Die offizielle Einweihung des sanierten Parlamentsgebäudes erfolgte am 21. November 2008 mit einem Festakt. Im Sommer und Herbst 2011 wurde der Ständeratssaal saniert, von September 2012 bis März 2016 erfolgte zum Abschluss die Sanierung des Bundeshauses Ost. Neben einer punktuellen Sanierung der Gebäudehülle gehörte dazu insbesondere die umfassende Sanierung der Innenräume mit einer Bereinigung der Raumstruktur sowie die Erneuerung der Haus- und Sicherheitstechnik. Im Zusammenhang mit dieser Sanierung legten Bauarbeiter im Herbst 2012 die Gewölbekeller des früheren Inselspitals frei. In den massiven Räumen aus grossen Sandsteinblöcken lagerten einst die Naturalien, die der Finanzierung des Spitals und der Versorgung der Patienten dienten. Im Sommer 2019 wurde der Besucher-Eingang, Seite Bundesterrasse, aufgrund von sicherheitstechnischen Überlegungen umgebaut. Zum 175. Jubiläum der modernen Schweiz soll am 12. September 2023 das Kunstwerk «Tilo», welches auf dem Giebelfeld des Parlamentsgebäudes errichtet wird, eingeweiht werden. Der Titel des Werks ist eine Hommage an die Politikerin Tilo Frey. Parlamentsgebäude Hans Wilhelm Auer entwarf für das Parlamentsgebäude ein Bildprogramm, das drei Themen umfasst. Erstens wird die nationale Geschichte anhand von Gründungsmythen, wichtigen Institutionen, Personen, Orten und Daten dargestellt. Zweitens werden die verfassungsmässigen Grundlagen hervorgehoben, ebenso deren Schutz und allgemeine Staatstugenden. Drittens präsentieren Architektur und Ausstattung die kulturelle, materielle, politische, geographische und wirtschaftliche Vielfalt der Schweiz. Schon 1885 hatte Auer im Erläuterungsbericht seines ersten Entwurfs seine Absicht deutlich gemacht: «Es gilt ein Werk zu schaffen, das dem Lande zu unvergänglichem Ruhme dient, ein Symbol schweizerischer Einheit und Einigkeit, die höchste Bethätigung des nationalen Kunstsinns … Hier, angesichts der Alpenkette … erhebe sich das schweizerische Capitol … ein Monument ihrer festgegründeten Institutionen, ihrer gesicherten Zustände, ihres gesegneten Wohlstandes, der Ausdruck des Bewusstseins ihrer nationalen Kraft und ihrer staatlichen Nothwendigkeit.» Fassade und Kuppel Das Parlamentsgebäude präsentiert sich als längsrechtiger Bau, auf den ein Tambour mit markanter Kuppel aufgesetzt ist. Ein tempelartiger Portikus ist der Nordfassade vorgelagert, während die Südfassade zwei Ecktürme und eine breite Ausbuchtung in der Mitte aufweist. Die Gebäudehülle besteht zum grössten Teil aus massiven, ebenflächigen Quadern aus Berner Sandstein mit breiten Fugen, die Sockel aus Kalksteinen unterschiedlicher Helligkeit und Herkunft. Die mit Kupfer verkleidete Kuppel hatte in den ersten Jahren nach ihrer Fertigstellung einen roten Farbton, nach etwa einem Vierteljahrhundert bildete sich aber die charakteristische türkisgrüne Patina. Die Gewölberippen sind mit Blattgold überzogen. Zuoberst auf der Kuppel, auf der Laterne in rund 60 Metern Höhe, ist ein vergoldetes Schweizerkreuz befestigt. Getragen wird die Kuppel von einem quadratischen Tambour mit 22 Fenstern (was der damaligen Anzahl der Kantone entspricht). Über den Fenstern sind segmentförmige Giebelreliefs von Richard Kissling angebracht, die Wachsamkeit symbolisieren: Auf der Westseite ist eine «Hochwacht» mit Adlerhorst zu sehen, auf der Ostseite eine «Hügelwacht» mit dem Holzstoss eines Signalfeuers, auf der Nord- und auf der Südseite je eine «Talwacht» mit Wächtern, die um einen Stapel Waffen lagern. Der Giebel des Portikus hat die Form eines stumpfwinkligen Dreiecks. Darunter ist der Schriftzug Curia Confoederationis Helveticae («Rathaus der Schweizerischen Eidgenossenschaft») zu lesen. Ursprünglich sollte das Giebelfeld mit einem künstlerischen Schmuck versehen werden, es blieb aber bis heute leer. Auf einem Podest an der Spitze des Giebels steht eine Statuengruppe des Bildhauers Rodo. Die mittlere Figur, die den Namen Politische Unabhängigkeit trägt, stellt Helvetia dar, die weibliche Personifikation des schweizerischen Bundesstaates. Aufrecht stehend, umfasst sie mit der linken Hand eine Fahnenstange, während sie mit der rechten Hand das wehende Fahnentuch hält. Flankiert wird sie von zwei sitzenden allegorischen Frauenfiguren. Zur Linken ist dies die Exekutive mit Federkiel und Papier, zur Rechten die Legislative mit Richtmass und Schild mit der Aufschrift Lex («Gesetz»). Zwei Greifen von Anselmo Laurenti auf den Eckpilastern des Giebels bewachen diese Grundlagen des Staates; der linke steht für Kraft, der rechte für Intelligenz. Vier komposite Säulen unterteilen den Portikus in fünf Felder. In den drei mittleren Feldern sind die mit Rosetten versehenen Rundbogenfenster des Ständeratssaales zu finden. Ihre von Joseph Vetter gestalteten Schlusssteine weisen die Form behelmter Kriegerköpfe auf, die drei alte Volksstämme der Schweiz repräsentieren; von links nach rechts ein Alemanne, ein Burgunder und ein Langobarde. Zwei allegorische Statuen von James Vibert besetzen die Nischen neben den Fenstern. Die Frauenfigur links, mit zwei gesprengten Handfesseln an einer Kette, verkörpert die Freiheit; in einem Feld darüber erinnert in goldenen Lettern die Jahreszahl 1291 an den Rütlischwur. Die rechte Frauenfigur hält als Verkörperung des Friedens einen Palmzweig und ein Schwert in ihren Händen; die goldene Jahreszahl 1848 im Feld darüber weist auf die Annahme der Bundesverfassung hin. Ebenfalls fünfteilig ist der Eingangsbereich. Drei Portale führen ins Innere des Parlamentsgebäudes, in den beiden Nischen daneben sind Statuen von Maurice Reymond aufgestellt. Links hält der Geschichtsschreiber der Vergangenheit, ein lesender Greis, den eintretenden Parlamentariern ein Geschichtsbuch entgegen, als Wegleitung für ihre Handlungen. Rechts erinnert ein schreibender junger Mann, der Geschichtsschreiber der Gegenwart, dieselben Parlamentarier daran, dass ihre Beschlüsse dauerhaft in die Geschichte eingehen werden. Reymond schuf auch die Schlusssteine über den Eingangspforten. Männerköpfe sollen die Eintretenden an Tugenden erinnern; links der Kopf mit Wolfsfell an den Mut, in der Mitte der Kopf mit Ähren und Eichenlaub im Haar an die Weisheit und rechts der Kopf mit Stierkappe an die Kraft. Über einem durchgehenden Balkongesims gliedern sechs komposite Säulen den gerundeten Teil der Südfassade. Auf Pilastern auf der Attika stehen sechs Statuen, die verschiedene Vertreter des Volkes und ihre Berufe darstellen. Es sind dies von links nach rechts ein Krieger, ein Handwerker, ein Künstler, ein Gelehrter, ein Kaufmann und ein Bauer. Karl Alfred Lanz schuf die ersten drei Statuen, die übrigen stammen von Natale Albisetti. Die Wappen der 23 Kantone schmücken das Kranzgesims unter der Attika (die Halbkantone teilen sich je ein Wappen). Von Raimondo Pereda stammen die Bekrönungen der Fenster auf beiden Hauptgeschossen der Ecktürme. Sie stellen Handel, Wissenschaft, Industrie und Kunst dar – die wichtigsten Berufszweige der hier tätigen Parlamentarier. Geflügelte Frauenfiguren von Rodo zieren die Schlusssteine der Rundbogenfenster; ihre symbolische Aufgabe ist es, die Beschlüsse des Parlaments ins Land hinaus zu tragen. Kuppelhalle Architektonischer Mittelpunkt und wichtigster Raum des Parlamentsgebäudes ist die sakral wirkende Kuppelhalle, die den Eingangsbereich mit den Räumen des Nationalrates und des Ständerates verbindet. Allein hier wurden 15 verschiedene Gesteinssorten verarbeitet; hauptsächlich Kalksteine, aber auch Marmore und Granite. Der Grundriss der Halle weist die Form eines griechischen Kreuzes auf. Tonnengewölbe erheben sich über den stumpfen Kreuzenden. Überwölbt wird die Halle von einer Glaskuppel, über der sich wiederum die Kuppel des Parlamentsgebäudes erhebt. Auer konzipierte die frei im Raum stehende Treppe so, dass er dem Treppensteigen einen zeremoniellen Charakter verlieh. Er wies in seiner architektonischen Inszenierung den hier durchschreitenden Volksvertretern die Rolle von Priestern zu, die mit ihren parlamentarischen Handlungen die Nation stets aufs Neue zu stiften haben. Die vorgelagerte kleine Eingangshalle ist ein betont nüchtern gehaltenes Ensemble von Gesteinen mit unaufdringlicher Farbgebung. Dadurch sollen die Blicke der Besucher auf die dahinter liegende Kuppelhalle gelenkt werden. Links und rechts des Treppenabsatzes sind zwei Bärenstatuen von Urs Eggenschwyler postiert. Sie halten ein Schweizerwappen in den Tatzen und erinnern daran, dass die Grosszügigkeit Berns den Bau des Bundeshauses ermöglicht hat. Mit ihrer sitzenden Haltung ähneln die Bären jenen auf dem Erlach-Denkmal. Auf den untersten Pfosten des Treppengeländers sind zwei Schalen von James Vibert aufgestellt, welche die Schweiz in der Unterscheidung von Berg und Tal charakterisieren. Die rechte Schale zeigt auf einem Felsen einen Hirten, der in ein Alphorn bläst, während unter ihm Bergbewohner in Höhlen Schutz suchen. Links stellt ein Fischer, der ein Netz auswirft, einen Bewohner des Tals dar; unter ihm spielen in den Wellen zwei Nymphen die Lyra. Die aus hellem Aaregranit aus Wassen gefertigte Haupttreppe ist bewusst feierlich und überdimensioniert gestaltet. Sie führt hinauf zum Podest in der Mitte der Halle, wo sie sich nach links und rechts in zwei Arme teilt. Dominiert wird das Podest an seiner Südseite durch das monumentale Denkmal Die drei Eidgenossen von James Vibert. Von einem Bogen eingerahmt stehen auf einem Sockel Werner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold von Melchtal, die Hauptbeteiligten des Rütlischwurs. Mit ernster Miene und mit gestreckten Armen halten sie gemeinsam den Bundesbrief in ihren Händen. Die Figuren sind von abstrakter Gestalt, streng symmetrisch und blockhaft ausgeführt. Vibert wich von der bisher üblichen Rütlischwur-Gestik mit erhobenen Schwurhänden ab, damit aus verschiedenen Blickwinkeln keine Figur die andere abdeckt. Die drei Figuren bestehen aus gelbem Botticino-Kalkstein und sind zusammen 24 Tonnen schwer. Meinungsverschiedenheiten zwischen dem ursprünglichen Wettbewerbsgewinner und der Jury hatten zur Folge, dass das Podest bei der Eröffnung 1902 leer stand. Ein zweiter Wettbewerb drei Jahre später erbrachte kein befriedigendes Ergebnis, da die eingereichten Entwürfe als «zu theatralisch» beurteilt wurden. Schliesslich erteilte der Bundesrat 1910 Vibert den Auftrag. Die Enthüllung der Statue fand mit über zwölfjähriger Verspätung am 15. Mai 1914 statt und fiel mit der Eröffnung der in Bern stattfindenden Landesausstellung zusammen. Auf den Treppenpfosten vor dem zentralen Denkmal stehen vier bronzene Statuen, ebenfalls von James Vibert geschaffen. Die vier Landsknechte sind lebensgrosse, realitätsnah gestaltete Soldaten in Rüstungen des 16. Jahrhunderts, bewaffnet mit Lanze, Hellebarde oder Zweihänder. Sie stellen Vertreter der vier Landessprachen der Schweiz dar – links ein Deutschschweizer und ein Rätoromane, rechts ein Romand und ein Tessiner. Zusammen bilden sie eine Ehrenwache für die drei Eidgenossen. Vom Podest aus führen die Treppen zu den Verbindungskorridoren des ersten Stockwerks. Die Segmentgiebel über den Treppenaufgängen sind mit Figurenreliefs von Luigi Vassalli geschmückt, die um eine Inschrift angeordnet sind. Über dem Westaufgang lautet sie Salus publica suprema lex esto («Das öffentliche Wohl sei das oberste Gesetz»), über dem Ostaufgang In legibus salus civitatis posita est («Auf Gesetzen beruht das Wohl des Staatswesens»). Die Schlusssteine über den Arkaden des Hauptgeschosses stellen Frauen in verschiedenen Schweizer Trachten dar. Im ersten Stockwerk, oberhalb des Bogens zwischen Eingangs- und Kuppelhalle, spannt sich ein schmaler Balkon mit einer Ehrenpforte. Sie ist mit einem Giebel bekrönt und hat eine rein dekorative Funktion. Auf beiden Seiten dieses Portals sind bogenförmige Nischen mit Statuen von Hugo Siegwart zu finden. Die linke verkörpert Arnold Winkelried als Symbol der Aufopferung. Im Gegensatz etwa zum Winkelrieddenkmal in Stans ist der Held der Schlacht bei Sempach nicht in kniender oder liegender, sondern in aufrechter Haltung zu sehen. Die durch seine Brust bohrenden Lanzen sind nur durch ihre Spitzen angedeutet. Rechts steht Niklaus von Flüe, der Schutzpatron der Schweiz. In ein langes Gewand gekleidet, macht er mit der rechten Hand eine mahnende und mit der linken Hand eine beschwichtigende Geste. Über der Ehrenpforte und den Statuen befindet sich ein 15 Meter langes Relieffries von Adolf Meyer. Es nimmt Bezug auf den zweiten Akt des zweiten Aufzugs von Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell, genauer auf die Ankunft der Ahnen, die Gründung von Schwyz und den späteren Auszug eines Teils der Bewohner nach Altdorf und Stans. Darüber zieht sich ein Architrav um die gesamte Halle; die Metopen (Zierfelder) zeigen Attribute von Krieg und Frieden. Im Zenit der Kuppelhalle bildet das Schweizerwappen den Mittelpunkt der Glaskuppel. Das als Mosaik ausgeführte Wappen stammt aus dem Atelier von Clement Heaton. Es ist von Eichenlaub umrankt und wird von zwei weiblichen Freiheitsfiguren getragen. Auf zwei Spruchbändern steht der Wahlspruch: Unus pro omnibus / omnes pro uno («Einer für alle / Alle für einen»). Um das Mosaik gruppieren sich radial die Wappen der damals 22 Kantone (die Halbkantone teilen sich jeweils ein Wappen). Diese Glasmalereien von Albert Lüthi symbolisieren in Verbindung mit dem Mosaik einerseits die zentralisierende Funktion des Bundes, andererseits die gegenseitige Abhängigkeit von Bund und Kantonen. Nach der Gründung des Kantons Jura im Jahr 1978 gab es keinen Platz für ein zusätzliches Wappenfeld. Aus diesem Grund wurde das jurassische Kantonswappen drei Jahre später aus farbigem Stuck modelliert und in die Mitte des südlichen Gurtbogens eingesetzt. In den Zwickeln der Kuppel sind vier Medaillons von Antonio Soldini angebracht, welche die Stützen des Bundes darstellen: Athene, die einem Jüngling das Bogenschiessen lehrt, verkörpert das Militärwesen. Justitia, das Sinnbild der Justiz, richtet einen Angeklagten. Eine antike Frauengestalt, die Unterricht gibt, steht für das Erziehungswesen. Eine weibliche Personifikation des Bauwesens hält in ihrer Linken die Risszeichnung des Bundeshauses. Schliesslich schmücken vier grosse, bunt bemalte Lünettenfenster, die Szenen aus dem Arbeitsleben der Bevölkerung mit Schweizer Landschaften kombinieren, die Schildbögen der Kreuzarme. Das Südfenster von Hans Sandreuter zeigt die Landwirtschaft im südlich gelegenen Alpen- und Voralpenraum (angedeutet durch die Jungfrau im Hintergrund). Das Ostfenster von Albert Welti repräsentiert die in der Ostschweiz verbreitete Textilindustrie, das Westfenster von Ernest Biéler die Metallindustrie im westlich gelegenen Jura. Im Nordfenster von Émile-David Turrian stellt ein Warenumschlagplatz im Basler Rheinhafen die Export- und Importwirtschaft dar. Nationalratssaal Im ersten Stockwerk auf der Südseite befindet sich der Saal des Nationalrates. Die Wände bestehen aus gelblichem Kalkstein. An der Decke lässt ein Oberlicht, das die Form eines Rechtecks mit angefügtem Kreissegment aufweist, das Tageslicht einfallen. An der Saalfront ist das Ratspräsidium angeordnet. Hier sitzen der Nationalratspräsident, die beiden Vizepräsidenten sowie neun weitere Nationalräte. Ausserdem finden hier bis zu sechs Bundesräte, der Generalsekretär des Nationalrates sowie zwei weitere Sekretäre Platz. Die Sitze und Pulte der übrigen Nationalräte gruppieren sich fächerförmig um das Präsidium, wobei Durchgänge den Halbkreis in vier Sektoren unterteilen. Den Medienvertretern stehen zwei abgerundete Tribünen in den Ecken auf der Präsidentenseite zur Verfügung. Im Gegensatz zu den meisten Parlamenten sind im Nationalrat die Hinterbänkler jene Politiker, die den grössten Einfluss haben. Sie sitzen in den hintersten Reihen, damit sie das Geschehen im Saal besser überblicken können und einen möglichst kurzen Weg zu ihrem Sitzplatz haben. Auf der Rückseite des Saales ist in erhöhter Position eine Zuschauertribüne vorhanden, die von Arkadensäulen unterteilt wird. Ausländische Diplomaten nehmen auf Tribünen auf der linken und rechten Saalseite Platz. Diese werden von Kalksteinsäulen getragen und in der oberen Ebene von Karyatiden unterteilt, die von August Bösch gestaltet wurden. Ein Teil der westlichen Seitentribüne ist als verglaste Kabine abgetrennt und dient als Arbeitsplatz für Übersetzer. Sitzungen der Bundesversammlung als Ganzes finden im Nationalratssaal statt. In solchen Fällen nehmen die Ständeräte auf lederbezogenen Sitzen an der Rückwand Platz, die in der Art von Chorstühlen gestaltet sind. Ein hölzerner Rundbogen, in den das entsprechende Kantonswappen eingeschnitzt ist, fasst jeweils zwei Sitze zusammen. Ferdinand Huttenlocher schnitzte in die Rückwand der Bögen Abbildungen einheimischer Blumen und Tiere im Jugendstil, während Anna Haller die Lederschnittarbeiten schuf. Die Ständeräte des Kantons Jura erhielten 1978 Sitze unter der westlichen Tribüne. Dort ist das Kantonswappen im Leder geprägt, während an der Wand ein abstraktes Bronzerelief von Camillo Huber angebracht ist. Das Wandbild Die Wiege der Eidgenossenschaft des Malers Charles Giron dominiert die Wand hinter dem Ratspräsidium. Es stellt die Landschaft um den Urnersee dar. Links im Vordergrund ist unter der Seelisberger Felswand das Rütli, der mythische Gründungsort der Eidgenossenschaft, zu sehen. Über der Mitte ist die Ortschaft Schwyz zu finden, dahinter die beiden Berggipfel der Mythen. In den Wolken im goldenen Schnitt ist eine allegorische nackte Frauenfigur zu erkennen, die als Symbol des Friedens einen Olivenzweig in der Hand hält. In der Vorstellung Auers sollten die zu vereidigenden Bundesräte vor diesem «Bühnenbild» im übertragenen Sinne auf der Rütliwiese stehen und somit den Rütlischwur nachvollziehen. Zwei Statuen flankieren das Wandbild, links Wilhelm Tell von Antonio Chiattone und rechts Stauffacherin von dessen Bruder Giuseppe Chiattone. Die Statue des Schweizer Freiheitshelden Wilhelm Tell sieht dem Telldenkmal in Altdorf ziemlich ähnlich. Allerdings lässt sich die Darstellung in keine Szene der von Schiller popularisierten Tellsage einordnen. Vielmehr sitzt Tell passiv auf einem Felsen, seine Armbrust ist nicht gespannt. Die Stauffacherin ist die Symbolfigur der kühnen und energischen Schweizerin. Die Statue hält die linke Hand an die Brust und zeigt mit der rechten auf den Boden. Im Giebelfeld über dem Wandbild ist das Relief Die Sage von Aloys Brandenberg angebracht. Eine weibliche Figur sitzt auf einem Thron und hält in der linken Hand den von Tells Pfeil durchbohrten Apfel. Sie erzählt einer Schar Kinder, die sich um sie versammelt hat, von den grossen Taten der Vorfahren und spornt zu patriotischem Handeln an. Ein Junge ganz links nimmt sich dies zum Vorbild und spannt eine Armbrust. Rund um den Saal verläuft ein Kranz. Dieser ist mit dem Schweizerwappen über dem Scheitel des Wandbilds sowie mit den Wappen jener 59 Städte geschmückt, die 1902 am meisten Einwohner zählten. Ständeratssaal Der Saal des Ständerates befindet sich im ersten Stockwerk an der Nordseite, dem Bundesplatz zugewandt. Drei hohe, mit St. Galler Stickereien verzierte Bogenfenster lassen das Tageslicht einfallen. Der rechteckige, im Renaissancestil gehaltene Saal ist an den Wänden vollständig mit dunklem Täfer aus Eichen- und Nussbaumholz ausgekleidet. Er erinnert so an die frühneuzeitlichen Ratssäle in der Alten Eidgenossenschaft. Eine weitere Reminiszenz an diese Zeit ist der ovale Ratstisch in der Saalmitte. Um ihn gruppieren sich im Halbkreis die Sitze und Pulte der Ständeräte. Der Ständeratspräsident, die beiden Vizepräsidenten und der Stimmenzähler sitzen ihren Ratskollegen zugewandt unterhalb der Fenster, ebenso der Protokollführer und der Ratssekretär. Darüber hinaus stehen Bundesräten, die an der Sitzung teilnehmen, sechs Sitze auf der Präsidentenseite zur Verfügung. Pressevertreter finden auf zwei abgerundeten Tribünen in den Ecken des Saales Platz. Von der aus Eichenholz bestehenden Kassettendecke hängt über dem Ratstisch ein schmiedeeiserner Kronleuchter. Er ist 1,5 Tonnen schwer und besitzt 208 Glühbirnen, womit er einer der grössten in der Schweiz erhalten gebliebenen Leuchter jener Zeit ist. Erst bei den Sanierungsarbeiten im Jahr 2001 wurde bekannt, dass er vom Luzerner Kunstschlosser Ludwig Schnyder von Wartensee angefertigt worden war. Eine Arkadenreihe umgibt den Saal auf drei Seiten; während die Säulen an den Schmalseiten bei den Eingängen aus Marmor bestehen und einen Kalksteinsockel besitzen, sind sie an der Längswand lediglich als Fresko aufgemalt. Über den Eingängen sind die Besuchergalerien angeordnet. In den Zwickeln der Arkadenbögen sind in Gold wichtige Jahreszahlen der Schweizer Verfassungsgeschichte zu lesen: 1291 (Bundesbrief), 1370 (Pfaffenbrief), 1393 (Sempacherbrief), 1481 (Stanser Verkommnis), 1803 (Mediationsakte), 1848 (Bundesverfassung), 1874 (erste Totalrevision der Bundesverfassung) und 1999 (zweite Totalrevision). Über die gesamte Südwand des Saales, durch die aufgemalten Säulen in fünf Felder unterteilt, erstreckt sich das Fresko-Wandbild Die Landsgemeinde von Albert Welti und Wilhelm Balmer. Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Parlamentsgebäudes im Jahr 1902 waren die Felder noch unbemalt. Vier Jahre später regte Ständerat Paul Usteri an, die Wand mit einem Historien- oder Landschaftsbild zu schmücken. 1907 erhielt Welti den Zuschlag, stellte jedoch die Bedingung, dass sein Freund Balmer ebenfalls mitwirken dürfe. Als Welti 1911 mit der Übertragung des Modells auf die Saalwand beginnen wollte, erkrankte er schwer und starb im darauf folgenden Jahr. Balmer stellte bis März 1914 das Wandbild im Alleingang fertig. Das Wandbild zeigt eine Landsgemeinde im 18. Jahrhundert. Als Vorbild diente der Nidwaldner Landsgemeindeplatz bei Stans, die umgebende Landschaft entspricht allerdings jener um den Obwaldner Hauptort Sarnen. Auf dem Bild sind über 150 Personen zu sehen, von denen die meisten einem gestikulierenden Redner im vierten Feld von links zuhören. Dazu gehören die Mitglieder der Regierung und kirchliche Vertreter. Ausserhalb des gemauerten Ringes sind Soldaten, ein Hornbläser, Frauen und spielende Kinder abgebildet. Balmer gab der Person rechts neben dem Bannerträger Weltis Gesichtszüge. Wandelhalle Die Wandelhalle umschliesst in einem lang gezogenen Bogen den Nationalratssaal an seiner Südseite. Sie dient als Festsaal, Empfangsraum für hohe Staatsgäste, Aufenthalts- und Geselligkeitsraum der Parlamentarier sowie für Treffen mit Lobbyisten und Medien. Durch die Verwendung heller Materialien wie Stuck und Stuckmarmor strahlt die Wandelhalle eine gewisse Heiterkeit und Leichtigkeit aus. Hinzu kommen verschiedene Schweizer Dekorationsgesteine, die für Gesimse, Säulen und Türgewände verarbeitet wurden. Aus Saillon-Marmor bestehen die Verkleidungen der Heizkörper, die mit Löwenköpfen verziert sind. Mehrere allegorische Gemälde von Antonio Barzaghi-Cattaneo schmücken in drei Reihen die Decke der Wandelhalle. Die sechs Gemälde in der mittleren Reihe stellen die Tugenden des Staates dar. Eine Frau, die Maske und Schleier hebt, steht für die Wahrheit. Die Weisheit wird durch eine lorbeerbekränzte Frau symbolisiert, die zwei Folianten in ihren Händen hält. Ein Engel mit Schweizerbanner, begleitet von drei Putten als Symbole für Sänger-, Turner- und Schützenfeste, repräsentieren den Patriotismus. Eine Frau mit Füllhorn, die von Sonnenstrahlen und Mohnblumen umgeben ist, verkörpert die Fruchtbarkeit. Die Barmherzigkeit wird durch eine Frau auf einem Schlachtfeld dargestellt, die sich um ein Waisenkind kümmert; über ihr weht die Fahne des Roten Kreuzes. Eine Frau, die auf einer Wolke sitzend Schwert und Waage hält, ist das Sinnbild für die Gerechtigkeit. Die beiden anderen Reihen zeigen wichtige Gewerbe- und Industriezweige der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der äusseren Reihe sind dies Bildung, Kunst, Landwirtschaft, Naturwissenschaft und Uhrenindustrie, in der inneren Reihe Bäckergewerbe, Bauindustrie, Schmiedekunst, Schuhmacherei und Tourismus. Weitere Räume In der Südostecke des ersten Stockwerks befindet sich das Zimmer des Nationalratspräsidenten. Auffallend sind die Deckenbilder von Marcel de Chollet, die in Ockertönen gehalten sind und den politischen Alltag karikieren. Putten stellen Politiker dar, die über eine Vase diskutieren; zunächst in einer vorbereitenden Sitzung, dann in der eigentlichen Kommissionssitzung und schliesslich im Rat. Zuletzt sind dieselben Politiker bei entspannenden Tätigkeiten zu sehen, wobei die Ruhe durch einen herannahenden Boten bald gestört wird. Die Südwestecke des ersten Stockwerks ist Standort des so genannten Bundesratszimmers. Hier empfängt der Bundespräsident ausländische Diplomaten beim traditionellen Neujahrsempfang, ausserdem werden hier Sitzungen abgehalten und bei Bundesratswahlen die Wahlzettel ausgezählt. Dieser Raum ist nicht zu verwechseln mit dem Sitzungszimmer des Bundesrates im Bundeshaus West. Vier Deckenspiegel von Wilhelm Ludwig Lehmann stellen Grenzregionen der Schweiz dar; den Genfersee beim Schloss Chillon, den Rhein bei Basel, den Bodensee und das Engadin. An der Wand steht eine von der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin hergestellte Standuhr, die Kaiser Wilhelm II. bei seinem Staatsbesuch im Jahr 1912 als Geschenk überreichte. Das Zimmer des Ständeratspräsidenten in der Nordwestecke des ersten Stockwerks besitzt eine Decke aus Nussbaumholz mit ornamentalen Schnitzereien, dazu sind die Wände vollständig mit einem Nussbaumtäfer ausgekleidet. Glasfenster aus dem Jahr 1902 von Christian Baumgartner, auf der nicht näher bestimmbare Landschaften abgebildet sind, zieren die beiden Garderoben. Sie waren 1930 entfernt worden, wurden aber anlässlich der Renovation wieder eingefügt. In den Jahren dazwischen war in der östlichen Garderobe ein Glasfenster von Burkhard Mangold zu sehen, das in zwölf Feldern Berufsgattungen darstellte, in der westlichen Garderobe ein Glasfenster von Augusto Giacometti mit der Darstellung eines Bauernpaares und der Ansicht des Dorfes Stampa. Beide werden heute im Vitromusée, dem Schweizerischen Museum für Glasmalerei und Glaskunst in Romont, ausgestellt. Im Erdgeschoss befindet sich in der Südostecke das «Brienzer Zimmer», das für Sitzungen verwendet wird. Das Täfer ist ein Werk der bekannten Schnitzlerschule Brienz (heute Schule für Holzbildhauerei). Es wurde vor dem Einbau im Bundeshaus an der Weltausstellung 1900 in Paris präsentiert und mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Bundeshaus West Das Bundeshaus West (das frühere Bundes-Rathaus) ist der Hauptsitz des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) sowie Standort der Bundeskanzlei. Das Gebäude besitzt einen U-förmigen Grundriss und umschliesst einen Ehrenhof mit dem Bernabrunnen. Die auf dem Brunnen aufgestellte Statue stellt Berna dar, eine Frauengestalt als Personifikation der Stadt Bern. Mit Ausnahme des viergeschossigen Mittelrisalits besitzt das Bundeshaus West durchgehend drei Stockwerke. Zwei Arkadengänge stellen die Verbindung zum Parlamentsgebäude her. Die Fassade ist schlicht gehalten und besteht aus Quadern aus Berner Sandstein mit breiten Fugen. Der Sockel ist aus zwei Kalksteinsorten gefertigt. Beim Mittelrisalit handelt es sich um Kalkstein aus Gsteigwiler, der eine zum Teil intensive helle Aderung aufweist. Am übrigen Gebäude kam Kalkstein aus einem Felssturz bei Merligen zur Anwendung, an dem Versteinerungen von Nummuliten, Austern und Korallen erkennbar sind. Von der alten Struktur der Ratssäle in den Seitenflügeln ist kaum noch etwas zu erkennen. Eine Ausnahme ist der alte Nationalratssaal im Westflügel (heute Parlamentsbibliothek), wo fünf nebeneinander liegende Rundbogenfenster mit Rosetten erhalten geblieben sind. Von der Eingangshalle im Mittelrisalit gelangen Besucher über die Haupttreppe zur Haupthalle im ersten Stockwerk. Diese Verbindung ist mit ornamentalen Malereien an Wänden und Decken geschmückt. In den Boden der Haupthalle ist ein steinernes Schweizerkreuz eingelassen. Südlich an die Haupthalle grenzen vier Räume, die zusammen als Bundesratszimmer oder «Appartement des Bundesrates» bezeichnet werden. Es sind dies das Vorzimmer, das Sitzungszimmer des Bundesrates, der Salon des Bundespräsidenten und das Bureau des Bundespräsidenten. Im Sitzungszimmer treffen sich die Bundesräte zu ihren wöchentlichen Sitzungen, üblicherweise am Mittwoch. Hans Wilhelm Auer gestaltete den Raum 1889 neu, insbesondere das Täfer. Er übernahm die 1857 erstellte Stuckdecke und den letzten erhalten gebliebenen Gaskandelaber (von ursprünglich 162). Die Pulte der Bundesräte und des Bundeskanzlers sind im Kreis angeordnet. Der Salon und das Bureau sind Audienzzimmer. Die vier Räume sind als Stilabfolge gestaltet: Das Bureau ist im Rokoko-Stil gehalten, der Salon im Barock-Stil und das Sitzungszimmer im Renaissance-Stil. Das Vorzimmer repräsentierte ursprünglich die Gotik, wurde aber um 1930 völlig umgestaltet und mit einem Art-déco-Täfer versehen. Im Jahr 2010 wurde ein Wettbewerb für die Umgebungsgestaltung des Bundeshauses ausgeschrieben, den die örtlichen Landschaftsarchitekten Maurus Schifferli und Simon Schöni gewinnen konnten. Die Arbeit zeichnete sich durch geringen Eingriff aus und wurde im Jahr 2010 mit einer Anerkennung beim Hasen gewürdigt. Der wichtigste Sitzungsraum des EDA im Bundeshaus West wurde am 12. Februar 2018, seinem Todestag, zu Ehren von Carl Lutz, Schweizer Diplomat und Gerechter unter den Völkern, in «Salle Carl Lutz» umbenannt. Bundeshaus Ost Das Bundeshaus Ost dient seit seiner Eröffnung ausschliesslich der Bundesverwaltung. Es ist der Hauptsitz des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) und des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF). Der Grundriss ist derselbe wie beim Bundeshaus West, ebenso der Rundbogenstil und die Anzahl Stockwerke. Auch dieser Gebäudeteil ist durch zwei Arkadengänge mit dem Parlamentsgebäude verbunden. Unterschiede zeigen sich in der Gestaltung der Fassade. Der Sockel ist höher ausgeführt und besteht aus gelblichem Solothurner Kalkstein, der Schichten mit versteinerten Spiralschnecken aufweist. Bossierte Quader aus demselben Gestein reichen bis ins erste Stockwerk, darüber liegen breit gefugte Sandsteinquader. Das Material des Fundaments und des Mauerwerks stammt teilweise vom abgebrochenen Inselspital. In die Nordfassade des Mittelrisalits sind zwei marmorne Flachreliefs eingelassen, die auf die hier domizilierten Departemente verweisen. Das rechte stammt von Charles Iguel und stellt den Generalstab dar, der von verschiedenen Waffengattungen umgeben ist. Auf dem linken Relief von Alfred Lanz sind Personifizierungen verschiedener Berufsgattungen abgebildet. Zwei Treppen führen von der Eingangshalle hinauf zu einer Arkadenhalle im ersten Stockwerk. Prägend für diese Achse ist die Verwendung von Kalksteinen in sieben unterschiedlichen gelblichen Farbtönen. Auer versuchte, durch diese Aufhellung die als eng empfundenen Räume optisch zu vergrössern. Die Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 ermöglichte erstmals die Verwendung von süd- und zentralalpinen Gesteinen im grösseren Umfang. Schwarzer Kalkstein und weisser Marmor für den Fussboden und die Türgewände, fein maseriertes Holz für die Türblätter sowie Stuck für Decke und Wände verleihen der Arkadenhalle ein feierliches, erhabenes Ambiente. Bronzeplastiken von Rosa Langenegger, die 1912 in vier Nischen aufgestellt wurden, symbolisieren den Werdegang eines «Kriegers in vorgeschichtlicher Zeit». An die Halle grenzen südseitig die Büros der beiden hier arbeitenden Bundesräte. In den Jahren 2012 bis 2016 wurde das Bundeshaus Ost umfassend saniert und ein neues Untergeschoss gebaut. Hausrecht und Sicherheit Das Hausrecht wird in den Ratssälen durch die Ratspräsidenten, in den übrigen Räumlichkeiten der Bundesversammlung und der Parlamentsdienste, d. h. im Parlamentsgebäude und in den von den Parlamentsdiensten benützten Teilen der Bundeshäuser West und Ost durch die Verwaltungsdelegation der Bundesversammlung ausgeübt ( ParlG). Dies ist eine durch den Grundsatz der Gewaltenteilung begründete Ausnahme von der allgemeinen Regel, dass das Hausrecht für die Gebäude des Bundes und damit auch für die übrigen Teile der Bundeshäuser als Vollzugskompetenz in den Händen der Exekutive liegt ( RVOG). Für die Sicherheit im Bundeshaus ist der Bundessicherheitsdienst zuständig, eine Hauptabteilung des Bundesamtes für Polizei. Ihre «Abteilung Sicherheit Personen» übernimmt den Schutz von Magistraten, Parlamentariern und Bundesangestellten. Die «Abteilung Sicherheit Gebäude» ist zweigeteilt: Die Sektion «Objektsicherheit» plant und überwacht bauliche, technische und organisatorische Sicherheitskonzepte, zur Sektion «Objektschutz» gehört unter anderem das operative Schutzpersonal, das im Bundeshaus stationiert ist. Die Aufgaben des Bundessicherheitsdienstes beschränken sich auf das Innere des Gebäudes, für die Sicherheit auf dem umliegenden Gelände ist die Kantonspolizei Bern zuständig. Dazu gehören insbesondere die Überwachung bewilligter und die Auflösung nicht bewilligter Demonstrationen auf dem Bundesplatz. Der Kanton Bern erhält vom Bund jährlich eine pauschale Entschädigung von vier Millionen Franken für Sicherheitsleistungen, die er zugunsten des Bundes auf Stadtgebiet erbringt. Um die Jahrtausendwende wurden immer häufiger Bedenken bezüglich der Sicherheit geäussert, da nicht nur Parlamentarier und Angestellte das Bundeshaus durch den Haupteingang betraten, sondern weitgehend unkontrolliert auch Besucher. Am 19. Dezember 2000 mischten sich kurdische Aktivisten zunächst unter eine Touristengruppe und verbarrikadierten sich daraufhin im Vorzimmer des Ständerates, wo sie ein Transparent entrollten und Parolen gegen den türkischen Staat aus dem Fenster riefen. Die Terroranschläge am 11. September 2001 und das Zuger Attentat 16 Tage später führten zu einer grundlegenden Überprüfung und Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen. 2003 wurden in der Eingangshalle Trennelemente und Sicherheitsschleusen installiert, die eine gezielte Personenkontrolle ermöglichen und verschiedene vorübergehende, aber personalintensive Massnahmen ersetzten. Telefonie 1881 erhielt das Bundes-Rathaus Anschluss ans Telefonnetz. 1923 wurde die erste automatische Haustelefonanlage mit ungefähr 600 Anschlüssen im Bundeshaus installiert. Schrittweise wurde die Zahl der Telefonanschlüsse für die Bundesverwaltung ausgebaut: 1940 auf ca. 2'100, 1954 ca. 3‘500 und 1974 eine maximale Kapazität von 8'000 Apparaten. Damit war die Haustelefonanlage im Bundeshaus schweizweit die grösste ihrer Art. Besichtigungen Seit dem Abschluss der Renovationsarbeiten am Parlamentsgebäude gelangen Besucher über eine neu geschaffene Eingangshalle von der Bundesterrasse her ins Bundeshaus. Zuvor war dort die Heizungszentrale. In der Wartezone befindet sich eine Messingwand, in der die Topographische Karte der Schweiz (erschienen 1845–1865) als Neudruck ab den alten Kupferplatten eingelassen ist. Als Ergänzung zu den Drei Eidgenossen von 1291, die exakt darüber in der Kuppelhalle stehen, versinnbildlicht die Karte die Schweiz von 1848. Zwei Treppen führen von der Wartezone hinauf in die Kuppelhalle. Die Parlamentsdienste bieten während der sessionsfreien Zeit täglich mehrere kostenlose Führungen an. Dabei erhalten die Besucher Einblick in die Baugeschichte und in die Arbeitsweise des Parlaments. Während der Sessionen von National- und Ständerat finden keine Führungen statt. Die Debatten können von den Zuschauertribünen aus mitverfolgt werden, darüber hinaus können Gruppen von einem Ratsmitglied empfangen werden. Literatur Monica Bilfinger: Das schweizerische Parlamentsgebäude, von Kunsthandwerk und zeitgenössischem Design, in: k+a, 2017, Nr. 1, S. 4–15. Zusammenfassung Angelica Tschachtli: «Ein Parlamentsbau muss auch Widersprüchlichkeiten vereinen». In Kunst + Architektur in der Schweiz. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK, Nr. 4, Bern 2014. S. 36–40. Parlamentarische Repräsentationen: das Bundeshaus in Bern im Kontext internationaler Parlamentsbauten und nationaler Strategien / Anna Minta und Bernd Nicolai (Hrsg.), Bern : Peter Lang, 2014. ISBN 978-3-0343-1502-9. Die Beiträge entstanden in Zusammenhang mit der gleichnamigen, im Bundeshaus Bern vom 17.–19. Oktober 2012 veranstalteten Tagung. Inhaltsverzeichnis Bernhard Weissberg, Edouard Rieben: Das Bundeshaus. Faro Lenzburg 2012, ISBN 978-3-03781-038-5. Das neue Schweizerische Bundeshaus / Festschrift anlässlich dessen Vollendung und Einweihung hrsg. vom Eidg. Departement des Innern. Bern 1902. 104 S. mit Plänen und Bildern. PDF Martin Rüedi: Das Parlamentsgebäude von Bern (1894–1902): Genese eines Nationaldenkmals (Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin), Berlin 2016. Siehe auch Liste der Kulturgüter in Bern im Stadtteil I, Innere Stadt – Westlicher Teil Weblinks Das Parlamentsgebäude auf der Website des Parlaments Das Parlamentsgebäude in Bern, Schweiz auf parlament.ch (PDF download, 4 MB) Geschichte des Parlaments Verschiedene Panorama-Ansichten des Bundeshauses Einzelnachweise Parlamentsgebäude in der Schweiz Standort der Exekutive in der Schweiz Legislative (Schweiz) Kulturgut von nationaler Bedeutung im Kanton Bern Neorenaissancebauwerk in der Schweiz Bauwerk des Historismus in Bern Bern, Bundeshaus Sitzungsort eines Parlaments Bauwerk des Rundbogenstils in der Schweiz
222005
https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge%20Portugals
Flagge Portugals
Die Flagge Portugals entwickelte sich in der Geschichte des Landes von den königlichen Wappenbannern hin zum Symbol des republikanischen Portugal, das 1911 angenommen wurde. Sie wurde immer wieder dem zeitgenössischen Geschmack oder politischen Veränderungen angepasst, aber nie komplett durch ein neues Design ersetzt. Die einzelnen Elemente der heutigen Flagge stammen daher aus den verschiedenen Epochen der Geschichte Portugals. Bei der letzten Änderung, dem Wechsel der Hintergrundfarben von Blau-Weiß zu Grün-Rot, kam es in Portugal zu politischen Streitigkeiten. Unruhen brachen in der Kolonie Portugiesisch-Timor aus, wo die Flagge im alten Design als heilig verehrt wurde. Neben der Nationalflagge gibt es eine Vielzahl von Flaggen für staatliche Organe und Verwaltungseinheiten, deren Aussehen gesetzlich geregelt ist. Hier finden sich immer wieder Teile und Symbole aus der heutigen Nationalflagge und ihren Vorgängern. Aufbau, Farben und Bedeutung Heraldisch ist die Flagge in Grün und Rot im Verhältnis 2:3 gespalten. In dem Dekret von 1911 wird die Flagge wie folgt beschrieben: bi-partida verticalmente em duas côres fundamentaes, verde escuro e escarlate, ficando o verde do lado da tralha („vertikal zweigeteilt in zwei Grundfarben, Dunkelgrün und Scharlachrot, mit der grünen Seite am Mast“). Ursprünglich waren dies die Farben der republikanischen Bewegung, die sie von der radikal-republikanischen Geheimgesellschaft Carbonária übernahmen, die eine der Wurzeln der Revolution von 1910 war. Die Mitglieder nannten sich Köhler, nach dem älteren italienischen Vorbild der Carbonari. Die Köhler konnten ohne Einschränkung von den Städten in die Wälder gehen, wo die Gesellschaft konspirative Treffen veranstaltete, daher auch ihr zweiter Name: Die Wald-Freimaurer (Maçonaria Florestal). Johannes, dem Schutzpatron der Köhler, waren die Farben Rot und Grün zugeordnet, weswegen auch die wirklichen Köhler und später die Geheimgesellschaft diese Farben benutzten. Zwar gab es auch schon zuvor portugiesische Flaggen mit dieser Farbkombination, doch dienten diese nicht als Vorbild für die heutige Nationalflagge. Für die Bedeutung der Farben gibt es verschiedene Erklärungen. Nach der geläufigsten aus der Zeit des Estado Novo steht die grüne Farbe für die Hoffnung und die rote Farbe für das Blut jener, die für die Nation ihr Leben gaben. Laut einer anderen Deutung soll die grüne Farbe die eroberten Kolonien darstellen, während das rote Farbelement das vergossene Blut im Kampf symbolisiert. Die exakten Webfarben der Flagge sind offiziell geregelt: Die Flagge ist auf dem Spalt belegt mit einer Armillarsphäre (ein Navigationsgerät in Form einer stilisierten Weltkugel) aus fünf schmalen goldenen Bändern, welche den Äquator, die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks und einen Meridian bezeichnen, sowie mit einem doppelt so breiten Band von links oben nach rechts unten, das die Ekliptik bzw. den jährlichen Sonnenumlauf bezeichnet. Die Armillarsphäre, ein persönliches Emblem von König Manuel I. (1495–1521), gilt als Symbol des Zeitalters der Entdeckungen und hat den Durchmesser der halben Höhe der Flagge. Die Armillarsphäre ist mit einem weiß gerandeten roten Schild mit sieben goldenen kastilischen Burgen belegt, innerhalb derer wiederum belegt mit einem weißen Schild mit fünf blauen Schilden in Kreuzform, jedes mit fünf weißen Münzen 2:1:2. Der Wappenschild ist in verschiedenen Variationen seit 1495 Bestandteil der Flagge. Davor wurde für die Flagge das Wappen in ein Wappenbanner umgewandelt. Der Schild hat eine Breite, die einem Fünftel der Flaggenlänge entspricht und eine Höhe von 7/30 der Flaggenlänge. Armillarsphäre und Wappenschild bilden zusammen das Wappen Portugals. Da die Nationalflagge durch das Wappen relativ kompliziert ist, gibt es immer wieder vereinfachende und falsche Darstellungen. Am häufigsten wird auf kleinen Piktogrammen einfach eine grün-rote Flagge ohne Wappen oder mit einer gelben Scheibe dargestellt. Größere Bilder lassen manchmal die Armillarsphäre weg, obwohl sie fester Bestandteil des Wappens ist. Ein weiterer häufiger Fehler ist die Verwendung von Türmen statt von Burgen im Wappen. Geschichte Über die Flaggen der Gründungszeit Portugals im 12. Jahrhundert gibt es keine zeitgenössischen Quellen. Die meisten Berichte sind 200 Jahre jünger. Berichte über die Flaggen Portugals um 1400 stammen auch erst aus dem 16. Jahrhundert. Quelle ist hier das Nationalepos Portugals, die Lusiaden. 1095 bis 1248 Das erste bekannte Symbol Portugals war der Wappenschild von Heinrich von Burgund, der ab 1096/97 der zweite Graf von Portugal und Stammvater des ersten portugiesischen Königshauses war. 1095 trug Heinrich im Kampf gegen die Mauren laut der Quellen einen Schild mit einem einfachen blauen Kreuz auf silbernen Grund. Der Sohn von Heinrich erklärte 1139 nach der Schlacht von Ourique gegen die Mauren die Unabhängigkeit des Königreichs Portugal von dessen Lehnsherren Kastilien und ließ sich als Alfons I. zum ersten König von Portugal krönen. 1143 wurde die Unabhängigkeit von Kastilien im Vertrag von Zamora anerkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt führte Alfons denselben Schild wie sein Vater Heinrich. Laut einer Quelle von 1908 soll Alfons nach seiner Anerkennung als König als Zeichen seines neuen Status dem Kreuz fünfmal elf silbernen Münzen (besantes oder dinheiros) zugefügt haben. Sie sollen das Münzrecht des Königs symbolisieren. Zu dieser Zeit war es üblich, die Kampfschäden auf Schilden zu reparieren, anstatt neue Schilde herzustellen. Daher waren Veränderungen in der Heraldik, wie Farbänderungen, der Verlust von Teilen der Symbole oder Abänderungen nicht ungewöhnlich. Der Schild von Alfons I. soll stark beschädigt gewesen sein, als sein Sohn Sancho I. ihn erbte. Das blaue Leder des Kreuzes wurde nur noch von den silbernen Nägeln, die die Münzen symbolisierten, gehalten. Dies führte angeblich dazu, dass das Leder zu kleinen blauen Schilden (den fünf quina) mit je elf Münzen im Zentrum zugeschnitten wurde. Die Spitze von drei der vier äußeren Schilde zeigte zum Zentrum des Kreuzes. Als Bedeutung berief man sich auf die Schlacht Alfons I. bei Ourique, bei der dieser die fünf maurischen Könige der Taifa-Reiche von Sevilla, Badajoz, Elvas, Évora und Beja besiegte und ihnen ihre Schilde abnahm. Sanchos Sohn Alfons II. und Enkel Sancho II. behielten das Wappen bei. Noch heute bilden die fünf Quinas das Zentrum des Wappens Portugals. 1248 bis 1495 Alfons III. war der jüngere Bruder seines Vorgängers Sancho II. und nicht dessen Sohn. Daher konnte er nach den damaligen heraldischen Regeln nicht das Wappen seiner Vorgänger übernehmen, ohne Änderungen vorzunehmen. Man vermutet, dass er kastilische Burgen in einem roten Rahmen um das alte Wappen aufnahm, weil seine Mutter Urraca und seine Frau Beatrix beide aus Kastilien stammten. Die Anzahl der Münzen auf den Quinas variierte zwischen sieben, elf und sechzehn. Sechzehn Münzen verwendete Alfons III. als Graf von Boulogne. Auch die Anzahl der Burgen wurde nicht festgelegt. Nach dem Aussterben des burgundischen Hauses im Jahr 1383, wehrte Johann, der Großmeister des Ritterordens von Avis, 1385 in der Schlacht von Aljubarrota die kastilischen Ansprüche auf den portugiesischen Thron ab und wurde als Johann I. der erste portugiesische König des Hauses Avis. Johann nahm das grüne Lilienkreuz seines Ritterordens in sein Banner auf, dessen Enden nun auf der roten Umrandung erschienen und reduzierte die Anzahl der Burgen auf zwölf. In jeder Quina gab es nun sieben Münzen, andere Quellen geben elf Münzen pro Quina an. Erst Johanns Enkel Johann II. führte 100 Jahre später erstmals das Wappen in seiner heute gebrauchten Form ein. Das Aviskreuz wurde wieder aus dem Wappen entfernt, die Anzahl der Münzen auf fünf pro Quina festgelegt, die Quinas alle mit der Spitze nach unten gedreht und ihre Spitzen abgerundet. Heutzutage sollen die fünf Münzen die fünf Wunden Christi darstellen. Zählt man kreuzweise die Münzen in den Schilden und zählt die in dem mittleren Schild doppelt, ergeben sich 30 Münzen. Diese stehen für die 30 Silbermünzen, die Judas für den Verrat an Jesus Christus erhielt. Die Anzahl der Burgen wurde auf sieben festgesetzt. In der modernen Deutung symbolisieren sie die sieben Schlachten, die König Alfons III. bei der Eroberung der Algarve und damit der endgültigen Vertreibung der Mauren aus dem heutigen Portugal gewann. 1495 bis 1667 König Manuel I. verwendete als erster statt eines quadratischen Wappenbanners eine Flagge mit dem Seitenverhältnis 2:3, die nicht den König, sondern das Reich repräsentierte. Auf weißem Hintergrund befand sich das Wappen Portugals mit elf Burgen und der königlichen Krone. Auf seiner persönlichen Standarte zeigte Manuel I., unter dessen Regentschaft der Seeweg nach Indien entdeckt wurde, erstmals die Armillarsphäre. Manuel I. war bereits vor seiner Thronbesteigung 1495 Großmeister des Christusordens. Daher verwendete er ursprünglich auf See, später auch an Land, eine quadratische Flagge mit dem Kreuz des Christusordens auf grünem Grund. 1578 wurde unter König Sebastian I. am Vorabend der Schlacht von Alcácer-Quibir die Flagge verändert. Die Anzahl der Burgen wurde nun endgültig auf sieben festgesetzt und die Krone erhielt drei Bügel. Sebastian I. fiel in der Schlacht. Sein Großonkel Heinrich I. folgte ihm auf den Königsthron. Mit Heinrichs Tod 1580 starb die portugiesische Dynastie von Avis aus und Portugal fiel an den König von Spanien. Da Portugal und Spanien von ihm in einer Personalunion geführt wurde, war die Flagge Portugals weiter für das Land gültig. In das Banner des habsburgischen Königs wurde das Wappen Portugals aufgenommen. 1640 gelang es, die spanische Herrschaft abzuschütteln, und mit Johann IV. bestieg nun das Haus Bragança den Thron. Der Wappenschild auf der Flagge wurde auf die sogenannte Spanische Form etwas abgerundet. Als Flagge des Königs führte Johann das Wappen auf einem blauen Feld. Eine Renaissance erlebte die grüne Flagge mit dem Kreuz des Christusordens von Manuel I. zwar nur als inoffizielle, aber dafür populärere Flagge. 1667 bis 1830 Unter Peter II. wurde die bisherige Wappenkrone durch eine Krone mit fünf Bändern ersetzt. Die Königsflagge erhielt nun einen grünen Hintergrund. Sein Sohn Johann V. änderte 1706 nochmals Krone und Form des Wappenschildes (nun die Moderne Französische Form) und wählte eine rote Farbe als Hintergrund der Königsflagge. Rot blieb nun bis zum Ende der Monarchie die Farbe der portugiesischen Könige. Der portugiesische Königshof war 1807 vor den Truppen Napoleons nach Rio de Janeiro geflohen, das zum neuen Regierungssitz des Reiches wurde. 1815 erhielt Brasilien den Status eines eigenen Königreichs, das mit Portugal in Personalunion von Johann VI. regiert wurde. 1816 vereinigte Johann VI. daher die Flaggen der Königreiche Portugals und Brasiliens: Er fügte aus der brasilianischen Flagge die Armillarsphäre in die portugiesische ein. Außerdem wurde der Wappenschild erneut abgerundet. Die Königsflagge Portugals blieb unverändert. Als Brasilien wieder den Status einer Kolonie erhalten sollte, ließ sich der portugiesische Kronprinz als Peter I. zum Kaiser von Brasilien krönen und erklärte 1822 die Unabhängigkeit des Landes, womit Portugal seine größte und reichste Kolonie endgültig verlor. 1830 bis heute Nach der Trennung von Portugal und Brasilien 1822 führten die Könige Portugals weiter die Unionsflagge. Während des Miguelistenkrieges wurde von den Liberalen eine Exilregierung auf den Azoren gegründet. Sie verwendete eine blau-weiße Flagge mit dem Staatswappen in Moderner Französischer Form und einer Krone im Zentrum. Mit König Michaels I. Gang ins Exil 1834 wurde die blau-weiße Flagge die neue Flagge Portugals. Zu See nahm der blaue Teil nur ein Drittel der Flagge ein, zu Land waren die beiden Teile der Flagge gleich groß. Peter V. (1853–1861) änderte nochmals die Flagge des Königs ab und fügte an das Wappen unten das Kreuz des Christusordens an. Mit der Ausrufung der Republik am 5. Oktober 1910 brach ein so heftiger Streit über die zukünftigen Symbole des Landes aus, dass man später vom „Flaggenkrieg“ (A Guerra das Bandeiras) sprach. In dieser Zeit gab es eine Vielzahl von unterschiedlichen Vorschlägen für eine neue Nationalflagge. Vor allem über die Grundfarben wurde diskutiert. Während die Republikaner Rot und Grün als neue Farben wollten, hielten die Monarchisten am alten Blau-Weiß fest. Blau hatte zudem eine religiöse Bedeutung als Farbe Unserer Lieben Frau der Empfängnis (Nossa Senhora da Conceição), der Schutzpatronin Portugals. Dies war ein Dorn in den Augen der Republikaner, die die Säkularisation Portugals anstrebten. In einer Regierungskommission wurden ab dem 15. Oktober 1910 verschiedene Entwürfe diskutiert. Mitglieder waren der Journalist und Politiker João Chagas, der Maler Columbano Bordalo Pinheiro, der Schriftsteller Abel Botelho und zwei militärische Führer der Revolution, Ladislau Pereira und Afonso Palla. Schließlich entschied sich die Kommission für das Grün-Rot der Republikanischen Partei. Die politische Bedeutung dieser Farben, die bereits die republikanischen Aufständischen vom 31. Januar 1891 in Porto verwendeten, wurde hinter patriotischen Begründungen verborgen. In großer Zahl wurde die neue Flagge im Cordoaria Nacional („nationales Schiffstauhaus“) hergestellt und im gesamten Land offiziell zum Jahrestag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit am 1. Dezember 1910 präsentiert. Der Tag wurde von der Regierung als „Tag der Flagge“ ausgerufen, der heutzutage aber nicht mehr gefeiert wird. In der Hauptstadt Lissabon wurde die neue Flagge zum Monumento Restauradores gebracht und dort das erste Mal gesetzt. Die Verordnung, welche die blau-weiße Flagge der Monarchie gegen die grün-rote Flagge der Republik austauschte, wurde von der verfassunggebenden Versammlung verabschiedet und im Diário do Governo Nr. 141 am 19. Juni 1911 veröffentlicht. Am 30. Juni 1911 wurden die Regularien offiziell im Diário do Governo Nr. 150 veröffentlicht. Bis zur Nelkenrevolution 1974 hatte sich die grün-rote Flagge als Nationalflagge soweit etabliert, dass der Wechsel von der Diktatur zurück zur Demokratie nicht zu Diskussionen über eine neue Flagge führte, obwohl die Flagge, ebenso wie das Wappen und deren Bestandteile, vom Estado Novo (und der vorangehenden Militärdiktatur ab 1926) beibehalten und ausgiebig verwendet worden waren. Die grün-rote Flagge wurde weiterhin mit der Republik von 1910 anstatt mit der Diktatur Salazars assoziiert. Die Farben der Flagge sind bis heute die Nationalfarben Portugals und finden sich auf diese Weise auch im täglichen Leben, zum Beispiel bei Sportveranstaltungen. Weitere historische Flaggen Flaggen des Estado Novo Während der faschistischen Diktatur in Portugal zwischen den 1930er Jahren und 1974, dem Estado Novo, gab es mehrere politische Organisationen mit eigenen Flaggen. Die União Nacional (Nationale Union) war die einzige legale Partei während der Diktatur, die aber offiziell keine Partei, sondern eine „Organisation der Einheit aller Portugiesen“ war. Sie zeigte auf einer quadratischen Flagge die fünf Quinas und einen blauen Rahmen. Die Legião Portuguesa („Portugiesische Legion“) war eine paramilitärische Staatsorganisation. Sie verwendete eine quadratische Flagge mit dem grünen Kreuz des Ritterordens von Avis auf weißen Grund mit grünem Rahmen. Die Mocidade Portuguesa („Portugiesische Jugend“) war die nationale Jugendorganisation. Sie benutzte eine Flagge ähnlich jener von Johann I. mit dem Wappen Portugals als Grundlage und dem Avis-Kreuz, wobei die Quinas jedoch jeweils nur fünf Münzen trugen, wie im modernen Wappen üblich, und ihre Form zu einem Fünfeck abgewandelt wurde. Bei der Version der Jugendorganisation für Mädchen (Mocidade Portuguesa Feminina) war das Quadrat auf die Spitze gedreht. Die Exposição do Mundo Português () von 1940 in Lissabon hatte ebenfalls eine eigene Flagge. Flaggen der Kolonien In der Regel hatten die Kolonien Portugals keine eigene Flaggen. Verwendet wurde meistens nur die Nationalflagge Portugals. In der Kolonie Portugiesisch-Timor hatte die Flagge für die Kolonialherrschaft eine besondere Bedeutung. Die Liurais, die traditionellen Herrscher Timors, schöpften einen Teil ihres Herrschaftsanspruchs aus heiligen Objekten (Lulik), die im Besitz der Herrscherfamilien waren. Als die Portugiesen die Timoresen unterwarfen, übergaben sie den Liurais als Vasallen die portugiesische Flagge, die in den Augen der Timoresen, genauso wie der Flaggenmast, selbst zu heiligen Objekten wurden, welche die Herrschaft der Portugiesen und der ihnen treuen Liurais legitimierte. Besonders in der Kultur der Mambai erhielt der Flaggenkult eine zentrale Bedeutung. Nach deren Ursprungsmythos entsteht die Weltordnung durch zwei Brüder. Der ältere Bruder, von dem demnach die Völker Timors abstammen, hat die rituelle Macht über den Kosmos inne. Der jüngere Bruder besitzt die Macht über die gesellschaftliche Ordnung. Von diesem stammen die nicht-timoresischen Völker ab, in diesem Fall die Portugiesen. Der Mythos berichtet vom Verlust, der Suche und der Wiedererlangung eines verlorenen, heiligen Gegenstandes, nämlich der portugiesischen Flagge. Diese heilige Bedeutung der blau-weißen Flagge führte zu einigen Problemen, als die Flagge Portugals 1910 beim Wechsel von der Monarchie zur Republik zur grün-roten geändert wurde. So wurde die neue Flagge oft nicht angenommen und die alte Flagge der Monarchie von den Liurais weiter benutzt. Eine Besonderheit waren die Flaggen der Regierung und des Parlaments von Macau, dem Loyalen Senat (Leal Senado). Beide waren hellblau. Die Flagge der Regierung zeigte das große Wappen Macaus von 1935. Auf dem Spruchband unter dem Wappen stand ursprünglich „Portugiesische Kolonie von Macau“ (Colónia Portuguesa de Macau), ab 1951 „Portugiesische Provinz von Macau“ (Provín. Portuguesa de Macau) und ab 1975 bis zur Übergabe Macaus an die Volksrepublik China 1999 „Regierung von Macau“ (Governo de Macau). Von den Regierungen anderer Kolonien Portugals ist eine solche Flagge nicht bekannt. Die Flagge des Leal Senado trug den portugiesischen Wappenschild mit zwei Engeln als Schildhaltern und oberhalb ein Kreuz des Christusordens, eine goldene Krone und eine goldene Armillarsphäre. Darunter ein Spruchband mit der Inschrift „Stadt des Namens des Herrn von Macau, keine andere war treuer“ (Cidade do Nome de Deus de Macau não há outra mais leal). Der Senat erhielt den Beinamen loyal, da er sich weigerte, das Königreich Spanien, mit dem Portugal von 1580 bis 1640 in einer Personalunion verbunden war, als neue Führungsmacht auf Macau anzuerkennen. Aus diesem Grund wehte während dieser Zeit auch nicht die spanische, sondern weiter die portugiesische Flagge über Macau. Die Flagge des Leal Senado wurde gerne als inoffizielle Flagge Macaus verwendet, offiziell war dies jedoch die Nationalflagge Portugals. Durchaus üblich waren Flaggen der kolonialen Städte, die sich an den Gemeindeflaggen Portugals orientierten. So zum Beispiel die Flagge von Dili, der Hauptstadt Portugiesisch-Timors. Die achtfach grün-weiß geständerte Flagge zeigte im Zentrum das Wappen der Stadt, geschmückt mit einer gemauerten Krone. Die goldene Farbe der Krone verwies auf Dilis Status als Hauptstadt einer portugiesischen Überseeprovinz. Die fünf Türme zeigten an, dass Dili eine Cidade mit mehr als 10.000 Einwohnern war. Laut einer Quelle aus dem Jahr 1939 führten die verschiedenen offiziellen Amtsträger für die Überseeprovinzen Portugals Flaggen mit einer einheitlichen Gestaltung, das sich heute auch noch bei Mitgliedern der Regierung findet. Es bestand aus einer weißen Grundfläche mit dem Staatswappen im Zentrum. Außer beim kolonialen Hochkommissar ruhte bei den kolonialen Amtsträger das Staatswappen zusätzlich auf einem Kreuz des Christusordens. Der portugiesische Heraldiker F. P. de Almeida Langhans schlug 1967 vor, für die Kolonien Portugals die jeweiligen Wappen im unteren rechten Viertel der Nationalflagge hinzuzufügen. Dieser Vorschlag wurde jedoch nie umgesetzt. Flaggenprotokoll Gesetzgebung Die Verfassung Portugals gibt in Artikel 11 relativ knapp vor: Am 30. März 1987 wurde die Verordnung Nr. 150 abgewandelt. Demnach soll die Flagge an Sonntagen, und nationalen Feiertagen im ganzen Land zwischen neun Uhr morgens und Sonnenuntergang gesetzt werden. Nachts muss die Flagge ausreichend beleuchtet werden. Auch an Tagen an denen offizielle Zeremonien oder feierliche, öffentliche Versammlungen stattfinden, kann die Flagge am Veranstaltungsort gehisst werden. An anderen Tagen kann die Flagge gesetzt werden, wenn die Zentralregierung, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder die Führung von privaten Institutionen es für angebracht halten. Die Flagge muss dem offiziellen Design entsprechen und sich in gutem Zustand befinden. An den Hauptgebäuden öffentlicher Körperschaften, zivilen und militärischen Nationalmonumenten kann die Nationalflagge täglich gesetzt werden. Ebenso an öffentlichen Verwaltungsgebäuden und Hauptsitzen von öffentlichen Gesellschaften und Institutionen. Bürger und private Institutionen dürfen die Flagge ebenfalls setzen, sofern sie die gesetzlichen Bestimmungen beachten und die Flagge mit Respekt behandeln. Eine Strafe bei Missachtung dieser Regeln ist in der Verordnung nicht vorgesehen. Bei Einrichtungen von internationalen Organisationen in Portugal wird die Flagge der dort gültigen Flaggenprotokolle gesetzt. Sind andere Flaggen neben der Nationalflagge gesetzt, darf die Nationalflagge nicht kleiner als die andere Flagge sein und muss auf der Ehrenposition gesetzt werden. Bei zwei Flaggenmasten ist dies der rechte Mast aus Sicht einer Person, die auf die Außenseite eines Gebäudes sieht. Bei dreien ist dies der mittlere Mast. Bei mehr als drei Masten innerhalb eines Gebäudes und einer ungeraden Anzahl der mittlere Mast, bei gerader Anzahl der Mast rechts von der Mitte. Außerhalb des Gebäudes ist es in jedem Fall der Mast am rechten Ende der Reihe. Falls die Masten unterschiedlich hoch sind, muss die Nationalflagge am höchsten Punkt gesetzt sein. Die Masten müssen allgemein an prominenten Stellen stehen oder befestigt sein, sei es am Boden, an Fassaden oder auf Dächern. Die Flagge darf nicht als reine Dekoration, zum Verhüllen oder für Verwendungen benutzt werden, die sie entwürdigen. Ist Staatstrauer angesetzt, wird die Flagge an der festgesetzten Anzahl von Tagen auf halbmast gesetzt. Jede Flagge, die mit der Nationalflagge gemeinsam gehisst wird, muss dann ebenfalls auf halbmast gesetzt werden. Falten der Nationalflagge Will man die Nationalflagge korrekt zusammenfalten, benötigt man vier Personen, die sie dabei an den Seiten halten. Ziel ist ein Päckchen, bei dem nur der Wappenschild oben sichtbar ist. Zuerst wird das obere Drittel der Flagge umgeklappt, so dass der obere Rand des Wappens am äußeren Rand liegt. Ebenso wird mit dem unteren Drittel verfahren. Als Nächstes faltet man den verbliebenen roten Teil, bis zum Rand des Wappens nach unten. Da das verbliebene grüne Stück länger als das Wappen ist, wird es eingeschlagen, so dass es komplett unter dem Wappen verschwindet. Weitere Flaggen Portugals Flaggen der Regierung Die Flagge des Staatspräsidenten von Portugal besteht aus dem Wappenschild mit der goldenen Armillarsphäre auf grünem Grund. Sie weht am Sitz des Präsidenten im Palácio Nacional de Belém und am Wagen des Präsidenten. Dieselben Symbole finden sich auf den Flaggen der Minister. Als Hintergrund dient ein grünes Andreaskreuz auf weißem Grund. Die Flagge des Premierministers hat zudem einen roten Rand mit goldenen Lorbeerblättern. Die Flagge des heute nicht mehr existierenden Kriegsministers war eine grün-rote zweigeteilte Flagge mit fünf weißen Sternen. Das portugiesische Parlament führt seit dem 3. Januar 2007 Wappenschild und Armillarsphäre auf einer Flagge mit grünen Rand und weißem Grund. Militärische Flaggen Portugals Streitkräfte führen an Land eine eigene Flagge, die 1911 angenommen wurde. Sie hat ein Seitenverhältnis von 12:13 und der Hintergrund ist 1:1 vertikal in eine grüne und eine rote Hälfte geteilt. In der Mitte liegt die große Version des Wappens Portugals: der Wappenschild mit der Armillarsphäre, goldenen Lorbeerzweigen und einem Spruchband auf dem „Esta é a ditosa pátria minha amada“ („Dies ist mein geliebtes, glückliches Vaterland“) steht. Es ist ein Vers von Luís de Camões, Portugals Nationaldichter. Ebenfalls seit 1911 existiert die aktuelle Gösch (jaco oder jaque) der Marine Portugals, eine quadratische Flagge mit grünem Rand (1/8 der Flaggenbreite) und dem kleinen Staatswappen (Wappenschild mit Armillarsphäre) im Zentrum auf rotem Grund. Die Armillarsphäre hat einen Durchmesser von 3/7 der Flaggenbreite. Sie wird zwischen Sonnenauf- und -untergang am Bug von Schiffen gesetzt, die ankern oder im Hafen liegen. Die Nationalflagge weht am Heck zwischen Sonnenauf- und -untergang, wenn das Schiff ankert oder im Hafen liegt und 24 Stunden am Tag, wenn das Schiff auf Fahrt ist. Zusätzlich verfügt die Marine Portugals über verschiedene Rangflaggen, die alle ein grünes Kreuz auf weißem Grund zeigen. Als es noch einen Marineminister gab, führte dieser dazu das Staatswappen mit Wappenschild und Armillarsphäre im Zentrum. Möglicherweise wird diese Flagge heute vom Verteidigungsminister verwendet. Der Oberkommandierende der Flotte führt im oberen linken Feld das Kreuz des Christusordens, der Admiral der Flotte an selber Stelle das Staatswappen mit Wappenschild und Armillarsphäre und ein Admiral nur das Kreuz. Ein Vizeadmiral zeigt im oberen linken Feld eine rote Scheibe, ein Konteradmiral eine zweite im unteren linken Feld. Die zusätzlichen Symbole in den Admiralsflaggen sind dabei in den Feldern nach links versetzt. Heer und Luftstreitkräfte verfügen über eigene Flaggen. Das Heer hat eine rote Flagge mit goldenen Löwen und Schwert. Die Luftstreitkräfte haben eine mittelblaue Flagge mit einem goldenen, rot bewehrten Adler oben links mit einem Spruchband, auf dem der lateinische Wahlspruch „Ex moro motu“ steht. Subnationale Flaggen Portugals Portugal verfügt mit den Azoren und Madeira über zwei Inselgruppen im Atlantik, die als autonome Regionen verwaltet werden. Hauptartikel: Flagge der Azoren und Flagge Madeiras Das kontinentale Portugal unterteilt sich in fünf Regionen, 18 Distrikte (wovon zumindest einige Flaggen haben) und 308 Municípios („Gemeindebezirk“) mit mehr als 4000 Freguesias („Gemeinden“). Die Municípios und Freguesias verfügen über eigene Flaggen. Das Aussehen der Flagge ist prinzipiell von der Größe der Bevölkerung abhängig. Man unterscheidet drei Größenordnungen: Cidade: Eine Stadt mit mindestens zehntausend Einwohnern. Vila: Eine Kleinstadt mit einigen tausend Einwohnern. Aldeia: Ein Dorf mit bis zu einigen hundert Einwohnern. Im Zentrum jeder Flagge befindet sich in der Regel das Ortswappen, es kann aber auch zur Vereinfachung weggelassen werden. Dem Wappen wird zudem noch eine silberne gemauerte Krone aufgesetzt mit drei (Aldeia), vier (Vila) oder fünf (Cidade) Türmen. Lissabon als Hauptstadt trägt eine goldene Krone. Unterhalb des Wappens findet sich zudem ein Spruchband mit dem Namen der Verwaltungseinheit. Nach dem Gesetz für Gemeindenflaggen haben Cidades achtfach geständerte, Vilas geviertelte und Aldeias einfarbige Flaggen. Außerdem besagt das Gesetz, dass entsprechend den heraldischen Regeln Farbe nur auf Metall (Silber oder Gold), und Metall nur auf Farbe folgen darf. Allerdings gibt es immer wieder Ausnahmen, zum Beispiel hat Fronteira eine einfarbige statt einer geviertelten Flagge, die Flagge von Lagos ist geviertelt statt achtfach geständert. Zudem verläuft die Viertelung nur bei der Flagge von Lagos diagonal. Dies soll ein Verweis auf die persönliche Standarte von König Manuel I. sein, unter dessen Regentschaft Lagos von der Erforschung der neuen Seewege profitierte. Auch die Farbregel wird nicht immer eingehalten, so bei der Flagge von Maia, bei der die heraldische Farbe Rot auf die heraldische Farbe Blau folgt. Die Gemeinde Horta auf den Azoren verwendet statt einer gemauerten eine goldene Krone. Übersicht: Liste der Municípios in Portugal Korrekte Flaggen Flaggen, die dem Gesetz widersprechen Flaggen der christlichen Orden in Portugal Verschiedene christliche Orden hatten in der Geschichte Portugals große Bedeutung. Ihre Symbole finden sich daher auch in den nationalen Symbolen des Landes. Das grüne Lilienkreuz des Ritterordens von Avis nahm König Johann I. sogar in sein Wappen und die Flagge des Landes auf. Das Kreuz des Christusorden findet sich auf der Flagge Madeiras und auf den Segeln portugiesischer Schiffe, weswegen es zu einem Symbol der portugiesischen Seefahrt und Entdeckungsreisen wurde. Siehe auch Letzte Flagge Portugals über Timor Flagge Ceutas Weblinks Flags of the World – Portugal (englisch) Vorlagen und Verordnungen zur Nationalflagge von der Webseite des Präsidenten (portugiesisch) Einzelnachweise Portugal !
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https://de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-Sowjetischer%20Krieg
Polnisch-Sowjetischer Krieg
Im Polnisch-Sowjetischen Krieg (/ Transkription: , ), auch Polnisch-Bolschewistischer Krieg genannt () von 1919 bis 1921 versuchte einerseits das 1918 wiedererrichtete Polen, im Osten den historischen Grenzverlauf von 1772 wiederherzustellen und eine osteuropäische Konföderation (→ Międzymorze) unter polnischer Führung zu schaffen. Das sich noch im Bürgerkrieg befindende Sowjetrussland war andererseits bestrebt, seinen Einflussbereich in den Westen auszudehnen. In der Ukraine wurde Polen von nationalistischen Kräften unterstützt, die zuvor von den Bolschewiki von der Macht vertrieben worden waren. Die anfänglichen Erfolge der polnischen Truppen unter Marschall Piłsudski und der sie unterstützenden ausländischen militärischen Verbände, die weite Landstriche der Ukraine einschließlich Kiews besetzen konnten, wurden durch die sowjetische Rote Armee nach einiger Zeit zunichtegemacht: Sie warf die polnische Armee so weit in das Landesinnere Polens zurück, dass eine Besetzung Polens drohte. In der Schlacht von Warschau konnte die polnische Armee das Blatt wiederum wenden. In den nachfolgenden Kampagnen wurde die sowjetische Armee bis in die Ukraine zurückgeworfen. Zudem wurde im Polnisch-Litauischen Krieg im Oktober 1920 das Gebiet um die litauische Hauptstadt Vilnius (polnisch Wilno) erobert. Im Vertrag von Riga, der am 18. März 1921 unterzeichnet wurde, vereinbarten Sowjetrussland, die Sowjetukraine und die Republik Polen die Akzeptanz des Waffenstillstands des Vorjahres und den Grenzverlauf zwischen der Sowjetunion und dem wieder entstandenen polnischen Staat sowie u. a. die Leistung von Ausgleichszahlungen. Die polnisch-sowjetische Grenze verlief nun stellenweise bis zu 250 km östlich der Linie, die 1919 eine Kommission als die Ostgrenze des wieder erstandenen Polens vorgeschlagen hatte („Curzon-Linie“). Das Übereinkommen war die zweite vertragliche „Gebietsamputation“ ethnisch nichtrussischen Territoriums nach der Oktoberrevolution, das vom Zarenreich Russland vorher als integraler Bestandteil seines eigenen Staatsgebietes betrachtet worden war. Ursachen Russland, infolge der Oktoberrevolution aus dem Ersten Weltkrieg ausgeschieden, nahm an den Pariser Verhandlungen über die Nachkriegsordnung nicht teil, weshalb dort eine Grenzregelung zwischen der neu gegründeten Republik Polen und dem nunmehr von den kommunistischen Bolschewiki geführten Sowjetrussland nicht getroffen wurde. Das im Bürgerkrieg befindliche Russland der Bolschewiki war bestrebt, seine Einflusssphäre in den Westen zu verschieben und eine proletarische Revolution in Deutschland auszulösen. Polen wiederum versuchte seine wiedergewonnene Unabhängigkeit zu erhalten bzw. die eigene Machtposition an seiner Ostflanke zu stärken. Über die angestrebte Grenze zu Sowjetrussland gab es in der polnischen Politik keine Einigkeit. Marschall Piłsudski, der die polnischen Streitkräfte kommandierte, strebte eine möglichst weit nach Osten reichende Einflusssphäre in Form einer osteuropäischen Konföderation unter polnischer Führung an. Als Bezug diente dabei der Verlauf der Ostgrenze Polen-Litauens am Vorabend der Teilungen Polens (1772). Eine vollständige Unabhängigkeit der Ukraine und Belarus, die von diesen teilweise angestrebt wurde, war sowohl gemäß polnischen als auch russischen Kriegszielen ausgeschlossen. In der Ukraine wurde Polen dennoch von nationalen Kräften unterstützt, die zuvor von den Bolschewiki abgesetzt worden waren. Unklar und umstritten sind der genaue Zeitpunkt des Beginns sowie der Auslöser des Krieges. Manche Autoren bezeichnen den polnischen Angriff auf Kiew (April 1920) als Beginn des Krieges. Andere siedeln den Kriegsbeginn im Jahre 1919 an. Da dem Krieg ein schwelender Grenzkonflikt voranging, haben beide Ansichten ihre Berechtigung. Umstritten ist auch, ob man das Ende des Krieges auf den Waffenstillstand am 18. Oktober 1920 oder auf den Friedensschluss von Riga am 18. März 1921 datieren soll. Durch die polnisch-ukrainische Allianz vom April 1920 nach dem Polnisch-Ukrainischen Krieg wurde das Gewicht der Beteiligten während des Kriegsverlaufs verschoben. Benennungen und Definitionen Der Krieg selbst hat mehrere Bezeichnungen, von denen „Polnisch-Sowjetischer Krieg“ die gebräuchlichste ist. Dabei bezieht sich das Attribut „sowjetisch“ nicht auf die erst im Dezember 1922 gegründete Sowjetunion, sondern auf die bereits seit 1917 bestehende Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik. Daneben wird auch vom „Polnisch-Russischen“ oder „Russisch-Polnischen Krieg“ gesprochen. Dies ist jedoch nicht eindeutig, da es zahlreiche Kriege und kleinere bewaffnete Konflikte zwischen Polen und Russland gab. In polnischen Quellen wird meist vom „Polnisch-Bolschewistischen Krieg“ (wojna polsko-bolszewicka) oder vom „Bolschewistischen Krieg“ (wojna bolszewicka) gesprochen. Außerdem existiert die Bezeichnung „Krieg von 1920“ (polnisch Wojna 1920 roku). Das offizielle Geschichtsbild der Sowjetunion sah den Krieg als Teil der ausländischen Interventionen während des Russischen Bürgerkriegs zwischen den bürgerlichen „Weißen“ und den bolschewistischen „Roten“, der seit der Revolution im Gange war. Der Versuch des nicht-kommunistischen Polens, die Unabhängigkeit von (Sowjet-)Russland zu erreichen bzw. zu erhalten, wurde als Parteinahme für die „weiße“ Seite und als Versuch, die Ausbreitung der proletarischen Revolution nach Westen zu blockieren, verstanden. Dabei kam zum Tragen, dass die polnische Minderheit in den Grenzgebieten meist dem wohlhabenden Landadel oder dem Bürgertum angehörte. Daher wird der Krieg in sowjetischen Quellen auch als „Krieg gegen Weiß-Polen“ bezeichnet. In der Volksrepublik Polen folgte die offizielle Geschichtsschreibung ebenfalls dieser Linie. Der Krieg wurde weitgehend aus dem offiziellen Geschichtsbild ausgeklammert und, soweit überhaupt, als bewaffnete Aktion bürgerlicher Kreise dargestellt, die nicht im Interesse und mit Rückendeckung des polnischen Volkes gehandelt hätten. Ausgangslage Der Erste Weltkrieg hatte die politische Landkarte des östlichen Mitteleuropas und Osteuropas grundlegend verändert. Der Zerfall des Russischen Reiches im Zuge der Niederlage in der Oktoberrevolution und der Untergang Österreich-Ungarns ließen Raum für neue Nationalstaaten. Neben Finnland, Estland, Lettland, Litauen und der Tschechoslowakei machte auch Polen erfolgreich den Schritt zur Eigenstaatlichkeit. Nach den Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 war ein polnischer Staat zunächst nicht mehr existent. Allerdings lebten in den Gebieten, die bis 1772 zu Polen gehört hatten, neben Polen ohnehin eine Reihe von anderen Ethnien (Belarussen, Ukrainer, Kaschuben, Deutsche etc.). Die Polen hatten sich stets eine kulturelle Eigenständigkeit bewahrt, das Problem der Grenzen Polens trat aber mit den neuen oder wiederauflebenden Nationalstaaten unmittelbar zutage. Dies hatte sich schon während des Weltkrieges manifestiert. Das Deutsche Reich hatte versucht, durch die Einrichtung eines pro forma unabhängigen Königreichs Polen diese Tendenzen für sich zu nutzen. Nach dem Waffenstillstand an der Westfront erklärte sich Polen am 11. November 1918 unabhängig. Unter anderem auf Druck der Ententemächte wurde der Status Polens in den Pariser Vorortverträgen als unabhängiger Nationalstaat von Österreich 1918 und von der Weimarer Republik 1919 anerkannt. Die westlichen Verbündeten legten mit der Curzon-Linie einen provisorischen Grenzverlauf fest, der es zwar vermied, eine Reihe von nichtpolnischen Ethnien unter polnische Herrschaft zu stellen, seinerseits aber wiederum viele Polen von ihrem Nationalstaat ausschloss. Polen selbst befand sich, bedingt durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, in einer ökonomischen Krise. Hilfe erhielt es von einer amerikanischen Hilfsmission unter Herbert Hoover. Die Wiedererrichtung des polnischen Staates war bis zum Kriegsende nicht abgeschlossen. Zwar gab es z. B. schon eine neue stabile Währung, aber die neue Verwaltung hatte sich noch nicht überall durchgesetzt. Das Militär sollte sich in den kommenden Jahren als das leistungsfähigste Instrument der Politik des polnischen Staates erweisen. Die Bolschewiki betrachteten Polen als einen von der Entente gesteuerten Staat und sahen in ihm die Brücke nach Europa, auf der die Revolution nach Westen getragen werden sollte. Insgesamt überwog in Russland die Auffassung, dass die unabhängig gewordenen Staaten Ostmittel- und Osteuropas rebellierende russische Provinzen seien, so dass auch die Gegner der Bolschewiki im Bürgerkrieg, die Weißgardisten, Polen und den übrigen Staaten dieser Region die Souveränität absprachen und nach einer Wiederherstellung Russlands in den Grenzen des Zarenreichs strebten. Russland befand sich zu dieser Zeit im Bürgerkrieg. Die Weißen Armeen versuchten die Bolschewiki von ihrer Machtposition zu verdrängen und den russisch dominierten Vielvölkerstaat wiederherzustellen. Das Land selbst wurde von wirtschaftlichem Verfall und Versorgungsproblemen heimgesucht. Die Verluste unter der Bevölkerung durch Kämpfe und Krankheiten werden auf bis zu acht Millionen beziffert. Kriegsziele Das Hauptmotiv der polnischen Führung, allen voran des Staatsoberhauptes Józef Piłsudski, war die Erlangung einer möglichst starken Position gegenüber jenen Staaten, die mehr als hundert Jahre zuvor an den polnischen Teilungen beteiligt waren – also Russland, Preußen und Österreich. Dies führte nicht nur zu Auseinandersetzungen mit Russland, sondern beispielsweise auch in den Abstimmungsgebieten Schlesiens, wo sich deutsche Freikorps und polnische Nationalisten zeitweise (bis 1921) gegenüberstanden. Den größten Spielraum sah die polnische Führung im Osten. Einem möglichen Wiedererstarken Russlands, diesmal unter kommunistischer Führung, setzte Piłsudski die Idee einer von Polen dominierten Konföderation in Mittel- und Osteuropa entgegen. Als historisches Vorbild für das polnisch geführte „Zwischenmeerland“ (poln. Międzymorze) diente hierfür die polnisch-litauische Realunion, die bis 1791 bestanden hatte. Der Staatenbund sollte Polen, die Ukraine, Belarus und Litauen umfassen. Der polnische Militärhistoriker Edmund Charaszkiewicz nannte diese Politik 1940, mit Bezug auf eine aus dem Russland des neunzehnten Jahrhunderts stammende Bewegung, Prometheismus. Dieser Politik stellten sich zwar einflussreiche polnische Politiker wie Roman Dmowski entgegen, da sie einen vergrößerten polnischen Nationalstaat anstrebten, Piłsudski konnte sich allerdings durchsetzen. Die politischen Gedanken auf sowjetischer Seite waren maßgeblich vom Marxismus geprägt. Gemäß dieser Theorie würde die Revolution zuerst in den Industriestaaten Europas ausbrechen. Sie war allerdings in Russland als erste aufgetreten. Lenin folgerte daraus, dass die Weltrevolution von Russland aus auf Europa übergreifen würde, und er glaubte, dass Russland als einziger sozialistischer Staat nicht bestehen könne. Somit sah er den Export der Revolution nicht nur als Option, sondern auch als Notwendigkeit seiner Politik an. Die bestehende Instabilität in Deutschland förderte diese Ansicht. Die junge deutsche Republik erlebte bis 1920 drei Putschversuche von rechts, vier Generalstreiks und fünf Regierungschefs. Des Weiteren wurde das Reich durch separatistische Bestrebungen, gefördert durch die harten Bedingungen des Versailler Vertrages, weiter unter Druck gesetzt. Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen im Jahre 1919, die durch den Einsatz von Freikorps niedergeschlagen wurden, bestärkten die Bolschewiki in ihrem Glauben an einen bevorstehenden revolutionären Umbruch auch in anderen Teilen Europas. Zwar waren Versuche, 1918 den deutschen Kommunisten Hilfe zu schicken, fehlgeschlagen, doch erhofften sich einige Kommunisten von einem Vormarsch der Roten Armee eine Stärkung ihrer Position innerhalb Deutschlands. Durch die Erfahrungen des Bürgerkrieges lernte die kommunistische Partei ihre politischen Ziele durch militärische Methoden durchzusetzen. Dies sollte ein Leitmotiv des russischen Handelns in der Eskalation zum Krieg mit Polen werden. Generell sah sich die sowjetische Führung isoliert und im Bürgerkrieg, zuerst durch eine Intervention der Mittelmächte, dann durch das Eingreifen der Entente, von Feinden umgeben. Ihr militärisches Vorgehen gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen in den baltischen Staaten und der Ukraine hatte sie ebenso mit allen westlichen Nachbarstaaten in gewalttätige Grenzkonflikte gebracht. Als der Krieg zwischen Russland und Polen schließlich ausgebrochen war, wurde er von der russischen Führung auch als ideologische Auseinandersetzung präsentiert: „Im Westen wird das Schicksal der Weltrevolution entschieden. Über der Leiche Weißpolens verläuft die Straße zum Weltenbrand. Auf Bajonetten werden wir der arbeitenden Menschheit Frieden und Glück bringen.“ Diese Parole gab der Revolutionäre Militärrat Sowjetrusslands im Juli 1920 in einer Proklamation an Soldaten der Roten Armee aus. Verlauf 1918 Nach Beginn der Auseinandersetzungen 1918 erzielten die Polen große Erfolge und besetzten weite Landstriche der Ukraine einschließlich Kiews. Als die deutschen Soldaten unter der Führung von Max Hoffmann 1918 begannen, sich aus Mittel- und Osteuropa nach Westen zurückzuziehen, befahl Lenin der West-Armee der Roten Armee, nach Westen vorzudringen. Das Hauptanliegen dieser Operation war, durch Mittel- und Osteuropa zu ziehen, in den unabhängig gewordenen Staaten sowjetische Regierungen zu installieren und die kommunistischen Revolutionen in Deutschland und Österreich-Ungarn zu unterstützen. Polen kämpfte gegen die Tschechoslowakei um Teschen, gegen Deutschland um Posen (→ Großpolnischer Aufstand) und gegen die Ukraine um Galizien (→ Polnisch-Ukrainischer Krieg). Seit Ende der Besetzung mit Kriegsende 1918 entwickelten sich Grenzkonflikte zwischen vielen unabhängig gewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas: Rumänien kämpfte gegen Ungarn um Siebenbürgen, Jugoslawien gegen Italien um Rijeka; Ukrainer, Belarussen, Litauer, Esten und Letten bekämpften sich gegenseitig und/oder die Russen. Winston Churchill kommentierte bissig: „Der Krieg der Giganten ist zu Ende, der Hader der Pygmäen hat begonnen.“ Verlauf 1919 Vom März 1919 an berichteten polnische Nachrichtendienstquellen über sowjetische Pläne zu einer Offensive. Das polnische Oberkommando zog daher eine Präventivoffensive in Betracht. Der Plan für die Kiewer Operation sah die Zerschlagung der Roten Armee an Polens rechter Flanke vor. Das politische Ziel der Offensive war die Einsetzung einer pro-polnischen Regierung unter Symon Petljura in Kiew. Im Februar 1919 kam es zu dem ersten Zusammentreffen polnischer Truppen und Vorauseinheiten der Roten Armee. Im belarussischen Bjarosa entwickelte sich ein Feuergefecht zwischen beiden Parteien. Der Zusammenstoß stellte allerdings beiderseits eine ungeplante Aktion in Kompaniestärke dar. Beide Seiten waren zuvor gegen die ukrainischen Nationalisten unter Petljura vorgegangen. Die Rote Armee begann im März eine erfolgreiche Offensive auf Wilna und Grodno, formell zu Litauen gehörig, aber ethnisch damals mehrheitlich polnisch. Gleichzeitig griffen die Polen entlang der Memel an und nahmen die Kleinstädte Pinsk und Lida in Belarus ein. Soldaten polnischer Herkunft hatten im vergangenen Weltkrieg sowohl auf Seiten des deutschen Kaisers als auch auf Seiten des russischen Zaren gekämpft. Ebenso wurden sie durch eine Mission von französischen Offizieren in der Ausbildung ihrer Truppen unterstützt. Während sich die sowjetische Propaganda über den „bourgeoisen“ Charakter der polnischen Streitkräfte lustig machte, äußerten sich die Spitzen des Militärs im kleinen Kreis ganz anders. „Gegen uns operiert zum ersten Mal eine reguläre Armee, die von guten Technikern geführt wird“, warnte Trotzki das Zentralkomitee der Partei. Durch diese Überlegenheit konnte die polnische Armee auch das zahlenmäßige Missverhältnis ausgleichen. Sie hatte 1919 230.000 Soldaten an ihrer Ostgrenze, während die Rote Armee insgesamt 2.300.000 Soldaten umfasste, von denen allerdings viele im Bürgerkrieg im eigenen Land gebunden waren. Die Situation der jungen Sowjetmacht, die in einem Mehrfrontenkrieg gebunden war und zudem unter Hungersnöten und Revolten litt, war dadurch schwierig. Ein polnischer Vorstoß vertrieb die Bolschewiki am 19. April aus Wilna. Politisch bedeutete dies für die Polen enormen Gewinn, da dadurch auch die Hauptstadt der von Sowjetrussland installierten belarussisch-litauischen Republik in polnische Hand fiel. Der Vorstoß nach Osten ging weiter. Am 28. August setzten die Polen erstmals Panzer ein, um Babrujsk zu erobern. Damit waren sie bereits tief nach Belarus vorgedrungen. Im Oktober hielten die polnischen Truppen eine Front von Dünaburg im südlichen Lettland bis zur Desna in der nördlichen Ukraine. Die Sowjetführung befand sich während des Jahres 1919 in einer bedrängten Lage und konnte auf den Vormarsch der Polen nicht entsprechend reagieren. Der kommunistische Staat war durch die Offensiven dreier Weißer Armeen unter Denikin in Südrussland, Koltschak in Sibirien und Judenitsch im Baltikum bedroht. Lenin gelang es, die polnische Regierung durch das Versprechen großer territorialer Zugeständnisse, die fast ganz Belarus in polnische Hand gebracht hätten, zu beschwichtigen. Piłsudski selbst hatte weitere Gründe, um seine Offensive nicht weiter fortzuführen: Die Weiße Bewegung vertrat das Ziel eines geeinten, ungeteilten Russlands, was auch die neuen Nationalstaaten Mittel- und Osteuropas mit einschloss. Der polnische Staatschef wartete deshalb mit der Absicht ab, dass sich beide Bürgerkriegsparteien gegenseitig weiter schwächten. Verlauf 1920 Bis zum Jahresbeginn 1920 hatten die sowjetischen Truppen im Bürgerkrieg den Hauptteil der Weißen Armeen zerschlagen. Nur noch eine rund 20.000 Mann starke Streitmacht unter Wrangel hatte sich auf die Halbinsel Krim, fernab des russischen Kernlands, zurückgezogen. Ebenso gelang es der Führung in Moskau, sich durch Friedensverträge mit Estland und Litauen militärisch zu entlasten. Im Januar 1920 folgte eine Umgruppierung der Roten Armee. Vorgesehen war eine 700.000 Mann starke Armee entlang der Beresina zu versammeln, um eine Offensive gegen die polnischen Truppen Ende April einzuleiten. Die Rote Armee hatte damals bereits eine Stärke von nominell fünf Millionen Mann. Doch diese Übermacht täuschte. Die Truppen waren schlecht ausgebildet und teilweise unzureichend bewaffnet. Schon im Bürgerkrieg hatte sich gezeigt, dass Einheiten der Roten Armee oft gegen zahlenmäßig stark unterlegene Weiße Truppen chancenlos waren. Zwar hatte die Rote Armee einige Waffendepots der deutschen Armee und einige französische Panzer von den Weißen erbeutet, doch auf die Gesamtbewaffnung der Streitkräfte wirkte sich das kaum aus. In einem Punkt waren die Russen allerdings durch den Bürgerkrieg im Vorteil: Sie hatten bereits 1919 im Kampf gegen die Kosaken erkannt, dass im Kampf zwischen gering technisierten Armeen in den Weiten Russlands die Kavallerie ein entscheidender Faktor war. Vorbereitung in Polen Die polnische Armee ging militärtechnisch einen anderen Weg. Die meisten Offiziere hatten aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges den Schluss gezogen, dass die Kavallerie den materiellen Aufwand, den ihr Unterhalt erforderte, nicht rechtfertigte. Trotzdem ging der Aufbau der Armee schnell voran. Zu Beginn des Jahres 1920 zählte sie bereits rund 500.000 Soldaten. Die meisten hatten im Weltkrieg gedient. Es gab aber auch unerfahrene Freiwillige, darunter 20.000 Polen aus den USA, die sich der Truppe angeschlossen hatten. Ein Problem war, dass die Bewaffnung der Truppe aus verschiedenen Ländern stammte. Somit musste die Logistik der Truppen verschiedene Munitionsarten und Ersatzteilstandards bei der Versorgung berücksichtigen. Insgesamt waren die polnischen Truppen materiell besser gerüstet als die Rote Armee, weil sie mit zahlreichen Waffen der Entente ausgestattet waren, darunter auch mit moderner Artillerie und Maschinengewehren. Die deutsche Regierung verhängte für Waffenlieferungen am 20. Juli 1920 ein Embargo und erklärte Deutschland bei der kriegerischen Auseinandersetzung für neutral. Polnische Offensive Die erste nennenswerte Offensivoperation des Jahres war die Eroberung von Dünaburg am 21. Januar 1920. Die 1. und 3. Division der polnischen Armee unter Edward Rydz-Śmigły eroberten die Stadt in heftigen zweiwöchigen Kämpfen gegen die Rote Armee. Die Stadt selbst war strategisch von untergeordneter Bedeutung. Allerdings hatte die lettische Regierung die Hilfe der polnischen Streitkräfte angefordert, um die mehrheitlich lettische Stadt an ihren neuen Nationalstaat anzugliedern. Nach der Eroberung durch polnische Truppen wurde die Stadt auch an den verbündeten Staat übergeben. Somit stellte die Operation einen Gewinn politischen Prestiges für Polen dar. Im März 1920 unternahmen die polnischen Armeen zwei simultane, erfolgreiche Vorstöße in Belarus und der Ukraine. Damit wurde die Fähigkeit der Roten Armee, ihre geplante Offensive durchzuführen, erheblich gemindert. Am 24. April begannen die polnischen Streitkräfte schließlich ihre Hauptoffensive mit dem Ziel Kiew. Unterstützt wurden sie dabei von den Truppen der ukrainischen Nationalisten unter Petljura, mit dem zuvor ein Geheimabkommen und eine Militärkonvention abgeschlossen worden waren. Die polnische 3. Armee unter Rydz-Śmigły führte von Westen den Hauptstoß auf die ukrainische Hauptstadt. An ihrer südlichen Flanke drang die 6. Armee unter Wacław Iwaszkiewicz-Rudoszański in der Ukraine vor. Nördlich von der Hauptstoßrichtung führte die 2. Armee unter Antoni Listowski eine weitere Offensive durch. Zwar wurde Kiew am 7. Mai erobert, doch die eigentlichen militärischen Ziele des Unternehmens wurden verfehlt. Die Rote 12. und die Rote 14. Armee zogen sich nach einigen Scharmützeln an der Grenze schnell zurück. Den polnischen Streitkräften war es also nicht gelungen, die Truppen ihres Gegners einzuschließen und ernsthaft zu dezimieren. Dies wäre wohl nebensächlich gewesen, wenn das politische Ziel der Offensive erfüllt worden wäre. Piłsudski erhoffte sich starke Unterstützung von den ukrainischen Nationalisten, denn er wusste, dass die polnische Armee allein das große Land weder besetzen noch wirksam gegen die Rote Armee verteidigen konnte. Eine politische Kampagne in der Ukraine sollte durch Appelle an den ukrainischen Patriotismus um Unterstützung für die Streitkräfte Petljuras werben. Die Ukraine war schon seit 1917 Kriegsschauplatz, die Bevölkerung war der Kämpfe müde, und Petljura war schon einmal im Kampf gegen die Rote Armee gescheitert. Infolgedessen blieb die Resonanz auf die Rekrutierungsbemühungen gering. Die ukrainischen Nationalisten konnten nur zwei Divisionen ins Feld stellen und waren somit keine nennenswerte Hilfe. Piłsudskis Vorstoß auf Kiew war somit in jeder Hinsicht ein Pyrrhussieg. Militärisch gesehen standen die polnischen Truppen in einer sehr exponierten Position fern ihrer Nachschubbasen in Zentralpolen. Die roten Truppen waren durch ihren frühen Rückzug intakt geblieben und konnten sich zu einer Gegenoffensive neu formieren. Politisch gesehen war die Operation ein voller Misserfolg. Nicht nur fehlte die Unterstützung der Ukrainer, sondern auf internationalem Parkett konnte Sowjetrussland Polen als Aggressor darstellen. Dies führte dazu, dass die Entente, allen voran Frankreich, weniger Bereitschaft zeigte, Polen materiell zu unterstützen. Am 30. Mai 1920 veröffentlichte der ehemalige General Alexei Brussilow, ein bekannter Veteran des Ersten Weltkrieges, in der Prawda die Aufforderung „An alle früheren Offiziere, wo immer sie auch sind“, in der er sie ermutigte, alte Kränkungen zu vergessen und sich der Roten Armee anzuschließen. Brussilow betrachtete es als die patriotische Pflicht eines russischen Offiziers, der bolschewistischen Regierung Hilfe zu leisten, die seiner Meinung nach Russland verteidigte. Auch Lenin entdeckte den Nutzen des russischen Patriotismus. So wandte sich ein Aufruf des Zentralkomitees an die „verehrten Bürger Russlands“, die sowjetische Republik gegen polnische Anmaßung zu verteidigen. Sowjetische Gegenoffensive Die Rote Armee hatte ihre Truppen bereits zu Beginn des Jahres für eine Offensive in den ukrainischen Grenzgebieten gruppiert. Um Kiew stand die Südwestliche Armeegruppe unter Jegorow. Seine Front umfasste die 12. und 14. Rote Armee. Zusätzlich war ihr die 1. Rote Reiterarmee unter Budjonny als Offensivkapazität zugewiesen worden. In Belarus hatten die Bolschewiki die Westliche Armeegruppe aufgestellt. Sie stand unter dem Befehl von Tuchatschewski. Sie umfasste die 3., 4., 15. und 16. Armee. Ebenso verfügte sie mit dem 3. Kavalleriekorps über eine berittene Offensivformation. Bei der Gegenoffensive zeigte sich, dass die Entscheidung Jegorows, sich zurückzuziehen und die polnischen Armeen sozusagen ins Leere laufen zu lassen, richtig war. Am 15. Mai startete er seine Gegenoffensive. Er ließ seine 12. Armee nördlich, seine 15. Armee südlich von Kiew vorgehen. Unterstützt wurde sein Angriff von der 1. Kavalleriearmee südlich von Kiew. Die Polen hatten nicht die Kräfte, beide Seiten gleichzeitig ausreichend zu verteidigen. Ebenso fehlte ihnen die Kavallerie, die sie beim Aufbau ihrer Armee nicht berücksichtigt hatten. Am 12. Juni wechselte Kiew wieder den Besitzer. Die polnischen Truppen schafften es allerdings, sich trotz der sowjetischen Zangenbewegung zurückzuziehen, und entkamen ihrerseits der Vernichtung. Die Westliche Armeegruppe der Roten Armee blieb währenddessen nicht untätig. Sie begann ihren Vorstoß am 14. Mai. Dieser Angriff scheiterte jedoch. Eine Wiederaufnahme der Angriffe nach Verstärkungen am 4. Juli brachte dann den gewünschten Erfolg. Am 11. Juli eroberten Tuchatschewskis Soldaten Minsk. Die polnischen Truppen zogen sich vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee zurück, doch ihre Defensivstrategie erwies sich als Nachteil. Analog der Westfront im Ersten Weltkrieg versuchten die Polen, eine durchgehende Verteidigungslinie durch eingegrabene Infanterie zu schaffen. Die Front gegen Tuchatschewski war jedoch 300 km breit. Die Polen hatten 120.000 Soldaten und 460 Geschütze zur Verfügung. Ein koordiniertes Stellungssystem hätte mehr Soldaten, mehr Artillerie und vor allem strategischer Reserven bedurft, die man an kritischen Punkten einsetzen konnte. Somit konnten die Roten die Stärke ihrer Kavallerie ausspielen, die sich gegen eine überdehnte gegnerische Front als erfolgreiche Offensivwaffe erwies. Durch den Mangel der polnischen Armee an berittenen Einheiten waren auch etwaige Gegenangriffe zum Scheitern verurteilt, da sie nicht in der nötigen Geschwindigkeit ausgeführt werden konnten. Tuchatschewskis Front bewegte sich im Juli am Tag durchschnittlich dreißig Kilometer auf das polnische Kernland zu. Am 14. Juli fiel Wilna, wenige Tage später Grodno. Schließlich eroberte die Rote Armee am 1. August Brest-Litowsk. Damit standen die roten Truppen nur noch 100 Kilometer östlich der polnischen Hauptstadt Warschau. Im Süden war währenddessen Jegorows westliche Armeegruppe nicht minder erfolgreich gewesen. Seine Truppen hatten die Polen aus der Ukraine gedrängt und waren nach Südpolen vorgerückt. Im Juni begannen sie in der Lemberger Operation mit der Belagerung des Industriezentrums Lemberg in Ostgalizien. Der Rest seiner Front drehte sich nordwestlich, um Tuchatschewski beim Angriff auf Warschau zu unterstützen. Schlacht bzw. „Wunder“ an der Weichsel Bald warf die Rote Armee die polnischen Truppen bis ins polnische Kernland zurück, so dass eine Niederlage und Besetzung Polens erwartet wurde. Am 10. August überquerte das sowjetische III. Kavalleriekorps unter Gaik Bschischkjan die Weichsel nördlich von Warschau. Diese Bewegung sollte nach dem Offensivplan Warschau von Danzig, dem einzigen offenen Hafen für die Verschiffung von Waffen und Nachschub, abschneiden. Derweil ließ der sowjetische Befehlshaber seine Infanterie der 16. und 3. Armee im Zentrum Druck auf die Hauptstadt ausüben. Tuchatschewski war fest der Ansicht, dass sein Offensivplan mit dem Einbruch der Kavallerie in die linke Flanke der Polen das Schicksal der Hauptstadt besiegelt hätte. Der sowjetische Offensivplan erwies sich aber als fehlerhaft. Die Ursachen hierfür sind unter anderem in den Erfahrungen des Bürgerkrieges zu suchen. In den innerrussischen Kämpfen war die Rote Armee gegen Rebellen angetreten, deren Stärke im Rückzug abnahm. Je weiter die feindlichen Weißen Armeen von ihrem Ziel, der Hauptstadt Moskau, abgedrängt wurden, desto mehr bröckelte der innere Zusammenhalt ihrer Truppen. Die polnische Armee hingegen wurde im Rückzug stärker, da ihre Nachschubwege kürzer wurden. Des Weiteren bewirkte die Verteidigung der eigenen Hauptstadt eine gesteigerte Kampfmoral unter der polnischen Armee. Tuchatschewski rechnete damit, gegen einen demoralisierten Gegner vorzugehen. Er traf jedoch auf eine gut organisierte und hochmotivierte Armee. Nach Ansicht des italienischen Militärattachés in Warschau, Curzio Malaparte, ging die sowjetische Führung zudem von falschen politisch-organisatorischen Voraussetzungen aus, weil sie gehofft hatte, im belagerten Warschau würde ein Aufstand des Proletariats und der jüdischen Minderheit ihrer Seite helfen. Ein noch gravierenderer Fehler ist im höchsten Kommando der sowjetischen Armee zu suchen. Während Tuchatschewski mit seiner Nordwestfront auf Warschau vorrückte, wurde der Südwestfront unter Jegorow der Angriff auf Lwów befohlen. Hätte man beide Fronten auf die polnische Hauptstadt konzentriert, hätten die Russen die doppelte Stärke inklusive eines weiteren Kavalleriekorps zur Verfügung gehabt. So wurde nun Tuchatschewskis südliche Flanke vollkommen entblößt, da er sie aus eigenen Kräften decken musste und keinen Kontakt zur Südwestfront hatte. Für diese Entscheidungen wird von einigen Historikern Josef Stalin verantwortlich gemacht, der als Politkommissar der Südwestfront großen Einfluss auf deren Ziele hatte. Bereits vier Tage nach dem Übergang der sowjetischen Kavallerie begann der polnische Gegenangriff. Piłsudski hatte eine Zangenbewegung geplant. Am 14. August griff die polnische 5. Armee unter Władysław Sikorski nördlich von Warschau an. Ihr gegenüber standen Gais III. Kavalleriekorps und die 3. und 15. Armee der Roten Armee. Trotz dieser zahlenmäßigen Unterlegenheit gelang es den Polen, den russischen Vorstoß zurückzuschlagen, und nach wenigen Tagen ergriffen sie selbst die Offensive. Am 16. August startete die polnische 4. Armee unter Piłsudski selbst einen Angriff südlich von Warschau. Die Truppen waren während des sowjetischen Vormarsches eilig mit Freiwilligen verstärkt worden. Die Zangenbewegung erwies sich als erfolgreich, als Piłsudskis Truppen zwei Tage später das rückwärtige Gebiet der Russen aufrollten. Tuchatschewski befahl am selben Tag den Rückzug seiner Soldaten, doch war es für die Schlüsseleinheiten zu spät. Mit dem III. Kavalleriekorps verlor die Nordwestfront ihre größte Offensivkraft und auch zahlreiche Infanteriedivisionen blieben im Kessel zurück. In die polnische Geschichte ging diese Schlacht als Wunder an der Weichsel ein. Dieser Begriff wurde allerdings von den politischen Gegnern Piłsudskis geprägt, die ihm damit das Verdienst an der Verteidigung der Hauptstadt absprechen wollten. Piłsudski bezeichnete die Schlacht selbst als eine Art „Prügelei“ (polnisch bijatyka). Seine Strategie wurde nach seinen eigenen Aussagen vollständig von den Umständen diktiert. Er vermutete die Hauptkräfte der Bolschewiki vor seinem Frontabschnitt. Diese standen allerdings gegenüber Sikorskis 5. Armee im Norden. Sikorski konnte sich allerdings ohne größere Schwierigkeiten gegen diese durchsetzen. Als Piłsudski seine 4. Armee vorstoßen ließ, traf sie auf viel schwächeren Widerstand als erwartet und Piłsudski besuchte persönlich die Frontlinie, da er es nicht glauben konnte, nur gegen schwache Kräfte vorzugehen. Diese strategische Fehleinschätzung brachte ihm aber einen entscheidenden Vorteil, da er nun mit seiner stärksten Armee praktisch ohne Widerstand zu den Rückzugslinien der Roten Armee vorstoßen konnte. Zweite polnische Offensive Die Schlacht um Warschau war zwar ein Wendepunkt des Krieges, sie entschied ihn aber nicht endgültig. Im Westen glaubte man, dass der kommunistische Staat seine Reserven mobilisieren könne, um die Polen auch nach der Niederlage von Warschau förmlich zu überrennen. Der britische Premierminister David Lloyd George sagte hierzu: „Wenn Rußland Polen zermalmen will, kann es das tun, wann immer es ihm gefällt.“ Die sowjetische Südwestliche Armeegruppe hatte sich zwar von Lwów/Lemberg zurückgezogen. Doch sie stand immer noch auf polnischem Gebiet und war durch die Kavalleriearmee unter Budjonny noch immer eine ernstzunehmende Offensivstreitmacht. Am 25. August 1920 begann sie vom Oberlauf des Bug wieder in zwei Kolonnen westwärts zu marschieren. Die polnischen Streitkräfte waren aber auf dieses Manöver vorbereitet. General Sikorski teilte seine 3. Armee in zwei Gruppen auf, die nördlich und südlich der vorstoßenden Kavalleriearmee der Roten Armee vorrückten. Bemerkenswert ist, dass beide polnische Stoßkeile mit einer Kavalleriebrigade beziehungsweise einer Kavalleriedivision ausgestattet waren. Die Polen hatten also schnell von der sowjetischen Taktik der berittenen Vorstöße gelernt. Am 30./31. August 1920 gelang ihnen im Raum zwischen Komarów und Zamość die Einschließung der sowjetischen Kavalleriearmee. Die Truppen der Bolschewiki wurden in einem Schlauch von nur 20 km eingeschlossen. Zwar gelang ihnen drei Tage später der Ausbruch, doch verzeichnete die Armee, durch den engen Belagerungsring ihrer Initiative beraubt, große Verluste. Darunter fiel auch Budjonnys Kommandostab, der von polnischer Artillerie zerstört wurde, als der sowjetische Befehlshaber nicht anwesend war. Nach ihrem Ausbruch konnte sich die Kavalleriearmee nicht mehr konsolidieren und zog sich bis nach Schytomyr in der heutigen Ukraine zurück. Des Weiteren kam es bei dieser Auseinandersetzung zu einem der letzten reinen Kavalleriegefechte in Europa. Nach diesem Gefecht, bei dem polnische Reiter ihre sowjetischen Gegner am Ausbruch hinderten, ging diese Operation als Schlacht von Komarów in die polnische Militärgeschichte ein. Weiterhin wird auch von der Schlacht von Zamość gesprochen, was dem Gesamtumfang der Gefechte besser gerecht wird. Neben der Kavalleriearmee blieb auch die Westliche Armeegruppe auf polnischem Boden. Sie waren zwar bei Warschau besiegt worden, allerdings konnte Tuchatschewski am Njemen eine Verteidigungslinie aufbauen. Hier wurden, in der Hoffnung auf eine neue Offensive gegen Warschau, seine Truppen aufgefrischt. So hatte er Anfang September wieder bereits 113.000 kampfbereite Soldaten unter seinem Kommando; diese Zahl lag nur wenig unter seiner Truppenstärke an der Weichsel. Piłsudski versammelte die 4. und die 2. polnische Armee, um seinen Gegner erneut zu schlagen. Der polnische Plan für die am 20. September 1920 eingeleitete Schlacht am Njemen war einfach, aber erfolgreich. Piłsudski entfaltete seine Truppen, während die Rote Armee noch dabei war, ihre Kräfte wiederherzustellen. Während er mit seiner Infanterie das feindliche Zentrum angriff, gelang es seiner Kavallerie, die Russen an ihren Flanken zu überflügeln. Tuchatschewski musste sich eine Woche nach dem Beginn der Schlacht zurückziehen, um der Einkesselung durch die polnischen Truppen zu entgehen. Durch den Erfolg der beiden Schlachten wurden die sowjetischen Armeen zwar nicht vernichtet, aber desorganisiert und stark dezimiert. Die polnische Armee stieß nun mit derselben Geschwindigkeit nach Osten vor, mit der die Russen im Sommer gegen Warschau vorgerückt waren. Am 18. Oktober rückten polnische Truppen in die belarussische Hauptstadt Minsk ein. Zuvor hatte die polnische Führung noch im kurzen Polnisch-Litauischen Krieg das Gebiet um Vilnius (polnisch Wilno) unter ihre Kontrolle gebracht. Die litauische Hauptstadt war von Sowjetrussland in Folge des Litauisch-Sowjetischen Krieges mit Friedensvertrag vom 12. Juli 1920 an Litauen zurückgegeben worden und wurde international als litauisch anerkannt, insbesondere durch den Vertrag von Suwałki vom 7. Oktober. Piłsudski brachte seine Heimatstadt trotzdem durch einen Trick unter seine Kontrolle: Der Kommandeur der 1. Litauisch-Weißrussischen Division der polnischen Armee, Lucjan Żeligowski, meuterte angeblich spontan am 12. Oktober mitsamt seiner gesamten Einheit. Daraufhin marschierte er nach einem kurzen Grenzgefecht in die Stadt ein. Er proklamierte eine Republik Mittellitauen. Dieses eher fiktive Gebilde wurde dann nach einem Plebiszit 1922 an Polen angegliedert. Politik und Diplomatie Polen hatte unter nicht direkt beteiligten europäischen Staaten nur wenige Verbündete. Ungarn bot ein Corps aus 30.000 Kavalleristen an, doch die tschechoslowakische Regierung erlaubte den Transit nicht, so dass nur einige Züge mit Waffenlieferungen in Polen eintrafen. Während des Krieges verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Polen und Litauen. Der baltische Staat beharrte im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf seiner politischen Unabhängigkeit, was den Plänen einer polnisch dominierten Föderation widersprach. Des Weiteren drängte Polen auf die Einverleibung des mehrheitlich polnisch besiedelten Südostens Litauens, einschließlich der historischen litauischen Hauptstadt Vilnius. Mehr Erfolg hatten die polnischen Integrationsbestrebungen mit Lettland. Die dortige provisorische Regierung schloss sich mit Polen gegen Russland zusammen und führte Anfang 1920 bereits gemeinsame Militäroperationen durch. Frankreich, das eine Politik des Zurückdrängens des Kommunismus verfolgte, entsandte 1919 eine 400 Mann starke Gruppe nach Polen. Sie bestand hauptsächlich aus französischen Offizieren, jedoch gab es auch einige britische Offiziere, die von Lieutenant General Sir Adrian Carton de Wiart geleitet wurden. Die französischen Bemühungen zielten darauf ab, die Organisation und Logistik der polnischen Armee zu verbessern. Unter den französischen Offizieren befand sich auch der spätere französische Präsident Charles de Gaulle, der während des Krieges den höchsten polnischen Militärorden, den Virtuti Militari, bekam. Zusätzlich schickte Frankreich die so genannte Blaue Armee nach Polen: eine Truppe, die hauptsächlich aus polnischstämmigen und einigen internationalen Freiwilligen bestand und im Ersten Weltkrieg unter französischem Kommando gekämpft hatte. Sie wurde vom polnischen General Józef Haller angeführt. Diplomatische Bemühungen 1919 Im Jahr 1919 wurden mehrere Versuche zu Friedensverhandlungen zwischen Polen und Sowjetrussland unternommen. Sie scheiterten aber, da sich beide Seiten noch militärische Gewinne versprachen und deshalb zu wirklichen Zugeständnissen nicht bereit waren. Diplomatische Bemühungen 1920 Die polnische Regierung nutzte die relative Ruhe, die nach den ersten Kampfhandlungen eintrat, intensiv, um durch Diplomatie in der Ukraine Fuß zu fassen. Ein Haupterfolg war die Einigung mit dem ukrainischen Nationalistenführer Symon Petljura, den die Polen kurz zuvor noch bekämpft hatten. Petljura war vor dem Druck der Bolschewiki mit seinen verbliebenen Truppen aus der Ukraine nach Polen geflohen. Petljura akzeptierte die territorialen Gewinne Polens auf Kosten der Ukraine und stimmte einer großzügigen Grenzregelung zu. Die polnische Seite versprach im Gegenzug militärische Hilfe und die Wiedereinsetzung von Petljuras Regime im Falle eines Erfolgs gegen Sowjetrussland. Dies war ein großer Schritt in Richtung der polnischen Konföderationspläne; im Falle eines militärischen Sieges sollte die Ukraine als mit Polen verbündeter Pufferstaat gegen Russland dienen. Petljura ergriff damit die letzte Chance, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine wiederherzustellen. Beide Politiker ernteten in den eigenen Lagern heftige Kritik. Piłsudski wurde von Dmowskis Nationaldemokraten angegriffen, die die Unabhängigkeit der Ukraine vollkommen ablehnten. In der ukrainischen Bevölkerung war die Annäherung an Polen weitgehend unpopulär. Die polnische Armee hatte 1919 noch gegen die ukrainischen Nationalisten Krieg geführt. Die Ukrainer in Galizien, deren Staat nach der militärischen Besetzung in Polen eingegliedert worden war, sahen in dem Abkommen einen regelrechten Verrat ihrer Interessen. So kam es Mitte 1920 sogar zu einer Spaltung der ukrainischen Nationalbewegung. Petljuras Soldaten blieben loyal im Bündnis mit Polen, während die galizischen Ukrainer auf die Seite der Roten Armee überwechselten. Als sich das Blatt gegen Polen wendete, begann der politische Einfluss Piłsudskis zu schwinden, während seine Gegner, einschließlich Roman Dmowski, an Einfluss gewannen. Piłsudski gelang es jedoch, seinen Einfluss, insbesondere über das Militär, im letzten Moment wiederzuerlangen – als die sowjetischen Truppen bereits vor Warschau standen, die politische Führung in Panik geriet und die Regierung unter Leopold Skulski Anfang Juli zurückgetreten war. Währenddessen wuchs das Selbstbewusstsein der sowjetischen Führung. Es zeichneten sich der Beginn des sowjetischen Vordringens und die Expansion der bolschewistischen Revolution nach ganz Europa ab. Auf Befehl der Kommunistischen Partei Russlands (KPR (B)) wurde am 28. Juli in Białystok eine polnische Marionetten-Regierung installiert, das „Provisorische Polnische Revolutions-Komitee“ (). Sie sollte die Verwaltung der durch die Rote Armee eroberten polnischen Gebiete übernehmen. Diese kommunistische Gruppe hatte so gut wie keinen Rückhalt in der polnischen Bevölkerung. Im Juli 1920 erklärte Großbritannien, dass es große Mengen überschüssigen militärischen Materials aus dem Ersten Weltkrieg zur Unterstützung nach Polen schicken werde. Doch ein drohender Generalstreik des Trades Union Congress, der Einwände gegen die Unterstützung der Polen durch Großbritannien erhob, führte dazu, dass dieses Vorhaben nie verwirklicht wurde. Der britische Premierminister David Lloyd George war von der Unterstützung der Polen selbst nie überzeugt gewesen, sondern wurde von dem rechten Flügel seines Kabinetts, allen voran Lord Curzon und Winston Churchill, dazu gedrängt. Am 11. Juli 1920 stellte Großbritannien Sowjetrussland ein Ultimatum, in dem es ein Ende der Feindseligkeiten gegen Polen und die Russische Armee (die Weiße Armee in Süd-Russland mit Pjotr Wrangel als Oberbefehlshaber) forderte sowie die Anerkennung der Curzon-Linie als einer vorübergehenden Grenze zu Polen, solange nicht eine dauerhafte Grenzziehung verhandelt werden könne. Im Falle der sowjetischen Weigerung drohte Großbritannien damit, Polen mit allen möglichen Mitteln zu unterstützen (tatsächlich waren diese Mittel wegen der politischen Lage in Großbritannien jedoch eher begrenzt). Am 17. Juli lehnte Sowjetrussland die britischen Forderungen ab und machte seinerseits ein Gegenangebot zur Verhandlung eines Friedensvertrages direkt mit Polen. Die Briten antworteten mit der Drohung, die laufenden Gespräche über ein Handelsabkommen zu beenden, wenn Sowjetrussland die Offensive gegen Polen weiter vorantriebe. Diese Drohung wurde ignoriert. Der drohende Generalstreik kam Lloyd George als Vorwand für den Rückzug von seinen Versprechungen gelegen. Am 6. August 1920 verkündete die Labour Party, dass britische Arbeiter niemals als Verbündete Polens an dem Krieg teilnehmen würden, und drängte Polen dazu, einen Frieden auf der Grundlage sowjetischer Bedingungen zu akzeptieren. Polen musste weitere Rückschläge aufgrund der Sabotage von Waffenlieferungen erleiden, weil Arbeiter in Österreich, der Tschechoslowakei und Deutschland den Transporten die Durchfahrt verwehrten. Auch Litauen war überwiegend anti-polnisch eingestellt und schlug sich bereits im Juli 1919 auf die sowjetische Seite. Die litauische Entscheidung war einerseits getragen von dem Wunsch, die Stadt Vilnius und die angrenzenden Gebiete in den litauischen Staat zu inkorporieren, und andererseits von dem Druck, den die sowjetische Seite auf Litauen ausübte, nicht zuletzt durch die Stationierung großer Truppenverbände der Roten Armee nahe der litauischen Grenze. Vertrag von Riga Nach den Siegen der polnischen Armee in den Feldzügen nach der Schlacht von Warschau begannen erste Verhandlungen, um den Kriegszustand zu beenden. Abgeschlossen wurden sie am 18. März 1921 mit dem Friedensvertrag von Riga. Folgen des Krieges Für Polen Innenpolitik Im Inneren stärkte der Krieg vor allem Marschall Piłsudskis populäre Stellung als „Vater der Unabhängigkeit“. Er konnte allerdings die ökonomischen Probleme seines Landes in den Folgejahren nicht lösen und wandte sich 1922 von der Politik ab. Ebenso wurde die beherrschende Stellung des Militärs im jungen Nationalstaat durch den Krieg festgeschrieben. Diese nutzte Piłsudski, um sich beim Mai-Umsturz 1926 wieder an die Macht zu bringen. Dabei schloss er viele seiner damaligen Mitstreiter innerhalb des Militärs aus, die seinen Staatsstreich nicht mittragen wollten. Der Marschall führte bis 1935, zumeist ohne politisches Amt, als einflussreichste Größe der Politik das Regiment im Staat. Da Polen mit den enormen Gewinnen aus dem Krieg gegen Russland territorial saturiert war, stützte er sein Regime auf die Sanacja-Ideologie (dt.: „Gesundung“). Diese hatte die moralische und wirtschaftliche Gesundung des Staates unter autoritärer Führung zum Ziel. Dies führte zur rigiden Unterdrückung politischer Gegner und nationaler Minderheiten, so etwa der Ukrainer und Belarussen, die gerade durch die Annexionen des Krieges in den polnischen Staat einverleibt worden waren. Deren nationale Identität war zur Zeit des Krieges schwach entwickelt, denn die Mehrheit der Bevölkerung definierte sich mehr über religiöse oder regionale Identitäten. Die Polonisierungsbestrebungen der späteren polnischen Regierung stießen trotzdem auf starken Widerstand. Außenpolitik Außenpolitisch hatte der Krieg für Polen ebenso weitreichende Folgen. Die junge polnische Republik hatte ihr Staatsgebiet erheblich ausweiten können. Mit dem Zuwachs an litauischem Territorium (Wilna-Gebiet, 1921) rückte das Ziel näher, die Grenzen von 1772 wiederherzustellen. Die Beziehungen zu Litauen sanken hingegen auf einen Tiefpunkt herab; die litauische Geschichtsschreibung und das kollektive Bewusstsein haben dieses Trauma bis heute nicht verwunden. Das Verhältnis zur britischen Regierung unter David Lloyd George war gestört, wobei die britische Seite selbst gespalten war. Eine Gruppe unter Winston Churchill wollte Polen unterstützen, während der Regierungschef selbst dagegen eintrat, da ihm Piłsudski zu wenig die Interessen der Entente berücksichtigt hatte. Schon während des Krieges wuchsen die polnischen Beschwerden über die mangelnde Unterstützung ihrer Verbündeten. So schrieb der polnische Premierminister Ignacy Jan Paderewski anklagend an die britische Regierung im Oktober 1919: „Die Versprechungen des Herrn Lloyd George zur Unterstützung unserer Armee vom 27. Juni sind nicht zustande gekommen.“ Ebenfalls waren die Polen von Frankreich enttäuscht, da sie sich mehr materielle Hilfe versprochen hatten. Der Chef der französischen Militärmission Maxime Weygand wurde infolgedessen von den Entscheidungen ausgeschlossen und regelrecht vorgeführt, da er der polnischen Sprache nicht mächtig war. Dies hielt die französische Regierung nicht davon ab, ihn bei seiner Rückkehr als Helden zu feiern, wodurch sie unter Alexandre Millerand innenpolitisch Prestige gewinnen konnte. Infolgedessen wurden die polnisch-französischen Beziehungen auch ein Jahr später mit einem Staatsbesuch Piłsudskis normalisiert. Gegenüber der Sowjetunion zementierte der Krieg einen unüberwindbaren Gegensatz. Dieser förderte einen Revanchegedanken innerhalb der politischen Führungen. So sicherte sich der auch am Polnisch-Sowjetischen Krieg beteiligte Stalin im geheimen Zusatzprotokoll des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 die Gebiete, die 1920 den Polen übergeben worden waren. Zur Rechtfertigung der Curzon-Linie als sowjetischer Westgrenze schrieb Stalin 1944 dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, dass der Friedensvertrag von Riga Sowjetrussland „in schwerer Stunde aufgezwungen“ worden sei. Für andere Staaten In Sowjetrussland verstärkte der Krieg gegen Polen zusammen mit dem Russischen Bürgerkrieg die wirtschaftliche Krise. Diese konnte durch den Aufbau der Plan- und Kommandowirtschaft unter Lenin nicht beseitigt werden, sondern wurde nur noch verschlimmert. Somit waren beide Kriege ein Faktor für die kurzzeitig pragmatischere Neue Ökonomische Politik der Sowjetunion zwischen 1921 und 1928. Lenin brandmarkte seine eigene vormals verfolgte Politik als Kriegskommunismus. Doch der Ausgang des Krieges hatte nicht nur Bedeutung für Polen, sondern für das politische Klima in ganz Europa. Die Niederlage der Roten Armee bei Warschau konnte das Vordringen des Kommunismus nach Westen stoppen, so dass Sowjetrussland seine Hoffnungen, die Weltrevolution über die „Leiche Polens“ nach Westeuropa exportieren zu können, vorerst aufgeben mussten. Der britische Botschafter in Berlin und Leiter der Mission der Entente in Polen, Lord D’Abernon, fasste seine Wahrnehmung des Konflikts mit folgenden Worten zusammen: Inwieweit sich die Expansionspläne der Sowjetunion auf ganz Europa erstreckten, ist unter heutigen Historikern umstritten. Dagegen gab es in Deutschland rechtsextreme, völkische Kreise, die den Krieg ganz anders interpretierten, um ihre antisemitische Propaganda zu verbreiten. Sie bedienten sich hierbei des rassistischen Klischees der Gleichsetzung zwischen Judentum und Sowjetsystem. Der Krieg hatte auch Auswirkungen auf die linken Parteien Europas. Gemäßigte sozialistische Parteien wandten sich vom revolutionären Experiment in der Sowjetunion ab, sobald die öffentliche Meinung sie bei der Schlacht um Warschau als Aggressor ansah. Revolutionäre Gruppierungen wurden durch den offensichtlichen Misserfolg des Exports der Revolution gedämpft. So schrieb die KPD-Politikerin Clara Zetkin anlässlich des Friedens von Riga an Lenin: Die ukrainischen Gebiete wurden durch den Frieden von Riga auf mehrere Staaten verteilt, Galizien hingegen unter polnischer Flagge vereint. Belarus gab Gebiete ab. Nachdem Polen den östlichen, größeren Teil der Ukraine den Bolschewiki überlassen musste, konnten diese dort ihre Herrschaft weiter festigen. Die ukrainische Nationalbewegung wurde durch den Verlauf des Krieges beendet. Mehrere Bauernaufstände wurden mit überlegener militärischer Gewalt durch die Rote Armee niedergeschlagen; besonders Bauern aus der westlichen Ukraine, die oft noch Bindungen nach Polen oder den nun polnischen Teil hatten, waren schweren Repressalien ausgesetzt. Viele der ersten Insassen der Gulags waren neben Balten Ukrainer. Erst die durch die Kollektivierung ausgelöste Hungersnot von 1933 konnte den letzten Widerstand gegen die Sowjetisierung brechen. Opfer des Krieges Über das Schicksal der Kriegsgefangenen hat es bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1990 keine offene Diskussion gegeben. Beide Staaten machten während des Krieges eine wirtschaftliche Krise durch und waren oft nicht in der Lage, ihre eigene Bevölkerung angemessen zu versorgen. Aus diesem Grund war die Versorgung der Kriegsgefangenen oft unzureichend. Tausende Gefangene beider Seiten starben an der Spanischen Grippe, die nach dem Weltkrieg global wütete. Im polnischen Internierungslager in Tuchola starben bspw. 2561 Gefangene im Zeitraum Februar von Mai 1921. In den polnischen Internierungslagern starben infolge von Epidemien, Unterernährung und Unterkühlung laut gemeinsamen polnisch-russischen wissenschaftlichen Untersuchungen insgesamt von 16.000–17.000 (polnische Schätzung) bis 18.000–20.000 (russische Schätzung) der auf 110.000 bis 157.000 geschätzten sowjetischen Kriegsgefangen. Die Anzahl der polnischen Soldaten in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in den Jahren 1919–1922 wird auf ca. 60.000 geschätzt. Auch die militärischen Einheiten handelten äußerst brutal. Beide Seiten versuchten tatsächliche oder erfundene Verbrechen der Gegenseite propagandistisch auszuschlachten, so dass es schwerfällt, zwischen Mythos und Verbrechen zu unterscheiden. Einige Fakten sind allerdings heute zweifelsfrei belegt. Die polnische Armee erhielt von der Regierung die Order, jegliche Sympathisantentätigkeit gegenüber den Kommunisten zu unterbinden. Dies stellte einen Freibrief zur Gewaltanwendung dar, der vor allem die ukrainische und belarussische Bevölkerung hart traf. Bei einem exemplarischen Fall wurde im April 1919 bei Vilnius eine junge Frau, angeblich kommunistische Sympathisantin von polnischen Truppen getötet, ihre Leiche verstümmelt und öffentlich zur Schau gestellt. Doch auch auf sowjetischer Seite kam es zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und den Kriegsgegner. Die Rote Armee praktizierte auch hier ihre im Bürgerkrieg angewandte Methode der Geiselnahme von Zivilisten, um entweder die örtliche Bevölkerung zur Kooperation zu bewegen oder um mögliche Freischärler abzuschrecken. In einem Fall wurden diese Geiseln sogar zu militärischen Übungszwecken mit Säbeln ermordet. Des Weiteren nahmen die Bolschewiki keine Gefangenen, wenn sie keine Möglichkeit sahen, diese nach dem Gefecht entsprechend „sicher“ zu verwahren. Kurz vor dem Rückzug aus Lida ermordeten Soldaten der Roten Armee sämtliche polnischen Gefangenen in der Stadt. Bei diesem Vorfall kam es auch zu Leichenschändungen. Als exemplarischer Fall sei Wilna angemerkt. Während der sowjetischen Besatzung von Juli bis Oktober 1920 wurden 2.000 Bürger getötet, vor allem durch die Tscheka. Durch die polnischen Besatzungstruppen im April 1920 hatten 65 Einwohner der Stadt den Tod gefunden. Die Einwohnerzahl der Stadt hatte 1919 rund 123.000 betragen. Es gab aber auch Orte wie Węgrów, in denen die Besatzung durch die roten Truppen friedlich verlief. Besonders hart traf es die jüdische Gemeinde, die von beiden Seiten als Feind angesehen wurde. Die Polen waren misstrauisch gegenüber der städtischen Intelligenzija, der viele Juden angehörten. Diese bekam deshalb die staatlich sanktionierte Gewalt stärker zu spüren. Die Kommunisten verdächtigten reiche jüdische Bürger und auch jüdische Kleinhändler und Handwerker der Sympathie für ihre Gegner. Dazu kamen noch Pogrome der lokalen Bevölkerung, die oft von den Krieg führenden Parteien gefördert wurden. So ist ein Fall in Łuków belegt, bei dem polnische Truppen aktiv an einem Pogrom beteiligt waren. Die Bevölkerung plünderte jüdische Geschäfte und der örtliche Rabbi wurde in einem Streit mit einem polnischen Offizier verletzt. Als demütigende Maßnahme zwangen die polnischen Soldaten die jüdische Bevölkerung, die öffentlichen Latrinen zu reinigen. Die ukrainischen Verbündeten der Polen unter Petljura werden des Weiteren für eine große Zahl an Pogromen und Massenmorden gegen die jüdische Bevölkerung verantwortlich gemacht. Während Petljura antisemitische Gewalt zwar verbal zurückwies, aber faktisch seine Untergegeben bei Gewalttaten gegen Juden gewähren ließ, gingen die Offiziere der Roten Armee scharf gegen antisemitische Gewalt vor. Die Täter mussten mit empfindlichen Sanktionen bis hin zur Todesstrafe rechnen, so dass antisemitische Exzesse auf sowjetischer Seite durchschnittlich weniger Todesopfer forderten. Abschließend lässt sich sagen, dass der Umfang der staatlichen Repression, Massenhinrichtungen, Plünderungen und Pogrome bis heute nicht ausreichend quantifiziert ist. Der Historiker Reinhard Krumm schreibt von 60.000 getöteten Juden bei über 1.200 Pogromen. Schätzungen über die militärischen Verluste belaufen sich auf 431.000 Soldaten für die Rote Armee in beiden Kriegsjahren. Die polnischen Truppen verloren 1920 202.000 Soldaten, wobei diese Zahl sowohl Verwundete, Tote als auch Gefangene umfasst. Siehe auch Polnisch-ukrainische Beziehungen Sowjetische Besetzung Ostpolens (1939–1941) Film und Fernsehen 1920. Wojna i miłość (1920. Krieg und Liebe, polnische Fernsehserie 2010/11, 13 Episoden, mit Mirosław Baka als Józef Piłsudski) 1920 – Die letzte Schlacht (1920 Bitwa Warszawska, POL 2011, Regie: Jerzy Hoffman) Literatur Adam Zamoyski: Warsaw 1920: Lenin’s failed conquest of Europe. Harper Press 2008. Adam Zamoyski: The Battle for the Marchlands, Boulder: East European Monographs. Columbia University Press, 1981 (über den Krieg zwischen Russland und Polen 1919 bis 1920). Norman Davies: White Eagle, Red Star, the Polish-Soviet War, 1919–20. Pimlico, London 2003, ISBN 0-7126-0694-7. God’s Playground. A History of Poland. Bd. 1. The Origins to 1795; Bd. 2. 1795 to the Present. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-925339-0, ISBN 0-19-925340-4. Stephan Lehnstaedt: Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa. C. H. Beck Verlag, München 2019, ISBN 978-3-406-74022-0. Evan Mawdsley: The Russian Civil War. Birlinn Limited, Edinburgh 2005, ISBN 1-84341-024-9. Richard Pipes: Russia under the Bolshevik Regime. Random House, New York 1994, ISBN 0-394-50242-6. Weblinks Einzelnachweise und Anmerkungen Krieg in der polnischen Geschichte Sowjetische Militärgeschichte Krieg (20. Jahrhundert) Russischer Bürgerkrieg Europäische Geschichte (Zwischenkriegszeit) Ukrainische Militärgeschichte Grenzkrieg Krieg (Europa) Polnisch-sowjetische Beziehungen Konflikt 1919 Konflikt 1920 Konflikt 1921
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https://de.wikipedia.org/wiki/Elamische%20Sprache
Elamische Sprache
Die elamische oder elamitische Sprache ist die ausgestorbene Sprache der Elamer, eines altorientalischen Volkes im Südwesten des heutigen Iran. Elamische Texte stammen aus der Zeit 2400 bis 350 v. Chr., insgesamt ergibt sich also eine zweitausendjährige Überlieferungsgeschichte. Das Elamische ist mit keiner anderen bekannten altorientalischen Sprache verwandt: Es gehört weder zu den semitischen Sprachen (wie zum Beispiel das Akkadische) noch zu den indogermanischen Sprachen (wie zum Beispiel das Hethitische oder das Altpersische); auch mit dem benachbarten Sumerischen ist es mit Sicherheit nicht verwandt. Die meisten Forscher halten das Elamische für eine isolierte Sprache, einige sehen aber genetische Beziehungen zu den drawidischen Sprachen des indischen Subkontinents. Die Überlieferung elamischer Texte erfolgte in drei unterschiedlichen Schrift­systemen, von denen zwei auf mesopotamische Schriftformen zurückgehen, während die dritte (die „Strichschrift“) eine elamische Eigenentwicklung ist. Die Geschichte Elams kann bisher nur lückenhaft und für bestimmte Phasen vor allem aus mesopotamischen (sumerischen, akkadischen, assyrischen und babylonischen) Quellen erschlossen werden; historische Texte in elamischer Sprache gibt es dagegen nur relativ selten. Die Wissenschaft von der elamischen Sprache, Kultur und Geschichte heißt Elamistik. Die Elamer spielten mindestens seit dem Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. eine wichtige Rolle im südwestlichen Iran, etwa im Gebiet des heutigen Chuzestan, Luristan und des zentralen Zāgros-Gebirges. Hauptorte waren Anschan (heute Tall-i Malyan) und Susa (heute Shush). Wirtschaftliche Basis für die Entwicklung elamischer Staaten war die damalige große Fruchtbarkeit der Susiana und die frühe Bedeutung als Durchgangsgebiet für die Handelswege von Mesopotamien nach Iran und zum Industal. Die elamische Geschichte ist geprägt von der ständigen politischen, kriegerischen, aber auch kulturellen Wechselwirkung mit den benachbarten Staaten Mesopotamiens, die in langen Phasen die Oberhoheit über das elamische Gebiet ausübten und kulturell meist die „Gebenden“ waren. Dennoch haben die Elamer in vielen Bereichen gegenüber Mesopotamien ihre Eigenständigkeit bewahren können, zum Beispiel in einem sehr speziellen System der Thronfolge, bei der Verwendung und Adaption von mesopotamischen Schriftsystemen und durch den Erhalt ihrer Sprache bis weit ins erste nachchristliche Jahrtausend. Eigen- und Fremdbezeichnungen Elams Die elamische Eigenbezeichnung für das Land Elam ist haltamti oder hatamti, dies wurde sumerisch zu elama, akkadisch zu elamtu und hebräisch zu 'elam. Die Eigenbezeichnung der Sprache ist nicht überliefert. Die üblichen modernen Bezeichnungen elamisch oder elamitisch (englisch und französisch elamite) gehen auf Archibald Sayce zurück, der für Volk und Sprache 1874 die Bezeichnung elamite nach akkadischem Vorbild prägte. Geschichte Elams und der elamischen Sprache Die elamische Geschichte ist bisher nur phasenweise darstellbar und lässt sich vereinfacht in folgende fünf Abschnitte gliedern: Protoelamisch Aus der protoelamischen Zeit, etwa 3100–2600 v. Chr., gibt es noch keinen direkten sprachlichen Nachweis für die Elamer. Allerdings stellte die darauf folgende altelamische Periode eine kulturell bruchlose Fortsetzung dieser Periode dar, was dafür spricht, dass auch die Träger der protoelamischen Kultur in der Susiana bereits Elamer waren. In dieser Periode wurde nach dem Vorbild der nur wenig älteren archaischen sumerischen Schrift die bisher nicht entzifferte protoelamische Bilderschrift entwickelt und für die Wirtschaftsverwaltung genutzt (Funde vor allem aus der Zeit 3050 bis 2800 v. Chr.). Altelamisch Die altelamische Zeit, etwa 2600–1500 v. Chr., umfasst die elamischen Dynastien von Anwan, Simaš und die der Epartiden. Seit dem Akkadreich (2340–2200) verstärkte sich der mesopotamische Einfluss in Elam, nach kurzer Unabhängigkeit unter König Puzur-Inšušinak (um 2200) gewann die sumerische Ur-III-Dynastie um 2100 wieder die Oberhoheit, während die Elamer das Ende ebendieser Dynastie entscheidend mitbewirkten. Auch gegenüber dem Reich von Hammurapi und seinen Nachfolgern (1900–1600) bewahrte sich Elam unter der Epartiden-Dynastie eine relative Unabhängigkeit. In der altelamischen Periode entwickelten die Elamer ihre eigenständige Strichschrift (nur kurze Zeit um 2200 benutzt) und adaptierten die mesopotamische Keilschrift, die sie im Laufe der Zeit stark veränderten (Details zu den elamischen Schriften siehe unten). Mittelelamisch Die mittelelamische Periode umfasst etwa den Zeitraum 1500–1000 v. Chr. unter den Dynastien der Igehalkiden und Šutrukiden mit dem glänzenden Höhepunkt unter Untaš-Napiriša mit seiner Hauptstadtgründung Dur-Untaš (heute Tšogha Zambil) und der wohl besterhaltenen Ziggurat des ganzen Nahen Ostens. Die Babylonier unter Nebukadnezar I. beendeten diese Phase. Neuelamisch In der neuelamischen Periode, etwa 1000–550 v. Chr., fand Elam einen letzten Höhepunkt im sog. neuelamischen Reich (760–640), dessen Reichsstrukturen schließlich von den Assyrern ausgelöscht wurden. Achämenidisch-elamisch Die achämenidisch-elamische Sprache kann als eine späte und kontaktbedingte Variante der elamischen Sprache bezeichnet werden. Sie weist eine teilweise Umstrukturierung der elamischen Grammatik auf, die strukturelle Parallelen einer zweisprachigen Situation unterstützt. In der achämenidischen Periode 550–330 v. Chr. wurde die elamische Kultur ein wichtiger Bestandteil des achämenidischen Reiches. Seine Sprache war eine von vier Amtssprachen (neben dem Persischen, Babylonischen und Aramäischen) und in Persepolis und Susa verwalteten Schreiber die Staatskanzlei und die Buchhaltung in Achämenidisch-elamisch. Die vormals elamische Hauptstadt Susa wurde mit neuen großen Palästen eines der Verwaltungszentren der achämenidischen Herrschaft. Während die schriftliche elamische Überlieferung 350 v. Chr. abbrach, wurde das Elamische wahrscheinlich noch bis zum Ende des 1. nachchristlichen Jahrtausends in Chusistan („Chusi“, „Chusisch“) gesprochen; die Belege dafür sind allerdings umstritten. Elamische Schriften und ihre Entzifferung Protoelamische Bilderschrift Kurz nach der sumerischen Schrifterfindung findet man auch in Elam seit 3050 und bis 2800 v. Chr. eine Schriftform, die der etwas älteren archaischen sumerischen aus Uruk sehr ähnlich ist und wie diese fast nur Wort- und Zahlzeichen verwendet, die protoelamische Bilderschrift. Hauptfundort ist Susa mit 1600 Tontafeln, vereinzelte Funde gibt es im ganzen südwestlichen, aber auch verstreut im östlichen Iran. Die Schrift konnte bisher nicht entziffert werden, doch gleichen die Tafeln in ihrer Struktur und wahrscheinlich auch im Inhalt den archaischen sumerischen Tafeln, die ausschließlich für Zwecke der Wirtschaftsverwaltung verwendet wurden. Die protoelamische Schrift enthält etwa 1000 Zeichen, die in rund 5000 Varianten vorkommen. Das Zahlensystem dieser Inschriften ist äußerst komplex, je nach Zählobjekt werden – ähnlich wie in den Uruk-Texten – verschiedene Einheiten verwendet. Die Arbeiten von Englund 1989 und 1997 und Damerow 1989 ergeben folgende unterschiedliche Zählmodi: Unterschiedliche Zählsysteme der protoelamischen Schrift Da nicht für jede Einheit der unterschiedlichen Zählsysteme unterschiedliche Zeichen verwendet wurden, hängt der Zahlenwert der einzelnen Mengenzeichen entscheidend davon ab, in welchem Kontext sie auftreten. Eine sichere Zuordnung dieser Texte zu den Elamitern wäre – selbst bei vollständiger Entzifferung – wegen des hohen Anteils sprachunabhängiger Wortzeichen kaum möglich. Den aktuellen Stand der Entzifferung dieser Schrift beschreibt ausführlich Robinson 2002. Elamische Strichschrift Im 23. Jahrhundert v. Chr. entwickelten die Elamer eine eigenständige Silbenschrift, die 1901 entdeckt wurde und wegen ihres linearen Duktus Strichschrift oder Linearschrift (englisch Linear Elamite) genannt wird. 1961 veröffentlichte der Göttinger Iranist und Elamist Walther Hinz die Grundzüge einer Entzifferung dieser Schriftform und ging dabei von einer elamischen Lesung dieser Texte aus, worüber in Hinz 1962, 1964 und 1969 berichtet wird. Diese Entzifferung erfolgte auf Basis einer akkadisch-elamischen Bilingue (der sogenannten Steininschrift A) unter Verwendung der Lesung von Eigennamen (Inšušinak, Susa) und der Kenntnisse der elamischen Sprache aus den vorher entzifferten neuelamischen und achämenidischen Königsinschriften. Sie ist allerdings nicht von allen Fachleuten anerkannt worden. Nach zehnjähriger Forschungsarbeit gab der französische Archäologe François Desset am 27. November 2020 die Entzifferung der elamischen Strich- oder Linearschrift bekannt. Damit könnte die Entstehung der Schrift gleichzeitig in Mesopotamien und in Elam anzusetzen sein. Texte in der elamischen Strichschrift sind spärlich und fast auf die Regierungszeit Puzur-Inšušinaks (Ende des 23. Jahrhunderts) beschränkt. Gefunden wurden bisher etwa 40 Stein- und Ziegelinschriften, eine auf einer angeblich in der Nähe von Persepolis gefundenen Silbervase, inhaltlich handelt es sich bei den Strichinschriften meist um Weihinschriften. Die Schrift besitzt nur 103 Zeichenformen – von denen 40 jeweils nur ein einziges Mal belegt sind –, was von vornherein ihre Interpretation als reine Silbenschrift nahelegte (Wort-Silben-Schriften wie die mesopotamische Keilschrift benötigen einen wesentlich größeren Zeichenvorrat). Als Beispiel sei der von W. Hinz zur Entzifferung herangezogene elamische Text in seiner Lesung und mit seiner Interlinearübersetzung zitiert (die Nummerierung entspricht den Spalten dieser Inschrift): Elamische Strichinschrift (sog. Steinschrift A, nach Hinz 1969): (1) te-im-tik-ki nap in-šu-ši-na-ik un-ki (2) u ku-ti-ki-šu-ši-na-k zunkik hal-me ka (3) hal-me-ni-ik šu-si-im-ki (4) ši-in-pi-hi-iš-hu-ik (5) ša-ki-ri nap-ir lik hi-an ti-la-ni-li Interlinearübersetzung: (1) Dem Herrn Gott Inšušinak, habe diesen Holz(riegel) (2) ich, Kutik-I(n)šušinak, König des Landes (Elam), (3) Landvogt von Susa, (4) des Šinpi-hišuk (5) Sohn, der Gottheit als Stiftung für den Tempel fürwahr zugeeignet. Der Name „Kutik-I(n)šušinak“ wird heute allgemein „Puzur-Inšušinak“ gelesen. Die Adaption der mesopotamischen Keilschrift in Elam Parallel zur Strichschrift und vor allem nach 2200 setzte sich zunehmend die sumerisch-akkadische Keilschrift auch in Elam durch, die meisten Texte waren allerdings zunächst noch in akkadischer Sprache verfasst (die Schreiber waren möglicherweise Akkader). Die mesopotamische Keilschrift wurde dann – seit der mittelelamischen Zeit – von den Elamern zunehmend vereinfacht, indem sie die Anzahl der Zeichen reduzierten, meist einfache Zeichen mit möglichst wenig Keilen aussuchten und die Ideogramme (Logogramme, Wortzeichen) weitgehend fallen ließen und durch eine fast rein phonetische Silbenschreibung ersetzten. Die Mehrdeutigkeit der mesopotamischen Zeichen wurde stark reduziert, für ein und dieselbe Silbe wurde in der Regel nur noch ein Zeichen verwendet (siehe folgende Tabelle). Somit gelang den Elamern die Schaffung einer eigenständigen, wesentlich „logischeren“ und einfacheren Form der Keilschrift, die allerdings die „Feinheiten“ der elamischen Phonetik (zum Beispiel Konsonantencluster, Verwendung von Doppelkonsonanten, Nasalierung u. a.) kaum adäquat wiedergeben konnte. In achämenidischer Zeit hatte die elamische Keilschrift schließlich nur noch 132 Zeichen, darunter 27 Wortzeichen und Determinative. Die graphischen Unterschiede zwischen den elamischen Keilzeichen und ihren – inzwischen meist identifizierten – mesopotamischen Vorgängern sind erheblich. Die spät-neuelamischen und achämenidisch-elamischen Silbenzeichen Hinweis: /Vh/ bedeutet, dass dieses Zeichen für die Silben /ah, ih, uh/ steht. Akzente bzw. Indizes weisen auf unterschiedliche Keilschriftzeichen mit demselben Silbenlautwert hin. Man beachte, dass nur für die Silben /ip, ša/ und /tu/ zwei verschiedene Zeichen verwendet wurden, die späte elamische Schrift die Silben der Sprache also – völlig im Gegensatz zur Schreibung des Sumerischen oder Akkadischen – fast eindeutig wiedergibt. (Zur fehlenden Opposition „stimmhaft“ zu „stimmlos“ siehe den Abschnitt zur Phonologie.) Zusätzlich zu den Silbenzeichen der Tabelle gab es die fünf Vokalzeichen /a, e, i, u, ú/ und einige KVK-Zeichen (Zeichen mit dem Lautwert Konsonant-Vokal-Konsonant), deren Lesung allerdings nicht eindeutig determiniert war, wie Schreibvarianten tup-pi-ra und ti-pi-ra „Schreiber“ zeigen. Manchmal wurden KVK-Zeichen durch „erklärende Schreibungen“ festgelegt, zum Beispiel tan-an neben tan und da-an oder gal-li und gal-lu neben gal. Die Entzifferung der neuelamischen Keilschrift Die Grundlage für die Entzifferung aller Keilschriften – und damit auch anderer altorientalischer Schriftsysteme – war die große dreisprachige Darius-Inschrift von Behistun aus dem Jahre 519 v. Chr. in den Sprachen Elamisch, Altpersisch und Babylonisch. Nachdem Georg Friedrich Grotefend und seine Nachfolger zunächst die altpersische Buchstaben-Keilschrift entziffert und den altpersischen Text (in einer Sprache, die mit dem Awestischen nahe verwandt ist) gedeutet hatten, war die Behistun-Trilingue für die Entzifferung der beiden anderen Schriften nutzbar. Es bot sich zunächst an, den zweiten Teil der Inschrift zu untersuchen, da diese Schriftform nur 111 verschiedene Zeichen verwendete und somit wesentlich einfacher als die dritte Schrift mit ihren mehreren hundert Zeichen war (Wie man heute weiß, handelt es sich bei der dritten Schrift um die babylonische Keilschrift, die erst nach und mit Hilfe der Entzifferung der elamischen Schrift entziffert werden konnte). Bei nur 111 Zeichen lag es nahe, dass diese zweite Schrift – die neuelamische Keilschrift, wie später erkannt wurde – im Wesentlichen eine Silbenschrift darstellte. Grotefend – der schon maßgeblichen Anteil an der Entzifferung der altpersischen Keilschrift hatte – gelang 1837 die Entdeckung, dass männliche Personennamen durch einen vorgesetzten senkrechten Keil gekennzeichnet wurden. Das öffnete die Tür zur Grundidee der Entzifferung, nämlich die Gleichsetzung von Eigennamen in der neuelamischen und altpersischen Fassung (eine Idee, die schon Jean-François Champollion bei der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen verwendet hatte). Nach der vollständigen Veröffentlichung der elamischen Fassung der Inschrift 1853 hatte man 90 Eigennamen zur Verfügung, aus denen man durch Vergleich mit den Namen des altpersischen Textes die Silbenwerte der meisten neuelamischen Zeichen bestimmen konnte. Mithilfe der Übersetzung der altpersischen Fassung konnte dann auch die Bedeutung von etwa 700 elamischen Wörtern festgestellt und die Grundzüge der elamischen Grammatik geklärt werden. Die Lesung und Deutung der mittel- und altelamischen Keilschrift Auf Basis der nun relativ gut bekannten neuelamischen Schrift und Sprache konnten nach und nach durch Vergleich und Kombination auch die älteren elamischen Keilinschriften gelesen und gedeutet werden. Die mittelelamische Keilschrift enthält noch mehr Determinative und Ideogramme als die neuelamische und ist insgesamt komplizierter. Hilfe durch akkadisch-elamische Bilinguen gab es nur in wenigen und unbedeutenden Fällen. Der aus den achämenidisch-neuelamischen Königsinschriften gewonnene eingeschränkte Wortschatz reichte nicht aus, die viel umfangreichere Lexik der alt- und mittelelamischen Inschriften zu erschließen, auch die Veränderungen der Sprache in einem Zeitraum von mehr als tausend Jahren führt immer noch zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Deutung der älteren elamischen Texte. So gibt es elamische Texte, bei denen noch jedes zweite Wort Rätsel aufgibt oder der Sinn ganzer Sätze völlig dunkel bleibt. Textüberlieferung Insgesamt steht die Überlieferung elamischer Texte in Qualität und Quantität weit hinter der sumerischer und akkadischer Texte zurück. Das überlieferte elamische Material ist nicht umfangreich und vielseitig genug, um – trotz der heute relativ problemlosen Lesung – zu einem umfassenden Verständnis elamischer Texte gelangen zu können. Insbesondere die Erschließung des Wortschatzes ist noch kaum gelungen, nur etwa 700 elamische Wörter sind sicher gedeutet. Solange man keine größere sumerisch-elamische, akkadisch-elamische oder altpersisch-elamische Wortliste findet, wird sich an diesem Zustand nicht viel ändern. Dennoch ist die Überlieferung des Elamischen so umfangreich, dass sich ein relativ klares Bild der elamischen Grammatik und Sprachstruktur gewinnen lässt. Die Herkunft der Texte Die meisten elamischen Texte stammen aus den heutigen südwestiranischen Provinzen Chuzestan und Fars, wichtigste Fundstellen sind Susa, Persepolis und Anshan (heute Tall-i Malyan). Diese Texte entstanden im Zeitraum zwischen dem 24. und 4. vorchristlichen Jahrhundert. Achämenidische mehrsprachige Monumentalinschriften, die ebenfalls elamische Fassungen enthalten, finden sich im westlichen Iran und der Osttürkei im Gebiet des Van-Sees, sie stammen aus der Zeit von 520 bis 450 v. Chr. Elamische Tontafeln aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert wurden – außerhalb des Iran – in Niniveh (beim heutigen Mossul), in den urartäischen Festungen der Osttürkei und Armeniens gefunden, einige elamische Tontafel­fragmente aus dieser Zeit stammen sogar aus Kandahar im heutigen Afghanistan. Auch das Gilgamesch-Epos wurde in einer elamischen Version gefunden. Altelamische Texte Die meisten Keilschrifttexte der altelamischen Zeit (etwa 2400–1500) sind in akkadischer oder sumerischer Sprache geschrieben, nur wenige sind elamisch überliefert. Dazu gehören drei fragmentarische Schülertexte – die man im weitesten Sinne „literarisch“ nennen könnte –, ein Vertrag eines unbekannten elamischen Königs mit dem akkadischen König Naramsin (aus dem 23. Jahrhundert, Übersetzung siehe Koch 2005) und vier elamische Königsinschriften aus dem 18. Jahrhundert. Darüber hinaus sind elamische Namen und vereinzelte Wörter in sumerischen und akkadischen Texten überliefert. Falls sich der elamische Charakter der Strichschrift endgültig nachweisen lässt (siehe oben), gehören natürlich auch diese wenigen Texte zum altelamischen Bestand. Auszüge aus dem altelamischen Naramsin-Vertrag (Übersetzung nach Koch 2005): Höret Göttin Pinengir, Göttliche Gute des Himmels, Humban, Il-Aba … (insgesamt 37 elamische und akkadische Götter werden angerufen): Feindliche Unternehmungen gegen den Herrn von Akkade werde ich nicht zulassen. Mein Feldherr wird den Herrn vor Feindestaten beschützen. Der Feind des Naramsin ist auch mein Feind, der Freund des Naramsin ist mein Freund! … Einen Überläufer werde ich nicht bei mir aufnehmen. … Dein Standbild soll hier in Ehren gehalten werden. … Deine Gattin möge fruchtbar sein! Gott Simut möge sie immer behüten! Sie möge einen Muttersohn als Thronerben gebären. … Der Friede werde hier gehegt! Den Göttern leisten die Könige ihren Schwur. … Den Sonnengott Nahiti liebt der König, dem Gott Inšušinak ist er untertan. … Mittelelamische Texte Die mittelelamischen Texte (1350–1100 v. Chr.) bestehen mehrheitlich aus kurzen Königsinschriften und Verwaltungsdokumenten (175 Texte meist aus Susa, Dur-Untaš und Malyan in Fars), geschrieben auf Ziegeln, Stelen, Reliefs, Statuen und Votiv­objekten. Unter ihnen ist eine einzelne bilinguale akkadisch-elamische Bauinschrift und ein längerer Feldzugbericht des Königs Šutruk-Naḫḫunte II. (ca. 1185–1155). Elamische Wörter und Titel finden sich in dieser Zeit auch auf akkadischen Inschriften von Haft Tepe. Das Mittelelamische gilt als die „klassische“ Periode der elamischen Sprache und Kultur. Neuelamische Texte Das Neuelamische ist durch Weihinschriften und Verwaltungs- und Rechtstexte aus dem 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. repräsentiert. Aus der Zeit 750 bis 650 v. Chr. stammen etwa 30 Königsinschriften auf Ziegeln und Stelen aus Susa und einige Felsinschriften lokaler elamischer Herrscher in Chuzestan. Aus der Zeit nach 650 sind eine kleine Gruppe von Rechtstexten und ein Archiv mit 300 kurzen Verwaltungstexten aus Susa, außerdem einige Briefe aus Susa, Niniveh und Armavir Blur in Armenien überliefert. Achämenidisch-elamische Texte Am besten überliefert ist das Elamische der Achämenidenzeit, und zwar vor allem – wie schon oben erwähnt – durch die mehrsprachigen Königsinschriften von Darius I. und seinen Nachfolgern. Diese Königsinschriften in den Sprachen Elamisch, Altpersisch und Babylonisch bilden nach wie vor die wichtigsten Dokumente der Elamistik (Übersetzung der drei Fassungen bei Borger-Hinz 1984, die älteste dreisprachige Inschrift Darius I ist in Koch 2005 wiedergegeben). In Behistun existierte zunächst nur die elamische Fassung, die beiden anderen wurden etwas später hinzugefügt, was die besondere Bedeutung des Elamischen in der Achämenidenzeit unterstreicht. Spätere Monumentalinschriften enthalten neben der altpersischen immer auch eine elamische und eine babylonische Fassung, inhaltlich korrespondieren diese Texte sehr eng, so dass Simultanübersetzungen möglich sind. Aus der Einleitung der Behistun-Inschrift (Übersetzung nach Borger-Hinz 1984): (§ 1) Ich bin Darius, der Großkönig, König der Könige, König in Persien, König der Länder, des Hystaspes Sohn, des Arsames Enkel, ein Achämenide. (§ 5) Es kündet Darius der König: Nach dem Willen Ahuramazdas bin ich König. Ahuramazda hat mir die Königsherrschaft verliehen. (§ 6) Dies sind die Länder, die mir zugekommen sind: Persien, Elam, Babylonien, Assyrien, Arabien, Ägypten, die Meerbewohner (die Bewohner von Meerland = Zypern ?), Lydien, Jonien, Medien, Armenien, Kappadozien, Parthien, Drangiana (Sistan in Ostiran), Areia (Herat, Nordwest-Afghanistan), Choresmien, Baktrien, Sogdien, Gandhara (Nordost-Afghanistan und Nordwest-Pakistan), Skythien, Sattagydien (Pandschab in Nordwest-Indien), Arachosien (Kandahar, Süd-Afghanistan), Maka (Mekran in Belutschistan), insgesamt 23 Länder. Mehrere tausend elamische Verwaltungstexte sind aus der Zeit von 500 bis 450 v. Chr. aus den Archiven von Persepolis erhalten, verfasst von persischen und elamischen Schreibern und Buchhaltern der achämenidischen Verwaltung. Die weite Verbreitung dieser Texte zeigen Fragmente dieser Textgruppe aus Kandahar in Afghanistan. Eine Anordnung an einen Beamten für eine Abrechnung (PF 1858, Übersetzung nach Koch 2004): Zu Merduka sprich, Mrnčana lässt ausrichten: Dein Heil möge durch die Götter und den König bewirkt werden! Vorher hatte ich dir mitgeteilt: „Einer unserer Kollegen ist unterwegs in Elam, wohin ich selbst jetzt nicht reise. Dort wird selbiger die Abrechnungen durchführen.“ Jetzt kann er aber derzeit nicht kommen. Als Ersatz schicke ich den Humaya los, er wird dort eintreffen und die Abrechnung machen. Ihr macht dort alles fertig und gebt die Reservebestände an Vieh, Gerste, Wein und Korn heraus, er soll sie hierher schicken! Beziehungen zu anderen Sprachen Ein Grund für die Schwierigkeit der Deutung elamischer Texte liegt darin, dass das Elamische als Sprache offensichtlich isoliert dasteht und damit etymologische Vergleiche mit verwandten Sprachen entfallen. Frühe Versuche, es mit dem Sumerischen zu verbinden, wurden schnell aufgegeben; allerdings wurde eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit zwischen beiden Sprachen, die durch ihre geographische Nachbarschaft begründet ist, in neuerer Zeit wieder hervorgehoben (Steiner 1990), was allerdings nichts über eine genetische Beziehung der beiden Sprachen aussagt. Auch ein Vergleich mit den ebenfalls aus dem iranischen Bergland stammenden Sprachen Kassitisch und Gutäisch erübrigt sich schon wegen der äußerst geringen Kenntnis dieser Sprachen. Als durchaus vielversprechend galt dagegen die Hypothese einer Verwandtschaft mit den drawidischen Sprachen. Die elamo-drawidische Hypothese R. A. Caldwell vermutete schon 1856 eine Beziehung des Elamischen zu den drawidischen Sprachen. Diese Hypothese wurde in den 1970er Jahren wieder aufgegriffen und vor allem von David W. McAlpin vertreten, der in seinem zusammenfassenden Hauptwerk von 1981 von einer elamo-drawidischen Sprachfamilie ausgeht, die man auch „zagrosisch“ nennt, nach ihrer hypothetischen Urheimat im Zāgros-Gebirge. Als Begründung für die elamo-drawidische Verwandtschaft werden folgende Übereinstimmungen zwischen dem Elamischen und Proto-Drawidischen angeführt (die ersten beiden sind allerdings rein typologisch und können deswegen wenig zur genetischen Frage beisteuern): Beide Sprachen sind agglutinativ, es werden fast ausschließlich Suffixe benutzt. Die Struktur der Verbalmorphologie stimmt weitgehend überein. Einige Nominal-Suffixe lauten ähnlich (Pronomina der 2. Person, vor allem Kasus-Suffixe). Das elamische Suffix /-ka/ zur Bildung der Nomina actionis hat drawidische Reflexe. Das elamische Perfekt­suffix /-ta/ entspricht dem drawidischen Partizip-Suffix. McAlpin stellte über 80 elamisch-drawidische Wortgleichungen auf (McAlpin 1981). Dennoch wurde die elamo-drawidische Hypothese von Elamisten und Drawidologen gleichermaßen mit großer Zurückhaltung, wenn nicht mit Ablehnung betrachtet (Reiner 1992 und 2003, Steever 1998, Krishnamurti 2003). Falls die von anderen Forschern (zum Beispiel W. A. Fairservis 1992, A. Parpola 1994) aufgestellte These korrekt ist, dass die – bisher unbekannte – Sprache der Induskultur ebenfalls drawidisch ist, ergäbe sich auch eine Beziehung zwischen Elam und der Induskultur, zumal die protoelamische Bilderschrift (siehe oben) des frühen 3. Jahrtausends im Zeichenvorrat viele Ähnlichkeiten mit der – bisher auch unentzifferten – Schrift der Induskultur aufweist (zuletzt bei van Driem 2001 ausführlich dargestellt). Afroasiatische und nostratische Hypothesen V. Blažek kritisierte in den 1990er Jahren die meisten elamisch-drawidischen Wortgleichungen McAlpins und stellte seinerseits über hundert Etymologien auf, die eine Verwandtschaft des Elamischen mit den afroasiatischen Sprachen belegen sollten. Da er die von McAlpin gefundenen morphologischen elamo-drawidischen Gemeinsamkeiten nicht bestreitet, rückt er das Elamische in den großen Zusammenhang der nostratischen Makrofamilie, die nach seiner Ansicht neben den drawidischen, indogermanischen, uralischen, altaischen und kartwelischen Sprachen auch die afroasiatische Sprachfamilie mit umfasst (Letztere wird von den Nostratikern heute oft als eigenständig betrachtet). Auch diese erweiterte Hypothese fand nur wenige Anhänger außerhalb des Kreises der „Nostratiker“ (Siehe Blažek 1999 und 2002). Starostins Kritik Von großer Bedeutung ist der umfassende Artikel von George Starostin On the Genetic Affiliation of the Elamite Language (2002), der sowohl die Arbeiten von McAlpin als auch die Thesen von Blažek untersucht und kritisiert. Die elamo-drawidischen morphologischen Ähnlichkeiten deutet er ebenfalls (wie Blažek) im Kontext einer viel umfassenderen nostratischen Verwandtschaft anstatt einer zweiseitigen elamo-drawidischen Beziehung. Er zeigt zum Beispiel, dass die von McAlpin angeführten Kasussuffixe tatsächlich in ähnlicher Form und Funktion auch in den uralischen, altaischen und kartwelischen Sprachen verbreitet sind. Die Wortgleichungen beider Autoren – also sowohl die elamo-drawidischen McAlpins als auch die elamo-afroasiatischen Blažeks – hält er fast alle nicht für überzeugend. Stattdessen präsentiert er auf Basis der 100-Wort-Liste von Morris Swadesh eine Untersuchung der 54 Begriffe dieser Liste, die im Elamischen vorkommen, und versucht nostratische, afroasiatische und sinokaukasische Parallelen zu finden. Das Ergebnis ist ein – wie erwartet – sehr weiter Abstand des Elamischen vom Sinokaukasischen, ein relativ weiter – etwa gleicher – Abstand sowohl zum Nostratischen als auch zum Afroasiatischen. Insbesondere aber weist das Elamische mit dem Drawidischen – einem Zweig des Nostratischen – nur sehr geringe Gemeinsamkeiten auf, es gibt nur zwei akzeptable Wortgleichungen. Starostin schließt eine Urverwandtschaft des Elamischen mit diesen Makrogruppierungen zwar nicht aus, sie müsste allerdings in einer sehr weit zurückliegenden Vergangenheit begründet sein. Das Hauptergebnis ist die faktische Widerlegung der spezifischen elamo-drawidischen Hypothese, die nach McAlpins Arbeiten auch von niemanden mehr explizit unterstützt worden ist. Es ist also – vor allem auf Grund der Ergebnisse von Starostin, aber auch der kritischen Arbeiten der Drawidologen und Elamisten – sinnvoll, das Elamische zunächst weiterhin als eine isolierte Sprache des Alten Orients aufzufassen. Sprachliche Charakteristik Diese Darstellung kann nur einige Kernpunkte der elamischen Grammatik herausarbeiten. Sie folgt im Wesentlichen M. Krebernik 2005 und M. W. Stolper 2004. Phonologie Die von den Elamern adaptierte mesopotamische Keilschrift (Silben­typen V, KV, VK und wenige KVK – V steht für einen Vokal, K für einen Konsonanten) war nur bedingt in der Lage, die elamische Sprache adäquat wiederzugeben. Zum Beispiel konnten die im Elamischen relativ häufigen Konsonantencluster nur näherungsweise und unvollkommen durch Einschiebung stummer Vokale realisiert werden. Nasalierung – deren Existenz man aus Schreibvarianten te-em-ti und te-ip-ti für tempti „Herr“ erahnen kann – ist in der Regel nicht darstellbar. Nur mit Mühe ist das Phoneminventar des Elamischen, das offensichtlich stark von dem des Sumerischen oder Akkadischen abweicht, aus der Schrift rekonstruierbar. Es gibt offensichtlich keine Opposition „stimmlos“ zu „stimmhaft“, d. h. keinen Unterschied in der Aussprache der Zeichen für /p/ – /b/, /t/ – /d/ und /k/ – /g/, was zu Schwankungen in der Schreibung führte: zum Beispiel du-ni-h und tu-ni-h für „ich gab“. Welche Aussprache von den Elamern wirklich verwendet wurde, erkennt man aus der Schreibung elamischer Eigennamen bei den Babyloniern und Assyrern, gemäß dieser ist eher die stimmhafte Variante anzunehmen (W. Hinz 1964 bemerkt dazu: „Die Elamer haben gesächselt.“). Es gibt im Elamischen nur vier Vokale, nämlich /a, i, u, e/. Eine vereinfachte Übersicht über die rekonstruierbaren Konsonanten (in [ ] abweichende Aussprache) zeigt das folgende Schema nach Stolper 2004. Die Konsonanten des Elamischen Das Transliterations­zeichen /h/ steht für altorientalisches /ḫ/, es wird also wie deutsches /ch/ ausgesprochen. (Das gilt allerdings nur für die älteren Sprachphasen, im neuelamischen ist /h/ oft stumm und kann auch entfallen.) Bei Krebernik 2005 entfallen in der Schreibung (Transliteration) die Konsonanten /b/, /d/ und /g/, dafür kommen phonemisch relevante Doppelkonsonanten (Geminatae) /pp, tt, kk, hh, šš, ll, rr, mm, nn/ hinzu – die allerdings nicht alle gesichert sind –, außerdem mit Vorbehalt die Konsonanten /z/ (mit /zz/) und /ŋ/ (mit /ŋŋ/) und der Halbvokal /j/. Morphosyntax Das Elamische ist eine agglutinierende Sprache, die Suffixe, Enklitika und Postpositionen verwendet. Aus Postpositionen entwickelte Kasussuffixe gibt es erst in spätelamischer Zeit, die älteren Sprachstufen unterscheiden einen Kasus nur beim Personalpronomen (Nominativ und Akkusativ, siehe unten). Einen Artikel gibt es nicht. Das Elamische ist keine Ergativsprache, für transitive und intransitive Sätze werden dieselben Subjektformen verwendet. Andererseits kann es auch nicht als typische Nominativ-Akkusativ-Sprache bezeichnet werden, da diese Kasusunterscheidung zunächst nur die Pronomina betrifft und erst in einer sehr späten Phase durch Sekundärbildungen auch für Substantive belegt ist. Die Frage der Ergativität des Elamischen wurde lange diskutiert. Syntaktische Beziehungen werden durch die Wortstellung, vor allem aber durch sog. Bedeutungs- und Kongruenzmarker hergestellt. Dazu ein Beispiel aus der Nominalmorphologie: X sunki-r hatamti-r … „X, der König (sunki-) von Elam (hatamti-), …“ u sunki-k hatamti-k … „ich, der König von Elam, …“ In der ersten Phrase handelt es sich bei sunki- um die Bedeutungsklasse Delokutiv („er-Klasse“, über den König wird eine Aussage gemacht), die mit dem Suffix /-r/ gekennzeichnet wird. Dieses Suffix wird am Attribut hatamti- wieder aufgenommen, wodurch die Nominalphrase zu einer Einheit verklammert wird. In der zweiten Phrase handelt es sich beim Phrasenkopf sunki- um den Lokutiv („ich-Klasse“) – markiert durch /-k/ –, welches ebenfalls am Attribut wieder aufgegriffen wird. Die Form und Funktion der verschiedenen Bedeutungs- und Kongruenzmarker wird im Abschnitt über die Nominalmorphologie ausführlich erklärt und belegt. Nominalphrasen haben immer die Reihenfolge Phrasenkopf – Attribut, wobei die Attribute Substantive (im Deutschen „Genitive“), Adjektive, Possessivpronomina und Relativsätze sein können. Bis auf die Relativsätze werden Attribute mit dem Phrasenkopf in der oben beschriebenen Art durch Kongruenzmarker verklammert. Die Satzteilfolge ist wegen der fehlenden Kasus­unterscheidung streng festgelegt und folgt im Wesentlichen dem SOV-Schema (Subjekt – Objekt – Prädikat). Zwischen Subjekt und Prädikat können direkte und indirekte Objekte, Adverbial­bestimmungen, Negationspartikeln und resumptive Pronomina (die einen Rückverweis auf Subjekt oder Objekt beinhalten) eingefügt werden. Beispiel: u (TITEL) B kuši-h G1 ak G2 ap-u-i-n tuni-h „ich (TITEL) das B baute-ich (kuši-h), den Göttern G1 und G2 – ihnen (ap) ich (u) es (i-n) – gab-ich (tuni-h)“ „ich (TITEL) baute das (Bauwerk) B und stiftete es den Göttern G1 und G2“ Die enklitische Partikel /-a/ markiert das Ende von Phrasen und Sätzen, satzeinleitende Partikel werden in den älteren Sprachstufen nur selten verwendet. Substantive und ihre Bedeutungsklassen Alle Substantive werden im Elamischen zunächst in zwei Hauptklassen (grammatische Geschlechter) eingeteilt, nämlich der Personenklasse (PK) oder Sachklasse (SK). Darüber hinaus werden sie einer oder auch mehreren Bedeutungsklassen zugeordnet. Diese Zuordnung geschieht implizit (ohne erkennbare Kennzeichnung durch ein Suffix) oder explizit durch ein Bedeutungsklassensuffix. Einige Beispiele für eine implizite (suffixlose) Zuordnung sind die Substantive ruh „Mensch“, atta „Vater“, amma „Mutter“, iki „Bruder“, sutu „Schwester“, šak „Sohn“, pak „Tochter“, zana „Herrin“, elt(i) „Auge“, siri „Ohr“, kir oder kur „Hand“, pat „Fuß“, kik „Himmel“, mur(u) „Erde“, hiš „Name“ und hutt „Werk“. Die jeweilige Bedeutungsklasse dieser nicht-markierten Substantive wird erst in der Kongruenz mit einem Attribut oder Prädikat sichtbar. Die expliziten Bedeutungsmarker (Suffixe) sind /-k, -t, r, -p, -me, -n; -m, -š/. Diese werden alle – außer den beiden letzten /-m/ und /-š/ – auch als Kongruenzmarker verwendet (Erklärung und Beispiele siehe unten). Eine besondere Rolle spielen die vier Marker /-k, -t, -r, -p/ bei den Substantiven der Personenklasse: sie dienen zur Bezeichnung des Lokutivs (ich-Klasse), Allokutivs (du-Klasse) und Delokutivs (er/sie-Klasse), wobei der Delokutiv Singular und Plural unterscheidet. Die genaue Verwendung zeigt die folgende Tabelle. Die markierten Bedeutungsklassen bei Substantiven aus der Personenklasse Der Marker /-me/ hat eine abstrahierende Funktion, wie die folgenden Beispiele zeigen: sunki-me „Königtum“;   zu sunki- „König“ lipa-me „Dienst“;   zu lipa- „Diener“ husa-me „Wald“;   zu husa- „Holz, Baum“ Mit dem Marker /-n/ werden Örtlichkeiten und Ortsnamen gekennzeichnet, zum Beispiel siya-n „Tempel“ (zu siya „schauen“; der Tempel ist also der „Ort des Schauens“, was exakt der Bedeutung des lateinischen templum entspricht.) Viele Ortsnamen – Anwan, Anshan, Shusha(n) – enthalten das Suffix /-n/. Die Funktion der anderen Marker – die nicht für die Kongruenzmarkierung genutzt werden – ist nicht mehr allgemein festzulegen. Im Folgenden zeigen einige Beispiele die Anwendung der Bedeutungs- und Kongruenzmarker: X sunki-r hatamti-r „X, der König (sunki-) von Elam (hatamti-) …“ (Delokutiv sg.) u sunki-k hatamti-k „ich, der König von Elam …“ (Lokutiv) takki-me u-me „mein (u) Leben (takki)“ (me-Klasse) takki-me sutu hanik u-ri-me „Leben Schwester (sutu) geliebt (hanik) ich (u)- ihr (ri) – Bezug auf takki durch -me“ „das Leben meiner geliebten Schwester“ siya-n G zana hute-hiši-p-ri-ni „Tempel (siya-n) der G, Herrin (zana) der Edlen (hute-hiši-p) – Bezug auf zana durch ri (Delok.) – Bezug auf siya-n durch ni (n-Klasse)“ „der Tempel der Göttin G, Herrin der Edlen“ Personalpronomina und Possessivbildung Die Personalpronomina unterscheiden schon in altelamischer Zeit zwei Fälle, den Nominativ und den meist durch Anhängen eines /-n/ gebildeten Akkusativ. Es gibt ältere und jüngere Formen, die älteren haben meist den Vokal /i/, der in den neu- und spätelamischen Formen in /u/ übergeht (eine allgemein im Elamischen beobachtete Lautverschiebung). Die folgende Tabelle zeigt die jüngeren Formen des Personalpronomens. Die jüngeren Formen der Personalpronomina /ir/ und /in/ stehen als resumptive Pronomina, die einen Rückbezug auf Subjekt oder Objekt vermitteln, vor finiten Verbalformen, je nach Konjugations­typ als Subjekt oder direktes Objekt. Nachgestellte Personalpronomina werden durch Verwendung der Kongruenzmarker (siehe oben) zu Possessiva. Dazu folgende Beispiele: Das letzte Beispiel hat ein doppeltes -me-Suffix, da sowohl Bezug auf puhu „Nachkommenschaft“ – das selbst implizit zur me-Klasse gehört – als auch auf takki „Leben“ genommen wird. Verbalstämme Viele Wurzeln können im Elamischen nominal und verbal genutzt werden, zum Beispiel me „Rückseite“ und „folgen“, tu „Eigentum“ und „nehmen“. Die meisten Verbalstämme enden auf einen Vokal, in den älteren Sprachphasen gibt es auch konsonantischen Auslaut. Durch Reduplikation der Anlautsilbe können bei manchen Verben pluralisches Subjekt oder Objekt, aber auch „Pluralität“ der Handlung (also ihre Wiederholung) ausgedrückt werden (Steiner 1990, allerdings ist diese Interpretation nicht allgemein anerkannt). Dabei kann es zu lautlichen Veränderungen kommen wie zum Beispiel Elision des Stammvokals. Einige Beispiele dieser Stammesmodifikationen durch Reduplikation der Anlautsilbe sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt. Beispiele von Verben mit Stammesmodifikation Verbalmorphologie Das Elamische besitzt drei einfache Konjugationen, die in der Literatur Konjugation I, II und III genannt werden. Alle drei Konjugationen besitzen die Kategorien Person (1-2-3) und Numerus (Singular und Plural). Die Konjugation I wird direkt vom Verbalstamm (einfach oder modifiziert) mit verbspezifischen Suffixen für Person und Numerus gebildet (deswegen heißt sie auch „verbale Konjugation“). Die Formen der beiden anderen Konjugationen werden mit den nominalen Kongruenzsuffixen /-k, -t, -r, -p/ (siehe oben) von erweiterten Stämmen abgeleitet, die man auch Partizipien nennt: die Konjugation II basiert auf einer /-k/-Erweiterung, Konjugation III auf einer /-n/-Erweiterung des Stammes. Über das Bedeutungsfeld der Konjugationen (Tempus, Modus, Aspekt, Transitivität, Diathese) herrscht heute in der Elamistik weitgehende, aber keinesfalls vollständige Übereinstimmung. Die folgende Tabelle gibt die Einschätzung von Stolper 2004 wieder (ähnlich Krebernik 2005), allerdings sind die Angaben über die Bedeutung mit dem Zusatz „meist gilt“ zu verstehen. Bildung und Bedeutung der drei elamischen Konjugationen Konjugationsparadigma Die folgenden Tabellen geben die drei elamischen Konjugationsparadigmen wieder. Da es keine Pluralformen für Lokutiv und Allokutiv (siehe oben, Bedeutungsklassen) gibt, entfallen in den Konjugationen II und III die Formen für die 1. und 2. Person Plural. (Sie wurden in achämenidischer Zeit durch Umschreibungen ergänzt.) Konjugation I am Beispiel kulla „beten“ Konjugation II am Beispiel hutta „tun“ Konjugation III am Beispiel hutta „tun“ Hinweis: Nicht alle angegebenen Formen sind bisher belegt. Bemerkungen zu den Modi Das Elamische besitzt auch die Modi Optativ (Wunschform), Imperativ (Befehlsform) und Prohibitiv (Verbotsform). Formen der Konjugationen I und II mit Suffix /-ni/ (oder /-na/) haben optativische Bedeutung, zum Beispiel kulla-h-š-ni „mögen sie beten“. Im Mittelelamischen hat die 2. Person der Konjugation I imperative Funktion (zum Beispiel hap-t(i) „höre!“), im Achämenidisch-Elamischen die 3. Person der Konjugation I. Prohibitive werden von der Konjugation III durch das Präfix (!) anu- oder ani- gebildet, zum Beispiel hupe anu hutta-n-t(i) „tu das (hupe) nicht“. Alle weiteren Details der elamischen Grammatik sind der angegebenen Literatur zu entnehmen. Literatur Allgemeines Walther Hinz: Das Reich Elam. Urban Bücher. Kohlhammer, Stuttgart 1964. Heidemarie Koch: Frauen und Schlangen. Die geheimnisvolle Kultur der Elamer in Alt-Iran. Philipp von Zabern, Mainz 2007, ISBN 3-8053-3737-X. Grammatik Margaret Khačikjan: The Elamite Language. Documenta Asiana. Bd. 4. Istituto per gli studi micenei ed ege-anatolici, Rom 1998. ISBN 88-87345-01-5 Manfred Krebernik: Elamisch. in: Michael P. Streck (Hrsg.) Sprachen des Alten Orients. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005. ISBN 3-534-17996-X (online) Erica Reiner: Elamite. In: W. J. Frawley (Hrsg.) International Encyclopedia of Linguistics. 2. Auflage. Oxford 2003. ISBN 0-19-513977-1 Georg Steiner: Sumerisch und Elamisch – typologische Parallelen. In: Acta Sumerologica 12, 1990, S. 143–176. Matthew W. Stolper: Elamite. in: Roger D. Woodard (Hrsg.): World's Ancient Languages. Cambridge University Press, Cambridge 2004. ISBN 0-521-56256-2 Wörterbücher Walther Hinz, Heidemarie Koch: Elamisches Wörterbuch. 2 Bde. Reimer, Berlin 1987. ISBN 3-496-00923-3 Schriften und Entzifferung Peter Damerow, Robert K. Englund: The Proto-Elamite Texts from Tepe Yahya. Cambridge Mas 1989. ISBN 0-87365-542-7 Robert K. Englund: Proto-Elamite. In: Encyclopaedia Iranica. Bd. 8. New York 1997. ISBN 1-56859-058-X Walter A. Fairservis: The Harappan Civilization and its Writing. Leiden 1992. ISBN 90-04-09066-5 Johannes Friedrich: Entzifferung verschollener Sprachen und Schriften. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1966. Walther Hinz: Zur Entzifferung der elamischen Strichschrift. In: Iranica Antiqua 2, 1962. Walther Hinz: Das Reich Elam. Urban Bücher. Kohlhammer, Stuttgart 1964, S. 25–34. Walther Hinz: Die Schrift der Elamer. In: U. Hausmann (Hrsg.): Allgemeine Grundlagen der Archäologie. Beck, München 1969. Asko Parpola: Deciphering the Indus-Script. Cambridge 1994. ISBN 0-521-43079-8 Andrew Robinson: Lost Languages. The Enigma of The World's Undeciphered Scripts. McGraw-Hill, New York 2002, S. 200–217. ISBN 0-07-135743-2 Sprachverwandtschaft Václav Blažek: Elam. A Bridge between Ancient Near East and Dravidian India? in: Archeology and Language. Bd. 4. Routledge, London 1999. (Repr. in: Mother Tongue) 7, 2002. Václav Blažek: Some New Dravidian - Afroasiatic Parallels. In: Mother Tongue 7, 2002. Bhadriraju Krishnamurti: The Dravidian Languages. Cambridge University Press, Cambridge 2003. ISBN 0-521-77111-0 David W. McAlpin: Proto-Elamo-Dravidian. The Evidence and its Implications. The American Philosophical Society, Philadelphia 1981. ISBN 0-87169-713-0 George Starostin: On the Genetic Relation of the Elamite Language. In: Mother Tongue 7, 2002. Sanford B. Steever: The Dravidian Languages. Routledge, London/New York 1998. ISBN 0-415-10023-2 George van Driem: Languages of the Himalayas. Brill, Leiden/Boston/Köln 2001. ISBN 90-04-10390-2 (Kapitel The Elamites and the Dravidian Indus.) G. Steiner: Sumerisch und Elamisch: Typologische Parallelen. In: Acta Sumerologica 12, 1990, S. 143–176. Texte Rykle Borger, Walther Hinz: Die Behistun-Inschrift Darius' des Großen. In: Otto Kaiser (Hrsg.) Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Historisch-chronologische Texte. Bd. 1. Mohn, Gütersloh 1984. ISBN 3-579-00060-8 (Simultanübersetzung der drei Fassungen – altpersisch, neuelamisch, babylonisch – mit der Diskussion aller Abweichungen und Varianten.) Heidemarie Koch: Texte aus dem Iran. In: Bernd Janowski, Gernot Wilhelm (Hrsg.) Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge. Bd. 1. Mohn, Gütersloh 2004. ISBN 3-579-05289-6 (Enthält vor allem elamische Verwaltungstexte aus der Achämenidenzeit.) Heidemarie Koch: Texte aus dem Iran. In: Bernd Janowski, Gernot Wilhelm (Hrsg.) Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge. Bd. 2. Mohn, Gütersloh 2005. ISBN 3-579-05288-8 (Enthält den altelamischen Vertrag mit Naramsin, den mittelelamischen Feldzugbericht von Šutruk-Nahhunte I und die älteste dreisprachige Inschrift Darius I aus Persepolis in getrennten Fassungen.) Weblinks Ernst Kausen, Elamisch (Basis für diesen Artikel) (Dateiformat .doc, 139 kB) Elamische Zeichensammlung Einzelnachweise Einzelsprache Isolierte Sprache Korpussprache Sprache des Alten Orients
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https://de.wikipedia.org/wiki/Systema%20Naturae
Systema Naturae
Systema Naturæ (meist Systema Naturae geschrieben) ist die Kurzbezeichnung eines erstmals 1735 erschienenen Werkes von Carl von Linné, das bis 1768 insgesamt zwölf Auflagen erfuhr. Linné klassifizierte darin die „Naturreiche“ Tiere, Pflanzen und Mineralien durch die fünf aufeinander aufbauenden Rangstufen Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät. Während die Erstausgabe aus sieben Doppelfolioblättern bestand, umfasste das Werk nach der Veröffentlichung des dritten Bandes der 12. Auflage mehr als 2300 Oktavseiten. Linné beschrieb auf ihnen etwa 7700 Pflanzen-, 6200 Tier- und 500 Mineralienarten. Er gab in der 12. Auflage für alle Arten aller drei Naturreiche am Seitenrand einen sogenannten „Trivialnamen“ an. Diese bilden die Grundlage der zweiteiligen Namen, auf denen die heutige biologische Nomenklatur beruht. Besondere Bedeutung für die Zoologie hat der 1758 veröffentlichte erste Band der 10. Auflage, in dem Linné erstmals durchgängig für die Tiere zweiteilige Artnamen angab. Sein Erscheinen markiert gemeinsam mit Carl Alexander Clercks ein Jahr zuvor herausgegebenem Werk Svenska Spindlar den Beginn der modernen zoologischen Nomenklatur. Linnés Mineralogie erwies sich hingegen bald als bedeutungslos. Vorgeschichte Mitte April 1735 brach Linné auf Anraten von Johan Browall aus seiner schwedischen Heimat auf, um an der holländischen Universität Harderwijk seinen Doktorgrad zu erwerben. Linné hatte zuvor an den Universitäten in Lund und Uppsala studiert. Während des Studiums botanischer Schriften in Olof Celsius’ Bibliothek entstand Ende des Jahres 1729 mit Praeludia Sponsaliorum Plantarum eine Schrift, die den Grundstein zu Linnés eigenständigen Ordnungsprinzip der Pflanzen legte. Olof Rudbeck verschaffte ihm daraufhin 1730 eine Anstellung am Botanischen Garten von Uppsala mit dem Auftrag, einen Katalog der dort wachsenden Pflanzen zu erstellen. In Uppsala gab Linné außerdem Privatunterricht in Dokimastik, Mineralogie, Botanik und Diätetik. Er katalogisierte seine Vogel- und Insektensammlung und arbeitete an zahlreichen Manuskripten, von denen ihn ein Teil auf seiner Reise nach Holland begleitete. Linnés Weg nach Holland führte ihn über Hamburg, wo er den Herausgeber der Zeitung Hamburgische Berichte von neuen gelehrten Sachen, Johann Peter Kohl, kennenlernte, der in seiner Zeitung bereits mehrfach über Linné berichtet hatte. In der Ausgabe vom 10. Juni 1735 wurde Linnés Hollandaufenthalt angekündigt und erwähnt. In Leiden zeigte Linné Jan Frederik Gronovius und Isaac Lawson einige seiner Manuskripte, darunter den ersten Entwurf von Systema Naturæ. Beide waren von der Originalität des linnéschen Ansatzes, die drei Naturreiche Mineralien, Pflanzen und Tiere zu klassifizieren, so beeindruckt, dass sie beschlossen, das Werk auf eigene Kosten herauszugeben. Gronovius und Lawson wirkten als Korrektoren für dieses und weitere in Holland entstandene Werke Linnés und überwachten die Fortschritte der Drucklegung. Die ursprünglich für Mitte September 1735 geplante Fertigstellung verzögerte sich auf Grund zahlreicher Korrekturen bis zum Ende des Jahres. Editionsgeschichte 1. Auflage Die erste Auflage erschien Ende 1735 unter dem Titel Systema naturæ, sive regna tria naturæ systematice proposita per classes, ordines, genera, & species in Leiden. Sie wurde von Theodor Haak verlegt und in der Druckerei von Johan Wilhelm de Groot hergestellt. Die erste Auflage bestand aus 14 Folioseiten, die etwa 540 Millimeter breit und 416 Millimeter hoch waren. Die Seiten 2 und 14 waren nicht bedruckt. Die erste Seite diente als Titelblatt. Auf je einer Doppelseite wurden die drei Naturreiche in tabellarischer Form dargestellt: Mit Ausnahme der Pflanzen gab Linné in diesen Tabellen auch schwedische Namen für viele der aufgeführten Arten an. Eingeleitet wurde das Werk durch die auf den 23. Juli 1735 datierten allgemeinen Beobachtungen über die drei Naturreiche, die Linné in 20 Punkten darlegte (Observationes in Regna III. Naturæ). Derartige kurz zusammengefasste Beobachtungen gab er für jedes einzelne der drei Naturreiche. Die umfangreichste und detaillierteste Darstellung widmete Linné dem Pflanzenreich. Auf einem weiteren Blatt ist ein Schlüssel zu seinem Sexualsystem der Pflanzen dargestellt (Clavis systematis sexualis). Linnés Methodus, der das Vorgehen bei der Einordnung eines beliebigen Naturgegenstandes in sein Klassifizierungsschema beschrieb und eigentlich Bestandteil der ersten Auflage sein sollte, wurde nicht mehr rechtzeitig fertig. Der Verkaufspreis der ersten Auflage betrug 50 Stuiver. Der gesamte Erlös kam Linné zugute. Die Höhe der Auflage ist nicht genau bekannt. Felix Bryk schätzte sie 1954 auf 150 Exemplare. Eine erste Besprechung des Werkes erfolgte Anfang 1737 durch Johann Ernst Hebenstreit. Sie erschien in der Zeitschrift Acta Eruditorum. Anlässlich des 200. Geburtstages von Linné wurde 1907 von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften ein Nachdruck der ersten Auflage herausgebracht. Am 14. November 2007 wurde beim Auktionshaus Christie’s ein Exemplar der ersten Auflage von Systema Naturæ aus dem Besitz des Royal College of Physicians of Edinburgh versteigert und erzielte einen Erlös von 180.500 Pfund. 2. bis 5. Auflage 1740 erfuhr Linné durch Jan Frederik Gronovius, dass in Deutschland eine Übersetzung der ersten Auflage in Druck sei. Ihr Herausgeber und Übersetzer war Johann Joachim Lange, der Linnés Werk umgeordnet und mit einer deutschen Übersetzung in einer parallelen zweiten Spalte versehen hatte. Diese Ausgabe erschien 1740 im Quartformat in Halle und umfasste etwa 80 Seiten. Linné autorisierte diese Ausgabe später als die dritte Auflage von Systema Naturæ. Die zweite Auflage erschien 1740 unter dem geänderten Titel Caroli Linnæi naturæ curiosorum dioscoridis secundi Systema naturæ in quo naturæ regna tria, secundum classes, ordines, genera, species, systematice proponuntur und wurde vom deutschen Buchhändler Gottfried Kiesewetter in Stockholm vertrieben. Die ursprünglich durch Gronovius geplante zweite Auflage, die, wie die erste, durch Theodor Haak besorgt werden sollte, kam nicht zustande. Haak hatte im März 1739 die noch vorhandenen Exemplare der Erstausgabe aufgekauft und machte deren Verkauf zur Bedingung für eine Neuauflage. Die zweite Auflage wurde im handlicheren Oktavformat gedruckt und hatte einen Umfang von 80 Seiten. Sie war mit der zweiten Auflage von Fundamenta Botanica gebunden. Linné widmete diese und alle folgenden Auflagen seinem Gönner Carl Gustaf Tessin. Die Widmung ist auf den 20. Mai 1740 datiert. In dieser Auflage sind erneut schwedische Namen für Steine und Tiere angegeben. Diese Auflage wurde zwei Mal mit nur unbedeutenden Änderungen nachgedruckt. In Paris erschien 1744 eine durch Bernard de Jussieu bearbeitete Ausgabe, die anstatt der schwedischen Namen französische enthielt und die später von Linné als vierte Auflage von Systema Naturæ geführt wurde. Die Drucklegung dieser Ausgabe wurde durch Linnés Freund Abraham Bäck überwacht, der sich zu dieser Zeit in Paris aufhielt. Die von Linné als fünfte Auflage geführte Fassung der zweiten Auflage wurde von Michael Gottlieb Agnethler bearbeitet und erschien 1747. Sie enthielt an Stelle der schwedischen Namen deutsche Bezeichnungen. 6. bis 9. Auflage Die sechste Auflage erschien 1748 unter dem erneut geänderten Titel Systema naturæ sistens regna tria naturæ, in classes et ordines, genera et species redacta tabulisque æneis illustrata wieder bei Gottfried Kiesewetter in Stockholm. Der Umfang des wiederum im Oktavformat aufgelegten Werkes war auf 224 nummerierte Seiten angewachsen. Die einzelnen Naturreiche nahmen etwa gleich viel Platz in Anspruch: Die sechs Klassen des Tierreichs wurden auf 76 Seiten dargestellt, die 26 Klassen des Pflanzenreichs wurden auf 68 Seiten abgehandelt und die drei Klassen des Mineralreiches nahmen einen Raum von 65 Seiten ein. Ein lateinischer und ein schwedischer Index komplettierten die sechste Auflage von Systema Naturæ. Linnés Lectori ist auf den 2. August 1748 datiert, seine Widmung an Carl Gustaf Tessin auf den 18. August 1748. Die sechste Auflage enthielt acht Tafeln, von denen sechs die linnéschen Klassen des Tierreichs illustrierten: Kiesewetter veröffentlichte im gleichen Jahr in Leipzig eine weitere Auflage, die als siebente Auflage von Systema Naturæ gezählt wird und in der die schwedischen Namen erneut durch deutsche ersetzt wurden. Basierend auf dieser Auflage erschien 1756 bei Theodor Haak in Leiden eine durch Jan Frederik Gronovius bearbeitete neunte Auflage. Sie enthielt französische statt deutsche Namen. Gronovius nahm Ergänzungen bei den Fischen vor und erweiterte den Abschnitt der Insekten nach den Werken von René-Antoine Ferchault de Réaumur und Carl De Geer. Linné steuerte einige neue Pflanzen bei. Eine Besonderheit ist die achte, 1753 bei Lars Salvius in Stockholm unter dem Titel Herr Archiaterns och Riddarens D. Caroli Linnæi Indelning i Ört-Riket, efter Systema Naturæ, på Swenska öfwersatt af Johan J. Haartman… erschienene Auflage, da sie nur das Pflanzenreich umfasst. Die schwedische Übersetzung stammt von Johan Johansson Haartman. Sie ist Ulrika Lovisa Tessin gewidmet. 10. und 11. Auflage Diese für das Regelwerk der zoologischen Nomenklatur bedeutsame zehnte Auflage wurde in zwei Bänden im Oktavformat veröffentlicht: der erste, 1758 erschienene Band, behandelte das Tierreich, der zweite im folgenden Jahr herausgegebene die Pflanzen. Ein von Linné geplanter dritter Band über das Mineralreich wurde nicht veröffentlicht. Mit der zehnten Auflage bekam das durch Lars Salvius in Stockholm herausgegebene Werk seinen endgültigen Titel: Systema naturæ per regna tria naturæ, secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus, differentiis, synonymis, locis (in etwa: System der Natur für die drei Reiche der Natur, nach Klassen, Ordnungen, Gattungen und Arten, mit Eigenschaften, Unterschieden, Synonymen und Lokalitäten). Beide Bände zusammen füllten etwa 1400 Oktavseiten und enthielten keine Illustrationen. Nach Museum Tessinianum wandte Linné die binäre Nomenklatur erstmals durchgängig in der Zoologie an. Die von Jacob Theodor Klein und anderen scharf attackierte Klasse Quadrupedia (Vierfüßer) verschwand und wurde durch die Klasse der Säugetiere (Mammalia) ersetzt. Gleichzeitig gab Linné Peter Artedis Klassifikation der Fische zugunsten seiner eigenen auf und ordnete die Wale erstmals den Säugetieren zu. Im ersten Band beschrieb Linné insgesamt 312 Tiergattungen mit 4378 Arten. Im zweiten Band führte Linné die 1753 in Species Plantarum begonnene binäre Nomenklatur der Pflanzen fort. Da er die zu einer Gattung gehörenden Arten durchnummeriert hatte, führte er für die neu beschriebenen Arten eine Kennzeichnung mit Großbuchstaben ein. So ergänzte er beispielsweise in seiner Behandlung der Myrten, die ursprünglich sieben nummerierten Arten mit sechs neuen, die die Buchstaben A bis F trugen. Im Anhang führte Linné unter der Überschrift Genera Plantarum Nova Addenda in Ergänzung der fünften, 1754 erschienenen Auflage von Genera Plantarum die Beschreibung von 69 neuen Pflanzengattungen auf und gab verbesserte Beschreibungen für acht weitere Gattungen. Die neue Auflage von Systema Naturæ wurde weithin beachtet. In Schweden berichtete die Zeitschrift Lärda Tidningar und in Großbritannien das Gentleman’s Magazine. In Deutschland wurde sie in Johann Friedrich Gleditschs Commentarii de rebus in scientia naturali et medicina gestis, in den Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, in August Ludwig von Schlözers Neueste Geschichte der Gelehrsamkeit in Schweden sowie von Rudolf Augustin Vogel in seiner Neuen Medicinische Bibliothek besprochen. Zur elften Auflage, die nach Aussage von Linné 1762 in Leipzig erschienen sein soll, bemerkte er nur lakonisch: „nil additum“ (nichts hinzugefügt). Die Existenz dieser Auflage ist jedoch ungeklärt. Sie ist möglicherweise identisch mit der sogenannten „Piratenauflage“, die von 1760 bis 1770 mit einem Vorwort von Johann Joachim Lange erschien und deren ersten beiden Bände bis auf geringfügige Abweichungen mit der zehnten Auflage identisch sind. 12. Auflage Die zwölfte und letzte durch Linné besorgte Ausgabe von Systema Naturæ trug den gleichen vollständigen Titel wie die zehnte Auflage. Als Buchformat wurde das Oktavformat beibehalten. In seiner Ratio Editionis, die bereits der zehnten Auflage vorangestellt war, gab Linné einen Überblick über alle von ihm autorisierten Auflagen. Ergänzend blickte er auf sein Schaffen zurück. Er führte die von ihm betreuten Sammlungen in Uppsala und Stockholm an und dankte seinen Gönnern Adolf Friedrich, Ulrika Lovisa Tessin, Carl Gustaf Tessin und Carl De Geer. Die von ihm durch die schwedischen Provinzen Lappland (1732), Dalarna (1734), Öland (1741), Gotland (1741), Västergötland (1746) und Skåne (1749) durchgeführten Reisen sind ebenso Bestandteil dieses Rückblickes wie seine reisenden Schüler. Der erste Band über das Tierreich musste aufgrund seines Umfanges von 1327 nummerierten Seiten geteilt werden. Die beiden Teile erscheinen 1766 bzw. 1767. 1767 folgte der auf 736 nummerierte Seiten angewachsene Band über die Pflanzen. Erstmals nutzte Linné im dritten, 222 nummerierte Seiten umfassenden Band auch für das Naturreich der Mineralien die binäre Nomenklatur. In ihm wurden etwa 530 Mineralienarten beschrieben, die Linné in 54 Gattungen aufteilte. Dieser Band ist der einzige, der Abbildungen enthielt: Sie dienten der Veranschaulichung der Terminologie (termini artis), die er zur Beschreibung der Arten eingeführt hatte. Besprechungen dieser Auflage erfolgten durch die schwedische Zeitschrift Lärda Tidningar und in den deutschen Zeitschriften Commentarii de rebus in scientia naturali et medicina gestis und Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen. Eine als „13. Auflage“ bezeichnete Ausgabe wurde 1767 bis 1770 in Wien von Thomas von Trattner herausgegeben. Sie ist ein unveränderter Nachdruck der zwölften Auflage. Lediglich die Titelseite wurde angepasst und die letzte Seite des dritten Bandes mit den Fehlerkorrekturen (Errata) fehlt. Inhalt In der ersten Auflage umriss Linné in den seinem Werk vorangestellten Beobachtungen in den drei Naturreichen (Observationes in Regna III. Naturæ) in Punkt 15 die Abgrenzung der drei Naturreiche folgendermaßen: (). Seine Ordnung der Naturgegenstände beruhte auf fünf aufeinander aufbauenden Rangstufen Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät. Die zwischen Ordnung und Gattung stehende Rangstufe der Familie, die 1689 Pierre Magnol eingeführt hatte, nutzte er nicht. Diese noch heute in der Biologie gebräuchlichen Begriffe verwandte Linné auch für die Klassifizierung der Mineralien. Die folgende Kurzdarstellung des Inhalts bezieht sich, soweit nicht anders angegeben, auf die zwölfte Auflage von Systema Naturæ. Tierreich Systematik Linnés Einteilung des Tierreiches beruhte in wesentlichen Grundzügen auf John Rays Synopsis methodica Animalium (1693), der wiederum auf Aristoteles Schrift Historia animalium aufbaute. Nach dem inneren Bau des Herzens und weiteren Merkmalen unterschied Linné sechs Klassen: Säugetiere (Mammalia), Vögel (Aves), Amphibien (Amphibia), Fische (Pisces), Insekten (Insecta) und Würmer (Vermes). Die Säugetiere unterteilte Linné hauptsächlich nach Anzahl, Lage und Form der Schneidezähne, Eckzähne und Mahlzähne in sieben Ordnungen, die zusammen etwa 230 Säugetierarten umfasste. Die Gliederung der Vögel gründete sich auf Rays Synopsis Methodica Avium (1713) und wurde in der zwölften Auflage durch das Werk Ornithologia (1760–1763) von Mathurin-Jacques Brisson ergänzt. Die Unterscheidung der sechs Ordnungen der Vögel mit etwa 930 Arten erfolgte hauptsächlich nach der Form des Schnabels. Linnés Amphibien verteilten sich auf vier Ordnungen mit etwa 290 Arten. Bei ihrer Beschreibung verwies er häufig auf die Abbildungen in Albert Sebas Thesaurus. Die Fische waren bis zur neunten Auflage nach Peter Artedis Ichthyologica organisiert, bevor Linné sein eigenes Ordnungsschema entwickelte. Die etwa 400 Arten in den vier Ordnungen der Knochenfische wurden nach der Lage ihrer Bauchflossen klassifiziert. Bei der Klassifizierung der Insekten konnte sich Linné, trotz der zahlreichen beschriebenen und abgebildeten Insektenarten, auf kein allgemein anerkanntes Schema stützen. Die von ihm geschaffenen sieben Ordnungen der Insekten beruhten im Wesentlichen auf der Anzahl und Beschaffenheit ihrer Flügel. Für seine fünf Ordnungen der Würmer übernahm Linné das System von Jean-André Peyssonel (1694–1759). Wie Bernard de Jussieu und Abraham Trembley ordnete er die Korallen und ähnliche Lebewesen dem Tierreich und nicht dem Pflanzenreich zu. Linnés „Würmer“-Klasse umfasste ungefähr 1150 Arten. Stellung des Menschen Erstmals seit Aristoteles’ Historia animalium stellte Linné 1735 den Menschen wieder in das Tierreich. Die Lehren der Scholastik hatte dem Menschen zwischenzeitlich eine Sonderrolle zugesprochen und ihn über das Tierreich gestellt. Linné platzierte den Menschen gemeinsam mit den Affen und Faultieren in die von John Ray eingeführte Ordnung Anthropomorpha (Menschengestaltige), die Bestandteil der Klasse Quadrupedia (Vierfüßige) war. Als Unterscheidungsmerkmal des Menschen von den anderen Gattungen dieser Ordnung führte er die Fähigkeit des Menschen zur Selbsterkenntnis an: „Nosce te ipsum“ („Erkenne dich selbst!“). Nach ihrer geographischen Herkunft unterschied er innerhalb der Gattung Homo vier Gruppen: den Europäer, den Amerikaner, den Asiaten und den Afrikaner. Als einziges äußeres Merkmal gab er zusätzlich für jede dieser Gruppen eine Hautfarbe an. Diese Darstellung behielt Linné bis 1758 bei. Mit dem Erscheinen der zehnten Auflage änderte sich Linnés Systematik des Menschen deutlich. Er ordnete den Menschen nunmehr in die Ordnung der Primaten innerhalb der Klasse der Säugetiere (Mammalia) ein und unterschied zwischen zwei Menschenarten, dem Tag- und Nachtmenschen. Als Nachtmensch (Homo nocturnus) oder Höhlenmensch (Homo troglodytes) wurde von ihm der Orang-Utan bezeichnet. Sein Tagmensch (Homo diurnus) ist der moderne Mensch, der 1758 seinen noch heute gültigen Artnamen Homo sapiens erhielt. Die Charakterisierung seiner vier geografischen Varietäten des Menschen erweiterte Linné um die Merkmale Temperament und Körperhaltung. Die Europäer unterschieden sich demnach von den anderen menschlichen Varietäten durch die Merkmale weiß, sanguinisch, muskulös („albus, sanguineus, torosus“), der Amerikaner durch die Merkmale rot, cholerisch, aufrecht („rufus, cholericus, rectus“), der Asiat durch die Merkmale gelb, melancholisch, steif („luridus, melancholicus, rigidus“) und der Afrikaner durch die Merkmale schwarz, phlegmatisch, schlaff („niger, phlegmaticus, laxus“). Paradoxa Bis einschließlich der fünften Auflage von Systema Naturæ enthielt Linnés Darstellung des Tierreiches einen „Paradoxa“ („Paradoxien“) betitelten Abschnitt, in dem er Fabelwesen, wie sie beispielsweise in mittelalterlichen Bestiarien dargestellt wurden, aufführte. Er verwies sie aufgrund ihres mythischen Charakters in den Bereich des Aberglaubens und war bemüht, eine natürliche Erklärung zu geben. So gelang es Linné während seines kurzen Aufenthaltes in Hamburg, die sogenannte „Hamburger Hydra“ als Fälschung zu entlarven. In der ersten Auflage führte er zehn Fabelwesen auf: die Hydra, den Froschfisch (ein Frosch, der sich in einen Fisch verwandelt), das Einhorn (das er als Berichte über den Narwal deutete), den Pelikan (der sein Blut auf seine Nachkommen überträgt), den Satyr, das Skythische Lamm, den Phönix, den Bernikel-Baum (ein Baum, der weiße Muscheln trägt, aus denen Gänse schlüpfen), den Drachen und die Totenuhr. In der zweiten Auflage ergänzte er diese Liste um den Mantikor, die Antilope, die Lamia und die Sirene. Pflanzenreich Linnés Klassifizierung des Pflanzenreiches richtete sich nach dem Aufbau der Blüte und Frucht, die er als „Fruchtbildungsorgane“ (fructificatio) bezeichnete. Conrad Gesner war der erste Botaniker, der eine Klassifizierung der Pflanzen nach dem Aufbau ihrer Blüte oder der Frucht in Betracht zog. Gesner stellte jedoch selbst kein entsprechendes System auf. Die Unterteilung der Pflanzen in Andrea Cesalpinos 1583 erschienenem Werk De Plantis Libri XVI beruhte hauptsächlich auf Fruchtmerkmalen. Sein System wurde von Robert Morison und John Ray aufgegriffen und später von anderen Botanikern weitergeführt, in Deutschland beispielsweise durch Christoph Knaut. Andere Systeme, so die von Augustus Quirinus Rivinus (1690) und Heinrich Bernhard Rupp (1718), orientierten sich an der Regel- bzw. Unregelmäßigkeit und der Anzahl der Kronblätter. Pierre Magnol legte seiner Systematik 1720 die Verschiedenheit der Kelchblätter zugrunde. Das ausgeklügeltste System einer Pflanzensystematik stammte von Joseph Pitton de Tournefort, der 1694 seine Klassen nach der Gestalt der Blüte und seine Ordnungen nach der Stellung der Frucht bestimmte. Linné hatte alle diese Systematiken der Pflanzen bereits in seiner Jugend studiert und veröffentlichte 1738 mit Classes Plantarum einen ausführlichen Vergleich dieser und weiterer Pflanzensystematiken. Linnés Systematik baute insbesondere auf den Werken Cesalpinos und Tourneforts auf. Er unterschied seine Klassen nach Anzahl und Lage der Staubblätter und die Ordnungen nach der Anzahl der Stempel. Die Gattungen bildete er durch eine Reihe von wohldefinierten Merkmalen der Blüte, der Früchte und der Samen (generative Merkmale), die er ausführlich in Genera Plantarum beschrieb. Wichtige Größen der Beschreibung waren die Anzahl, die Form, die Proportion und die Lage. Zur Abgrenzung einer Art zog er schließlich vegetative Merkmale heran, beispielsweise Wurzel, Stängel oder Laubblätter. Linnés erste umfassende Behandlung des Pflanzenreiches war das 1753 fertiggestellte Werk Species Plantarum. Mineralienreich Linné setzte bei seiner Klassifizierung des Mineralreiches dieselben Prinzipien wie im Tier- und Pflanzenreich ein. Von den bekannten Methoden Mineralien zu klassifizieren wies er die physikalische, die bis zur Entstehung der Mineralien zurückging, und die chemische, die auf einer zerstörenden Analyse beruhte, zugunsten der von ihm als natürlich charakterisierten Methode zurück, die auf leicht beobachtbaren Merkmalen beruhte. Schwierigkeiten bereitete es ihm, eine Analogie zur Vermehrung für die Entstehung von Mineralien zu finden. Linné, der davon ausging, dass die Erde am Anfang vollständig mit Wasser bedeckt war, schlug vor, dass aus dem Wasser zwei Nachkommen entstanden seien: der formgebende „Salzmann“, der der „Erdfrau“ die Gestalt aufprägt. Salze und Erden seien daher die eigentlichen Eltern der Mineralien. Linné postulierte außerdem je vier verschiedene Salze (Salia) und Erden (Terræ), die jeweils für die Atmosphäre, den Ozean, die Pflanzen und die Tiere standen und aus denen die verschiedenen Mineralien bestünden. Er unterschied das Mineralienreich in drei Klassen: Petræ (Steine) waren Gemische aus Erden, Mineræ (Mineralien) Kombinationen aus Erden und Salzen und Fossilia (Fossilien) Zusammenballungen von Erden. Die zwölfte Auflage umfasste insgesamt elf Ordnungen in 54 Gattungen mit mehr als 500 Arten. Linnés Mineralogie hatte etwa ein halbes Jahrhundert lang Bestand und wurde von den französischen Mineralogen Jean-Baptiste Romé de L’Isle, René-Just Haüy und Déodat Gratet de Dolomieu unterstützt. Kritik kam hingegen vorwiegend aus Deutschland und Schweden. Letztendlich setzte sich ein auf chemischen Merkmalen beruhendes System durch, wie es beispielsweise von Abraham Gottlob Werner vertreten wurde. Rezeption Erweiterte Ausgaben von „Systema Naturæ“ Linnés Werk wurde von einigen Autoren in seiner Gesamtheit oder nur hinsichtlich einzelner Naturreiche erweitert und in andere Sprachen übersetzt. Der holländische Arzt Maarten Houttuyn begann 1761 ein am Aufbau von Systema Naturæ orientiertes Werk, das er Natuurlijke Historie nannte. Bis 1785 wuchs dieses Werk auf 37 Bände an und umfasste etwa 22.000 Seiten und 296 Kupferstiche. Gegenüber seinem Freund Abraham Bäck spottete Linné bereits 1763 über den Umfang. Er sah es als Zeichen geringer Weisheit an, dass das, was der eine Gelehrte so knapp wie möglich darzustellen versuchte, durch einen anderen so weit wie möglich ausgedehnt wurde. Houttuyns Werk beeinflusste jedoch eine Reihe von ähnlichen Naturdarstellungen, beispielsweise Philipp Ludwig Statius Müllers von 1773 bis 1775 erschienene deutschsprachige Gesamtdarstellung des Tierreichs. Von 1777 bis 1779 publizierte Johann Friedrich Gmelin eine vierteilige Erweiterung von Linnés Beschreibung des Mineralreiches, die mehr als 2200 Oktavseiten aufwies und mit 63 Abbildungen illustriert war. 20 Jahre nach Linnés letzter Auflage von Systema Naturæ unternahm Gmelin von 1788 bis 1793 noch einmal den Versuch, sämtliche bekannten Arten der drei Naturreiche in einem als Systema Naturæ bezeichneten Werk zusammenzustellen. Gmelin bezeichnete diese mit über 6000 Seiten etwa fünfmal so umfangreiche Ausgabe als 13. Auflage von Systema Naturæ. Allein die in sieben Teilen erschienenen Beschreibungen der Tiere füllt über 4000 Seiten. Gmelins 13. Auflage diente wiederum als Vorbild für weitere Ausgaben. Ebenezer Sibly (1751–1800) begann 1794 eine erweiterte englische Übersetzung, die bis 1810 auf 14 Bände anwuchs. Ein ähnlicher Versuch stammte von William Turton (1762–1835), dessen siebenbändiges A General System of Nature von 1802 bis 1806 in London erschien. Danach gelang es nie wieder, sämtliche bekannte Tier- und Pflanzenarten in einem einheitlichen Werk zusammenzufassen. Die Zahl der bekannten Tierarten erreichte um 1800 bereits etwa 50.000, um 1850 lag sie schon bei etwa 400.000. Taxonomen nehmen an, dass bis heute formal korrekt zwischen 1,5 und 1,8 Millionen Lebewesenarten beschrieben und benannt wurden. Schätzungen der tatsächlichen Artenzahl schwanken zwischen 3,6 Millionen und über 100 Millionen. Meist wird jedoch von einer Artenzahl in der Größenordnung von etwa 10 Millionen ausgegangen. Die Biodiversitätsinformatik versucht heute mit Hilfe von Datenbanksystemen, die Namen aller bekannten Arten zusammen mit weiteren Angaben, beispielsweise zu ihrer Verbreitung, an zentralen Stellen zusammenzufassen. Beispiele hierfür sind Global Biodiversity Information Facility (GBIF) und Encyclopedia of Life (EoL). Einfluss auf die zoologische Nomenklatur In der 1758 erschienenen zehnten Auflage des Systema Naturæ stellte Linné alle ihm bekannten Organismen in der bis heute üblichen binären Schreibweise dar, die er erstmals durchgängig in seinem Werk Species Plantarum von 1753 für Pflanzen verwendet hatte. Unhandliche Bezeichnungen wie etwa Physalis annua ramosissima, ramis angulosis glabris, foliis dento-serratis wurden durch einfach zu merkende Doppelnamen wie Physalis angulata ersetzt. Der erste Name bezeichnete dabei die Gattung, der zweite Name, das Epitheton (in der Zoologie Artname genannt), charakterisierte zusammen mit dem ersten die Art. 1842/1843 erarbeitete Hugh Edwin Strickland im Auftrag eines Komitees der British Association for the Advancement of Science einen umfassenden Entwurf für ein zoologisches Regelwerk. Er wählte darin die zwölfte Auflage von Systema Naturæ als Startpunkt der zoologischen Nomenklatur aus. Sein Entwurf wurde kontrovers diskutiert, insbesondere, welches Jahr der zoologischen Nomenklatur zugrunde liegen sollte. 1877 unternahm William Healey Dall einen Versuch, die sich voneinander unterscheidenden nomenklatorischen Regelwerke von Botanik und Zoologie zu vereinen und schlug als Basis ebenfalls die 1768 erschienene zwölfte Auflage vor. 1886 unterbreitete die American Ornithologists’ Union einen eigenen Vorschlag, der auf den Arbeiten von Strickland und Dall aufbaute. In diesem Vorschlag wurde die endgültige Trennung von botanischer und zoologischer Nomenklatur vollzogen und der Beginn der zoologische Nomenklatur auf 1758 festlegt. Aufbauend auf einem von Charles Émile Blanchard auf dem ersten Internationalen Zoologischen Kongress 1889 vorgetragenen Regelwerk wurde auf dem fünften in Berlin tagenden Internationalen Zoologischen Kongress der Beginn der zoologischen Nomenklatur endgültig auf das Jahr 1758 fixiert. In der aktuellen Auflage der Internationalen Regeln für die Zoologische Nomenklatur ist das Erscheinungsdatum des ersten Bandes der zehnten Auflage von Systema Naturæ in Artikel 3.1 verankert und auf den 1. Januar 1758 festgelegt. Das bedeutet, Tiernamen aus Werken, die vor dem 1. Januar 1758 veröffentlicht wurden, sind nicht verfügbar. Jüngeren Beschreibungen gegenüber genießt die 1758er-Ausgabe von Systema Naturæ in aller Regel Priorität, soweit die betreffende Beschreibung Linnés die nach den Nomenklaturregeln geforderten Kriterien erfüllt und der Name seit 1899 verwendet wurde. Einzige Ausnahme sind die 66 schwedischen Spinnenarten, die in Clercks 1757 publiziertem Werk Svenska Spindlar beschrieben wurden. Clercks Svenska Spindlar hat somit als einzige Publikation Priorität vor der zehnten Auflage von Systema Naturæ und enthält damit die ersten korrekt eingeführten Tiernamen der modernen zoologischen Nomenklatur. Nachweise Literatur Thomas Bendyshe: The history of anthropology. In: Memoirs Read Before the Anthropological Society of London. Band 1, 1865, S. 335–458, Online. Wilfrid Blunt: The Compleat Naturalist: A Life of Linnaeus. Frances Lincoln, London 2001, ISBN 0-7112-1841-2, S. 19–108. Gunnar Broberg: Homo sapiens: Linnaeus’s Classification of Man. In: T. Frängsmyr (Hrsg.): Linnaeus: The Man and His Work. Uppsala Studies in History of Science 18. Rev. ed. Science History Publications, Canton, Mass., 1994, ISBN 0-88135-154-7, S. 156–194. Arthur J. Cain: Numerus, figura, proportio, situs: Linnaeus’ definitory attributes. In: Archives of natural history. Band 21, 1994, S. 17–36, doi:10.3366/anh.1994.21.1.17 Marc Ereshefsky: The Evolution of the Linnaean Hierarchy. In: Biology and Philosophy. Band 12, 1997, S. 493–519, doi:10.1023/A:1006556627052. Johan Markus Hulth: Bibliographia linnaeana. Materiaux pour servir a une bibliographie linnéenne. Uppsala 1907, S. 2–15. The Botanical Model Rejected. In: Rachel Laudan: From mineralogy to geology: the foundations of a science, 1650-1830. University of Chicago Press, 1994, ISBN 0-226-46947-6, S. 70–86. E. G. Linsley, R. L. Usinger: Linnaeus and the Development of the International Code of Zoological Nomenclature. In: Systematic Zoology. Band 8, Nummer 1, 1959, S. 39–47, . Staffan Müller-Wille: Linnaeus and the Four Corners of the World. 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Auflage: BSB München 6. Auflage: SUB Göttingen 7. Auflage: BSB München 8. Auflage: Umeå UB 9. Auflage: BHL, BSB München 10. Auflage Band 1: BSB München, SUB Göttingen, BHL Band 2: BHL „11. Auflage“ (Piratenauflage) Band 1: BHL Band 2: BHL 12. Auflage Band 1 – Teil 1: SUB Göttingen, BSB München, Gallica Band 1 – Teil 2: SUB Göttingen, BSB München, Gallica Band 2: Gallica Band 3: SUB Göttingen „13. Auflage“ – Trattner Band 1 – Teil 1: NCSU Libraries, Missouri Botanical Garden, Google Books Band 1 – Teil 2: NCSU Libraries, Missouri Botanical Garden, Google Books Band 2: NCSU Libraries, Missouri Botanical Garden, New York Botanical Garden, Google Books Band 3: NCSU Libraries,Missouri Botanical Garden, Google Books 13. Auflage – Gmelin: BHL Werk von Carl von Linné Literatur (Neulatein)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Robert%20Stewart%2C%202.%20Marquess%20of%20Londonderry
Robert Stewart, 2. Marquess of Londonderry
Robert Stewart, 2. Marquess of Londonderry, KG, PC (* 18. Juni 1769 in Dublin; † 12. August 1822 in London), war ein britischer Staatsmann. Von 1796 bis 1821 führte er den Höflichkeitstitel Viscount Castlereagh, unter dem er allgemein bekannt geworden ist. Einer adeligen Familie mit irisch-schottischen Wurzeln entstammend, erhielt Castlereagh eine privilegierte Ausbildung und wurde dank der Unterstützung seines Vaters 1790 ins irische Parlament gewählt. Zunächst trat er als Reformer auf und setzte sich u. a. für die Gleichstellung der Katholiken (Katholikenemanzipation) sowie die Eindämmung der Patronage im politischen System ein; politisch stand er den Whigs um Charles James Fox nahe. Unter dem Eindruck der zunehmend chaotischer und blutiger verlaufenden Französischen Revolution wechselte er jedoch um 1794 seine politische Orientierung und schloss sich Premierminister William Pitt dem Jüngeren an, der seine politischen Talente schnell erkannte und ihn förderte. Als einer von Pitts Leutnants in Irland schlug er 1798 den irischen Aufstand nieder und setzte in der Folge mit einer Mischung aus weitgehenden politischen Versprechungen, politischem Druck und Bestechungen den Act of Union 1800 durch, der die staatliche Vereinigung der beiden Königreiche zum Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland besiegelte. Die implizit versprochene politische Gleichstellung der Katholiken konnte Pitt d. J. jedoch gegen den Widerstand von König Georg III. nicht durchsetzen, worauf er (und mit ihm Castlereagh) zunächst zurücktraten. Castlereagh trat bald erneut in die Regierung (als Präsident des Kontrollamtes) ein; vor dem Hintergrund des neu ausgebrochenen Kriegs gegen das Napoleonische Frankreich stieg er in schneller Folge zum Führer des Unterhauses und Kriegsminister auf. Nach Pitts Tod und erneuter kurzer Oppositionsphase wurde er in der Regierung Portland 1807 erneut Kriegsminister. In der Folge kam es zu Meinungsverschiedenheiten mit Außenminister George Canning, die 1809 zu einem Duell zwischen beiden und zum Rücktritt beider führten. 1812 wurde Castlereagh Außenminister und avancierte schnell zu einem der führenden Staatsmänner Europas. Im Zusammenspiel mit dem österreichischen Außenminister Metternich kam ihm zunächst eine maßgebliche Rolle bei der Bildung der großen Koalition gegen Napoleons Vorherrschaft und bei der folgenden politischen Neugestaltung Europas zu. Während er nach außen hin in Einvernehmen mit Metternich das Kongresssystem etablierte, um im Rahmen der Pentarchie auf europäischer Ebene ein Gleichgewicht der Kräfte zu etablieren, unterstützte er innenpolitisch repressive Maßnahmen. 1822 beging er Selbstmord. Leben Herkunft, Familie, Charakterbeschreibung Die Familie Stewart lässt sich in ihrer Abstammungslinie auf den prominenten schottischen Clan der MacGregors zurückverfolgen; sie gehörten zu den schottischen Familien, die zur Zeit von James I. ins nordirische Ulster zogen. Der Großvater Castlereaghs, Alexander Stewart (1699–1781), wurde als zweitgeborener Sohn nach Dublin geschickt, um eine Lehrstelle bei einem Handelsunternehmen anzunehmen, was er jedoch bald verließ, um ein eigenes Unternehmen zu gründen. Beim Tod seines älteren Bruders erbte er mit 32 Jahren den Familienbesitz. Er zog nach London, wo er die reiche Erbin Mary Cowan heiratete, deren Vater einige Jahre Gouverneur von Bombay gewesen war. Durch diese vorteilhafte Ehe war es ihm möglich, in Dublin und im County Londonderry umfangreicheren Besitz zu erwerben. Nach dem Scheitern seiner politischen Ambitionen konzentrierte er sich auf seine Besitztümer und errichtete Mount Stewart. Alexanders Sohn, Robert Stewart, wurde für das County Down Parlamentsabgeordneter im irischen Unterhaus; auch er schloss eine vorteilhafte Ehe und heiratete 1766 Lady Sarah Frances Seymour-Conway, Tochter des 1. Marquess of Hertford, eines ehemaligen Lord Lieutenant of Ireland. Ein Sohn verstarb vor seinem zweiten Geburtstag, als Lady Sarah bereits hochschwanger mit einem zweiten Kind war. Am 18. Juni 1769 kam ihr zweiter Sohn in Dublin zur Welt, der nach seinem Vater ebenfalls Robert genannt wurde. Ein Jahr nach der Geburt des Sohnes Robert starb seine Mutter im Kindbett. Robert Stewart heiratete darauf fünf Jahre später erneut; mit der Tochter von Charles Pratt, 1. Earl Camden, Lady Frances Pratt, verband er seine Familie mit der englischen Nobilität. Sein neuer Schwiegervater war ein bedeutender Jurist und prominenter Anhänger von William Pitt dem Jüngeren. Da sein Vater in Dublin im Parlament saß, wurde der sechsjährige jüngere Robert bei seinen Großeltern in Mount Stewart aufgezogen. Laut seinen Biographen verbrachte er dort seine ersten Lebensjahre liebevoll behütet in idyllischer Umgebung. Durch die erneute Heirat hatte der jüngere Robert mehrere Halbgeschwister, von denen nur sein Halbbruder, Charles Vane, Prominenz erlangte. Dieser schlug später eine ähnliche Karriere ein und diente zunächst von 1807 bis 1809 unter ihm als Unterstaatssekretär, dann unter Wellington in Spanien. Später wurde er britischer Botschafter in Wien und von seinem Verwandten Castlereagh trotz seiner Unzulänglichkeiten gefördert; beim Wiener Kongress machte er vor allem mit seinen Affären (u. a. mit Katharina Bagration) und seinem extravaganten Auftreten von sich Reden. Der jüngere Robert heiratete 1794 Lady Amelia “Emily” Hobart, Tochter des 2. Earl of Buckinghamshire. Emily galt den meisten Biographen Castlereagh als eitle und oberflächliche Person, deren leichtlebiger Charakter in Kontrast zu dem ihres Mannes stand. Die als glücklich beschriebene Ehe blieb kinderlos. Später übernahmen beide allerdings die Erziehung ihres Neffen Frederick Stewart, der ein Sohn von Roberts Halbbruder Charles war und seinen Sohn aufgrund seiner Militärzeit nicht selbst erziehen konnte. Emily begleitete ihren Mann auch auf den meisten diplomatischen Reisen, die dieser als Außenminister unternahm. Ihre Vorliebe für freizügige Kleider und ihr redseliges Wesen führten dazu, dass sie in der Londoner Gesellschaft als „die nackte Wahrheit“ betitelt wurde. In späteren Jahren begann sie als prominente Dame der höheren Londoner Gesellschaft wiederholt Rivalitäten, zum Beispiel mit der Fürstin Dorothea von Lieven, mit der ihr Mann eng befreundet war. Auch mit der Mätresse von König Georg IV, Lady Conyngham, hatte sie eine andauernde Fehde. Castlereagh wird als in kleinem Kreis geselliger Charakter beschrieben, der gern musizierte und sang. Einerseits sind einige Wutausbrüche überliefert, die allerdings von seinen Biographen als uncharakteristisch beschrieben werden, da er in der Öffentlichkeit auf seine Zeitgenossen oft eher schüchtern wirkte und hinter einer liebenswürdigen Fassade wenig von sich preisgab. Es ist überliefert, dass er an übernatürliche Phänomene glaubte – so meinte er im Dezember 1796 einmal, den Geist eines Jungen gesehen zu haben. Ausbildung Der jüngere Robert besuchte vier Jahre lang die Royal School in Armagh, wo Kenntnisse in den klassischen Altertumswissenschaften erwarb, jedoch das Fach niemals in dem Maß beherrschte wie einige seiner brillanteren Zeitgenossen, zum Beispiel sein in Eton geschulter späterer Rivale Canning. Er wurde dann unter dem Einfluss seiner Stiefmutter mit 12 Jahren auf eine Privatschule in Portaferry transferiert, da er in Armagh konstanten Anfeindungen ausgesetzt war. Dazu wurde er von einem Tutor (James Cleland) gebildet. Cleland, der sich als Magistrat als ein bigotter und nachtragender Mann zeigte, vermittelte seinem Schüler seine intoleranten Ansichten. Giles Hunt sah 2008 den Einfluss Clelands als mitverantwortlich für die spätere kompromisslose Härte an, die der junge Robert ab Mitte 1795 bei der Niederschlagung des irischen Aufstands zeigte. Anschließend studierte er an der Universität Cambridge. Die Universität von Cambridge war gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Vergleich zum großen Rivalen Oxford an einem relativen Tiefpunkt angelangt. So schrieb etwa William Wilberforce negativ über die Fellows am Trinity Hall College, die über keinerlei akademische Qualifikationen verfügen würden. St John’s College, auf dem der junge Robert als Fellow Commoner studierte, war akademisch allerdings eine der besseren Universitäten und begann zu dieser Zeit auch eine ganze Serie renommierter Mathematiker auszubilden. In Cambridge studierte er zunächst erfolgreich und erreichte die höchsten Bewertungen im ersten Jahr, zog sich dann jedoch eine Krankheit zu und verbrachte zur Erholung fast ein Jahr bei seinem Stiefgroßvater Charles Pratt, 1. Earl Camden in London. Camden hatte sich zum Vertrauten, Ratgeber und väterlichen Freund entwickelt. Danach verlor der junge Robert das Interesse am Studium. Ende 1788 verließ er die Universität vorzeitig, ein Schritt, der ihm angesichts seiner privilegierten Stellung als ältester Sohn eines einflussreichen Adeligen ohne negative Konsequenzen für seinen weiteren Lebensweg möglich war. Anfang 1789 kehrte er ohne Abschluss nach Irland zurück. Erste politische Schritte Der ältere Robert wurde zwischenzeitlich in der Peerage of Ireland 1789 zum Baron Londonderry erhoben. (1795 wurde er dann zum Viscount Castlereagh, 1796 zum Earl of Londonderry und 1816 zum Marquess of Londonderry erhoben.) Da sein Vater nun als Baron Londonderry ins irische Oberhaus (House of Lords) einzog, musste er seinen Sitz als Unterhausmitglied im irischen Parlament für das County Down aufgeben und war entschlossen, seinen Sohn als Nachfolger zu installieren. Er scheute keine Kosten, um den Wahlkampf zu finanzieren und gab 60.000 Pfund aus. Der jüngere Robert trat bei seinem Wahlkampf für die Katholikenemanzipation ein; die katholische Bevölkerung sollte hierdurch juristisch gleichgestellt und zur Wahl berechtigt werden. Weiter trat er für Reformen und die Bekämpfung von Patronage ein, beides Themen, bei denen er in späteren Jahren eine Kehrtwende vollzog. 1790 zog er als Unabhängiger Abgeordneter in das irische Unterhaus ein, in dem er bis zur Auflösung des irischen Parlaments durch den Act of Union 1800 saß. Zunächst bewegte er sich als Abgeordneter in Dublin in den sozialen Zirkeln seines Vaters; er frequentierte häufig den Whig Club in Dublin, in dem er vor allem mit den liberalen Freunden seinen Vaters verkehrte. Bei mehreren Gelegenheiten trank er in Gesellschaft auf die Revolutionen in Amerika und Frankreich, einmal auch auf „das Seil, an dem der König hängen soll“. Sowohl Adam Zamoyski als auch Giles Hunt sahen hierin eher die jugendlichen Schwärmereien eines politisch noch nicht gefestigten jungen Mannes, der sich von den Trends seiner Zeit anstecken ließ, aber niemals wirklich im Herzen ein Liberalist wie Charles James Fox gewesen sei. Die spätere Abkehr sei nicht aus Eigennutz erfolgt, sondern eher durch eigene Beobachtungen und durch die Überzeugungskraft der Argumente von Pitt d. J. und Edmund Burke. Hunt verwies zudem darauf, dass der jüngere Robert sich immer stark durch äußere Autoritäten beeinflussen ließ. Seine politische Meinung sei zunächst primär von den liberalen Freunden seines Vaters geprägt worden, zu denen er aufgeschaut habe; später habe er sich einfach den Überzeugungen anderer angeschlossen. Nach dem Ende der Parlamentssession 1791 unternahm er eine kurze Reise auf den Europäischen Kontinent, immer begleitet von Edmund Burkes Schrift „Betrachtungen über die Revolution in Frankreich“, die auf ihn nachhaltigen Einfluss ausübte. Gleichzeitig zeigte er sich skeptisch gegenüber Burkes Prophezeiungen, dass die Revolution einen militärischen Diktator hervorbringen würde. Bei seiner Reise konnte er aus nächster Nähe die französische Revolution erleben und zog seine Schlüsse aus dieser Erfahrung. In Südfrankreich, wo sich gewaltsamer Widerstand zu formieren begann, beobachtete er Szenen von „grausamer Barbarei“. Aus dem Norden Frankreichs berichtete er dagegen von einem „begeisterten Fanatismus“ unter den Anhängern der Revolution. Daraus leitete er einen pessimistischen Ausblick ab. Eine weitere geplante Reise nach Frankreich im Jahr 1792 scheiterte in Belgien, da die Lage in Frankreich dies bereits unmöglich machte. Sein Biograph John Bew sieht in seinen Reisen durch Frankreich ein formatives Erlebnis, bei dem sein politisches Bewusstsein erwacht sei. Zudem sei seine Abneigung gegen intellektuelles Theoretisieren und sein Hang zur Betonung praktischer Erfahrung erkennbar geworden; Bew sah hier bereits seine spätere Neigung zur Realpolitik angelegt. In Irland und London Trotz des eigenen Parlaments, das nur begrenzte Befugnisse hatte, wurde Irland eigentlich von London aus regiert, wo die eigentlich wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Zunächst hatte der jüngere Robert sich in Irland in den (oppositionellen) liberalen Whig-Kreisen bewegt, die für einen irischen Republikanismus einstanden; er selbst hatte in dieser Phase auch mit Trinksprüchen auf George Washington sowie den Souverän, das Volk, angestoßen. Seine Freunde und väterlichen Vordenker wie Lord Charlemont, waren ebenfalls Anhänger der oppositionellen Whigs. In London wiederum hatte er politisch der Whig-Gruppierung um Charles James Fox nahegestanden. 1794 wechselte er jedoch seine politische Orientierung und schloss sich – wie viele andere aufstrebende Politiker – unter dem Eindruck der immer blutiger verlaufenden französischen Revolution William Pitt dem Jüngeren an. Dieser fand schnell einen Sitz für ihn im britischen Unterhaus, den er parallel zu seinem Sitz im irischen Unterhaus einnahm. Während er in Irland einen der bevölkerungsreichsten Wahlkreise repräsentierte, war sein Wahlkreis im englischen Cornwall einer der Pocket boroughs. Als Großbritannien 1793 Frankreich den Krieg erklärte, wurde er Lieutenant-Colonel des Milizregiments des County Londonderry unter Colonel Thomas Conolly. Von 1798 bis zu seinem Tod war er selbst Colonel dieses Regiments. Im Oktober 1795 hielt er anlässlich der Parlamentseröffnung seine Erstrede im britischen Unterhaus. Von der Regierung war er ausgewählt, um gemeinsam mit dem Earl von Dalkeith den üblichen Antrag einzureichen, bei der König Georg III. für seine Thronrede der Dank ausgesprochen werden sollte. Seine Rede fand vor einer angespannten Atmosphäre im Parlament statt. Auf den König war erfolglos ein Anschlag verübt worden, als er zur Parlamentseröffnung anreiste; als Reaktion kündigte Premierminister Pitt drakonische Sicherheitsgesetze an. Entsprechend hielt der junge Robert seine Rede als Vertreter einer Regierung, die die Ordnung bewahren und Radikalismus bekämpfen wollte. Die Rede machte keinen Eindruck. Während seiner ganzen politischen Karriere galt er als vergleichsweise schlechter Redner. Da gerade in seinen politischen Anfangsjahren die Debatten im britischen Unterhaus von legendären Rednern wie Charles James Fox, William Pitt, Edmund Burke und zunehmend auch dem aufstrebenden George Canning dominiert wurden, forderten besonders in dieser Zeit sein teils unausgegorener Satzbau und sein Redestil im Unterhaus oft Gelächter und Hohn der Anwesenden heraus. Ab 1796 führte er als Heir apparent seines Vaters den Höflichkeitstitel Viscount Castlereagh, nachdem sein Vater zum Earl of Londonderry erhoben worden war. „Pitts Handlanger“ in Irland Irland stand für Premierminister Pitt wiederholt auf der Tagesordnung; 1792 und erneut 1793 hatte er mit seiner rechten Hand Henry Dundas Gesetzesinitiativen initiiert, die der katholischen Mehrheit in Irland Erleichterungen bringen und ihr mehr Rechte einräumen sollte. Ausgelöst durch die Regency-Krise 1788 kam er jedoch zum Schluss, dass die Fusion von irischem Parlament mit dem Parlament in Westminster unabdingbar sei, um die Kontrolle über Irland zu bewahren. Pitt verfolgte eine Doppelstrategie; zum einen wollte er die Königreiche vereinen, um die britische Herrschaft über Irland zu sichern. Zum anderen wollte er mit der rechtlichen und politischen Gleichstellung der Katholiken (Katholikenemanzipation) und der Aufhebung der diskriminierenden Gesetze die katholische Bevölkerungsgruppe (die in Irland insgesamt die Mehrheit stellte) in die neue Union integrieren. In Pitts Vision war beides verbunden und die Katholikenemanzipation die logische Folge der Union. Die Katholikenemanzipation war jedoch durch starke Opposition (auch von Seiten des Königs) in Frage gestellt. Pitt hielt deshalb seine diesbezüglichen Pläne geheim und wollte die Katholikenemanzipation erst nach der Union angehen. In der Zwischenzeit entsandte er Lord Fitzwilliam 1794 nach Irland, um dort für ihn als Lord Lieutenant of Ireland die Regierungsgeschäfte in Dublin zu leiten. Trotz klarer Weisungen agierte Fitzwilliam in Dublin schnell selbstständig; entgegen seinen vorherigen Anweisungen entließ er mehrere altgediente Regierungsbeamte im Dublin Castle. Dazu versprach er auch öffentlich die Gleichstellung der Katholiken, eine Maßnahme die Pitt zwar befürwortete, aber aufgrund noch unter Verschluss hatte halten wollen. Daraufhin wurde Fitzwilliam notgedrungen zurückberufen. Fitzwilliams Rückruf sorgte für zusätzliche Unruhen in der irischen Bevölkerung, die die Entlassung als Reaktion auf Fitzwilliams Unterstützung der Katholikenemanzipation wertete. Bereits durch die Agitation von Anhängern der Jakobiner aufgewiegelt, vergiftete Fitzwilliams Rückruf vollends die Stimmung und führte zu sektiererischen Unruhen. In Ulster bildete sich eine Gruppe namens „Orange Order“, die Katholiken aus Ulster vertrieb. Umgekehrt bildete sich die Bewegung der „Vereinigten Iren“, die nach dem jakobinischen Modell ein Direktorium und Komitees gründete und sich ebenfalls bewaffnete. Als Fitzwilliams Nachfolger wurde der Onkel des jüngeren Robert, der 2. Earl of Camden (Bruder der zweiten Frau seines Vaters), zum neuen Lord Lieutenant of Ireland ernannt. Der jüngere Robert diente seinem Onkel in Dublin als Berater und fungierte bald praktisch als Vertreter des häufig abwesenden Chief Secretary for Ireland. Giles Hunt sah hier den entscheidenden Moment in der politischen Karriere des jüngeren Robert. Durch seine neue Aufgabe wurde der Kontakt zu seinen alten Whig-Freunden und seinen Wählern im County Down bald abgeschnitten; er wandelte sich in kurzer Zeit von einem Mann, der auf Republik und Volk getrunken hatte zu einem Vertreter des Staates. Dazu machte er sich als Vertreter der Regierung und durch seine bald folgenden Handlungen unwiederbringlich unpopulär beim irischen Volk. Camden war mit der sich immer weiter zuspitzenden Situation deutlich überfordert; er forderte mehr Truppen aus England an, um die Kontrolle zu bewahren, unternahm aber sonst zunächst keine Schritte. Sein fähiger Chief Secretary, Thomas Pelham, war aufgrund einer Krankheit zur Genesung nach England zurückgekehrt. Camden führte nun panikartig zwei Gesetze ein, die Sperrstunden einführte, Hausdurchsuchungen und die Todesstrafe für Mitglieder illegaler Bruderschaften legalisierte. Dazu gab er den Forderungen der (protestantischen) Landedelmänner nach, die Yeomanry-Milizen ausheben wollten, um diese Gesetze auch umzusetzen. In der Praxis bedeutete dieses Bündel Gesetze schnell eine Blankovollmacht für Plünderungen und eskalierende Gewalt bis hin zur Lynchjustiz. Der jüngere Robert nahm diese Maßnahmen nicht nur passiv hin, sondern war einer der Berater, die Camden diese drakonischen Maßnahmen vorschlugen. Im September 1796 führte er persönlich eine Truppe Bewaffneter nach Belfast, wo er Mitglieder und Unterstützer der „Vereinigten Iren“ verhaftete. Unter den Gesuchten befanden sich auch einige seiner ehemaligen Unterstützer, die ihn 1790 ins irische Unterhaus gewählt hatten. Unter anderem drang er mit vorgehaltener Pistole in das Haus der Teelings ein, mit denen er persönlich befreundet gewesen war und die zu seinen frenetischen Anhängern gezählt hatten; Teeling und zwei seiner Söhne wurden verhaftet, ein Sohn exekutiert. Für Giles Hunt zeigte der jüngere Robert hier ein Jekyll und Hyde-artiges Verhalten; einerseits ließ er Teeling und seine Söhne unter so harten Bedingungen im Gefängnis, dass ein Sohn im Gefängnis starb und Teelings Gesundheit ruiniert wurde. Andererseits lud er den jüngsten (18-jährigen) Sohn Charles Teeling aus dem Kerker zum Supper und zeigte sich als vollendeter Gastgeber. Für die nächsten Monate war er damit beschäftigt, in Ulster mit einer Mischung aus freundlicher Überredung und unverhohlenen Drohungen Pächter und einfache Leute dazu zu bringen, den Treueeid zu schwören. Im Dezember 1796 führte er seine Soldaten zur Bantry Bay im Südwesten Irlands, um dort eine französische Invasion Irlands abzuwehren; aufgrund ungünstiger Winde konnten die französischen Truppen jedoch nicht anlanden. Anfang 1797 gab Camden, der zunehmend die Kontrolle verlor, seinen Generälen weitere Befugnisse. Im Ergebnis kam es schnell zu weiterer Gewalt, die durch Denunziationen bald weiter eskalierte, die Unzufriedenheit weiter schürte und das Land im Urteil von Castlereaghs Biographen John Bew in die Anarchie abgleiten ließ. Als Zeichen seiner wachsenden Bedeutung für die Administration wurde Castlereagh im Februar 1797 in das Amt des Keeper of the Privy Seal of Ireland und zum Lord des irischen Schatzamtes berufen. Auf Vorschlag seines Onkel übernahm er kommissarisch auch die Rolle des Chief Secretary, wobei er sich auf stark auf seinen Untersekretär Edward Cooke stützte, der im Urteil John Bews ein verschlagener und zynischer Mann war. Trotz Gnadengesuchs ordnete er auch die Exekution einiger führender Rebellen (wie William Orr) an. Im Sommer 1797 waren die Yeomanry-Freikorps und teils auch die britische Armee tief in Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung verstrickt; dies änderte sich erst, als der Befehlshaber Carhampton von General Abercromby ersetzt wurde, der Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung offen kritisierte und untersagte. Castlereagh übernahm den Posten des Chief Secretary auch offiziell im März 1798; am nächsten Tag verkündete das irische Privy Council, dass Irland in offener Rebellion sei und rief den Kriegszustand aus. In Kontrast zu Abercrombys eigenen Ansichten wies Castlereagh den General umgehend an, die Rebellion sofort zu zerschlagen, wo immer Anzeichen zu sehen seien. Während Castlereagh ruhig und effizient agierte, war die Situation für seinen Onkel Camden zu viel. Er trat zurück und teilte Pitt mit, dass sein Nachfolger Lord Lieutenant und Oberbefehlshaber in Personalunion sein müsse, worauf Pitt Lord Cornwallis nach Irland entsandte. Cornwallis zeigte sich entrüstet über die Zustände in Irland; er schlug sofort einen moderaten Kurs ein und ordnete eine Amnestie an. Castlereagh unterstützte sofort vorbehaltlos den von seinem Vorgesetzten angeordneten neuen Kurs und verteidigte ihn gegen die Proteste der protestantischen Gentry. Im folgenden Jahr unterstützte Castlereagh den Versuch von Premierminister William Pitt d. J., die Königreiche Irland und Großbritannien in einem einzigen Königreich zu vereinen. Für Castlereagh war die Union die beste Lösung auch für Irland, da für ihn hierdurch Reformen ohne Revolution möglich wurden. Irland sah Castlereagh nur durch die politische Verbindung mit Großbritannien als lebensfähig an; auch der Handel wäre nur durch die Royal Navy geschützt. Im Fall einer hypothetischen Unabhängigkeit fürchtete Castlereagh zudem, dass Irland schnell zum Spielball der europäischen Mächte werden würde. Castlereagh verhalf als Abgeordneter im irischen Parlament dem von Pitt entworfenen Act of Union im zweiten Anlauf 1800 zur nötigen Mehrheit. Pitt autorisierte Cornwallis, „falls nötig ein wenig geräuscharme Zwänge“ einzusetzen. Cornwallis und Castlereagh begannen nun mit der Kampagne, mit der die Stimmen für die Mehrheit gewonnen werden sollten. Dabei verwendeten sie als Anreiz die bekannten (und im 18. Jahrhundert nicht unüblichen) Methoden zur Stimmgewinnung: Sinekuren, Pensionen und Beförderungen wurden ausgesprochen, um die Inhaber der Unterhaussitze des irischen Parlaments entweder zu gewinnen oder Vakanzen zu schaffen; eine Gesamtsumme von 1,5 Millionen Pfund wurden eingesetzt, um vakante Sitze von den örtlichen einflussreichen Granden zu kaufen, dazu wurden Peerages in ungekanntem Ausmaß versprochen, um wichtige Meinungsführer auf die eigene Seite zu ziehen. Während Cornwallis sich darauf konzentrierte, Peerages auszuloben, war Castlereagh vor allem damit beschäftigt, den Inhabern der durch die Union wegfallenden Sitze finanzielle Kompensationen zu versprechen. Sofern dies nicht ausreichte, scheute Castlereagh auch nicht davor zurück, unverhüllte Drohungen auszusprechen. Dem MP für Waterford, der die angebotene Bestechung ablehnte und damit drohte, die versuchte Bestechung öffentlich zu machen, drohte er (als bekanntermaßen versierter Pistolenschütze) ganz offen und unverhohlen damit, ihn in diesem Fall sofort zu einem Duell zu fordern. Pitt d. J. war nun zuversichtlich, den bekannten Widerstand von König Georg III. gegen die Gleichstellung der Katholiken überwinden zu können, soweit das Kabinett sich einig zeigte. Der Lordkanzler, Lord Loughborough, verriet jedoch die Pläne Pitts vorzeitig an den König; er überzeugte diesen, sich Pitts Plan zu widersetzen, da sie seinen Krönungseid verletzen würden. Der König stellte sich kurz darauf öffentlich vehement gegen den Catholic Emancipation Act, das Gesetz zur Katholikenemanzipation im protestantisch-anglikanischen Königreich. Kabinettsmitglied Angesichts der Opposition des Königs sah Pitt d. J. keine Möglichkeit, die Katholikenemanzipation durchzusetzen. Daraufhin trat er im Februar 1801 zurück, nicht ohne dem König den Speaker Henry Addington als seinen Nachfolger zu empfehlen. Castlereagh und Cornwallis folgten beide Pitts Beispiel und traten mit ihm zurück. Pitt d. J., der in Addington lediglich einen temporären Platzhalter sah, ermutigte jedoch viele seiner engeren politischen Weggefährten, der neuen Regierung beizutreten. Castlereagh, der von April 1801 an mehrere Monate erkrankt war, folgte daraufhin Pitts Rat und wurde im Juli 1802 Präsident des Kontrollamtes. In seinem neuen Amt war er erstmals Mitglied des Kabinetts und zeigte schnell seine administrativen Fähigkeiten. Eine Hauptaufgabe war es in dieser Position, die Angelegenheiten der Britischen Ostindien-Kompanie zu beaufsichtigen. Castlereagh wurde dabei mit bitteren Streitigkeiten zwischen den Direktoren der East India Company und dem Generalgouverneur von Indien, Richard Wellesley konfrontiert. Während er eine Rolle als Mediator einnahm, unterstützte er inhaltlich Wellesley, der in Indien die britische Macht deutlich ausgeweitet hatte. 1804 brach der Krieg mit dem Napoleonischen Kaiserreich erneut aus und Pitt d. J. übernahm als Premierminister bald erneut die Regierungsverantwortung. In der Opposition hatte er sich mit seinem Verbündeten William Grenville überworfen, der erfolglos von ihm gefordert hatte, sich gegen Addington zu stellen und diesen notfalls zu stürzen. Grenville war mitsamt seinen Unterstützern deshalb zu Charles James Fox übergelaufen. Pitt d. J. war nun gezwungen, eine neue Regierung ohne viele seiner alten Verbündeten zu bilden. Dabei stütze er sich nun einerseits auf (oft reaktionäre) Tories, andererseits beförderte er junge Politiker wie Castlereagh, die ihm treu ergeben waren. Castlereagh übernahm neben seinem bisherigen Posten zusätzlich die Bürde des Führers des Unterhauses, um den gesundheitlich bereits stark geschwächten Pitt im Unterhaus zu entlasten. Als Kabinettsminister festigte er seinen Ruf, ein solider und kompetenter Administrator zu sein. 1805 übernahm er dazu das Amt des Kriegs- und Kolonialministers (Secretary of State for War and the Colonies). Er stieg damit zum unverzichtbaren zweiten Mann der Regierung auf. Pitt starb im Januar 1806, woraufhin William Grenville und Charles James Fox die sogenannte Regierung aller Talente bildeten. Castlereagh beteiligte sich nicht an der Regierungsbildung; nach einer Übereinkunft mit den anderen jungen „Pittites“ (wie George Canning und Spencer Perceval) ging die Gruppe gemeinschaftlich in die Opposition. Die Regierung aller Talente erwies sich als kurzlebig und stürzte bereits Anfang 1807 am Widerstand des Königs. Kriegsminister in Portlands Regierung Daraufhin bildete der Herzog von Portland auf Einladung des Königs eine neue Regierung. Wie bereits in seiner ersten Amtszeit als Premierminister (1783) war Portland erneut viel eher eine Galionsfigur als der eigentliche Kopf der Regierung. Die eigentlich führenden Köpfe im Kabinett waren ein Quartett junger Politiker, die alle Pitts Protegés gewesen waren: Neben Castlereagh, der wiederum das Kriegsministerium übernahm, zählten hierzu George Canning als Außenminister, dazu kamen Spencer Perceval in seiner Doppelfunktion als Schatzkanzler und Führer des Unterhauses sowie der Innenminister Lord Hawkesbury (der 1808 nach dem Tod seines Vaters den Titel Earl of Liverpool erbte, mit dem er bekannt wurde). Zum Kabinett gehörte weiterhin auch Castlereaghs Onkel Lord Camden, der als Lord President of the Council amtierte. Canning forderte bei der Regierungsbildung zusätzlich auch den Posten des Führers im Unterhaus ein, den Castlereagh innehatte. Castlereagh war zwar bereit, dieses (als Belastung empfundene) Amt abzugeben, weigerte sich jedoch, es Canning zu überlassen. Als Kompromisslösung fiel die Aufgabe deshalb an Spencer Perceval. Bestimmendes Thema der neuen Regierung war der andauernde Krieg gegen das Napoleonische Frankreich. Großbritannien stand 1807 weitgehend allein und sah sich einem als militärisch überlegen empfundenen Gegner gegenüber. Wie bereits seine Vorgänger war auch das Kabinett Portland uneins über die richtige Strategie. Im Kabinett kam es schnell zu zahlreichen Unstimmigkeiten, die die Regierung zunehmend paralysierten. Premierminister Portland erwies sich als führungsschwach, träge und konfliktscheu. Als direktes Resultat von Portlands Schwäche waren die einzelnen Ressorts sich weitgehend selbst überlassen. Dadurch gab es im Kabinett keine höhere Autorität, die als Schiedsrichter Unstimmigkeiten zwischen den Ressorts beilegen konnte. Innerhalb der Regierung etablierte sich Außenminister George Canning schnell als die treibende Kraft der Regierung; dabei arbeiteten Canning und Castlereagh zunächst einhellig zusammen. Zunächst bei der Entscheidung die Flotte des neutralen Dänemarks entweder über diplomatische Offerten oder notfalls durch Gewalt zu neutralisieren, um sie dem drohenden Zugriff Napoleons zu entziehen, unterstützte Castlereagh Cannings Initiative. Als sich durch Napoleons Intervention in Spanien die Möglichkeit bot, einen neuen Kriegsschauplatz zu eröffnen, war Canning im Sommer 1808 der Taktgeber und Castlereagh im Kabinett ein Anhänger hinter der schnell getroffenen Entscheidung, Truppen unter Führung Arthur Wellesleys (dem späteren Herzog von Wellington) auf die iberische Halbinsel zu verschiffen, um dort den Aufstand gegen Napoleon zu unterstützen. Im Verlauf des Jahres 1808 erkrankte Castlereagh über mehrere Monate hinweg an einer nicht näher beschriebenen Krankheit. Über der Frage des passenden Oberbefehlshabers geriet Castlereagh mit Canning erstmals in Konflikt. Canning sah den bisherigen Befehlshaber Wellesley als geeignete Wahl an, Castlereagh unterstützte dagegen im Kabinett die Forderungen von König Georg III. nach einem formal ranghöheren Offizier und setzte sich schließlich durch. Wellesley schlug die Franzosen im August 1808 in der Schlacht von Vimeiro, wurde dann jedoch den beiden Generälen Burrard und Dalrymple unterstellt. In der Konvention von Cintra verspielten beide den errungenen Vorteil mit einem für Frankreich günstigen Waffenstillstand. Auch der nun anstelle der beiden abberufenen Generäle entsandte – und wiederum von Canning kritisch gesehene – John Moore schlug sich aus Sicht des britischen Kabinetts nicht viel besser und musste seine Armee nach dem Eingreifen Napoleons zurückziehen. Moore fiel im Januar 1809 bei einem Rückzugsgefecht. Dadurch wurde Wellesley erneut Oberbefehlshaber. Die Armee wurde zunächst evakuiert und im Frühjahr nach Portugal entsandt. Erneut in Konflikt gerieten Castlereagh und Canning, als mit Österreichs Kriegserklärung an Frankreich der Fünfte Koalitionskrieg ausbrach. Castlereagh bereitete nun parallel zur iberischen Kampagne eine britische Invasion in den Niederlanden oder in Nordfrankreich vor, um den Verbündeten Österreich zu unterstützen und militärisch zu entlasten. Dies führte zur Planung der Walcheren-Expedition. Canning, der eine Konzentration der begrenzten militärischen Kräfte auf den iberischen Kriegsschauplatz forderte, sah dadurch den Erfolg der iberischen Kampagne gefährdet, unterwarf sich jedoch widerwillig der mehrheitlich getroffenen Entscheidung des Kabinetts. Duell mit Canning Canning suchte nun eine Diskussion mit Premierminister Portland und teilte ihm unumwunden mit, dass die Regierung in ihrer derzeitigen Form nicht geeignet sei, ihre Aufgaben zu erfüllen und deutete seinen Rücktritt an. Er riet Portland zum Rücktritt. Außerdem forderte er eine personelle Neubesetzung im Kriegsministerium. Portland, der weder Canning noch Castlereagh verlieren wollte, beschwichtigte Canning und stimmte zwar grundsätzlich zu, unternahm aber zunächst nichts. Stattdessen zog er zunächst Lord Bathurst (den Präsidenten des Handelsamts) und den König ins Vertrauen, nicht jedoch Castlereagh. Über den Sommer wurden weitere Minister in die Diskussionen über die Kabinettsumbildung und die Frage, wie mit Castlereagh umzugehen sei, einbezogen. Auch Castlereaghs Onkel Lord Camden war involviert, konnte sich jedoch nicht überwinden, seinem Neffen offen über die Vorgänge zu berichten. Portland und Canning gingen zunächst vom Gegenteil aus und erfuhren erst Tage später, dass Camden untätig geblieben war. König Georg III. lehnte den Rücktritt Cannings ab und verbot Portland gleichzeitig, Castlereagh über die Vorgänge zu informieren. Die Walcheren-Expedition nahm schnell einen katastrophalen Verlauf. Canning forderte daraufhin ultimativ Castlereaghs Entlassung. Perceval und Lord Liverpool verständigten sich dagegen auf eine andere Lösung; sie überredeten Premierminister Portland zum Rücktritt und schlugen eine große Kabinettsumbildung als Lösung vor. Portland akzeptierte den Vorschlag und verkündete am 6. September 1809 seinen Rücktritt, sobald ein Nachfolger gefunden sei; zudem teilte er Canning gleichzeitig mit, dass Castlereagh nicht einfach entlassen werden könnte. Canning erneuerte daraufhin seinen Rücktritt und blieb der Kabinettssitzung am nächsten Tag fern. Castlereagh schöpfte nun Verdacht und forderte bei seinem Onkel eine Erklärung, der ihm schließlich die Vorgänge offenbarte. Castlereagh reichte nun ebenfalls seinen Rücktritt ein und nahm an Kabinettssitzungen nicht mehr teil. Nachdem er sich 12 Tage zurückgezogen hatte, schickte er am 19. September 1809 Canning einen mehrseitigen Brief, in dem er ihn anklagte, gegen das Prinzip von Treu und Glauben, sowohl privat als öffentlich, verstoßen zu haben. Er räumte Canning zwar das Recht auf Kritik ein, sah sich aber in seiner Ehre verletzt. Auch warf er Canning vor, hinter seinem Rücken konspiriert zu haben. Der harsch formulierte Brief kam einer Aufforderung zum Duell gleich. Canning blieb nichts anderes übrig, als die Forderung nach einem Duell zu akzeptieren. Das Duell fand am September 1809 statt; nach einem erfolglosen Vermittlungsversuch der Sekundanten kam es zum ersten Waffengang, der ergebnislos blieb. Daraufhin bestand Castlereagh auf einem zweiten Waffengang. Beim zweiten Waffengang verwundete er Canning am Bein, die Wunde war allerdings nicht schwerwiegend. Die Sekundanten erklärten die Angelegenheit damit als erledigt und unterbanden so einen weiteren Waffengang. Der Courier, anders als der Morning Chronicle eher der Regierung als der Whig-Opposition nahestehend, legte wenige Tage danach offen, dass der Grund für das Duell die Forderung nach Castlereaghs Entlassung gewesen sei. Sobald sich am Folgetag Nachrichten über das Duell der zwei Minister verbreitete, war der endgültige Kollaps der Regierung Portland besiegelt. Während die Regierung zunächst versuchte, das Duell als das Ergebnis eines Missverständnisses zu schildern, griffen mehrere Zeitungen das Duell zwischen „Mr. Canting“ und „Lord Castaway“ auch satirisch auf Castlereagh und Canning mussten beide aus ihren Ministerämtern ausscheiden, während Spencer Perceval als neuer Premierminister eine neue Regierung bildete, die sich hauptsächlich auf Lord Liverpool als Kriegsminister und Lord Wellesley als Außenminister stützte. Castlereagh rechtfertigte sich gegenüber seinen engsten Verwandten zunächst in Briefform. Dem König schickte er einen Brief, in dem er sich für seine Duellforderung entschuldigte, gleichzeitig aber bestritt, dass Canning irgendwelche Gründe hätte, sich über sein Wirken als Kriegsminister zu beschweren. Nachdem die öffentliche Meinung zunächst mehrheitlich Canning im Recht gesehen hatte, veröffentlichte Castlereagh am 3. Oktober 1809 eine Rechtfertigung, was einen Meinungsumschwung bewirkte, da Castlereagh nun als Opfer einer Verschwörung seiner Kabinettskollegen gesehen wurde, die heimlich gegen ihn konspiriert hatten. Hinterbänkler Als Resultat aus dem Duell verbrachten Castlereagh und Canning die nächsten Jahre außerhalb jeder Regierungsverantwortung; Castlereagh, weniger getrieben als Canning, war über sein Exil nicht unglücklich und genoss die Untätigkeit. Im Unterhaus erschien er hauptsächlich, soweit er sich selbst betroffen sah; er verteidigte in emotionalen Reden seinen Anteil an der fehlgeschlagenen Walcheren-Expedition, für die er als Ideengeber und Administrator maßgeblich verantwortlich gewesen war. Während er sonst mit der Regierung stimmte, wandte er sich im Januar 1810 gegen seine ehemaligen Kabinettskollegen und stimmte gemeinsam mit der Opposition, um eine Untersuchungskommission einzurichten, die sich mit den Gründen für den Fehlschlag befassen sollte. Nachdem diese eingerichtet war, schwenkte er wieder um und unterstützte die Regierung gegen einen Misstrauensantrag der Opposition. 1810 versuchte Perceval zum ersten Mal erfolglos, Castlereagh und Canning in die Regierung zu integrieren. Castlereagh lehnte jedoch sofort ab. Stattdessen zog er sich mit seiner Frau auf sein Landgut in Kent zurück, wo er sich der Zucht von Schafen widmete und ein ruhiges Leben führte. Rückkehr in die Regierung Anfang 1811 wurde Georg III. für regierungsunfähig erklärt und sein Sohn Georg IV. zum Prinzregenten bestellt. Während König Georg III. Castlereagh seine Beteiligung an der gescheiterten Gleichstellung der Katholiken nie vergeben hatte, unterhielt Castlereagh zum Prinzregenten enge Bande. Sein Cousin Lord Yarmouth war ein persönlicher Favorit des Prinzregenten; dazu war Castlereaghs Onkel mütterlicherseits, der Marquess of Hertford der Kammerherr und dessen Frau die Geliebte des Prinzregenten. Wie bereits 1788/1789 enttäuschte der Prinzregent die oppositionellen Whigs und hielt an Percevals Regierung fest. Nach dem Rücktritt des Marquess Wellesley im Februar 1812 versuchte Perceval erneut, Castlereagh ins Kabinett einzubinden. Castlereagh akzeptierte dieses Mal die Offerte und übernahm nun das vakante Amt des Außenministers. Als Spencer Perceval im Mai 1812 von einem Bankrott gegangenen Geschäftsmann ermordet wurde, versuchte der Prinzregent, eine neue Regierung in verschiedenen Kombinationen zu finden. Schließlich beauftragte er Lord Liverpool mit der Regierungsbildung. Mit dem neuen Premierminister im Oberhaus war Castlereagh das einzige Kabinettsmitglied von Gewicht im Unterhaus. Deshalb versuchten der Prinzregent und Liverpool, die Regierung zu stärken und den rhetorisch gewandten Canning in die Regierung zu integrieren. Dazu fand auf Liverpools Initiative ein Versöhnungstreffen zwischen den ehemaligen Duellanten statt; Castlereagh zeigte sich bereit, das Außenministerium an Canning zu übergeben und dafür Schatzkanzler zu werden. Canning forderte, wie bereits 1807, jedoch zusätzlich die Führerschaft im Unterhaus (Leadership of the House). Castlereagh war nicht dazu bereit, Canning auch in dieser Position zu akzeptieren, so dass Canning auf den Hinterbänken verblieb. Castlereagh wurde nun auch Fraktionsführer der Regierung im Unterhaus und übernahm somit eine führende Rolle in der britischen Politik während der entscheidenden Phase der Koalitionskriege. Außenminister Castlereagh wurde in dem Moment Außenminister, als Napoleons Vorherrschaft in Europa durch dessen Niederlage im Russlandfeldzug 1812 ins Wanken geriet. In seiner Strategie folgte Castlereagh zunächst dem “Pitt–Plan”, einem Memorandum, in dem Pitt d. J. 1805 die Kriegsziele gegen das napoleonische Frankreich und Vorschläge für eine Nachkriegsordnung skizziert hatte. Pitt d. J. hatte in seinem Memorandum die Vision eines Vertrags entworfen, in dem sich alle Großmächte Europas in einem Defensivbündnis zusammenschließen sollten, um sich damit gegenseitig gegen eine eventuelle künftige Aggression einer revisionistischen Macht abzusichern. Dazu sollten die Niederlande und Belgien fusioniert werden, um ein Bollwerk gegen französische Expansionsgelüste zu schaffen. Dem Pitt–Plan folgend konzentrierte Castlereagh zunächst seine Bemühungen darauf, ein gutes Einvernehmen mit dem Zaren herzustellen, da in Pitts Meinung Großbritannien und Russland natürliche Verbündete wären, weil sie saturierte Mächte seien. Russland sei eine „uneigennützige Macht“ in Europa, somit gebe es keine möglichen Konflikte. Gegenüber Österreich und seinem Außenminister Metternich nahm Castlereagh zunächst eine misstrauische Haltung ein. Seit der Heirat zwischen Marie-Louise von Österreich und Napoleon war jeder Kontakt zwischen London und Österreich erloschen. Getreu dem Pitt-Plan legte Castlereagh deshalb in der Folge seine Vorschläge und Pläne zunächst jeweils Zar Alexander vor. Nach Jahren der weitgehenden außenpolitischen Isolation infolge der Dominanz Napoleons und der von ihm verordneten Kontinentalsperre sah sich Castlereagh zusätzlich der Herausforderung gegenüber, Informationen vom europäischen Festland zu gewinnen und wieder Kontakte zu anderen Regierungen (und möglichen Verbündeten) zu knüpfen. Castlereaghs Auswahl von Emissären fand dabei bei allen Historikern Kritik. William Cathcart, ein Militär, der wenig von komplexen Verhandlungen verstand, war als britischer Unterhändler beim Zaren mit der Aufgabe betraut, ein enges Bündnis herzustellen. Da Großbritannien bereits in Spanien Krieg führte, beschränkten sich die Zusagen auf erhebliche finanzielle Subsidien zur Finanzierung des Kriegs. Um Schweden als Partner zu gewinnen, bot Castlereagh dem schwedischen Kronprinzen Bernadotte ebenfalls (erfolgreich) erhebliche Subsidien zur Kriegsfinanzierung an. Als sich Preußen im Februar 1813 von Frankreich lossagte und Großbritannien um Subsidien bat, um seinen Kriegseintritt gegen Frankreich zu finanzieren, entsandte Castlereagh im März 1813 seinen Halbbruder Charles nach Preußen, der von allen Seiten als ungeeigneter Diplomat betrachtet wurde. Metternich, der Johann von Wessenberg als inoffiziellen Emissär nach London sandte, um Verhandlungen zu beginnen, wurde dagegen weiterhin von Castlereagh zunächst als Gegner angesehen. Castlereagh weigerte sich, mit Wessenberg zu sprechen; Metternich nannte er „einen politischen Harlekin“ und drückte damit den britischen Konsens aus. Als Österreich die Seiten wechselte und Frankreich den Krieg erklärte, entsandte er Lord Aberdeen zu Metternich. Durch die unterschiedlichen Ansichten der britischen Abgesandten im Lager der Alliierten äußerten diese im Dezember 1813 jedoch den Wunsch, mit einem einzigen britischen Bevollmächtigten zu verhandeln. Daraufhin reiste Castlereagh – als erster britischer Außenminister – im Januar 1814 selbst auf den Kontinent. In Basel traf er auf die vorrückenden alliierten Armeen und hatte ein Treffen mit Metternich, mit dem er sofort ein Einvernehmen fand. Dagegen erkannte er in Bezug auf Zar Alexander, dass die ursprüngliche Annahmen von Pitt d. J. in Bezug auf Russland falsch gewesen waren. Als Außenminister war es ihm zu verdanken, dass er die Allianz während der entscheidenden Phase des Krieges 1813 und 1814 zusammenhielt. Bei Verhandlungen in Châtillon und Chaumont kamen Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland zu einem Vertrag, der zur Bildung der Quadrupelallianz führte. Nach der Niederlage Napoleons und seiner Abdankung zog die Alliierte Armee in Paris ein; Castlereagh trat entschlossen für eine Mäßigung bei einer Bestrafung Frankreichs ein und sprach sich für milde Friedensbedingungen aus. Im Mai 1915 kam es zum Ersten Pariser Frieden; Castlereagh war hier bereits in der Lage, so gut wie alle vorherigen britischen Kriegsziele durchzusetzen. Ungelöst blieb zunächst die „polnische Frage“, da Zar Alexander offenbar das gesamte Polen annektieren wollte und die „deutsche Frage“, da es keine Einigkeit über die künftige Grenzziehung in Deutschland gab. Bei seiner Rückkehr nach Britannien wurde Castlereagh wie ein Held empfangen. Ein Besuch des Zaren in London entfremdete zudem beide Seiten voneinander. Der Zar versuchte erfolglos mit den führenden Köpfen der Opposition (Lord Holland & Lord Grey) gegen die Regierung Liverpool zu konspirieren. Holland und Grey zeigten sich von Zar Alexander nicht beeindruckt und seine Intrige lief ins Leere. Im Ergebnis weckte er somit lediglich bei Regierung und Opposition gleichermaßen Misstrauen. Zudem erreichten Castlereagh im Außenministerium immer mehr Berichte aus allen Teilen Europas, wo russische Agenten ihren Einfluss geltend machten, um für Unruhen zu sorgen und gegen die jeweiligen Regierungen zu intrigieren. Auf dem folgenden Wiener Kongress, wo er ebenfalls Großbritannien vertrat, wurde Castlereagh mit dem vollen Ausmaß der hegemonialen Bestrebungen Alexanders konfrontiert. Hier dominierte die „polnische Frage“ die Verhandlungen. Zar Alexander war entschlossen, Polen als ganzes zu annektieren und Preußen dafür mit der Annexion von Sachsen zu entschädigen. Preußen mit seiner dann nicht zu verteidigenden Ostgrenze wäre so zu einem Satelliten Russlands geworden. Zudem wäre die komplette Annexion Sachsens für Österreich und die kleineren deutschen Staaten inakzeptabel gewesen. Nach Ansicht von Metternich und Castlereagh wäre das Gleichgewicht in Deutschland und Europa dann völlig zerstört worden. Die langwierigen Verhandlungen gerieten deshalb in eine Sackgasse. Castlereagh und Metternich, im Einklang agierend, bezogen Frankreichs Vertreter Talleyrand allmählich heimlich in ihre Beratungen mit ein; gemeinsam regten sie Ende Dezember 1814 an, dass Talleyrand offiziell an den Konferenzen der Großen Vier teilnehmen solle. Preußen, dass sich isoliert und um seine Entschädigung (in Form von Sachsen) gebracht sah, drohte daraufhin offen mit Krieg. Im Januar 1815 schlossen Metternich und Castlereagh schließlich in einem Wechsel der Allianzen mit dem französischen Diplomaten Talleyrand ein Defensivbündnis. Die Niederlande, Bayern und Hannover traten dem Bündnis bei. Mit der Aussicht auf einen neuen allgemeinen Krieg konfrontiert, lenkten sowohl Preußen als auch Zar Alexander jeweils schließlich ein; Preußen erhielt wie von Castlereagh favorisiert das Rheinland, Zar Alexander trat Teile des besetzten Polen ab. An diesem Punkt wurde Castlereagh dringend nach England zurückgerufen, da sich Premierminister Liverpool außerstande sah, ohne Castlereagh die Fraktion zu leiten und den Regierungskurs im Unterhaus wirksam zu verteidigen. Er wurde durch Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington als Hauptbevollmächtigter abgelöst. Während Castlereagh sich bis 1815 weitgehend in Einklang mit seinen Landsleuten befand, brach danach ein latenter Konflikt auf. Castlereagh vollführte in den folgenden Jahren zunehmend einen Balanceakt; dem eigenen Kabinett und seinen Landsleuten ging sein Engagement in Europa zu weit. Seinen Partnern in Europa waren Castlereaghs Zusagen zu wenig, da sie formelle Zusagen und Allianzen wünschten. Henry Kissinger sieht hier den Widerspruch in den unterschiedlichen geographischen Ausgangspositionen der Länder begründet; Castlereaghs Verbündeter Metternich habe keinen schützenden Ärmelkanal gehabt, hinter dem er sein Land vor potentiellen Aggressoren (wie Frankreich oder Russland) zurückziehen konnte. Zudem sei Großbritannien sich seiner eigenen Institutionen sicher gewesen und damit gleichgültig gegenüber potentiellen Umstürzen in anderen Ländern gewesen. Metternich dagegen bekämpfte die nationalen und liberalen Bewegungen schon aufgrund der innenpolitischen Strukturen Österreichs. Auch in der Zeit nach dem Kongress blieb Russland eine konstante Bedrohung für das Gleichgewicht der Kräfte. Auf dem Aachener Kongress von 1818 zeigte Castlereagh erneut sein politisches Geschick, als er es verstand, den Versuchen des russischen Zaren Alexander zu widerstehen, Großbritannien in die Heilige Allianz einzubinden. Zar Alexander, der immer stärker einem religiösen Mystizismus anhing, versuchte in Aachen die bestehende Viererallianz umzuformen und einen allgemeingültige Ordnung in Europa zu erreichten. Diese sollte die bestehenden Grenzen garantieren und die innenpolitischen Strukturen alle Länder vor allen möglichen Veränderungen und Umstürzen bewahren. Castlereagh lehnte das Prinzip sofort ab; im zunehmend isolationistisch gestimmten britischen Kabinett sprach sich der zwischenzeitlich wieder in die Regierung zurückgekehrt Canning zudem auch gegen das Prinzip regelmäßiger Konferenzen aus, da Großbritannien dadurch in kontinentale Angelegenheiten verwickelt werden würde. Im Ergebnis des Kongresses wurde erneut die gemeinsame Solidarität beschworen, die vertraglichen Bindungen blieben aber hinter den Vorstellungen des Zaren zurück. Im Mai 1820 verfasste Castlereagh zudem eine Denkschrift; er führte aus, dass die Quadrupelallianz einzig dem Zweck gedient habe, den Expansionsdrang Frankreichs in Grenzen zu halten und zu kontrollieren, nicht aber, um die Welt zu regieren oder in anderen Staaten überall in Europa zu intervenieren. Er gestand den Großmächten lediglich zu, in ihren eigenen Einflusssphären aktiv zu intervenieren, so wie Österreich es zuvor in Italien getan habe. Bei den folgenden Kongressen von Troppau und Laibach war Castlereagh bereits nicht mehr anwesend; er zeigte sich kritisch über die dort beschlossene Interventionspolitik, verteidigte aber im Unterhaus dennoch das Recht der Monarchen auf Intervention, um die Harmonie der Allianz zu bewahren. Mit dem Ausbruch des Griechischen Aufstands gegen die osmanische Herrschaft kam die Orientalische Frage auf die Tagesordnung. Die Griechen genossen einhellige Sympathie in der britischen Öffentlichkeit. Castlereagh bereitete sich darauf vor, beim anstehenden Kongress selbst aufzutreten und gegen eine Intervention der Heiligen Allianz in Spanien zu plädieren. Führer des Unterhauses Als Führer des Unterhauses kam Castlereagh besonders nach 1815 in zunehmendem Maße eine Schlüsselrolle in der Regierung zu. Premierminister Liverpool und mehrere andere führende Kabinettsmitglieder saßen im Oberhaus, so dass Castlereagh bei den Debatten im Unterhaus gewöhnlich als führender Regierungsvertreter die Hauptlast trug. Zudem war es seine Aufgabe, die Geschlossenheit der Regierungsfraktion im Unterhaus sicherzustellen. Da Whips als Garanten für die Fraktionsdisziplin bei Abstimmungen noch keine bedeutende Rolle spielten, kam Castlereagh hier eine Schlüsselposition zu. Großbritannien befand sich nach 1815 in einer schwierigen ökonomischen Lage; dazu führten Missernten zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Um die Ordnung zu bewahren, antwortete die Regierung darauf bald mit verschärften Gesetzen, die von liberalen Kreisen zunehmend als Einschränkung der Freiheit verstanden wurden. Castlereagh wurde bald zum Hauptziel von öffentlicher Kritik in der Presse und auch der Kunst. 1819 veröffentlichte der Dichter Lord Byron sein Poem Don Juan, in dem Castlereagh – der das hauptsächliche Feindbild war – von Byron als ein „Par-excellence-Fall von verbaler Unverständlichkeit und unterdrückter Sexualität“ verspottet wurde. Im gleichen Jahr kam es zum sogenannten Peterloo-Massaker; die lokalen Behörden beschlossen, eine friedliche Massendemonstration mit Gewalt aufzulösen, was zu 15 Toten und hunderten Verletzten führte. Castlereagh, der das Vorgehen der Behörden eigentlich für unverzeihlich hielt, kam es als Regierungsmitglied und Führer des Unterhauses im Anschluss zu, die Regierung im Unterhaus zu verteidigen. Mehr noch als bei seiner Rolle in der Niederschlagung der irischen Rebellion führte das Peterloo-Massaker dazu, Castlereaghs Ruf als reaktionären, tyrannischen Politiker zu zementieren. Percy Bysshe Shelley verfasste als Reaktion auf die Vorgänge sein Poem "The Masque of Anarchy", indem er die Freiheit beschwor, zum gewaltfreien Protest aufrief und die ungerechten Formen der Autorität anprangerte. Mehrere Regierungsmitglieder wurden mit einem Thema als Masken dargestellt; Castlereagh wurde dabei die Maske des Mörders zugeteilt: I met Murder on the way – He had a mask like Castlereagh – Very smooth he looked, yet grim; Seven bloodhounds followed him. (dt.: Unterwegs traf ich einen Mörder – Er trug eine Maske die wie Castlereagh aussah – Sehr geschmeidig sah er aus, doch auch grimmig; sieben Bluthunde folgten ihm.) Mit dem erst nach Castlereaghs Tod veröffentlichtem Poem von Shelley und Byrons Attacken wurde ein negatives Bild Castlereaghs nachhaltig geprägt. Auch 1820 stand Castlereagh im Zentrum einer öffentlichen Kontroverse, als König Georg IV. seine Pläne vorantrieb, seiner von ihm getrennt lebenden Gattin Caroline von Braunschweig die Rechte einer Königin vorzuenthalten und die Ehe mit ihr aufzulösen. Im Juni 1820 kehrte die bei der einfachen Bevölkerung sehr beliebte Caroline nach London zurück und wurde von großen Mengen umjubelt empfangen und nach London eskortiert. König Georg IV. strebte weiter eine Annullierung der Ehe an; auf sein Drängen hatte die Regierung das Pains and Penalties Bill ausarbeiten lassen, um seiner Gattin die Rechte einer Königin vorzuenthalten und die Ehe mit ihr aufzulösen. Während der König weitgehend unpopulär war, wurde Caroline von Braunschweig von der Bevölkerung bejubelt empfangen. Caroline zog bei Freunden ein, die nur wenige Häuser von Castlereaghs Haus am St. James's Square entfernt wohnten, obwohl ihr andere und bessere Räumlichkeiten angeboten worden waren. Castlereagh, der mit der Angelegenheit persönlich betraut worden war, wertete das als implizite Kampfansage. Erneut wurde er zum Hauptziel von öffentlichen Unmutsbekundungen; Mobs bildeten sich, die Castlereaghs Haus mit Steinen bewarfen und Castlereagh zog daraufhin ins Foreign Office. Die Regierung zog den Pains-and-Penalties-Gesetzesentwurf sofort zurück, als klar wurde, dass diese Gesetzesvorlage keine Mehrheit im Unterhaus finden würde. Selbstmord Trotz seiner diplomatischen Erfolge beim Volk unbeliebt, war Castlereagh das Ziel anhaltender publizistischer Attacken. Als Sprecher des Unterhauses war es seine Aufgabe, unpopuläre Maßnahmen der Regierung zu verteidigen. Im Juli 1822 gestand Castlereagh seinem Halbbruder Charles, dass die Bürde der Regierungsverantwortung schwer auf ihm laste und er nach Alternativen und mehr Ruhepausen suche. Am 9. August 1822 wurde Castlereagh auf der St. James’s Street in derangiertem Zustand gesehen. Während einer nachfolgenden Audienz bei Georg IV. äußerte er in Bezug auf den bevorstehenden Veroneser Kongress, die Zeit sei gekommen, sich von Europa zu verabschieden; außer ihm und dem König gebe es niemanden im Land, der Europa kenne und verstehe. Danach überraschte Castlereagh den König zunächst mit der Aussage, die Polizei suche bereits nach ihm, um ihn zu verhaften. Man beschuldige ihn „des gleichen Verbrechens wie den Bischof von Clogher“ – dieser war im Juli 1822 in einem Pub mit einem jungen Mann und heruntergelassener Hose erwischt worden. Der König zeigte sich alarmiert über Castlereaghs Verhalten und versuchte, ihn zu beruhigen. Wellington als sein engster Freund und Verbündeter im Kabinett besuchte Castlereagh noch am gleichen Tag; Castlereagh, der Anzeichen von Paranoia zeigte, beschuldigte ihn, Teil einer Verschwörung gegen ihn zu sein. In den nicht immer völlig zuverlässigen Erinnerungen von Fürstin Dorothea von Lieven habe Castlereagh beim König ausgerufen: „Ich bin verrückt. Ich weiß, dass ich verrückt bin.“ Auch gegenüber Wellington habe er im Gespräch geäußert: „Ja, ich weiß, ich bin verrückt. Ich weiß es seit einiger Zeit.“ Wellington schickte danach sofort nach Castlereaghs Arzt Dr. Bankhead, der ihm Blut abnahm und ihn auf sein Landgut in Kent begleitete, wo er unaufhörlich zusammenhanglos redete und phantasierte. Vorsorglich wurden ihm seine Pistolen und alle Messer im Haus weggeschlossen. Am frühen Morgen des 12. August 1822 schnitt er sich mit einem unbemerkt gebliebenen Brieföffner die Kehle durch. Rezeption Reaktion auf den Selbstmord Castlereaghs Selbstmord sorgte für ein weites Echo in der Öffentlichkeit, wobei die Reaktionen zwischen Schock und Jubel weit auseinandergingen. Der bestürzte Metternich nannte Castlereagh unersetzbar; König Georg IV. kondolierte Liverpool und Castlereaghs Frau. Während Henry Hardinge Castlereaghs Tod mit Nelsons Schlachtentod bei Trafalgar verglich und ihn als einen Märtyrer stilisierte, gab es in der Presse auch an bitterbösen Epigrammen mit beleidigenden Inhalten keinen Mangel. Die von William Cobbett herausgegebene Political Register veröffentlichte die Nachricht von Castlereaghs Selbstmord auf seiner Titelseite in Form eines fiktiven Briefs an einen aus politischen Gründen Inhaftierten, der „in der Tiefe seines Kerkers“ aus dieser Nachricht Trost und Hoffnung schöpfen solle. Lord Byron veröffentlichte auf die Nachricht von Castlereaghs Selbstmord hin prompt einige Verse, die eine weite Rezeption fanden und mit den Zeilen endeten: „Also hat Er sich endlich seine Kehle durchgeschnitten. Er? Wer? Der Mann, der seinem Land schon lange vorher die Kehle durchgeschnitten hat.“ Dazu veröffentlichte er kurz darauf ein vierzeiliges Epigramm, in dem er Reisende dazu anhielt, auf Castlereaghs Grab zu urinieren. Kritik für dieses Epigramm erhielt er auch von ausgesprochenen Gegnern Castlereaghs. Castlereaghs Tod wurde bei einer Untersuchung als Folge von Wahnvorstellungen beschrieben. Er wurde auf Wunsch seiner Frau Emily am 20. August 1822 in einem vollen Staatsbegräbnis in der Westminster Abbey zu Füßen von William Pitt dem Jüngeren zu Grabe getragen; die Sargträger in der Westminster Abbey waren die Kabinettsmitglieder Liverpool, Wellington, Vansittart, Sidmouth, Ellenborough und Robinson. Castlereagh hatte beim Tod seines Vaters 1821 dessen Titel als 2. Marquess of Londonderry geerbt, war aber nicht wie dieser als irischer Representative Peer ins House of Lords gewählt worden. Der Titel ging bei seinem Tod an seinen jüngeren Halbbruder Charles über. Theorien zu Castlereaghs Selbstmord: Kriminalfall oder Krankheit? Während darauf verwiesen wurde, dass ein Selbstmord in dieser Zeit kein besonders ungewöhnliches Phänomen war, war der Selbstmord Castlereaghs ein Schock für seine Zeitgenossen. Zahlreiche Theorien in diversen Publikationen beschäftigen sich mit möglichen Erklärungsversuchen. H. Montgomery Hyde widmete den Vorgängen 1959 ein Buch (The Strange Death of Lord Castlereagh). Er stützte sich auf ein wiederentdecktes Pamphlet von 1855, in dem der Reverend James Richardson auf Grundlage von Enthüllungen eines Bekannten von Castlereagh die Geschichte präsentierte, dass Castlereagh sich als Erpressungsopfer sah: Während er spätabends vom Parlament durch den St. James’s Park nach Hause gegangen war, sei er regelmäßig von dort flanierenden Prostituierten angesprochen worden; bei einer Gelegenheit im Jahr 1819 habe er ein solches Angebot angenommen und sei der Prostituierten zu einem nahen Bordell gefolgt. Dort sei er von mehreren Männern überwältigt worden, gleichzeitig habe „die Dame“ sich entkleidet und als ein verkleideter Mann herausgestellt. Von diesem Moment an sei er erpresst worden mit der Drohung, ihn als Sodomiten bloßzustellen. Douglas Hurd stützte sich 2010 ebenfalls auf diese Version. Giles Hunt stellte in seinem Buch 2008 eine gänzlich andere Theorie vor: Castlereagh habe zum Zeitpunkt seines Selbstmords an Syphilis im Tertiärstadium (weit fortgeschrittenem Zustand) gelitten. Die Syphilis habe er sich in seiner Studienzeit in Cambridge zugezogen, was ihn zu seiner Unterbrechung des Studiums gezwungen hätte. Als Beweis sah er einen Brief von Castlereagh Onkel Lord Camden an seinen Neffen aus dieser Zeit, in dem dieser von einer Krankheit spricht, „die nicht direkt vor den Frauen eingestanden werden kann“. Diese Formulierung könne sich nur auf eine Sexuell übertragbare Erkrankung beziehen. 1801 und erneut 1808 (als er als Kriegsminister zwei Monate ernstlich erkrankt war) habe Castlereagh weitere Schübe der Krankheit gehabt. Auch einige bekannte drastische Gefühlsausbrüche Castlereaghs seien ein Indiz, da sie für eine so selbstbeherrschte Person gänzlich uncharakteristisch seien. Weiter verweist er auf Deborah Haydens Buch Pox: Genius, Madness, And The Mysteries Of Syphilis, in der diese die Syphilis bei vielen prominenten Menschen nachzuweisen versuchte und dabei davon ausgeht, dass zu der Zeit in den meisten europäischen Städten etwa 15 Prozent der Bevölkerung an der Syphilis litten. Hunt zog zur Abklärung einen Neurochirurgen zu Rate, der eine Diagnose auf Basis der vorhandenen Fakten aufstellte und die Diagnose Syphilis aufstellte. Wie John Bew 2011 ergänzend hinzufügte, sei durch Hunts Theorie auch erklärbar, dass Castlereaghs als glücklich beschriebene Ehe mit seiner Frau Emily kinderlos geblieben sei, da er an Unfruchtbarkeit litt. Bew hält es gleichzeitig für möglich, dass Castlereagh sich das Leben aufgrund der ursprünglich attestierten Wahnvorstellungen nahm. Bewertung seines Wirkens Castlereagh galt nach seinem Tod als einer der großen Schurken in der politischen Geschichte des Vereinigten Königreiches. Sein kompromissloses Niederschlagen des Irischen Aufstands 1798 machte ihn in Irland ebenso zu einer verhassten Person wie auch in liberalen Kreisen des Vereinigten Königreiches. Auch sein Einvernehmen mit der Heiligen Allianz nach 1815 führte zu Ablehnung. Das „Peterloo-Massaker“ ruinierte für lange Zeit vollends seinen Ruf. Während sein Nachfolger Canning für seine klare Distanzierung zur Heiligen Allianz gefeiert und zum Vertreter eines fortschrittlichen Liberalismus stilisiert wurde, wurde Castlereagh in gleichem Maß geschmäht. Wie John Bew 2011 vermerkte, etablierte sich schnell auch in der Geschichtsschreibung ein wiederkehrendes Muster: Auf eine tendenziell günstige historische Einordnung Castlereaghs folgte jeweils zeitnah eine kritische Replik, die Castlereagh als Reaktionär zeichnete. Im Jahr 1861 veröffentlichte Archibald Alison die erste, äußerst kritisch aufgenommene große Studie über Castlereagh, in der er Castlereagh sehr positiv und als politischen Primus inter pares im Kampf gegen Napoleon zeichnete. Castlereagh hat für seine Rolle in der Niederschlagung des irischen Aufstands – besonders in Irland – starke Kritik und Polemiken auf sich gezogen. Während der irische Schriftsteller und Nationalist John Cashel Hoey 1867 Castlereaghs Berater Edward Cooke als den eigentlich Schuldigen ausmachte, der ein „satanisches Vergnügen“ daran gehabt hätte, Castlereagh auf dunkle Wege zu führen, zeichnete der einflussreiche irische Nationalist und Autor Francis Joseph Bigger 1906 in seiner Biographie von William Orr das polemische Bild Castlereaghs, der über Spione und Verführer überall geboten hätte und als perfider Manipulator von Dublin Castle aus selbst die irische Rebellion entfachte, um Irland dann in Blut zu tränken und dadurch im Resultat den Act of Union zu bewerkstelligen. Der ehemalige Cambridge-Absolvent Charles Webster veröffentlichte 1925 seine Studie über die Außenpolitik Castlereaghs. Webster widersprach der bis dahin vorherrschenden Meinung und argumentierte, Castlereagh habe nie versucht, Großbritannien in die Heilige Allianz zu integrieren. Bereits in Aachen 1818 habe er sich von der Heiligen Allianz distanziert und Großbritannien auf einen isolationistischen Kurs geführt. Cannings Kurs der Abgrenzung und Isolation habe er so bereits vorweggenommen. Castlereagh habe lediglich einen weit konzilianteren Stil gepflegt als Canning, der sich auch öffentlich scharf von der Heiligen Allianz abgrenzte. Webster erhielt für seine Arbeit vielfaches Lob; noch 2011 urteilte John Bew in seiner Biographie Castlereaghs, niemand habe mehr dafür getan, Castlereaghs Ruf wiederherzustellen als Charles Webster. Mit seinen Schlussfolgerungen provozierte Webster den Widerspruch seines Cambridge-Zeitgenossen und Bekannten Harold Temperley, der 1905 eine Biographie George Cannings und 1925 eine Studie über Cannings Außenpolitik veröffentlicht hatte. In der Folge kam es zwischen beiden zu einem jahrelangen Disput über die geschichtliche Einordnung Cannings und Castlereaghs. Temperley wies viele von Websters positiven Einschätzungen zurück und verteidigte Cannings Verdienste als Außenminister energisch. Während sie eine immer engere persönliche Freundschaft verband, trugen Webster und Temperley einen jahrelangen öffentlichen Historikerstreit vor allem über die Gewichtung der jeweiligen Außenpolitik als auch verschiedene biographische Aspekte wie das Duell zwischen Castlereagh und Canning aus. In diversen Artikeln im Cambridge Historical Journal als auch bei öffentlichen Debatten stritten beide über Castlereaghs und Cannings Meriten, bevor Temperley schließlich einräumte, dass Castlereagh sicherlich weniger an verdienter Anerkennung und Lob zuteilgeworden war als umgekehrt Canning. Henry Kissinger setzte Castlereagh 1957 in seiner kurz darauf als Buch veröffentlichten Dissertation (Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs) ein Denkmal; dank der Größe Castlereaghs und seines Verhandlungsgeschicks sei nach der Niederlage Napoleons eine stabile Nachkriegsordnung auf Basis einer neuen Legitimität etabliert worden, die über 50 Jahre lang Bestand gehabt habe. Seine Unterstützung und Rückendeckung habe es zudem Metternich wiederholt erlaubt, sich den hegemonialen Ambitionen von Zar Alexander zu widersetzen. Als europäischster aller britischen Staatsmänner habe er eine Verbindung zu Europa hergestellt und diese auch gegen innere Opposition aufrechterhalten. Dies sei umso bemerkenswerter, da Castlereagh in seiner gesamten bisherigen Karriere niemals tiefgehende Konzepte und Ideen entwickelt hatte. 1981 veröffentlichte Wendy Hinde ihre Biographie Castlereaghs. Sie legte dabei besonderen Fokus auf Castlereaghs Zeit in Irland und hob hervor, dass Castlereagh vor allem auch als Führer des Unterhauses die tragende Stütze von Liverpools Regierung gewesen sei. Wie auch andere Biographien schilderte sie Castlereagh als schwierig zu fassenden, weil zurückgezogenen Charakter, der essentiell hinter einer liebenswürdigen Fassade wenig von sich preisgegeben habe. In den 2000er-Jahren verstärkte sich das Interesse an Castlereagh. 2007 veröffentlichte Adam Zamoyski seine Darstellung (dt: 1815: Napoleons Sturz und der Wiener Kongress) des Wiener Kongresses. Wie die meisten Biographen charakterisierte er Castlereagh als fähigen Politiker mit rascher Auffassungsgabe, nicht jedoch als originellen Denker. Kissingers positiven Schlussfolgerungen in Bezug auf die Ergebnisse des Wiener Kongresses widersprach er; zum einen habe es auch in den Jahren nach 1815 mehrere kleinere Kriege in Europa gegeben, weswegen eine wirklich stabile Friedensordnung also nicht erreicht wurde. Zum zweiten sei die Friedensordnung des Wiener Kongresses nie vollständig umgesetzt worden. Drittens widersprach er Kissingers Legitimitäts-Argument; beim Wiener Kongress hätten die großen Mächte zwar eine neue Ordnung geschaffen, die aber die kleineren Staaten Europas ebenso ignorierte wie die öffentliche Meinung. 2008 veröffentlichte Giles Hunt seine Darstellung des Duells zwischen Castlereagh und Canning, in dem er auch biographische Studien der beiden Kontrahenten und eine neue These über die Ursache von Castlereaghs Selbstmord einbrachte. Für Hunt war es ein Glücksfall, dass Castlereagh anstelle von Canning Außenminister auf dem Wiener Kongress war; auch wenn er keine andere politische Linie als Canning vertreten hätte, so wäre es ihm mit seinem aristokratischen Hintergrund möglich gewesen, Zar Alexander die Stirn zu bieten; dieser hätte umgekehrt Canning wohl nicht als gleichwertigen Verhandlungspartner betrachtet. In seinem Buch und der gleichnamigen BBC-Dokumentation Getting Our Way zeichnete der ehemalige britische Botschafter Sir Christopher Meyer 2009 ein äußerst positives Bild Castlereaghs. Darauf folgten zahlreiche negative Repliken; so meinte der Kolumnist John Lloyd in der Financial Times: „Meyers Held sei Castlereagh, Erz-Realist und Architekt des europäischen Konzerts der Großmächte, ein Einklang um nationales Streben zu unterdrücken....eine Vision der Welt, die man am besten vergesse.“ David Aaronovitch äußerte dazu in der Sunday Times, dass Castlereaghs Diplomatie lediglich imperiale Reaktionäre für 100 Jahre lang gestärkt habe. Ebenfalls in der Sunday Times äußerte A. A. Gill, Castlereagh sei „der verabscheuungswürdige Manipulator auf dem Wiener Kongress....der in der Verleugnung der Aufklärung resultiert und die meisten der gewonnenen Freiheiten der amerikanischen und französischen Revolution wieder auf Eis gelegt“ habe. Im gleichen Jahr veröffentlichte John Campbell sein Buch Pistols at Dawn: Two Hundred Years of Political Rivalry from Pitt and Fox to Blair and Brown, in dem er sich mit Castlereagh vor dem Hintergrund der politischen Rivalität zwischen Castlereagh und Canning auseinandersetzte. Auch er betonte wie vormals Charles Webster, dass Castlereagh nie der Heiligen Allianz beigetreten, sondern sich immer weiter von ihr distanziert habe; zudem habe er die Quadrupelallianz nur als Mittel gesehen, um die Napoleonische Vorherrschaft zu brechen, nicht als weitergehendes Instrument, um die Welt zu regieren. Insoweit seien trotz der lebenslangen Rivalität auch die außenpolitischen Übereinstimmungen zwischen Castlereagh und Canning zu sehen. Castlereagh sei damit einer der beiden Männer, die die Grundlagen für die britische Außenpolitik im Zenit der britischen imperialen Macht gelegt hätten. 2010 widmete Douglas Hurd Castlereagh und Canning ein Kapitel in seinem Buch Choose your Weapons. The British Foreign Secretary. Castlereagh habe als Außenminister eine traditionelle Politik betrieben, die auf dem Gleichgewicht der Mächte basierte; die Kräfte der Veränderung, die währenddessen unter der Oberfläche wirkten, habe er ignoriert. Damit sei er der Mann der reinen Fakten und Handlungen gewesen, dessen Ansichten über die Macht traditionell, territorial und Top-down-lastig geblieben seien. Für Hurd begründeten Castlereagh und Canning die zwei rivalisierenden Schulen der britischen Außenpolitik: Wo Cannings Schule unilateral, vage idealistisch, an Fortschritt und liberalen Interventionismus glaubend sei, würde Castlereaghs Schule die Diplomatie betonen, sowie den Aufbau von Allianzen und Institutionen um Frieden und Stabilität zu sichern. 2011 folgte die Biographie von John Bew. Bew schilderte Castlereaghs Leben tendenziell wohlwollend. Er urteilte, dass kaum je ein anderer britischer Staatsmann den gleichen Einfluss in der Welt wie Castlereagh erreicht habe, obwohl er nicht der brillanteste Staatsmann seiner Generation gewesen sei. Ehrungen Zu Lebzeiten wurde Castlereagh 1814 als Knight Companion des Hosenbandordens und 1816 als Knight Grand Cross des Guelphen-Ordens ausgezeichnet. Dazu wurde der Castlereagh River im australischen New South Wales im Jahr 1818 nach ihm benannt. In der australischen Stadt Sydney ist ein Vorort sowie eine Straße nach ihm benannt. Im Jahr 1850 wurde eine Statue Castlereaghs in der Westminster Abbey errichtet. Die Statue, die Castlereagh im Ornat des Hosenbandorden darstellt, steht im nördlichen Querschiff. Bildhauer war John Evan Thomas. Castlereagh ist weiter einer der Begründer des Londoner Travellers Club. Anrede in verschiedenen Lebensphasen 1778–1789: Robert Stewart, Esquire 1789–1796: Hon. Robert Stewart 1796–1797: Robert Stewart, Viscount Castlereagh 1797–1814: The Right Honourable Viscount Castlereagh 1814–1821: The Right Honourable Viscount Castlereagh, KG 1821–1822: The Most Honourable The Marquess of Londonderry, KG, GCH, PC, PC (Irland) Castlereaghs Wahlkreise für das britische Unterhaus 1794–1796: Borough Tregony in Cornwall 1796–1797: Borough Orford in Suffolk 1801–1805: County Down 1806–1806: Borough Boroughbridge in Yorkshire 1806–1812: Borough Plympton Erle in Devon 1812–1821: County Down 1821–1822: Borough Orford in Suffolk Literatur Biografien Christopher John Bartlett: Castlereagh. Macmillan, London 1966. John Bew: Castlereagh. A Life. Oxford University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-993159-0. Wendy Hinde: Castlereagh. Collins, London 1981. ISBN 978-0-00-216308-8. Douglas Hurd: Choose your Weapons. The British Foreign Secretary. Weidenfeld & Nicolson, London 2010, ISBN 978-0-297-85334-3, (Kapitel Castlereagh and Canning, S. 1–68). Sonstige Literatur John Campbell: Pistols at Dawn: Two Hundred Years of Political Rivalry from Pitt and Fox to Blair and Brown. Vintage Books, London 2009, ISBN 978-1-84595-091-0, (Kapitel Viscount Castlereagh and George Canning, S. 57–89). Giles Hunt: The Duel: Castlereagh, Canning and Deadly Cabinet Rivalry. I. B. Tauris, London 2008, ISBN 978-1-84511-593-7. H. Montgomery Hyde: The Rise of Castlereagh. Macmillan, London 1933. H. Montgomery Hyde: The Strange Death of Lord Castlereagh. Heinemann, London, 1959. Henry Kissinger: Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs. Econ, Düsseldorf 1962. Bradford Perkins: Castlereagh and Adams: England and the United States, 1812–1823. University of California Press Berkeley, Berkeley 1964. Charles Webster: The Foreign Policy of Castlereagh (1815–1822) Britain and the European Alliance. G. Bell and Sons, London 1925. Enzyklopädieartikel R. G. Thorne: STEWART, Hon. Robert (1769–1822), of Mount Stewart, co. Down. In: R. G. Thorne (Hrsg.): The History of Parliament. The House of Commons 1790–1820. Secker & Warburg, London 1986, ISBN 0-436-52101-6 (historyofparliamentonline.org). David R. Fisher: STEWART, Robert, Visct. Castlereagh (1769–1822), of Mount Stewart, co. Down; North Cray Farm, nr. Bexley, Kent and 9 St. James’s Square, Mdx. In: David R. Fisher (Hrsg.): The History of Parliament. The House of Commons 1820–1832. Cambridge University Press, Cambridge 2009, ISBN 0-521-19314-1 (historyofparliamentonline.org). Weblinks Anmerkungen Außenminister (Vereinigtes Königreich) Kriegsminister (Vereinigtes Königreich) Kolonialminister (Vereinigtes Königreich) Minister (Königreich Großbritannien) Person in den Koalitionskriegen (Vereinigtes Königreich) Teilnehmer am Wiener Kongress Marquess of Londonderry Earl of Londonderry Ritter des Hosenbandordens Großkreuz des Guelphen-Ordens Castlereagh, Robert Stewart, Viscount Abgeordneter des House of Commons (Großbritannien 1707–1801) Abgeordneter des House of Commons (Vereinigtes Königreich) Abgeordneter des Irish House of Commons Mitglied der Whig Party Conservative-Party-Mitglied Mitglied des Privy Council (Irland) Mitglied des Privy Council (Großbritannien) Mitglied des Privy Council (Vereinigtes Königreich) Politiker (19. Jahrhundert) Chief Secretary for Ireland Oberst (British Army) Castlereagh, Robert Stewart, Viscount Robert, 02 Marquess Of Londonderry Brite Geboren 1769 Gestorben 1822 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/STS-114
STS-114
STS-114 (englisch Space Transportation System) ist die Missionsbezeichnung für einen Flug des US-amerikanischen Space Shuttle Discovery (OV-103). Der Start erfolgte am 26. Juli 2005. Es war die 114. Space-Shuttle-Mission, der 31. Flug der Raumfähre Discovery und der 17. Flug eines Shuttles zur Internationalen Raumstation (ISS). Die Mission stand unter dem Motto „Return to Flight“ (Rückkehr zum Flug) und war der erste Space-Shuttle-Flug nach dem Unglück der Columbia im Februar 2003 (Flug STS-107). Mannschaft Eileen Collins (4. Raumflug), Kommandantin James Kelly (2. Raumflug), Pilot Charles Camarda (1. Raumflug), Missionsspezialist Wendy Lawrence (4. Raumflug), Missionsspezialistin Noguchi Sōichi (1. Raumflug), Missionsspezialist (JAXA/) Stephen Robinson (3. Raumflug), Missionsspezialist Andrew Thomas (4. Raumflug), Missionsspezialist Kelly und Thomas waren bereits bei STS-102 gemeinsam im All gewesen. Die Rolle der Verbindungssprecher (CapComs) übernahmen Shannon Lucid, der u. a. die Übermittlung der Wake-Up-Calls oblag, Kenneth Ham und Julie Payette. Flugdirektor war LeRoy Cain. Missionsverlauf Zu den Aufgaben der Mission gehörte der Transport von Gütern mit dem von Alenia Spazio in Italien gebauten Logistikmodul Raffaello zur Internationalen Raumstation. Insgesamt wurden in dem Modul etwa 8,3 t Fracht ausgeliefert. Zudem sollte bei den drei geplanten Weltraumausstiegen ein neues Gyroskop, als Ersatz für das defekte CMG-1-Gerät der Station, am Z1-Modul installiert, eine weitere externe Stauplattform für Ersatzteile External Stowage Platform-2 (ESP-2) an der Luftschleuse Quest montiert sowie Methoden der Reparatur des Hitzeschildes der Raumfähre erprobt werden. Ein weiterer Bestandteil der Mission war ein Test des nach dem Columbia-Unglück umgebauten Außentanks. Sowohl am Orbiter als auch am Außentank wurden Kameras angebracht, um sich eventuell ablösende Teile zu entdecken. Zusätzlich wurde der Start sowohl vom Boden als auch von Flugzeugen der US Air Force aus gefilmt. Außerdem wurde die neue Verlängerung des Roboterarmes, das Orbital Boom Sensor System (OBSS), mit dessen Hilfe der Hitzeschild der Raumfähre im Orbit auf möglicherweise beim Start entstandene Schäden untersucht werden sollte, einem Test unterzogen. Das OBSS verfügt über einen Laser-Entfernungsmesser (LDRI) und ein Laser-Kamerasystem (LCS). Die Sensoren haben eine Auflösung von einigen Millimetern und können mit einer Geschwindigkeit von 6,3 cm/s abtasten. Start, 26. Juli 2005 Nach einigen Verschiebungen sollte die STS-114-Mission am 13. Juli 2005 beginnen, jedoch wurde der Countdown aufgrund eines technischen Problems etwa zwei Stunden vor dem geplanten Start abgebrochen. Als Ursache nannte die NASA einen fehlerhaften Treibstoffsensor. Bei dem fraglichen Sensor handelt es sich um einen von vier im Wasserstoffbehälter des Außentanks eingebauten ECO-Niedrigfüllstandsensoren (Engine Cut-Off). Diese sorgen bei Treibstoffmangel dafür, dass die drei Haupttriebwerke des Orbiters abgeschaltet werden. Damit wird ein Entleeren der Wasserstoff- und Sauerstoffleitungen verhindert, da sonst die Turbopumpen leerlaufen, durchdrehen und explodieren können, was den Orbiter schwer beschädigen könnte. Während der bisherigen Shuttle-Missionen kam das ECO-System zweimal zum Einsatz: Bei STS-51-F schaltete ein Triebwerk nach etwa sechs Minuten wegen einer fälschlicherweise gemeldeten Überhitzung ab. Die beiden übrigen Triebwerke liefen mit erhöhter Leistung weiter, aufgrund des reduzierten Gesamtschubs bzw. der verlängerten Brenndauer konnte jedoch nur ein niedrigerer Orbit als geplant erreicht werden. Bei der Mission STS-93 (ebenfalls unter dem Kommando von Eileen Collins) hatte ein Leck in einem der Triebwerke zu einem zu hohen Sauerstoffverbrauch geführt, was die ECO-Sensoren die Haupttriebwerke drei Sekunden zu früh abschalten ließ. Die Verkabelung der ECO-Sensoren endet im Heck des Orbiters in einem „Punktsensorbox“ (Point Sensor Box) genannten Mikrocontroller. Bei einem Betankungstest im April 2005 funktionierten zwei ECO-Sensoren nicht zuverlässig. Zur Ursachenermittlung wurde die Sensorbox der Discovery ausgebaut und durch die Box des Shuttles Atlantis ersetzt. In den folgenden Tests stellte sich die Box der Discovery als voll funktionsfähig heraus. Bei weiteren Tests versagte dann allerdings die Atlantis-Box. Sie wurde durch die aus der Endeavour ausgebaute Punktsensorbox ersetzt. Zwischenzeitlich wurde die Entscheidung getroffen, den eigentlich vorgesehenen Außentank der Discovery und damit die unzuverlässigen ECO-Sensoren am Boden zu lassen und den für STS-121 vorgesehenen, nochmals verbesserten Tank zu benutzen. Der Vorgang ging zunächst als „unerklärliche Anomalie“ in die Akten ein. Während des Countdowns am 13. Juli sprang der Wasserstoff-ECO-Sensor Nr. 2 bei einer Simulation nicht korrekt von „nass“ auf „trocken“ um. In den folgenden Tagen arbeiteten die Ingenieure rund um die Uhr, um das Problem einzugrenzen und zu beheben. Man vertauschte für den nächsten Start zu Testzwecken die Verkabelung von Sensor 2 und 3 und behob ein mögliches Problem mit der Erdung, denn elektrostatische Aufladung hätte den Sensor dazu bringen können, falsch anzuzeigen. Eine konkrete Ursache konnte allerdings nicht festgestellt werden. Am 21. Juli 2005 bestätigte dann die NASA, dass am 26. Juli ein weiterer Startversuch stattfinden solle. Am 26. Juli 2005 startete die Discovery planmäßig und ohne Verzögerungen um 14:39 UTC. Die Treibstoffsensoren funktionierten problemlos. Am Tag darauf gab die NASA nach Auswertung der Bilder vom Shuttle-Start bekannt, dass sich erneut ein großes Stück Isolierschaum vom Außentank gelöst und man bis zur Klärung der Ursachen alle weiteren Space-Shuttle-Flüge ausgesetzt habe. Somit war auch der folgende Flug mit der Raumfähre Atlantis, mit dem der deutsche Astronaut Thomas Reiter am 9. September 2005 zur Internationalen Raumstation fliegen sollte, sowie der weitere ISS-Ausbau generell gestoppt. 1. Flugtag, 26. Juli 2005 Nach dem Start der Raumfähre am 26. Juli und dem Erreichen der Umlaufbahn wurden die Ladebuchttore geöffnet, das Laptop-Netzwerk des Shuttles und der Roboterarm in Betrieb genommen sowie die Systeme des Shuttles überprüft. 2. Flugtag, 27. Juli 2005 Am zweiten Flugtag (27. Juli) wurde der Hitzeschild der Discovery auf eventuelle Schäden untersucht, die beim Start durch sich vom Außentank ablösende Isolierschaumstücke entstanden sein könnten. Dabei wurde erstmals der neue OBSS-Inspektionsarm eingesetzt, der nach dem Columbia-Unglück entwickelt wurde. Der OBSS ist ein 15 Meter langer „Aufsatz“, der mit dem Roboterarm des Shuttles verbunden wird. Der Kopf des OBSS ist mit Laser-Sensoren und hoch auflösenden Kameras ausgestattet und tastet halbautomatisch die Hitzeschutzkacheln des Orbiters ab. Gegen 9:30 UTC aktivierte Andrew Thomas den RMS, montierte den OBSS und begann eine halbe Stunde später mit der Kachelinspektion. Zusammen mit James Kelly und Charles Camarda wurde den gesamten Tag der empfindliche Hitzeschild auf Beschädigungen untersucht. Nachdem erste Sichtungen keine Auffälligkeiten ergaben, wurden die Aufnahmen anschließend von den Technikern in Houston eingehenden Analysen unterzogen. 3. Flugtag, 28. Juli 2005 Am 28. Juli näherte sich die Discovery der ISS. In der Nähe der Station führte Eileen Collins ein spektakuläres 360°-Manöver durch, wobei sie die Raumfähre innerhalb weniger Minuten um ihre Querachse drehen ließ. Die Besatzung der Station fertigte währenddessen hochauflösende Aufnahmen des Shuttle-Hitzeschildes an. Auf den später zur Erde übertragenen Bildern wurden mehrere geringfügige Beschädigungen der Schutzkacheln festgestellt. Die NASA sah jedoch keinen Grund zur Beunruhigung, da dies bei Starts von Space Shuttles üblich sei. Auch die Zahl der Beschädigungen sei deutlich geringer als bei früheren Missionen, wie der stellvertretende Leiter des Shuttle-Programms, Wayne Hale, erklärte. Um 11:18 UTC dockte das Shuttle am Pressurized Mating Adapter 2 der Station an. Um 12:50 UTC wurden die Luken geöffnet. Dabei hielt die Langzeitbesatzung der Raumstation, bestehend aus Sergei Krikaljow und John Phillips, an der ISS-Tradition fest, dass jeder einzelne Neuankömmling mit einem zweifachen Schlag einer Schiffsglocke im Destiny-Labormodul begrüßt wird. 4. Flugtag, 29. Juli 2005 Am 29. Juli wurde das Logistikmodul Raffaello mit dem Roboterarm der ISS aus der Ladebucht des Shuttles gehievt und am Unity-Verbindungsmodul angedockt. Nach der Öffnung der Luken wurden die sich im Modul befindlichen Frachten zur Station gebracht sowie der Shuttle mit den Gütern beladen, welche zur Erde zurückkehren sollten. Ferner wurde die Unterseite des Shuttlerumpfes mit dem OBSS-System auf weitere Beschädigungen untersucht. 5. Flugtag, 30. Juli 2005 Am 30. Juli stand der erste Weltraumausstieg (EVA) auf dem Plan. Um 9:46 UTC schalteten Soichi Noguchi und Steve Robinson ihre Raumanzüge auf interne Energieversorgung um, was den Beginn des Ausstiegs markierte. Sie verließen die Discovery durch die Luke in der Ladebucht des Shuttles, gleichzeitig wurde die Ausstiegsluke des Moduls Quest von der ISS-Besatzung geöffnet, um den außen arbeitenden Astronauten als Ersatzzuflucht zu dienen. Zunächst testeten die Astronauten neue Methoden zur Reparatur des Raumfähren-Hitzeschildes. Dazu arbeiteten sie in der Ladebucht der Discovery an Proben präparierter Hitzeschutzkacheln. Später installierten die Astronauten eine ESPAD-Halterung (ESP Attachment Device) für eine neue, externe ESP-Stauplattform (External Stowage Platform) an der Luftschleuse Quest, ersetzten eine GPS-Antenne am Z1-Modul, legten ein neues Stromkabel zum Gyroskop Nr. 2 (CMG-2) und führten vorbereitende Arbeiten zum Austausch von CMG-1 durch. Außerdem fertigte Noguchi auf Bitten der Flugkontrolle Fotos vom Shuttle-Cockpit an, wo sich an der Backbordseite etwas Isolationsmaterial gelöst hatte. Alle geplanten Aufgaben wurden erledigt. Die EVA endete um 16:36 UTC nach 6 Stunden und 50 Minuten. Zudem wurde entschieden, die Mission um einen Tag zu verlängern, um den Astronauten mehr Zeit beim Transport zusätzlicher Frachten zu geben. Diese wurden dem Space Shuttle selbst entnommen und beinhalteten beispielsweise Laptops und zusätzliches Wasser. 6. Flugtag, 31. Juli 2005 Am sechsten Missionstag war die Besatzung hauptsächlich mit dem Logistiktransport vom Raffaello-Modul zur Station beschäftigt, auch antworteten sie auf Fragen einiger amerikanischer Fernsehsender im Rahmen einer Pressekonferenz. Zudem wurde an diesem Tag erstmals erwogen, beim dritten Außenbordeinsatz am 3. August eine „Reparatur“ an zwei Stellen des Hitzeschildes der Discovery vorzunehmen, an welchen das Füllmaterial zwischen den Hitzekacheln etwas nach außen trat. Dies war im Gegensatz zu beschädigten Hitzekacheln nicht durch herabfallende Isolierschaumteile des externen Tanks, sondern durch Vibrationen beim Start der Raumfähre entstanden. Die heraustretenden Füllstreifen hätten beim Wiedereintritt der Raumfähre in die Erdatmosphäre zu unerwünschten Turbulenzen und einer lokalen Überhitzung der betroffenen Stellen führen können. Zwar hätte dies bei der Rückkehr der Discovery nicht zu so gefährlichen Umständen wie bei der Columbia-Katastrophe geführt, jedoch den in der Nähe liegenden Hitzekacheln schaden können, die man für spätere Einsätze möglicherweise hätte austauschen müssen. Solche Überhitzungen wurden schon bei früheren Missionen wie z. B. STS-28 oder STS-73 festgestellt, auch damals identifizierte man herausstehende Füllstreifen als wahrscheinlichste Ursache. Allerdings wurde damals der Hitzeschild im Orbit nicht untersucht. 7. Flugtag, 1. August 2005 Am 1. August um 8:42 UTC begann der zweite Außeneinsatz. Soichi Noguchi und Steve Robinson bauten aus dem Z1-Modul das seit 2002 nicht mehr funktionsfähige CMG-1 Gyroskop aus und verstauten es in der Ladebucht des Shuttles für eine spätere Rückkehr zur Erde. Anschließend installierten die Astronauten an seiner Stelle ein neues Gyroskop, das von der Bodenzentrale erfolgreich in Betrieb genommen wurde. Somit waren ab diesem Zeitpunkt alle vier Gyroskope der Station, die zur Lagestabilisierung verwendet werden, wieder funktionsfähig. Nach weiteren kleineren Arbeiten zur Vorbereitung späterer Ausstiege ging die EVA nach 7 Stunden und 14 Minuten um 15:56 UTC erfolgreich zu Ende. Im Rahmen einer Pressekonferenz teilte die NASA mit, die Durchführung der bereits am Tag zuvor in Erwägung gezogenen Reparatur an zwei Stellen des Hitzeschildes der Discovery zu den Aufgaben des dritten Weltraumausstiegs hinzuzufügen. Dabei sollte das Füllmaterial von einem Astronauten, befestigt am Roboterarm der Station, entweder einfach herausgezogen oder abgeschnitten werden. 8. Flugtag, 2. August 2005 Am 2. August war die Besatzung hauptsächlich mit dem Umladen von Fracht zwischen dem Raffaello-Modul und der Station beschäftigt. Zudem bereitete sich die Crew auf die für den 9. Flugtag geplante dritte EVA vor. Auch eine Pressekonferenz wurde an diesem Tag abgehalten. 9. Flugtag, 3. August 2005 Die vor zwei Tagen beschlossene Reparatur des Hitzeschildes wurde am 3. August von Steve Robinson erfolgreich durchgeführt. Er und Soichi Noguchi schalteten um 8:48 UTC ihre Raumanzüge auf interne Energieversorgung um und leiteten somit die dritte und letzte EVA der Mission ein. Zunächst installierten die Astronauten die externe Stauplattform ESP-2 (External Stowage Platform 2) an der Luftschleuse Quest, für die dort bereits bei EVA-1 eine Halterung angebracht wurde. Danach befestigte Noguchi die Experimentenplattform MISSE-5 (Materials International Space Station Experiment) an dem P6-Solarmodul, Steve Robinson bereitete in der Zeit die Instrumente in der Ladebucht der Discovery vor, die zum Reparatureinsatz gebraucht werden könnten. Anschließend wurde er von dem Roboterarm der Station zur Unterseite der Discovery getragen, wo er die beiden hervorstehenden Füllstreifen schnell und problemlos herauszog. Dies stellte eine Premiere in der Geschichte des Space Shuttles dar: noch nie zuvor war eine solche Prozedur im All durchgeführt oder geprobt worden. Anschließend machte Robinson einige Fotos des Hitzeschildes und kehrte zusammen mit Noguchi um 14:49 UTC zurück zum Shuttle. Der ursprünglich für 7 Stunden ausgelegte Weltraumausstieg dauerte nur 6 Stunden und 1 Minute. Nachdem durch den Außeneinsatz die Unterseite des Shuttles repariert wurde, richtete man die Aufmerksamkeit auf eine bereits am 28. Juli entdeckte Beschädigung der Shuttle-Isoliermatte unterhalb eines Fensters, die offensichtlich durch ein herabfallendes Schaumstoffteil beim Start entstanden war. Man wolle in einem Windkanal die möglichen Auswirkungen der Schäden beim Wiedereintritt in die Atmosphäre testen, erklärte Wayne Hale in einer Pressekonferenz. Als solches stellte die beschädigte Isoliermatte an der Außenhaut des Shuttles zunächst keine Gefahr dar. Jedoch könnten sich durch die hohe Fluggeschwindigkeit an dieser Stelle Teile lösen, die sich zu einem Geschoss entwickeln und beispielsweise die Tragflächen hätten treffen können. Die NASA hielt die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Reparaturausstiegs für gering. Bedenke man jedoch, dass bei bisherigen Missionen die Außenhülle des Orbiters nie untersucht wurde, stattdessen aber stets Probleme mit der Klimaanlage oder mit Bordcomputern habe verzeichnen müssen, stellte sich STS-114 als eine sehr ruhige Mission dar, so Hale. 10. Flugtag, 4. August 2005 Das weitere Umladen der insgesamt 8,3 t Ausrüstungsgegenstände und Vorräte in die ISS sowie von etwa 11 t Ausrüstungsgegenständen, Experimenten, die auf der Erde weiter ausgewertet werden und dem Abfall der ISS in das Shuttle bestimmten den Arbeitstag. Zudem teilte die NASA mit, dass nach den Tests im Windkanal die beschädigte Isoliermatte keine Gefahr beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre darstellen würde und somit ein vierter EVA nicht notwendig sei. Es gab darüber hinaus auf der ISS eine Gedenkfeier für die Toten der Columbia-Katastrophe vor zweieinhalb Jahren. 11. Flugtag, 5. August 2005 Der Aufenthalt der Discovery Astronauten auf der ISS neigte sich dem Ende zu. Am 5. August wurde das Mehrzweckmodul Raffaello geschlossen, von der Station abgetrennt und zurück in die Ladebucht des Shuttles gebracht. Anschließend wurde auch das OBSS wieder in der Shuttle-Ladebucht befestigt. Weiterhin wurden Vorbereitungen zum Abdocken des Space Shuttles getroffen. 12. Flugtag, 6. August 2005 Am 6. August um 4:36 UTC wurde auf der ISS die Abschiedszeremonie abgehalten. Daraufhin wurden die Luken zwischen dem Shuttle und der Station um 5:14 UTC geschlossen und um 7:24 UTC trennte sich die Discovery von der ISS. Zunächst kreiste sie für Fotoaufnahmen um die Raumstation. Um 9:05 UTC zündete die Discovery ihre Manövriertriebwerke und entfernte sich von der ISS, um auf eine eigene Umlaufbahn einzuschwenken. Den Rest des Tages bekam die Shuttle-Crew frei. NASA-Administrator Michael Griffin sagte über die Discovery-Mission, es wäre der „sauberste Vogel“ den man jemals oben gehabt habe. Auch werde die Wiederaufnahme der Shuttle-Flüge geprüft. Sofern die Techniker die Probleme mit der Außentankisolierung innerhalb einer Woche in den Griff bekämen, wäre der 22. September 2005 als nächster Starttermin durchaus realistisch, so Griffin. 13. Flugtag, 7. August 2005 Der 13. Flugtag wurde von der Überprüfung der Lande-Ablaufpläne bestimmt. Nebenbei drehte Soichi Noguchi einen Film über einige Freizeitaktivitäten an Bord des Shuttles, Steve Robinson erstellte ein Podcast, welches die NASA zum Download und als Abschrift bereithält. Des Weiteren stand die Crew einigen US-Fernsehsendern in einer Videoübertragung für Interviews zur Verfügung. 14. Flugtag, 8. August 2005 Der für den 8. August um 9:47 UTC anvisierte Termin zur Landung in Cape Canaveral wurde aufgrund schlechter Wetterbedingungen am Landeplatz von der NASA verschoben. Man erhoffte sich mit einer zusätzlichen, etwa 90 Minuten dauernden Erdumrundung eine zwischenzeitliche Besserung der Wetterlage und somit optimale Landebedingungen. Doch auch bei der zweiten und letzten Landemöglichkeit des Tages, angesetzt für 10:22 UTC, wurden die Bedingungen durch die Bodenkontrolle als suboptimal eingeschätzt, so dass man sich auf eine Verschiebung um 24 Stunden einigte. 15. Flugtag und Landung, 9. August 2005 Wie am Vortag war das Wetter für eine Landung in Florida nicht geeignet. Die erste Landemöglichkeit um 9:07 UTC ließ man wegen eines aufgezogenen Gewitters verstreichen. Als sich keine Besserung zeigte, entschied sich die Flugleitung, die Fähre auf der Edwards Air Force Base (EAFB) landen zu lassen. Die NASA hätte eine Verlegung nach Kalifornien gerne vermieden, weil die Rückführung des Orbiters nach Florida hohe Kosten verursacht und Zeit kostet. Die Manövriertriebwerke der Discovery führten ab 11:06 UTC die 162 Sekunden lange Bremszündung aus. Um 11:40 UTC trat das Shuttle in die oberen Schichten der Atmosphäre ein. Die Landung erfolgte um 12:11:22 UTC auf der Landebahn 22 der EAFB. Dies war die 50. Landung eines Shuttles in Kalifornien, das letzte Mal endete dort die Mission STS-111 im Juni 2002. Außerdem war es die erste Nachtlandung seit STS-48 im September 1991 und die sechste insgesamt im Space-Shuttle-Programm. Überführung nach Florida Am 19. August 2005 begann der eigentliche Rücktransport der Discovery nach Cape Canaveral, schon in den Tagen zuvor wurde der Orbiter auf den Transport vorbereitet: so wurde z. B. eine Heckabdeckung montiert, um die aerodynamischen Eigenschaften des Shuttles beim Flug auf dem Rücken eines konventionellen Flugzeuges zu verbessern. Für die Überführung wurde das Shuttle schließlich auf einen umgebauten Jumbo Jet Boeing 747 der NASA gehievt. Der Transport zurück zum Kennedy Space Center dauerte etwa zwei Tage. Während eine normale Linienflugmaschine für die Strecke von Kalifornien nach Florida etwa fünf Stunden benötigt, musste die Boeing der NASA aufgrund des hohen Gewichts und des größeren Luftwiderstandes auf der Altus Air Force Base in Oklahoma sowie auf der Barksdale Air Force Base in Louisiana zum Tanken zwischenlanden. Resümee STS-114 war die erste Mission nach der Columbia-Katastrophe vom 1. Februar 2003. Die Zeit zwischen beiden Missionen wollte die NASA nutzen, um die Unglücksursachen zu beheben. Für die Untersuchungen und Behebungen investierte die NASA zweieinhalb Jahre Arbeit und mehr als eine Milliarde US-Dollar. Dennoch fielen beim Start erneut Teile der Außentank-Isolierung ab, weshalb während der gesamten Discovery-Mission die Kritik an der NASA nicht nachließ. Auch wurde die Öffentlichkeit durch die intensiven und manchmal übertrieben dramatisch dargestellten Berichterstattungen in den Massenmedien auf die missliche Lage, in der sich die NASA befand, verstärkt hingewiesen. Einerseits war man durch internationale Verträge verpflichtet, bis zum Jahre 2010 noch mindestens 19 weitere Flüge, die für die Fertigstellung der ISS notwendig waren, durchzuführen. Andererseits steht bis heute (Stand: September 2022) kein Nachfolgemodell des Shuttles zur Verfügung. Zudem stand die NASA durch die Ankündigung von George W. Bush, in der Zukunft Menschen auf den Mond und später auf den Mars bringen zu wollen, hinsichtlich der Entwicklung entsprechender Mond- und Marsmissions-Pläne unter Druck. Kritik kam auch an den Rettungsmöglichkeiten der STS-114-Crew auf. Hätten die Beschädigungen an der Discovery eine Rückkehr nicht möglich gemacht, wäre eine Rückholung der Mannschaft durch die Russen nicht nur aus technischen, sondern auch aus politischen Gründen unmöglich gewesen. Nach dem Aussetzen des Shuttle-Programms als Konsequenz der Columbia-Katastrophe hatte ein zwischen der NASA und der russischen Weltraumbehörde geschlossener Vertrag den weiteren Transport von Astronauten und Versorgungsflügen zur ISS geregelt. Allerdings lief dieser Vertrag mit dem Start des Sojus-TMA-7-Raumschiffs im Oktober 2005 aus. Ein Erlass der Bush-Regierung untersagte jedoch seit 2000 den Einkauf von Hightech-Produkten in Ländern, die Nichtnuklearstaaten wie den Iran unterstützen. Dies ist bei Russland der Fall und bereits der Einkauf von zusätzlichen Versorgungsflügen zur ISS, die einen verlängerten Aufenthalt der Discovery-Mannschaft auf der Raumstation ermöglicht hätten, wäre unter dieses Embargo gefallen. Allerdings wurde dieses Gesetz im September 2005 soweit gelockert, dass die NASA nun die Möglichkeit hat, Sitze in den Sojus-Raumschiffen zu kaufen. Auch zeigten die Reparaturen am Shuttle im All, dass die NASA nicht unbedingt optimal auf eventuell auftretende Probleme vorbereitet war. So stand die Frage im Raum, womit die Astronauten die herausragenden Füllstreifen an der Unterseite des Shuttles abschneiden sollten. Hierzu musste die Discovery-Besatzung im All erst selber eine Säge anfertigen. Auch stießen einige während der Mission gemachte Äußerungen von NASA-Mitarbeitern auf Unverständnis. So gestand Wayne Hale in einer Pressekonferenz ein, dass man in der Vergangenheit hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen mit den Astronauten regelrecht „Russisch Roulette“ gespielt habe. Die NASA befürchtete nach der Mission, dass die Behebung der weiterhin bestehenden Konstruktionsfehler, die die Sicherheit der Shuttles beeinträchtigten, einen Finanzrahmen beanspruchen würde, der vom US-Kongress unter Umständen nicht bewilligt worden wäre. Eileen Collins zeigte sich in einer ersten Pressekonferenz sehr ernüchtert. Für sie, die nicht das erste Mal im All war, sei vor allem die fortschreitende Umweltverschmutzung sehr erschreckend gewesen. Aus dem All erkenne man sehr deutlich die zunehmenden Abholzungen von Wäldern, die Erosion und auch zahlreiche Flüsse, die inzwischen braunes statt blaues Wasser führten. Auf die Crew der letzten Columbia-Mission angesprochen sagte Collins, man habe an Bord der Discovery ein Mannschaftsfoto der STS-107 gehabt. Doch es sei nicht notwendig gewesen, das Foto anzuschauen, da man sich dieses Unglücks stets bewusst gewesen sei. Die Columbia-Katastrophe habe zahlreiche Verbesserungen am Shuttle bewirkt und durch diese der Discovery-Crew ein stärkeres Sicherheitsgefühl gegeben. An die Kritiker des Shuttle-Programms gerichtet sagte Collins, dass diese für gewöhnlich die Möglichkeiten der bemannten Raumfahrt unterschätzen würden. Die ISS, deren Fertigstellung nur durch die Shuttles möglich sei, gäbe der Menschheit Chancen, die Erde weiter kennenzulernen, und könne der heutigen Jugend eine bessere Zukunft bieten. Auch könne nach Ansicht von Collins nur die Fortführung des Programms ermöglichen, eines Tages einen Menschen zum Mars zu bringen, so wie von George W. Bush im Jahr 2004 angekündigt. Das Space-Shuttle-Programm wurde 2011 nach 30 Jahren Betrieb eingestellt. Wake-Up-Calls Die Crew von STS-114 wurde von der Bodenkontrolle mit folgenden Weckrufen auf den neuen Arbeitstag eingestimmt: 2. Flugtag (MP3; 1,3 MB): Ausschnitt aus „Und täglich grüßt das Murmeltier“ 3. Flugtag (MP3; 1,1 MB): „What A Wonderful World“, Louis Armstrong 4. Flugtag (MP3; 1,4 MB): „Vertigo“, U2 5. Flugtag (MP3; 1,7 MB): „Sanpo“ (Japanisch für „Spaziergang“), Chor der Japanese School of Houston 6. Flugtag (MP3; 1,5 MB): „I'm Goin' Up“, Claire Lynch 7. Flugtag (MP3; 1,2 MB): „Walk of Life“, Dire Straits 8. Flugtag (MP3; 1,2 MB): „Big Rock Candy Mountain“, Harry McClintock 9. Flugtag (MP3; 1,5 MB): „Where My Heart Will Take Me“, Titelsong von Star Trek: Enterprise, Diane Warren gesungen von Russell Watson 10. Flugtag (MP3; 896 kB): „Amarillo by Morning“, George Strait 11. Flugtag (MP3; 1,1 MB): „Anchors Aweigh“, The United States Navy 12. Flugtag (MP3; 960 kB): „The Air Force Song“ 13. Flugtag (MP3; 1,6 MB): „The One and Only Flower in the World“, SMAP 14. Flugtag (MP3; 1,1 MB): „Come On Eileen“, Dexys Midnight Runners 15. Flugtag (MP3; 1,1 MB): „Good Day Sunshine“, The Beatles Siehe auch Liste der Space-Shuttle-Missionen Liste bemannter Missionen zur Internationalen Raumstation Liste der Weltraumausstiege Weblinks Space Shuttle Statusberichte der für 2005 ursprünglich in Vorbereitung befindlichen Missionen. NASA (englisch) Videozusammenfassung mit Kommentaren der Besatzung. National Space Society (englisch) Status- und Missionsberichte zur STS-114-Mission im Space Science Journal (deutsch) Informationen zum Status der Mission „STS-114“. NASA (englisch) Informationen zum Status der „STS-114“ auf Raumfahrer.net Pressemeldung zum Startabbruch. NASA (englisch) im Space Science Journal Einzelnachweise Discovery (Raumfähre) NASA Japanische Raumfahrt Raumfahrtmission 2005 Wikipedia:Artikel mit Video
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Albtalbahn
|} Die Albtalbahn, bei Eröffnung noch Albthalbahn geschrieben, ist eine Eisenbahnstrecke von Karlsruhe über Ettlingen nach Bad Herrenalb. Seit ihrer Umspurung von Meter- auf Normalspur und ihrer Verknüpfung mit der Karlsruher Straßenbahn bildet sie die Grundlage für das Karlsruher Stadtbahnnetz und war Vorbild für die Verknüpfung regionaler Eisenbahnstrecken mit städtischen Straßenbahnen in anderen europäischen Städten. Benannt ist die Strecke nach dem Fluss Alb, der sie auf ganzer Länge begleitet. Die Albtalbahn ist betrieblich und historisch eng mit der Zweigstrecke Busenbach–Ittersbach verbunden, die wiederum ursprünglich mit der Pforzheimer Kleinbahn von Ittersbach nach Pforzheim eine betriebliche Einheit bildete. Geschichte Bau Keimzelle der Albtalbahn war die von Beginn an normalspurige Ettlinger Seitenbahn, die schon ab 1885 den heutigen Bahnhof Ettlingen West an der Badischen Hauptbahn mit Ettlingen Erbprinz verband und zwei Jahre später bis zum heutigen Bahnhof Ettlingen Stadt verlängert wurde. Doch konnte diese den zunehmenden Verkehr zwischen Ettlingen und Karlsruhe nicht allein bewältigen, so dass bald der Bau einer direkten Verbindung über Rüppurr diskutiert wurde. Pläne für einen Eisenbahnbau von Karlsruhe über Ettlingen bis in den nördlichen Schwarzwald nach Herrenalb gab es bereits ab 1870. Zum einen galt das Albtal schon damals als beliebtes Ausflugsziel der Karlsruher Bevölkerung, zum anderen entwickelten sich die Industriebetriebe in Ettlingen und Karlsruhe zu wichtigen Erwerbsquellen für die Bevölkerung der umliegenden Orte. Die einmal täglich verkehrende Postkutschen-Verbindung genügte den Bedürfnissen nicht mehr. Ettlingen leistete zunächst Widerstand, da es befürchtete, dass der Bau einer direkten Eisenbahnverbindung nach Karlsruhe eine Eingemeindung der Stadt nach sich ziehen könnte. Mit dem Vorschlag, die Bahnstrecke als meterspurige Schmalspurbahn auszuführen, konnten die Einwände entkräftet werden. Im Gegensatz zur benachbarten Murgtalbahn konnte die Albtalbahn sofort als von Baden nach Württemberg (Herrenalb) durchgehende Strecke in Angriff genommen werden. Die badische Konzession wurde 1896 und die württembergische 1897 erteilt. Der erste Streckenabschnitt zwischen Karlsruhe und Ettlingen konnte am 1. Dezember 1897 eröffnet werden, ihm folgten die Teilstrecken Ettlingen–Frauenalb am 14. Mai 1898 und Frauenalb–Herrenalb am 2. Juli 1898. Die Zweigstrecke von Busenbach nach Ittersbach folgte am 10. April 1899. Die Seitenbahn nach Ettlingen West wurde mit einem Dreischienengleis ausgestattet, zur Vereinfachung des Güterverkehrs wurde dieses 1899 bis nach Busenbach und 1906 bis Etzenrot verlängert. Gebaut wurde die Albtalbahn von der Westdeutschen Eisenbahn-Gesellschaft (W.E.G.), die sie 1898 in ihre neu gegründete Tochtergesellschaft Badische Lokal-Eisenbahnen Aktien-Gesellschaft (B.L.E.A.G.) einbrachte. Entwicklung der meterspurigen Albtalbahn Aufgrund der Rußbelästigung durch die Dampflokomotiven der Albtalbahn in den Karlsruher Stadtstraßen wurde bereits 1898 der Abschnitt Karlsruhe–Ettlingen mit 550 Volt Gleichstrom elektrifiziert und ein elektrischer Vorortverkehr mit Triebwagen aufgenommen. Die Züge nach Herrenalb verkehrten fortan bis Ettlingen elektrisch und südlich davon mit Dampflokomotiven. Für den elektrischen Betrieb wurde ein Kohlekraftwerk am Seehof zwischen Rüppurr und Ettlingen errichtet. Da sich der elektrische Betrieb gut bewährte, wurde eine Ausdehnung auf die gesamte Albtalbahn erwogen, wegen der größeren Entfernungen aber einer Elektrifizierung mit Wechselstrom höherer Spannung der Vorzug gegeben. Daher wurde 1910 der Gleichstrombetrieb aufgegeben und die gesamte Strecke bis 1911 auf Wechselstrombetrieb umgestellt. Als Stromsystem kam Einphasen-Wechselstrom 25 Hz 8000 Volt zum Einsatz (später auf 8800 Volt erhöht), wobei im Karlsruher Stadtgebiet bis 1936 nur mit 650 Volt gefahren werden durfte. Das Kraftwerk am Seehof wurde umgerüstet und weitergenutzt. Im Zuge des Neubaus des Karlsruher Hauptbahnhofs musste der nördliche Endpunkt der Albtalbahn zwischen 1910 und 1915 insgesamt dreimal innerhalb Karlsruhes verlegt werden. Lag der Bahnhof ursprünglich in der Ettlinger Straße auf Höhe des Festplatzes, wurde er am 26. Februar 1910 in die heutige Beiertheimer Allee in Höhe der heutigen Hermann-Billing-Straße verlegt und damit die Ettlinger Straße für den Bau einer neuen Straßenbahnstrecke freigemacht. Zuvor hatten sich am neuen Standort an der damaligen „alten“ Klosestraße bereits einige Abstellgleise der Albtalbahn befunden, deren Anbindung an den alten Endbahnhof kurzzeitig als Zufahrt benutzt wurde. Ab 7. April 1910 verlief die Zufahrt zum verlegten Endbahnhof nicht mehr östlich des Stadtgartens, sondern westlich zwischen Beiertheimer Allee und (neuer) Bahnhofstraße auf der vorherigen Staatsbahntrasse südlich des alten Karlsruher Bahnhofs, heute etwa der „neuen“ Klosestraße entsprechend. Der verlegte Bahnhof wurde vom anderen Ende her angefahren. Eine zweite Verlegung erfolgte nach Süden in ein Provisorium am nördlichen Ende der (neuen) Bahnhofstraße (in Betrieb vom 19. Januar 1914 bis 22. März 1915), bevor der nochmals südlicher gelegene, noch heute benutzte Endbahnhof an der Ebertstraße nahe dem neuen Karlsruher Hauptbahnhof entstand. Technische Probleme sowie Mangel an Kraftwerkskohle zwangen die B.L.E.A.G. 1917, den elektrischen Betrieb stark einzuschränken und zeitweise sogar ganz einzustellen. Erst nach Umbau des Kraftwerks in eine Umformerstation und dessen Anschluss an das neu gebaute Murgwerk gelang es, den elektrischen Betrieb wieder zu stabilisieren. So verkehrten ab 1922 wieder elektrische Züge. Entwickelte sich der Verkehr auf der Albtalbahn in den ersten Betriebsjahren sehr positiv, geriet die Bahn nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der Betrieb konnte nur mit finanzieller Unterstützung des Landkreises Karlsruhe aufrechterhalten werden, eine Reduzierung des Fahrplanangebotes war die Folge. Der von der Stadt Karlsruhe Mitte der 1920er Jahre eingeführte, parallele Omnibusverkehr zwischen Karlsruhe und Rüppurr verschlechterte die wirtschaftliche Lage der Bahn zusätzlich. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise geriet die B.L.E.A.G. zunehmend unter Druck und ging in Insolvenz. Aus der Konkursmasse der B.L.E.A.G. übernahm die Deutsche Eisenbahn-Betriebsgesellschaft (DEBG) schließlich 1932 die Albtalbahn. Durch Modernisierungsmaßnahmen wie der Aufnahme des Rollwagenverkehrs gelang es der DEBG, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bahn wieder zu verbessern. Der Autobahnbau Mitte der 1930er Jahre brachte einige Veränderungen für die Albtalbahn mit sich. So musste die Trasse zwischen Rüppurr und Ettlingen nach Osten verschwenkt werden, wo die Bahn eine gemeinsame Brücke mit der Landstraße über die Autobahn erhielt. Der zeitgleiche Ausbau der Herrenalber Straße in Rüppurr zum Autobahnzubringer erforderte zudem einen Umbau der Gleise zwischen Dammerstock und Schloss Rüppurr. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Albtalbahn mehrfach von Jagdflugzeugen angegriffen, die Schäden blieben jedoch vergleichsweise gering. Lediglich die Sprengung der Brücke über den Karlsruher Rangierbahnhof am Ende des Krieges führte bis zum Wiederaufbau zu einer mehrmonatigen Verkürzung der Albtalbahn zum südlichen Brückenkopf beim Dammerstock. Umspurung und Verknüpfung mit dem Straßenbahnnetz Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich sowohl Strecke als auch Fahrzeuge in einem maroden Zustand, so dass eine umfassende Modernisierung notwendig war. Die DEBG hatte jedoch nur noch ein geringes Interesse am Weiterbetrieb der Bahn. In der politischen Diskussion um die Zukunft der Albtalbahn ergriff die Stadt Karlsruhe die Initiative. Ihr war in erster Linie daran gelegen, den starken Vorortverkehr zwischen Karlsruhe, Rüppurr und Ettlingen neu organisieren zu können und den Umsteigezwang für die Fahrgäste am Karlsruher Albtalbahnhof von der Albtalbahn zur Straßenbahn zu beseitigen. Daher schlug sie die Umspurung der Strecke auf Normalspur und Verknüpfung mit dem städtischen Straßenbahnnetz vor. Mit Hilfe des Landes Baden-Württemberg gründete sie 1957 die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft mbH (AVG), die am 1. April 1957 die Albtalbahn von der DEBG übernahm und unverzüglich mit den Umbauarbeiten begann. Mit den Umspurarbeiten einher ging die Umstellung des elektrischen Betriebes auf Gleichspannung mit 750 Volt. Bereits am 18. April 1958 konnte der erste umgespurte Abschnitt vom Albtalbahnhof bis Rüppurr in Betrieb genommen werden. Von nun an verkehrten die Triebwagen der Albtalbahn vom Albtalbahnhof aus weiter bis in die Karlsruher Innenstadt, so dass die meisten Fahrgäste nicht mehr umsteigen mussten. Dort bedienten sie eine langgezogene Häuserblockschleife im Uhrzeigersinn, sie führte vom Albtalbahnhof über die Karlstraße, die Kaiserstraße, den Marktplatz, die Ettlinger Straße und über den Hauptbahnhofvorplatz zurück zum Albtalbahnhof. Die nächsten umgespurten Abschnitte wurden wie folgt in Betrieb genommen: am 15. Mai 1959 bis Ettlingen, am 15. April 1960 bis Busenbach, am 12. Mai 1960 bis Etzenrot, am 12. Dezember 1960 bis Marxzell und am 1. September 1961 bis Herrenalb. Auch nach der Umspurung der Strecke in den Jahren 1957 bis 1975 wurden die Anlagen weiter modernisiert, unter anderem durch den Bau eines Zentralstellwerkes in Ettlingen (1967), die Neutrassierung der Abschnitte Albtalbahnhof–Dammerstock (1977) und Rüppurr–Ettlingen Neuwiesenreben (1988), die Ertüchtigung der Strecke für eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h (bis 1983) sowie den zweigleisigen Ausbau zwischen Ettlingen und Busenbach (1989–1990). Das für die Trassenverbesserung beim Weiler Steinhäusle, der teilweise zu Marxzell und teilweise zu Bad Herrenalb gehört, nötige Gelände musste 1981 mit einem inoffiziellen Bedarfshalt für die Anlieger dort „erkauft“ werden. Dieser wird, abgesehen vom örtlichen Aushangfahrplan, nicht im Fahrplan kommuniziert und war viele Jahre lang auch nicht auf den Liniennetzplänen verzeichnet. Ein Stationsschild ist ebenfalls nicht vorhanden. Da dort kein Bahnsteig zur Verfügung steht, erfolgt der Fahrgastwechsel auf dem asphaltierten Bahnübergang mit der innerbetrieblichen Bezeichnung Steinhäusle 2. Der Ein- und Ausstieg kann aufgrund der schmalen Straße dort nur über die erste Tür erfolgen. Der Ausstiegswunsch muss dabei dem Triebfahrzeugführer mündlich mitgeteilt werden, einsteigenden Fahrgästen steht örtlich eine richtungsunabhängige Haltewunscheinrichtung zur Verfügung, die ein entsprechendes Lichtsignal für den herannahenden Zug aktiviert. Die Fahrzeit zu den beiden benachbarten Stationen Kullenmühle und Frauenalb-Schielberg beträgt jeweils zwei Minuten. Durch die Ausbaumaßnahmen konnte das Angebot für die Fahrgäste laufend verbessert werden. Benötigten die Züge der Albtalbahn zur Meterspurzeit für die Strecke zwischen Karlsruhe und Herrenalb noch circa 70 Minuten, waren es 1979 noch 46 Minuten und heute nur noch 35. Zusätzlich wurde der Fahrplan verdichtet. Betrieb Strecke Vom Karlsruher Albtalbahnhof bis Busenbach ist die Strecke durchgehend zweigleisig, südlich davon eingleisig. Kreuzungsmöglichkeiten bestehen in Etzenrot, Fischweier, Marxzell und Frauenalb. Die Strecke ist seit ihrer Umspurung auf Normalspur mit Gleichstrom 750 Volt elektrifiziert. Die Stromversorgung erfolgt dezentral über mehrere Gleichrichterwerke. Die Bahnsteighöhe beträgt an fast allen Stationen 38 Zentimeter. Wendeschleifen erlauben an den Haltestellen Rüppurr Battstraße, Ettlingen Albgaubad und Bad Herrenalb Bahnhof ein Wenden von Einrichtungswagen. Bis Oktober 1984 bestand eine weitere Wendeschleife in Busenbach, die jedoch für die 2,65 Meter breiten Stadtbahnwagen einen zu geringen Radius aufwies. Da diese damals nur von drei Zügen täglich benutzt wurde, rechnete sich der Umbau nicht und sie entfiel ersatzlos. Die ganze Strecke wird nach der Fahrdienstvorschrift für den Betrieb nichtbundeseigener Eisenbahnen (FV-NE) betrieben. Die Strecke ist mit Lichtsignalen des H/V-Signalsystems ausgestattet. Die im Albtalbahnhof wurden 2009 durch Signale des Ks-Signalsystems ersetzt, die sonstigen nördlich von Busenbach Ende 2015. Diese werden vom ESTW Albtalbahnhof bzw. von der ESTW-Unterzentrale Ettlingen Albgaubad mit den ESTW-A Rüppurr-Battstraße und Rohrackerweg gestellt. Letzteres ESTW vom Typ EBI Lock 500 steuert bereits seit 28. November 2011 das ESTW Spielberg (Strecke nach Ittersbach; ebenfalls EBI Lock 500) und inzwischen auch das ESTW Albtalbahnhof. Die Strecke Busenbach – Bad Herrenalb wird schon länger durch ein MCDS-ESTW in Ettlingen gesteuert. Seit Februar 2017 wird das ESTW Ettlingen aus der Zentralen Leitstelle Karlsruhe (ZeLeiKa) gesteuert. Zwischen Dammerstock und Rüppurr Battstraße gilt Fahren im Sichtabstand. Obwohl eine Eisenbahnstrecke, können im Abschnitt Karlsruhe Albtalbahnhof–Rüppurr aufgrund des Lichtraumprofils keine Fahrzeuge nach EBO-Regelbauart verkehren. In Ettlingen befinden sich die Werkstätten der Bahn. Fahrzeug-Abstellhallen sind in Ettlingen und Bad Herrenalb zu finden. Personenverkehr Zwischen Karlsruhe und Bad Herrenalb verkehren tagsüber zwei Zugpaare pro Stunde als Linie S1. Das Zugangebot wird zwischen Karlsruhe und Ettlingen Albgaubad zu einem Zehnminutentakt verdichtet. Im Berufsverkehr verstärkten bis Dezember 2021 zusätzliche Eilzüge das Angebot, die ursprünglich mit einem rot gestrichenen Liniensignal gekennzeichnet waren. Seit 1978 gehen die Züge der Albtalbahn im Norden Karlsruhes auf die Hardtbahn über. Zum Einsatz kamen bis zum Jahr 2018 ausschließlich die zwischen 1983 und 1992 gebauten Stadtbahnwagen der Typen GT8-80C und GT6-80C der AVG und der Verkehrsbetriebe Karlsruhe. Diese werden seit dem Jahr 2018 sukzessive durch NET2012 abgelöst. In Zeiten starker Nachfrage verkehren die Stadtbahnwagen in Doppeltraktion. Die Liniennummer S1 wird seit dem 29. Mai 1994 verwendet. Davor verkehrten die Züge als Linie A für Albtalbahn, auch die heute als Linie S11 bezeichneten Züge nach Ittersbach verkehrten mit dem Liniensignal A. Der planmäßige Betrieb mit Stadtbahnwagen wird an einigen Sonn- und Feiertagen im Sommer durch historische Dampfzüge der Ulmer Eisenbahnfreunde (UEF) ergänzt, die zwischen Ettlingen Stadt und Bad Herrenalb verkehren. Zum Einsatz kommen Lokomotiven der Baureihen 50 und 58 vor Eilzugwagen der 1930er Jahre. In der Vergangenheit wurde die Albtalbahn auch schon als Teststrecke für neue Stadtbahnfahrzeuge genutzt. So verkehrten 1982 die Prototypen der Stuttgarter Stadtbahnwagen DT8 auf der Strecke, 1997 die neuen Fahrzeuge der Saarbahn. Die Albtalbahn ist seit 1994 in den damals neu gegründeten Karlsruher Verkehrsverbund (KVV) integriert. Bereits zuvor bestand jedoch schon ein Tarifverbund mit den Verkehrsbetrieben Karlsruhe. Güterverkehr Der Güterverkehr auf der Albtalbahn spielt nur noch eine untergeordnete Rolle und beschränkt sich auf die Speditionshalle in Busenbach und gelegentliche Holzverladung in Busenbach. Die Bedienung erfolgt durch Diesellokomotiven der AVG, die die Güterwagen im Karlsruher Güterbahnhof von der DB Cargo und den SBB Cargo übernehmen. Besondere Bahnhöfe Karlsruhe Albtalbahnhof Der 1915 errichtete Albtalbahnhof an der Ebertstraße wurde im Zuge der Umspurung zu einer viergleisigen Anlage umgebaut und über ein Gleisdreieck an das Karlsruher Straßenbahnnetz angeschlossen. Ein Verbindungsgleis zur Karlstraße ermöglicht das Wenden von Fahrzeugen. Das Empfangsgebäude wurde 1959 abgerissen und durch einen Flachbau mit Fahrkartenschalter ersetzt. 1988 ergänzte die AVG den Bahnhof um eine zweischiffige Bahnhofshalle, die alle vier Gleise überspannt. Obwohl nicht zum Unternehmen gehörend, zählt DB Netz AG ihn zu den Metropolbahnhöfen. 1996 erfolgte im Zuge des Ausbaus des Karlsruher Stadtbahnnetzes ein vollständiger Umbau der Gleisanlagen. Dabei wurde eine Gleisverbindung mit dem Karlsruher Hauptbahnhof errichtet, die es erlaubt, aus dem Albtalbahnhof auf die Eisenbahnstrecken nach Durmersheim und Karlsruhe West auszufahren. Seitdem benutzen die Züge der Albtalbahn (S 1 und S 11) die Gleise 3 und 4, während die Stadtbahnlinien S 4, S 51, S 52, S 7 und S 8 die Gleise 1 und 2 befahren. Ein 1996 errichteter und 2006 erweiterter Abstellbahnhof mit insgesamt acht Gleisen ergänzt die Anlage. Ettlingen Stadt Der Betriebsmittelpunkt der Albtalbahn am Bahnhof Ettlingen Stadt reicht vom Haltepunkt Erbprinz/Schloss bis zur Haltestelle Albgaubad. Die viergleisige Gleisanlage wird seit 1986 von einer Bahnhofshalle überspannt. Im Bahnhofsgebäude befinden sich das Zentralstellwerk der AVG sowie ein Fahrkartenschalter. Zum Bahnhof gehören überdies hinaus zwei Werkstatthallen, eine Fahrzeugabstellhalle sowie eine Güterhalle. Mehrere Abstellgleise sowie die Wendeschleife am Albgaubad ergänzen die Anlage. Zum 1. Juli 1995 wurde am Bahnhof Ettlingen Stadt die Abfertigung von Stückgut und Expressgut eingestellt. Busenbach Der Bahnhof Busenbach besitzt zwei Bahnsteiggleise, südlich derer sich die Strecken nach Bad Herrenalb und Ittersbach trennen. Eine 1990 errichtete Bahnsteighalle in Holz-Fachwerkbauweise überspannt beide Gleise. Die Gleisanlagen wurden 2006 umgebaut und durch eine Brücke ergänzt, die die Ittersbacher Strecke über die benachbarte Landesstraße hinwegführt, wodurch ein vielbefahrener Bahnübergang beseitigt werden konnte. Westlich der Herrenalber Strecke befand sich bis 1971 die aus der Anfangszeit der Albtalbahn stammende Hauptwerkstatt der AVG. Nach einem Werkstattneubau in Ettlingen war die alte Hauptwerkstatt entbehrlich und wurde durch eine Güterhalle ersetzt. Bad Herrenalb Passend zu den historischen Dampfzugfahrten auf der Albtalbahn wurde dem Bahnhof Bad Herrenalb Ende der 1970er Jahre ein historisches Erscheinungsbild gegeben. Neben der 1978 errichteten Bahnhofshalle, die alle drei Gleise überspannt, wurden ein Wasserkran, ein historischer, mechanischer Zugzielanzeiger, ein Läutewerk sowie ein Form-Hauptsignal aufgestellt. Teile der Bahnhofshalle stammen vom 1977 stillgelegten Baden-Badener Stadtbahnhof. Das Empfangsgebäude ist restauriert und beherbergt einen Gastronomiebetrieb. Eine moderne Triebwagen-Abstellhalle ergänzt die Anlage. Mit Wirkung vom 1. Juli 1995 wird am Bahnhof kein Expressgut mehr abgefertigt. Der Bahnhof Bad Herrenalb war bis 2012 auch die Talstation der Falkenburgbahn, die den Bahnhof mit der Falkenburg-Klinik verbindet. Fahrzeugpark Fahrzeuge zur B.L.E.A.G.- und DEBG-Zeit Der Anfangsbestand an schmalspurigen Dampflokomotiven betrug 13 Maschinen, vier Kastendampflokomotiven für den Einsatz in den Stadtgebieten von Karlsruhe und Pforzheim 1–4, vier Mallet-Lokomotiven 5–8, zwei zweifach gekuppelte und zwei dreifach gekuppelte Tenderlokomotiven. Nach der Elektrifizierung reduzierte sich der Bestand. Als in der Zeit zwischen 1917 und 1922 der elektrische Betrieb nur eingeschränkt möglich war, wurden zwei zusätzliche Dampflokomotiven beschafft. Nach Normalisierung des elektrischen Betriebs sank der Bestand jedoch durch Ausmusterung, Umspurung und Verkauf bis 1938 auf fünf Lokomotiven, die bis zum Ende der Schmalspurzeit im Einsatz blieben. 1898 wurden für die Albtalbahn sechs zweiachsige meterspurige elektrische Triebwagen mit einer Leistung von zweimal 27 kW und sechs dazu passende Beiwagen für den Gleichstrombetrieb beschafft. Die Fahrzeuge blieben bis 1910 im Einsatz und wurden anschließend an die Wermelskirchen-Burger Eisenbahn abgegeben. Zusätzlich beschaffte die B.L.E.A.G. 1901 zwei vierachsige Elektrolokomotiven mit einer Leistung von viermal 50 kW für die Bespannung der Züge im Abschnitt Karlsruhe–Ettlingen. Die beiden Elektrolokomotiven wurden 1911 an die Straßenbahn Pforzheim abgegeben, wo sie bis 1916 im Einsatz standen. Für den Wechselstrombetrieb wurden acht vierachsige Triebwagen mit zweimal 60 kW Leistung sowie vier vierachsige Elektrolokomotiven mit viermal 59 kW Leistung beschafft. Die Lokomotiven waren mit Mittelführerstand und symmetrischen Vorbauten ausgeführt, was ihnen im Volksmund den Spitznamen Bügeleisen einbrachte. Alle zwölf Fahrzeuge waren bis zum Ende des Meterspurbetriebs im Einsatz. Eine technische Rarität war die von 1924 bis 1954 im Bestand befindliche Motorlok mit Benzolmotorantrieb, gebaut von der Firma Windhoff. Der Motor leistete nur 38 kW, so dass die Lokomotive nicht vor Regelzügen eingesetzt werden konnte. Sie diente in erster Linie der Oberleitungsinstandhaltung. Für den Personenverkehr besaß die Albtalbahn bis zu 77 zwei- und vierachsige Personenwagen, die zusammen mit den Elektro- und Dampflokomotiven, aber auch in Kombination mit den vierachsigen Triebwagen eingesetzt wurden. Eine Zuggarnitur wurde Anfang der 1950er Jahre sogar für den Einsatz als Wendezug hergerichtet. Für den Güterverkehr stand eine Vielzahl offener und geschlossener Güterwagen in zumeist zweiachsiger Ausführung zur Verfügung. Der Bestand erreichte mehr als 170 Wagen. Mit der Aufnahme des Rollwagenverkehrs sank die Anzahl Güterwagen auf circa 40 Exemplare, zuzüglich zehn Rollwagen. Für den Güterverkehr im Raum Ettlingen waren stets zwei normalspurige Dampflokomotiven auf der Albtalbahn im Einsatz, wobei die Lokomotiven zuweilen mit anderen B.L.E.A.G.- beziehungsweise DEBG-Bahnen getauscht wurden. Es handelte sich bis auf eine Ausnahme um zwei- oder dreifach gekuppelte Tenderlokomotiven unterschiedlicher Typen. Fahrzeuge zur AVG-Zeit Für den Betrieb auf der umgespurten Albtalbahn beschaffte die AVG zwischen 1958 und 1969 insgesamt 21 sechs- und achtachsige Duewag-Gelenkwagen. Die Sechsachser wurden zwischen 1961 und 1967 ebenfalls zu Achtachsern verlängert. Die Wagen blieben bis 1984 auf der Albtalbahn im Einsatz, anschließend verkehrten sie noch weitere 15 bis 20 Jahre im Karlsruher Straßenbahnnetz. Später wurden acht von ihnen an die Straßenbahn Timișoara in Rumänien abgegeben wo sie noch einige Jahre in Betrieb waren, mittlerweile aber alle ausgemustert wurden. 1975 wurde der Fahrzeugpark um die vier achtachsigen Wagen 22 bis 25 ergänzt. Diese bei der Waggon-Union beschafften Wagen hatten ein moderneres, kantigeres Aussehen, waren jedoch mit den vorhandenen Fahrzeugen technisch kompatibel. Sie blieben bis circa 1987 auf der Albtalbahn im Einsatz und verkehrten danach im Karlsruher Straßenbahnnetz, mittlerweile sind sie ebenfalls ausgemustert. In den Jahren 1983–1992 wurde der Fahrzeugpark der Albtalbahn komplett durch insgesamt 60 sechs- und achtachsige Stadtbahnwagen der Typen GT6-80C und GT8-80C ersetzt, von denen circa 40 für den Einsatz auf den Linien S1 und S11 benötigt wurden. Die Wagen stellten eine Variante des Stadtbahnwagens Typ B in Einrichtungsbauart dar und boten insgesamt 93 Sitzplätze in der sechsachsigen und 117 in der achtachsigen Ausführung. In den Jahren 2018 bis 2021 wurden die Stadtbahnwagen der Baureihen GT6-80C und GT8-80C sukzessive durch neu beschaffte NET 2012 ersetzt. Diese Niederflurwagen bieten an vielen Bahnsteigen barrierefreien Zugang und sind vollständig klimatisiert. Im Güterverkehr setzt die AVG seit 1959 Diesellokomotiven ein. Zunächst stand nur eine Lokomotive zur Verfügung, seit 1974 zwei. Durch die Ausweitung des Güterverkehrs auf andere Strecken hat sich der Bestand an Diesellokomotiven seit 1990 weiter erhöht. Mehrsystem-Versuchsfahrzeuge Auf der Albtalbahn wurden mehrfach Versuche mit elektrischen Fahrzeugen für verschiedene Stromsysteme unternommen, von denen einige richtungsweisend für die Entwicklung von Mehrsystemfahrzeugen im Eisenbahnbereich wurden: 1954 wurde die elektrische Lokomotive 4 der Albtalbahn in Zusammenarbeit der DEBG, Badenwerk und BBC zu einer Zweifrequenzlokomotive umgebaut, die sowohl mit der auf der Albtalbahn üblichen Einphasenwechselspannung von 8,8 kV bei 25 Hz als auch mit 10 kV und 50 Hz verkehren konnte. Zu Versuchszwecken konnte die Strecke Busenbach–Herrenalb wahlweise mit beiden Stromsystemen versorgt werden, spätere Versuchsfahrten fanden auf der Strecke Busenbach–Ittersbach statt. Die umgebaute Elektrolokomotive bewährte sich gut, so dass sie bis 1962 im Einsatz blieb. Ab 1957 kam auf der Albtalbahn ein Dreisystemtriebwagen zum Einsatz. Das Fahrzeug war von der Kleinbahn Müllheim-Badenweiler übernommen worden und wurde von Badenwerk und AEG elektrisch umgerüstet. Der Triebwagen besaß Gleichstrommotoren, die wahlweise direkt mit Gleichspannung oder mit Hilfe eines Transformators und nachgeschalteter Gleichrichter mit Wechselspannung gespeist werden konnten. Der Triebwagen konnte mit Wechselspannung von 8,8 kV und 25 Hz, 10 kV und 50 Hz sowie Gleichspannung von 1200 V verkehren. Fahrten unter Gleichspannung wurden auf der benachbarten Kleinbahn Pforzheim-Ittersbach durchgeführt. Nach Beendigung der Versuchsfahrten blieb der Dreisystemtriebwagen bis zum Ende des Meterspurbetriebs auf der Albtalbahn im Einsatz. Im Jahre 1986 wurde ein Stadtbahnwagen der Albtalbahn zum Zweisystemtriebwagen für 750 V Gleich- und die bei der DB übliche Einphasenwechselspannung von 15 kV bei 16,7 Hz umgerüstet, um die Machbarkeit eines Mischbetriebs zwischen Eisenbahn- und Stadtbahnstrecken zu untersuchen. Die erfolgreichen Versuchsfahrten führten schließlich zur Entwicklung der Zweisystemstadtbahnwagens Karlsruher Bauart, die ab 1991 in über 100 Exemplaren geliefert wurden und in Einzelfällen auch auf der Albtalbahn verkehren. Der Zweisystemstadtbahnbetrieb ist auch als Karlsruher Modell bekannt geworden. Historische Fahrzeuge Insgesamt drei Lokomotiven aus der Schmalspurzeit der Albtalbahn blieben erhalten: die Wechselstrom-E-Lok Nummer 2 wurde als nicht-fahrfähige Denkmalslok aufbewahrt und zunächst in Ettlingen, später am Karlsruher Albtalbahnhof aufgestellt. Zum 50-jährigen AVG-Jubiläum wurde sie optisch aufgearbeitet und ist derzeit in einer Halle abgestellt. die Mallet-Dampflokomotive Nummer 7s (Bauart B'Bn4vt), 1966 ausgemustert und dreißig Jahre auf einem Spielplatz aufgestellt, wird zurzeit vom Deutschen Eisenbahn-Verein (DEV) zur betriebsfähigen Museumslok für die Strecke Bruchhausen-Vilsen–Asendorf aufgearbeitet. Die 1898 von der Maschinenfabrik Karlsruhe gelieferte Lokomotive stammt aus der Erstausstattung der Albtalbahn. die Dampflokomotive 99 7203 wird von den Ulmer Eisenbahnfreunden (UEF) auf der Museumsbahn Amstetten–Oppingen eingesetzt. Diese 1904 von Borsig gebaute Dampflok stammt ursprünglich von der Nebenbahn Mosbach–Mudau und wurde auf der Albtalbahn 1964 nur für den Abbau des Meterspurgleises zwischen Busenbach und Ittersbach eingesetzt. Von den AVG-Gelenktriebwagen werden die Wagen Nummer 4 und 12 betriebsfähig in Karlsruhe aufbewahrt. Wagen 4 hat inzwischen den gelben Anstrich mit dunkelgrüner Zierlinie zurückerhalten, den er bereits in den 1960er Jahren trug, während Wagen 12 die grün-gelbe Lackierung der späten 1970er Jahre trägt. Film SWR: Eisenbahn-Romantik – 100 Jahre Albtalbahn (Folge 310) Literatur Manfred Koch (Herausgeber): Unter Strom: Geschichte des öffentlichen Nahverkehrs in Karlsruhe. Badenia Verlag, Karlsruhe 2000, ISBN 3-7617-0324-4. Klaus Bindewald: Die Albtalbahn: Geschichte mit Zukunft: von der Schmalspurbahn zur modernen Stadtbahn. verlag regionalkultur, Ubstadt-Weiher 1998, ISBN 3-929366-79-7. Kurt Schwab: Straßen- und Kleinbahn in Pforzheim. Verlag Kenning, Nordhorn 1997, ISBN 3-927587-64-8. Günter König: Der elektrische Betrieb der Albtalbahn in Schmalspur. In: Die Museums-Eisenbahn: Zeitschrift für Kleinbahn-Geschichte. Nr. 3/1992, S. 21–47. Deutscher Eisenbahn-Verein Helmut Iffländer: Die Albtalbahn: von der Bimmelbahn zum modernen Nahverkehrsbetrieb. Andreas-Braun-Verlag, München 1987, ISBN 3-925120-03-3. Dieter Höltge: Albtalbahn und Kleinbahn Pforzheim-Ittersbach. Verlag Wolfgang Zeunert, Gifhorn 1976, ISBN 3-921237-27-0. Weblinks Offizielle Streckendaten auf avg.info Historische Bilder vom Meterspur- und frühen Regelspurbetrieb auf der Albtalbahn Historische Dampfzüge auf der Albtalbahn Blick in das Stellwerk der Albtalbahn in Ettlingen Albtalbahn im Karlsruher Stadtwiki Einzelnachweise Bahnstrecke im Schwarzwald Spurweite 1000 mm Verkehrsbauwerk in Karlsruhe Verkehrsbauwerk im Landkreis Calw Stadtbahn Karlsruhe Albtal-Verkehrs-Gesellschaft Karlsruher Verkehrsverbund
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Eric Heiden
Eric Arthur Heiden (* 14. Juni 1958 in Madison, Wisconsin) ist ein ehemaliger US-amerikanischer Eisschnellläufer und Radrennfahrer. Bei den Olympischen Winterspielen 1980 gewann er in allen fünf Eisschnelllaufrennen eine Goldmedaille. Außerdem wurde er auf dem Eis zwischen 1977 und 1980 vierfacher Sprintweltmeister und dreifacher Mehrkampfweltmeister. Er zählt zu den historisch erfolgreichsten und vielseitigsten Eisschnellläufern. Eric Heiden begann in seiner frühen Kindheit mit dem Eislaufen und konzentrierte sich ab seiner Jugend auf den Eisschnelllauf. Unter der Anleitung von Dianne Holum stießen er und seine jüngere Schwester Beth in den 1970er-Jahren in die internationale Spitze vor und debütierten 1976 in Innsbruck bei Olympischen Spielen. Im Winter 1977 wurde Eric Heiden binnen weniger Wochen zum ersten Mal Junioren-, Sprint- und Mehrkampfweltmeister. Diese Titel verteidigte er in den folgenden Jahren erfolgreich. Bei den Olympischen Winterspielen 1980 in Lake Placid bestätigte er seine Favoritenrolle und gewann als erster Eisschnellläufer die Rennen auf allen fünf Distanzen: vom 500-Meter-Sprint bis zur 10.000-Meter-Langstrecke. Am Ende des olympischen Winters zog sich Heiden vom Eisschnelllauf zurück und wechselte zum Radsport. Als Straßenradfahrer fuhr er von 1981 bis 1987 für das Team 7-Eleven. Er wurde US-Profimeister 1985 und nahm an der Tour de France 1986 teil, die er wegen eines Sturzes nicht beendete. Nach seiner Sportkarriere wurde Heiden Orthopäde und betreute als Sportmediziner unter anderem Profibasketballspieler und das US-amerikanische Eisschnelllaufteam bei Olympischen Spielen. Die ihm angebotenen Werbemöglichkeiten nach seinen Goldmedaillen von Lake Placid nahm Eric Heiden nur eingeschränkt wahr, weil er seine Privatsphäre schützen wollte. Zudem fanden seine Erfolge in der Randsportart Eisschnelllauf in der breiten amerikanischen Öffentlichkeit insgesamt weniger Beachtung als der gleichzeitige unerwartete Sieg des US-Teams beim olympischen Eishockeyturnier (Miracle on Ice). Dennoch wurden Heiden viele Ehrungen zuteil. So erhielt er zwischen 1977 und 1980 viermal in Folge die Oscar Mathisen Memorial Trophy, gehörte 1983 zu den Gründungsmitgliedern der United States Olympic Hall of Fame und wurde vom US-Sportsender ESPN als einer der 50 herausragenden nordamerikanischen Sportler des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet. Werdegang Kindheit und frühe Jugend (bis 1972) Eric Heiden wuchs als ältestes Kind in einer wohlhabenden und sportbegeisterten Familie in Madison auf. Sein Vater Jack – ein auf Sportmedizin spezialisierter Orthopäde – hatte in den 1950er-Jahren als Student erfolgreich gefochten und fuhr außerdem unter anderem Ski sowie Radrennen. Nancy Heiden, die Mutter von Eric, war Hausfrau und gehörte lange zu den führenden örtlichen Tennisspielerinnen. Die frühe sportliche Entwicklung von Eric und seiner 15 Monate jüngeren Schwester Beth Heiden wurde nicht nur von ihren Eltern beeinflusst, sondern auch von ihrem Großvater mütterlicherseits, Art Thomsen, der Eishockeytrainer an der University of Wisconsin war. Die Geschwister standen als Kleinkinder im Alter von zwei Jahren erstmals auf Schlittschuhen und übten das Eislaufen im Winter auf den zugefrorenen Teichen und Seen ihres Heimatstaates Wisconsin wie etwa auf dem Lake Mendota. Als Schüler trat Eric Heiden einem Eishockey-Nachwuchsteam bei. Ferner meldeten seine Eltern ihn und Beth beim Madison Figure Skating Club an. Weil das Eiskunstlaufen die Geschwister langweilte und sie vor allem Spaß am schnellen Laufen auf Schlittschuhen hatten, wechselten sie beide zum örtlichen Eisschnelllaufverein. Beth und Eric Heiden berichteten im Rückblick auf ihre Kindheit von einer ausgeprägten geschwisterlichen Rivalität. Sie erinnerten sich etwa daran, dass sie einander bei der Zahl der durchgeführten Klimmzüge übertreffen wollten und keiner gerne nachgegeben hätte. Beth sagte über Eric später, er sei „von außen ein Vollblutpferd, aber innerlich ein störrisches Maultier“ (im Original: „A thoroughbred horse on the outside with a subborn [sic] mule inside“). Wie ihr Bruder entwickelte sie sich im Laufe der folgenden Jahre zu einer der weltweit besten Eisschnellläuferinnen: 1979 wurde sie Mehrkampfweltmeisterin, 1980 gewann sie eine olympische Bronzemedaille. Neben dem Eislaufen, wo sich die Wettkämpfe auf den Zeitraum von Dezember bis Februar konzentrierten, übte Eric Heiden mehrere andere Sportarten aus. Im Sommer spielte er Fußball, zudem fuhr er viel Rad, um seine Beine zu trainieren. Als Teenager gab er den Eishockeysport auf und verlegte seinen sportlichen Schwerpunkt im Winter ganz auf den Eisschnelllauf. Fortan fuhren er und seine Schwester täglich nach der High School zum Training nach West Allis. In der etwa 120 Kilometer östlich von Madison gelegenen Stadt befand sich mit dem Wisconsin Olympic Ice Rink die zu diesem Zeitpunkt einzige 400-Meter-Kunsteisbahn in den Vereinigten Staaten. West Allis galt daher als „Mekka des US-Eisschnelllaufs“, obwohl die Eisbahn laut Heiden wegen starker Winde und ungünstiger Eisbeschaffenheit denkbar schlechte Trainingsbedingungen bot. Trotz einiger amerikanischer Erfolge im Eisschnelllauf genoss die Sportart in den 1970er-Jahren in den USA nur geringe Popularität; lediglich während der Olympischen Spiele verfolgte eine größere Öffentlichkeit die Wettkämpfe. Später kontrastierte Heiden seine Erfahrungen bei Auftritten vor heimischem Publikum mit denen bei internationalen Wettkämpfen etwa in Norwegen oder in den Niederlanden: In Amerika fänden Eisschnelllaufrennen vor wenigen Dutzend Interessierten statt, in Europa zögen sie bis zu 25.000 Zuschauer an. Training bei Dianne Holum (ab 1972) und Laufstil Das Eisschnelllauftraining der beiden Heiden-Geschwister übernahm 1972 Dianne Holum, die kurz zuvor bei den Winterspielen in Sapporo Olympiasiegerin über 1500 Meter geworden war. Anschließend hatte sie im Alter von 20 Jahren ihre aktive Karriere beendet und ein Studium an der University of Wisconsin begonnen, während sie gleichzeitig den Madison Skating Club betreute. Unter Holums Anleitung intensivierte sich Heidens Trainingspensum deutlich, laut Medienberichten auf täglich mindestens fünf Stunden. Holum erkannte in Heidens positiver Herangehensweise an das Training und seiner inneren Motivation die Merkmale, die ihn von anderen Athleten abhoben: Er habe vor keiner Herausforderung zurückgeschreckt und Wert darauf gelegt, jede Einheit und jedes Rennen zu genießen. Körperlich stand die Stärkung seines Quadrizeps und der Kraftausdauer im Vordergrund. Die Basis dafür bildeten vor allem Übungen abseits des Eises. Neben Radfahren und Laufen zählten auch Gewichtheben und Calisthenics zu dem von Holum entwickelten Programm. Für Teile des Trockentrainings nutzten die Heiden-Geschwister ein kleines Fitnessstudio unter anderem mit Ringen und Medizinbällen, das sie in ihrem Elternhaus eingerichtet hatten. Zu Zeiten seiner aktiven Laufbahn hatte Eric Heiden bei einer Körpergröße von etwa 185 Zentimetern (6 feet 1 inch) und einem Taillenumfang von gut 80 Zentimetern (32 inches) einen außerordentlich großen Oberschenkelumfang, der in Spitzenzeiten nach Heidens eigener Angabe etwa 70 Zentimeter (27 inches) betrug. Beobachter sahen in seiner Kraft einen wichtigen Baustein für Heidens spätere Überlegenheit auf dem Eis: Dank ihr konnte er demnach seine hohe Geschwindigkeit in Kurven trotz der Fliehkraft halten. Insbesondere für Sprintrennen spielten seine explosiven Starts eine wesentliche Rolle. Auf den längeren Strecken hatte Heiden einen Vorteil durch seine Kraftausdauer. Er betonte, dass er aus jedem seiner Schritte das Optimum heraushole und dadurch in der Regel sowohl auf den Geraden als auch in den Kurven weniger Schritte benötige als seine Konkurrenten. Seine Trainerin Dianne Holum hob außerdem die Bedeutung der Körperhaltung und des Armschwungs in den Kurven hervor. Sie simulierte die Kurven im Trockentraining mithilfe von Silikon- beziehungsweise Latexschläuchen („surgical tubing“), die sie um Heidens Taille band, und bescheinigte ihm später, er sei technisch einwandfrei gelaufen. Der Eisschnelllaufanalyst Jeff Klaiber veranschaulichte Heidens Lauftechnik am Beispiel seines 500-Meter-Sprints bei der Mehrkampf-WM 1979 und stellte fest, dass er auf der Geraden sowohl aus dem Beginn als auch aus der Verlängerung jeder Stoßbewegung Kraft mitnehmen konnte. Zudem war Heiden nach Klaibers Einschätzung in der Lage, Kurven ausgesprochen eng zu laufen, was ihm einen guten Vorwärtstrieb verschaffte. Dianne Holum blieb bis zu Heidens Karriereende 1980 seine Trainerin. Für ihn, der ohnehin gute körperliche Grundlagen mitbrachte, galt das Training bei ihr als „Schleifstein“ (im Original: „grinding stone“). Erste internationale Erfolge und Weltmeistertitel (1975 bis 1979) Im Winter 1975 bestritt Eric Heiden im Alter von 16 Jahren seine ersten internationalen Wettkämpfe und wurde für die Juniorenweltmeisterschaften im schwedischen Strömsund nominiert. Dort belegte er beim Sieg des Japaners Masayuki Kawahara als bester Amerikaner den zehnten Rang in der Mehrkampf-Gesamtwertung nach vier Strecken. Ein Jahr später gehörte Heiden bei den Winterspielen 1976 in Innsbruck erstmals zum US-amerikanischen Olympiakader. Er trat über 1500 Meter sowie über 5000 Meter an und belegte in den Rennen die Plätze sieben und neunzehn (bei etwa 30 Startern). Außerdem gewann Heiden im Winter 1976 bei der Junioren-WM die Silbermedaille hinter Lee Yeong-ha aus Südkorea und wurde Fünfter bei der Mehrkampfweltmeisterschaft im Erwachsenenbereich. Dabei war er im WM-Auftaktrennen über die 500-Meter-Sprintdistanz mit einer Zeit von 39,11 Sekunden der schnellste Athlet. Mit der Saison 1976/77 begann die bis zu seinem Karriereende anhaltende Dominanz Heidens im internationalen Eisschnelllauf. Im Februar 1977 errang er mit 18 Jahren in Heerenveen, Inzell und Alkmaar an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden die Titel des Mehrkampfweltmeisters, des Juniorenweltmeisters und des Sprintweltmeisters. Er war der erste (männliche) US-amerikanische Eisschnelllaufweltmeister im 20. Jahrhundert und der erste Eisschnellläufer, dem ein solcher Dreifachsieg in einem Jahr gelang. Seinen überraschenden Erfolg bei der Mehrkampf-WM im Heerenveener Thialf-Stadion, etwa zwei Zehntelpunkte vor dem amtierenden Europameister Jan Egil Storholt aus Norwegen, bezeichnete Heiden rückblickend als wegweisenden Moment seiner Laufbahn: Bis dahin habe er gedacht, die anderen (europäischen) Eisschnellläufer seien stärker als er. Der Jubel des niederländischen Publikums habe ihm das Gefühl gegeben, dass er es als Eisschnellläufer zu etwas gebracht habe. Im Februar 1978 verteidigte er alle drei Titel. Nach Siegen über die ersten drei Distanzen hatte er bei der Mehrkampf-WM in Göteborg den Gesamterfolg bereits frühzeitig sicher. Im abschließenden 10.000-Meter-Rennen fehlte ihm die Motivation und er belegte lediglich Rang fünf, mehr als zehn Sekunden hinter dem Streckensieger Sten Stensen. Im Rückblick ordnete er diese Niederlage als einen Tiefpunkt seiner Karriere ein. 1979 siegte Heiden zum dritten Mal in Folge bei den beiden Weltmeisterschaften der Erwachsenen. Er entschied sowohl bei der Sprint-WM als auch bei der Mehrkampf-WM alle vier Teilstrecken für sich. Die US-Fachzeitschrift Sports Illustrated sprach im Februar 1979 von „vernichtenden“ Siegen Heidens und zitierte seinen teaminternen Kontrahenten Peter Mueller mit dem Ausspruch, alle anderen Athleten kämpften nur noch um den zweiten Platz. Der deutsche Sportjournalist Heinz Maegerlein nannte es verständlich, dass sich nach Heidens überlegenen WM-Siegen ein „Nimbus der Unschlagbarkeit“ um ihn gebildet habe. Bei der Mehrkampf-WM 1979 im Osloer Bislett-Stadion betrug Heidens Vorsprung auf den erneut zweitplatzierten Norweger Storholt in der Mehrkampfwertung nahezu fünf Punkte – der Abstand zwischen den beiden war somit größer als der Abstand zwischen Storholt und dem Athleten auf Position 15. Mit seiner Punktzahl von 162,975 Punkten verbesserte Heiden ferner Storholts Weltrekord im Großen Mehrkampf über 500, 5000, 1500 und 10.000 Meter. Ebenfalls im Februar 1979 übernahm er vom Russen Wladimir Below die Führung im Adelskalender, einer Rangliste, die alle persönlichen Bestzeiten der Eisschnellläufer auf den vier Strecken kombiniert. Heiden behielt die Spitzenposition bis zu seiner Ablösung durch Wiktor Schascherin 1983. Fünffacher Olympiasieg in Lake Placid und Ende der Eisschnelllaufkarriere (1980) Eric Heiden ging als großer Favorit in die Saison 1979/80, deren Höhepunkt die Olympischen Winterspiele 1980 im Februar in Lake Placid waren. In der Woche vor Olympia unterstrich Heiden seine Führungsrolle, als er bei den Welttitelkämpfen auf seiner Heimbahn in West Allis zum vierten Mal in Serie Sprintweltmeister wurde. Anders als bei den Weltmeisterschaften, bei denen in Heidens aktiver Zeit ausschließlich die Mehrkampfwertung für die Titelvergabe zählte, wurden die olympischen Medaillen in fünf Einzelstrecken-Wettkämpfen vergeben: über 500, 1000, 1500, 5000 sowie 10.000 Meter. US-Medien handelten Heiden bereits vor Beginn der Spiele als Sieganwärter auf allen fünf Distanzen. Sports Illustrated prognostizierte wenige Tage vor der Eröffnungsfeier einen solchen beispiellosen Fünffacherfolg und zitierte den 500-Meter-Olympiasieger von 1964 Richard McDermott mit seiner Einschätzung, dass Heiden das gesamte Spektrum vom Sprint bis zur Langstrecke gemeistert habe: Tatsächlich entschied Heiden bei den olympischen Eisschnelllaufwettkämpfen zwischen dem 15. und dem 23. Februar 1980 sämtliche Rennen für sich. Bei jedem seiner fünf Auftritte auf dem für die Winterspiele neu errichteten James B. Sheffield Olympic Skating Rink verbesserte er den olympischen Rekord. Im zuerst anstehenden 500-Meter-Lauf war er im direkten Duell mit dem Weltrekordhalter Jewgeni Kulikow um 0,34 Sekunden schneller als der Russe, der die Silbermedaille gewann. Einen Tag später lag Heiden über 5000 Meter bei frühen Zwischenzeiten bis zu vier Sekunden hinter dem zunächst führenden Norweger Tom Erik Oxholm zurück. Auf den letzten Runden zog Heiden das Tempo an, unterbot Oxholms Zeit klar und siegte letztlich mit einer Sekunde vor dessen Landsmann Kay Arne Stenshjemmet, der erst nach Heiden lief. Anschließend gewann er das 1000-Meter- und das 1500-Meter-Rennen jeweils mit anderthalb Sekunden Vorsprung auf Gaétan Boucher aus Kanada (über 1000 Meter) beziehungsweise erneut auf Stenshjemmet (über 1500 Meter). Im 1500-Meter-Wettkampf strauchelte Heiden dabei kurz mitten im Rennen, richtete sich aber wieder auf, indem er seine Hand am Eis abstützte. Schließlich triumphierte er auch in der 10.000-Meter-Konkurrenz. Seine Zeit von 14:28,13 Minuten war um knapp acht Sekunden schneller als die des zweitplatzierten Niederländers Piet Kleine und bedeutete außerdem eine Verbesserung des Weltrekordes auf dieser Strecke um mehr als sechs Sekunden. Das 10.000-Meter-Rennen fand am Tag nach dem Miracle on Ice statt, dem Sieg der US-amerikanischen Eishockeymannschaft über das sowjetische Team, der einen der herausragenden Momente der Winterspiele von Lake Placid markierte. Heiden hatte das Spiel besucht, war nach dem Erfolg der US-Auswahl – der mit Mark Johnson und Bob Suter zwei seiner Kindheitsfreunde angehörten – erst spät zur Ruhe gekommen und verschlief am Morgen seines eigenen Wettkampfs, sodass er in großer Eile frühstücken und die Rennvorbereitungen abschließen musste. Heiden war der mit Abstand erfolgreichste Sportler der Olympischen Winterspiele 1980. Er war der erste – und mit Stand 2022 der einzige – Athlet, der fünf Goldmedaillen bei einer Austragung von Olympischen Winterspielen gewann. (Zuvor hatte Lidija Skoblikowa mit vier Siegen bei Olympia 1964 diesen Rekord gehalten.) Nachdem er schon bei der Eröffnungsfeier den olympischen Eid als Vertreter der Sportler gesprochen hatte, war er bei der Abschlussfeier Fahnenträger der US-Mannschaft. Insgesamt holte das Olympiateam der Vereinigten Staaten bei den Spielen in Lake Placid sechs Goldmedaillen. Neben dem US-Eishockeyteam war Heiden somit der einzige amerikanische Olympiasieger. Nach den Winterspielen trat er im März 1980 noch zu mehreren internationalen Wettkämpfen an, darunter zur Mehrkampf-WM in Heerenveen, wo ihn der Niederländer Hilbert van der Duim in der Gesamtwertung um einen Zehntelpunkt schlug. Heiden zeigte sich erschöpft von der großen Medienaufmerksamkeit, die mit seinen olympischen Erfolgen verbunden war, und erklärte, ihm sei die Zeit am liebsten gewesen, in der er noch ein Niemand gewesen sei (im Original: „I really liked it best when I was a nobody“). Am Ende des Winters 1980 zog er sich im Alter von 21 Jahren vom Eisschnelllauf zurück. Von 1984 bis 1994 kommentierte er bei vier aufeinanderfolgenden Winterspielen die olympischen Eisschnelllaufwettbewerbe als Analyst im US-Fernsehen, trat aber selbst zu keinen Wettkämpfen auf dem Eis mehr an. Jahre später begründete Heiden seinen Rückzug vom Eisschnelllauf damit, dass ihm nach dem fünffachen Olympiasieg der notwendige Fokus abhandengekommen sei. Radsportlaufbahn (1980 bis 1987) Nach seinen olympischen Erfolgen in Lake Placid zog Eric Heiden von seinem Heimatstaat Wisconsin nach Stanford in Kalifornien und wendete sich in den 1980er-Jahren dem Radsport zu. Zunächst versuchte er sich für kurze Zeit als Bahnradfahrer, ehe er mehrere Jahre lang an Rennen im Straßenradsport teilnahm. Seine Schwester Beth wechselte ebenfalls auf das Rad und wurde Straßen-Weltmeisterin 1980. Für Eric Heiden war die Umstellung mit größeren Herausforderungen verbunden: Er erreichte als Radsportler zwar gutes nationales Niveau, erfüllte aber nicht die von Teilen der US-Presse geschürte Erwartung, dass er auf dem Rad ähnlich dominieren würde wie auf Schlittschuhen. Wenngleich er teilweise von seinen früheren Erfahrungen im Eisschnelllauf profitierte, gerieten ihm insbesondere auf ansteigendem Gelände sein mesomorpher Körperbautyp, seine antrainierten Muskeln und sein für einen Radsportler hohes Körpergewicht von über 80 Kilogramm (trotz eines geringen Fettanteils von 4 Prozent) zum Nachteil. Ferner mangelte es Heiden nach eigener Ansicht an Rennintelligenz: der Fähigkeit, sich die oftmals bis zu fünf Stunden andauernden Wettkämpfe kräfteschonend einzuteilen. So verbrauchte er regelmäßig viel Energie in der Verfolgung von Ausreißern und konnte auf den entscheidenden Kilometern am Ende eines Rennens nicht mehr zusetzen. Heiden war Teil der 1981 von Jim Ochowicz gegründeten US-Mannschaft 7-Eleven. Seine auf den olympischen Erfolgen beruhende Popularität und die damit verbundene große Medienaufmerksamkeit verhalfen dem Team zu umfangreicheren Sponsorenverträgen als den bis dahin im amerikanischen Radsport üblichen. Auf dem Papier nahm Heiden zwecks besserer Vermarktungsmöglichkeiten die Position als Teamkapitän von 7-Eleven ein. In der Realität sah er sich dagegen zumeist in der Rolle eines klassischen Domestiken, der andere Fahrer – wie etwa den besten Sprinter des Teams Davis Phinney – unterstützte. Heiden selbst nahm an den Straßen-Radweltmeisterschaften 1982 (ohne das Rennen zu beenden) sowie den UCI-Bahn-Weltmeisterschaften 1982 (im Punktefahren) teil und errang 1985 vor Tom Broznowski im Sprint einer Ausreißergruppe den Titel des US-amerikanischen Profimeisters. Ab 1985 trat 7-Eleven als Profimannschaft zu den großen europäischen Rundfahrten an. Heiden gehörte beim Giro d’Italia 1985 zum Kader und belegte den 131. Rang. Ein Jahr später startete er bei der Tour de France 1986, wo er als bestes Etappenergebnis einen 25. Platz im Prologzeitfahren erreichte, während Davis Phinney auf dem dritten Teilstück den ersten Tour-Etappensieg für 7-Eleven einfuhr. Auf der 18. Tour-Etappe stürzte Heiden in der Abfahrt vom Col du Galibier und musste das Rennen mit einer Gehirnerschütterung aufgeben. Gegenüber Sports Illustrated sagte er ein Jahrzehnt später, der Sturz habe „so ziemlich das Ende [s]einer Radsportkarriere“ bedeutet. Heiden bezeichnete 1986 als seine letzte ernsthafte Saison als Radsportler. 1987 nahm er noch an vereinzelten Rennen teil, konzentrierte sich aber nun vor allem auf seine berufliche Ausbildung. Ärztliche Ausbildung und Arbeit als Sportmediziner (nach 1980) Schon während seiner Zeit in Madison hatte Heiden mit dem Undergraduate-Studium an der University of Wisconsin begonnen. In Kalifornien studierte er Anfang der 1980er-Jahre kurz an der UC San Diego, ehe er an die Stanford University wechselte, die er zwischenzeitlich parallel zu seiner Radkarriere besuchte. 1984 schloss er dort sein Bachelor-Biologiestudium ab, 1991 erlangte er an der Stanford Medical School das Berufsdoktorat. Anschließend zog er nach Sacramento und absolvierte bis 1996 seine ärztliche Weiterbildung am UC Davis Medical Center (UCDMC). Dabei spezialisierte er sich auf Sportmedizin und trat als Orthopäde in die Fußstapfen seines Vaters. Heiden erklärte später, er habe schon als Jugendlicher die Entscheidung getroffen, Arzt zu werden. In den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren arbeitete er als Assistant Professor für Arthroskopie und Sportmedizin an der UC Davis. Während des Medizinstudiums in Stanford hatte Eric Heiden seine zukünftige Ehefrau Karen kennengelernt, die später ebenfalls Orthopädin wurde. Das Paar heiratete 1995 und bekam Anfang der 2000er-Jahre erst eine Tochter und dann einen Sohn. Die Familie zog 2006 nach Utah, wo Karen und Eric Heiden am orthopädischen Fachkrankenhaus (The Orthopedic Specialty Hospital, TOSH) in Murray arbeiteten und später mehrere eigene Praxen eröffneten. 2008 brachte Eric Heiden gemeinsam mit seinem Kollegen Massimo Testa – den er seit dessen Zeit als Teamarzt bei 7-Eleven kannte – einen an das allgemeine Publikum gerichteten Fitness-Ratgeber („Faster Better Stronger“) heraus. Als Sportarzt betreute Heiden viele prominente Sportlerinnen und Sportler aus unterschiedlichen Disziplinen: Während seiner Zeit in Sacramento war er Mannschaftsarzt der in der NBA beziehungsweise WNBA spielenden Basketballteams Kings und Monarchs. In den 2000er- und 2010er-Jahren nahm er bei mehreren Olympischen Spielen die Rolle des Arztes der US-amerikanischen Eisschnellläufer ein. Er behandelte dabei unter anderem den Shorttracker Apolo Anton Ohno, der zwischen 2002 und 2010 acht olympische Medaillen gewann und damit Heiden in dieser Statistik als erfolgreichster US-Teilnehmer an Winterspielen ablöste. Außerdem betreute er Radsportler, etwa Lance Armstrong zu Beginn von dessen Karriere Mitte der 1990er-Jahre und zwei Jahrzehnte später in Zusammenarbeit mit Massimo Testa das BMC Racing Team um Athleten wie Cadel Evans. Die Nähe Eric Heidens und Massimo Testas zum US-Radsport – wo insbesondere in den 2000er-Jahren viele Dopingfälle bekannt wurden – war 2007 Grundlage für die kritische Einschätzung des deutschen Doping-Experten Werner Franke, dass „[i]n so ein System […] eigentlich nur Leute rein[kommen], die die Vorgänge decken“. Im Gegensatz dazu rechnete Andreas Schulz, Radsport-Experte von Eurosport, Testa zu den unbelasteten Ärzten mit gutem Ruf. Heiden selbst sagte 2006 in einem Interview, er habe in seiner Zeit als Mannschaftsarzt bei den Eisschnellläufern „nicht ein einziges Mal gesehen, wie mit Dopingmitteln hantiert wurde“. Nach eigener Aussage profitierte Heiden bei seiner Arbeit von seinen Erfahrungen als Leistungssportler: Zum einen könne er dadurch die Probleme der von ihm behandelten Athleten besser verstehen, zum anderen genieße er dank seiner Erfolge großes Vertrauen der Patienten in seine Fähigkeiten. Sein Kollege Testa nannte es das besondere Merkmal Heidens, dass er einen starken Schwerpunkt auf nichtoperative Behandlungsmaßnahmen lege, was nach Testas Ansicht ebenfalls mit Heidens Hintergrund als Leistungssportler zusammenhing. Öffentliches Bild und Würdigung Auftreten und Vermarktung Über weite Teile seiner sportlichen Laufbahn fuhr Eric Heiden seine Erfolge ohne größere Aufmerksamkeit der breiten Bevölkerung in den Vereinigten Staaten ein. Erst mit den Olympischen Winterspielen 1980 in Lake Placid gewann er an Bekanntheit. Das Magazin Time bildete ihn und seine Schwester Beth zwei Tage vor der olympischen Eröffnungsfeier auf dem Titelblatt ab und verglich ihn im zugehörigen Artikel mit dem Rennpferd Secretariat, weil er jeglichen menschlichen Maßstab übertreffe. Die Öffentlichkeit bewunderte ihn bezogen auf seine Auftritte im goldenen Rennanzug in Lake Placid als „stattliche Maschine in Gold“ (im Original: „handsome machine in gold“). Heiden selbst betonte in Interviews, dass für ihn die gezeigte Leistung wichtiger sei als öffentliche Anerkennung. Die ausführliche Medienberichterstattung über seinen Fünffachsieg bezeichnete er als „großes Tamtam“ („Big Whoopee“) und fragte rhetorisch, was man denn schon mit Goldmedaillen machen könne – ihm sei es lieber, er bekäme einen warmen Trainingsanzug. Ein Kommentar der Los Angeles Times im Jahr 2002 kam zu der Einschätzung, dass die unnahbaren, an Arroganz grenzenden Auftritte Heidens (etwa seine lapidaren Antworten auf ernsthafte Fragen) nach seinen Olympiasiegen verhindert hätten, dass die Welt ihn wirklich geliebt und nicht nur für seine Erfolge bewundert habe. Andere Rückschauen wie beispielsweise die des US-Fernsehsenders ESPN fielen wesentlich positiver aus: Der Sportjournalist Larry Schwartz ordnete Heidens Verhalten als authentisch ein. Heiden habe nie gewollt, dass ihn jemand auf ein Podest stellte, und nicht daran gedacht, sich zu ändern. Trotz der fünf Goldmedaillen, die er in Lake Placid gewonnen hatte, stand Heiden in Amerika im Schatten des Miracles on Ice: Der Sieg der US-Eishockeymannschaft über die sowjetische Auswahl weckte zum einen in einer Hochphase des Kalten Krieges nationalistische Begeisterung und war zum anderen wesentlich unerwarteter als Heidens Erfolge. Sports Illustrated und die Associated Press zeichneten jeweils das Eishockeyteam als Sportler des Jahres aus, was Heiden laut einem Zitat in der New York Times wohlwollend zur Kenntnis nahm, weil es ihm „jede Menge Ärger“ in Form öffentlicher Auftritte ersparte. Zwei Jahrzehnte später, 2002 in Salt Lake City, entzündeten die Miracle-on-Ice-Spieler das olympische Feuer bei der Eröffnungsfeier der nächsten Winterspiele in den USA. Heiden sollte nach eigener Aussage als einer der letzten Fackelläufer vor der Entzündung eine zentrale Rolle bei der Eröffnungsfeier einnehmen, lehnte diese aber enttäuscht ab, weil die Organisatoren ihm nicht die finale Position anboten. Seine Entscheidung stieß auf negatives Medienecho und wurde als selbstbezogen und engstirnig kritisiert. Später äußerte sich Heiden dahingehend, er sei „wahrscheinlich einfach zu stur“ gewesen, weil er sich und seine Lebensleistung nicht genug gewürdigt gesehen habe. In keiner Form habe er die Leistung der Eishockeyspieler schmälern wollen. Nach den Winterspielen 1980 erhielt Heiden viele Anfragen für Werbeverträge. Über seinen Anwalt Arthur Kaminsky, der ihn und Beth seit 1979 vertrat, wies er einige hochdotierte Angebote – etwa von der Kellogg Company – zurück, weil er seine Privatsphäre schützen wollte. Während sich andere Sportler wie beispielsweise der neunfache Schwimmolympiasieger Mark Spitz deutlich stärker vermarkten ließen, erklärte Heiden, diese Art der Kommerzialisierung passe nicht zu seinem Verständnis von Sport als Freizeitbeschäftigung. Dennoch schloss er einige Geschäftsverträge ab, unter anderem mit dem Radhersteller Schwinn und einer Zahnpastamarke. Später sagte er, die Olympiateilnahme hätte ihm eine Vielzahl an Möglichkeiten eröffnet, die er sonst nicht gehabt hätte: Er sei ohne Schulden durch seine Berufsausbildung gekommen und habe dabei sorgenfrei leben können. Nach dem Ende seiner sportlichen Laufbahn nahm das öffentliche Interesse an Heidens Person wieder deutlich ab. 2002 erklärte er während seiner Zeit in Sacramento, dass ihn dort kaum jemand erkenne und um ein Autogramm bitte. Leistungseinordnung, Bedeutung für den Eisschnelllauf und Auszeichnungen Dass Eric Heiden olympische Goldmedaillen auf allen Strecken vom 500-Meter-Sprint bis zur 10.000-Meter-Langstrecke gewann, bedeutete in der Geschichte des Sports eine ausgesprochen ungewöhnliche Leistung. Das Time-Magazin verglich Heidens Erfolge 1980 sportartenübergreifend mit denen der Leichtathleten Paavo Nurmi und Emil Zátopek: Nurmi hatte 1924 auf Strecken zwischen 1500 und 10.000 Meter gewonnen, Zátopek war 1952 Olympiasieger über 5000 Meter, 10.000 Meter und im Marathon geworden. Heiden war in Lake Placid einer von nur drei Eisschnellläufern, der überhaupt auf allen fünf Distanzen an den Start ging. In den Jahren nach seinem Rücktritt kam es zu einer weiteren Spezialisierung von Sprintern und Langstreckenläufern. Auf dieser Grundlage nannte der US-Nationaltrainer Peter Mueller 1994 die Auftritte seines früheren Teamkollegen das „Ende einer Ära“ und schloss eine Wiederholung des Fünffachsieges kategorisch aus. In seiner aktiven Zeit erhielt Heiden als erster (und Stand 2022 einziger) Sportler viermal in Folge von 1977 bis 1980 die als Eis-Oscar bezeichnete Oscar Mathisen Memorial Trophy. Die französische Sport-Tageszeitung L’Équipe wählte ihn 1980 zum Weltsportler des Jahres („Champion des champions monde“). Im März 1999 wurde Heiden bei der IJsgala in Heerenveen als Eisschnellläufer des Jahrhunderts geehrt, mit Gunda Niemann-Stirnemann als weiblichem Pendant. Im frühen 21. Jahrhundert untersuchten Ökonometriker an der Reichsuniversität Groningen die Frage nach den historisch stärksten Eisschnellläufern und sahen Heiden in führender Position. Eine 2013 in Groningen veröffentlichte Dissertation entwickelte modellgestützte „universelle Eisschnelllauf-Ranglisten“, die den Einfluss von Innovationen auf die gelaufenen Zeiten berücksichtigten – etwa die Einführung von Klappschlittschuhen in den 1990er-Jahren, nach der sich die Eisschnelllaufrekorde deutlich verbesserten. In diesen Ranglisten stand Heiden auf dem ersten Platz über 1000 Meter (vor Ihar Schaljasouski) sowie in der Gesamtwertung (vor Ard Schenk und Sven Kramer). Über 500 Meter sah ihn die Arbeit im historischen Vergleich auf Position drei, über 1500 Meter auf Rang zwei, über 5000 und 10.000 Meter schließlich auf den Plätzen 10 und 15. Heiden selbst nannte die 1000 Meter seine Lieblingsstrecke. Im Grunde sei er ein guter 1000-Meter-Läufer gewesen, der auch die in dieser Kombination seltene Fähigkeit für die Langdistanzen besessen habe. In den Vereinigten Staaten führten Heidens Eisschnelllauf-Erfolge von Lake Placid nicht zu einer anhaltenden Popularisierung der Sportart. Zwar überzeugte Heiden Anfang der 1980er-Jahre den Computerspielhersteller Atari zu einer finanziellen Unterstützung für das US-Team in Höhe von 60.000 Dollar und sammelte auch Gelder zur Rettung seiner Heimbahn in West Allis, er lehnte es aber ab, auf Dauerwerbetour für den Sport und seinen in chronischen Geldnöten steckenden Dachverband – die United States International Speedskating Association (USISA, später US Speedskating) – zu gehen. Der Olympiateilnehmer Erik Henriksen beklagte 1984, Heiden habe den Eisschnelllauf durch seinen mangelnden Einsatz im Stich gelassen: Die Disziplin hätte eine präsente Persönlichkeit wie Arnold Palmer (im Golfsport) gebraucht, stattdessen sei Heiden für vier Jahre aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die US-Läufer blieben bei den olympischen Wettkämpfen 1984 in Sarajevo ohne Medaille. Die nächsten US-amerikanischen Eisschnelllaufolympiasieger waren Bonnie Blair (1988, 1992 und 1994) und der wie Heiden aus Wisconsin stammende Dan Jansen (1994). Jansen sagte später, Heiden habe einen großen Einfluss auf seine Laufbahn gehabt und sei wahrscheinlich der Grund dafür gewesen, dass er beim Eislaufen geblieben sei. Eric Heiden erhielt 1980 als erster Eisschnellläufer den jährlich an herausragende US-Amateursportler verliehenen James E. Sullivan Award. 1983 wurde er als Gründungsmitglied mit den viertmeisten Stimmen – hinter Jesse Owens, Mark Spitz sowie Jim Thorpe – in die United States Olympic Hall of Fame aufgenommen. Außerdem gehört er der Wisconsin Athletic Hall of Fame (seit 1990) und der United States Bicycling Hall of Fame (seit 1999) an. Mehrere Veröffentlichungen und Organisationen zählten Heiden zu einer Auswahl an Topsportlern des 20. Jahrhunderts. Der Sportsender ESPN setzte ihn in seiner von Michael Jordan angeführten Rangliste der 100 besten nordamerikanischen Athleten dieses Zeitraums auf Position 46. Ein von Associated Press zusammengestelltes sechsköpfiges Expertenpanel kürte Heiden 1999 vor Jean-Claude Killy und Bjørn Dæhlie zum Winterolympioniken des Jahrhunderts. Die zugehörige Pressemitteilung zitierte Heiden mit der Aussage, er habe seine Leistung mit der Zeit mehr und mehr schätzen gelernt, weil niemand in der Lage gewesen sei, sie zu wiederholen. Die fünf Rennen in Lake Placid seien die besten gewesen, die er hätte zeigen können und er glaube nicht, dass er als Sportler mehr habe erreichen können. Statistik Olympische Winterspiele Eric Heiden nahm an zwei Olympischen Winterspielen teil: Bei seinem Debüt in Innsbruck 1976 blieb er ohne Medaille, vier Jahre später in Lake Placid siegte er auf allen fünf Distanzen. Mehrkampfweltmeisterschaften Von 1976 bis 1980 nahm Heiden an fünf aufeinanderfolgenden Mehrkampfweltmeisterschaften teil, die jeweils in Europa stattfanden. Er gewann dabei drei Goldmedaillen sowie eine Silbermedaille und entschied zehn Teilstrecken für sich. Die folgende Tabelle zeigt seine Zeiten – und in Klammern dahinter seine Platzierungen – auf den vier gelaufenen Einzelstrecken sowie die sich daraus errechnende Gesamtpunktzahl nach dem Samalog und die Endplatzierung. Die Anordnung der Distanzen entspricht ihrer Reihenfolge im Programm der Mehrkampf-WM zu Heidens aktiver Zeit. Sprintweltmeisterschaften Heiden entschied alle vier Sprintweltmeisterschaften, an denen er zwischen 1977 und 1980 teilnahm, für sich und siegte dabei auf 12 von 16 Teilstrecken. Die folgende Tabelle zeigt seine Zeiten – und in Klammern dahinter seine Platzierungen – auf den vier gelaufenen Einzelstrecken sowie die sich daraus errechnende Gesamtpunktzahl nach dem Samalog und die Endplatzierung. Die Anordnung der Distanzen entspricht ihrer Reihenfolge im Programm der Sprint-WM zur aktiven Zeit Heidens. Persönliche Bestzeiten Weltrekorde Heiden stellte zwischen 1978 und 1980 insgesamt neun Weltrekorde auf. (Zuvor lief er zwischen 1976 und 1978 sieben Juniorenweltrekorde, die hier nicht aufgezählt werden.) Er lief drei Bestzeiten auf der 1000-Meter-Distanz, zwei über 3000 Meter und verbesserte außerdem jeweils einmal den Rekord im Großen Mehrkampf, im Sprint-Mehrkampf sowie über 1500 und 10.000 Meter. Disziplin: Länge der gelaufenen Strecke beziehungsweise Austragungsform des Mehrkampfs. Zeit/Punkte: Gelaufene Zeit in Minuten beziehungsweise (bei Mehrkämpfen) erreichte Punktzahl nach dem Samalog. Datum: Datum des Weltrekords. Bei Weltrekorden im Mehrkampf entspricht das angegebene Datum dem letzten Tag des Mehrkampfs. Ort: Eisbahn und Ort des Weltrekords. Bestand: Dauer des Zeitraums, in dem der Rekord Gültigkeit besaß. Nachfolger: Läufer, der den angegebenen Rekord als erster unterbot. In den Fällen, in denen Heiden seinen Rekord selbst verbesserte oder einstellte, ist sein eigener Name vermerkt. Literatur Publikation mit Massimo Testa und DeAnne Musolf: Faster, better, stronger : 10 proven secrets to a healthier body in 12 weeks. Collins Living, New York 2008, ISBN 978-0-06-121523-0. Biographien und Lexikoneinträge Nathan Aaseng: Eric Heiden : winner in gold. Lerner Publications Co, Minneapolis 1980, ISBN 978-0-8225-0481-8. Vincent F. Filak: Eric Heiden. In: Murry R. Nelson (Herausgeber): American Sports: A History of Icons, Idols and Ideas (Vol. 2). Greenwood Press, Santa Barbara 2013, ISBN 978-0-313-39752-3. S. 543–546. Andrea Henderson: Eric Arthur Heiden. In: Encyclopedia of World Biography (Vol. 24). Gale, Detroit 2005, ISBN 0-7876-6903-2. S. 169–171. Brenna Sanchez: Eric Arthur Heiden. In: Dana R. Barnes (Herausgeberin): Notable Sports Figures (Vol. 2). Gale, Detroit 2003, ISBN 0-7876-6628-9. S. 661–664. Peder Skogaas: For moro skyld : Eric Heiden forteller. Cappelen, Stavanger 1979, ISBN 82-02-04451-0. Sharon Kay Stoll: Eric Arthur Heiden. In: Arnold Markoe und Kenneth T. Jackson (Herausgeber): The Scribner Encyclopedia of American Lives, Thematic Series: Sports Figures (Vol. 1). Charles Scribner’s Sons, New York 2002, ISBN 0-684-80665-7. S. 406–407. Michael V. Uschan: Eric Heiden: More than Just an Olympic Champion. In: Male Olympic champions. Lucent Books, San Diego 2000, ISBN 1-56006-614-8. S. 86–97. Journalistische Artikel Tom Graham: Eric Heiden, Olympic gold medalist / From skates to scalpel / Five-time gold medalist says career in medicine is his greatest achievement. In: San Francisco Chronicle. 22. September 2002. Jeré Longman: Former Speedskating Champion Heiden Is Staying Close to the Ice. In: The New York Times. 30. September 2009. L. Jon Wertheim: Still Handy With Blades. In: Sports Illustrated. 16. November 1998. The Heidens. In: The Washington Post Magazine. 10. Februar 1980. Weiterführende Literatur Geoff Drake: Team 7-Eleven : How an Unsung Band of American Cyclists Took on the World-and Won. VeloPress, Boulder 2011, ISBN 978-1-937716-05-9. Peter Joffre Nye: Hearts of Lions : The History of American Bicycle Racing. University of Nebraska Press, Lincoln 2020, ISBN 978-1-4962-1931-2. David Wallechinsky: The complete book of the Winter Olympics, Greystone Books, Vancouver 2009, ISBN 978-1-55365-502-2. Weblinks Statistiken bei Speedskatingnews Eric Heiden - ESPN's 50 Greatest Athletes of the Century auf dem YouTube-Kanal von Ryan Shimabukuro (englisches Videoporträt von ESPN) Larry Schwartz: Eric Heiden was a reluctant hero auf ESPN.com. Einzelnachweise Eisschnellläufer (Vereinigte Staaten) Olympiateilnehmer (Vereinigte Staaten) Teilnehmer der Olympischen Winterspiele 1976 Teilnehmer der Olympischen Winterspiele 1980 Olympiasieger (Eisschnelllauf) Weltmeister (Eisschnelllauf) US-amerikanischer Meister (Radsport) Mitglied der US Bicycling Hall of Fame US-Amerikaner Geboren 1958 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rollei
Rollei
Rollei ist ein deutsches Unternehmen, das seinen Weltruf mit der zweiäugigen Rolleiflex begründete, einer richtungsweisenden Rollfilmkamera. Sitz des Unternehmens ist die schleswig-holsteinische Stadt Norderstedt bei Hamburg. 1920 wurde die Werkstatt für Feinmechanik und Optik, Franke & Heidecke in Braunschweig gegründet, um eine zweiäugige Spiegelreflexkamera zu fertigen. Das Unternehmen änderte mehrfach Firma und Rechtsform, so 1962 in Rollei-Werke Franke & Heidecke, 1979 in Rollei-Werke Franke & Heidecke GmbH & Co. KG, 1981 in Rollei Fototechnic GmbH & Co. KG und 2004 in Rollei GmbH. Der Firmensitz der Rollei GmbH wurde 2006 nach Berlin verlegt und gleichzeitig die Produktion in die Rollei Produktion GmbH, heute Franke & Heidecke GmbH in Braunschweig, ausgelagert. Zu einer weiteren einschneidenden Umstrukturierung des Unternehmens kam es 2007/2008. Die vielen Namensänderungen deuten bereits auf eine bewegte Firmengeschichte hin: Nach Absatzproblemen der inzwischen veralteten Rolleiflex wurden Ende der 1960er Jahre die Produktionsstätten und das Sortiment vergrößert, was das kleine Unternehmen Rollei nicht verkraften konnte. Der Start der eigenen Produktion in Singapur 1970 war eine Pioniertat in der Fotoindustrie, die aber den Ruf der Firma als deutschen Präzisionshersteller schädigte. Nach mehreren fehlgeschlagenen Sanierungsversuchen erfolgte 1982 eine Konzentration auf Mittelformatkameras und wenige weitere Produkte. Ab 1986 wurden Vermessungssysteme, ab 1991 Digital- und moderne Kompaktkameras in das Sortiment aufgenommen. Seit 2007 ist das Unternehmen in drei Unternehmen aufgespalten. Franke & Heidecke GmbH (Braunschweig) betreute den Bereich der Profiprodukte (Mittelformatkameras, Diaprojektoren). RCP-Technik GmbH & Co KG (Hamburg) übernahm den nichtprofessionellen Bereich (Rollei Consumer Products, d. h. kompakte Digitalkameras) in Europa und Rollei Metric GmbH das Geschäft im Bereich Photogrammetrie. Die Firma Franke & Heidecke GmbH ist seit 2009 insolvent. Ein Teil der Insolvenzmasse wurde von der DHW Fototechnik GmbH aufgekauft, die digitale und analoge Mittelformatkameras, Fachkameras, Diaprojektoren und Kleinserien weiter produzierte, bis sie 2014 ebenfalls Insolvenz anmelden musste. An ihre Stelle trat die bis heute aktive DW Photo GmbH. 1920 bis 1928 Firmengründung Im Rahmen seiner Tätigkeit als Fertigungsleiter im Braunschweiger Kamerawerk von Voigtländer hatte Reinhold Heidecke um 1916 die präzise Idee zu einer neuartigen Rollfilm-Kamera, fand mit diesem Vorschlag aber im Unternehmen kein Gehör. Man befürchtete große Probleme mit der Planlage des Films, außerdem konnte man alle produzierten Plattenfilm-Kameras problemlos absetzen. Heidecke versuchte erfolglos, das Startkapital für ein eigenes Unternehmen zu bekommen, und präsentierte seine Pläne dann auf Drängen seiner Frau dem Fotokaufmann und ehemaligen Voigtländer-Mitarbeiter Paul Franke. Dieser war begeistert, er stellte 75.000 Mark für das Unternehmen zur Verfügung und sah sich nach weiteren Geldquellen um, die weitere 200.000 Mark erbrachten. Im November 1919 beschlossen beide, einen Gewerbeschein für das Unternehmen „Franke & Heidecke“ zu beantragen, das mit Wirkung zum 1. Februar 1920 ins Handelsregister eingetragen wurde. Als Produktionsstätte mietete man einige Räume im Wohnhaus Viewegstraße 32 an, dem ersten Firmensitz des Unternehmens. Das Haus überstand den Zweiten Weltkrieg und existiert noch heute. Weitere Zimmer in diesem Haus wurden von einer Tanzschule genutzt, die aber wegen des Lärms bald ihren Unterricht einstellen musste. Bereits nach einem Jahr nutzte Franke & Heidecke das gesamte Haus, und schon 1922 lief das Unternehmen derart gut, dass man Kredite erhielt, um die Immobilie kaufen zu können. Stereo-Heidoscop Um das Unternehmen in Gang zu bringen, hatten sich Franke und Heidecke auf die vorübergehende Produktion einer Stereokamera geeinigt. Solche Kameras waren gerade sehr en vogue und Reinhold Heidecke überaus vertraut, fanden sie sich doch auch im Voigtländer-Programm. Um den Anschein einer plumpen Kopie zu vermeiden, kaufte man einige Modelle und schuf aus den verschiedenen Ideen die Stereo-Heidoscop mit zwei Objektiven von Carl Zeiss Jena vom Typ Tessar (f/4,5, 55 mm), zwischen denen sich das Sucherobjektiv, ein Carl Zeiss Super Triplet mit f/3,2, befand. Das Tessar galt seinerzeit als das am schärfsten abbildende Objektiv und wurde auch in den USA vielfach verwendet, obwohl es dort auch gute einheimische Produkte gab. Zeiss hatte einen international glänzenden Ruf, den Franke & Heidecke erfolgreich für sein Produkt nutzen konnte. Vor allem deswegen entschied man sich gegen preisgünstigere Alternativen. Die Kamera belichtete auf Glasplatten im Format 45 mm × 107 mm. Der Kameraname „Heidoscop“ sollte bei Voigtländer daran erinnern, dass es ein Fehler gewesen war, Heidecke nicht mehr Freiheiten zu gewähren. Die Heidoscop geriet zu einem unerwartet großen Erfolg. 1923 wurde eine Heidoscop für den Rollfilm Typ 117 vorgestellt, wobei sich schließlich aus Rollfilm-Heidoscop die Bezeichnung Rollei ergab, aus der später der neue Firmenname des Unternehmens wurde. Inflationszeit Während der galoppierenden Geldentwertung im Jahr 1923 wurde Paul Franke seinem Ruf als Finanzjongleur gerecht: Er setzte die Exporteinnahmen in Auslandswährung derart geschickt ein, dass das Unternehmen die Zeit unbeschadet überstand – hätte sich Heidecke entsprechend seinen ersten Überlegungen allein selbständig gemacht, wäre dies unmöglich gewesen. In jener Zeit wurde ein neues Firmengelände erworben: Der Rat der Stadt Braunschweig war von einem Industriebetrieb im Wohngebiet aufgrund der Lärmbelästigung wenig begeistert und drängte auf einen neuen Standort. Daraufhin kam es am 10. Januar 1923 zur Unterzeichnung eines Kaufvertrags über ein 60.000 m² großes Grundstück an der damals etwas außerhalb der Stadt gelegenen Salzdahlumer Straße. Aufgrund der extremen Geldentwertung kostete das Gelände schließlich praktisch nichts. Mit dem Errichten der Fabrikgebäude wartete man aber den Erfolg der neuen Kamera ab. Paul Franke drängte dabei darauf, die Entwicklungsarbeiten aufgrund der desolaten Wirtschaftslage vorübergehend einzustellen. Heidecke glaubte an bessere Zeiten und war damit einverstanden. Rolleiflex 1927 entstand dann endlich der erste Prototyp der neuen Kamera: Die Rolleiflex, wie sie genannt wurde, war ganz auf höchste Zuverlässigkeit hin konstruiert und verfügte deshalb über ein stabiles Spritzgussgehäuse aus Aluminium. Heidecke vermied einen Lederbalgen für den Objektivauszug, da er mit einem solchen schlechte Erfahrungen gemacht hatte: Um 1916 experimentierte er mit einer Kodak-Kamera, wobei er diese einmal in seinem Keller zurückließ und später ihren Balgen von einer Ratte zerfressen vorfand. Dies zeigte ihm bereits damals, dass eine Kamera für den Reportage-Einsatz, die auch in den Tropen einwandfrei funktionieren musste, keine verrottbaren Materialien besitzen darf. Aus demselben Grund vermied er einen Tuchverschluss und setzte auf den soliden Compur-Zentralverschluss. Die Entfernungseinstellung geschah bei der neuen Kamera dadurch, dass der Träger mit dem Aufnahme- und Sucherobjektiv verschoben wurde, wobei er sozusagen einen Metallbalgen besaß, also die Platte seitlich das Gehäuse umschloss. Entscheidend dabei war exakt paralleles Verschieben der Platte, wozu Heidecke eine raffinierte Konstruktion entwickelte, die wesentlich zum Erfolg beitrug: Um die Öffnung für den Strahlengang hinter dem Aufnahmeobjektiv herum lag ein zentrales Zahnrad, das vier kleine Räder antrieb, je eins oben links und rechts sowie unten links und rechts. Diese kleinen Zahnräder verschoben Zahnstangen, die wiederum mit dem Objektivträger verbunden waren. Das System funktionierte perfekt und dank hochwertiger Materialien auch noch nach langjährigem Gebrauch. Lediglich der Sucheraufsatz und die Rückwand der Kamera, beides Aluminiumteile, mussten vorsichtiger behandelt werden, was bis zum Serienanlauf nicht mehr geändert werden konnte. 1928 wurde ein weiterer Prototyp gebaut, dann war es endlich so weit: Am 10. August startete die Produktion der ersten Serienkamera. Insgesamt entstanden in diesem Jahr 14 Exemplare. Am Montag, dem 11. Dezember lud man für 11 Uhr die Reporter zur Pressevorstellung in die festlich geschmückte Produktionsstätte. Paul Franke hatte eigens Pressepakete zusammengestellt, und eine Zeitschrift veröffentlichte daraufhin sogar einen Testbericht, ohne die Kamera je in den Händen gehalten zu haben. Franke umging auch elegant das Problem, dass man gar nicht an Demonstrationsfotos gedacht hatte; die versandbereiten Kartons lagen leer und nur zu Werbezwecken in der Unternehmung. 1929 bis 1950 Neues Werk Die Nachfrage nach der neuen Kamera überstieg die Produktionsmöglichkeiten an der Viewegstraße bei weitem. Obwohl es kein billiges Produkt war, gingen schon im ersten Monat 800 Bestellungen ein. Die Rolleiflex kostete mit dem f/4,5-Objektiv 198 Reichsmark, mit dem f/3,8 sogar 225 RM. Der große Erfolg ermöglichte es, Kredite für die neue Fabrik zu bekommen und mitten in der Weltwirtschaftskrise wirtschaftlich äußerst erfolgreich zu sein. Im alten Werk entstanden bis 1932 noch 23.720 Kameras. Am neuen Standort, Salzdahlumer Straße, entstand ein Fabrikgebäude mit zwei Etagen und zusammen 2.000 m² Fläche, das eine Jahresproduktion von 20.000 Kameras erlaubte und 1930 bezogen werden konnte. Da das Gelände zwar mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht erreichbar, aber doch fern vom Stadtzentrum lag, errichtete man zudem eine Kantine und ein Geschäft für die nunmehr 309 Mitarbeiter. Babyflex Wilhelmine Heidecke, Reinholds Frau, regte den Bau einer „Damenkamera“ an, einer Rolleiflex für das sogenannte „Kleinbildformat“. Sie kam schließlich als erste Rolleiflex mit der berühmten Kurbel für den Filmtransport, die kurz darauf auch am 6×6-Modell zu finden war, auf den Markt. Die Rolleiflex 4×4, auf den Exportmärkten hieß sie Babyflex, verwendete den Filmtyp 127 und besaß ein Objektiv f/2,8 mit 60 mm Brennweite. Sie verkaufte sich aber nur in unerwartet kleinen Stückzahlen, weswegen sie nach dem Krieg zunächst nicht wieder aufgelegt wurde. Man vermutete in der Firmenleitung, dass viele Rollei-Fotografen mangels Vergrößerer nur Kontaktabzüge von ihren Negativen erstellten, was im Falle der Babyflex zu indiskutabel kleinen Bildern führte. Deswegen kam es erst 1957 wieder zu einer Neuauflage für 355 DM, die es bis 1968 gab, zunächst in grau, ab 1963 in schwarz. Aber auch von ihr entstanden gerade einmal ca. 67.000 Exemplare, obwohl sich inzwischen kaum ein Fotoamateur mehr mit Kontaktabzügen begnügte und man mit dieser Kamera erstellte Diapositive im Kleinbildprojektor vorführen konnte. Studiokamera 1932 fragte der Inhaber des bekannten Berliner Fotostudios Kardas, Salomon Kahn, bei Rollei an, ob er eine große Rolleiflex für das Format 9 cm × 9 cm bekommen könne. Als Vorwand gab er an, seine Kunden würden gerne die Negative mitnehmen, da sie an der Dauerhaltbarkeit der Abzüge zweifelten, und sich Rollfilme einfacher als Glasplatten archivieren ließen. Tatsächlich wollte er den eigentlichen Grund nicht angeben, da Franke & Heidecke die NSDAP unterstützte, um genügend Arbeitskräfte zu bekommen. Der Eigentümer seines Studios hatte nämlich das Wasser abgestellt, da er Probleme mit dem Vermieten an Juden befürchtete. So musste Kahn seine Platten zu Hause entwickeln, wobei sich Rollfilme leichter transportieren ließen. Auch ermöglichte eine Rollfilmkamera Hausbesuche. In Braunschweig fand man die Idee, nach einer kleineren nun eine größere Rolleiflex für den Filmtyp 222 anzubieten, naheliegend, und hatte sich schon den Slogan: Sie sehen, was Sie bekommen ausgedacht. Solch eine Kamera hätte dem Fotografen die Arbeit im Studio wesentlich erleichtert, musste er doch zur damaligen Zeit unter einem schwarzen Tuch in gebückter Haltung die Kamera einstellen und in dieser Haltung zu seinem Motiv sprechen. Allerdings wurde man nach dem Misserfolg mit der Babyflex vorsichtig und baute erst einmal Testkameras. Eine bekam Salomon Kahn, weitere verschickte man paarweise ins Ausland, eine sollte der Importeur als Vorführgerät behalten, die andere an ein bedeutendes Studio abgeben. Nachdem Salomon Kahn verhaftet worden war und sonst niemand auf eine Studiokamera drängte, stellte man das Projekt ein. Insgesamt entstanden 14 Studiokameras, von denen eine erhalten ist und heute dem Städtischen Museum Braunschweig gehört. Rolleicord 1933 erschien mit der Rolleicord auch ein preisgünstiges Pendant der Rolleiflex mit einfacherem Objektiv, Stahlblech-Rückwand, Filmtransport-Knopf anstatt -Kurbel und bei dem ersten Modellen sogar ohne Zählwerk – dann zeigten die auf dem Film aufgedruckten Ziffern die Zahl der belichteten Bilder (siehe Rollfilm). Die Rolleicord I kostete 105 RM, alle Rolleicord zusammen brachten es bis zur Einstellung Ende 1976 auf eine Produktionszahl von 2.699.505 Exemplaren. Rolleiflex Automat Mit der im Juni 1937 präsentierten Rolleiflex Automat gelang Franke & Heidecke ein weiterer bedeutender Fortschritt. Musste man bislang nach dem Fotografieren den Verschluss neu spannen und den Film transportieren, so spannte sich nun der Verschluss mit dem Drehen der Transportkurbel automatisch. Dies machte die Kamera nicht nur schneller wieder einsatzbereit, man konnte nun auch nicht mehr den Transport vergessen und so unabsichtlich Doppelbelichtungen erzeugen. Diese Rolleiflex gewann den Großen Preis der Weltausstellung 1937, der ihr viel Beachtung einbrachte. Die beiden Firmengründer waren von ihrer neuen Entwicklung derart überzeugt, dass sie unverzüglich die Verträge für ein neues Werk unterzeichneten. Das Werk 2 bot mit 3.000 m² auf drei Etagen weiteren 700 Mitarbeitern Platz. Es konnte 1938 fertiggestellt werden. In jenem Jahr produzierte man bereits die 300.000. Kamera. Reinhold Heidecke bezeichnete die Rolleiflex Automat rückblickend als seine Lieblingskamera. Zweiter Weltkrieg Bedingt durch den Zweiten Weltkrieg und die damit verbundene und von den Nationalsozialisten forcierte Kriegswirtschaft kamen ab 1940 keine neuen Kameramodelle mehr auf den Markt, und die Stereokamera wurde schließlich eingestellt. Rollei erlitt erhebliche Vermögensverluste dadurch, dass die Außenstände in den „Feindstaaten“ verlorengingen. Kontrollen und Formalitäten erschwerten die Exporte in neutrale Länder erheblich. Da zudem die Überseemärkte wegbrachen, reduzierte Paul Franke die Belegschaft auf 600 Mitarbeiter. Produktion von Rüstungsgütern Neben den bekannten Kameras wurden, ähnlich wie bei der ortsansässigen Konkurrenz Voigtländer, nun auch bei Rollei kriegswichtige Rüstungsgüter produziert, wie z. B. Präzisionsoptiken für Ferngläser, Periskope, Zielfernrohre (u. a. für Scharfschützen) und Richtkreise für die Artillerie. Für diese Produkte mussten erhebliche Gelder aufgewendet werden, trotzdem konnte man noch in kleinem Umfang eine reguläre Entwicklung betreiben und dabei an vergüteten Objektiven sowie der Blitz-Synchronisation arbeiten. Die Kameras fanden u. a. Verwendung bei der Feindaufklärung. Als eines der Zentren der deutschen Rüstungsindustrie war Braunschweig zahlreichen, teilweise sehr schweren Bombenangriffen ausgesetzt, die die Stadt stark zerstörten. Am 1. und 15. Januar 1944 und dann noch einmal am 13. August wurden so auch die Rollei-Produktionsstätten in Mitleidenschaft gezogen. Bei Kriegsende in Braunschweig am 12. April 1945 waren die Produktionsanlagen zu 65 % zerstört. Nachkriegszeit Braunschweig gehörte zur britischen Besatzungszone. Das Fortbestehen des Unternehmens wurde von der Besatzungsmacht unterstützt, es wurden sogar einige Zeiss-Objektive aus der sowjetischen Zone beschafft. Franke & Heidecke begann wieder mit 72 Mitarbeitern, um Weihnachten 1945 waren es bereits 172, wobei die gesamte Jahresproduktion 1945 an das britische Verteidigungsministerium geliefert wurde. Im Hinblick auf die Versorgungslage kamen auch Objektive des westdeutschen Herstellers Schneider zum Einsatz, was unproblematisch war, da dieser eine ebenso gute Qualitätskontrolle wie Zeiss besaß. Verheerende Folgen für das Unternehmen hatte allerdings der Tod von Paul Franke im Frühjahr 1950: Damit ging nicht nur eine Ära in der Firmengeschichte zu Ende, fehlendes kaufmännisches Geschick führte das Unternehmen nun mehrfach an den Rand des Ruins. 1950 bis 1963 Goldene Ära Horst Franke, Sohn des verstorbenen Paul Franke, trat dessen Nachfolge an. Die Unternehmensleitung unter seiner Führung agierte insgesamt gesehen weniger erfolgreich als unter Paul Franke. Insbesondere fehlte ihr die nötige Flexibilität, sich auf veränderte Situationen einzustellen; man unterließ es beispielsweise, in Krisenzeiten die Belegschaft zu reduzieren, während Paul Franke zu Kriegsbeginn sofort in dieser Richtung reagiert hatte (siehe auch: Paul Franke). Zunächst jedoch stand Rollei konkurrenzlos da und ließ sich dadurch in immer größeren Mengen verkaufen. In den 1950er Jahren setzte praktisch jeder Pressefotograf eine Rolleiflex ein, und auch bei Fotoamateuren fand man diese Kamera ausgesprochen häufig. Die Kamera war derart populär, dass es über 500 Nachbauten gab, davon mehr als die Hälfte aus Japan. Das Werk wuchs rasant, 1956 hatte es bereits 1.600 Mitarbeiter und verkaufte bereits die millionste Kamera, 1957 waren es sogar 2.000 Mitarbeiter. Rolleiflex-Entwicklungen Unterwasser-Gehäuse Der Tauchpionier Hans Hass fragte bei Franke & Heidecke an, ob er ein spezielles Gehäuse für Unterwasseraufnahmen bekommen könne. Daraufhin baute man das raffinierte, bis 100 m Tiefe geeignete Unterwassergehäuse Rolleimarin. Es bestand aus zwei Guss-Teilen. Das Oberteil enthielt ein Prisma, welches an die Kamera-Einstellscheibe angeschlossen wurde. Es wies überdies auf seiner Oberseite Drehknöpfe auf, welche die Zeit- und Blendeneinstellung übertrugen. Am Unterteil fanden sich die Entfernungseinstellung auf der linken und die Transportkurbel mitsamt Bildzählwerk auf der rechten Seite. Zudem gab es einen Filterrevolver. Für Blitzaufnahmen konnte man eine spezielle Leuchte anschließen, hierzu musste man ein Batteriegehäuse ins Gehäuse einlegen. Selbstverständlich konnte man auf dem Gehäuse auch einen Rahmensucher anschrauben. Tele- und Weitwinkel-Objektive Unter all den Nachbauten gab es keine Kamera, die der originalen Rolleiflex überlegen gewesen wäre, bis 1956 die Mamiya C erschien. Die Japaner stellten dieses Modell mit drei Doppelobjektiven vor (normal, Tele- und Weitwinkel). Später kamen weitere Doppelobjektive mit 55 mm bis 250 mm Brennweite hinzu, darunter sogar eins mit abblendbarem Sucherobjektiv, um die Schärfentiefe im Sucher kontrollieren zu können. Zur Rolleiflex gehörte indes stets das fest eingebaute Normalobjektiv, von Rollei selbst gab es lediglich den Televorsatz Magnar mit vierfacher Vergrößerung. Er wurde nur vor das Aufnahmeobjektiv gesetzt, für das Sucherbild wurde lediglich eine Maske auf die Einstellscheibe gelegt, das Bild also nicht vergrößert. Zeiss bot zudem zwei doppellinsige Vorsätze an, die ins Filterbajonett des Sucherobjektivs eingehängt und ins Bajonett des Aufnahmeobjektivs eingedrückt wurden. Der fünflinsige Mutar-Televorsatz vergrößerte 1,5-fach, wog 327 g und zeigte bis 4 m Aufnahmeentfernung ein korrektes Sucherbild. Der vierlinsige Mutar-Weitwinkelvorsatz vergrößerte 0,7-fach und wog 437 g, sein Sucherbild stimmte bis 1 m Entfernung überein. Für alle Vorsätze empfahl es sich aber, für eine maximale Abbildungsqualität um zwei Stufen abzublenden, weswegen sie gegenüber Wechselobjektiven nur als Behelf erschienen. Als Reaktion auf die Mamiya konstruierte man eine vergleichbare Rollei und gab sie Reportern zum Testen. Obwohl diese begeistert waren, sah man sich schließlich doch nicht in der Lage, die Objektive mit gewohnter Präzision abnehmbar zu gestalten, was die Fachwelt allerdings sehr verwunderte. Als Kompromiss kam es zur 1959 vorgestellten Tele-Rolleiflex mit einem Zeiss Sonnar f/4, 135 mm. Diese Kamera war insbesondere für Porträt-Aufnahmen von allergrößtem Nutzen. Eine geplante Version mit 150 mm Brennweite kam indes nicht mehr ins Programm. Eine Weitwinkel-Rolleiflex folgte 1961 mit einem f/4, 55 mm Objektiv. Sie wurde nur bis 1967 gebaut und gehört heute – ausgenommen Sondermodelle – zu den seltensten Rolleiflex-Kameras. Ihr Vorteil lag vor allem bei stark besuchten Ereignissen, wenn der Reporter sich vor die Menschenmenge stellen musste. Rolleikin Rolleikin war ein Zubehör- und Umbausatz, der es ermöglichte, die Rolleiflex oder die Rolleicord in eine Kamera umzubauen, die 35 mm Kino-Film (daher der Name „Kin“) anstatt des 6x6 cm Rollfilms verwenden konnte. Rolleikin gab es in unterschiedlichen Varianten für verschiedene Kameramodelle. In allen Fällen musste die Kamera umgebaut und ergänzt werden. Unter anderem musste man einen neuen Filmhalter für 135 Filmkassetten sowie eine neue Aufwickelspule, Zähler für 36 Bilder, Maske für Schachtsucher und eine andre Filmführung einbauen. Bei ältern Rollei-Modellen musste auch das Kamerarückteil ausgetauscht werden. Rollei Magic Reinhold Heidecke konstruierte noch bis zu seinem Tod im Jahr 1960 neue Kameras, wobei ihn nun niemand mehr an die Kosten mahnte. So dachte er sich auch die Magic aus, für die einige teure Werkzeuge gefertigt werden mussten, was die geringe Stückzahl nicht rechtfertigte. Dies stand beispielsweise vollkommen im Gegensatz zu Agfa, wo man stets versuchte, ein Gehäuse für möglichst viele Modelle zu verwenden. Es handelte sich um eine mit 435 DM relativ teure Kamera für den fotografischen Laien. Sie besaß einen gekuppelten Selen-Belichtungsmesser, der eine Programmautomatik steuerte, die mit Verschlusszeiten von 1/30 bis 1/300 s und Blendenwerten von 3,5 bis 22 arbeitete. Es gab nur zwei Einstellräder, eins für die Schärfe und ein weiteres für die Verschlusszeiten 1/30 s zum Blitzen und B für Nachtaufnahmen. Die Magic II für 498 DM erlaubte dann auch eine manuelle Belichtungseinstellung. Situation um 1960 Gegen Ende der 1950er Jahre war der Markt mit zweiäugigen Mittelformatkameras allmählich gesättigt, Amateure und Reportagefotografen wandten sich zunehmend dem Kleinbild zu und Studiofotografen der einäugigen Mittelformatkamera. Diese Einäugigen waren zwar sehr teuer, sie boten aber Wechselobjektive und Filmmagazine. Letzteres ermöglichte einen schnellen Filmwechsel, wobei üblicherweise ein Assistent die Magazine neu füllte. Marktführer auf diesem Gebiet war das schwedische Unternehmen Hasselblad. Sie begann 1948 mit dem technisch unzulänglichen Modell 1600 F, dessen Verschluss nicht einwandfrei funktionierte. 1952 folgte die 1000 F mit eingeschränktem Zeitbereich, um das Problem zu beheben, aber der Schlitzverschluss war immer noch sehr störanfällig. Zunächst stellte sie keine Konkurrenz zur vollkommen ausgereiften Rolleiflex dar. 1957 änderte sich die Situation aber mit der legendären Hasselblad 500 C mit Compur-Zentralverschluss. Die Unternehmensführung unter Horst Franke verschlief diese Entwicklung und versäumte es, der Hasselblad ein Konkurrenzmodell entgegenzustellen. Daraufhin bekam Franke & Heidecke Absatzprobleme und geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Horst Franke gab die Unternehmensleitung schließlich ab. Vollkommen neue Produkte Projektoren 1960 kam der erste Rollei Diaprojektor heraus: Der P 11 konnte sowohl Kleinbild- (5 cm × 5 cm), wie auch Mittelformaträhmchen (7 cm × 7 cm) aufnehmen. Hierzu gab es zwei Aufnahmevorrichtungen, rechts für Kleinbild- und links für Mittelformat-Diamagazine. Dieser Universal-Projektor kostete 398,60 DM zuzüglich 97,50 DM für das Standardobjektiv. Der P 11 blieb noch bis 1978 im Programm, nach ihm erschienen zahlreiche weitere Projektoren, die erheblich zum Umsatz des Unternehmens beitrugen. Rollei 16 Als erste völlige Neukonstruktion nach dem Krieg erschien 1963 die Rollei 16, eine Kleinstbildkamera mit dem Filmformat 12 mm × 17 mm, einem Tessar f/2,8, 25 mm für 425 DM. Das ausgefallene Format scheint heute verwunderlich, um Rollei wieder in die Gewinnzone zu bringen; aber damals war die deutsche Kameraindustrie der Überzeugung, dass darin die Zukunft liege. Auch Leica und Wirgin (Markenname Edixa) konstruierten solche Kameras. Rollei verwendete spezielle, Super 16 genannte Patronen für 18 Aufnahmen, zu deren Produktion sich kein Filmhersteller bereit erklärte, sodass man die Filme selbst konfektionieren musste. Ein Schwarzweiß-Film kostete 5 DM, der Farbdiafilm mit Entwicklung 12,50 DM – die Filme gab es bis 1981 im Programm. Der Filmanfang brauchte dabei nur in die zugehörige Führung der Kamera eingelegt zu werden, eine Aufwickelspule gab es nicht, der Film bildete eine freitragende Spirale. Die eingeschränkte Filmauswahl und -verfügbarkeit war dem Absatz naturgemäß nicht zuträglich, sodass gerade einmal ca. 25.000 Exemplare produziert wurden. Da Rollei hierzu auch noch viel Geld für zahlreiche Annoncen ausgab, konnte diese Kamera das Unternehmen nicht einmal ansatzweise aus der bedenklichen Finanzsituation befreien. Es erwies sich als fahrlässig, auf einen Filmtyp zu setzen, den der Marktführer Kodak nicht unterstützte. Die Technik der Rollei 16 entsprach dem Verkaufspreis, der Sucher besaß einen automatischen Parallaxenausgleich bis 40 cm Motiventfernung, der Filmtransport ging mit Betätigen des Sucherschiebers vonstatten und es gab Mutar genannte Vorsätze für Weitwinkel- (0,5 ×) und Teleaufnahmen (1,7 ×) im Zubehörprogramm. 1965 folgte die verbesserte Rollei 16 S. 1964 bis 1974 Neuausrichtung Heinrich Peesel Um Rollei wieder in die Gewinnzone zu bringen, holte die Geschäftsführung mehrere Gutachten ein. Der Hamburger Physiker Heinrich Peesel lieferte ein mit fünf Seiten besonders kurzes ab, woraufhin man sich beeindruckt zeigte, ihn um die Unternehmensführung bat und dabei sogar weitreichende Forderungen akzeptierte. So folgte der 38-jährige Peesel zum 1. Januar 1964 Horst Franke als Geschäftsführer und schlug prompt einen sehr riskanten Kurs ein, welcher nach anfänglichen Erfolgen in einem Fiasko endete. Seine grundlegende Idee war es, in möglichst allen Bereichen der Fotografie aktiv zu sein und sich nicht mehr wie bisher auf eine Produktlinie zu konzentrieren. Dies stand im vollkommenen Gegensatz zur bisherigen Unternehmenspolitik. So hatte beispielsweise die britische Besatzungsmacht auf die Frage nach dem Geheimnis des Unternehmenserfolgs zur Antwort bekommen, es gebe keines, es liege nur in 25 Jahren Erfahrung und in der Konzentration auf einen einzigen Kameratyp. Neue Produkte Peesel ließ sich sämtliche Pläne für neue Produkte zeigen, um sie zu analysieren. Gebaut werden sollten: die Rollei 35, eine Taschenkamera für den weltweit verbreiteten Kleinbildfilm vom Typ 135 die SL 66, ein Pendant zur Hasselblad 500 C der Rolleiscop Schublift-Projektor Beim Schublift-Projektor handelte es sich um ein kompaktes Gerät im Hochformat, das dicht an dicht hintereinander liegende Dias aufnehmen konnte und mittels eines Förderbandes vorführte. Die Kapazität lag bei 32 Dias in Glas- bis 72 Dias in Papprähmchen, wobei unterschiedliche dicke Rähmchen beliebig gemischt werden konnten. Die einzige Voraussetzung bestand lediglich in einer gleichmäßigen Rahmendicke, die Rähmchen durften also nicht gewölbt sein. Organisation und Marketing Außerdem erhöhte Peesel den Werbeetat immens und gestaltete die Produktion effizienter, wozu er 110 von 120 Mitarbeitern mit Führungsfunktion entließ und das betriebliche Vorschlagswesen extrem forcierte. Die neuen Produkte kamen bei den Kunden ausgezeichnet an, wodurch das Unternehmen nach den Verlusten im Jahr 1963 mitten in der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit ein jährliches Wachstum von 30 % erzielte. Der Umsatz stieg von 24 Millionen DM 1964 auf 85 Millionen DM im Jahr 1970. Im weiteren Verlauf kam es dann zu weniger erfolgreichen Produkten und Fabrikneubauten, die nicht zur Unternehmensgröße passten. Rolleiflex SL 66 Schon seit einiger Zeit erwähnte die Fachpresse immer wieder eine zukünftige Super-Rolleiflex, aber erst 1966 erschien die entsprechende SL 66, wobei SL für single lens, also „einäugig“ stand. Es handelte sich bei diesem Produkt um eine raffinierte Systemkamera. Die SL 66 besaß einen eingebauten Balgen und eine um jeweils 8° nach oben und unten schwenkbare Objektivstandarte, sodass man Schärfeebenenverlagerungen nach Scheimpflug erzeugen konnte. Zudem ließen sich die Objektive in Retro-Stellung ansetzen, zusammen mit den 50 mm Balgenauszug konnte man so ohne weitere Hilfsmittel Makroaufnahmen im Maßstab 1:2,5 erstellen. Die SL 66 kostete mit Normalobjektiv (f/2,8, 80 mm) 2.778 DM, sie wurde selbstverständlich mit einer Reihe von Wechselobjektiven vorgestellt: Distagon (HFT) f/3.5, 30 mm (3.300 DM, Preis 1976) Distagon (HFT) f/4, 40 mm (1.810 DM, Preis 1969) Distagon (HFT) f/4, 40 mm, (Floating Elements), (7.998 DM, Preis 1994) Distagon (HFT) f/4, 50 mm (1.075 DM) Distagon (HFT) f/3.5, 60 mm (3.100 DM, Preis 1986) PCS-Rolleigon (HFT)(Shift) f/4.5, 75 mm (4.800 DM, Preis 1986) Distagon (Zentralverschluss) f/4, 80 mm, bis 1/500 s Blitzsynchronisation (1.050 DM, Preis 1970) Planar (HFT) f/2.8, 80 mm (860 DM, Preis 1969) S-Planar (Makro) f/5,6, 120 mm (1.250 DM) Makro-Planar (HFT) f/4, 120 mm (6.078 DM, Preis 1994) Sonnar (HFT) f/4, 150 mm (1.075 DM) Sonnar (Zentralverschluss) f/4, 150 mm, bis 1/500 s Blitzsynchronisation (1.230 DM, Preis 1970) Sonnar (HFT) f/5.6, 250 mm (1.075 DM) Sonnar (HFT) Superachromat f/5.6, 250 mm Tele Tessar (HFT) f/5,6, 500 mm (2.263 DM) Tele Tessar (HFT) f/8, 1000 mm (46.392 DM, Preis 1994) Mirotar (Spiegelobjektiv) f/5,6, 1000 mm (4.537 DM) Objektive mit der Angabe „Made by Rollei“ wurden in Lizenz von Carl Zeiss, Oberkochen, Westdeutschland, von Rollei gefertigt. Spätere Objektive tragen den Zusatz HFT, da sie eine Vergütung haben. Fremdobjektive Rodenstock Imagon Achcromat mit Siebblenden f/4.5, 120 mm (600–1400 DM je nach Fassung, Preis 1980) Rodenstock Imagon Achcromat mit Siebblenden f/4.5, 200 mm Novoflex Schnellschuß-Objektiv f/4, 200 mm (800 DM, Preis 1974) Novoflex Schnellschuß-Objektiv Triplet Noflexar f/5.6, 400 mm (2.400 DM, Preis 1984) Lupenobjektive können aufgrund des eingebauten Balgens und des Schlitzverschlusses mittels eines simplen Adapterrings angebracht und fokussiert werden. Zeiss Luminar f/2.5, 16 mm (RMS-Gewinde 0,8 Zoll × 1/30 Zoll), bis zu 7-fachen Vergrößerungsfaktor ohne Zwischenringe Zeiss Luminar f/3.5, 25 mm (RMS-Gewinde 0,8 Zoll × 1/30 Zoll), bis zu 6-fachen Vergrößerungsfaktor ohne Zwischenringe Zeiss Luminar f/4, 40 mm (RMS-Gewinde 0,8 Zoll × 1/30 Zoll), bis zu 4-fachen Vergrößerungsfaktor ohne Zwischenringe Zeiss Luminarr f/4.5, 63 mm (RMS-Gewinde 0,8 Zoll × 1/30 Zoll), bis zu 3-fachen Vergrößerungsfaktor ohne Zwischenringe Zeiss Luminar f/6.3, 100 mm (M44 × 0,75-Gewinde), bis zu 1,5-fachen Vergrößerungsfaktor ohne Zwischenringe Die Lupenobjektvive mit den gleichen oder ähnliche Brennweiten der Hersteller Leitz (Leitz Photare), Canon etc. lassen sich ebenfalls über das RMS-Gewinde nutzen. Auch Vergrößerungsobjektive mit Leica-Gewinde, z. B. Leitz-Focare der Brennweiten 50 und 60 mm lassen sich leicht adaptieren. Aufgrund ihrer nahezu einzigartigen Kombination von Eigenschaften (Eingebauter Balgen, Tiltfähigkeit, Schlitzverschluss, Bajonett-Anschluss für Retrostellung) ist die Kamera insbesondere auch für wissenschaftliche (Makro- bzw. Detail-Aufnahmen) Aufnahmen im Studio gut einsetzbar. Nun hatte Rollei der erfolgreichen Hasselblad 500 C endlich etwas entgegenzusetzen, was allerdings für einen überwältigenden Erfolg schon um 1960 hätte geschehen müssen. Zu allem Überfluss konzentrierte sich Rollei beim Marketing ungeachtet geringerer Gewinnspannen und der gewaltigen japanischen Konkurrenz auf die neuen Amateurprodukte, während es Leitz und Hasselblad perfekt verstanden, ihre teuren Apparate sowohl auf den Werbe- wie auch auf den redaktionellen Seiten der Fotozeitschriften unterzubringen. So fand die SL 66 keine so große Verbreitung, wie es aus Unternehmenssicht wünschenswert und möglich gewesen wäre. Dennoch ist ausschließlich dieses System dafür verantwortlich, dass Rollei heute noch existiert und seinen unverändert guten Ruf besitzt. Bei der SL 66 war eine Belichtungsmessung durch das Objektiv nur mit einem speziellen TTL-Sucherprisma (mit eingebautem Belichtungsmesser) möglich. Mit der SL 66 E erschien 1984 eine äußerlich kaum veränderte, aber mit eingebauter TTL-Integral-Belichtungsmessung ausgestattete Kamera. Auch weitere Objektive erschienen, so das Fisheye-Distagon f/3,5, 30 mm, Distagon f/4, 40 mm, und ein Sonnar f/4, 150 mm mit Zentralverschluss, ebenso wie umfangreiches Zubehör, Nahringe, Balgengerät, Lupenobjektive, Polaroid-Magazin, Planfilmkassette, Unterwassergehäuse und Ringblitz. Das Folgemodell SL 66 X von 1986 bot ausschließlich eine TTL-Blitz-Belichtungsmessung, das zweite Modell SL 66 SE zusätzlich eine TTL-Spot-Belichtungsmessung. Ein ab 1992 hergestelltes Modell SL 66 Exclusive Professional mit vergoldeten Gehäuseteilen bildete den Abschluss dieses Kamerasystems. Rollei 35 Bei der Rollei 35 handelte es sich um die seinerzeit kleinste Kamera für Kleinbild-Filmpatronen, eine ideale Zweitkamera für Kleinbildamateure. Sie kam zunächst mit einem Zeiss Tessar der Lichtstärke f/3,5 und 40 mm Brennweite auf den Markt. Im Gegensatz zu den 16-mm-Kameras, speziell den späteren Pocketkameras brauchte man nicht mit zwei verschiedenen Filmformaten zu arbeiten, was insbesondere für die Diavorführung großen Nutzen brachte. Ebenfalls wichtig war, dass man dem Bild in keiner Weise seine Herkunft von einer Taschenkamera ansah. Im Laufe der Zeit erschienen noch verschiedene Versionen der Rollei 35, insbesondere die 35 S mit dem fünflinsigen Zeiss Sonnar f/2.8, 40 mm. Rolleiflex SL 26 Mit der Rolleiflex SL 26 erschien sogar eine Instamatic-Kamera mit Wechselobjektiven. Sie galt zwar als die beste Kamera für Filmkassetten vom Typ 126, diese Kassetten sprachen aber nur Einsteiger an. Zwar hielt Kodak ebenfalls eine Instamatic-Spiegelreflexkamera im Programm, man wollte damit aber vor allem auf den selbst geschaffenen Filmtyp aufmerksam machen und nicht unbedingt Geld verdienen. So verschlang die SL 26 hohe Werkzeugkosten, konnte aber nur etwa 28.000 Mal produziert werden. Die SL 26 stand mit 628,23 DM in der Preisliste, ihre beiden Zusatzobjektive mit 232,43 DM für das Weitwinkel Pro-Tessar f/3,2, 28 mm und 282,88 DM für das Pro-Tessar f/4, 80 mm. Rolleiflex SL 35 Nachdem einäugige Kleinbild-Spiegelreflexkameras immer beliebter geworden waren, begann Rollei 1966 ebenso verspätet mit der Entwicklung einer solchen, wie es bereits bei der SL 66 der Fall gewesen war. Bloß handelte es sich hier bei der Konkurrenz nicht um das kleine Unternehmen Hasselblad, sondern um erheblich finanzkräftigere japanische Unternehmen, die insbesondere erheblich mehr Annoncen in Illustrierten und Fachzeitschriften schalten konnten. Auch luden sie gerne Fotofachverkäufer zu einem Werksbesuch nach Japan ein. Die Rolleiflex SL 35 erschien 1970, sie war recht kompakt geraten und konnte sowohl technisch wie auch mit ihren 675 DM Verkaufspreis mit der asiatischen Konkurrenz mithalten – man hatte sich offenbar am Vorbild der meistverkauften Kleinbild-SLR Pentax Spotmatic orientiert – war diesen aber auch nicht überlegen. Rollei setzte sie auf einen eigenen Objektivanschluss und nannte es QBM-Bajonett. Das erste Objektivprogramm bestand aus den Typen: Distagon f/2,8, 25 mm Distagon f/2,8, 35 mm Zeiss Planar f/1,8, 50 mm Schneider Xenon f/1,8, 50 mm Sonnar f/2,8, 85 mm Tele Tessar f/4, 135 mm Tele Tessar f/4, 200 mm An dieser Stelle war die Rollei lange Zeit unterlegen, hatten doch die großen japanischen Marken schon Fischaugen-Weitwinkel, Super-Teleobjektive und Zooms im Programm. Zwar wurden diese zu Beginn der 70er Jahre noch von den wenigsten Amateuren gekauft, aber eine Angabe in der Marktübersicht wie „Objektivprogramm von 7,5 bis 800 mm Brennweite“ klang zukunftssicherer als „von 25 bis 200 mm“. Das Programm wurde bald erweitert: 1973 gab es 16 Objektive zur Rolleiflex SL35; davon 13 von Carl Zeiss (Oberkochen) und 3 von Schneider-Kreuznach, wobei es sich aber ausschließlich um Festbrennweiten handelte. Der SL 35 folgte 1974 die SL 350 mit zeitgemäßer Offenblendmessung, sie verkaufte sich mit dem Slogan „Konzentration auf das Wesentliche“ jedoch vergleichsweise schlecht. 1976 nahm Rollei seine attraktiv gestaltete Eigenentwicklung SL 350 (die letzte Kleinbildkamera „Made in Germany“ bis zum Rollei-Konkurs) unerwartet aus dem Programm, zugunsten des klobigen Modells SL 35 M, einer Entwicklung der von Rollei übernommenen Zeiss-Ikon Werke, die als veraltet und wenig zuverlässig galt, und entwickelte aus dieser (vier Jahre nach den Japanern) zugleich ihre erste SLR mit Zeitautomatik SL 35 ME. Obwohl diese Modelle dank Großserienfertigung in Singapur preisgünstig angeboten werden konnten blieb der Absatz deutlich unter den Erwartungen. In der eigenen Entwicklungsabteilung folgte man der grundsätzlich richtungsweisenden Idee, entsprechend dem Mittelformat mehr Elektronik einzubauen. Die Zuverlässigkeit der elektronisch gesteuerten SL 35 E, eine 1978 herausgekommene völlige Neukonstruktion, blieb jedoch hinter den Erwartungen an ein Markenprodukt zurück. Eine Schwachstelle war beispielsweise der Spiegelkasten. Da Canon mit der AE 1 bereits die erste Kleinbild-SLR mit Mikroprozessor auf den Markt gebracht hatte und kurz darauf mit der Minolta XD 7 der erste Mehrfachautomat erschienen war, erlangte Rollei mit seinen Produkten keinerlei Aufsehen mehr – wodurch andererseits aber auch die Defekte praktisch unbemerkt blieben. So blieb das System eine Außenseiter-Marke und fand nicht die Verbreitung wie die Marken Minolta, Pentax, Canon, Nikon oder auch Contax-Yashica. Da es ab Mitte der 1970er Jahre zunehmend populärer wurde, Fremdobjektive für Kameras zu kaufen, hatte es Rollei immer schwerer, seinen geringen Marktanteil zu halten. Wegen der geringen Verbreitung von Rollei-Kameras boten von den Fremdanbieter kaum mehr als Tamron „Rollei-Anschluss“ für ihre Objektive an. Der Kundenkreis bestand deshalb auch weniger aus engagierten Amateuren als vielmehr aus Gelegenheitsfotografen, die die deutsche Marke unterstützen und sich gar kein weiteres Systemzubehör kauften wollten. Dies führte dann immerhin zu über 330.000 Exemplaren der SL 35 und ihrer Abkömmlinge sowie rund 120.000 SL 35 E – jeweils einschließlich der größtenteils baugleichen Voigtländer-Modelle (siehe „Voigtländer“). Rollei 35RF Es handelt sich um eine Kompaktkamera mit fest verbautem 38 mm f/2,8 Objektiv. Die Kamera darf trotz der Namensgleichheit nicht mit der modernen Messsucher-Kamera mit M-Bajonett Rollei 35 RF aus dem Jahr 2002 verwechselt werden. Blitzgeräte Die 1967 eingeführten Rollei-Blitzgeräte blieben weitgehend unbekannt, da auf dem Markt eine Vielzahl von Modellen angeboten wurde. Solche Apparate produzierten nämlich nicht nur verschiedene Fotogeräte-, sondern auch zahlreiche Rundfunkgeräte-Produzenten, insbesondere Metz. Rollei bot zwar mit dem Strobomatic E 66 für 548 DM den ersten „Computerblitz“ an, blieb damit aber nicht lange allein. Das Pendant Strobofix ohne Helligkeitssteuerung kostete 357 DM, den beiden folgten im Laufe der Zeit zahlreiche weitere Modelle. Ab 1968 wurden dann auch Rollei-Studioblitzgeräte gebaut. Es gab die Baureihen E250, E1250 und E5000 mit diversen Lampenköpfen. Besonderes Merkmal der Rollei Geräte war das sogenannte Einstelllicht, eine Halogenlampe innerhalb der Blitzwendel. Damit konnte der Fotograf die Ausleuchtung kontrollieren und auch die notwendige Blende ausmessen. Super 8 Der mit Aufkommen von Super 8 boomende Schmalfilm-Markt war von Peesel nicht unbemerkt geblieben, so dass Rollei seiner Meinung nach ebenfalls etwas anbieten musste. Da weder für die Konstruktion noch für die Produktion solcher Geräte in Braunschweig Kapazitäten frei waren, nahm man Produkte von Bauer (Bosch-Konzern) / Silma (Italien) mit Rollei-Schriftzug ins Programm. Uelzen Da das Rollei-Werk an der Salzdahlumer Straße für die immense Produktvielfalt inzwischen viel zu klein geworden war und überdies im Raum Braunschweig keine zusätzlichen Arbeitskräfte mehr angeworben werden konnten, zumal etwa die Hälfte der Arbeitnehmer im Braunschweiger Umland von der Volkswagen AG beschäftigt wurden, suchte Peesel nach einem neuen Standort für ein Zweigwerk. Es sollte in einer strukturschwachen Gegend nahe Braunschweig liegen. So kam man auf das 80 km entfernte Uelzen, das binnen einer Stunde mit dem Auto aus Hamburg, Hannover, Braunschweig und Salzgitter erreicht werden konnte und sich zudem durch die Lage am Elbe-Seitenkanal und durch die Zonenrandförderung empfahl. Auf einen 30.000 m² großen Grundstück entstanden Hallen mit insgesamt 6.000 m² Nutzfläche, wobei man zwei weitere Bauabschnitte vorsah. Im 1970 fertiggestellten Werk entstanden die Diaprojektoren, das Studioblitzgerät und später noch der Vergrößerer Rolleimat Universal. Mit der Auslagerung der Produktion vieler Geräte nach Singapur wurde der Standort Uelzen aber bereits wieder überflüssig. Die Hallen wurden am 1. Oktober 1977 wieder geschlossen und standen noch bis 1981 leer, da sich lange Zeit kein Käufer fand. Sucherkameras Neben Rollei 16 und 35 kam es noch zu weiteren Sucherkameras, die bekanntesten von ihnen waren die A 26 und A 110 / E 110. Bei der A 26 handelte es sich um die kleinste Kamera für den Instamatic-Film. Sie besaß ein raffiniertes Design, konnte man sie doch zusammenschieben, um das Objektiv und den Sucher zu schützen. Die A 110 war eine besonders kleine, auffallend elegante und vielbeachtete Kamera für Pocketfilme, sie folgte der Rollei 16. Als preisgünstiges Pendant erschien später die silberfarbene E 110. Beide Modelle verkauften sich ausgezeichnet, die A 26 fast 140.000 Mal, die Pocketmodelle sogar über 240.000 Mal. In den Jahren 1977 bis 1979 ließ Rollei bei einem unbekannten japanischen Hersteller eine Serie von drei Einfachst-Pocketkameras produzieren. Diese wurden unter dem Namen „PocketLine by Rollei“ verkauft, waren aber nicht sehr erfolgreich. Die verkaufte Stückzahl ist unbekannt. Ab 1974 erschienen dann noch verschiedene konventionell gestaltete Kameras für den Kleinbildfilm Typ 135, darunter die Typen Rolleimat und Rollei 35 XF. Einige gab es mit anderer Bezeichnung auch von Voigtländer, teilweise wurden sie in Japan gebaut. Singapur Da die ursprünglich günstigen Lohnkosten in Deutschland zunehmend stiegen, handelte Peesel 1970 mit der Regierung Singapurs das alleinige Recht zur Fertigung fotografischer Geräte aus. Im Gegenzug garantierte er immense 10.000 Arbeitsplätze, die bis 1980 entstehen sollten. Die gewaltige Expansion konnte Rollei natürlich nicht selbst finanzieren, dies geschah mit Unterstützung der Norddeutschen Landesbank und der Hessischen Landesbank, die damit zum Anteilseigner des Unternehmens wurden. Solch eine leichtsinnige Kreditvergabe war in jenen Tagen nicht ungewöhnlich, man war vom diktatorischen Auftreten Peesels im eigenen Unternehmen derart beeindruckt, dass man an den Erfolg glaubte. Erst mit dem Zusammenbruch der Herstatt-Bank wurden die Finanzhäuser vorsichtiger. Das Werk verblüffte selbst im Ausland, schließlich war es damals noch nicht einmal japanischen Unternehmen gelungen, eine Präzisionsfertigung auf dem asiatischen Kontinent aufzubauen. Rollei Singapur war rechtlich unabhängig, besaß aber keine eigene Entwicklungsabteilung. 1974 verteilten sich die Rollei-Mitarbeiter wie folgt: Es gab 1.648 in Braunschweig, 314 in Uelzen und 5.696 in Singapur. Obwohl man die Amateurprodukte ausgelagert hatte und sich die Rollei 35 ausgezeichnet verkaufte, gab es für die gigantische Zahl der Arbeitnehmer in Asien nicht genügend Produkte zu fertigen, so dass man nach einer scheinbar ewig dauernden Anlaufphase ab 1979 auch Fremdaufträge annahm. Als Rollei Deutschland 1981 Konkurs anmelden musste, machten die Rollei-Produkte aber noch 97 % der Produktion aus, woraufhin das Werk aufgegeben werden musste. Die USH (siehe „Neue Eigentümer“) gründete die Rolloptik Ltd., um den Maschinenpark zu erwerben und einzulagern. So hätte man bei Bedarf wieder eine asiatische Produktion starten können. Voigtländer Das Braunschweiger Kamerawerk Voigtländer schloss am 23. August 1971, woraufhin es zu Übernahmeverhandlungen mit der Quelle-Gruppe (Foto-Quelle) kam, die aber ohne Einigung endeten. Man verständigte sich schließlich auf Peesels Vorschlag, dass Carl Zeiss, das Land Niedersachsen und Rollei je ein Drittel von Voigtländer übernehmen und die gesamten Namensrechte an Rollei gehen. Am 1. März wurde eine Auffanggesellschaft Optische Werke Voigtländer gegründet, die mit 320 Mitarbeitern Objektive fertigte, sowohl für Rollei als auch für das Zeiss-Ikon-Kamerawerk. Weitere 300 ehemalige Voigtländer-Mitarbeiter gingen zu Rollei. Nachdem die Kameraproduktion bei Zeiss-Ikon 1972 geendet hatte, gründete man 1974 die Voigtländer Vertriebsgesellschaft mbH, die wieder Kameras verkaufte. Allerdings gab es keine klare Trennung zwischen Voigtländer- und Rollei-Kameras. Die Modelle und Zubehörteile wurden nur mit kleinen Unterschieden (oft auch nur in der Bezeichnung) unter beiden Marken vertrieben. Selbst die Kleinbild-Spiegelreflex-Kameras gab es von beiden Marken, bei ihrem Objektivanschluss sprach man jetzt vom Rollei-Voigtländer-Bajonett. Die Presse stellte die Übernahme zwar als längst fälligen Zusammenschluss der Kameraindustrie Braunschweigs dar, wirtschaftlich war der Vorgang indes nicht sinnvoll: Rollei gelangte mit der Zeiss Ikon SL 706, zuvor Icarex 35 und diverser Objektivkonstruktionen an neue Produkte und entwickelte diese zur Rolleiflex SL 35 M/ME mit Rollei-Bajonett anstatt des weit verbreiteten M42-Anschlusses weiter (badge engineering), jedoch waren diese Kameras klobig und mechanisch anfällig. Weitere Produktionskapazität oder Mitarbeiter benötigte man aufgrund des unausgelasteten Werks in Singapur nicht, wo dann auch die Rolleiflex SL 35 M/ME produziert worden. 1975 bis 1981 Unternehmensverkleinerung Am 26. August 1974 schied Peesel „im beiderseitigen Einvernehmen“ aus der Unternehmung aus, nachdem das Unternehmen 37 Millionen DM Verlust bei gerade einmal 137 Millionen DM Umsatz im Jahr erzielt hatte. Die Gesamtschulden beliefen sich auf rund 500 Millionen DM, woraufhin den Banken inzwischen 97 % des Unternehmens gehörten. Diese erwogen sogar, Rollei aufzulösen, hielten dann aber doch eine Sanierung für günstiger und stellten folgende Forderungen: Halbierung der Mitarbeiterzahl in Singapur Entlassung von 500 Mitarbeitern in Braunschweig Verkauf des Werks Uelzen Auflösung der Optischen Werke Voigtländer So wurden im ersten Halbjahr 1975 die Belegschaft von 2.400 auf 1.800 Mitarbeiter (Rollei und Voigtländer zusammen) reduziert. Am 1. April übernahm Peter Canisius Josef Peperzak, der bisherige Chef der deutschen Canon-Vertretung, das Unternehmen. Er wollte die Preis- und Vertriebspolitik grundlegend ändern. Rolleiflex SLX Rollei hatte die Rolleiflex SLX bereits 1973 ausgewählten Journalisten im Werk Singapur und dann auf der photokina 1974 vorgestellt, konnte diese richtungsweisende Kamera aber erst ab September 1976 produzieren. Es handelte sich um die erste elektronisch gesteuerte Mittelformatkamera, sie übertrug Blende und Belichtungszeit elektrisch an das Objektiv, in dem für diese Funktionen Linearmotoren verbaut waren. Diese damals aufwendige Technik lief anfänglich noch nicht ganz zuverlässig, erst 1978 erschien eine überarbeitete Version mit neuer Elektronik, die Vorteile überwogen aber von Beginn an. Insbesondere konnte man sich mit diesen Innovationen von Hasselblad unterscheiden: Die Schweden warben mit enormer Zuverlässigkeit und wiesen dabei auf den Einsatz von Hasselblad-Kameras bei den Mondmissionen hin, was sich nicht übertrumpfen ließ, während Rollei auf größtmögliche Bedienungserleichterung durch elektronische Unterstützung setzte. Die SLX besaß kein Wechselmagazin, man konnte aber ein Polaroid-Rückteil ansetzen. Sie kostete bei der Markteinführung 5.998 DM. Überblend-Projektoren Mit dem P 3800 stellte Rollei auf der photokina 1976 den weltweit ersten Kleinbild-Überblendprojektor vor. Ein Produkt, mit dem dem Unternehmen erneut sehr viel Aufmerksamkeit zuteilwurde: Musste man bislang zwei Projektoren und ein Steuergerät aufbauen, um überblenden zu können, so unterschied sich der Aufwand jetzt nicht mehr von einer normalen Vorführung. Vor allem brauchte man seine Dias nicht mehr eigens im Wechsel auf zwei Magazine zu verteilen. Der P 3800 kostete ca. 1000 DM und wurde ab 1980 in Singapur gefertigt. Es folgten mehrere Nachfolger, die aktuelle Generation Rolleivision twin ist auch in einer professionellen Version mit 250-W-Lampen erhältlich. Rolleimatic Die Rolleimatic war die letzte Kamera-Neukonstruktion, die vor dem Konkurs in Produktion ging. Sie sollte als Kleinbild-Sucherkamera mit neuem Design und Bedienungskonzept fast so einfach zu bedienen sein wie Kameras für Instamatic Filmkassetten, und gleichzeitig eine bessere Bildqualität liefern. Die Planung lief ab 1977, produziert wurde sie von Juni 1980 bis September 1981. Die Kamera wurde ohne die sonst übliche ausführliche Erprobung auf den Markt gebracht, sodass sie – wie vorher schon z. B. die SL35E – unter mangelnder Zuverlässigkeit litt. Der Konkurs von Rollei setzte der Produktion ein frühes Ende. Unter Nord/LB-Führung Peperzak handelte zunehmend konzeptlos: Um das Werk Uelzen zu retten, hatte er bei der Unternehmung Kaiser Fototechnik (in Buchen) einen Vergrößerer entwickeln lassen, der als Rolleimat Universal verkauft wurde. Zwar war das Heimfotolabor gerade enorm populär, der Markt aber dennoch viel zu klein, um mit diesem Gerät Erfolg haben zu können. Weiterhin kaufte man aus unerfindlichen Gründen Stative und Kleinbildobjektive bei japanischen Firmen ein, Festbrennweiten von Mamiya und Zoom-Objektive von Tokina, obwohl in Singapur genügend ungenutzte Produktionskapazität bereitstand, um alles selbst zu fertigen. Die neuen Rolleinar-Objektive sollten den Brennweitenbereich des Kleinbildsystems endlich auf das bei der Konkurrenz längst übliche Niveau bringen. Zu allem Überfluss sagte Peperzak auch noch die Teilnahme an der photokina 1978 ab. Am 28. Februar verließ er schließlich Rollei. Die Nord/LB entsandte daraufhin Heinz Wehling zum 1. März als neuen Geschäftsführer. Nun nahm Rollei doch an der photokina teil, nicht aber am bereits vergebenen traditionellen Standort. Ein Vertrag mit der IEC, der Industria De Equipamentos Cinematograficos S. A. in São Leopoldo, Brasilien, führte zur Lizenzproduktion von Rollei-Diaprojektoren und dem Vergrößerer. Wehling blieb ebenfalls glücklos, insbesondere hielt er am Kleinbild-Spiegelreflex-Programm fest, für das auch noch eine neue Kamera entwickelt wurde, und trennte sich nicht vom Werk Singapur. So suchte man für das kurz vor dem Konkurs stehende Unternehmen schließlich einen neuen Eigentümer. Hannsheinz Porst Der neue Eigentümer sollte kein japanisches Unternehmen sein. Agfa-Gevaert, Kodak und Zeiss zeigten kein Interesse, so übernahm am 1. April 1981 die von Hannsheinz Porst gegründete Deutsche Fotoholding GmbH 97 % des Kapitals von Rollei Deutschland und erhielt eine Option für 1982 auf die 75-%-Beteiligung der Norddeutschen Landesbank an Rollei Singapur. Diesen Vorgang kommentierte der Vorstandsvorsitzende der Nord/LB mit den Worten: „Endlich bin ich Rollei los“. Der Einstieg von Hannsheinz Porst stieß allerorten auf Verwunderung, befand sich doch sein eigenes Unternehmen Photo Porst in einer selbst herbeigeführten Krise. Auch rätselte man, wer sich hinter der Fotoholding verberge. Die Vermutungen reichten bis zu einer geheimen Beteiligung von Agfa-Gevaert, um Auflagen des Kartellamtes zu umgehen. Die Leitung von Rollei teilten sich die beiden Privatpersonen Otto Stemmer, ein ehemaliger Agfa-Mitarbeiter, der nun für die Technik zuständig war, und Hannsheinz Porst als Vorsitzender der Geschäftsführung. Porst gab folgende Pläne bekannt: Rückzug aus dem (inzwischen stark rückläufigen) Pocketkamera-Markt kein Einstieg in den Billig-Sektor Kleinbild-Sucherkameras Kleinbild- und Mittelformatsysteme im oberen Preissegment Dia-Projektoren anspruchsvolle Blitzgeräte keine eigenen Super-8-Kameras (die aber auch kaum noch gekauft wurden) Diese Pläne stießen auf keinerlei Interesse; das Vertrauen in Porst, Rollei und die Nord/LB war verlorengegangen. Hannsheinz Porst zeigte sich besonders enttäuscht darüber, dass der Fotohandel ihn nicht unterstützte. So gingen die Umsätze ab März 1981 um 20 % zurück. Zudem stieg der Kurs des Yen und Singapur-Dollars stark an, was Rollei aufgrund der von Peperzak eingeführten Japan-Importe schwer belastete. Schließlich beantragte Porst am 3. Juli 1981 beim Amtsgericht Braunschweig ein Vergleichsverfahren. Der Vergleichsverwalter gab bekannt, dass der Profibereich und der Service erhalten werden sollten, die Produktion noch bis Ende September laufe, es im Oktober zu Entlassungen komme und der Wert der Fertigteile im Lager bei 100 Millionen DM liege. Diese Teile wurden mit einer Werbekampagne verkauft, in Fotozeitschriften erschienen Annoncen, die auf die letzte Möglichkeit hinwiesen, Zubehör für alte Rollei-Kameras zu erwerben. Die Namensrechte an Voigtländer gingen für 100.000 DM an die Plusfoto-Gruppe. 1981 waren noch 700 Mitarbeiter in dem Unternehmen beschäftigt. 1982 bis 2003 Neue Eigentümer Zum 1. Januar 1982 teilte sich Rollei auf drei Firmen auf: Die Rollei Deutschland GmbH betrieb noch bis zum 30. Juni 1983 den Abverkauf der Lagerbestände und den Service der bisherigen Produkte. Die Rollei Gebäude GmbH mit ihrem Hauptgläubiger Nord/LB übernahm die Grundstücks- und Liegenschaftsverwaltung der bisherigen Produktionsstätten. Die Rollei Fototechnic GmbH betrieb mit anfänglich 380 Mitarbeitern Produktion, Verkauf und zum 1. Juli 1983 auch den Service des neuen, „produktbereinigten“ Kamera-, Objektiv- und Projektorensortiments. Es handelte sich um eine Neugründung, die mit dem bisherigen Unternehmen bis auf der Übernahme der „Leadermodelle“ nichts mehr zu tun hatte und an dem die USH (United Scientific Holding) 100 % der Anteile hielt. Es handelte sich dabei um einen nach dem Krieg gegründeten Hersteller optoelektronischer Geräte mit Hauptsitz in London, der Kontakt ergab sich in Singapur, wo die USH mit der Avimo Ltd. ebenfalls ein Tochterunternehmen unterhielt. Mit dem Engagement wollte man in den deutschen Militärmarkt einsteigen. So ergab es sich, dass Rollei ein 7×42-Fernglas ins Programm aufnahm, ansonsten hatte die USH aber keinen Einfluss auf das Fotogeräte-Programm genommen. Rollei produzierte lediglich eine Militärtechnik und bekam im Gegenzug Mess- und Prüfgeräte von der USH, die man sonst hätte selbst bauen müssen. Dadurch hatte die USH einen überaus positiven Effekt auf Rollei. Die Fototechnic GmbH konzentrierte sich auf die Systemkameras, welche unverändert in Braunschweig entstanden, und auf Diaprojektoren, die zunächst noch aus Singapur kamen, deren Produktion 1983 aber wieder nach Deutschland verlegt wurde, um mit Made in Germany werben zu können. Lediglich die Produktion des P801-Überblendprojektors wurde an Silma in Italien vergeben, seine Nachfolger kamen aber selbstverständlich ebenfalls aus Braunschweig. Dort produzierte man in angemieteten Räumen des ehemaligen Werkes, wobei man etwa ein Viertel der Fläche nutzte und den Rest branchenfremde Firmen bezogen. Nachdem sich die Pläne der USH mit dem Militärmarkt nicht erfüllt hatten, gab man Rollei am 10. Juni 1987 zum symbolischen Preis von 1 DM mitsamt 14 Mio. Schulden an den Fotoindustriellen Heinrich Mandermann, dem seit 1982 bereits Schneider Kreuznach gehörte. Anfang 1995 folgte dann der koreanische Konzern Samsung als Eigentümer, der Rollei aber wegen der Asienkrise bald wieder abgab. Käufer waren 1999 Paul Dume und sechs weitere Manager. Im November 2002 ging das Unternehmen dann in die Hand der dänischen Investmentgesellschaft Capitellum (Kopenhagen) über. Rolleiflex SL 2000 F Im Sommer 1981 erschien mit der Rolleiflex SL 2000 F eine raffinierte Spiegelreflex-Kamera. Es handelte sich um die seinerzeit einzige Kleinbildkamera mit Wechselmagazinen und die einzige mit doppelten Suchersystemen. Die Entwicklung dieser Kamera begann bereits 1975, ein Prototyp wurde auf der photokina 1978 präsentiert, ein Jahr später wurde das Projekt jedoch wegen Geldmangels eingestellt, schließlich aber doch zu Ende geführt. Die vom Mittelformat übernommenen Merkmale waren zwar durchaus von Nutzen, der hohe Preis und das eingeschränkte Systemzubehör schreckte aber die meisten Interessenten ab, wenngleich das Objektivprogramm immerhin 14 mm bis 1000 mm Brennweite abdeckte. So kam es zwar noch zum verbesserten Nachfolger Rolleiflex 3003, der zur photokina 1984 erschien, 1994 stieg Rollei aber aus dem Kleinbild-Spiegelreflex-System aus. Inzwischen gehörte ein Autofokus zum Standard einer Kleinbild-Spiegelreflexkamera, und dabei vermochte Rollei endgültig nicht mehr mitzuhalten. Die Baureihe SL 2000 F / 3003 wandte sich mit ihrem hohen Preis ausschließlich an engagierte Amateure und brachte es dadurch auf nicht einmal 15.000 verkaufte Exemplare. Rollei Metric 1986 nahm Rollei das Metric-Vermessungssystem in sein Programm auf. Ausgangspunkt war eine Anfrage des späteren Professors Wilfried Wester-Ebbinghaus, der noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Rollei um den Umbau einer Kamera für die Photogrammetrie bat. Daraufhin schuf man speziell kalibrierte Kameras und Computerprogramme zum Auswerten der erstellen Fotos: Die Kameras 35 metric, 3003 metric und 6006 metric besaßen eine Gitterkreuzplatte vor der Filmebene, so dass – wie von den Mondaufnahmen der Apollo-Mission bekannt – Kreuze zur Vermessung auf dem Bild erschienen. Solche zuvor immens teuren Systeme machte Rollei mit seinem Programm erheblich billiger. Man arbeitete dabei eng mit der Technischen Universität Braunschweig zusammen. Classic-Programm Die zweiäugigen Rolleis trafen im Laufe der 1970er Jahre schon auf ein derart geringes Interesse, dass die Rolleicord 1976 eingestellt wurde und es die Rolleiflex 1977 nur noch auf Sonderwunsch gab. Kurz darauf stieg das Interesse zwar wieder leicht, mit dem Vergleichsverfahren endete aber die Produktion. 1982 baute man aus noch vorhandenen Teilen aber schon wieder 1.250 vergoldete Rolleiflex und verkaufte sie als 2,8 F Aurum für 4.000 DM. 1987 stellte man dann eine viel beachtete Neuauflage vor, die man selbstverständlich mit einer modernen TTL-Belichtungs- und Blitzbelichtungsmessung ausstattete: die Rolleiflex 2,8 GX konnte als Kleinserie naturgemäß nicht besonders günstig, mit ca. 2.800 DM aber zu einem angemessenen Preis abgegeben werden. 2001 folgte die modernisierte 2,8 FX mit dem Rolleiflex-Schriftzug der 1930er Jahre. Von dieser Kamera ist sogar wieder eine Weitwinkel-Variante erhältlich. So erhöhte sich die Produktionszahl von über 3,2 Mio. Rolleiflex-Kameras nach wie vor, wenn auch nur noch sehr langsam. Von der Rollei 35 gab es für einige Zeit ebenfalls eine „Classic“-Variante, die auf der photokina 1990 für 2.200 DM einschließlich Blitzgerät vorgestellte Rollei 35 classic (siehe Rollei 35). Rollei 35 RF 2002 vermarktete Rollei, einem neuen Trend zu Messsucherkameras folgend, die 35 RF, die allerdings weder bei Rollei entwickelt wurde, noch in irgendwelchen Teilen auf den früheren Rollei 35-Modellen basierte. Vielmehr handelte es sich um eine von Cosina gebaute Variante von deren Messucherkameras (Bessa Rx), die als Voigtländer Bessa R2 vertrieben wurde. Sie verfügt, ähnlich wie die Voigtländer Bessa Rx und die Zeiss Ikon Kameras von Cosina, über ein Wechselbajonett entsprechend der Leica M. Rollei bot drei eigene Objektive mit 40, 50 und 80 mm Brennweite an, die von Zeiss entwickelt und gebaut wurden. Die Produktion ist mittlerweile eingestellt worden, die Verbreitung der Kamera erscheint gering. Prego-Modelle Zwar galt der Grundsatz, dass sich die Rollei nicht mehr mit Massenware beschäftigen sollte, für den Amateurmarkt nahm man aber Sucherkameras aus asiatischer Produktion, z. B. von Skanhex, Premier, Kyocera oder Ricoh unter dem Namen Rollei Prego ins Programm, zunächst für Kleinbildfilm, gefolgt von Digitalkameras – letztere hatte man anfänglich sogar selbst entwickelt. Einäugiges Mittelformatsystem Das einäugige Mittelformat-Programm stellte das entscheidende Marktsegment des Unternehmens dar. So entwickelte man die SLX zur 6006 weiter und stellte sie 1984 vor. Ihre wesentlichen Neuerungen waren das Filmmagazin und die TTL-Blitzsteuerung – die überlegene Kameratechnik erlaubte es, Marktführer bei den Mittelformatkameras zu werden. 1986 folgte die Einsteigervariante 6002 ohne Filmmagazin zusammen mit drei preisgünstigen Objektiven (f/4, 50 mm; f/2,8, 80 mm; f/4, 150 mm). Damit bot Rollei erstmals fernöstliche Mittelformatobjektive an, die übrigen kamen aber unverändert von Schneider und Zeiss. 1988 erschien die 6008 mit erweiterter Elektronik-Steuerung, darunter eine im Mittelformat bislang unbekannte Belichtungsreihenautomatik, deren große Nachfrage zu fünf Monaten Lieferzeit führte. 1992 ermöglichte die 6008 SRC 1000 Belichtungszeiten von 1/1000 s. Dies war insbesondere im Zusammenspiel mit Blitzgeräten einzigartig (1/1000 s Blitzsynchronisationszeit) 1995 folgte die 6008 Integral und schließlich die 6008 AF mit Autofokus und die 6008i2 (abgespeckte AF). Mit einem Scan-Rückteil, also einem Ansatz, der das Bild zeilenweise digital erfasst, stieg Rollei bereits 1991 in die professionelle digitale Bildverarbeitung ein und hatte damit ebenfalls großen Erfolg. Neuestes Kameramodell aus der Kameraschmiede (seit 2006 Franke und Heidecke) ist die Gemeinschaftsproduktion Hy6 zusammen mit Sinar und Leaf. Die Kamera ist vollkommen neu entwickelt und digitaltauglich. Die Kamera gab es ursprünglich in drei Versionen von Franke & Heidecke, Sinar und Leaf (Afi). Die Objektive der 6000er Serie können uneingeschränkt weiter verwendet werden, während Sucher und Magazinanschluss neu entwickelt wurden. Das erhältliche Filmmagazin hat einen eingebauten Transportmotor, so dass keine mechanische Kraftübertragung mehr zwischen Kamera und Filmmagazin notwendig ist. Nach Klärung der über längere Zeit offenen rechtlichen Fragen konnte DHW Fototechnik die Rolleiflex Hy6 als verbessertes Modell 2 wieder auflegen. Dieses Modell wurde zur photokina 2012 vorgestellt. Seit 2004 Aufspaltung Franke & Heidecke GmbH 2004 gliederte die Rollei Fototechnic GmbH die Gerätefertigung in die Rollei Produktion GmbH aus. Die Rollei Produktion GmbH firmierte im September 2005 in Franke & Heidecke GmbH um, wobei mit Kai Franke und Rainer Heidecke zwei Enkel der Firmengründer zu den Gesellschaftern gehören. Franke & Heidecke produzierte wieder Mittelformatkameras, Projektoren, fototechnisches Zubehör sowie Objektive am alten Firmenstandort in der Salzdahlumer Straße in Braunschweig. Am 27. Februar 2009 stellte Franke & Heidecke Insolvenzantrag, am 30. Juni 2009 erhielten alle 131 Mitarbeiter die Kündigung. Die DHW Fototechnik GmbH kaufte Teile der Insolvenzmasse der Franke & Heidecke GmbH und nahm Teile der Fertigung wieder in Betrieb. Seit dem Jahr 2014 ist auch die DHW Fototechnik GmbH insolvent und wurde im April 2015 abgewickelt. An ihre Stelle trat die bis heute aktive DW Photo GmbH. Rollei GmbH Die Rollei Fototechnic GmbH wurde inzwischen in Rollei GmbH umbenannt und verkaufte zunächst fernöstliche Digitalkameras und Unterhaltungselektronik, darunter beispielsweise MP3-Spieler oder digitale Videorecorder. 2006 stellte die Rollei GmbH das operative Geschäft mit Consumer Products ein. Photogrammetrie und Sonderanfertigungen Die verbliebenen Geschäftsbereiche Photogrammetrie und Sonderanfertigungen der Rollei GmbH wurden 2007/08 in ein Gemeinschaftsunternehmen mit der dänischen Phase One eingebracht (RolleiMetric). Das Unternehmen produziert weiter am Stammsitz in Braunschweig, ist aber mittlerweile als Metric Imaging Department in die Trimble Holdings GmbH (Raunheim) eingegliedert. Seit 2007 Namensrechte-Verwaltung Bis Anfang 2010 verwaltete die Rollei GmbH mit Firmensitz in Berlin weiter die Rollei-Rechte und -Lizenzen. Ein weiterer Namenszweig vertreibt von Hans O. Mahn & CO. KG (Maco) hergestellte Filme unter der Markenbezeichnung Rollei. Es handelt sich um Restposten vormaliger Agfa- und Ilford-/Kentmere-Filmtypen sowie umetikettierter Luftbild- und Reprofilme. Neuer Eigentümer Die RCP-Technik GmbH & Co KG mit Sitz in Hamburg, die seit 2007 Lizenznehmer der europaweiten Rollei-Markenrechte ist und die Rollei Consumer Produkte vertreibt, hat zum 1. Januar 2010 die Marke Rollei erworben. Der Markenerwerb beinhaltet die weltweiten Markenrechte. 2015 wurde aus der RCP-Technik GmbH die Rollei GmbH & Co. KG. Der Unternehmenssitz ist Norderstedt. Die Produktentwicklung ist in Norderstedt, die Designer sitzen in Hongkong, produziert wird in Asien. Das aktuelle Produktportfolio der Rollei GmbH & Co. KG umfasst Stative, Fotofilter, Studioblitze, kompakte Digitalkameras (Modelllinien: Compactline, Flexline, Powerflex, Sportsline), Camcorder (Movieline), digitale Bilderrahmen sowie Dia-/Film- und Fotoscanner. Die neuen Rollei-Produkte sind aktuell in der Schweiz, Österreich, Italien, Frankreich, Portugal, Großbritannien, Griechenland, Schweden, Dänemark und den Niederlanden im Markt präsent. Rolleiflex Die DHW Fototechnik in Braunschweig war auf der photokina 2012 vertreten und stellte die stark weiterentwickelte Rolleiflex Hy6 mit dem Namen Hy6 Mod2. Mit der Hy6 konnte wahlweise mit Film (6×6 oder 4,5×6) oder mit verschiedenen Digital-Rückteilen fotografiert werden. Daneben gab es eine Neuauflage der zweiäugigen 6×6 Mittelformatkamera Rolleiflex als FX-N, eine Weiterentwicklung des früheren Rollei Electronic Shutter als DHW Electronic Shutter No. 0 HS1000 geben. Die Fachkamera X-Act2, die Kleinbildkamera Rollei 35 und die Rolleivision Projektoren wurden zunächst weiterhin gefertigt. Die Rolleiflex 6008 war nach wie vor als 6008 AF (mit Autofokus) oder in der Variante Rolleiflex 6008 Integral II (ohne Autofokus) erhältlich. Bildergalerie Siehe auch Mittelformatkamera Literatur Udo Afalter: Rollei von 1920 bis 1993. Eigenverlag Udo Afalter, Gifhorn 1993; 204 S. (mit zeitgenössischen Artikeln über die Fa. Rollei und deren Produkte). Udo Afalter: Rolleiflex, Rolleicord – Die Zweiäugigen 1928–1991. Eigenverlag Udo Afalter, Gifhorn 1991, 192 S.; Kameras, Objektive und Zubehör, Udo Afalter: Rolleiflex, Rolleicord – Die Zweiäugigen 1928–1993. 192 Seiten; Kameras, Objektive und Zubehör, Lindemanns Verlag, Stuttgart 1993. Udo Afalter: Die Rollei-Chronik. Bände 1–3. Eigenverlag Udo Afalter, Gifhorn 1990, ISBN 3-920890-02-7. Udo Afalter: Rollei 35 – Eine Kamera erobert den Weltmarkt. 144 S., 1. Auflage. Eigenverlag Udo Afalter, Gifhorn 1990; 2./3. Auflage Lindemanns Verlag, Stuttgart 1991/1994 (Kameras, Objektive und Zubehör, Werbeanzeigen und Zeitungsartikel). Udo Afalter: Vom Heidoscop zur Rolleiflex 6008. Lindemanns, Stuttgart 1992, ISBN 3-928126-51-2 (umfassendes Werk mit Chronik über Rollei-Produkte, z. B. Heidoscop, Rolleiflex SL 66, Rolleiflex 6008, Rolleiflex SL 35, Rolleiflex SL 26, Rolleiflex 2000 F/3003, Rollei A110, Sucherkameras, Super-8-Kameras, Projektoren, Blitzgeräte, Studioblitzanlagen, Filme, Diarahmen, Vergrößerer, Sonderbauten, Metric, Ferngläser, Stative, Objektive, Zubehör und Voigtländer-Produkte unter Rolleiregie von 1972 bis 1982). Walter Heering: Das Rolleiflex-Buch. Heering, Halle/Harzburg/Seebruck a. Chiemsee 1934, 1967, Lindemann, Stuttgart 1985 (Repr.), ISBN 3-928126-00-8. Bernd Heydemann/Müller-Karch: Das goldene Buch der Gebrauchsfotografie Teil II – Mittelformat – Technik und Anwendung an Beispielen der Rollei SL66., Berg am Starnberger See, Laterna Magica, 1970. Claus Prochnow: Rollei 35 – Eine Kamerageschichte. Appelhans, Braunschweig 1998, ISBN 3-930292-10-6. Claus Prochnow: Rollei Report 2 – Rollei-Werke – Rollfilmkameras 1946–1981. Lindemanns, Stuttgart 1994, ISBN 3-89506-220-0. Jorgen Eikmann, Ulrich Voigt: Kameras für Millionen, Heinz Waaske: Konstrukteur. Wittig Fachbuch, 1997, ISBN 3-930359-56-1. Jürgen Lossau: Der Rollei-Click. 60-minütiger Dokumentarfilm (VHS), atollmedien.de, 1998, ISBN 3-9807235-0-X. Ian Parker: Die Geschichte der zweiäugigen Rollei-Spiegelreflexkameras. Newpro, Faringdon 1992, ISBN 1-874657-00-9. Weblinks www.rollei.de – Offizielle Internetpräsenz von Rollei-RCP-Technik GmbH – Rollei Consumer Products (Vertrieb kompakter Digitalkameras etc.) Die letzten westdeutschen Kleinbildcameras / Wie sie gegen die Japaner verloren bei www.klassik-cameras.de Informationen mit Bildern von Rollei Kameras auf der Internetpräsenz des Internationalen Rollei Clubs Geschichte von Firma und Kameras auf www.rolleigraphy.org Selbstbau, Reparatur und Modifikation von Fotoequipment (u. a. Rollei) bei www.4photos.de Überblick über die Rollei-Filme Einzelnachweise Ehemaliges Unternehmen (Braunschweig) Ehemaliges Unternehmen der optischen Industrie Produzierendes Unternehmen (Berlin) Fotounternehmen Optikhersteller Gegründet 1920 Produzierendes Unternehmen (Kreis Segeberg) Unternehmen (Norderstedt) Produzierendes Unternehmen (Braunschweig)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht%20Graf%20von%20Bernstorff
Albrecht Graf von Bernstorff
Albrecht Theodor Andreas Graf von Bernstorff (* 6. März 1890 in Berlin; † vermutlich 23. oder 24. April 1945 ebenda) war ein deutscher Diplomat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Er gehörte zu den bedeutendsten Angehörigen des Widerstandes aus dem Umfeld des Auswärtigen Amtes und war ein herausragender Kopf der bürgerlich-liberalen Opposition. Bernstorff war von 1923 bis 1933 an der Deutschen Botschaft London tätig, wo er sich bleibende Verdienste um die deutsch-britischen Beziehungen erwarb. 1933 wurde er von den NS-Machthabern in den einstweiligen Ruhestand versetzt – er hatte den Nationalsozialismus von Beginn an abgelehnt. 1940 verhafteten die Nationalsozialisten Bernstorff und deportierten ihn in das KZ Dachau, aus dem er jedoch einige Monate später wieder entlassen wurde. Bis zu seiner erneuten Verhaftung 1943 half er verfolgten Juden und war Mitglied des Solf-Kreises, einer bürgerlich-liberalen Widerstandsgruppe. Bernstorff knüpfte über Adam von Trott zu Solz die Beziehungen zwischen dem Solf-Kreis und dem Kreisauer Kreis. Außerdem konnte er durch seine Auslandskontakte Verbindungen mit einflussreichen Kreisen für den Widerstand knüpfen, was der Vorbereitung des Attentats vom 20. Juli 1944 diente. Nach seiner erneuten Verhaftung wurde Bernstorff im Gestapo-Hauptquartier und seit Februar 1944 im KZ Ravensbrück inhaftiert. Im Dezember 1944 erfolgte seine Verlegung in das Zellengefängnis Lehrter Straße in Berlin-Moabit, wo er nahezu täglich von der Gestapo verhört wurde. Ende April 1945 wurde Albrecht Graf von Bernstorff von der SS ermordet. Herkunft Albrecht Graf von Bernstorff entstammte dem mecklenburgischen Uradel. Das Adelsgeschlecht derer von Bernstorff hatte über Generationen bedeutende Staatsmänner und Diplomaten hervorgebracht. Besondere Bedeutung hatten sie in Dänemark erlangt, wo Johann Hartwig Ernst von Bernstorff im 18. Jahrhundert als Staatsminister die Aufklärung entschieden gefördert hatte. 1740 erwarb er Stintenburg und Bernstorf am Schaalsee, an der Grenze zwischen dem Herzogtum Lauenburg und dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin. Sein Neffe, Andreas Peter von Bernstorff, vertrat im ausgehenden 18. Jahrhundert als Außenminister die Interessen Dänemarks. Trotz der landadligen Lebensverhältnisse gehörte die Familie Bernstorff so nie vollkommen zum erzkonservativen Junkertum Ostelbiens, sondern richtete den Blick immer ins Ausland: Die diplomatische Familientradition hatte einen einzigartigen Kosmopolitismus hervorgebracht, verbunden mit einer allgemein eher liberalen Weltanschauung. Bernstorffs Großvater, Albrecht von Bernstorff (1809–1873), war preußischer Außenminister und deutscher Botschafter in London gewesen. Sein Vater, Andreas Graf von Bernstorff (1844–1907), stand ebenfalls in preußischen Staatsdiensten und vertrat als Reichstagsabgeordneter für die Deutsche Reichspartei die Interessen des Wahlkreises Lauenburg. Zudem war er sehr religiös und erzog seine Kinder im Geist des Pietismus. Seine Rolle als Kirchenpatron nahm er intensiv wahr. Darüber hinaus beteiligte er sich an der Gründung des deutschen CVJM und der deutschen Evangelischen Allianz. 1881 heiratete Andreas Graf von Bernstorff Augusta von Hottinger, die aus der Zürcher Patrizierfamilie Hottinger stammte. Das erste Kind, Albrecht, wurde erst nach neun Jahren geboren. Kindheit und Jugend: 1890–1909 Die identitätsstiftenden Orte seiner Jugend waren Berlin und der Familiensitz Stintenburg. Seine Schulausbildung erhielt er hauptsächlich durch Hausunterricht in der Reichshauptstadt. Obwohl die strenge Religiosität des Vaters den Alltag prägte, übernahm Albrecht nichts von diesem Charakterzug. Statt der vorgelebten Sittenstrenge fand er bereits in Jugendjahren zu Liberalität und Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Oftmals verstärkte der Kontrast zur Lebensweise des Vaters diese Entwicklung noch, was teilweise zu Spannungen zwischen Vater und Sohn führte. Dagegen war das Verhältnis zur Mutter überaus innig. Erst kurz vor ihrem Tod kam es zu Verstimmungen in dieser Beziehung, als Bernstorff versuchte, sein Leben selbständig und unabhängig von der Mutter zu führen. Seine Emotionen zeugen von einer bis dato sehr engen Bindung zur Mutter. Seine Jugend verbrachte Bernstorff hauptsächlich in der Metropole Berlin, den Familiensitz Stintenburg kannte er lediglich von Ferienaufenthalten. Als Primaner wurde die Ausbildung durch Privatlehrer durch einen kurzen Besuch des Kaiserin-Augusta-Gymnasiums in Berlin ergänzt. Dort legte er 1908 sein Abitur ab. Besonderes Interesse brachte er dem Erlernen von Fremdsprachen entgegen, besonders des Englischen, das er seit seiner Jugend fließend sprach. Als 1907 sein Vater verstarb, wurde Albrecht Graf von Bernstorff mit nur 17 Jahren Familienoberhaupt und Gutsherr auf Stintenburg, bis zu seinem 25. Geburtstag allerdings unter der Vormundschaft seines Onkels. Nach dem bestandenen Abitur trat Albrecht Graf von Bernstorff in eine landwirtschaftliche Lehre auf einem Schlossgut in der Provinz Brandenburg ein. Rhodes-Stipendiat in Oxford 1909–1911 1909 erhielt Bernstorff die Nachricht, den Zuschlag für ein Rhodes-Stipendium bekommen zu haben. Seit 1902 vergibt die Rhodes-Stiftung Vollstipendien an junge Menschen aus Großbritannien, den USA und Deutschland, das ihnen ein Studium an der renommierten University of Oxford ermöglicht. Bernstorff brach seine landwirtschaftliche Ausbildung ab und immatrikulierte sich am 8. Oktober 1909 als Student der Volkswirtschaftslehre am Trinity College. Seine dortigen Leistungen wurden überwiegend als eminent satisfactory bewertet. Die herausragenden Möglichkeiten, die ihm Oxford bot, nutzte Bernstorff, um eine denkbare diplomatische Karriere möglichst gut vorzubereiten. Er gehörte 1911 zu den Mitbegründern des Hanover Club, eines deutsch-britischen Debattierclubs, der das gegenseitige Verständnis fördern sollte. Das erste Wortgefecht betraf das Thema Anglo-German Relations und wurde von Bernstorff geleitet. Unter den deutschen Stipendiaten an der Universität Oxford nahm Bernstorff stets eine Sonderstellung ein, auch durch seine Beziehungen zum Deutschen Oxford-Club, der deutschen Alumni-Organisation der Rhodes-Stiftung, vor der er schon im Dezember 1909, wenige Monate nach seiner Immatrikulation, von seinen Erfahrungen berichtete. Zum Abschluss seines Studienaufenthalts hielt Bernstorff im Namen aller Stipendiaten eine Rede vor Alfred Milner, 1. Viscount Milner, dem Gouverneur der Kapkolonie, und dem Botschaftsrat der Deutschen Botschaft London, Richard von Kühlmann. In Oxford knüpfte A.T.A., wie Bernstorff in Abkürzung seiner Vornamen in Großbritannien genannt wurde, zahlreiche Freundschaften: Zu seinen Kommilitonen gehörten Adolf Marschall von Bieberstein, der Sohn des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Alexander von Grunelius, ein elsässischer Adliger und ebenfalls späterer Diplomat, Harald Mandt, späterer Geschäftsmann und ebenfalls Rhodes-Stipendiat, und der Brite Mark Neven du Mont, der nach dem Studium zum einflussreichen Verleger aufstieg. Obwohl Bernstorff unter starkem Heuschnupfen litt, ruderte er für sein College. In Oxford entwickelte er eine tiefe Zuneigung zur britischen Lebensart und festigte seine liberalen Ansichten. Charakteristisch dafür ist die starke Betonung des Begriffs free competition: In einem freien Wettbewerb soll sich herausstellen, welche Vorstellung oder welche Person die geeignetere oder bessere ist – nicht nur in der Wirtschaft. Damit hatte er früh seine politische Heimat gefunden, der er zeitlebens treu blieb. 1911 legte Bernstorff Diplome in Political Science und Political Economy ab. Als Essenz seiner Erfahrungen in Oxford verfasste er zudem mit Alexander von Grunelius die Schrift Des Teutschen Scholaren Glossarium in Oxford, die zukünftigen Stipendiaten auf humorvolle Weise Ratschläge für das Studium in Oxford und Hinweise zu englischen Eigenarten mit auf den Weg gab. Den unkomplizierten Umgangston und ein gewisses Überlegenheitsgefühl, einer Elite anzugehören, beschrieb er nicht nur, er machte es sich über die Jahre selbst zu eigen. Studium in Berlin und Kiel: 1911–1914 Die Rückkehr aus Großbritannien fiel Bernstorff nicht leicht. Er schrieb sich zunächst als Student der Rechtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin ein. Doch ab dem 1. Oktober 1911 musste er seinen Militärdienst ableisten. Als Einjährig-Freiwilliger ging er zum renommierten Garde-Kürassier-Regiment. Nach nur einem halben Jahr wurde er wegen Heuschnupfen und Asthmaanfällen, die aus einer Pferdehaarallergie resultierten, entlassen. Dem Militärwesen begegnete Bernstorff ohnehin mit großer Distanz. Er ging an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo er das Jura-, Staatswissenschafts- und Volkswirtschaftslehre-Studium fortsetzen konnte. Nach den Eindrücken aus Oxford wirkte Kiel allerdings provinziell auf Bernstorff. Er versuchte, der Stadt möglichst oft zu entkommen: So konnte er Stintenburg als Fluchtpunkt nutzen, wohin er sich seit dem Sommer 1912 zahlreiche Freunde einlud. Daneben kümmerte er sich um Friedrich von Bethmann Hollweg, den Sohn des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg. Neben Stintenburg hielt sich Bernstorff häufig in Berlin auf, wo er mit seinem Onkel Johann Heinrich Graf von Bernstorff erste politische Gespräche führte. Johann Heinrich Graf von Bernstorff war ein einflussreicher Diplomat und außenpolitischer Berater Bethmann Hollwegs und zum damaligen Zeitpunkt deutscher Botschafter in Washington. Seine liberalen Ansichten und seine Erfahrungen in der Diplomatie machten ihn zu einem Vorbild für seinen Neffen Albrecht. Vielleicht wird die Rolle des Onkels für mein Leben noch sehr mitbestimmend werden. Alles, was ich seit meinen Kinderjahren erstrebt habe, vertritt er ja eigentlich. Im April 1913 reiste Albrecht Graf von Bernstorff nach Großbritannien. Neben Besuchen in Oxford und London verbrachte er einige Tage auf der Isle of Wight. Er wurde immer mehr von Selbstzweifeln befallen und hatte Angst, den an ihn gestellten Erwartungen niemals genügen zu können. Insbesondere der Aufenthalt in Oxford belastete ihn emotional sehr schwer, was beinahe in Selbstmord mündete. Als junger Mann war er weich, leicht entmutigt und trüben Gedanken zugänglich. Auch später befielen ihn immer wieder Depressionen und tiefsitzende Angst, nicht gut genug zu sein oder nicht das richtige Leben zu führen. Er versuchte dann, seinen Emotionen durch erhöhte Aktivität zu kompensieren. Gerade zu dieser Zeit beschloss er, einmal Parlamentarier zu werden. So sehr Albrecht Graf von Bernstorff seine Kieler Jahre als nutzlos ansah, entstand damals die tiefste Beziehung seines Lebens. Er lernte Elisabeth Benvenuta Gräfin von Reventlow, genannt Elly, kennen, die mit Theodor Graf von Reventlow, dem Gutsherrn von Altenhof (bei Eckernförde) verheiratet war. Bernstorff war häufig zu Besuch auf Altenhof und er entwickelte eine sehr enge Beziehung zu Elly Reventlow. Sie sei die Frau meines Lebens, die große Erfahrung meines Daseins. Auch wenn beide keine Liebesbeziehung verband – Reventlow war verheiratet und ihrem Mann treu – gelang es, eine tiefe freundschaftliche Vertrautheit zwischen ihnen ein Leben lang aufrechtzuerhalten. Bereits am 1. November 1913 hatte Bernstorff sich im Auswärtigen Amt vorgestellt, wo man ihm riet, nach seinem Examen wiederzukommen. Dieses konnte er am 16. Juni 1914 an der Universität Kiel ablegen und begann wenige Tage später am Amtsgericht Gettorf sein Referendariat, das bis ins Jahr 1915 dauern sollte. Er bemühte sich, nach dem Referendariat in den diplomatischen Dienst aufgenommen zu werden, auch um einem trotz seiner eingeschränkten gesundheitlichen Eignung drohenden Einzug zum Militärdienst zuvorzukommen. Am 14. Juli 1914 schickte er der Personalabteilung des Auswärtigen Amtes sein Aufnahmegesuch; zudem nahm sein Onkel Percy Graf von Bernstorff zu seinen Gunsten Einfluss. Dennoch dauerte es bis zum 8. Januar 1915, bis Albrecht Graf von Bernstorff seinen Dienst antreten konnte: Sein erster Posten war der eines Attachés an der deutschen Botschaft Wien. Erster Weltkrieg in Wien: 1914–1917 Am 1. August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Während dies die Mehrheit seiner Zeitgenossen in patriotische Hochstimmung versetzte, quälte ihn der Gedanke, vielleicht selbst kämpfen zu müssen. Da es mir an Begeisterung etwas fehlt – der Krieg ist das Schreckgespenst meines Lebens – gegen die westlichen Nachbarn, so weiß ich nicht, ob es meine Pflicht ist, zu gehen, ehe ich gerufen werde. […] Dass wirklich Krieg ist, erscheint mir immer noch ein böser Traum. Bernstorff versuchte, sich durch eine verstärkte Beschäftigung mit Kunst ablenken zu können. Er las die britischen Autoren John Galsworthy, Robert Louis Stevenson und H. G. Wells. Daneben besuchte er die Uraufführung von George Bernard Shaws Pygmalion. Zum deutschen Expressionismus fand er über René Schickele und Ernst Stadler einen Zugang, während ihn auf der Bühne vor allem der Jugendstil-Dichter Karl Gustav Vollmoeller interessierte. Bernstorff setzte sich auch mit den Werken Stefan Georges auseinander, dessen mythisch-sakrale Vorstellungen er aber ablehnte. Er las Werke des Philosophen Henri Bergson und bewunderte die Dichtungen des Inders Rabindranath Thakur. Außerdem begeisterte ihn der Chassidismus, eine mystische Richtung des Judentums. Diplomatische Lehrjahre: 1914–1915 Albrecht Graf von Bernstorff trat seinen Posten in Wien gerne an und freute sich, wieder im Ausland zu sein. Der deutschen Botschaft stand zu dieser Zeit Heinrich Leonhard von Tschirschky und Bögendorff vor, mit dem er allerdings zunächst weniger zu tun hatte. Nachdem Bernstorff zunächst mit rein bürokratischen Tätigkeiten betraut worden war, wünschte er sich zunehmend, mehr politische Aufgaben übernehmen zu können. Er begriff in den ersten Wochen seiner Tätigkeit in Wien, dass die deutsche Vertretung im Weltkrieg eine herausragende Rolle spielte. Von dort nahm die deutsche Diplomatie Einfluss auf die Meinungsbildung der österreichischen Regierung und umgekehrt. In Wien erlebte Bernstorff die ausgehende Habsburg-Monarchie; er wurde am 27. Januar 1915 dem greisen Kaiser Franz Joseph vorgestellt, dessen Aura ihn tief beeindruckte. Daneben lernte er bald einflussreiche Politiker Österreich-Ungarns kennen, darunter den Außenminister Stephan Baron Burián, den Hofmeister Alfred von Montenuovo und den Ministerpräsidenten Karl Stürgkh. Inhaltlich befasste sich Bernstorff in den ersten Monaten vor allem mit Italien, das zunächst neutral blieb, sich dann jedoch mit dem Londoner Vertrag im April 1915 auf Seiten der Entente stellte. Die Botschaft versuchte vergeblich, einen Kriegseintritt Italiens zu verhindern. Im Winter 1915 richtete Bernstorff unter Nennung seiner Funktion als Attaché eine Petition an den Reichstag, in der er im Namen aller deutschen Rhodes-Stipendiaten eine besonders gute Behandlung aller in deutscher Kriegsgefangenschaft befindlichen ehemaligen Studenten der Universitäten Oxford und Cambridge erbat. Für dieses bewusste Dienstvergehen wurde Bernstorff ermahnt. Seine Beziehungen zu Entscheidungsträgern im Auswärtigen Amt und der Reichskanzlei, insbesondere zu Julius Graf von Zech-Burkersroda, Kurt Riezler und Richard von Kühlmann, verschafften ihm aber großen Eindruck, weshalb das Vergehen seine Position in keiner Weise erschütterte. Zudem lobte ihn sein unmittelbarer Vorgesetzter, Botschafter Tschirschky, als überdurchschnittlich begabtes junges Talent und beurteilte ihn regelmäßig positiv. Politisch orientierte er sich an der bürgerlich-demokratischen Fortschrittlichen Volkspartei und unterstützte seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Burgfriedenspolitik des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, den er mit deutlicher Sympathie betrachtete und in den er große Hoffnungen setzte. Wie bei vielen Liberalen wandelte sich jedoch auch Bernstorffs Ansicht, als Bethmann Hollweg den Alldeutschen zu große Zugeständnisse machte. Im Winter 1915/1916 hielten sich zahlreiche österreichische Honoratioren und deutsche Politiker in der Botschaft auf, neben dem österreichischen Thronfolger Karl sogar zweimal Kaiser Wilhelm II. Besonderen Eindruck machten die Veranstaltungen deutscher liberaler Politiker, darunter Bernhard Dernburg und allen voran Friedrich Naumann. Bernstorff befasste sich intensiv mit Naumanns Buch Mitteleuropa, in dem dieser eine liberale Vision eines friedlichen Wettbewerbs der Nationen zeichnete, sich jedoch gleichzeitig eine deutsche Hegemonie in Europa wünschte. Insgesamt festigte sich sein politisches Weltbild durch den Krieg: Die Schlacht bei Ypern und ab 1916 die Schlacht um Verdun mit ihren unfassbaren Opferzahlen führten zu einer scharfen Ablehnung des Krieges. Bernstorff schrieb: Ob nicht wirklich der soziale Staat der Zukunft sich auf wirtschaftliche Kämpfe beschränken wird, nicht auf organisierte Gemeinheit? Die Ansichten der Militärs verurteilte er heftig: Die Marine-Politik Alfred von Tirpitz’ nannte er alldeutschen Terrorismus und wünschte Tirpitz an den Galgen. Er befürchtete nicht nur ein wirtschaftliches Elend in der Zeit nach dem Weltkrieg, sondern auch die Möglichkeit politischer Extreme: Die Verletzung auf beiden Seiten war so infam, dass man sie nie ganz wird vergessen können und immer vor der Explosion der niedrigsten Instinkte der Massen wird auf der Lauer sein müssen. Außenpolitisch erhoffte er sich einen Ausgleichsfrieden mit den USA als Vermittler. Nach innen sollte das Kaiserreich grundlegend reformiert und demokratisiert werden. Doch dafür wäre für ihn eine große, demokratische konservative Kraft nötig gewesen, die gemeinsam mit den Liberalen eine Regierung hätte bilden können. Dafür hätten sich die Konservativen aber seines Erachtens viel stärker vom erstarkenden alldeutschen Nationalismus abgrenzen müssen. Auf dem Weg zu sich selbst: 1915–1917 Wien bedeutete für Albrecht Bernstorff weit mehr als Politik und Diplomatie. Er schloss in dieser Zeit zahlreiche Bekanntschaften und versuchte, durch die Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur seinen eigenen geistigen Weg zu finden. Die Kreise, in denen er sich bewegte, waren durchweg elitär und von großer Kulturbeflissenheit geprägt. Er traf sich häufig mit dem österreichischen liberalen Politiker Josef Redlich, den Literaten Hugo von Hofmannsthal und Jacob Wassermann sowie dem Bankier Louis Nathaniel von Rothschild und dessen Bruder Alphonse. Bernstorff war des Öfteren auf den Rothschildschen Besitzungen in Langau in Niederösterreich. Von Hofmannsthals Lyrik war dem jungen Attaché schon vor der Bekanntschaft mit dem Dichter vertraut. Bernstorff freute sich über die Freundschaft zu ihm und genoss die geistvollen Gespräche, die sein Interesse für Poesie noch stärkten. Ähnliches gilt für die Bekanntschaft mit Wassermann, dessen Selbstdisziplin er bewunderte. Insgesamt kann diese Zeit als die ästhetischen Jahre Bernstorffs bezeichnet werden. Diese fanden ihren Höhepunkt in einer zweiwöchigen Rundreise, die ihn im Sommer 1916 zunächst nach Bad Gastein führte, darauf nach Altaussee, wo er seine Freunde Redlich, Wassermann und Hofmannsthal gemeinsam mit dem Dichter Arthur Schnitzler antraf. Weiter ging es nach Salzburg, das er sich von dem Schriftsteller Hermann Bahr zeigen ließ. Die Reise endete in München, wo er Rainer Maria Rilke besuchte. Diese Begegnung war für Bernstorff ein prägendes Erlebnis. Beeindruckt erwarb er sämtliche Werke des Dichters – die Grundlage für seine später äußerst umfangreiche Sammlung moderner Lyrik. Bis in den November 1917 sah Bernstorff Rilke noch mehrmals und blieb dann noch länger mit ihm in Briefkontakt. Er abonnierte die Neue Rundschau und besuchte fast täglich klassische Konzerte, besonders Richard Strauss, dessen Bekanntschaft er im Oktober 1916 machte, fesselte ihn. Daneben beobachtete er die Werke des jungen Komponisten Erich Wolfgang Korngold. Der bildenden Kunst brachte Bernstorff dagegen weniger Interesse entgegen. Nur ein Maler konnte ihn wirklich begeistern: Der Wiener Victor Hammer schuf 1917 auch mehrere Porträtbilder des Diplomaten, von denen eines auf der Wiener Secession ausgestellt wurde. Daneben reiste er viel: Allein in den drei Jahren nahm er zehnmal Urlaub, um Wien zu verlassen. Seine Ziele waren Linz, Marienbad, Pressburg, Budapest, Dresden oder Berlin, von wo aus er stets Abstecher nach Stintenburg und Altenhof machte. Diese glücklichen Tage des Jagens und Naturgenusses standen im scharfen Kontrast zu seiner melancholisch-einsamen Missgelauntheit: Es gibt Stunden der Verzweiflung – nicht der Depression, aber des Wunderns über die scheinbare Sinnlosigkeit der Dinge, des Lebens. Dieses Lebensgefühl, die Unsicherheit darüber, ob er das richtige Leben lebte, hatte ihn 1913 fast in den Selbstmord getrieben und plagte ihn auch in Wien. Lediglich seiner Freundin Elly Reventlow eröffnete er seine Gedanken, vor denen er sich in Arbeit und in die Literatur flüchtete. Im November 1916 starb Kaiser Franz Joseph, mit dem für Bernstorff die Epoche seit der Französischen Revolution zu Ende ging, die später das lange 19. Jahrhundert genannt wurde. Er war stolz den letzten Chevalier noch dreimal getroffen zu haben. Von dem jungen Kaiser Karl I. hatte er ebenfalls einen positiven Eindruck. Nach dem Thronwechsel reiste der neue deutsche Staatssekretär des Äußeren, Arthur Zimmermann mit Admiral Henning von Holtzendorff zu seinem Antrittsbesuch nach Wien, um die verbündete Donaumonarchie für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu gewinnen. Albrecht Graf von Bernstorff versuchte, für die Auffassungen seines Onkels Johann Heinrich, damals deutscher Botschafter in Washington, Einfluss zu nehmen, da die Befürworter eines Verhandlungsfriedens den U-Boot-Krieg wegen eines möglichen Kriegseintritts der Vereinigten Staaten entschieden ablehnten. Der Beschluss für den U-Boot-Krieg vom 9. Januar 1917 enttäuschte Bernstorff zutiefst; sein Onkel verließ nach der Kriegserklärung der USA Washington und trat seinen neuen Posten in Konstantinopel an. Im Juli 1917 trat Bethmann Hollweg als Reichskanzler zurück. Dies betrachtete Bernstorff, der sich vom Kanzler mehr erhofft hatte, zunächst als Fortschritt. Die Berufung von Georg Michaelis und drei Monate darauf die Georg von Hertlings sah er jedoch als politischen Sieg der Militärs und je länger der Krieg dauerte, desto stärker erschien ihm Bethmann Hollweg wieder in einem positiven Licht. Die russische Februarrevolution sah er als Anfang vom Ende […] der bürgerlichen Gesellschaft und befürchtete Auswirkungen auf das Kaiserreich. Albrecht Graf von Bernstorff meinte, dass Deutschland als Vorleistung für einen möglichen Verständigungsfrieden im Inneren Reformen zur Demokratisierung durchführen sollte – dies sei die einzige Chance, den Krieg zu beenden und gleichzeitig die Monarchie zu bewahren. Die Kraft, dies zu ermöglichen, konnte seines Erachtens nur aus Süddeutschland kommen, wo sich jenes Deutschtum, das am höchsten Goethe für uns verkörpert, noch existiert, […] die tiefe Fülle des Lebens, Dichtung, Musik, Menschentum, Philosophie, Kunst. Bernstorff hatte sich zu einem realpolitischen Pazifisten entwickelt. Der junge Diplomat in Berlin und Koblenz: 1917–1922 Auswärtiges Amt bis zur Revolution: 1917–1918 1917 berief das Auswärtige Amt Bernstorff zur weiteren Ausbildung in die Berliner Zentrale. Er kam zunächst in die Rechtsabteilung, womit seine Bemühungen, in die wirtschaftspolitische Abteilung zu kommen, gescheitert schienen. Bernstorff suchte den Staatssekretär Richard von Kühlmann auf, der eine Versetzung in die wirtschaftspolitische Abteilung anordnete. Dort befasste sich Bernstorff mit der Vorbereitung einer stärkeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn nach Vorbild der Mitteleuropa-Idee. Wenig später wurde er jedoch in die politische Abteilung unter Leopold von Hoesch versetzt, wo er von nun an in der unmittelbaren Nähe Kühlmanns tätig war. Die Abteilung hatte zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Vorbereitung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk zu tun. Bernstorff war allerdings als Attaché nicht direkt in die Verhandlungen involviert, sondern blieb in Berlin. Dort wurde er Mitglied der Deutschen Gesellschaft 1914, wo über politische Richtungen hinweg über Perspektiven eines Nachkriegsdeutschlands diskutiert wurde. Der elitäre Club stand unter dem Vorsitz des liberalen Diplomaten Wilhelm Solf. Daneben besuchte er gemeinsam mit Freunden mehrmals den Altkanzler Bethmann Hollweg, dem er mittlerweile wieder hohe staatsmännische Fähigkeiten und ethische Grundwerte beimaß, auf seinem Alterssitz Hohenfinow. Außerdem wurde Bernstorff 1917 als junger Gutsherr nach dem Dreiklassenwahlrecht in den lauenburgischen Kreistag gewählt, dem er bis zu dessen Auflösung im März 1919 angehörte. Im April 1918 begleitete er Richard von Kühlmann bei dessen Antrittsbesuch am badischen Hof. Bei dieser Gelegenheit lernte Bernstorff auch den liberalen Prinzen Max von Baden kennen. Im folgenden Monat war er Mitglied der deutschen Delegation bei der Friedensverhandlung mit Rumänien in Bukarest, die er als den größten diplomatischen Erfolg der Mittelmächte wertete. Dort fungierte er als persönlicher Adjutant des Staatssekretärs. Anfang Juni 1918 stellte sich Kühlmann vor den Reichstag, um von den linken Kräften eine stärkere Unterstützung für einen Verhandlungsfrieden einzufordern, was Bernstorff begrüßte. Auf einem Empfang im Anschluss an die Reichstagssitzung lernte er zahlreiche einflussreiche Parlamentarier kennen, darunter die Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Albert Südekum und Wolfgang Heine, den Liberalen Conrad Haußmann und den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Anfang Oktober 1918 reiste Bernstorff nach Wien, wo er bei dem Kabinettsentwurf der letzten k.u.k-Regierung anwesend war. Sein Freund Redlich übernahm in der Regierung Max Hussarek von Heinleins das Finanzressort. Als er nach Berlin zurückkehrte, war das Kaiserreich durch die Oktoberreform in eine parlamentarische Monarchie umgewandelt worden. Neuer Außenstaatssekretär wurde Wilhelm Solf, der bisherige Leiter des Reichskolonialamtes, den Bernstorff wie folgt beschrieb: Solf ist natürlich eine Freude für mich – wäre ich 10 Jahre älter, wäre auch ich in der Regierung. Bis zu dessen Rücktritt arbeitete er als Solfs persönlicher Adjutant. Die Regierungsgeschäfte führte Max von Baden, in den Bernstorff wie viele Liberale große Hoffnungen auf die Erhaltung der Monarchie in einem freiheitlich-demokratischen Kaiserreich (Die alte deutsche Linie, die zur Paulskirche führte und 1848 abbrach.) legte. In den letzten Tagen des Hohenzollern-Reiches, am 8. November 1918, wurde Albrecht Graf von Bernstorff zum Legationssekretär ernannt und damit nach Abschluss seiner Ausbildung in den Staatsdienst übernommen. Novemberrevolution und DDP 1918–1920 Die Novemberrevolution lehnte Albrecht von Bernstorff anfangs ab, da er seine demokratischen Vorstellungen in einer parlamentarischen Monarchie verwirklicht sah. Den Revolutionären konnte er nichts abgewinnen, auch wenn er feststellte, dass mit Wilhelm II. vermutlich zu keinem Friedensschluss zu kommen war. Für ihn waren mit dem Scheitern des Prinzen Max von Baden die Vorstellungen eines Liberalismus in einer Monarchie begraben worden, nun müsse für eine bürgerliche Partei innerhalb der Republik gekämpft werden. Um den jungen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes Kurt Riezler bildete sich eine Gruppe von Diplomaten, die der Demokratie gegen die radikalen Kräfte mehr Gehalt geben wollten. Da sie die Gründung einer eigenen Partei noch ablehnten, plante Bernstorff, genau wie sein Onkel Johann Heinrich, der Fortschrittlichen Volkspartei beizutreten und auch für diese zu kandidieren, was jedoch nicht umgesetzt worden ist. Am 16. November 1918 wandte sich die Gruppe mit dem Aufruf An die deutsche Jugend! im Berliner Tageblatt an die Öffentlichkeit, in dem sie den Geist von 1848 beschwor und das Ende aller Klassenprivilegien forderte. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Bernstorff und Riezler auch Oskar Trautmann und Harry Graf Kessler. Statt wie zu Anfang geplant erhielt die Fortschrittliche Volkspartei aber nicht den Status der großen liberalen Partei, sondern stattdessen die neugegründete Deutsche Demokratische Partei, der Bernstorff nun mit seinem Onkel beitrat. Auf diese neue bürgerliche Partei war er stolz und die Demokraten konnten prominente Namen in ihren Reihen aufweisen, darunter Solf, Haußmann, Payer und Dernburg. In seinem typischen Humor schrieb Bernstorff ironisch: Gründung von Onkel Johnnys Demokratischem Club, der wirklich semitisch-kapitalistisch zu werden verspricht. Wir Jüngeren werden die radikale antikapitalistische Linke darstellen. Am 18. Dezember 1918 übergab Wilhelm Solf auf Druck der USPD die Amtsgeschäfte an Ulrich von Brockdorff-Rantzau, wodurch die Rückendeckung für Bernstorffs diplomatisches und parteipolitisches Engagement erheblich schwand. Das Verhältnis zu Rantzau verschlechterte sich noch, als dieser die Versetzung Bernstorffs an die deutsche Botschaft in Paris ablehnte. Stattdessen wurde ihm eine Versetzung an die deutsche Botschaft Prag angetragen, die ihm aber nicht zusagte. Als im Juni 1919 Solf als Botschafter in London im Gespräch war, versuchte Bernstorff davon ebenfalls zu profitieren. Bis zum Frühjahr 1920 hatte er im Auswärtigen Amt seit dem Abgang aus Wien mindestens fünf verschiedene Posten inne, was nicht für eine vorausschauende Personalpolitik spricht. Am 10. September 1919 wurde Albrecht Graf von Bernstorff auf die Weimarer Verfassung vereidigt. Er hatte erkannt, dass es für Deutschland kein Zurück gab, und sich zum Vernunft-Republikaner entwickelt. Anfang 1920 übernahm er die seit einem Jahr bestehende Außenhandelsstelle des Auswärtigen Amtes, wo er mit dem Wirtschaftsfachmann Carl Melchior zu tun hatte. Stets rechnete er aber mit einer baldigen Versetzung ins Ausland. Der Papierkrieg und die wenige politische Arbeit ärgerten ihn, insgesamt hatte er nun aber auch wieder mehr Muße. Lediglich der Kapp-Putsch, den er einen Dumme-Jungen-Streich nannte, sorgte dafür, dass die Regierungsbehörden für einige Tage vorübergehend über Dresden nach Stuttgart verlegt wurden. Für ihn erschien aber selbst dies sehr aufregend und ganz unterhaltsam. Diplomat im eigenen Land: Koblenz 1920–1921 Mitte April 1920 ging Albrecht Graf von Bernstorff als Legationssekretär und Mitarbeiter des Geheimen Legationsrates Arthur Mudra an die Interalliierte Rheinlandkommission nach Koblenz. In den ersten Wochen seiner Tätigkeit an der Besatzungsbehörde der Siegermächte vertrat er noch seinen Vorgesetzten, bevor er am 11. Mai selbst zum neuen Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Reichskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete ernannt wurde. Nun war Bernstorff imstande, seine Arbeit freier zu gestalten. Habe gute Fühlung mit Engländern und Amerikanern – mache viel Politik und wenig Akten. Zudem genoss er es, das ihm weitestgehend unbekannte Westdeutschland kennenzulernen. Dienstlich reiste er häufig nach Darmstadt, Frankfurt und Köln. Daneben hielt er regelmäßig Vortrag bei Reichsaußenminister Walter Simons und Kanzler Constantin Fehrenbach. Man scheint in Berlin sehr zufrieden mit mir, unterstützt mich auch, will mich vorläufig dort lassen, war überhaupt sehr anerkennend. Zu seinen Aufgaben in Koblenz gehörte die Teilnahme an den Sitzungen des Parlamentarischen Beirats für die besetzten rheinischen Gebiete und dessen Wirtschaftsausschusses. Diplomatisch orientierte er sich eindeutig an der Linie der deutschen Außenpolitik. Das Londoner Ultimatum und die Reparationszahlungen sah er jedoch kritisch, da er es als paradox empfand, die Erfüllungspolitik soweit fortzuführen, bis die gesamte Wirtschaft am Boden lag, um dann den Siegermächten das Resultat der Reparationsforderungen zu präsentieren. Aus diesem Grund hoffte er auf eine langsame Abkehr von der Erfüllungspolitik und einen anderweitigen Ausgleich mit der Entente. In diesem Sinne sandte ihn Außenminister Friedrich Rosen im Juni 1921 nach London, wo er in einer Vielzahl von Gesprächen versuchte, Einfluss auf das Foreign Office auszuüben. Außerdem traf er sich mit dem Kopf der oppositionellen Liberalen, dem ehemaligen Premierminister Herbert Asquith. Vor seiner Reise hatte es Gerüchte gegeben, dass Bernstorff als Konsul nach Glasgow berufen werden sollte. Da aber der Londoner Botschafter Friedrich Sthamer Bedenken wegen des Namens Bernstorff hatte, denn Johann Heinrich Graf von Bernstorff war im Weltkrieg für eine Verständigung und damit gegen einen britischen Siegfrieden eingetreten, wurde dieser Gedanke wieder fallen gelassen. So fiel es Albrecht Graf von Bernstorff leicht, zu diesem Zeitpunkt, als sein Verbleib in Koblenz sicher war, seine Unabhängigkeit vom Auswärtigen Dienst zu vergrößern. Am 27. Juli 1921 stellte er daher ein Gesuch, ein Jahr für ein Volontariat bei dem Bankhaus Delbrück, Schickler & Co. beurlaubt zu werden. Obwohl man zunächst versuchte, ihn von diesem Plan abzubringen, gab man ihm schließlich doch statt. Gleichzeitig lobte Minister Friedrich Rosen den großen Aktionsradius Bernstorffs und betrachtete dessen Tätigkeit in Koblenz als äußerst erfolgreich. Delbrück, Schickler & Co.: 1921–1922 Seine Tätigkeit im Bankhaus Delbrück, Schickler & Co. begann am 28. November 1921. In der Bank hatte er allerdings keine konkreten Aufgaben, da er sich lediglich über die verschiedenen Abteilungen informieren sollte und nicht selbst tätig wurde. Aufgrund zahlreicher gesellschaftlicher Verpflichtungen fühlte er sich dennoch abgehetzt und aufgefressen. Er verkehrte bei Kurt Riezler, wo er auch dessen Schwiegervater Max Liebermann kennenlernte, Hermann von Hatzfeldt, Gerhard von Mutius und den Staatssekretär in der Reichskanzlei Heinrich Albert. Bernstorff gehörte – trotz seiner zeitweise prekären finanziellen Situation – zur High society der Hauptstadt. Den Abschluss des Vertrages von Rapallo am 22. April 1922 nannte Bernstorff eine Dummheit. Über den Außenminister Rathenau schrieb er scherzend: Walther schützt vor Torheit nicht. Als jedoch Rathenau nur einen Monat später einem Fememord zum Opfer fiel, sprach Bernstorff von einer Viecherei, die ihre Ursache in der maßlosen Hetze der Rechten hat. Die Beschäftigung im Bankhaus Delbrück war von Anfang an auf nur ein Jahr angelegt gewesen und als diese Zeit endete, zögerte Bernstorff, in den diplomatischen Dienst zurückzukehren. Die Alternative war für ihn eine Daueranstellung in einer Bank im Ausland. Als ihm die Personalabteilung des Auswärtigen Amtes aber einen Posten an der deutschen Botschaft London anbot, sagte er zu. Diplomat in London: 1923–1933 Die ersten Jahre: 1923–1928 Vertreter der Weimarer Republik Am 20. Januar 1923 traf Bernstorff in London ein. Seine Abreise hatte sich durch die Ruhrbesetzung mehrfach verzögert. Er übernahm den Posten eines 2. Sekretärs unter Botschafter Friedrich Sthamer. Von Anfang an war er mit dieser Position unzufrieden. In den folgenden Jahren wurden ihm immer wieder Aufstiegschancen an anderen Botschaften aufgezeigt, etwa in Kopenhagen unter Ulrich von Hassell. Bernstorff bestand jedoch auf seinen Verbleib in London, drohte des Öfteren mit seinem Austritt aus dem diplomatischen Dienst und nahm auch eine eher langsame Karriere in Kauf. Nach einigen Monaten empfand er Sthamer als ungeeigneten Mann: Er habe in den Jahren nach dem Weltkrieg gute Arbeit geleistet, sei aber nun zu zurückhaltend und stelle gesellschaftlich nichts dar. Als Nachfolger schlug Bernstorff Harry Graf Kessler vor. Es dauerte allerdings Jahre, bis ein Nachfolger berufen wurde. Bernstorff untergrub über einen langen Zeitraum in Briefkontakten ins Auswärtige Amt die Autorität des Botschafters, da er diesen für ungeeignet hielt und auch aus eigenen Aufstiegshoffnungen seinen Abschied herbeisehnte. Eine Gehaltskürzung von 10 Prozent wegen der angespannten Haushaltslage des Reiches bereitete dem ohnehin durch den schlecht laufenden Gutsbetrieb in Stintenburg unter finanziellen Problemen leidenden Bernstorff zusätzliche Schwierigkeiten. Daher sah er sich zwischenzeitlich gezwungen, von Verwandten Geld zu leihen oder Schmuckstücke aus Familienbesitz zu verkaufen. Die Hyperinflation trug ebenfalls zu den finanziellen Sorgen bei. Bernstorff versuchte allerdings auch nicht, seinen luxuriösen Lebenswandel einzuschränken. Sein Aufgabenbereich lag in der politischen Abteilung, wo er mit Otto Fürst von Bismarck zusammenarbeitete. Zentrales Sachthema war der Versuch einer Annäherung an Großbritannien, um die Ruhrbesetzung möglichst früh zu beenden und gleichzeitig Frankreich politisch zu isolieren. Um dies zu erreichen, müsse Deutschland, so Bernstorffs Ansicht, schon aus taktischen Gründen dem Völkerbund beitreten. Für diese Position warb er auch in einem Artikel in der Zeitung Deutsche Nation. Bernstorff rechnete damit, dass die Ruhrbesetzung noch Jahre andauern würde, weshalb er auch einen schrittweisen Abzug der Truppen begrüßte. Nach einer unvorsichtigen Äußerung in dieser Richtung, die in einer Pressemeldung als offizielle Position der Reichsregierung abgedruckt wurde, erhielt Bernstorff vom Botschafter einen Tadel. Anfang 1924 vertrat Bernstorff die Weimarer Republik bei den deutsch-britischen Luftfahrtverhandlungen, die Teil der Entwaffnung des Deutschen Reiches waren. Mit dieser Angelegenheit blieb er über Monate hinweg beschäftigt. Daneben wirkte Bernstorff im Auftrag der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft an zahlreichen Aktionen für die Verbesserung des deutschen Images in Hinblick auf die Wirtschaft mit, darunter Buchveröffentlichungen, Reisen prominenter Deutscher nach London oder von Briten nach Berlin (etwa Graham Greene) oder finanzielle Unterstützung für die Arbeit des Journalisten Jona von Ustinov, mit dem ihn auch eine Freundschaft verband. 1927 besuchte Ustinov mit Frau und Sohn Peter Stintenburg. Vom 16. Juli bis zum 16. August 1924 fand die Londoner Konferenz über ein neues Reparationsabkommen statt. Ab dem 6. August saßen auch deutsche Delegierte mit am Verhandlungstisch: Reichskanzler Wilhelm Marx, Außenminister Gustav Stresemann mit Staatssekretär Carl von Schubert, Finanzminister Hans Luther und Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht. Als Vertreter der deutschen Botschaft nahm Albrecht Graf von Bernstorff an der Konferenz teil. Als Abschluss der Verhandlungen stand der Dawes-Plan, den Bernstorff als Fortschritt wertete, obgleich dieser nicht restlos befriedigend sei. Die mögliche Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten beurteilte er im April 1925 mit Blick auf die außenpolitischen Perspektiven äußerst kritisch: Das ganze Kapital des Vertrauens, das in mühsamer Arbeit von fünf Jahren zwischen Deutschland und England angesammelt worden ist, wird bei einer Wahl Hindenburgs nur allzu schnell in die Binsen gehen und Deutschland wird […] wieder einmal der Blamierte sein. Doch trotz der Wahl Hindenburgs fand sein außenpolitischer Pessimismus zunächst keine Bestätigung. Stattdessen gelang es, die Annäherung in den Vertrag von Locarno münden zu lassen, den er als große Leistung Stresemanns anerkannte. 1926 wurde er Vorsitzender des deutschen Pro-Palästina Komitee, das sich für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina einsetzte. Persönliche Kontakte als Grundlage der Diplomatie Bedeutend für die Arbeit des Diplomaten Albrecht Graf von Bernstorff waren seine zahlreichen persönlichen Kontakte: Er pflegte auch in London neben den alten Freundschaften aus Oxforder Studientagen weiterhin seine Verbindungen ins Auswärtige Amt, besonders zu Kurt Riezler und Friedrich Gaus; daneben zu Wilhelm Solf, mittlerweile deutscher Botschafter in Japan, dessen Frau Hanna ihn mit Tochter Lagi in London besuchte, außerdem zu Hjalmar Schacht, Theodor Heuss und Siegfried von Kardorff. Besonders wichtig waren die Kontakte zu Mitarbeitern des Foreign Office und Unterhausabgeordneten, wie Philip Snowden und Herbert Asquith. Neue Freundschaften führten Bernstorff auch häufig nach Cambridge, wo er u. a. den einflussreichen Literaturkritiker Clive Bell traf. Er gehörte dem vornehmen Londoner Toby’s Club an und spielte im Queen’s Club Tennis. Über die Kulturarbeit der Botschaft begegnete er Lion Feuchtwanger, John Masefield und Edith Sitwell. Der Schriftsteller Graham Greene berichtet in seiner Autobiographie, Bernstorff 1924 Spitzeldienste für Deutschland in den von Frankreich besetzten Gebieten angeboten zu haben. Das Pferderennen von Ascot, die Chelsea Flower Show und die Wimbledon Championships waren wie selbstverständlich auch für Bernstorff Höhepunkte des gesellschaftlichen Lebens. Alles in allem gehörte er als einer der wenigen Deutschen zu den gern gesehenen Gästen der britischen Elite und konnte dies auch für die Diplomatie nutzen. In der oberen Etage der Weltpolitik: 1929–1933 Geschäftsträger der Botschaft Anfang 1929 kam Bewegung in die Personalpolitik, als der inzwischen 72-jährige Botschafter Sthamer seinen Rücktritt ankündigte und das Auswärtige Amt nun offiziell einen Nachfolger suchte. Im Gespräch waren Harry Graf Kessler, der konservative Reichstagsabgeordnete Hans Erdmann von Lindeiner-Wildau, der bisherige Botschafter in Stockholm Rudolf Nadolny sowie der Botschafter in Rom Konstantin Freiherr von Neurath. Die Wahl fiel auf letzteren, der am 3. November 1930 sein Amt in London antrat. Zeitgleich mit Sthamer wurde auch der Botschaftsrat Dieckhoff abgezogen, dessen Vertretung der Gesandtschaftsrat II. Klasse Albrecht Graf von Bernstorff übernahm. Dabei hoffte er auf eine dauerhafte Berufung auf diesen Posten und damit auf seinen Aufstieg in den innersten Maschinenraum des diplomatischen Weltgetriebes. Am 12. Februar 1931 erfolgte tatsächlich die angestrebte Beförderung, bei der er einen Rang der diplomatischen Karriereleiter überspringen konnte. In der deutschen Außenpolitik hatte sich unter Außenminister Julius Curtius eine stärkere Betonung der Revision des Versailler Vertrages herausgebildet, was zu einer Abkehr von der Stresemannschen Verständigung mit Frankreich führte. Gleichzeitig beobachtete Bernstorff den aufkommenden Nationalsozialismus mit Sorge. In Großbritannien hatte die Wahl vom Juni 1929 für unklare Verhältnisse gesorgt: Die Labour Party stellte zum ersten Mal mit Ramsay MacDonald den Premierminister in einer von den Liberalen tolerierten Minderheitsregierung. Diese erwies sich aber angesichts der Weltwirtschaftskrise als vollkommen überfordert, weshalb die drei großen Parteien, Konservative, Liberale und Labour, eine Koalition eingingen. MacDonalds sogenanntes National Government entwickelte sich aber aufgrund zahlreicher Parteiaustritte auf Seiten der linken Kräfte als fast rein konservative Regierung. Diese Vorgänge sorgten auch in der deutschen Botschaft für Unruhe, da sie in den deutsch-britischen Beziehungen zu großer Unsicherheit führten. 1930 fand in London die Flottenkonferenz statt, auf der Vertreter der USA, Belgiens, Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Japans und Großbritanniens beteiligt waren. Dort verlängerten die Großmächte die Baupause für Kriegsschiffe bis 1936 und verboten den Einsatz von U-Booten gänzlich. Doch insgesamt war die außenpolitische Gefühlslage eine andere als noch in Locarno: Wir sind an einem Punkt angekommen, wo eine Politik der Verständigung beim besten Willen der Führer unmöglich gemacht wird durch die Schreiereien der Masse. […] Das kann für Europa noch tragisch enden. Im Oktober 1930 erschien im Daily Herald ein Artikel, der von Bernstorff verfasst worden war, unter dem Titel All in a Diplomat’s day. In einer Glosse desselben Blattes wurde Bernstorff als der ausländische Diplomat bezeichnet, der sich am besten in die Londoner Gesellschaft integriert habe. Jeder kennt ihn, weil er selbst jedermann kennen will. Seit Anfang August 1931 war Botschafter Neurath auf Urlaub, weshalb Bernstorff für mehrere Monate die Geschäfte übernahm. Er genoss die Unabhängigkeit, die er als Geschäftsträger hatte. Im Januar 1932 erkrankte Neurath für vier Monate und Bernstorff konnte erneut als Geschäftsträger fungieren. Zudem häuften sich die Gerüchte aus Berlin, dass nach dem Rücktritt von Außenminister Curtius Neurath als dessen Nachfolger gehandelt würde. Zunächst übernahm Reichskanzler Heinrich Brüning selbst das Außenressort. Doch nach dem Regierungswechsel reiste Neurath am 1. Juni 1932 nach Berlin, um über seinen Eintritt ins Kabinett Papen zu verhandeln. Zwei Tage später kehrte er nach London zurück, um an der Botschaft seinen Abschied zu nehmen. So waren seine zwei Jahre Dienstzeit in London überwiegend von Abwesenheit geprägt. Bis zur Ernennung eines neuen Botschafters war Bernstorff erneut Geschäftsträger der Botschaft. Seine gesellschaftlichen und politischen Kontakte hatten den Kenner der englischen Verhältnisse bereits zuvor zum eigentlichen Herrn der Botschaft gemacht. Wiedererrichtung der Rhodes-Stipendien Seit seiner Rückkehr nach Großbritannien beschäftigte sich Albrecht Graf von Bernstorff mit der Wiederherstellung der Rhodes-Stipendien für deutsche Studenten. Seit 1916, als Großbritannien mit dem Deutschen Reich im Krieg stand, hatte die Rhodes-Stiftung die Stipendien für deutsche Studierende ausgesetzt. Zwar wurden die ehemaligen Stipendiaten auch weiterhin zu Veranstaltungen nach Oxford eingeladen und freundschaftliche Kontakte gepflegt, doch stieß der Wunsch nach deutschen Neustipendiaten auf starken Widerstand. Für die Wiedererrichtung der Stipendien konnte Bernstorff seine Kontakte wirksam einsetzen: Besonders das Stiftungsmitglied Otto Beit und der einflussreiche Journalist und Politiker Philip Kerr, 11. Marquess of Lothian, förderten die Idee. Auf deutscher Seite unterstützte der Industrielle Carl Duisberg das Projekt. Auch Richard von Kühlmann und Frederick Edwin Smith, 1. Earl of Birkenhead versprachen, in Deutschland und Großbritannien finanzielle Mittel aufzutreiben. So konnte anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Rhodes-Stiftung im Juni 1929 der Premierminister Stanley Baldwin die Neuerrichtung von zwei Stipendien für zwei Jahre bekanntgeben. Dadurch, dass es sich hierbei offiziell um zwei neue Stipendienplätze handelte, konnte eine Parlamentsdebatte geschickt umgangen werden. Kronprinz Edward stimmte diesem Schritt zu. Dieses Ereignis stieß in der britischen Öffentlichkeit auf große Resonanz. Gleichzeitig teilte die Rhodes-Stiftung den deutschen Altstipendiaten vertraulich mit, dass es einen rein deutschen Auswahlausschuss geben solle und die Zahl der Stipendien langfristig auf fünf aufgestockt werde. Am 15. Juli 1929 sandte Bernstorff eine Denkschrift nach Oxford, in der er Vorschläge für die Zusammensetzung des Auswahlausschusses unterbreitete: Neben vier ehemaligen Stipendiaten sollten drei unabhängige Mitglieder berufen werden; für diese Posten empfahl er Friedrich Schmidt-Ott, den letzten königlich-preußischen Kultusminister, Adolf Morsbach aus dem Vorstand der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und seinen eigenen Förderer Wilhelm Solf. Im September modifizierte Bernstorff seinen Vorschlag und brachte weitere Namen ins Gespräch. Die Trustees folgten in weiten Teilen seinen Empfehlungen und beriefen am 10. Oktober 1929 Schmidt-Ott, den ehemaligen Außenminister Walter Simons, Adolf Morsbach, den Juristen Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, den Staatswissenschaftler Carl Brinkmann sowie Bernstorffs Studienfreund Harald Mandt. Für sein eigenmächtiges Vorgehen musste Albrecht Graf von Bernstorff von Seiten der ehemaligen deutschen Stipendiaten harsche Kritik einstecken. Zudem befürchtete der Oxford-Absolvent und deutschnationale Reichstagsabgeordnete Lindeiner-Wildau einen zu großen Einfluss der DDP auf das Auswahlkomitee. Zu den Sitzungen des Komitees, die von nun an wieder jährlich stattfanden, lud man nun stets namhafte Politiker ein: 1930 erschien Reichskanzler Brüning, 1932 kamen Außenminister von Neurath und Finanzminister Graf Schwerin von Krosigk. Dies zeigt, welche Bedeutung die Politik der Rhodes-Stiftung beimaß und welchen diplomatischen Erfolg Bernstorff vor diesem Hintergrund errungen hatte. Auf der Sitzung des Auswahlkomitees 1930 lernte er den jungen Adam von Trott zu Solz kennen, der sich um ein Stipendium bewarb. Bernstorff mochte den wirklich ganz besonderen Trott, dessen Fähigkeiten er erkannte und förderte. Zwischen beiden entwickelte sich eine Freundschaft, die sie durch regelmäßige Treffen in Oxford und Tagungen in Cambridge vertieften. So brachte die Rhodes-Stiftung zwei Männer zusammen, die später als kompromisslose Gegner des Nationalsozialismus aktiv Widerstand leisteten und dafür hingerichtet worden sind. Wendepunkt 1933 Zu Beginn des Jahres 1933 konnte Albrecht Graf von Bernstorff sein zehnjähriges Dienstjubiläum an der Botschaft London feiern, was in der Deutschen Allgemeinen Zeitung mit einem Artikel gewürdigt wurde. Doch die Machtergreifung der NSDAP am 30. Januar 1933 war für Bernstorff vor allem eine große Schande: Er schäme sich nun, Deutscher zu sein, da es diesem österreichischen Maulhelden Adolf Hitler gelungen war, das deutsche Volk zu verführen. Bernstorff schrieb nun zahlreiche Briefe an das Auswärtige Amt, in denen er den Chefdiplomaten die negativen Auswirkungen der Machtergreifung vor Augen führen wollte: Nahezu sämtliche ehemals deutschfreundlichen Politiker wetterten gegen das Reich, und die öffentliche Meinung in Großbritannien werde sich schon wegen eines einzelnen Faktors, des Antisemitismus, nicht wieder verbessern. Wegen seiner oppositionellen Haltung schwärzten Journalisten des Völkischen Beobachters Bernstorff am 26. März bei NS-Außenpolitiker Alfred Rosenberg an. Entgegen der auch bei Zeitzeugen verbreiteten Annahme quittierte Bernstorff nicht selbst den Dienst, wenngleich er darüber im März 1933 intensiv nachdachte. Im Mai 1933 nahm er für zwei Wochen Urlaub, um auf Stintenburg seine Freunde Eric M. Warburg und Enid Bagnold zu treffen. Etwa einen Monat, nachdem er in London wieder seine Arbeit aufgenommen hatte, erreichte ihn am 24. Juni 1933 die Nachricht, von seinem Posten abberufen zu werden. Bernstorff war von dieser Entscheidung überrascht und äußerst niedergeschlagen. Seine Abberufung fand einen starken Nachhall in der britischen Presse: Times, The Observer, Daily Telegraph, Morning Post, Evening Standard, Daily Express und Daily Herald berichteten darüber und sprachen von Anfängen einer politischen Säuberung in der deutschen Diplomatie. Auch in der deutschen Presse, namentlich in der Vossischen Zeitung und der Frankfurter Zeitung fanden sich Artikel über Bernstorffs Weggang – für einen Botschaftsrat äußerst ungewöhnlich und Beweis des Prestiges und des Erfolges Bernstorffs. Er selbst sah sich dagegen nicht als Opfer der Nationalsozialisten, sondern führte seine Abberufung auf eine Intrige im Auswärtigen Amt zurück, um den Aufstieg Otto Fürst von Bismarcks auf seinen Posten zu ermöglichen. Nach einer Reise nach Berlin gab er Ende Juli 1933 in London mehrere Abschiedsessen. Die Krönung dieses Abschiedes bildete sein Empfang bei Premierminister MacDonald am 8. August – eine Ehre, die normalerweise ausschließlich scheidenden Botschaftern vorbehalten war. Anschließend wurden ihm weitere Monate Urlaub verordnet, bevor er noch Ende August erfuhr, entweder das Amt des Generalkonsuls in Singapur zu übernehmen oder in den einstweiligen Ruhestand versetzt zu werden. Obwohl letzteres im Herbst 1933 erfolgte, hoffte Bernstorff noch mehrere Monate, bessere Stellenangebote vom Auswärtigen Amt zu erhalten und so bald – trotz bleibender politischer Bedenken – in den diplomatischen Dienst zurückzukehren. Erst im Dezember erkannte er: Nun sind die Würfel gefallen. […] Das Auswärtige Amt hat viel zu viel Angst, mir auch nur einen Posten anzubieten. Zeit des Nationalsozialismus: 1933–1945 Innere Emigration und A. E. Wassermann Bernstorff hatte sich in Berlin nie wohlgefühlt, doch nun schien ihm die Hauptstadt als sein Exil, wo er nur noch vegetieren, nicht länger leben könne. Obwohl er seine zahlreichen Freundschaften weiterhin pflegte, flüchtete er sich vor der politischen Situation in Deutschland vor allem in Auslandsreisen. Anfang 1934 kehrte er nach Großbritannien zurück, um Bekannte wiederzutreffen und Gespräche für die Rhodes-Stiftung zu führen, anschließend reiste er zu seinem Onkel Johann Heinrich, der – selbst ebenfalls entschiedener Gegner des NS-Regimes – in die Schweiz emigriert war. Für Albrecht Graf von Bernstorff scheint die eigene Auswanderung aber nie eine Alternative gewesen zu sein, da er sich Deutschland und insbesondere seiner Heimat Stintenburg verpflichtet fühlte. Trotz seiner psychischen Niedergeschlagenheit gelang es Bernstorff 1933 und 1934, vermehrt Bekanntschaften zu gleichaltrigen Frauen zu knüpfen und eine Heirat in Erwägung zu ziehen. Auch eine frühere Beziehung lebte wieder auf. 1922 hatte er im Kurort Weißer Hirsch in der Nähe von Dresden die damalige Schauspielerin Ellen Hamacher kennengelernt. Die war seit 1926 mit dem Komponisten und Dirigenten Rudolf Schulz-Dornburg (1891–1949) verheiratet, 1929 hatte das Ehepaar auch einen Sohn, Michael, bekommen. Dennoch gab es weiterhin Kontakte zwischen Bernstorff und Ellen Schulz-Dornburg; im März 1937 wurde ein zweiter Sohn geboren, Stefan. Bernstorff bestätigte inoffiziell die Vaterschaft. Auch wenn er das Kind – wohl aus Rücksicht auf die weitergeführte Ehe der Schulz-Dornburgs – nie offiziell anerkannte, waren die Umstände in beiden Familien spätestens seit 1942 bekannt; Bernstorff unterstützte die Schulz-Dornburgs in Folge finanziell und berücksichtigte den unehelichen Sohn in seinem Testament auch mit einer Geldsumme. Stefan Schulz-Dornburg selbst erfuhr allerdings erst 1962 von der Vaterschaft Bernstorffs. Es dauerte nicht lange, bis er eine neue Aufgabe fand und so seine innere Emigration beendete. Am 1. März 1934 trat Graf Bernstorff in den Dienst des traditionsreichen Berliner Bankhauses A. E. Wassermann. Der Firmensitz befand sich am Wilhelmplatz Nr. 7, direkt neben dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Entscheidend für den Einstieg bei der Bank war Bernstorffs persönliche Bekanntschaft zum Mitinhaber Joseph Hambuechen, den er 1931 in London kennengelernt hatte. Die Privatbank A. E. Wassermann hatte 1937 einen Umsatz von 13 Millionen Reichsmark, was auf ein verhältnismäßig kleines Institut hinweist. Das Bankhaus mit Filialen in Berlin und Bamberg befand sich nach wie vor mehrheitlich im Besitz der jüdischen Familie Wassermann. Als der Geschäftsführer Max von Wassermann im Oktober 1934 verstarb und sein Sohn Georg den Posten übernahm, stieg Bernstorff am 1. Mai 1935 zum Generalbevollmächtigten der Bank auf. Nun verfügte er als einziges Nicht-Familienmitglied in der Firmenleitung über ein hohes Festgehalt und hoffte auf die Gründung einer Filiale oder Tochtergesellschaft in London oder Washington, deren Führung er übernehmen könnte. Neben der unsicheren Situation seit dem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst war für seinen Eintritt in die Privatbank auch das Bedürfnis, jüdischen Freunden zu helfen, von Bedeutung. Das Eintreten in eine nach den Nürnberger Rassegesetzen nicht-arische Bank war ein Akt der Verweigerung der NS-Ideologie gegenüber und daher mit erheblichen Gefahren verbunden. Seit der Machtergreifung vermittelte A. E. Wassermann Geschäfte für die Palästina-Treuhand-Gesellschaft, die über Devisenhandel günstige Kredite für Auswanderer nach Palästina gewährte. Daneben ermöglichte die Treuhand-Gesellschaft über den An- und Verkauf von Waren in unterschiedlichen Währungszonen den Geldtransfer nach Palästina. Gemeinsam mit dem ehemaligen Zentrums-Politiker und Diplomaten Richard Kuenzer unterstützte Bernstorff so die Alija Bet und wirkte daran mit, jüdisches Kapital vor dem Zugriff des NS-Regimes zu retten. Ab 1937 geriet A. E. Wassermann wegen seiner jüdischen Besitzer in Schwierigkeiten, weshalb die meisten Familienmitglieder den Vorstand verließen und durch externe, arische Teilhaber ersetzt wurden. Dies änderte aber im Grunde an der Situation nichts und im Juni 1938 gab die Bank dem Druck einer drohenden vollständigen Zwangs-Arisierung nach. Bernstorff war nun Mitinhaber, begriff sich selbst aber als Treuhänder, der die Firmengeschäfte nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft an die rechtmäßigen Besitzer zurückgeben würde. Der notgedrungene Ausstieg der jüdischen Geschäftspartner belastete ihn schwer. Am 24. März 1937 wurde Bernstorff auf seinen Wunsch hin in den dauernden Ruhestand des diplomatischen Dienstes versetzt. Er reiste nun häufiger geschäftlich durch Deutschland, nicht zuletzt als Aufsichtsratsmitglied zahlreicher Firmen: AG für Medizinische Produkte (Berlin), Ausstellungshalle am Zoo AG (Berlin), Concordia-Lloyd AG für Bausparer und Grundkredit (Berlin), Eintracht Braunkohlenwerke und Brikettfabrik (Welzow) und Rybniker Steinkohlen-Gesellschaft (Katowice). 1937 besuchte er die Weltausstellung in Paris. Widerstand gegen das Regime Offene Ablehnung Bernstorff hatte die Gefahr einer nationalsozialistischen Machtübernahme bereits vor 1933 erkannt, rechnete aber in den ersten Jahren der NS-Herrschaft mit einem schnellen Niedergang der Diktatur. Er glaubte an die Möglichkeit einer schnellen Rückkehr zur Republik oder sogar zu einer parlamentarischen Monarchie. Kronprinz Wilhelm erhalte nach wie vor mehr Applaus als die Diktatur der Spießer. Die Machthaber empfand er als lächerlich und machte sich in Gesprächen und Briefen über sie lustig, was ihn zunehmend in Gefahr brachte. Adolf Hitler nannte er im Schriftverkehr mit Freunden grundsätzlich Aaron Hirsch. Der inszenierte Röhm-Putsch erweckte für Bernstorff den Eindruck, das Ende des Regimes stehe unmittelbar bevor. Für ihn waren die Methoden der Nationalsozialisten die gleichen wie die der sowjetischen Tscheka, und er traute es dem deutschen Volk nicht zu, ein solches Regime in seinem Land lange zu dulden. Je mehr sich die nationalsozialistische Diktatur aber festigte, desto größer wurde Bernstorffs Verzweiflung. Der Nationalsozialismus sei der Triumph des mittelmäßigen Mannes und er könne kaum Unterschiede zwischen Faschismus und Kommunismus erkennen. Bernstorff war sicher, dass ein Kriegsausbruch nicht lange hinausgezögert würde. Der Einmarsch in Österreich und der Überfall auf Polen am 1. September 1939 bestätigten ihn in diesen Befürchtungen und in seiner Ablehnung der Machthaber. In seinem Freundeskreis in Deutschland und Großbritannien erzählte er Witze über die führenden Repräsentanten der Diktatur: Warum versagt Adolf Hitler sich jeder Frau? – Er wartet auf Sankt Helena; Eine Bombe schlägt zwischen Hitler, Mussolini und Stalin ein. Wer überlebt? – Europa. Während die meisten NS-kritischen Deutschen solche Witze nur hinter vorgehaltener Hand erzählten, tat es Bernstorff öffentlich und ohne Scheu. Gerade dadurch versuchte er, den Blick auf die Herrschenden zu relativieren, während er sich gleichzeitig selbst in das Blickfeld der Gestapo brachte. Kontakte zu Widerstandsgruppen Bernstorff verfügte über eine Vielzahl von Kontakten in den offensiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Freundschaft zu Adam von Trott zu Solz war sein bedeutendster Kontakt zu aktiven Kräften, die einen Umsturz der NS-Diktatur herbeiführen wollten. Trott und Bernstorff standen schon allein durch die gemeinsame Tätigkeit im Rhodes-Komitee in Verbindung, doch daneben war Trott auch regelmäßig bei Bernstorff zu Gast und erhielt von diesem Empfehlungen und Kontakte, die ihm für seine Karriere von Nutzen waren, so etwa die Vermittlung des Referendariatsplatzes bei dem Anwalt Paul Leverkuehn. Daneben suchte Bernstorff Verbindungen zu NS-kritischen Journalisten wie Paul Scheffer und Friedrich Sieburg. Schließlich war er auch über Trott mit dem Kreisauer Kreis verbunden und pflegte Kontakte zu konservativen Kritikern des Krieges gegen Russland um Ernst von Weizsäcker. Bereits in den 1920er Jahren war Bernstorff regelmäßiger Gast im SeSiSo-Club gewesen und beteiligte sich nun auch als Mitglied im Solf-Kreis, der sich um die Witwe des ehemaligen Außenstaatssekretärs, Hanna Solf, gebildet hatte. Die einzelnen Teilnehmer der Tee-Gesellschaften im Haus der Solfs an der Berliner Alsenstraße hatten Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen und halfen Verfolgten. Während Trott nur hin und wieder erschien, gehörte Bernstorff zum Kern des Zirkels, der, obwohl im Solf-Kreis keine Umsturzpläne entwickelt wurden, zu den wichtigsten Gruppen der bürgerlich-liberalen und der aristokratischen Opposition gegen den Nationalsozialismus zählt. Im Solf-Kreis kamen auch viele ehemalige Kollegen aus dem Auswärtigen Amt zusammen. Zu den Mitgliedern gehörten u. a. Richard Kuenzer, Arthur Zarden, Maria Gräfin von Maltzan, Elisabeth von Thadden, Herbert Mumm von Schwarzenstein und Wilhelm Staehle. An den Planungen für den Umsturzversuch des 20. Juli 1944 waren die Mitglieder des Kreises nur mittelbar beteiligt. Bernstorff selbst suchte über Trott einen engeren Kontakt zum Kreisauer Kreis, dessen fortschrittliche Ideen ihn interessierten. Doch gerade die Eigenschaften, die ihm als Diplomat von Nutzen waren, seine Offenheit, Gesprächigkeit und Kontaktfreudigkeit, schlossen eine Mitwirkung im Kreis der Verschwörer vom 20. Juli aus: Helmuth James Graf von Moltke und Adam von Trott bewerteten ihn als Sicherheitsrisiko für den Widerstand und so kam eine direkte Mitwirkung Bernstorffs in Kreisau oder im Kreis um Claus Schenk Graf von Stauffenberg nicht zustande. Kontakte ins Ausland Bernstorff hielt weiterhin zahlreiche Verbindungen ins Ausland und versuchte, Briten, Amerikanern, Holländern, Dänen, Schweizern und Franzosen dabei zu helfen, ein wahrheitsgemäßes Deutschlandsbild zu gewinnen. So versuchte er beispielsweise, im Evening Standard über die Verbrechen der Nationalsozialisten zu berichten. Aus Sorge um seine Sicherheit verhinderten Bernstorffs britische Freunde jedoch die Veröffentlichung. Gegenüber Dänen und Niederländern warnte er vor den bevorstehenden Überfällen. Gemeinsam mit Adam von Trott bemühte sich Bernstorff bis Kriegsausbruch, den Auswahlausschuss der Rhodes-Stiftung vor den Eingriffen der Machthaber zu schützen, was nicht gelang. Gerade die britische Seite, dort besonders Lord Lothian, ein führender Kopf der Appeasement-Politik, unterschätzten das Risiko, das von NS-Deutschland ausging. Bernstorff hielt außerdem Kontakt zum im Luzerner Exil lebenden Altreichskanzler Joseph Wirth und verstand sich als Verbindungsmann zwischen diesem und dem Kreisauer Kreis. Unterstützung für Verfolgte Albrecht Graf von Bernstorff half aktiv Menschen, die vom nationalsozialistischen Regime verfolgt wurden – nicht nur durch seine Tätigkeit im Bankhaus A. E. Wassermann, sondern auch durch direkte Hilfe, etwa das Versteckthalten jüdischer Freunde. Gut dokumentiert ist seine Unterstützung für seinen langjährigen Freund Ernst Kantorowicz, den Bernstorff bei sich unterbrachte, seitdem er gehört hatte, es solle zur Reichspogromnacht kommen. Mit seiner Unterstützung gelang es Kantorowicz, noch 1938 Deutschland zu verlassen und in Amerika den Holocaust zu überleben. Auch versteckte er in seiner Berliner Wohnung und auf Stintenburg Jona von Ustinov (1892–1962) mit seiner Frau Nadja und seinem Sohn Peter. Darüber hinaus war Bernstorff behilflich, als die Liebermann-Villa, die einst Max Liebermann, dem verstorbenen Schwiegervater des mittlerweile emigrierten Kurt Riezler, gehörte, verkauft wurde. Außerdem bemühte er sich um Visa und Pässe für jüdische Deutsche, darunter Martha Liebermann – in diesem Fall letztlich erfolglos: Sie beging vor ihrer drohenden Deportation in das KZ Theresienstadt Suizid. Das gesamte Ausmaß der Hilfe Bernstorffs für die von den Nationalsozialisten Verfolgten ist bis heute nur bruchstückhaft erforscht und lässt sich daher nur unzureichend rekonstruieren. Haft im KZ Dachau Am 22. Mai 1940 kehrte Graf Bernstorff von einer Schweiz-Reise, auf der er sich auch mit Joseph Wirth getroffen hatte, nach Berlin zurück, wo er von der Gestapo in seiner Wohnung verhaftet wurde. Nachdem er zunächst in das Gefängnis Prinz-Albrecht-Straße gebracht worden war, erfolgte am 1. Juni 1940 seine Überstellung in das Konzentrationslager Dachau. Als offizielle Begründung für seine Inhaftierung werden in unterschiedlichen Quellen die bereits bei einer Vernehmung am 3. Mai erhobenen Vorwürfe zu angeblichen Devisenvergehen in Zusammenhang mit einer (ihn nicht persönlich betreffenden) Testamentsänderung, eine Anschuldigung zur Vornahme homosexueller Handlungen sowie die um einige Tage verspätete Rückkehr aus der Schweiz genannt. Gesichert ist, dass ihm nicht seine Verbindungen ins Ausland und damit verbundene Aktivitäten der vorangegangenen Monate, die man hätte als Landesverrat werten können, zum Vorwurf gemacht wurden. Bernstorff selbst war davon überzeugt, dass seine Verhaftung von seiner Schwägerin, Ingeborg Gräfin von Bernstorff (1904–1982), betrieben worden war. Sie war die Witwe seines jüngeren Bruders Heinrich (1891–1935). Aus der Ehe stammte ein im Jahr 1929 geborener Sohn – der einzige (offiziell anerkannte) männliche Nachkomme der Linie Bernstorff-Stintenburg. Als 1938 das Bodenrecht geändert wurde und das Familienfideikommiss nicht länger bestand, war auch der Verbleib des bis dahin diesem Neffen Bernstorffs im Erbfalle automatisch zufallenden Besitzes Stintenburg nicht länger geklärt. Bernstorffs Schwägerin fürchtete um das Erbe ihres Sohnes und fühlte sich in dieser Annahme durch die Nichtberücksichtigung ihres Sohnes im Testament einer im Januar 1940 verstorbenen Tante Bernstorffs (Helene von Hottinger) bestätigt. Sie warf Bernstorff in dem Fall vor, gegen ihren Sohn Einfluss genommen zu haben. Ingeborg Gräfin von Bernstorff, seit April 1933 Mitglied der NSDAP, hatte gute Kontakte zu führenden Nationalsozialisten. So war Heinrich Himmler ein ihr wohlwollender Bekannter. Eine besonders enge Beziehung verband sie mit dem SS-Offizier und Leiter der Adjutantur des Reichsführers der SS, Karl Wolff, den sie 1934 kennengelernt hatte und dessen Geliebte sie nach dem Tod ihres Mannes geworden war; 1937 hatte sie einen gemeinsamen Sohn zur Welt gebracht, 1943 sollte sie Wolff heiraten. Karl Wolff hatte bereits 1935 eine Akte zu Bernstorff angelegt, in der etliche Unterlagen zur Erbschaftsfrage enthalten waren. Spätestens seit 1939 unterstützte er Bernstorffs Schwägerin bei deren Versuchen, Stintenburg als Erbe ihres Sohnes zu sichern. Bernstorffs Verhaftung am 22. Mai 1940 war nach herrschender Meinung das Ergebnis von Denunziation und Anweisungen seitens Gräfin von Bernstorff und Wolff. Sofort nach seiner Verhaftung bemühten sich Bernstorffs Schwestern und die Gräfin Reventlow um dessen Freilassung. Ein zunächst eingeschalteter Rechtsanwalt war nicht erfolgreich. Bernstorffs Freund Hans-Detlof von Winterfeldt betraute daraufhin Carl Langbehn mit der Angelegenheit. Langbehn verhandelte in der Folgezeit mehrfach mit dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, mit Reinhard Heydrich und Wolff. Als deutlich wurde, dass der Abschluss eines Erbvertrages Bedingung für eine Freilassung war, überredete Langbehn den inhaftierten Bernstorff zur Unterschrift. Nachdem der sein Versprechen gab, den Widerstand gegen die eigene Schwägerin aufzugeben, erfolgte am Freitag, 27. September 1940 seine Freilassung und am Dienstag, 1. Oktober 1940 der Abschluss eines Erbvertrages, der seinen Neffen begünstigte. In seinem späteren Testament änderte Bernstorff zwar die Begünstigung des Neffen nicht mehr, bezeichnete den Vertrag von 1940 aber als „erpresst“, unterstellte den Besitz bis zum 30. Lebensjahr des Neffen (1959) der Testamentsvollstreckung und übertrug den Testamentsvollstreckern die Pflicht, Ingeborg Gräfin von Bernstorff bis zu ihrem Tode den Zutritt zu Stintenburg zu verwehren. 1964 wurde Karl Wolff in München wegen zahlreicher Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus angeklagt; in diesem Verfahren bestätigte Winterfeldt die Verwicklung der Schwägerin Bernstorffs und Wolffs bei Verhaftung und Freilassung Bernstorffs im Jahr 1940. Nur die Verjährung bewahrte Wolff in diesem Falle vor einer Anklage. Nach seiner Freilassung nahm Bernstorff die Tätigkeit in der Bank trotz seiner körperlichen und seelischen Veränderungen seit der KZ-Haft sofort wieder auf. Reisen ins Ausland waren jetzt nur noch mit Sondergenehmigungen möglich, da er seinen Pass hatte abgeben müssen. Bis zu seinem Tod reiste Bernstorff noch zweimal in die Schweiz. Ansonsten gab er seinen Bekannten Briefe an Freunde im Ausland mit und erhielt auf diesem Weg Informationen. Diese Verbindungen ins Ausland liefen im Kreis um Hanna Solf zusammen, zu dem Bernstorff gehörte. Bernstorff traf sich nun wieder mit Adam von Trott, der von den fortschreitenden Planungen für das Attentat auf Hitler berichtete. Über Richard Kuenzer verfügte der Solf-Kreis auch über Kontakte zu Carl Friedrich Goerdeler, der nach einem geglückten Umsturz als Reichskanzler eingesetzt worden wäre. Obwohl Bernstorff nun vorsichtiger sein musste, da er von der Gestapo beobachtet wurde, traf er sich weiterhin mit führenden Verschwörern vom 20. Juli: den Außenpolitiker Ulrich von Hassell, Otto Kiep, Mitarbeiter von Wilhelm Canaris, sowie Rudolf von Scheliha traf er regelmäßig. Auch seine humanitäre Hilfe für Verfolgte setzte er, sofern es ihm möglich war, fort. Erneute Haft und Ermordung Als Albrecht Graf von Bernstorff im Juli 1943 von seiner letzten Schweizreise zurückkehrte, wurde er von der Gestapo verhaftet und wie drei Jahre zuvor in das Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße verbracht. Für die Gründe seiner Verhaftung gibt es keine stichhaltigen Hinweise. Vermutet wird zunächst ein Zusammenhang mit den unter Folter erpressten Aussagen des Geistlichen Max Josef Metzger, der bei dem Versuch, ein pazifistisches Memorandum an den schwedischen Bischof von Uppsala zu überbringen, verhaftet worden war und der in den Verhören u. a. Richard Kuenzer schwer belastete. Kuenzers Verhaftung erfolgte am 5. Juli 1943, Bernstorffs 25 Tage später. Andere Gründe könnten die Ermittlungen gegen mehrere Mitarbeiter der Abwehr unter Canaris, wie Hans von Dohnanyi, oder die Tätigkeit Carl Langbehns darstellen. Auch die zunehmende Beobachtung des Solf-Kreises durch die Gestapo kommt in Betracht. Bernstorffs Biograph Hansen hält auch im Fall seiner zweiten Verhaftung als Grund die Fortsetzung des Streites mit Ingeborg Gräfin von Bernstorff für denkbar. Bernstorffs Verteidiger, Hellmuth Dix, habe diese Möglichkeit angedeutet. Auseinandersetzungen um Stintenburg hatte es zwischen den beiden auch nach Abschluss des Erbvertrages (1940) gegeben. Bernstorff selbst berichtete 1941 davon, dass seine Schwägerin nach wie vor in der Prinz-Albrecht-Straße (Sitz von Gestapo und SS) gegen ihn hetze. Auch während der Zeit im Ravensburger KZ äußerte Bernstorff, dass er verhaftet worden sei, weil Wolff sein Gut haben wolle. In der späteren Anklageschrift werden Bernstorff die Zugehörigkeit zum Solf-Kreis und seine dort geäußerten staatsfeindlichen Ansichten vorgeworfen. Die NS-Behörden hatten seit längerem gegen Hanna Solf ermittelt, und durch die Verhaftung Metzgers hatte sich der Verdacht deutlich erhärtet. Am 10. September 1943 wurde die Teegesellschaft um Hanna Solf aufgrund der Denunziation des Gestapo-Spitzels Paul Reckzeh aufgelöst. Da sich Bernstorff zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft befand, erscheint es unwahrscheinlich, dass er als einzelnes Mitglied vor diesem Datum durch den Spitzel denunziert und daher von den Behörden verhaftet worden wäre. Eine endgültige Klärung der Gründe für seine zweite Verhaftung am 30. Juli 1943 ist aufgrund der dünnen Quellenlage nicht möglich. Erst im September 1944 wurde die Vernehmung der sechs Angeklagten Hanna Solf, Richard Kuenzer, Albrecht Graf von Bernstorff, Friedrich Erxleben, Lagi Gräfin Ballestrem und Maximilian von Hagen abgeschlossen. Die Ermittlungen leitete Herbert Lange, der sich von den Verhören Informationen über den aktiven Widerstand erhoffte. Bernstorff und Kuenzer, die mehr als die anderen Angeklagten diese Kontakte pflegten, belasteten jedoch fast ausschließlich Personen, die sich ohnehin schon in Haft befanden oder bereits tot waren: Wilhelm Staehle, Otto Kiep, Nikolaus von Halem, Herbert Mumm von Schwarzenstein, Arthur Zarden sowie die eigenen Mitangeklagten. Am 15. November 1944 wurde schließlich gegen Bernstorff und die anderen Genannten vor dem Volksgerichtshof Anklage wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Hochverrats erhoben. Kuenzer warf die NS-Justiz zusätzlich Landesverrat vor. Bei der Schilderung des Sachverhalts entfallen nur 21 Zeilen auf Albrecht Graf von Bernstorff. Während bei den anderen Angeklagten konkrete Beschuldigungen angeführt wurden, blieben die Vorwürfe gegen Bernstorff allgemeiner Art. Die Hauptverhandlung setzte Roland Freisler für den 19. Januar 1945 an, verschob sie aber auf den 8. Februar. An diesem Datum war Freisler allerdings schon fünf Tage tot. Bis zu seiner Ermordung saß Bernstorff fast zwei Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen in NS-Gefängnissen und -Lagern ein. Am 7. Februar 1944 war er zusammen mit Helmuth James Graf von Moltke, dem Kopf des Kreisauer Kreises, Otto Kiep und Hilger van Scherpenberg in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingeliefert worden, wo man sie in einer Sonderabteilung für prominente politische Häftlinge gefangen hielt. In dem Raum neben Bernstorff befand sich Puppi Sarre aus dem Solf-Kreis, neben Sarre wiederum Moltke. Unterhalb Sarres Zelle befand sich Isa Vermehrens. Obwohl die Haftbedingungen zunächst besser schienen als in der Prinz-Albrecht-Straße, begann nun die grausamste Leidenszeit Bernstorffs: Bei Verhören folterten ihn die Nationalsozialisten, was ihn körperlich sehr schwächte und auch für Krankheiten anfällig machte. Auch verfiel er in Depressionen und hielt sich psychisch mit dem Wunschtraum, wenn alles vorbei sei, ein großes Fest auf Stintenburg auszurichten, am Leben. Isa Vermehren berichtete nach dem Krieg davon, dass Bernstorff einerseits wegen seiner Intelligenz, andererseits wegen seiner weichen Angreifbarkeit besonders schlecht behandelt worden sei. Am 19. Oktober 1944 verlegten die Nationalsozialisten Bernstorff und Lagi Gräfin Ballestrem in das Zellengefängnis Lehrter Straße in Berlin, wo zahlreiche Verschwörer des missglückten Attentats vom 20. Juli einsaßen und auf ihre Verhandlung vor dem Volksgerichtshof warten mussten. Albrecht Graf von Bernstorff kämpfte nun verzweifelt um sein Leben: Er wies seine Schwester an, von seinem Vermögen der Ortsgruppe der NSDAP eine Spende zu leisten, und seinen Geschäftspartner Joachim von Heinz bat er, bei Herbert Lange einen Bestechungsversuch zu unternehmen. Seine Schwestern sollten auch noch einmal versuchen, auf seine Schwägerin Ingeborg Gräfin Bernstorff Einfluss zu nehmen; sie könne jetzt frühere Fehler wiedergutmachen. Doch seit dem Dezember 1944, als die Haftbedingungen mit der klirrenden Kälte einen schrecklichen Höhepunkt erreichten, bereitete sich Bernstorff auf seinen bevorstehenden Tod vor: Er verfasste detaillierte Anweisungen an seine Testamentsvollstrecker. Neben der Kälte, die bei Bernstorff zu heftigem Rheuma und Erkältungskrankheiten führte, litten die Gefangenen unter den alliierten Bombenangriffen, denen sie schutzlos ausgeliefert waren. Als am 21. April 1945 einige Gefangene aus der Haft entlassen wurden, hofften Freunde und Verwandte, Bernstorff könnte auch bald freikommen. In der Nacht des 22. April kam eine Abteilung der SS in das Gefängnis und holte insgesamt sechzehn Gefangene aus dem Keller, wo sie wegen der Gefahr durch alliierte Bomber zusammengepfercht standen. Die Gruppe wurde auf ein nahe gelegenes Trümmergrundstück am Lehrter Bahnhof geführt und dort ohne Urteil erschossen. Unter den Ermordeten waren Richard Kuenzer und Wilhelm Staehle, Klaus Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher, Friedrich Justus Perels und Hans John. Die übrigen Gefangenen übernahmen nun schichtweise Posten für die Beobachtung der herankommenden Sowjets, zwischen 8 und 10 Uhr am 23. April übernahm Bernstorff diese Aufgabe. Da die Gefechtslinie dem Gefängnis immer näher rückte, schloss die Gestapo am 23. April das Gefangenenbuch und überstellte die Häftlinge offiziell der Justiz. Die Häftlinge kamen darauf zunächst wieder in ihre Zellen, nach mehreren Treffern der Roten Armee aber wieder in den Keller. In der Nacht vom 23. auf den 24. April erschien ein Sonderkommando des Reichssicherheitshauptamtes und nahm Ernst Schneppenhorst, Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg und Albrecht Graf von Bernstorff mit. Schneppenhorst, Guttenberg und Bernstorff wurden nie wieder lebend gesehen. Es besteht der Verdacht, dass der Erschießungsbefehl für ausgerechnet diese drei Häftlinge von Heinrich Himmler persönlich ausging. Höchstwahrscheinlich sind sie von SS-Angehörigen südlich des Gefängnisses im Bereich der Lehrter Straße erschossen worden. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Die anderen Häftlinge des Zellengefängnisses Lehrter Straße wurden am Tag darauf, dem 25. April gegen 18 Uhr entlassen. Erinnerung In der Bundesrepublik erfuhren das Leben und Werk Albrecht Graf von Bernstorffs bald nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes eine Würdigung. 1952 gab Elly Gräfin Reventlow eine Gedenkschrift unter dem Titel Albrecht Bernstorff zum Gedächtnis heraus, 1962 folgte Kurt von Stutterheim mit Die Majestät des Gewissens. In Memoriam Albrecht Bernstorff, mit einem Vorwort von Theodor Heuss. Bereits bei einer Feier zum zehnten Jahrestag des gescheiterten 20. Juli-Attentats im Bonner Stadttheater am 21. Juli 1954 benannte der dort neben dem Bundeskanzler auftretende Redner Eugen Gerstenmaier Bernstorff als einen von zehn hingerichteten Mitgliedern des Widerstands im Auswärtigen Amt. Stintenburg auf der Insel im Schaalsee, das seit Bernstorffs zweiter Festnahme unter der Verwaltung von NS-Beamten stand, befand sich direkt an der Grenze der Besatzungszonen, war jedoch seit dem Barber-Ljaschtschenko-Abkommen ab November 1945 Teil der sowjetischen Besatzungszone. So kam das Gut zur DDR, wo die Leistung Bernstorffs als liberaler Adliger und Demokrat in der Opposition gegen Hitler nicht mit der antifaschistischen Staatsdoktrin übereinstimmte und daher weitgehend unbekannt blieb. Die Familie Bernstorff lebte in Westdeutschland, abgeschnitten von ihrem einstigen Besitz Stintenburg. Nach der Wende kam Stintenburg wieder in den Besitz der Familie. 1989 eröffnete zudem die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock ihre Dauerausstellung, in der Bernstorffs gedacht wird. 1992 fand in London eine Gedenkveranstaltung der deutschen Botschaft für Albrecht Graf von Bernstorff statt. Botschafter Hermann Freiherr von Richthofen sowie Vertreter des Deutschen Historischen Instituts und der Universität Erlangen würdigten in ihren Reden die Verdienste Bernstorffs um die deutsch-britischen Beziehungen. Ihre Beiträge wurden anlässlich Bernstorffs 50. Todestages 1995 als Memorial Lecture veröffentlicht. In der Deutschen Botschaft London erinnert eine Gedenktafel an ihn. 1996 erschien mit Knut Hansens Dissertation Albrecht Graf von Bernstorff: Diplomat und Bankier zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus die erste Bernstorff-Biografie. Im Jahr 2000 errichtete das Auswärtige Amt – nun wieder in Berlin – eine Gedenktafel für die Angehörigen des diplomatischen Dienstes, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus ihr Leben ließen. Auch Albrecht Graf von Bernstorff wird auf diese Weise vom Auswärtigen Amt geehrt. Anlässlich des 50. Jahrestages der Ermordung Bernstorffs wurde vor Gut Stintenburg ein Gedenkkreuz für ihn errichtet. Bei der dortigen Kranzniederlegung des Auswärtigen Amtes und des Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern war auch Marion Gräfin Dönhoff anwesend. 2004 fand anlässlich des 60. Jahrestages des Attentats vom 20. Juli auf der Stintenburg die von der Robert Bosch Stiftung ermöglichte Ausstellung der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern statt, die auch an Bernstorff erinnerte. In diesem Zusammenhang wurden Gedenkkonzerte in der Lassahner Pfarrkirche, ehemals Patronatskirche der Familie, veranstaltet. Dort befindet sich eine von Eric M. Warburg gestiftete Gedenktafel für Bernstorff. Trotz der zahlreichen Würdigungen und der allgemeinen Anerkennung seiner Lebensleistung sind bis heute weder eine Straße oder ein Platz noch eine Schule nach Albrecht Graf von Bernstorff benannt. Am 5. November 2021 wurde vor dem ehemaligen deutschen Außenministerium, Berlin-Mitte, Wilhelmstraße 92, ein Stolperstein verlegt. Literatur Werner Graf von Bernstorff: Die Herren und Grafen v. Bernstorff. Eine Familiengeschichte. Eigenverlag, Celle 1982, S. 339–351. Rainer Brunst: Drei Leuchtspuren in der Geschichte Deutschlands. Rhombos, Berlin 2004, ISBN 3-937231-32-3. Enthält biographische Porträts zu Albrecht von Bernstorff, Otto von Bismarck und Gustav Stresemann. Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000. Marion Gräfin Dönhoff: Um der Ehre Willen. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli Siedler, Berlin 1994, ISBN 3-88680-532-8. (Enthält auf den Seiten 59 bis 69 ein Kapitel zu Bernstorff s. auch der Abschnitt zu dem Buch im Lemma Dönhoff.) Reinhard R. Doerries: Individualist und Diplomat. Albrecht Graf von Bernstorff. In: Jan Erik Schulte, Michael Wala (Hrsg.): Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler. Siedler, München 2013, ISBN 978-3-8275-0015-1, S. 35–49. Knut Hansen: Albrecht Graf von Bernstorff. Diplomat und Bankier zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Peter Lang, Frankfurt 1996, ISBN 3-631-49148-4. Eckardt Opitz: Albrecht Graf von Bernstorff. Fundamentalopposition gegen Hitler und den Nationalsozialismus. In: Ernst Willi Hansen u. a. (Hrsg.): Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit. Beiträge zur neueren Geschichte Deutschlands und Frankreichs. Festschrift für Klaus-Jürgen Müller. Oldenbourg, München 1995, ISBN 3-486-56063-8 (=Beiträge zur Militärgeschichte, 40), S. 385–401. Elly Gräfin Reventlow (Hrsg.): Albrecht Bernstorff zum Gedächtnis. Eigenverlag, Düsseldorf 1952 Kurt von Stutterheim: Die Majestät des Gewissens. In memoriam Albrecht Bernstorff. Vorwort Theodor Heuss. Christians, Hamburg 1962 Antje Vollmer, Lars-Broder Keil (Hgg.): Der Nationalsozialismus richtet sich gegen alles, wofür ich eingetreten bin in: Stauffenbergs Gefährten. Das Schicksal der unbekannten Verschwörer. Hanser, Berlin 2013 ISBN 978-3-446-24156-5; TB dtv, München 2015, ISBN 3-423-34859-3; Softcover: Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe 1347, Bonn 2013 Uwe Wieben: Albrecht von Bernstorff (1890–1945), in: Persönlichkeiten zwischen Elbe und Schaalsee. cw-Verlagsgruppe Schwerin, 2002 ISBN 3-933781-32-9, S. 94–105. Johannes Zechner: Wege in den Widerstand. Der 20. Juli 1944 in Mecklenburg-Vorpommern, in: Mecklenburgia Sacra. Jahrbuch für Mecklenburgische Kirchengeschichte, Jg. 7, 2004, S. 119–133. Weblinks Widerstand traditioneller Eliten. Bundeszentrale für politische Bildung: Informationen zur politischen Bildung, Heft 243 Einzelnachweise Politiker (Deutsches Reich) Person (Attentat vom 20. Juli 1944) Häftling im KZ Dachau Hingerichtete Person in Berlin Hingerichtete Person (NS-Opfer) Person des Solf-Kreises Deutscher Diplomat Albrecht Albrecht Deutscher Geboren 1890 Gestorben 1945 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/David%20Hansemann
David Hansemann
David Justus Ludwig Hansemann (* 12. Juli 1790 in Finkenwerder bei Hamburg; † 4. August 1864 in Schlangenbad) war Kaufmann und Bankier. Ausgehend vom Wollhandel förderte er den Eisenbahnbau und gründete Versicherungen und Banken, darunter mit der Disconto-Gesellschaft eines der wichtigsten deutschen Kreditinstitute im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hansemann war einer der bekanntesten liberalen Politiker in der preußischen Rheinprovinz und initiierte unter anderem die Heppenheimer Tagung. 1848 war er als Finanzminister einer der führenden Politiker der preußischen Märzregierungen. Familie, Ausbildung und Aufstieg David Hansemann war das jüngste von elf Kindern des evangelischen Pfarrers Eberhard Ludwig Hansemann, seine Mutter war dessen zweite Frau Amalie. Der Geistliche und Entomologe Johann Wilhelm Adolf Hansemann war sein älterer Bruder. Wahrscheinlich weil die Eltern nicht allen Söhnen ein Studium finanzieren konnten, begann er 1805 eine kaufmännische Lehre im Handelsgeschäft von Ferdinand und Johann Daniel Schwenger in Rheda. Ferdinand Schwenger wurde unter der französischen Herrschaft Maire des Ortes und nutzte den jungen Hansemann als Sekretär, der so einen ersten Einblick in Politik und Verwaltungstätigkeit bekam. Fünf Jahre später zog Hansemann ins Rheinland um und arbeitete als Vertreter für Tuchfabrikanten in Monschau und Elberfeld (heute zu Wuppertal), bis er 1817 als Wollhändler in Aachen mit von der Familie geliehenem Startkapital ein eigenes Unternehmen gründete. Sein Wollkontor richtete er zusammen mit dem Tuchfabrikanten Joseph van Gülpen im Haus Großer Klüppel in der Aldegundisstraße, der heutigen Ursulinerstraße, ein. Als Wollhändler brachte es Hansemann innerhalb weniger Jahre zu Wohlstand, bereits 1822 verfügte er über ein Vermögen von 100.000 französischen Francs. Dieser schnelle Aufstieg ermöglichte es ihm, 1821 Fanny Fremerey (1801–1876) zu heiraten, die aus einer in Eupen ansässigen, ebenfalls im Wollhandel tätigen wohlhabenden französischen Hugenottenfamilie stammte. Das Ehepaar hatte vier Töchter und zwei Söhne, darunter: Adolph (* 27. Juli 1826; † 9. Dezember 1903), Bankier, ab 1872 von Hansemann ⚭ 1860 Ottilie von Kusserow (1840–1919) Gustav (* 22. Juni 1829; † 1902) ab 1901 von Hansemann ⚭ 1855 Mathilde Vorländer (1827–1880) (Eltern von David Paul von Hansemann) Louise (* 27. Juni 1823; † 10. Januar 1909) ⚭ Jacob Marx-Hansemann (1812–1885), Bonner Großkaufmann, Versicherungsdirektor Sophie (1828–1892) ⚭ Hermann Vorländer, (1829–1915) Oberlehrer und Fabrikbesitzer in Eupen (Eltern von Daniel Vorländer) In den folgenden Jahren gründete Hansemann verschiedene Unternehmen in Aachen, darunter 1824 die gemeinnützige Aachener Feuer-Versicherungs-Gesellschaft. Die Hälfte des jährlichen Gewinns der Versicherung wurde durch den von ihm 1834 gegründeten Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit für soziale Zwecke verwendet. Unterstützt wurden über vereinseigene Spar- und Prämienkassen vor allem Kindergärten und Schulen, Selbsthilfeorganisationen für Bedürftige sowie die Gründung von Waisenhäusern und der soziale Wohnungsbau. Diese Einrichtungen gehörten zu den ersten konkreten Umsetzungen bürgerlicher Sozialreformgedanken, ihre Wirkung blieb aber auf die Region Aachen beschränkt. In Aachen gehörte er 1836 zu der Stammtischrunde um den Aachener Novellisten Carl Borromäus Cünzer in der Kaiserlichen Krone. Hansemann als Politiker Regionale Wirtschaftspolitik als Ausgangspunkt 1825 wurde Hansemann Mitglied des Aachener Handelsgerichts. Zwei Jahre später folgte die Aufnahme in die Handelskammer, und 1828 wurde er Mitglied des Aachener Stadtrats. Er engagierte sich, auch durch mehrere Denkschriften, stark für den Eisenbahnbau im Rheinland, wodurch er schon früh in Kontakt mit seinen späteren politischen Weggefährten Gustav Mevissen und Ludolf Camphausen kam. Darüber hinaus war er Gesellschafter sowie von 1837 bis 1844 Vizepräsident der Rheinischen Eisenbahngesellschaft. Nachdem er 1836 trotz seiner protestantischen Konfession zum Präsidenten der Aachener Handelskammer gewählt worden war, war er maßgeblich daran beteiligt, dass die Eisenbahnstrecke von Köln nach Antwerpen, damals auch „Eiserner Rhein“ genannt, über Aachen trassiert wurde. Daneben war er an der Gründung weiterer Eisenbahngesellschaften wie der Strecke zwischen Köln und Minden beteiligt. Ein Gutachten Hansemanns gab hier den Ausschlag, die Strecke zwischen Köln und Dortmund über Düsseldorf, Duisburg und das heutige Ruhrgebiet statt durchs Bergische Land und das Wuppertal zu führen. Aber auch die Bergisch-Märkische Eisenbahn-Gesellschaft, die sich später zur Verwirklichung der zweiten Linienführung bildete, konnte sich auf ihn berufen. Hansemann hatte diese Trasse als volkswirtschaftlich bedeutender angesehen, aber der anderen aus Kostengründen den Vorzug gegeben. Hansemann, der sich sonst fast immer für privatwirtschaftliche Lösungen aussprach, befürwortete den staatlichen Bau von Eisenbahnen, da ihr indirekter volkswirtschaftlicher Nutzen enorm sei. Den Betrieb der Eisenbahn könne der Staat dabei gegebenenfalls an ein Unternehmen weitergeben. Da der preußische Staat aber in den 1830er-Jahren noch kein Interesse an Staatsbahnen zeigte, behandelte Hansemann in seinen Schriften auch andere Möglichkeiten und machte Verbesserungsvorschläge für die damals gängigen Betriebsmodelle. Trotz seiner Kritik an den ständischen Vertretungen kandidierte er schon 1832 als stellvertretender Abgeordneter für Aachen im Provinziallandtag der Rheinprovinz. Seine Wahl wurde aber nicht anerkannt, da er die Voraussetzung zehnjährigen Grundbesitzes in Aachen nicht erfüllte. Auch eine mögliche Ausnahmegenehmigung wurde nicht erteilt. Als er 1839 erneut als stellvertretender Abgeordneter zum Provinziallandtag kandidierte, verlor er gegen den Vertreter des Katholizismus, Jakob Springsfeld. Hansemann, der privat einem gemäßigten Deismus mit hohen sittlichen Ansprüchen anhing, hatte schon vorher wegen seiner protestantischen Konfession im katholischen Aachen Widerstände gespürt. Nun trat er enttäuscht als Präsident der Handelskammer zurück und auch aus der Kammer aus, da er das Gefühl hatte, dass ihm seine Mitbürger nicht das nötige Vertrauen entgegenbrachten. Erst 1843, als ihm die Wahl in den Landtag schließlich gelungen war, trat er wieder in die Handelskammer ein und wurde erneut zum Präsidenten gewählt. Vordenker des rheinischen Liberalismus Ab den 1830er Jahren engagierte sich Hansemann zunehmend auch in der überregionalen Politik. Seine wesentlichen Themen waren hierbei vor allem die Wirtschaftsförderung, der Ausbau der Infrastruktur, die Bekämpfung der Armut und die bürgerlichen Mitspracherechte am Staatswesen. Seine Denkschrift Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830 an Friedrich Wilhelm III. gilt als eines der wichtigsten Dokumente des rheinischen Liberalismus. Schon früh trat er als selbstbewusster Kritiker des Feudalsystems auf und kämpfte für die Rechte des Bürgertums sowie gegen die in seinen Augen überkommenen Gesellschaftsstrukturen. Die Forderung nach größerer Mitbestimmung des Bürgertums begründete Hansemann hierbei insbesondere mit dem Ungleichgewicht zwischen politischem Mitspracherecht und dem Anteil an der Finanzierung des Staates. Auch mit Blick auf die Julirevolution mahnte er umfassende verfassungs- und gesellschaftspolitische Reformen an, um der Gefahr revolutionärer Umbrüche beizeiten zu begegnen. Er hielt revolutionäre Entwicklungen auch in Preußen für wahrscheinlich, wenn es nicht zu einem „aufrichtig konstitutionellen Regierungssystem“ komme. Nur ein echter Anteil an den Staatsgeschäften könnten ein festes Band zwischen Staat und Bürgertum knüpfen. Hansemann setzte dabei wie die Frühliberalen insgesamt nicht auf eine gleichberechtigte Beteiligung aller Schichten, sondern trat für den Vorrang des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums ein. Das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum sollte die „Schwerkraft des Staates“ bilden. Die Bürger hätten wie die Grundbesitzer den „Beruf zum Herrschen“. Daher plädierte Hansemann für ein starkes Parlament, aber auch für ein ausgeprägtes Zensuswahlrecht. Waren seine in Aachen durchgeführten Ansätze zu Beginn vor allem moralisch-philanthropisch und volkswirtschaftlich motiviert gewesen, so warnte er nach 1830 auch vor revolutionären Bewegungen, wenn die soziale Frage nicht angegangen werde. Bestärkt wurde er hierbei durch die Aachener Unruhen von 1830, nachdem er bereits 1821 angeblich die Zerstörung des Eupener Hauses seiner Schwiegereltern durch protestierende Weber erlebt hatte. Tatsächlich wurde nicht das Haus der Familie Fremerey, sondern in derselben Straße eine neuartige Schermaschine zerstört. Wie schon in den Aachener Vereinen zum Ausdruck gekommen war, sah er in der Hilfe zur Selbsthilfe und der Erziehung der unteren Volksschichten zu Arbeitsamkeit und Sparsamkeit sowie in allgemeiner Wirtschaftsförderung das beste sozialpolitische Mittel. Anders als jüngere Vertreter des rheinischen Liberalismus, etwa Mevissen, stand er dabei einer staatlichen Sozialpolitik äußerst skeptisch gegenüber und sah die Behebung wirtschaftlicher Not als Aufgabe der Wirtschaft selbst an. Sein Fernziel war es, die besitzlosen Arbeiter und kleinen Handwerker über Eigentumsbildung im Bürgertum aufgehen zu lassen. Das besondere Problem der abhängigen Fabrikarbeiterschaft infolge der Industrialisierung wurde aber von ihm noch nicht hinreichend erkannt. Nach der Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1840 teilte Hansemann die Hoffnung der Liberalen auf Reformen in ihrem Sinn. Noch im selben Jahr begann Hansemann eine neue Denkschrift über Preußens Lage und Politik zu schreiben, die ausdrücklich für den neuen König bestimmt war. Darin mahnte er noch einmal eine Reform des bestehenden Beamtenregiments, aber vor allem eine Gesamtrepräsentation für den preußischen Staat anstelle der ständischen Provinziallandtage an. Allerdings wurde diese Schrift nie vollendet und auch nicht dem König übersandt, da bald deutlich wurde, dass auch der neue König keine weitreichenden Reformen durchführen würde. Verfassungsdiskussion im Vormärz 1843 ermunterte ihn der langjährige Aachener Abgeordnete Johann Peter Joseph Monheim, wiederum als sein Stellvertreter im Provinziallandtag zu kandidieren, was nun auch glückte. Monheim nahm das Mandat aber selbst wahr. Erst 1845, als sich das Wahlergebnis wiederholte, räumte Monheim seinen Platz für Hansemann. Im Parlament fiel Hansemann vor allem durch sein selbstsicheres, mitunter fast belehrendes Auftreten, außerordentlich gute Vorbereitung und seine geschickte Handhabung der Geschäftsordnung auf. Nicht nur mit einer Vielzahl eigener Anträge, sondern auch mit Kompromissvorschlägen und Zusatzanträgen zu denen anderer konnte er die Verhandlungen oft in seinem Sinne beeinflussen. Rudolf Haym beschrieb ihn als flexiblen „praktische[n] Mann“ in Kontrast zum „strengere[n] und edlere[n]“ Auerswald und den „feinere[n] und geistigere[n]“ Camphausen und Beckerath. Hansemann trat im Landtag für die Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit und die Abschaffung der Adelsprivilegien ein. Vor allem aber stellte er den formellen Antrag, eine deutsche Nationalversammlung im Rahmen des Zollvereins zu schaffen. Er empfand die preußische Bürokratie als wirtschaftsfeindlich. Aus diesem Grund ging Hansemann davon aus, die verantwortlichen Beamten seien für eine angemessene Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht geeignet, die den gewerblichen Interessen aller 28 Millionen Einwohner gerecht werden müsse. Aus diesem Grund sei in dieser Frage neben dem Beamtenregiment die Beteiligung des Volkes nötig. Allerdings war sein Vorschlag insofern noch maßvoll, als er nicht für eine Wahl der Abgeordneten eintrat, sondern vorschlug, dass die Landtage bzw. Provinziallandtage zum Parlament beim Zollverein Vertreter entsenden sollten. 1847 wurde Hansemann Mitglied des Preußischen Vereinigten Landtages. Diese Versammlung war nach dem Staatsschuldengesetz von 1820 nötig geworden, damit der preußische Staat eine Anleihe für den Bau der Preußischen Ostbahn, einer Eisenbahn von Berlin nach Königsberg, begeben konnte. Obwohl der Vereinigte Landtag von der preußischen Regierung bewusst nur als Ständeversammlung und nicht als frei gewähltes Parlament konzipiert war, wurde das Zusammentreten des Vereinigten Landtags von liberalen Politikern aus ganz Deutschland mit Spannung erwartet. Süddeutsche Liberale wie Adam von Itzstein erwarteten insbesondere von Hansemann, dass die Beschlüsse des Vereinigten Landtags die politische Situation in Deutschland verändern würden. Im Vereinigten Landtag wurden dann auch die rheinischen Liberalen um Hansemann und Mevissen zu den Wortführern, die persönliche Freiheitsrechte, Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Richter einforderten. Ebenso wiesen die Liberalen die Kompetenz des Vereinigten Landtages für Finanzfragen des preußischen Staates zurück, da dafür eine wirkliche Nationalrepräsentation nötig sei. Damit lag die Verfassungsfrage auf gesamtstaatlicher Ebene auf dem Tisch. Mit Blick auf den ursprünglichen Grund der Einberufung äußerte Hansemann im Landtag: „Bei Geldfragen hört die Gemütlichkeit auf“ – der Ausspruch wurde schnell ein geflügeltes Wort. Hansemann griff Finanzminister Franz von Duesberg scharf an, weil dieser bereits in den Jahren zuvor ohne die nötige Zustimmung der Stände Schulden aufgenommen hatte. Der Minister konnte die Kritik nicht ausreichend entkräften. Die Bloßstellung der Regierung führte dazu, dass in der politisch interessierten Öffentlichkeit die Forderung starken Zulauf erhielt, die staatliche Finanzpolitik durch eine parlamentarische Körperschaft zu kontrollieren. Ebenfalls 1847 war Hansemann wesentlich an der Vernetzung liberaler Politiker im Deutschen Bund beteiligt. Er unterstützte das Projekt der deutschlandweit erscheinenden liberalen Deutschen Zeitung nicht nur finanziell und durch die Übernahme eines Aufsichtsratsmandats, sondern insbesondere durch seine Kontakte zu anderen rheinischen Politikern wie Hermann von Beckerath und Gustav Mevissen. Im Rahmen einer Reise nach Baden, wo er sich mit den südwestdeutschen Liberalen um Gervinus traf, lancierte er die Idee, dass sich die liberalen Kammerabgeordneten in den deutschen Ländern untereinander abstimmen sollten, um mit gleichgerichteten Anträgen für Bürgerrechte und nationale Einheit den Druck auf die konservativen Regierungen des Deutschen Bundes zu erhöhen. Zusammen mit Friedrich Daniel Bassermann und Karl Mathy war Hansemann anschließend Organisator der Heppenheimer Tagung vom 10. Oktober 1847, die diese Ziele umsetzen sollte. Das dort beschlossene politische Programm, das die Einigung Deutschlands durch den Ausbau des Deutschen Zollvereins zu einer politischen Institution mit Exekutive und Zollparlament vorsah, wurde maßgeblich von Hansemann formuliert. Dies bedeutete eine gewisse Änderung des liberalen Forderungskatalogs, da die vorherrschende liberale Vorstellung zu diesem Zeitpunkt eine parlamentarische Vertretung beim Deutschen Bund war. Hansemanns Argumentation zur Förderung des Zollvereins basierte dabei zum einen auf der Harmonisierung der Gesetze innerhalb des Zollvereins, die ein zentrales Gesetzgebungsorgan nach sich ziehen müsse, zum anderen auf der außenpolitischen Sogwirkung, die der Zollverein als gesamtdeutsche Vertragspartei der Handelspolitik bilde. Darüber hinaus erwartete er von einem Bedeutungszuwachs des Zollvereins eine Stärkung der politischen Position der Gewerbetreibenden. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. schmähte Hansemann daraufhin in einem Brief an seinen Londoner Gesandten Bunsen als Teil einer „Sekte, welche durch Robespierres en herbes, wie Hecker, Bassermann, Gagern, die Heppenheimer und Mannheimer Demagogen, wie unser Reichenbach, Schlöffel, Hansemann u. die 13 Juden aus Königsberg ein Netz bildet, das mit fast telegraphischer Geschwindigkeit nach den empfangenen mots d’ordre operiert.“ Politik während der Revolution von 1848 Wie viele liberale Politiker des Vormärz sah Hansemann den Ausbruch der Revolution von 1848 mit gemischten Gefühlen. Dabei spielte die Furcht vor sozialen Unruhen eine wichtige Rolle. Diese könnten sich auch langfristig negativ für eine Reform im liberalen Sinn auswirken. Am 27. Februar meinte er mit Blick auf die Februarrevolution in Paris, „dass ein grosser Teil der Besitzenden aus den Pariser Ereignissen nicht die Lehre ziehen werde, dass man zeitig nachgeben müsse, sondern sich vielmehr dem Absolutismus überantworte.“ Unmittelbar nach dem Beginn der Revolution nahm Hansemann am 5. März 1848 an der Heidelberger Versammlung, einem Treffen von meist süd- und westdeutschen Liberalen und Demokraten, teil. Von Bedeutung war dieses Treffen, weil es mit der Einsetzung eines Siebenerausschusses die Einberufung des Vorparlaments und letztlich der Frankfurter Nationalversammlung einleitete. Allerdings waren in vielen Ländern wichtige Entscheidungen bereits gefallen. So hatten die Regierungen die Märzforderungen bereits akzeptiert und die Monarchen begannen in der folgenden Zeit die alten konservativen Regierungen durch sogenannte Märzministerien, die meist von gemäßigten Liberalen geführt wurden, zu ersetzen. In Preußen wurde am 29. März 1848 der Kölner Privatbankier Ludolf Camphausen zum Ministerpräsidenten ernannt. Hansemann wurde in diesem Kabinett Finanzminister. Die verbreitete Bezeichnung Kabinett Camphausen-Hansemann macht deutlich, dass Hansemann in der Regierung eine einflussreiche Stellung einnahm. Diese ging dabei weit über seinen Kompetenzbereich hinaus. So waren von ihm wesentliche Impulse für den von der Regierung vorgelegten Verfassungsentwurf ausgegangen. Ein zentrales Anliegen war ihm die Reform des Verwaltungsapparats. Bereits im Vormärz hatte er sich über „das Einmischen der Staatsverwaltung in zu viele Gegenstände“ beschwert. Daher war Hansemann die eigentliche treibende Reformkraft im Kabinett Camphausen, die auf einen großangelegten Austausch von Spitzenbeamten drängte. Außerdem machte er relativ weitgehende Vorschläge zu einer Heeresreform. Hansemann musste dabei nicht nur mit dem hinhaltenden Widerstand des Königs und der Beamten rechnen, sondern auch Camphausen stand diesen Vorhaben weitgehend ablehnend gegenüber. Nur in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich konnte Hansemann Veränderungen durchsetzen. Dazu gehörte eine Reorganisation des Bankwesens und die Zulassung von Darlehenskassen. Kurz nach seiner Berufung setzte Hansemann mittels einer Rücktrittsdrohung ein anleihefinanziertes Sofortprogramm in Höhe von 25 Mio. Talern durch, um den Kollaps der durch die Revolution zum Stillstand gekommenen Wirtschaft zu verhindern. Dieses Geld wurde insbesondere zur Verbesserung der Infrastruktur, vor allem zum Ausbau weiterer Eisenbahnlinien eingesetzt. Darüber hinaus liberalisierte Hansemann die gesetzlichen Bestimmungen für den Bergbau. Mit weiteren Mitteln aus dem Staatshaushalt gründete Hansemann Darlehenskassen und unterstützte mit Bürgschaften direkt vom Zusammenbruch bedrohte Unternehmen. Hierunter fiel auch die Rettung der von der Zahlungsunfähigkeit bedrohten Privatbank von Abraham Schaaffhausen in Köln. Sie wurde von Hansemann durch Gewährung von Staatsgarantien unterstützt sowie durch die Erlaubnis, die Bank zukünftig als Aktiengesellschaft zu organisieren. Damit war das Kreditinstitut die erste private Bank in dieser Rechtsform und stellte so einen wichtigen Präzedenzfall im deutschen Bankwesen dar. Aus der vormaligen Privatbank entstand der Schaaffhausen’sche Bankverein unter Leitung von Gustav Mevissen als Staatskommissar. Den Posten als Finanzminister behielt Hansemann auch nach dem Rücktritt von Camphausen am 20. Juni 1848. Hansemann selbst wurde mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt und blieb unter dem auf Camphausen folgenden Ministerpräsidenten Rudolf von Auerswald bei seinem Ressort. Auch im Kabinett Auerswald-Hansemann bestimmte Hansemann weitgehend die politische Linie. Das Kabinett legte der preußischen Nationalversammlung nunmehr den Verfassungsentwurf der Regierung vor. Dieser orientierte sich an der belgischen Verfassung von 1831, die von den rheinischen Liberalen bereits seit langem als Vorbild angesehen wurde. Allerdings scheiterte die Verabschiedung am Widerstand der Nationalversammlung. Als Folge berief die Versammlung einen eigenen Verfassungsausschuss, der schließlich die sogenannte Charte Waldeck erarbeitete. Die von Hansemann wesentlich mitgeprägte Verfassungspolitik war somit bereits Mitte Juni 1848 gescheitert. Als Finanzminister bereitete Hansemann eine allgemeine Einkommensteuer als Ersatz für die Klassensteuer und die Mahl- und Schlachtsteuer vor. Um die angeschlagene Lage der Staatsfinanzen zu verbessern, sah er Steuererhöhungen vor, die sofort auf Widerstand stießen. Mit dem Vorschlag, Grundsteuer-Befreiungen zu streichen, machte er sich die Gutsbesitzer und Landadligen endgültig zu Feinden, zumal das Kabinett in seinen Plänen zur Reform der Agrar- und Gemeindeverfassung auch eine ganze Reihe von feudalen Privilegien abschaffen wollte. Die konservative Hofkamarilla um Leopold von Gerlach und die Kreuzzeitung schossen sich auf Hansemann ein und verbreiteten Gerüchte und Verleumdungen – etwa die, dass er nach seinem geschäftlichen Verlust sein Ministergehalt für ein Jahr im Voraus gefordert hätte. Ein Leitartikel „übersetzte“ das Regierungsprogramm „aus dem Hansemannischen ins Deutsche“: „Wir werden in der Plünderung der Gutsherren fortfahren, um uns und der Revolution, mit der wir identisch sind, die Sympathien der unteren Schichten der Bevölkerung zu erkaufen, damit auch diese sehen, daß die Märzrevolution ein einträgliches Geschäft ist, wenn man sie nur auszubeuten versteht.“ Auf der anderen Seite gingen die Reformpläne Demokraten und Linken lange nicht weit genug. Am 7. September 1848 nahm die Nationalversammlung den Antrag der Linken an, den „Antrag Stein“ vom August umzusetzen. Hansemann hatte vergeblich dagegen gesprochen und sah wie seine Ministerkollegen in der Annahme einen Vertrauensentzug. Am 8. September trat das Kabinett Auerswald zurück. Hansemann schrieb später rückblickend: Ein Ministerium, das auf der einen Seite der parlamentarischen Stütze entbehrt und auf der anderen als revolutionär angeschwärzt wird, hat nicht die […] erforderliche Autorität. Anschließend nahm er das ihm vom preußischen König angetragene Amt als Präsident der halbstaatlichen Preußischen Bank an. Politisches Wirken nach der Ministerzeit Auch nach seinem Rücktritt vom Ministeramt blieb Hansemann zunächst politisch engagiert und äußerte sich in mehreren Schriften und in Korrespondenz mit Regierungskreisen besonders zur Verfassungsfrage. Dabei brachten ihm seine Änderungsvorschläge zur Preußischen Verfassung den Ruf ein, inzwischen zu den Konservativen zu gehören. Hanseman selbst betonte aber, seine Forderungen aus dem Vormärz – etwa die konstitutionelle Monarchie und das Zensuswahlrecht – durchaus beibehalten zu haben, wohingegen viele ehemalige Gesinnungsgenossen nach links, also zu den Demokraten gerückt seien. Nur in der Deutschen Frage änderte er seine Meinung: Schon früh sah er die Erfurter Union als gescheitert an und geriet so in Gegensatz zur rechtsliberalen „Gothaer Partei“ und hielt auf absehbare Zeit nur noch eine Großdeutsche Lösung für möglich. Zu seiner Enttäuschung konnte Hansemann 1849 bei der Wahl zur zweiten Kammer des Preußischen Landtags, dem späteren Abgeordnetenhaus, kein Mandat erringen. Stattdessen wurde er wie auch Camphausen und Auerswald in die erste Kammer, das spätere Herrenhaus gewählt, wo er sich allerdings deplatziert fühlte: „Ich in der Pairskammer und Graf Arnim-Boitzenburg in der Volkskammer!! Ist das nicht komisch und recht bezeichnend für die Zustände von 1849?“ Gründer der Disconto-Gesellschaft Hansemann hatte bereits früher eine Reihe von Ideen zur Reform des Banksektors entwickelt, konnte sie aber als Chef der Preußischen Bank in der zunächst noch unsicheren politischen Lage nicht umsetzen. Ab 1850 versuchten dann reaktionäre Kräfte in und außerhalb der Bank, ihn absetzen zu lassen. Schließlich verlor er im April 1851 im Zuge einer umfassenden Säuberung der Beamtenschaft und des öffentlichen Sektors von Liberalen und Demokraten seine Position als Präsident der Preußischen Bank. Im folgenden Jahr wurde er wieder in die erste Kammer des Landtags gewählt, nahm das Mandat aber nicht an und zog sich angesichts der beginnenden Reaktionsära aus der Politik zurück. Aufgrund seiner Beanspruchung durch politische Tätigkeiten hatten seine Handelsgeschäfte erheblich gelitten, seine Wollhandlung war 1848 gar in Konkurs gegangen. Die eingetretenen Verluste waren für Hansemann allerdings lediglich konsequent: „[M]it der Überzeugung, daß, wenn ich Zeit und geistige Anstrengung ganz den Geschäften widmete, mein Vermögen wahrscheinlich jetzt das doppelte betragen würde, arbeite ich viel in allgemeinen Angelegenheiten. [… Ich] erachte Vermögen nur als Mittel, nicht Zweck, welcher Unabhängigkeit, Beruhigung für die Lebensdauer und die Fähigkeit, den Kindern eine gute Erziehung mitzugeben und außerdem nützliche Ausgaben machen zu können, – für mich ist.“ Trotz seines Alters wandte sich Hansemann nun der Tätigkeit als Bankier zu und schlug dabei einen damals noch neuen Weg ein. Nach seiner Ansicht konnten nur Aktiengesellschaften den wachsenden Kapitalbedarf der Industrie decken. Der A. Schaaffhausen’sche Bankverein, dem er selbst als Finanzminister die Konzession dazu erteilt hatte, war zunächst die einzige private Aktiengesellschaft im Banksektor, erst 1853 und außerhalb Preußens konnte Mevissen mit der Darmstädter Bank für Handel und Industrie die nächste gründen. Hansemann orientierte sich am Vorbild der 1848 in Brüssel gegründeten Union du Crédit und bemühte sich bereits im Mai 1849 um entsprechende Genehmigungen für eine Genossenschaftsbank auf Aktienbasis. Ausdrückliches Ziel sollte es sein, dem mittleren und kleinen Handelsstand und Gewerbetreibenden Investitionskapital zur Verfügung zu stellen. Der Plan scheiterte am Widerstand des preußischen Handelsministers und vormaligen Privatbankiers August von der Heydt sowie der übrigen Berliner Banken und der landadeligen Lobby. Noch im selben Jahr fand Hansemann eine juristische Lücke, die ihm die Gründung der Direction der Disconto-Gesellschaft mit Hauptsitz in Berlin ermöglichte. Ein beantragter Staatskredit wurde verweigert. Anfangs war die Disconto-Gesellschaft noch eine Kreditgenossenschaft mit 1851 236 und 1853 1.583 Mitgliedern. Als solche blieb sie zunächst vom Eisenbahngeschäft und Aktienhandel ausgeschlossen. Unter Hansemanns Leitung erhielt die Gesellschaft 1856 eine neue Rechtsform, der heute die Kommanditgesellschaft auf Aktien entspricht. An der Ausarbeitung des neuen Statuts war neben ihm wesentlich der badische Liberale Karl Mathy beteiligt, der seit 1854 beim Schaafhausen’schen Bankverein tätig war und den Hansemann aus langjähriger politischer Zusammenarbeit kannte. Hansemann hatte schon als Chef der Preußischen Bank eine Anstellung Mathys vorgesehen, diesen Plan aber aufgrund des vorhersehbaren Widerstands der Konservativen fallen lassen. 1857 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden, woraufhin Mathy um Entlassung bat und zur Gothaer Privatbank wechselte. Die Disconto-Gesellschaft spielte seit ihrer Neuorganisation eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der Industrie und des Verkehrswesens während der industriellen Revolution in Deutschland. Sie hatte eine Führungsrolle im so genannten Preußenkonsortium inne, das der Finanzierung der preußischen Mobilmachung diente. In diesem Zusammenhang stieg die Bank 1859 in das Emissionsgeschäft ein. Hinzu kamen das Depositengeschäft, der Bereich des Handels- und Diskontkredit sowie der Effektenhandel. Die Disconto-Gesellschaft war als Universalbank auf Aktienbasis ein gänzlich neuer Banktyp, und das Unternehmen entwickelte sich zu einem der führenden deutschen Kreditinstitute, das auch der internationalen Konkurrenz gewachsen war. Sie wurde zum Vorbild für ähnliche Banken. Hansemann war, seit 1857 zusammen mit seinem Sohn Adolph, bis zu seinem Tod Geschäftsinhaber der Bank. Letzte Jahre und Tod In den Jahren 1861 und 1862 war Hansemann Präsident des Deutschen Handelstages. Diese Lobby-Organisation äußerte sich nicht nur zu wirtschaftlichen, sondern auch zu allgemeinpolitischen Fragen. Hansemann argumentierte in dieser Position im Sinne einer großdeutschen Lösung der deutschen Frage. Damit vertrat er allerdings mittlerweile eine Minderheitenmeinung und musste das Amt an den kleindeutsch orientierten Hermann von Beckerath abgeben. Dieser hatte Hansemann in der turbulenten Tagung im Oktober 1862, die den preußischen Handelsvertrag mit Frankreich zum Thema hatte, am Rednerpult die langjährige Freundschaft aufgekündigt. Nachdem seine Position in der Abstimmung knapp unterlegen war, lehnte Hansemann auch seine Wahl in den Bleibenden Ausschuss ab und verzichtete auf eine weitere Tätigkeit für den Handelstag. Im hohen Alter ließ sich David Hansemann von Ludwig Knaus porträtieren. Das Porträt schmückte sein schlesisches Gut Dalkau. 1936 gehörte es zu den Ausstellungswerken Große Deutsche in Bildnissen ihrer Zeit im Kronprinzenpalais. Vor 1933 befand sich das Werk in Aachen und wurde von Joseph Mataré, dem Bruder von Ewald Mataré mehrmals kopiert. Das Original galt 1958 als verschollen. Eine Kopie befand sich im Suermondt Museum in Aachen. Auch Josef Kranzhoff erstellte eine Kopie, jedoch nur nach einer Photographie aus dem Bildarchiv Lolo Handke in Bad Berneck. Hansemann starb 1864 bei einem Kuraufenthalt in Schlangenbad im Taunus. Er liegt in der Hansemann-Familiengrabstätte auf dem alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg. Die Grabstätte gehört zu den Ehrengräbern des Landes Berlin. Sein Sohn Adolph von Hansemann wurde zu einem der reichsten und wichtigsten Unternehmer des Deutschen Reichs. Ehrungen Nach längeren, konfessionell bedingten Auseinandersetzungen wurde 1884 der Aachener Kölntorplatz in Hansemannplatz umbenannt und dem Arbeitsverein und der Feuerversicherungsgesellschaft zur Gestaltung überlassen. Am 30. September 1888 wurde dort ein vom Bildhauer Heinz Hoffmeister errichtetes David-Hansemann-Denkmal eingeweiht, das bis heute erhalten ist. 1901 wurde in Aachen eine Knabenmittelschule gegründet, die seinen Namen trug. Der Name der 2016 geschlossenen Realschule war David-Hansemann-Schule. Porträts von Hansemann wurden im 20. Jahrhundert mehrfach für Banknoten verwendet, beispielsweise für Notgeld der Handelskammer Aachen von 1923 oder die 50-Reichsmark-Banknote von 1933. 1954 wurde anlässlich des 90. Todestags Hansemanns in Düsseldorf das David-Hansemann-Haus als Aus- und Fortbildungsstätte für die Rheinisch-Westfälische Bank AG (später Deutsche Bank AG) eingeweiht, das bis in die 1990er-Jahre genutzt wurde. Werke Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830. 1830, als Manuskript gedruckt, Aachen 1845. Preußen und Frankreich. Staatswirthschaftlich und politisch unter besonderer Berücksichtigung der Rheinprovinz. Von einem Rheinpreußen. Brüggemann, Leipzig 1833. Abhandlung über die muthmaßliche Frequenz der von Cöln bis zur belgischen Grenze bei Eupen projectirten Eisenbahn bei unmittelbarer Berührung der Städte Aachen und Burtscheid. Beaufort, Aachen 1835. Die Eisenbahnen und deren Aktionäre in ihrem Verhältnis zum Staat. Leipzig/Halle 1837. Denkschrift über das Verhältnis des Staats zur Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft. Berlin 1843. Über die Ausführung des Preußischen Eisenbahn-Systems. Duncker, Berlin 1843. Die politischen Tagesfragen mit Rücksicht auf den Rheinischen Landtag. Aachen/Leipzig, 1846 Die deutsche Verfassungsfrage. Sauerländer, Frankfurt 1848. Das preußische und deutsche Verfassungswerk. Mit Rücksicht auf mein politisches Wirken. Berlin 1850. Über die Einführung des deutschen Handelsgesetzbuches. Vortrag gehalten in der Sitzung des Deutschen Handelstages in Heidelberg am 17. Mai 1861. Fr. Schulze, Berlin 1861. Literatur chronologisch Jacob Springsfeld: Kaufmann's Würdigung der Schrift „Preussen und Frankreich von David Hansemann“ widerlegt und gewürdigt, sowohl in staatswirtschaftlicher Hinsicht als in Beziehung auf die Preuß. Provinzen am Rheine. Karl Franz Köhler, Leipzig 1834. Walther Däbritz: David Hansemann und Adolph von Hansemann. Scherpe, Krefeld 1954. Bernhard Poll (Hrsg.): David Hansemann. 1790–1864 – 1964. Zur Erinnerung an einen Politiker und Unternehmer. Wilhelm Metz, Aachen 1964. Elli Mohrmann: David Hansemann. In: Arbeitskreis Vorgeschichte und Geschichte der Revolution von 1848/49 (Hrsg.): Männer der Revolution von 1848. Verlag das europäische Buch, Westberlin 1970, ISBN 3-920303-46-6, S. 389–415, 417–440. Jürgen Hofmann: Das Ministerium Camphausen – Hansemann. Zur Politik der preussischen Bourgeoisie in der Revolution 1848/49 (= Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Geschichte. Band 66, ). Akademie-Verlag, Berlin 1981. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“. 1815–1845/49. 2. Auflage. C. H. Beck, München 1989, ISBN 3-406-32262-X. Heinz Malangré: David Hansemann. 1790–1864. Beweger und Bewahrer. Lebensbild und Zeitbild. Einhard-Verlag, Aachen 1991, ISBN 3-920284-54-2. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des ersten Weltkrieges 1849–1914. C. H. Beck, München 1995, ISBN 3-406-32263-8. Roland Hoede: Die Heppenheimer Versammlung vom 10. Oktober 1847. W. Kramer, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-7829-0471-0. Rudolf Boch: David Hansemann: Das Kind der Industrie. In: Sabine Freitag (Hrsg.): Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. C. H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-42770-7, S. 171–184. Wolfgang J. Mommsen: 1848. Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849. S. Fischer, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-10-050606-5. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat. C. H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-44038-X. Ulrich S. Soénius: Ludolf Camphausen und David Hansemann. Rheinische Unternehmer, Politiker, Bürger. In: Karlheinz Gierden (Hrsg.): Das Rheinland – Wiege Europas? Eine Spurensuche von Agrippina bis Adenauer. Lübbe Ehrenwirth, Köln 2011, ISBN 978-3-431-03859-0, S. 235–257. Paul Thomes: Entrepreneur und Corporate Citizen – zum 150. Todestag von David Hansemann (1790–1864). In: Paul Thomes, Peter M. Quadflieg (Hrsg.): Unternehmer in der Region Aachen – zwischen Maas und Rhein. Aschendorff Verlag, Münster 2015, ISBN 978-3-402-13107-7, S. 96–111. Weblinks Flugblätter und andere Druckerzeugnisse aus den Jahren 1848/49 von und über Hansemann in der Flugschriften-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Scans mit bibliografischen Kommentaren) auf den Seiten der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank Liberaler Stichtag des Archivs des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Einzelnachweise Finanzminister (Preußen) Mitglied der Preußischen Ersten Kammer Mitglied des Ersten Vereinigten Landtages für die Rheinprovinz Mitglied des Provinziallandtages der Rheinprovinz Mitglied der Preußischen Nationalversammlung Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Unternehmer (19. Jahrhundert) Unternehmer (Aachen) Bankier Unternehmer (Schienenverkehr) Person (Industrie- und Handelskammer Aachen) Bestattet in einem Ehrengrab des Landes Berlin Deutscher Geboren 1790 Gestorben 1864 Mann
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Scherifen von Mekka
Die Scherifen von Mekka () waren ein weitverzweigtes Netz scherifischer Familien, die von ca. 968 bis 1925 die Herrscher von Mekka stellten. Gemeinsam war diesen Familien die hasanidische Herkunft, sie führten ihren Stammbaum also auf den Prophetenenkel al-Hasan ibn ʿAlī zurück. Der jeweils herrschende Scherif wurde seit Beginn der Mamlukenherrschaft in Ägypten als „Emir von Mekka“ (amīr Makka) bezeichnet. Häufig machten sich die verschiedenen Zweige der Familie die Macht gegenseitig streitig und lagen im Kampf miteinander. Zeitweise teilten sie sich aber auch die Herrschaft. Bis zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren die Scherifen von Mekka zaiditische Schiiten, danach gingen sie zum sunnitischen Islam über. Das Herrschaftsgebiet der Scherifen von Mekka erstreckte sich die meiste Zeit über nicht nur auf die Stadt Mekka und ihr Umland, sondern auch über weite Teile des Hedschas mit den Städten Ta'if, Dschidda, Yanbuʿ und Medina. Zwar erkannten die Scherifen von Mekka fast durchgehend die Oberherrschaft verschiedener islamischer Dynastien an, doch verfügten sie durch die Zusammenarbeit mit verbündeten Beduinen über eigene Streitkräfte und erhoben auch eigene Steuern. Als Kompensation dafür, dass sie ihre Oberherrschaft über die heilige Stadt anerkannten und den Schutz der Haddsch-Karawane sicherten, ließen ihnen die Herrscher der betreffenden islamischen Großreiche Subsidienzahlungen und Geschenke zukommen. Vom 15. Jahrhundert bis zum frühen 19. Jahrhundert betätigten sich die mekkanischen Scherifen außerdem im Seehandel auf dem Roten Meer und im Indischen Ozean. In osmanischen Einsetzungsurkunden wird die mekkanische Herrscherfamilie seit dem 16. Jahrhundert als „haschimitische Dynastie“ (sulāla Hāšimīya) bezeichnet. In europäischen Beschreibungen werden die herrschenden Scherifen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Unterscheidung von anderen Scherifen meist Großscherifen genannt, eine Bezeichnung, die in arabischen Quellen kein Gegenstück hat. Die heutige Dynastie der Haschimiten von Jordanien geht aus der Nachkommenschaft des vorletzten Scherifen Hussain I. ibn Ali, der sich 1916 zum König der Araber ausrief, hervor. Innere Aufgliederung und Abstammung der scherifischen Familien Insgesamt unterscheidet man bei den Scherifen von Mekka vier verschiedene Familienzweige: 1. Dschaʿfariden, 2. Sulaimāniden, 3. Hāschimiden (arab. Hawāšim) und 4. Qatādiden (arab. Banū Qatāda). Gemeinsamer Stammvater all dieser scherifischen Familien war Mūsā al-Dschaun (Nr. 7 der Stammtafel), ein Bruder des hasanidischen Rebellen Muhammad an-Nafs az-Zakīya (gest. 762). Die Dschaʿfariden sind nach Abū Dschaʿfar Muhammad (Nr. 25) benannt, dessen Sohn Abū Muhammad Dschaʿfar (Nr. 28) in den 960er Jahren die Macht in Mekka ergriff und seinen Nachkommen die Macht vererbte. Nach ihrem Vorfahren Mūsā ath-thānī (Mūsā II), einem Enkel Mūsā al-Dschauns, werden die Dschaʿfariden in einigen Geschichtswerken auch Mūsāwiden genannt, im Gegensatz zu den Sulaimāniden, die Nachkommen von Sulaimān ibn ʿAbdallāh (Nr. 14), einem Bruder von Mūsā II, waren. Die Hāschimiden waren eigentlich auch Mūsāwiden, doch stammten sie im Gegensatz zu den Dschaʿfariden nicht von Abū Dschaʿfar Muhammad ab, sondern von dessen Bruder Abū Hāschim Muhammad (Nr. 27). Beide Brüder waren Söhne von al-Husain al-Amīr, einem Enkel von Mūsā II. Die Qatādiden, die die längste Zeit Mekka regierten, sind nach Qatāda ibn Idrīs (Nr. 43) benannt, der Anfang des 13. Jahrhunderts die Herrschaft in Mekka ergriff. Auch die Qatādiden waren Mūsāwiden, allerdings stammten sie nicht von al-Husain al-Amīr ab, sondern von dessen Bruder ʿAbdallāh (Nr. 22). Die Qatādiden, die bis zum frühen 20. Jahrhundert über Mekka herrschten, gliederten sich im 17. Jahrhundert in die drei Clane Dhawū ʿAbdallāh, Dhawū Barakāt und Dhawū Zaid auf. Die Dhawū ʿAun, die die letzten Scherifen von Mekka stellten, sind ein Unterzweig der Dhawū ʿAbdallāh. Geschichte Herrschaft der Dschaʿfariden (968–1061) Anfänge Die scherifische Herrschaft über Mekka begann ungefähr zeitgleich mit dem Tode des ägyptischen Herrschers Kāfūr (968), als der Hasanide Abū Muhammad Dschaʿfar ibn Muhammad die Macht in der heiligen Stadt an sich riss. Hintergrund waren Kämpfe zwischen Hasaniden und Husainiden in Medina gewesen, infolge derer Dschaʿfar ibn Muhammad nach Mekka auswich und die Stadt in Besitz nahm. Dschaʿfar ibn Muhammad erkannte 969 den neuen fatimidischen Herrscher von Ägypten al-Muʿizz auch als Oberherrn von Mekka an, indem er für ihn die Chutba sprechen ließ. Al-Muʿizz setzte ihn daraufhin als Statthalter von Mekka ein. Einige Jahre später, im Januar 975, übergab al-Muʿizz einer Delegation von Scherifen und andere Notabeln aus dem Hidschāz eine Prämie von 400.000 Dirham. Daraufhin wurde im August 975 erstmals auch beim Haddsch das Bittgebet für al-Muʿizz gesprochen. Da sich ʿĪsā, der Sohn und Nachfolger Dschaʿfars, kurz danach weigerte, dem neuen fatimidischen Kalifen al-ʿAzīz zu huldigen, belagerten die Ägypter beim Haddsch 976 Mekka und erzwangen so, dass die Chutba bei der Pilgerversammlung im Namen des fatimidischen Kalifen gehalten wurde. In den Jahren danach führten die ägyptischen Pilgerkarawanen wieder reiche Geldgeschenke für die Scherifen (ṣilāt al-ašrāf) mit, was auf eine Normalisierung der Beziehung zwischen Fatimiden und Scherifen schließen lässt. Die kalifalen Ambitionen des Abū l-Futūh Ab 994 herrschte ʿĪsās Bruder Abū l-Futūh al-Hasan ibn Dschaʿfar über Mekka. Er brachte im Jahre 1000 auf Weisung des Kalifen al-Hākim bi-amr Allāh auch Medina in seine Gewalt und setzte der Herrschaft der dort herrschenden husainidischen Banū l-Muhannā ein Ende. Als 1010 al-Hākim seinen Wesir ʿAlī al-Maghribī umbringen ließ, floh dessen Sohn Abū l-Qāsim ibn al-Maghribī nach Ramla an den Hof des Dscharrahiden-Herrschers Mufarridsch und stachelte ihn zu einem Aufstand gegen die Fatimiden an. Er riet ihm, mit dem Scherifen von Mekka Kontakt aufzunehmen und diesem das Imamat anzutragen, da er im Unterschied zu den Fatimiden „keinerlei Makel in seinem Stammbaum“ habe. Ibn al-Maghribī selbst begab sich nach Mekka, und der Scherif Abū l-Futūh wurde von seinen Familienangehörigen zum Kalifen mit dem Thronnamen ar-Raschīd li-dīn Allāh (Der Religion Gottes Rechtgeleitete) ausgerufen. Abū l-Futūh zog anschließend mit seinen Verwandten und einer großen Zahl schwarzer Sklaven, umgürtet mit dem Schwert Dhū l-Faqār, nach Ramla, wo er am 13. September 1012 Einzug hielt. Formell erstreckte sich die Herrschaft des scherifischen Gegenkalifen auf Palästina zwischen Pelusium und Tiberias und schloss auch Jerusalem ein, wo er einen neuen Patriarchen, Theophilos, einsetzte und den Christen erlaubte, die zwei Jahre zuvor zerstörte Grabeskirche wieder aufzubauen. Der Aufstand unter der Führung des scherifischen Gegen-Kalifen brach jedoch schnell zusammen. Al-Hākim ernannte Abū t-Taiyib Dāwūd, einen sulaimānidischen Verwandten von Abū l-Futūh, zum neuen Statthalter von Mekka, der die Stadt belagerte. Darüber hinaus sandte al-Hākim größere Summen Geldes an die Dscharrahiden, um sie zur Preisgabe des Gegenkalifen zu bewegen. Die Dscharrahiden ließen sich dadurch bewegen, die Sache des Abū l-Futūh zu verlassen. Mufarridsch schrieb an al-Hākim und vermittelte eine allgemeine Aussöhnung. Abū l-Futūh kehrte im Oktober 1012 nach Mekka zurück und ließ die Chutba wieder für al-Hākim sprechen. In einem Brief an den fatimidischen Kalifen machte er Entschuldigungsgründe geltend und bat um Gnade, die ihm vom Kalifen auch gewährt wurde. Nach diesem Aufstand hielten die Scherifen den fatimidischen Kalifen fast 70 Jahre die Treue. Herrschaft der Hāschimiden (1063–1200) Zwischen Fatimiden und Abbasiden: Abū Hāschims Chutba-Politik Im Jahre 1061 starb der Scherif Schukr ad-Dīn kinderlos, woraufhin unter den verschiedenen hasanidischen Familien von Mekka Kämpfe ausbrachen. Zunächst setzte sich mit Hamza ibn Wahhās ein Angehöriger der sulaimānidischen Scherifen durch. Dann intervenierte jedoch der schiitische Herrscher des Jemen Ali as-Sulaihi in Mekka und setzte als neuen Statthalter den Scherifen Abū Hāschim Muhammad ein. Er war ein Nachkomme des gleichnamigen Bruders des ersten Scherifen Dschaʿfar ibn Muhammad und begründete die Scherifen-Linie der Hāschimiden. Abū Hāschim ließ im Jahre 1069 die Chutba wieder im Namen der Abbasiden sprechen und nahm auch den Seldschuken-Sultan Alp Arslan in die Predigt auf, wofür er von dem Sultan ein Geschenk von 30.000 Dinar erhielt sowie das Versprechen, dass er jährlich ein Geschenk von 10.000 Dinar und ein Ehrengewand erhalten sollte. Dieses Arrangement dauerte allerdings nur wenige Jahre. Da zur Wallfahrt des Jahres 1075 der fatimidische Kalif al-Mustansir aus Ägypten eine noch größere Summe schickte, schaffte Abū Hāschim die Predigt für die Abbasiden wieder ab und ließ die Predigt erneut für die Fatimiden halten. Schon im nächsten Jahr wechselte er aber wieder auf die Seite der Abbasiden. Dieses Wechselspiel ging auch in den folgenden Jahren so weiter: 1078 ließ er für die Fatimiden beten, 1080 erneut für den abbasidischen Kalifen. Die Seldschuken, die dieses Wechselspiels überdrüssig waren, schickten 1092 türkische Truppen nach Mekka, die die Heilige Stadt plünderten und danach wieder abzogen. Abū Hāschim rächte sich, indem er zwei Jahre später Pilger, die unter Führung eines türkischen Emirs nach Mekka kamen, ausrauben ließ. Die späteren Hāschimiden Die Nachkommen Abū Hāschims herrschten bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts über Mekka, lagen aber oft im Streit miteinander. Nachdem Saladin Ägypten erobert und den letzten fatimidischen Kalifen al-ʿĀdid beseitigt hatte, sandte er 1173 seinen Bruder Tūrānschāh in den Jemen, um dieses Gebiet unter aiyubidische Kontrolle zu bringen. Auf dem Weg dorthin machte Tūrānschāh in Mekka Halt und bestätigte dort den herrschenden Scherifen ʿĪsā ibn Fulaita in seinem Amt, womit er die aiyubidische Oberherrschaft über Mekka zum Ausdruck brachte. Durch den Reisebericht des Ibn Dschubair, der 1183 und 1185 Mekka besuchte, ist belegt, dass die Scherifen zu dieser Zeit zaiditische Schiiten waren. Er führt aus, dass sie im Gebetsruf und bei der Iqāma die schiitische Formel Ḥaiya ʿalā ḫairi l-ʿamal („Auf zum besten Werk!“) einfügten und an den Freitagen nicht mit den anderen am Gebet teilnahmen. Ibn Dschubair berichtet außerdem, dass die Scherifen bei den Pilgern Zollgebühren erhoben. Er selbst wurde in Dschidda festgehalten, weil er die Zollgebühr nicht bezahlen konnte. Das Haus Qatāda zwischen den islamischen Großmächten (1201–1517) Der Aufstieg des Hauses Qatāda Anfang des 13. Jahrhunderts erlangte mit Qatāda ibn Idrīs der Abkömmling einer anderen Scherifen-Familie die Herrschaft über Mekka. Die besondere historische Bedeutung Qatādas liegt darin, dass er der Vorfahre aller späteren Scherifen von Mekka ist. Qatāda stammte aus Yanbuʿ und war ein Nachkomme von ʿAbdallāh ibn Muhammad, einem Großenkel des ersten mekkanischen Scherifen Dschaʿfar ibn Muhammad. Er brachte zunächst die südlich von seiner Heimatstadt gelegenen Landstriche in seinen Besitz und eroberte zwischen 1201 und 1203 Mekka. Wenig später unterwarf er auch Ta'if, und in Yanbuʿ ließ er eine Festung errichten. Insgesamt konnte er seine Herrschaft auf das Gebiet zwischen Medina und dem Jemen ausdehnen. Die politischen Alltagsgeschäfte überließ Qatāda einem Wesir. Gegenüber den islamischen Mächten des Nordens, den Aiyubiden und Abbasiden, verfolgte Qatāda eine Politik der Splendid isolation. Seinen Verwandten soll er in seinem Testament die Empfehlung gegeben haben, sich nicht auf allzu enge Beziehungen mit fremden Mächten einzulassen, weil Gott sie und ihr Land durch dessen Unzugänglichkeit geschützt habe. Allein zu den Zaiditen im Jemen hielt er engeren Kontakt. Dort unterstützte er die Bemühungen des Hasaniden al-Mansūr, ein neues zaiditisches Imamat zu begründen. Politisches Lavieren zwischen Rasuliden, Mamluken und Ilchanen Nach Qatādas Ermordung (1220) konnte der jemenitische Aiyubide al-Masʿūd Mekka unter seine Kontrolle bringen. Er verdrängte 1222 die Scherifen von der Macht und setzte seinen eigenen General ʿAlī ibn Rasūl als Statthalter ein. Nach al-Masʿūds Tod 1228 ging die Oberhoheit über Mekka auf seinen Vater al-Kāmil über, der seinen General Tughtikin als Statthalter einsetzte. Als sich aber 1232 die Rasuliden im Jemen unabhängig machten, knüpften diese wieder mit den Söhnen Qatādas an und schickten einen von ihnen mit einem Heer nach Mekka. Dieser Rādschih ibn Qatāda herrschte bis 1241 über Mekka. Erst unter Abū Numaiy I Muhammad ibn Abī Saʿd ʿAlī und Idrīs ibn Qatāda, die 1254 ohne fremde Hilfe an die Macht kamen, konnten die Scherifen wieder größere Unabhängigkeit gegenüber den islamischen Großmächten erlangen. Abū Numaiy war so mächtig, dass er 1256 von den Pilger-Karawanen Tribut erheben konnte. Für jedes Kamel in der jemenitischen Karawane waren 30 Dirham zu entrichten, für jedes Kamel in der ägyptischen Karawane 50 Dirham. Allerdings unterstellten sich die beiden scherifischen Emire 1268 der Oberherrschaft des mamlukischen Sultans az-Zāhir Baibars, der sie dafür mit dem Versprechen jährlicher Subsidienzahlungen belohnte. Nach dem Tod von Abū Numaiy im Jahre 1301 versuchten die ägyptischen Mamluken, die Scherifen vollständig ihrer Oberherrschaft zu unterstellen, was ihnen aber nicht gelang, weil viele Scherifen stärker mit den anderen islamischen Großmächten sympathisierten. Der Scherif Humaida ibn Abī Numaiy zum Beispiel, der im Frühjahr 1314 die Macht in Mekka ergriff, ließ die Chutba für den Rasuliden al-Mu'aiyad Dāwūd ibn Yūsuf (reg. 1296–1322) sprechen. Und als 1349 die drei Brüder Thaqaba, Sanad und Mughāmis, die Söhne des Scherifen Rumaitha ibn Abī Numaiy, von der Macht ausgeschlossen und aus Mekka vertrieben wurden, verbündeten sie sich mit dem Rasuliden-Herrscher Mudschāhid (reg. 1322–1363). Mit ihm hielten sie Anfang 1351 in Mekka Einzug. Einige Scherifen arbeiteten auch mit den Ilchan-Herrschern zusammen. Der Scherif Humaida floh 1316 an den Hof von Öldscheitü, der ihn mit einer gut ausgestatteten mongolischen Armee nach Mekka sandte, um den Hedschas unter ilchanidische Kontrolle zu bringen. Das Unternehmen scheiterte jedoch aufgrund des vorzeitigen Tods von Öldscheitü. Als Humaida im Mai 1318 kurzzeitig die Herrschaft in Mekka wiedererlangte, unterstellte er sich der Oberherrschaft des Ilchan-Herrschers Abū Saʿīd (reg. 1316–1335). So wurde 1330 Ahmad, der Sohn des Scherifen Rumaitha, von Abū Saʿīd zum Herrscher der schiitischen Stadt Hilla im Irak ernannt. Gestützt auf die arabischen Stämme der Umgebung, konnte er auch Kufa unter seine Kontrolle bringen, bis er 1342 von dem Dschalairiden Hasan Bozorg ermordet wurde. Aus zeitgenössischen Quellen geht hervor, dass die Scherifen eine Armee von schwarzen Militärsklaven (ʿabīd) unterhielten, die von einem Kommandanten (qāʿid) angeführt wurde Zeitweise konnten die Scherifen ihr Herrschaftsgebiet auch über den Hedschas hinaus ausdehnen. So befand sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts auch Sawakin an der afrikanischen Küste des Roten Meers zeitweise unter ihrer Herrschaft. Das Verhältnis der Scherifen zu den ägyptischen Mamluken blieb dagegen angespannt. Als 1330 der Führer der ägyptischen Pilgerkarawane bei Kämpfen mit den Militärsklaven der Scherifen zu Tode kam, verkündete der mamlukische Sultan An-Nāsir Muhammad ibn Qalāwūn, dass er einen seiner Emire nach Mekka schicken wolle, um die Scherifen und ihre Sklaven aus Mekka zu vertreiben. Sein Ober-Qādī al-Qazwīnī, der ihn an die Pflicht zur Ehrung des Harams erinnerte, hielt ihn jedoch davon ab. Als im Jahre 1360 die Soldaten einer in Mekka stationierten türkisch-ägyptischen Garnison von den Scherifen vertrieben und auf dem Sklavenmarkt von Yanbuʿ verkauft wurden, gab Sultan an-Nāsir al-Hasan den Befehl, alle Scherifen auszurotten. Doch kam auch dieser Befehl nicht zur Ausführung, weil an-Nāsir al-Hasan schon wenige Tage später von seinen Soldaten abgesetzt und durch al-Mansur Muhammad II. ersetzt wurde. Festigung der ägyptischen Oberherrschaft Unter ʿAdschlān ibn Rumaitha, der von 1361 bis 1375 die Alleinherrschaft über Mekka innehatte, verbesserte sich die Beziehung der Scherifen zu den ägyptischen Mamluken. Der Mamluken-Sultan al-Kāmil Schaʿbān verkündete im Januar 1365 in einem Dekret die Abschaffung der Einfuhrzölle, die die herrschenden Scherifen bisher auf Nahrungsmittel und Vieh erhoben hatten, und setzte als Kompensation dem Emir von Mekka ein jährliches Gehalt von 160.000 Dirham aus. Allein die Händler aus dem Irak und dem Jemen sollten von dieser Vergünstigung ausgenommen sein. Der Text des Dekrets wurde auf drei Säulen der Heiligen Moschee inschriftlich festgehalten. Während der Herrschaft von ʿAdschlāns Sohn al-Hasan, der im August 1395 von az-Zāhir Barqūq in Kairo zum Emir von Mekka ernannt wurde, festigte sich die Beziehung mit den ägyptischen Mamluken zunächst weiter. Der Scherif nutzte das Prestige der mamlukischen Rückendeckung, um lokale Gegner, die seine Herrschaft bedrohten, zurückzudrängen. Al-Malik an-Nāsir Faradsch ernannte al-Hasan im August 1408 zum Vize-Sultan (nāʾib as-salṭana) für die gesamten Gebiete des Hedschas und erkannte seine beiden Söhne Barakāt und Ahmad offiziell als Mitregenten an. Die mamlukische Oberherrschaft über den Hedschas zeigte sich dagegen in der Regel nur „saisonal“ während des Haddsch und der ʿUmra, wenn ägyptische Truppen mit den Pilgerkarawanen in die Region kamen. In der übrigen Zeit hatte der Scherif freie Hand. Al-Hasan war auch sehr erfolgreich darin, aus dem Transithandel auf dem Roten Meer Kapital zu schlagen. Als er allerdings 1410 begann, Waren von Händlern in Dschidda zu konfiszieren, geriet er sowohl mit den Mamluken als auch mit den Rasuliden in Konflikt. Sie begannen seinen Verwandten Rumaitha ibn Muhammad zu unterstützen, der Hasan die Macht im Hedschas streitig machte. Im Mai 1415 setzte Sultan al-Mu'aiyad Schaich al-Hasan und seine beiden Söhne ab und ernannte Rumaitha zum neuen Emir von Mekka. Da al-Hasan seine Position jedoch nicht kampflos räumte, dauerte es bis zur nächsten Pilgersaison im Februar 1416, bis Rumaitha in Mekka Einzug halten konnte. Al-Hasan startete daraufhin eine Initiative, um die mamlukische Unterstützung wiederzugewinnen. Im November 1416 wurde er erneut in sein Amt eingesetzt, mit der Auflage, jährlich 30.000 Mithqāl an den mamlukischen Sultan abzuführen. Im März 1417 eroberte er mit eigenen Truppen Mekka zurück. Aufgrund seiner großen finanziellen Ressourcen konnte al-Hasan während seiner Herrschaft eine Madrasa, ein Krankenhaus (bimāristān) und einen Ribāt in Mekka stiften. Während der Herrschaft von Hasans Sohn Barakāt I. (1426–1455) wurde in Mekka eine ständige Besatzung von 50 türkischen Reitern stationiert, die von einem Emir befehligt wurden. Außerdem wurden neue finanzielle Regelungen getroffen. So wurde festgelegt, dass der herrschende Scherif jeweils ein Viertel des Wertes von auf dem Roten Meer untergegangenen Schiffen, ein Viertel aller Geschenke, die von außerhalb an die „Bewohner Mekkas“ gesandt wurden, und ein Zehntel aller importierten Waren erhalten sollte, eingeschlossen die Ladung von indischen Schiffen, die in Dschidda landeten. Außerdem erhielt er das Vermögen von Ausländern, die in Mekka ohne Erben starben. Auch die von den Beduinen eingesammelte Zakāt ging an den Scherifen. Die Hälfte des auf diese Weise erzielten Einkommens musste er an andere führende Mitglieder der scherifischen Familien verteilen. Der Lebensstil des herrschenden Scherifen war relativ einfach. Ein großer Turban war das einzige, was ihn von anderen Bewohnern Mekkas unterschied. Sein breitärmeliges und brokatbesetztes Ehrengewand trug er nur bei zeremonialen Anlässen. Trotz seiner Position als Herrscher ließ sich der Scherif von seinen Leuten üblicherweise in einfacher und direkter Weise ansprechen, insbesondere wenn es sich um Beduinen handelte. Unter Barakāts Sohn Muhammad (reg. 1455–1497), dessen Regierungszeit größtenteils mit derjenigen von Sultan Qāytbāy zusammenfällt, erlebte Mekka eine Phase großer Prosperität. Insgesamt konnten die Scherifen im 15. Jahrhundert ihr spirituelles Prestige in der islamischen Welt stark ausbauen. Ihre Position als die Herrscher von Mekka erhielt in dieser Zeit einen „fast sakrosankten“ Charakter. Lokale historiographische Texte berichten davon, dass die Scherifen im 15. und frühen 16. Jahrhundert eigene Dirham-Münzen prägten. Sie besaßen also eine gewisse monetäre Autonomie. Übergang der Scherifen zum sunnitischen Islam Mit der außenpolitischen Neuausrichtung ging auch eine konfessionelle Veränderung bei den Scherifen einher. Abū Numaiy I. und die meisten seiner direkten Nachkommen waren noch zaiditische Schiiten. Der Gebetsruf in der großen Moschee wurde dementsprechend zu seiner Zeit nach dem schiitischen Ritus durchgeführt, und die Zaiditen hatten in der Heiligen Moschee eine eigene Gebetsgruppe, die von einem zaiditischen Imam angeführt wurde. Schon Anfang des 14. Jahrhunderts forderten die mamlukischen Sultane die Scherifen dazu auf, den schiitischen Gebetsruf in Mekka zu unterdrücken und den zaiditischen Imam aus der Heiligen Moschee abzuziehen. Doch hielten die meisten Scherifen am zaiditisch-schiitischen Bekenntnis fest. Auch das Bündnis Humaidas mit dem Ilchan Öldscheitü hatte einen schiitischen Hintergrund. Öldscheitü war vorher zur Schia übergetreten, und nach erfolgreichem Abschluss von Humaidas Feldzug in den Hedschas im Jahre 1316 sollten die Gebeine der beiden den Schiiten verhassten Kalifen Abū Bakr und ʿUmar ibn al-Chattāb aus dem Grab Mohammeds in Medina entfernt werden. Insbesondere Rumaitha ibn Abī Numaiy, der ab 1321 Mitregent war, zeigte Sympathien für die Zaidīya. Er ließ sogar das Gebet für Muhammad ibn al-Mutahhar (reg. 1301–1327), den zaiditischen Imam des Jemen, sprechen. Sein Bruder ʿUtaifa, der ab 1326 die Herrschaft allein ausübte, vertrieb den zaiditischen Imam gewaltsam aus der Heiligen Moschee, allerdings geschah dies nicht aus innerer Überzeugung, sondern nur in Erfüllung einer Verfügung des mamlukischen Sultans. Wie der mamlukische Autor Ibn Fadlallāh al-ʿUmarī (gest. 1348) berichtet, vertraute ihm der Sohn ʿUtaifas an, dass sich die Emire von Mekka allein gegenüber dem zaiditischen Imam von Sanaa zu Gehorsam verpflichtet fühlten und sich selbst als seine Stellvertreter betrachteten. Mit den Herrschern Ägyptens, so erklärte er, kooperierten sie nur deswegen, weil sie sich vor ihnen fürchteten und von ihnen die Belehnung erhielten; den rasulidischen Herrschern des Jemen schmeichelten sie, um von ihnen weiter Geschenke und Wohltätigkeiten zu erhalten. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kündigte sich der Übergang der mekkanischen Scherifen zum sunnitischen Islam an. Von ʿAdschlān ibn Rumaitha, der von 1346 bis 1361 mit Unterbrechungen und dann bis 1375 ununterbrochen die Herrschaft in Mekka innehatte, berichtet Ibn Taghribirdi: „Im Gegensatz zu seinen Vorvätern und Verwandten liebte er die Sunniten und unterstützte sie gegen die Schiiten. Man hat auch gesagt, dass er dem schafiitischen Madhhab folgte.“ ʿAdschlān war auch der erste Scherif, der in Mekka eine Madrasa stiftete. Auch sein Sohn al-Hasan, der abgesehen von zwei kurzen Unterbrechungen von 1396 bis 1426 in Mekka herrschte, war fest der sunnitischen Tradition verbunden. Wie sein Vater stiftete er in Mekka eine Madrasa. Schams ad-Dīn as-Sachāwī (gest. 1497) berichtet, dass er bei einer Anzahl von ägyptischen und syrischen Gelehrten Hadith studierte und von ihnen dafür eine Idschāza erhielt. Auch alle folgenden scherifischen Herrscher des 15. Jahrhunderts erhielten eine Ausbildung im sunnitischen Hadith. Auch wenn sich die späteren Scherifen offiziell zur schafiitischen Lehrrichtung bekannten, der auch die meisten Mekkaner angehörten, wurden sie den Ruf, heimlich zaiditischen Lehren zu folgen, lange nicht los. Noch im frühen 19. Jahrhundert, als Jean Louis Burckhardt Mekka besuchte, erzählte man ihm, dass die in Mekka lebenden Scherifen rechtswissenschaftliche Diskussionen, bei denen zaiditische Lehren missbilligt wurden, mieden und die Scherifen außerhalb der Stadt ihre Zugehörigkeit zu den Zaiditen auch offen zugaben. Unter Osmanischer Oberherrschaft (1517–1798) Beziehung zur osmanischen Staatsgewalt Nachdem die Osmanen 1517 Kairo erobert hatten, schickte der Scherif Barakāt (reg. 1497–1525) seinen noch sehr jungen Sohn Abū Numaiy II nach Ägypten, der Sultan Selim I. im Namen seines Vaters die Unterwerfung anbot. Der Sultan akzeptierte diese Lösung, und die Scherifen wurden weiterhin als abhängige Fürsten anerkannt. Das Territorium der Scherifen wurde nicht als Vilâyet vollständig in den Osmanischen Staat integriert, sondern blieb „ein Staat im Staate“. Wenn ein Scherif verstarb, dann setzte die Pforte üblicherweise denjenigen als Nachfolger ein, den die Bewohner Mekkas wünschten. Die Investitur erfolgte durch Übersendung eines Ehrengewands und einer Ernennungsurkunde (Emāret Berātı). In der Ernennungsurkunde für den Scherifen Hasan ibn Abī Numaiy von 1566 wird diesem die Befehlsgewalt über Mekka, Dschidda, Medina, Yanbuʿ, Chaibar, Haly und alle Gebiete des Hedschas übertragen, „von Chaibar bis Haly und dem Nadschd“. Allerdings installierten die Osmanen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Dschidda einen eigenen Gouverneur, mit dem sich der Scherif die Herrschaft dort teilen musste. Ansonsten genossen die Scherifen auf ihrem Territorium weitgehende Autonomie. In einem Einsetzungsschreiben des Sultans für den Scherifen Abū Tālib ibn al-Hasan aus dem Jahre 1601 wird mitgeteilt, dass diesem die „Herrschaftsgewalt über jene Stätten“ (imārat tilka l-maʿāhid) verliehen wird, „einschließlich aller Truppen, hoch und niedrig, sowie der Beamten und Würdenträger, Bezirke und Ränge.“ Am Ende des Schreibens heißt es: „Wir haben ihn eingesetzt, damit er dort unsere eigene Stelle einnimmt, und ihm die Macht zur Aufhebung und Schließung von Verträgen sowie das sultanische Abzeichen verliehen.“ In Mekka selbst war der osmanische Staat außerhalb der Wallfahrtssaison nur mit einem Qādī und einer kleinen Einheit von ägyptischen Soldaten präsent. Allerdings nahm der Scherif häufig auch richterliche Funktionen wahr, so dass das Amt des Qādīs üblicherweise auf „gewinnlose Muße“ beschränkt war. Einige Aufgaben, die die Heiligen Stätten in Mekka betrafen, hatte der Scherif indessen mit dem osmanischen Gouverneur in Dschidda gemeinsam wahrzunehmen, denn dieser war als Verwalter (mutawallī) für die gesamten frommen Stiftungen zur Unterhaltung der Heiligen Stätten zuständig, was in seinem Titel „Scheich des Haram“ (šaiḫ al-ḥaram) zum Ausdruck kam. Zur Zeit der Wallfahrt war der Gouverneur von Dschidda auch regelmäßig in Mekka anwesend. Auch in der osmanischen Zeit konnten die Scherifen auf eine relativ große Streitmacht von verbündeten Beduinen zurückgreifen. Im Jahre 1585 umfasste diese 20.000–30.000 Mann. Mit diesen Kämpfern unternahmen sie im 16. und 17. Jahrhundert mehrfach Vorstöße in den Nadschd und zu den Oasen des zentralarabischen Raums, um auch das Innere der Arabischen Halbinsel kontrollieren zu können. Nach Auffassung der osmanischen Zentralgewalt sollten die Scherifen mit ihren Kämpfern vor allem Angriffe der Beduinen auf die Pilgerkarawane verhindern. Allerdings stützten sich die Scherifen auf ihre Kämpfer manchmal auch, wenn sie mit den osmanischen Karawanenkommandanten in Konflikt gerieten. Nach dem offiziellen Protokoll, das von Ignatius Mouradgea d’Ohsson beschrieben wird, hatte der Scherif die Pilgerkarawane bei der Ankunft an der Spitze seiner Beduinenarmee in Empfang zu nehmen. Während die Pilger in Mekka, ʿArafāt und Minā die Wallfahrtsriten vollzogen, sollten seine Truppen, die mit Gewehren, Pistolen, Lanzen und Wurfspießen bewaffnet waren, einen Sicherheitskordon bilden, der die Pilger vor äußeren Gefahren schützte. Außerdem sollten diese Truppen auch als eine innere Polizei fungieren und die Ordnung unter den Pilgern aufrechterhalten. Bei jedem Haddsch wurde die Einsetzungszeremonie mit Übergabe des Ehrengewands und Überreichung eines Bestallungsschreibens an den Scherifen wiederholt. Derjenige, der das Ehrengewand überbrachte, wurde Kaftan Ağası („Kaftan-Agha“) genannt. Umgekehrt sandte der Scherif jährlich mit dem Müjdeci Başı („Freudenboten“) ein Antwortschreiben an den Sultan, das diesem regelmäßig am Prophetengeburtstag in der Sultan-Ahmed-Moschee überreicht wurde. Sein Ehrengewand trug der Scherif hauptsächlich bei offiziellen Anlässen. Von den anderen Scherifen unterschied er sich außerdem durch die Form seines Turbans. Er war mit Troddeln besetzt, deren Goldfäden auf seine Schultern herabfielen. Als Finanzgrundlage standen den Scherifen in der osmanischen Zeit weiter die Zolleinnahmen des Hafens von Dschidda zur Verfügung, die sie allerdings mit dem osmanischen Gouverneur teilen mussten. Ein britischer Bericht aus dem Jahre 1787 über den Handel im Roten Meer besagt, dass der Scherif von Dschidda und der Scherif von Mekka beide hohe Steuern auf die Waren erhoben, die von Händlern und Pilgern aus Indien eingeführt wurden. Außerdem leistete der Sultan hohe Rentenzahlungen an alle Scherifen. Austausch von Gesandtschaften mit den Herrschern Mogulindiens Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts unterhielten die Scherifen auch engere Beziehungen zu den Herrschern Mogulindiens. So übersandte zum Beispiel der Mogulherrscher Akbar I. (reg. 1565–1605) im Jahre 1577 mit der Pilgerkarawane 100.000 Rupien und weitere reichliche Geschenke an den Scherifen von Mekka als Ausgleich dafür, dass dieser einen Fußabdruck des Propheten Mohammed nach Indien übersandt hatte. 1580 übersandte Akbar erneut auserlesene Stoffe für den Scherifen und andere mekkanische Würdenträger, und 1582 beauftragte er sie mit der Verteilung von Geldern für die bedürftigen Bewohner von Mekka und Medina. In den folgenden Jahren verschlechterten sich allerdings die scherifisch-mogulischen Beziehungen, weil der osmanische Sultan Murad III. den Scherifen anwies, indische Pilger von einem längeren Aufenthalt in Mekka abzuhalten und die Verteilung von Almosen aus Indien in Mekka zu verbieten. Dies brachte Akbar dazu, die Beziehungen zu den Scherifen abzubrechen. 1607 sandte der Scherif Idrīs ibn al-Hasan eine Gesandtschaft nach Indien, um nach dem Herrschaftsantritt von Dschahangir die freundschaftlichen Beziehungen zum Mogulreich wiederzubeleben. Der scherifische Gesandte, der einen Vorhang der Kaaba-Tür als Geschenk mitbrachte, erhielt zwar eine Audienz bei Dschahangir und konnte mit Geschenken im Wert von 100.000 Rupien für den Scherifen nach Mekka zurückkehren, doch zeigte der neue Mogulherrscher keinerlei Interesse an einer Pflege der Beziehungen mit den Herrschern des Hedschas. Zu einer echten Intensivierung der mogulisch-scherifischen Beziehungen kam es jedoch während der Herrschaft von Shah Jahan (reg. 1627–1658). Der Mogulherrscher nahm nicht nur die Tradition der jährlichen Haddsch-Karawane wieder auf, sondern schickte auch mehrfach Gesandtschaften mit Geschenken und Zuwendungen für den Scherifen Zaid ibn Muhsin (reg. 1631–1667) nach Mekka, so 1637, 1645, 1650 und 1653. Der Scherif sandte umgekehrt 1643 einen Gesandten nach Indien, der Shah Jahan als Geschenk einen Schlüssel der Kaaba überbrachte und dafür Geschenke von Shah Jahan erhielt. Insgesamt leistete Shah Jahan an den Scherifen im Laufe seiner Herrschaft Geldzahlungen in Höhe von mehr als 300.000 Rupien. Aurangzeb, der 1658 seinen Vater Shah Jahan entthronte und die Macht im Mogulreich ergriff, sandte ein Jahr später eine Gesandtschaft mit einer Zuwendung von über 600.000 Rupien für die scherifischen Familien von Mekka in den Hedschas. Der Scherif Zaid soll jedoch die Annahme des Geldes verweigert haben, weil er die Herrschaft Aurangzebs als illegitim betrachtete. Erst 1662, als eine neue mogulische Delegation bei ihm eintraf, akzeptierte er das Geschenk. Um sich zu bedanken, sandte er selbst eine Delegation zu Aurangzeb, die ihm als Geschenk drei arabische Pferde und einen Besen aus dem Prophetengrab in Medina überbrachte. Die Nachfolger des Scherifen Zaid sandten in den folgenden Jahrzehnten noch mehrere andere Delegationen zu Aurangzeb, doch zeigte sich der Mogulherrscher bei diesen Gelegenheiten nicht mehr ganz so großzügig; später äußerte er sogar offen seine Entrüstung über die Gier der Scherifen. Eine Gesandtschaft, die der Scherif Barakāt ibn Muhammad (reg. 1672–1682) Anfang der 1680er Jahre zu Aurangzeb aussandte, reiste nach langem vergeblichen Warten auf eine Audienz bei dem Herrscher nach Banda Aceh weiter, wo sie von der Sultanin von Aceh empfangen wurde. Diese fühlte sich durch den Besuch aus Mekka sehr geehrt und beschenkte die Abgesandten großzügig. 1683 kehrte die Delegation beladen mit 3 Qintār Gold, drei Ratl Campher, Aloeholz und fünf goldenen Lampen für die Kaaba nach Mekka zurück. Die Beziehungen zu den Mogulherrschern verbesserten sich nach Aurangzebs Tod wieder. Die Mogulherrscher Bahadur Shah I. (reg. 1707–1712) und Farrukh Siyar (reg. 1713–1719) ließen den Scherifen jährliche Subsidien in Höhe von 100.000 Rupien zukommen. Danach konnten die Mogulherrscher ihre finanzielle Unterstützung der Scherifen aus ökonomischen Gründen nicht mehr in dieser Höhe aufrechterhalten, doch blieben die mogulisch-scherifischen Beziehungen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts freundschaftlich. Verhältnis zum mekkanischen Patriziat und zu den Beduinen Im 16. und 17. Jahrhundert lebte in Mekka eine Anzahl alteingesessener Familien, deren Angehörigen traditionell viele der liturgischen und juristischen Ämter in Mekka vorbehalten waren. Die wichtigsten dieser Familien, die Dhawū l-buyūtāt genannt wurden, waren die Banū Zahīra, die Tabarīyūn und die Zamzamīyūn. Sie bildeten in gewisser Weise eine Art städtisches Patriziat. Ihre Vorrangstellung in der Heiligen Stadt legitimierten diese Familien mit Anciennität und einer vornehmen Abstammung. ʿAlī at-Tabarī (gest. 1660), ein Angehöriger der Tabarīyūn, der ein eigenes Geschichtswerk über Mekka verfasste, behandelt darin in einem eigenen Kapitel die Regeln (qawāʿid), die die Scherifen gegenüber den Dhawū l-buyūtāt einzuhalten hatten. Dazu gehörten allerlei Ehrenbezeigungen wie zum Beispiel, dass der herrschende Scherif den Angehörigen dieser Familien bei Sitzungen bestimmte Plätze zu reservieren und bei Todesfällen ihrem Totengebet beizuwohnen hatte, aber auch die Verpflichtung, bestimmte administrative und protokollarische Ämter aus ihren Reihen zu besetzen. At-Tabarī erlegte dem Scherifen sogar die Pflicht auf, sich aus dem Kreis der Dhawū l-buyūtāt einen „Begleiter“ (muṣāḥib) auszuwählen. Dieser sollte sich ständig in seiner Nähe aufhalten und ihm aus wissenschaftlichen und literarischen Büchern vorlesen. Zur Begründung verwies er darauf, dass sein Vater ʿAbd al-Qādir at-Tabarī (gest. 1623) diese Funktion bei dem Scherifen Hasan ibn Abī Numaiy (reg. 1566–1601) wahrgenommen hatte. Die Beziehung zu den Beduinen der Umgebung pflegten die Scherifen dadurch, dass sie alle Knaben, auch die Söhne des herrschenden Scherifen, kurze Zeit nach der Geburt ihrer Mutter entzogen und einem Beduinenstamm der Wüste anvertrauten, damit sie von diesem erzogen wurden. Die Kinder kamen erst mit zehn, zwölf Jahren oder noch später in ihre Familien zurück. Dieser Brauch, den man auf Mohammed selbst zurückführte, hatte den Vorteil, die Scherifen von Kind auf mit der Sprache und den Sitten der Beduinen vertraut zu machen und dauernde Verbindungen zu diesen Familien herzustellen. Während ihres ganzen Lebens bewiesen die scherifischen Zöglinge ihrer ehemaligen Pflegefamilie Ehrfurcht und Freundschaft und betrachteten sie als ihre Verwandten. Oft sogar zogen sie ihre Pflegeeltern ihren wirklichen Eltern, die sie zum Teil niemals gesehen hatten, vor. Die Söhne des herrschenden Scherifen wurden üblicherweise im Stamm der ʿUdwān erzogen; die anderen scherifischen Familien schickten ihre Kinder meist in die Lager der Hudhail, Thaqīf oder Banū Saʿd oder manchmal auch zu den Quraisch oder Harb. Viele Scherifen wurden zudem mit Mädchen aus den Beduinenstämmen der Umgebung verheiratet. Rivalitäten zwischen verschiedenen scherifischen Clanen Ab 1631 rivalisierten drei verschiedene Clane des Scherifenhauses, die Dhawū ʿAbdallāh, die Dhawū Barakāt und die Dhawū Zaid, um die Macht über die Stadt und ihr Hinterland. Von 1631 bis 1671 stellten die Dhawū Zaid die Emire von Mekka. 1672 brachte der maghrebinische Gelehrte Muhammad ibn Sulaimān als osmanischer Abgesandter die Dhawū Barakāt an die Macht. Ihnen wurde aber von Anfang an zur Auflage gemacht, dass sie drei Viertel ihrer Einnahmen an die anderen Scherifen-Familien abführen mussten. Als 1683 die von Barakāt ibn Muhammad ausgesandte Delegation mit vielen Geschenken beladen aus Aceh zurückkehrte, kam es über die Verteilung dieser Geschenke unter den Scherifen zu heftigen Auseinandersetzungen, da der Scherif Saʿīd ibn Barakāt nicht bereit war, drei Viertel davon an die anderen scherifischen Familien abzuführen. Im Jahre 1684 kamen wieder Angehörige der Dhawū Zaid an die Macht, und mit Ausnahme nur weniger Zwischenzeiten, in denen erneut Angehörige der Dhawū Barakāt über Mekka herrschten, stellten sie fast alle weiteren herrschenden Scherifen von Mekka im 18. Jahrhundert. Allerdings hatten sich die Dhawū Zaid in dieser Zeit noch mit anderen scherifischen Familien auseinanderzusetzen. So erhoben Anfang der 1740er Jahre Scherifen aus der Nachkommenschaft von al-Hasan II. ibn ʿAdschlān (reg. 1394–1425), die fünf Tagesreisen südlich von Mekka siedelten, unerwarteterweise Anspruch auf die Herrschaft über die Heilige Stadt und bedrohten die Pilger aus dem Jemen. Zur Bekämpfung dieser Dhawū l-Hasan schickte 1742 der Scherif Masʿūd bin Saʿīd ein scherifisches Heer unter Führung seines Neffen in den Süden. Es belagerte die Festungen der Dhawū l-Hasan, die daraufhin in die Berge der Banū Sulaim flohen. Das scherifische Heer folgte ihnen und konnte schließlich den Führer der Dhawū l-Hasan, einen gewissen ʿAssāf, zusammen mit seinen engsten Anhängern ergreifen. Sie wurden in Ketten nach Mekka gebracht und dort ins Gefängnis geworfen. Dort starben sie später an den Pocken. Im Jahre 1770 unternahmen die Dhawū Barakāt einen letzten Versuch, die Macht in Mekka wiederzuerlangen. Mit Unterstützung des ägyptischen Mamluken-Emirs Ali Bey al-Kabir, der seinen Mamluken Abū dh-Dhahab mit Truppen nach Mekka sandte, konnte der ihrer Familie zugehörige ʿAbdallāh ibn Husain im Juni 1770 die heilige Stadt in seine Gewalt bringen, doch wurde er schon vier Monate später, nachdem die ägyptischen Truppen wieder aus Mekka abgezogen waren, durch Ahmad ibn Saʿīd von den Dhawū Zaid verdrängt. Nach dem Bericht von Jean Louis Burckhardt hatten die verschiedenen scherifischen Familien in Mekka bis zur Herrschaft von Surūr ibn Musāʿid (1773–1788) sehr viel Macht. Jeder Scherif hatte in seinem Haus 30 bis 40 bewaffnete Sklaven und darüber hinaus mächtige Freunde unter den Beduinen. Viele von ihnen hatten Sinekure-Ämter beim herrschenden Scherifen, ohne aber dessen Befehl zu respektieren. Einige betätigten sich darüber hinaus mit ihren Anhängern und Sklaven als Wegelagerer und raubten die Pilger auf den Zugangswegen nach Mekka aus. Erst Surūr, so berichtet Burckhardt, machte die Scherifen botmäßig und sorgte in Mekka für gerechte Verhältnisse. Er baute die Festung von Mekka aus, hielt sich ein großes Korps aus Sklaven und Beduinen, das er aus seinen Handelsaktivitäten im Jemen finanzierte, und zwang die mächtigsten scherifischen Familien zur Auswanderung. Die Dhawū Barakāt zogen sich nach ihrer Entmachtung in den Jemen, teils in verschiedene Täler des Hedschas zurück. Charles Didier verglich Surūr aufgrund seiner Stärkung der Zentralmacht des scherifischen Emirs mit Ludwig XI. und Richelieu. Erste Auseinandersetzungen mit den Wahhabiten Im Laufe des 18. Jahrhunderts machte sich immer stärker die rigoristische Reformbewegung der Wahhabiten in Mekka bemerkbar. Schon der Scherif Masʿūd ibn Saʿīd (reg. 1734–1759) war über diese Bewegung beunruhigt und sandte ein Schreiben an die Hohe Pforte, in dem er diese über das Auftreten des Häretikers Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb in Innerarabien informierte. Aufgrund ihrer Lehre, die von den Scherifen und der Hohen Pforte als ketzerisch betrachtet wurde, waren die Wahhabiten grundsätzlich von der Teilnahme am Haddsch ausgeschlossen. Ab den 1760er Jahren schickten die Wahhabiten, die von dem saudischen Emir von Dirʿīya im Nadschd unterstützt wurden, mehrere Delegationen zu den Scherifen, um – mit unterschiedlichem Erfolg – die Erlaubnis zur Teilnahme an der Pilgerfahrt zu erbitten. Auch im Jahre 1790 entsandten die Wahhabiten wieder eine Delegation nach Mekka, die aber den Scherifen Ghālib, der seit 1788 herrschte, nicht von der Rechtgläubigkeit der wahhabitischen Lehre überzeugen konnte. Dadurch, dass sich in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre zwei Beduinenstämme in der direkten Nachbarschaft zum Hedschas den Wahhabiten angeschlossen hatten, fühlte sich Ghālib durch sie zunehmend in seinem Machtbereich bedroht. Deshalb schickte er 1791 seinen Bruder ʿAbd al-ʿAzīz ibn Musāʿid mit Truppen in den Nadschd, die dort ein wahhabitisches Dorf belagerten. Diese Kämpfe bildeten den Auftakt zu einer größeren militärischen Konfrontation, denn die Wahhabiten beantworteten die Belagerung mit einem Aufruf zum Dschihad, dem viele ihrer Anhänger folgten. Im Frühjahr 1793 sandte Ghālib eine Delegation nach Istanbul, um die Hohe Pforte über das Auftreten der Wahhabiten zu unterrichten, doch schenkte man dort der Angelegenheit keinerlei Beachtung. Zwar schlossen sich den scherifischen Truppen verschiedene Beduinenfraktionen an, die den Wahhabiten die Gefolgschaft aufgekündigt hatten, doch konnten die Wahhabiten 1796/97 Bīscha und Ranya, zwei strategisch bedeutsame Orte im östlichen Hedschas, die bis dahin zum Territorium des Scherifen gehört hatten, erobern. Im Frühjahr 1798 brachte Saud I. ibn Abd al-Aziz, der Sohn des Emirs von Dirʿīya, Ghālib bei Churma eine schwere Niederlage bei. Der Scherif sah sich schließlich gezwungen, mit Abd al-Aziz I., dem Emir von Dirʿīya, in Verhandlungen einzutreten. 1799 wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, das die Machtsphären der beiden Seiten festlegte und den Wahhabiten Zugang zu den Städten Mekka und Medina gewährte. Der Scherif Ghālib zwischen Franzosen, Briten und Wahhabiten (1798–1813) Ghālib war ein besonders wohlhabender und ehrgeiziger scherifischer Herrscher. Er besaß ausgedehnte Ländereien in der Umgebung von Mekka und Ta'if und unterhielt eine kleine Handelsflotte, die im Kaffeehandel tätig war und auch indische Häfen anfuhr. In Dschidda besaß er mehrere Häuser und Karawansereien, die er an Ausländer vermietete. Außerdem konnte er die Zolleinkünfte des Hafens von Dschidda, die er eigentlich mit den Osmanen zu teilen hatte, ganz an sich ziehen. Andere Händler, die mit ihren Schiffen die Häfen von Dschidda oder Yanbuʿ anliefen, hatten eine erhöhte Zollgebühr an ihn zu entrichten. Auf dem Höhepunkt seiner Macht betrug sein Jahreseinkommen ungefähr 350.000 Pfund Sterling. Mit seinem Vermögen unterhielt Ghālib eine Armee, die aus 400 Jemeniten, 400 Yāfiʿ-Beduinen, 400 Hadramiten, 400 Maghrebinern und 400 Afghanen bestand. Ghālib strebte auch nach größerer Unabhängigkeit gegenüber der Hohen Pforte. In den verschiedenen Orten des Hedschas setzte er eigene Statthalter ein, die den Titel eines Wesirs führten. Osmanische Paschas, die die Pilgerkarawane begleiteten, zwang er, sein Recht des Vorrangs bei allen Angelegenheiten anzuerkennen. Und er verbreitete im ganzen Hedschas, dass er im Rang höher als irgendein osmanischer Beamter sei und in Konstantinopel, nach strenger Etikette, selbst der Sultan vor ihm aufstehen und ihn grüßen müsse. Nachdem 1798 Napoleon Bonaparte Ägypten besetzt hatte, betrachtete dies Ghālib als eine willkommene Gelegenheit, um die osmanische Oberherrschaft abzuschütteln. Ali Bey, der Mekka Anfang des 19. Jahrhunderts besuchte, beobachtete, dass die Osmanen in Mekka „sich in nichts einmischen können, was die Verwaltung betrifft, die vollständig in den Händen des Scherifen liegt, der als ein unabhängiger Sultan herrscht.“ Umgekehrt entwickelte Ghālib ein freundschaftliches Verhältnis zu den Franzosen und empfing auch französische Abgesandte an seinem Hof. Die Franzosen sicherten ihm zu, die ägyptischen Subsidienzahlungen für Mekka aufrechtzuerhalten. Da die britische Regierung in Indien fürchtete, dass Ghālib gemeinsame Sache mit den Franzosen machen könnte, schickte sie Anfang 1800 Admiral John Blankett nach Dschidda, um mit dem Scherifen Kontakt aufzunehmen. Ghālib begegnete ihm allerdings eher feindlich, weil er vermutete, dass sich die Briten für eine Wiederherstellung der osmanischen Oberherrschaft über Mekka einsetzen würden. Als sich Ende 1800 die Pläne für eine britische Besetzung Ägyptens konkretisierten, sandten die Briten eine Delegation unter Leitung von Home Riggs Popham nach Dschidda, um Verhandlungen über die Errichtung einer britisch-indischen Faktorei in Dschidda mit Ghālib zu führen. Die Verhandlungen erwiesen sich allerdings als sehr schwierig, da man in Mekka auf die Getreideversorgung aus Ägypten angewiesen war und der Scherif damit rechnete, dass die Franzosen die Herren Ägyptens bleiben würden. Da Ghālib auch im Frühjahr 1801 in den Verhandlungen unbeugsam blieb, machte der Nawab Mahdī ʿAlī, der auf britischer Seite an den Verhandlungen beteiligt war, den Vorschlag, Ghālib durch seinen Bruder, der im Jahre 1788 nur wenige Monate die Herrschaft innegehabt hatte, zu ersetzen, was von der britischen Regierung in Indien befürwortet wurde. Der Abzug der französischen Truppen aus Ägypten führte jedoch dazu, dass der Plan nicht mehr umgesetzt wurde. Indessen sah sich Ghālib in seinem Herrschaftsbereich immer stärker mit Überfällen durch wahhabitische Freischärler konfrontiert. Um den Frieden von 1799 neu auszuhandeln, sandte er im Jahr 1801 seinen Wesir und Schwager ʿUthmān ibn ʿAbd al-Rahmān al-Mudāyifī nach Dirʿīya. Allerdings stellte der sich dort in den Dienst des saudischen Emirs. Mit Unterstützung des wahhabitischen Emirs von Bīscha eroberte ʿUthmān im Februar 1803 die Stadt Ta'if und später Qunfudha. Derweil zog Saud, der im gleichen Jahr die Führung der Wahhabiten übernahm, mit einem Heer gegen Mekka. Vergeblich versuchte Ghālib, die Führer der Pilgerzüge zu einem Eingreifen gegen die Wahhabiten zu bewegen. Aufgrund der aussichtslosen Lage zog er sich im März 1803 in die stark befestigte Stadt Dschidda zurück. Saud nahm im April 1803 Mekka kampflos ein, setzte Ghālibs Bruder ʿAbd al-Muʿīn als Emir ein und stationierte eine kleine Garnison von Wahhabiten in Mekka. Danach zog er gegen Dschidda, konnte die Stadt aber nicht einnehmen und zog sich mit seinem Heer in sein Stammland zurück. Ghālib setzte den Widerstand gegen die Wahhabiten fort und konnte im Juli 1803 Mekka zurückerobern. Bald änderten sich die Machtverhältnisse wieder zugunsten Sauds, der 1804 Medina erobern konnte. Nach monatelanger Belagerung Mekkas durch ʿUthmān gab sich Ghālib schließlich im Februar 1806 geschlagen. Auf Befehl Sauds mussten alle Soldaten des Scherifen Mekka verlassen, und seine Autorität wurde annulliert. Ghālib musste die Oberherrschaft des Emirs von Dirʿīya akzeptieren und den Wahhabismus als einzig geltende islamische Lehre anerkennen. Nach verschiedenen europäischen Berichten trat er sogar selbst zum wahhabitischen Glauben über. Im Oktober 1806 konnte er aber nach Mekka zurückkehren, wo er auf dem Hindī-Berg eine neue Festung für sich errichten ließ. Ghālib blieb als Emir von Mekka weiter im Amt, betätigte sich im Seehandel und schickte Schiffe aus nach Mokka, Maskat und Surat in Indien. Außerdem konnte er seine Herrschaft auf Sawakin und Massaua an der afrikanischen Küste des Roten Meeres ausdehnen. Ägyptische Zwischenzeit (1813–1840) Im Jahre 1811 zog der ägyptische Vizekönig Muhammad Ali Pascha im Auftrag des osmanischen Sultans in den Krieg gegen die Wahhabiten. Er nahm 1813 Mekka ein, entmachtete Ghālib und verbannte ihn nach Ägypten und später nach Saloniki, wo er im Jahre 1816 an der Pest starb. Zum neuen Emir wurde noch 1813 Yahyā ibn Surūr, ein Neffe Ghālibs, ernannt. Der Pascha setzte ihm ein Gehalt von 800 Pfund aus, mit dem er seine Truppen und seinen Haushalt zu unterhalten hatte, und zog alle anderen Einnahmequellen des Emirats, darunter auch die Zolleinkünfte des Hafens von Dschidda, an sich. Der neue Emir bekam einen ägyptischen Pascha an die Seite gestellt und übte die Herrschaft nur noch nominal aus. Für die Verhandlung mit den Beduinen und Scherifen war nun Schanbar ibn Mubārak zuständig; er stammte aus der Scherifenfamilie der Manāʿima, die schon seit Jahrhunderten von der Regierung ausgeschlossen war. Auch auf der Ebene der Rechtsprechung verminderte sich der Einfluss des Scherifen. Alle Prozesse wurden jetzt an regulären Gerichten entschieden. Der von Muhammad Ali eingesetzte Qādī von Mekka besetzte auch die Gerichtsstellen von Dschidda und Ta'if. Jean Louis Burckhardt, der 1814 Mekka besuchte, gibt in seinem Reisebericht eine Beschreibung von der Kleidung, die der herrschende Scherif und die anderen mekkanischen Scherifen zu seiner Zeit trugen: „Der Scherif kleidet sich auf die gleiche Weise, wie all die Häupter der Scherifenfamilien in Mekka; er trägt gewöhnlich einen indischen seidenen Rock, über diesen einen weißen Abba, von der schönsten Manufactur von al-Ahsa am Persischen Golf, einen Kaschmir-Schal um den Kopf und an den Füßen gelbe Pantoffeln oder manchmal Sandalen.“ Burckhardt berichtet, dass die Scherifen Mekkas als Zeichen der Unterscheidung gegenüber Nicht-Scherifen keinen grünen Turban trugen, sondern eine hohe wollene Mütze von grüner Farbe, um welche sie den Kaschmir- oder einen weißen Musselin-Schal schlugen. Wenn der herrschende Scherif ausritt, begleitete ihn ein Reiter mit einem Sonnenschirm chinesischer Art mit seidenen Quasten, den er immer dann über ihn hielt, wenn die Sonne ihn belästigte. Dies war das einzige Hoheitszeichen, durch das sich der Scherif unterschied, wenn er öffentlich erschien. Allerdings waren zu der Zeit, als sich Burckhardt in Mekka aufhielt, nur noch wenige Scherifen dort zu sehen: 300 von ihnen waren zusammen mit Ghālib nach Ägypten verbannt worden, andere hatten sich zu den Wahhabiten oder in den Jemen abgesetzt. Die wenigen, die im Hedschas verblieben waren, waren als Führer in der Armee Muhammad Alis angestellt oder von ihm einem kleinen Beduinenkorps einverleibt worden, das von dem Scherifen Rādschih angeführt wurde. Um die Macht der Dhawū Zaid zu brechen, förderte Muhammad Ali die Dhawū ʿAbdallāh und ernannte 1827 einen von ihnen, Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn, zum neuen Emir von Mekka. Auch fast alle folgenden Scherifen von Mekka waren Nachkommen von Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn. Nach dessen Großvater ʿAun ibn Muhsin werden die Angehörigen dieses Zweiges der Dhawū-ʿAbdallāh-Familie als Dhawū ʿAun bezeichnet. Nach einem Konflikt mit dem ägyptischen Statthalter Ahmad Pascha wurde Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn aber 1836 nach Kairo beordert und dort interniert. In der Zeit bis 1840 stand der Hedschas unter ägyptischer Direktherrschaft. Zweite Osmanische Oberherrschaft (1840–1914) Die veränderte Beziehung zur osmanischen Obrigkeit Nachdem 1840 die Osmanen durch den Vertrag von London die Oberherrschaft über den Hedschas wiedererlangt hatten, setzten sie den Scherifen Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn wieder in sein Amt ein. Außerdem sandten sie einen Kaymakam nach Dschidda, über dessen Einsetzung sie den Scherifen unterrichteten. Um das Wohlverhalten des herrschenden Scherifen zu sichern, holten die osmanischen Behörden dessen Söhne als Geiseln nach Istanbul. Der Aufenthalt in der Hauptstadt diente auch dazu, die zukünftigen scherifischen Herrscher mit den osmanischen Bräuchen vertraut zu machen und in die innere und äußere Politik des Staates einzuweisen. Wie der tunesische Gelehrte Muhammad Bairam (1840–1889) berichtet, hatten die Scherifensöhne während ihres Aufenthaltes in Istanbul den Rang eines Wesirs inne und waren auch Mitglieder des staatlichen Schura-Rates. Die Söhne des Scherifen Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn bekamen ab 1848 nacheinander auch den Rang eines Pascha verliehen. Andere Mitglieder der scherifischen Familie wurden deshalb in Istanbul in Ehrenhaft gehalten, um dem herrschenden Scherifen unliebsame Rivalen vom Leibe zu halten oder auch um für den Fall, dass sich der Scherif als unzuverlässig erweisen sollte, schnell Ersatz bei der Hand zu haben. 1851 ersetzten die Osmanen zum Beispiel den Scherifen Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn durch ʿAbd al-Muttalib ibn Ghālib aus der rivalisierenden Familie der Dhawū Zaid. Als es dann 1855 wegen des Verbots des Sklavenhandels in Mekka zu einem Aufstand kam und sich ʿAbd al-Muttalib an dessen Spitze stellte, installierten sie 1856 erneut Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn von den Dhawū ʿAun, der die Zwischenzeit in Istanbul im Exil verbracht hatte. Der Schweizer Schriftsteller Charles Didier, der 1854 den Scherifen ʿAbd al-Muttalib in Ta'if besuchte und darüber 1857 einen Bericht veröffentlichte, meinte, dass das wirkliche Scherifat schon mit Ghālib geendet habe, weil alle nachfolgenden von der Pforte ernannten Scherif-Emire nur noch Beamte der osmanischen Regierung seien und lediglich „einen Schatten von Macht“ behalten hätten. Neuere Untersuchungen haben indessen gezeigt, dass die Autonomie der Scherifen während der zweiten osmanischen Oberherrschaft großen Schwankungen unterworfen war. 1869 führten die Osmanen im Zuge der Tanzimat-Politik in Mekka und in den anderen Städten des Hedschas einen Gemeinderat (maǧlis idāra) und einen Rat zur Rechtspflege (maǧlis at-tamyīz) ein. Diese Gremien scheinen jedoch lediglich formal existiert zu haben. Die Briten, die Dhawū ʿAun und die Vision eines scherifischen Kalifats Anders als die Dhawū Zaid standen die Dhawū ʿAun, die seit 1856 in Mekka herrschten, in einem freundschaftlichen Verhältnis zu Briten und Europäern. Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīns Sohn ʿAbdallāh ibn Muhammad, der von 1858 bis 1877 herrschte, öffnete den Hedschas für den europäischen Handel. Eine besonders britenfreundliche Haltung zeigte der Scherif al-Husain ibn Muhammad (reg. 1877–1880). Als der afghanische Emir Schir Ali den Briten Probleme bereitete, weil er keine britische Vertretung in Kabul dulden wollte, konnte der britische Konsul in Dschidda James Zohrab eine Proklamation von al-Husain erwirken, in der dieser Schir Ali zu einer Zusammenarbeit mit den Briten aufforderte. Darüber hinaus setzte sich Husain für die Interessen von Muslimen aus Britisch-Indien ein, die zum Haddsch nach Mekka kamen. Da zur gleichen Zeit der osmanische Sultan wegen der Niederlage im Russisch-Osmanischen Krieg sehr geschwächt war, richteten sich große Hoffnungen auf al-Husain. Der britische Schriftsteller Wilfrid Scawen Blunt berichtet, dass die Araber zu dieser Zeit offen darüber sprachen, al-Husain anstelle des Sultans zum Kalifen zu machen. Al-Husain wurde allerdings schon im März 1880 von einem als Derwisch verkleideten Afghanen ermordet. Britische Diplomaten führten das auf Husains christenfreundliche und probritische Haltung zurück, insbesondere deswegen, weil die Osmanen kurz danach verlauten ließen, wieder den britenfeindlichen ʿAbd al-Muttalib von den Dhawū Zaid als Scherifen einsetzen zu wollen. Nach Blunt herrschte der allgemeine Eindruck vor, dass al-Husains Mörder aus der Türkei kam, und viele meinten, dass die „Stamboul Camarilla“ und der Sultan den Mord in Auftrag gegeben hatten. Obwohl Mahmud Nedim Pascha und auch Austen Henry Layard, britischer Botschafter in Istanbul, vor einer Wiedereinsetzung ʿAbd al-Muttalibs mit Verweis auf seine Rolle bei dem Aufstand von 1855 warnten, ließ sich der Sultan nicht von seinem Plan abbringen, so dass ʿAbd al-Muttalib, der damals fast 90 Jahre alt war, im Mai erneut sein Amt antreten konnte. James Zohrab betonte in dieser Zeit in Briefen an die britische Regierung, dass es eine Pflicht Englands sei, die ʿAun-Familie zu unterstützen, weil diese immer eine schützende Hand über die Briten im Hedschas gehalten habe. Zohrab forderte auch, dass die Briten dem osmanischen Sultan nicht länger das Vorrecht überlassen sollten, den Scherifen auszuwählen, mit dem Argument, dass England vier Mal mehr Muslime unter seiner Herrschaft habe als der Sultan. Blunt träumte 1881 von einem „Transfer des Sitzes der spirituellen Macht von Konstantinopel nach Mekka“ und betonte, dass in Anbetracht des sterbenden Osmanischen Reiches die „Masse der Mohammedaner“ in der scherifischen Familie von Mekka nach einem Repräsentanten ihrer obersten Führung und des Kalifats suche. Die scherifische Familie sollte die Osmanen als „neue Dynastie“ ablösen und damit die Errichtung einer „musulmanischen Theokratie“ ermöglichen. Politisch, so meinte Blunt, werde der „Kalif in Mekka“ weniger bedeutsam sein als derjenige am Bosporus, aber religiös werde er einen viel festeren Stand haben, weil er von den Quraisch abstamme. Blunt verband mit dem zukünftigen mekkanischen Kalifat die Hoffnung, dass es zu einer „Versöhnung der Schismatiker, der Ibaditen und der Schiiten mit der (sc. sunnitischen) Orthodoxie“ und einer allgemeinen Reformation des Islams beitragen werde. Allerdings meinte er, dass nur ein Scherif von den „liberalen“ Dhawū ʿAun diese Rolle erfüllen könnte. Osman Paschas Initiative zur Entmachtung der Scherifen ʿAbd al-Muttalib schrieb 1881 einen Brief an die Hohe Pforte, in dem er den Dhawū ʿAun vorwarf, Aufruhr zu verbreiten. Gleichzeitig kamen Gerüchte auf, dass ʿAbd al-Muttalib mit Muhammad al-Mahdī as-Sanūsī, dem Anführer des Sanūsīya-Ordens, gegen das Osmanische Reich intrigiere. Der osmanische Sultan entsandte daraufhin den jungen General Topal Osman Nuri Pascha mit 2.000 Soldaten zu einer „speziellen Mission“ in den Hedschas. Ziel dieser Mission war eine Beschränkung der Vollmachten und Vorrechte des Scherifen. Ein Adjutant, der noch vor dem General in Mekka ankam, ließ im November 1881 in Mekka ausrufen, dass der Scherif fortan keine Zuständigkeit mehr für die Gerichtsbarkeit in Mekka habe und die Zuständigkeit für die Beduinen auf den osmanischen Gouverneur übertragen werde. Osman Nuri Pascha, der nach seiner Ankunft zum Gouverneur des Hedschas ernannt wurde, übernahm dort alle Regierungsgeschäfte und sandte im Februar 1882 ein umfassendes Memorandum über eine Beschränkung der Befugnisse des Scherifen an die Hohe Pforte. Osman Pascha empfahl darin, dass der Scherif fortan keine richterlichen Funktionen mehr haben und keine eigene Armee mehr besitzen sollte außer einer kleinen Anzahl von Zabtiya-Kräften, die der osmanische Vâlî ihm zuweisen würde. Der Scherif sollte darüber hinaus noch eine ganze Anzahl anderer Zuständigkeiten an den osmanischen Vâlî abgeben: die Zuständigkeit für die Angelegenheiten des Haram und der Stiftungen im Hedschas, das Recht der Ernennung der Muftis der vier Rechtsschulen, des Vorstehers der Scherifen (naqīb al-ašrāf), des Muhtasibs, der Vorsteher der Zünfte, der Vorsteher der verschiedenen Stadtviertel und der Scheiche der verschiedenen Beduinenstämme. All diese Personen sollten zukünftig vom Vâlî eingesetzt werden. Nur bei der Verteilung der jährlichen Zuwendungen an die Beduinenstämme und bei der Schlichtung von Auseinandersetzungen zwischen diesen Stämmen sollte der Scherif noch mitreden dürfen. Osman Paschas Ziel war es, den Scherifen seiner weltlichen Macht zu entkleiden und ihn auf die Rolle eines „Hohepriesters“ zu reduzieren. Osman Paschas Memorandum wurde von der Hohen Pforte positiv aufgenommen, und der Sultan befahl, dass diese Beschränkungen der scherifischen Macht zukünftig in jedem Einsetzungsschreiben eines Scherifen erwähnt werden sollten. Der Scherif ʿAbd al-Muttalib versuchte sich dem zunehmenden Druck zu entziehen, indem er im Juni 1882 darum bat, aus seinem Amt als Emir von Mekka entlassen zu werden und sich nach Medina zurückziehen zu dürfen. Osman Pascha ließ dies jedoch nicht zu, weil er den Verdacht hatte, dass sich ʿAbd al-Muttalib mit den Āl Raschīd aus Ha'il verbünden und unter ein britisches Protektorat stellen wollte. Als Ende August 1882 Kuriere mit Briefen ʿAbd al-Muttalibs abgefangen wurden, die diesen Verdacht angeblich erhärteten, beschuldigte ihn Osman Pascha rebellischer Intentionen, setzte ihn ab und verhaftete ihn. Als neuer Scherif wurde im September ʿAun al-Rafīq, ein weiterer Sohn von Muhammad ibn ʿAbd al-Muʿīn, eingesetzt. Die Briten waren über die Absetzung ʿAbd al-Muttalibs sehr erleichtert, auch deswegen, weil sie in ihm einen Verbündeten ihres Gegners Ahmed Urabi Pascha sahen. Um die Machtbasis der Scherifen in Dschidda zu zerstören, ließ Osman Pascha deren dortigen Agenten ʿUmar Nasīf gefangen nehmen und zu 15 Jahren Haft verurteilen. 1884 nahm Osman Pascha den alten Titel eines „Scheich des Haram“ (šaiḫ al-ḥaram) an und wurde vom Sultan zum Muschīr („Marschall“) erhoben. Er brachte nun die ʿUlamā' und Bediensteten des Haram vollständig unter seine Kontrolle. Nach Berichten des britischen Konsulats in Dschidda „war Osman Pascha’s Wort in allen großen und kleinen Angelegenheiten Gesetz.“ ʿAun al-Rafīq, der neue Scherif, war sich über den Machtverlust seines Amtes im Klaren und zog sich weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück. Er empfing nur noch freitags allgemeinen Besuch, an anderen Tagen blieb er allein für Freunde zugänglich. Widerstand kam allerdings von den Gelehrten und Notabeln, die nicht damit einverstanden waren, dass sich der osmanische Gouverneur die Befugnisse des Scherifen angeeignet hatte. Acht von ihnen wurden von Osman Pascha in die Verbannung geschickt. Darüber hinaus nutzte Osman Pascha seine Aufsicht über die Gehälter der Gelehrten und Scherifen, um Druck auf sie auszuüben. Die Restauration des Scherifats nach Osman Paschas Abberufung Osman Pascha übte nicht nur Druck auf die lokalen Gelehrten und Notabeln aus, sondern versuchte auch, die Beduinenstämme einzuschüchtern. Im Sommer 1883 kam es zwischen dem stärksten von ihnen, den Banū Harb, der den Weg zwischen Mekka und Medina kontrollierte, und Osmans Truppen zu einer größeren Konfrontation, infolge derer er dem Stamm die jährlichen Getreidelieferungen vorenthielt. Diese Politik machte Osman Pascha sehr unbeliebt im Hedschas, so dass sich in Mekka eine Opposition gegen ihn formierte. Ende 1885 nahmen die Spannungen weiter zu, als Osman Pascha im Gemeinderat von Mekka seinen Plan verkündete, ein neues System der Stadtteilverwaltung mit gewählten Ortsvorstehern einführen zu wollen. Einwände gegen diesen Plan wischte er mit der Bemerkung beiseite, „Mekka sei doch nicht besser als Istanbul“. Hieraufhin wurden an den Toren der Heiligen Moschee Zettel angeschlagen, auf denen ein „Islamischer Verein“ Osman Pascha verfluchte und zu seiner Ermordung aufrief. Der Scherif ʿAun al-Rafīq stellte sich nun an die Spitze der Oppositionsbewegung gegen Osman Pascha und sandte mehrere Briefe und Telegramme nach Istanbul, in denen er sich über das respektlose Verhalten des osmanischen Gouverneurs gegenüber den Gelehrten und den Beduinenstämmen beklagte. Gleichzeitig sandten 27 führende Gelehrte und Scherifen eine Petition an den Sultan, in der sie sich über das unterdrückerische Verhalten des Gouverneurs beschwerten und andeutungsweise mit der Auswanderung aus dem Hedschas drohten. Im Herbst 1886 zog schließlich der Scherif nach Medina und schickte von dort eine Gesandtschaft zur Hohen Pforte mit der Bitte, entweder ihn oder den Wālī abzusetzen, weil ihm eine Rückkehr nach Mekka unmöglich sei, solange Osman dort sein Unwesen treibe. Der Machtkampf zwischen den beiden Kontrahenten endete damit, dass der Sultan Ende 1886 Osman Pascha nach Aleppo versetzte. Die Maßnahme war ein Zeichen dafür, dass die osmanische Politik zur Entmachtung des Scherifen gescheitert war. ʿAun al-Rafīq ging aus dem Machtkampf gestärkt hervor. Nach seiner Rückkehr nach Mekka ließ er oberhalb der Tür seines Palastes die Worte eingravieren: „Amt des edlen Emirats und der erhabenen Regierung“ (Dāʾirat al-amāra al-ǧalīla wa-l-ḥukūma as-sanīya). Wegen seiner engen Verbindung zu den Beduinenstämmen der Umgebung behielt er weiter eine wichtige Rolle bei der Organisation der Pilgerkarawane. Sowohl bei der Wahl der Wege als auch bei der Festsetzung der Kamelmietpreise hatte er entscheidenden Einfluss. Er setzte einen Haddsch-Beauftragten (maʾmūr al-ḥaǧǧ) zur Begleitung der Karawane sowie einen Taxator (muqauwim) zur Bereitstellung der erforderlichen Kamele ein. Außerdem konnte der Großscherif während der Wallfahrt Beziehungen zu hochgestellten muslimischen Persönlichkeiten aufbauen. „Muslimische Prinzen aus Indien, Emire aus Arabien, große Scheiche aus verschiedenen Stämmen, Personen von hohem Rang, sind seine Gäste bei diesen religiösen Festen“, schreibt ein zeitgenössischer arabischer Beobachter. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde jährlich mit der syrischen Karawane ein Investiturschreiben des osmanischen Sultans für den Scherifen nach Mekka gebracht, das dann bei der Wallfahrt in Minā öffentlich verlesen wurde. Dieser Zeremonie wohnten gewöhnlich der Vālī, der osmanische Militärkommandant und die Notabeln und Gelehrten der Stadt bei. Dann wurde dem Scherif ein Ehrengewand des Sultans verliehen, und die Anwesenden beglückwünschten ihn. Darüber hinaus erhielt der Scherif festgesetzte Gehaltszahlungen aus der ägyptischen Surra in Höhe von 479,50 ägyptischen Pfund. Haupteinnahmequelle des Scherifen waren aber die Steuern, die er auf die Kamele des Hedschas erhob. Allerdings entwickelte sich ʿAun al-Rafīq im Laufe der Zeit immer mehr zu einem despotischen und ausbeuterischen Tyrannen, dem alle machtlos ergeben waren. Wie vor ihm Uthman Pascha, ging er hart und ohne Respekt gegen Gelehrte, Scherifen und Beduinenscheiche vor und hielt die für diese Kreise bestimmten Geldzahlungen und Getreidelieferungen der Osmanischen Regierung zurück. Außerdem zwang er den Pilgern hohe Steuern und Gebühren auf, die als willkürlich empfunden wurden. Dazu gehörte auch die Zahlung von „Spenden“ für die Hedschasbahn. Wie berichtet wird, ließ er die Pilger so lange in Mekka festhalten, bis alle 1 Riyal entrichtet hatten; diejenigen, die die Zahlung verweigerten, ließ er verhaften. Außerdem zog er Gebühren von den mutauwifūn ein, für deren Berechtigung, die Pilger eines bestimmten Gebietes betreuen zu dürfen, und führte Lizenzen für all diejenigen ein, die in der „Haddsch-Dienstleistungsindustrie“ tätig waren. Auf diese Weise verteuerte sich die Wallfahrt für die Pilger, während gleichzeitig in Folge der schlechten Beziehung des Scherifen zu den Beduinenscheichen die Wege unsicherer wurden. Um die Wende zum 20. Jahrhunderts häuften sich deshalb in Ägypten, Indien und Südostasien die Beschwerden über ʿAun al-Rafīq. Trotz dieser Beschwerden hielt jedoch der osmanische Sultan Abdülhamid II. an dem Scherifen fest. Ibrāhīm al-Muwailihī, ein bekannter ägyptischer Journalist, äußerte den Verdacht, dass der Sultan dies deshalb tat, weil er damit „die Missetaten der Prophetennachkommen“ bekannt machen wollte, so dass sich die Menschen von ihnen abwendeten. So könne er sich von dem Ausspruch erholen, der ständig wiederholt werde, dass nämlich die Imame zu den Quraisch gehören müssen. Al-Dschawā'ib, eine von Chalīl Mutrān herausgegebene Zeitung, berichtete, dass einer der Höflinge dem Sultan vorgeschlagen hatte, ʿAun al-Rafīq zu entlassen, er dies jedoch mit der Begründung ablehnte, dass er ihn als eine „Mahnung und ein Exempel“ für diejenigen stehen lassen wolle, die die „Tyrannei des Kalifen der Türken“ lästig fänden, damit sie wüssten, wie die „Tyrannei des Kalifen der Araber“ aussähe. Die Entwicklung der scherifisch-britischen Beziehungen Obwohl ʿAun al-Rafīq zu den Dhawū ʿAun gehörte, war sein Verhältnis zu den Briten ebenfalls nicht gut. Seine Ernennung zum Scherifen im September 1882 war eigentlich von britischer Seite sehr begrüßt worden. Allerdings schlugen die hohen Erwartungen bald in Enttäuschung um, weil ʿAun al-Rafīq Kontakte mit den Briten scheute und aus den Pilgern aus Britisch-Indien hohe Geldbeträge herauspresste. 1895 erlebten die britisch-scherifischen Beziehungen einen Tiefpunkt, als Abdur Razzack, der langjährige britische Vizekonsul in Dschidda, vor der Stadt von Beduinen ermordet wurde und der Scherif keinerlei Anstrengungen unternahm, um das Verbrechen aufzuklären. Vorher war es im Zusammenhang mit der Einführung von Desinfektionsanstalten durch die osmanischen Behörden zu gewaltsamen Protesten von Pilgern und der lokalen Bevölkerung gekommen. In dieser Zeit schlug Ahmed Muhtar Pascha, osmanischer Hochkommissar in Ägypten, vor, den Emir zu entlassen und die gesamte Macht im Hedschas dem osmanischen Gouverneur zu übertragen. Erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts verbesserten sich die scherifisch-britischen Beziehungen wieder, was auch damit zu tun hatte, dass ʿAun al-Rafīq zwei Mal Ärzte des britischen Konsulats in Anspruch nahm. Die Briten bauten in dieser Zeit ein enges Verhältnis zu ʿAuns Neffen ʿAlī Bāscha ibn ʿAbdallāh auf, den sie als seinen potentiellen Nachfolger betrachteten. Die Verbesserung der scherifisch-britischen Beziehungen wurde auf osmanischer Seite mit Misstrauen beobachtet. Salih Münir Paşa, der osmanische Botschafter in Paris, äußerte im August 1903 die Vermutung, dass die Briten danach strebten, Arabien mit dem Nadschd und dem Hedschas schrittweise aus dem Herrschaftsbereich der osmanischen Regierung herauszulösen, das Kalifat den Scherifen zu übertragen, die dann unter britischem Einfluss stehen würden, um schließlich Arabien, den Nadschd und den Irak unter britischen Schutz zu nehmen und sie zu Kolonien zu machen, so wie sie es schon vorher mit Aden und anderen Gebieten gemacht hatten. Auf britische Veranlassung wurde ʿAlī Bāscha 1905 zum neuen Groß-Scherifen ernannt. Zwar wurde er schon drei Jahre später wegen seiner feindlichen Haltung gegenüber der neuen jungtürkischen Regierung wieder entlassen, doch wurde er durch einen anderen Neffen ʿAuns ersetzt, der nicht weniger britenfreundlich war, nämlich Husain ibn ʿAlī. Dieser Groß-Scherif, der vor seiner Einsetzung in sein Amt im November 1908 lange Jahre in Istanbul gelebt hatte, bemühte sich darum, den Einfluss des Scherifats auf der arabischen Halbinsel zu vergrößern, und sandte gleich nach Herrschaftsantritt Delegationen in den ʿAsīr und nach al-Qasīm, um Kontakte mit den dort lebenden Stämmen aufzunehmen. Wie seine beiden Vorgänger widersetzte sich Husain osmanischen Zentralisierungsbestrebungen und tat alles, was in seiner Macht stand, um eine Verlängerung der Hedschasbahn über Medina hinaus nach Mekka zu verhindern. Die Rolle des Scherifen Husain während des Ersten Weltkriegs Im September 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde der Groß-Scherif zu einem wichtigen Thema deutscher Orient-Politik. Max von Oppenheim, der später zum Haupt-Organisator der deutschen Dschihad-Propaganda wurde, berichtete in dieser Zeit, dass die Briten danach strebten, den Groß-Scherifen vom Osmanischen Kalifat unabhängig zu machen und möglichst selbst zum Kalifen zu erheben. Einige panarabisch ausgerichtete Araber, so sagte er, teilten diesen Wunsch. Auch wenn von Oppenheim zugestand, dass der Scherif über einigen Einfluss in der islamischen Welt verfüge, hielt er die britischen Pläne, von denen er erfahren hatte, für unrealistisch, weil er glaubte, dass Scherif Husain gegenüber der osmanischen Regierung loyal bleiben würde. Ähnlich schätzte der deutsche Diplomat Curt Max Prüfer die Situation ein. Er meinte, dass der osmanische Gouverneur im Hedschas den Scherifen kontrollieren würde, und äußerte gegenüber Oppenheim, dass der Scherif zwar ganz auf britischer Seite stehe, aber „glücklicherweise machtlos und in unserer Hand“ sei. Eine andere Einschätzung ergab sich erst durch Bernhard Moritz, der Ende 1914 nach Dschidda reiste, um dort ein deutsches Propaganda- und Nachrichtenbüro einzurichten, aber vom Scherifen verhaftet wurde. Nachdem er wieder freigelassen worden war, berichtete er im Januar 1915 in Berlin seinen Vorgesetzten von den Machtambitionen des Scherifen und dem osmanischen Kontrollverlust im Hedschas. Der deutsche Konsul in Damaskus schlug daraufhin vor, dass Deutschland danach streben sollte, als Gegengewicht zum Scherifen die Āl Saʿūd und die Āl Raschīd unter türkischer Führung zu vereinen. Der Plan scheiterte jedoch. Im Mai 1915 traf sich von Oppenheim mit Faisal, dem Sohn des Scherifen, in Konstantinopel. Dieser versicherte ihm, dass sein Vater nicht mit den Briten zusammenarbeite. Daraufhin fasste Oppenheim wieder Vertrauen in die Loyalität des Scherifen gegenüber den Mittelmächten. Hans von Wangenheim, der deutsche Botschafter in Konstantinopel, äußerte in einem Brief vom 22. Mai an den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, dass Oppenheim durch sein Verhandlungsgeschick nicht nur eine Auswechselung des Groß-Scherifen überflüssig gemacht, sondern auch das Verhältnis zwischen diesem und den Türken verbessert habe. Wangenheim warnte allerdings vor weiteren deutschen Propaganda-Aktivitäten im Hedschas, weil diese zu einer Zunahme des Misstrauens beim Groß-Scherifen führen könnten. Der türkische Kriegsminister Enver Pascha gab Faisal bei seiner Abreise aus Konstantinopel die Anordnung mit, dass sein Vater Türken und Deutsche durch Entsendung eines beduinischen Kontingents für einen weiteren türkischen Angriff auf Ägypten unterstützen sollte. Der Scherif ignorierte jedoch diese Aufforderung. Als Max von Oppenheim im Herbst 1915 als Beduine verkleidet in den Hedschas reiste, wurde er vom Scherifen ausgewiesen, so dass er nach Damaskus zurückeilen musste. Mitte Februar brachten der Scherif und die Briten ihre Verhandlungen für eine Allianz zum Abschluss, und der Scherif traf Vorbereitungen für einen arabischen Aufstand gegen die Türkei. Anfang April 1916 forderte er die osmanische Regierung auf, verschiedene arabische politische Gefangene in Syrien freizulassen, in Syrien und im Irak eine dezentrale türkische Verwaltung einzusetzen, seine Herrschaft im Hedschas als erblich anzuerkennen und seinen traditionellen Status und seine Privilegien zu bestätigen, worauf die osmanische Führung allerdings nicht einging. Als Husain erfuhr, dass eine türkisch-deutsche Expedition (Stotzingen-Mission) auf dem Weg in den Jemen den Hedschas passieren wollte, rief er am 5. Juni 1916 offiziell die Arabische Revolte aus. Sultan Mehmed V. setzte daraufhin im Juli 1916 Husain ab und ernannte den in Istanbul lebenden Scherifen ʿAlī Haidar Pascha von den Dhawū Zaid zu seinem Nachfolger. ʿAlī Haidar Pascha reiste mit einem Gefolge osmanischer Soldaten zu Fahreddin Pascha nach Medina und gab dort eine öffentliche Erklärung ab, in der er Husain beschuldigte, sich selbst an die Briten zu verkaufen und die Heiligen Stätten einer christlichen Macht auszuliefern. Eine geplante osmanische Rückeroberung Mekkas misslang aber. Der Scherif Husain erklärte sich am 28. Oktober 1916 auf Initiative seines Sohnes ʿAbdallāh zum „König der arabischen Länder“. Die Briten erkannten ihn zwar nur als König des Hedschas an, gaben ihm jedoch militärische Unterstützung. ʿAlī Haidar Pascha kehrte aufgrund der aussichtslosen Lage 1917 über Syrien nach Istanbul zurück, wurde allerdings von osmanischer Seite weiter als der rechtmäßige Emir von Mekka betrachtet. Die Truppen Husains nahmen mit Hilfe eines kleinen Stabs britischer Militärberater, darunter der bekannte T. E. Lawrence, und einer Gruppe von früheren osmanischen Offizieren aus dem Irak im Oktober 1918 Damaskus ein. Nach dem Waffenstillstand von Moudros bildete Husains Sohn Faisal, der einen Teil der arabischen Truppen befehligt hatte, in Damaskus eine national-arabische Regierung, aus der sich später das Königreich Syrien entwickelte. Mit Hinblick auf die neue politische Situation entließ die Hohe Pforte am 8. Mai 1919 den Scherifen ʿAlī Haidar Pascha aus seinem Amt und schaffte den Titel des „Emirs von Mekka“ (emîr-i Mekke) ab. Ausrufung des Kalifats und Ende Husain, dessen Söhne Faisal und ʿAbdallāh nach der Konferenz von Kairo 1921 die Herrschaft im Irak und Transjordanien erlangt hatten, erklärte sich nach der Abschaffung des Kalifats durch Atatürk im Frühjahr 1924 zum Kalifen. Dadurch isolierte er sich allerdings weitgehend in der islamischen Welt, da sein Kalifat außerhalb der von ihm und seinen Söhnen beherrschten Gebiete fast nirgendwo anerkannt wurde. Sein ärgster Widersacher, der saudische Emir Abd al-Aziz ibn Saud, überfiel mit seinen wahhabitischen Kriegern den Hedschas. Nach dem Verlust von Mekka trat Husain den Königstitel 1924 an seinen Sohn Ali ibn Hussein ab. Jedoch wollten die Āl Suʿūd keinen haschimitischen König akzeptieren, so dass auch Ali am 20. Dezember 1925 abdanken musste. Am 8. Januar 1926 wurde Abd al-Aziz ibn Saud zum neuen König des Hedschas gekrönt. Der frühere Scherif ʿAlī Haidar Pascha starb 1935 in Beirut. Bis heute leben noch viele Scherifen-Familien von den Dhawū Zaid in Saudi-Arabien. Ihrer finanziellen Versorgung dient eine Anzahl von Familien-Stiftungen in Mekka und Umgebung. Einige dieser Stiftungen wurden bereits im 19. Jahrhundert errichtet. Herrscherliste Die angegebenen Herrschaftsdaten beruhen im Wesentlichen auf Eduard von Zambaurs Liste der Statthalter und Scherifen von Mekka und sind auf dieser Grundlage in christliche Zeitrechnung umgerechnet. Bitte jeweils die Legende beachten! Die Hintergrundfarben kennzeichnen verschiedene scherifische Familienzweige. Scherifische Herrscher bis 1200 Qatāda und seine Nachkommen bis 1525 Abū Numaiy II und seine Nachkommen (1525–1925) Literatur Europäische und arabische Quellen Ali Bey: Travels of Ali Bey: in Morocco, Tripoli, Cyprus, Egypt, Arabia, Syria, and Turkey. Between the years 1803 and 1807. James Maxwell, Philadelphia, 1816. Bd. II, S. 130–145. Digitalisat Wilfrid Scawen Blunt: The Future of Islam. Kegan Paul, London 1882. S. 90–131. Digitalisat John Lewis Burckhardt: Travels in Arabia. Henry Colburn, London, 1829. S. 405–443. Digitalisat – Deutsche Übersetzung unter dem Titel Johann Ludwig Burckhardt’s Reisen in Arabien. (Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen zur Erweiterung der Erd- und Völkerkunde; 54) Verl. d. Großh. Sächs. priv. Landes-Industrie-Comptoirs, Weimar, 1830. S. 328–359. Digitalisat Charles Didier: Séjour chez le Grand-Chérif de la Mekke. Hachette, Paris, 1857. Digitalisat – Deutsche Übersetzung von Helene Lobedan unter dem Titel Ein Aufenthalt bei dem Groß-Scherif von Mekka. Schlicke, Leipzig, 1862. Digitalisat Aḥmad Ibn Zainī Daḥlān: Ḫulāṣat al-kalām fī bayān umarāʾ al-balad al-ḥarām. Maṭbaʿa Ḫairīya, Kairo, 1887. Website mit PDF andere, besser lesbare, aber stellenweise fehlerhafte Ausgabe Ignatius Mouradgea d’Ohsson: Tableau général de l’empire othoman: divisé en deux parties, dont l’une comprend la législation mahométane, l’autre, l’histoire de l’empire othoman Bd. III. Paris, 1790. S. 276–281. Digitalisat – Deutsche Übers. von Christian Daniel Beck unter dem Titel Allgemeine Schilderung des Othomanischen Reichs Weidmann, Leipzig, 1793. Bd. II, S. 163–165. Digitalisat Raḍī ad-Dīn al-Mūsawī al-Makkī: Tanḍīd al-ʿuqūd as-sanīya bi-tamhīd ad-daula al-Ḥasanīya. Ed. as-Saiyid Mahdī ar-Raǧāʾī. Maʿhad ad-Dirāsāt li-taḥqīq ansāb al-ašrāf, Qom, 1431 d.H. (= 2009/10). Digitalisat Sekundärliteratur Muhammad Abdul Bari: The early Wahhabis and the Sherifs of Makkah in Journal of the Pakistan Historical Society 3 (1955) 91–104. M. Abir: Relations between the Government of India and the Sharif of Mecca during the French Invasion of Egypt, 1798–1801 in The Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 1/2 (1965) 33–42. Butrus Abu-Manneh: Sultan Abdülhamid II and the Sharifs of Mecca (1880–1900) in Asian and African Studies 9 (1973) 1–21. Saleh Muhammad Al-Amr: The Hijaz under Ottoman rule 1869–1914: Ottoman Vali, the Sharif of Mecca, and the growth of British influence. Riyad: Riyad Univ. Press, 1978. Suraiya Faroqhi: Herrscher über Mekka. Die Geschichte der Pilgerfahrt. Artemis, München/Zürich, 1990. S. 197–203. Naimur R. 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https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%BCrfelverdoppelung
Würfelverdoppelung
Die Würfelverdoppelung, auch bekannt als Delisches Problem, bezeichnet die geometrische Aufgabe, zu einem gegebenen Würfel einen zweiten Würfel mit dem doppelten Volumen zu konstruieren. Das Problem gehört zu den drei „klassischen Problemen der antiken Mathematik“ und wurde bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland formuliert. Ein Ausgangswürfel mit der Kantenlänge (ein sogenannter Einheitswürfel) hat das Volumen Ein weiterer Würfel habe die Kantenlänge und das Volumen Die neue Kantenlänge ist die Kubikwurzel aus , also . Diese kann als Grenzwert geeigneter Folgen bestimmt werden, ist jedoch aus den Strecken 0 und 1 über Zirkel und Lineal nicht in endlich vielen Schritten konstruierbar. Versucht man also das Problem der Würfelverdoppelung ausschließlich mit den Hilfsmitteln zu bearbeiten, die Euklid in seinen Elementen nutzte, nämlich mit Zirkel und unmarkiertem Lineal, ist es nicht lösbar. Diese Aussage lässt sich in die Fachsprache der Algebra übersetzen, wodurch schließlich ein mathematischer Beweis für die Unmöglichkeit der Konstruktion angegeben werden kann. Ein solcher wurde zuerst vom französischen Mathematiker Pierre Wantzel im Jahr 1837 geführt. Jedoch gilt es als sehr wahrscheinlich, dass Carl Friedrich Gauß bereits früher einen Beweis kannte, diesen aber nicht niederschrieb. Identische Probleme bestehen bei Vergrößerungen des Würfelvolumens auf das 3-, 4-, 5-, 6- und 7-fache des ursprünglichen Rauminhaltes. Dagegen ist die Aufgabe zum Beispiel einer Volumenverachtfachung kein Problem, weil die Kubikwurzel aus 8 problemlos berechenbar und die resultierende Kantenlängenverdoppelung leicht machbar ist. Schwächt man die Einschränkung ab und lässt ein zusätzliches Hilfsmittel zu, wie zum Beispiel entsprechende Markierungen auf dem Lineal oder spezielle Kurven, dann ist die Konstruktion eines Würfels mit doppeltem Volumen möglich. Entsprechende Verfahren waren bereits in der Antike bekannt. Geschichtliches aus der Antike Die wichtigste antike Quelle zur Würfelverdoppelung ist der Kommentar des spätantiken Autors Eutokios zu Archimedes’ Schrift „Über Kugel und Zylinder“ („“), in dem diverse Lösungsansätze antiker Mathematiker gesammelt sind. Unter anderem wird dort ein Brief des Gelehrten Eratosthenes (um 275–194 v. Chr.) an einen König Ptolemaios (wohl Ptolemaios III. oder Ptolemaios IV.) wörtlich zitiert, der mittlerweile als authentische Wiedergabe des Originalbriefes erwiesen wurde und in dem der Wissenschaftler sich dem Herrscher gegenüber zur Frage der Würfelverdopplung äußert. Als ältesten Beleg für dieses mathematische Problem zitiert Eratosthenes dort „einen der alten Tragödiendichter“ („“), in dessen Werk der mythische König Minos das Grab seines Sohnes Glaukos errichten lässt und den Baumeister anweist, es doppelt so groß wie den ersten Entwurf anzufertigen, aber die Würfelform beizubehalten. Von den drei bedeutenden athenischen Tragödiendichtern des 5. Jahrhunderts v. Chr. – Aischylos, Sophokles und Euripides – weiß man, dass sie in je einem ihrer Werke die Sage von Minos und Glaukos aufgriffen; dennoch ist möglich, dass das Zitat aus einer Tragödie eines ganz anderen Dichters stammt. Die Alternativbezeichnung „Delisches Problem“ geht auf eine Episode zurück, die Eratosthenes in seinem Brief ebenfalls anführt, die aber auch bei diversen anderen antiken Autoren (darunter Plutarch und Theon von Smyrna) beschrieben wird und der aus altertumswissenschaftlicher Sicht durchaus ein tatsächliches historisches Ereignis zugrunde liegen könnte: Die Bewohner der Insel Delos hätten während einer schweren Seuche ein Orakel um Rat gefragt, was sie tun könnten, um ihre Situation zu verbessern. Das Orakel habe sie angewiesen, den würfelförmigen Altar im Apollontempel der Insel in seiner Größe – also seinem Volumen – zu verdoppeln. Die delischen Architekten seien jedoch ratlos gewesen, wie das konkret zu bewerkstelligen wäre, und hätten daraufhin Platon (428/427–348/347 v. Chr.) um Rat gebeten. Dieser habe sie an Archytas von Tarent, Eudoxos von Knidos und Menaichmos verwiesen, die ihnen jeweils unterschiedliche Lösungsansätze eröffnet hätten. Laut Plutarch habe Platon deren Ansätze jedoch kritisiert, da sie ihm zufolge durch die Nutzung mechanischer Methoden das „Gute“, Elegante der Geometrie zerstören. Im Archimedes-Kommentar des Eutokios wird Platon interessanterweise auch eine eigene mechanische Lösung des Delischen Problems (siehe Abschnitt Platons mechanische Methode) zugeschrieben. Sofern damit nicht ein anderer Platon gemeint ist als der berühmte Philosoph, dürfte es sich dabei nach vorherrschender Forschungsmeinung jedoch um eine Falschzuschreibung handeln. Ähnliche Probleme aus der Konstruktion von Altären (allerdings mit dem Problem der Verdopplung eines Quadrats statt eines Würfels) gab es in vedischer Zeit in Indien und sie gaben zu mathematischen Erörterungen Anlass (Sulbasutras). Beim Quadrat lässt sich die Aufgabe der Verdopplung durch den Satz des Pythagoras lösen. Antike Lösungen mit zusätzlichen Hilfsmitteln Hippokrates von Chios (zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr.) zeigte als Erster den maßgeblichen Ansatz für eine theoretische Lösung des Problems. Er fand: Das Problem der Würfelverdoppelung ist äquivalent zu demjenigen der Bestimmung von zwei mittleren Proportionalen zweier Größen. Dies bedeutet, dass für eine Strecke nach zwei Strecken und gesucht wird, so dass Dies zieht nach sich. Archytas von Tarent (435/410–355/350 v. Chr.) war der Erste, dem die Umsetzung des oben genannten Satzes von Hippokrates unter Zuhilfenahme der nach ihm benannten Kurve gelang; beschrieben im Abschnitt Kurve des Archytas. Platon (428/427–348/347 v. Chr.) wurde von Eutokios als Erster benannt, der zur Lösung der Würfelverdoppelung eine mechanische Methode fand. Wie bereits oben erwähnt, dürfte diese Lösung nicht von ihm stammen. Eudoxos (397/390–345/338 v. Chr.) fand eine Lösung – so wird berichtet – durch die Konstruktion der zwei mittleren Proportionalen mithilfe nicht näher bekannter Kurven und ihrer Schnittpunkte. Menaichmos (um 380–320 v. Chr.) fand zwei Lösungen: eine, in der eine Parabel von einer Hyperbel geschnitten wird, und eine zweite, ausführlich beschrieben im Abschnitt Parabel nach Menaichmos, als Schnitt zweier Parabeln. Eratosthenes (um 278–194 v. Chr.) beschreibt in seinem Brief an König Ptolemaios im Anschluss an seine Einführung zur Geschichte des Delischen Problems eine eigene „mechanische Methode“ durch einen Apparat, den er „Mesolabium“ nannte. Diokles (um 240–180 v. Chr.) benutzte für seine Lösung eine nach ihm benannte Zissoide; beschrieben im Abschnitt Zissoide des Diokles. Sporus (* um 240–um 300) wie auch Pappos erschufen eine Konstruktion, die nahezu gleich der von Dürer ist, beschrieben im Abschnitt Albrecht Dürers Konstruktion mithilfe eines Lineals mit Strichskale. Beweis der Unlösbarkeit mittels Zirkel und Lineal Geschichte des Beweises Grundsätzlich griffen die Mathematiker der Antike bei der Lösung von Problemen nicht nur auf Zirkel und Lineal zurück. Die Vermutung, dass es eine solche methodische Beschränkung gegeben habe, erwies sich als neuzeitlicher Mythos. Dass die Aufgabe bei alleiniger Verwendung von Zirkel und Lineal auch tatsächlich unlösbar ist, bewies Pierre Wantzel im Jahr 1837. Sein Beweis beruhte auf folgenden algebraischen Überlegungen: 1. Im ersten Teil des Beweises argumentiert er, dass, wenn ein Konstruktionsproblem mit Lineal und Zirkel gelöst werden kann, „die Unbekannte des Problems durch die Lösung einer Reihe von quadratischen Gleichungen erhalten werden kann, deren Koeffizienten rationale Funktionen der Parameter des Problems und der Wurzeln der vorherigen Gleichungen sind“. Mit der „Unbekannten des Problems“ ist dabei z. B. die gesuchte Strecke gemeint. 2. Danach zeigte er, dass jede algebraische Zahl , die Lösung der letzten Gleichung eines Systems ist, wobei die Koeffizienten stets durch sukzessive Adjunktion im Körper liegen, stets von einem Polynom des Grades mit Koeffizienten in gelöst wird. Dabei löst die Gleichung und sind die gegebenen Parameter des Problems. 3. Wantzel wusste, dass jede algebraische Zahl Lösung eines Polynoms mit Grad einer Zweierpotenz ist, wenn diese hinreichend groß gewählt würde. Daher war sein Hauptresultat, zu zeigen, dass, wenn die Anzahl an benötigten Gleichungen zu einem Minimum reduziert würde, das resultierende Polynom irreduzibel über ist. Die Unmöglichkeit der Konstruktion folgt nun als Korollar aus den Sätzen 1 bis 3: Wäre, beginnend beim Einheitswürfel, die Konstruktion der Würfelverdoppelung mit Zirkel und Lineal möglich, so müsste Nullstelle eines irreduziblen Polynoms über sein, das als Grad eine Zweierpotenz hat. Das Polynom ist irreduzibel über , hat aber den Grad 3. Dies ist ein Widerspruch. Es ist zu beachten, dass Wantzels Originalpublikation von dem Mathematikhistoriker Jesper Lützen als lückenhaft und schwer zu verstehen angesehen wird – dies betrifft vor allen Dingen den „Beweis“ des Hauptsatzes 3. Von Lützen wurden die Lücken im Nachhinein geschlossen und die Resultate, wie oben beschrieben, in moderner Fachsprache formuliert. Wantzels Beweis für die Unmöglichkeit, die Verdoppelung des Würfels und die Dreiteilung des Winkels mit Lineal und Zirkel zu konstruieren, war nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1837 fast ein Jahrhundert lang vergessen. Laut Lützen waren dabei die „mangelnde Berühmtheit des Autors“, die „Tatsache, dass einige seiner Zeitgenossen das Ergebnis als bekannt oder sogar als bewiesen ansahen“, und dass „das Ergebnis zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung nicht als wichtiges mathematisches Ergebnis angesehen wurde“, die treibenden Gründe. Es wird von Historikern bezweifelt, dass Wantzel als Erster um einen Beweis wusste, da der junge Carl Friedrich Gauß sehr wahrscheinlich über einen solchen verfügt hat. Ein großer Teil seines 1801 erschienenen Werkes Disquisitiones arithmeticae ist der Frage gewidmet, welche Bedingungen eine Polynomgleichung erfüllen muss, um durch quadratische Radikale lösbar zu sein. Dort finden sich auch die nach Gauß benannten Sätze, mit deren Hilfe für die meisten klassischen Aufgaben die Unlösbarkeit mit Zirkel und Lineal nachgewiesen werden kann. Mit seinen entwickelten Techniken bewies Gauß zum Beispiel, dass sich das 17-Eck mit Zirkel und Lineal konstruieren lässt. Die Tatsache, dass trotzdem Wantzel von vielen Autoren als Urheber der Sätze genannt und zitiert wird, führen die Mathematikhistoriker Christoph Scriba und Peter Schreiber auf die „Kommunikationsschwierigkeiten“ der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zurück. In heutiger Fachsprache ist der Beweis eine Anwendung der umfassenden Galoistheorie (nach Évariste Galois, französischer Mathematiker) und läuft im Kern darauf hinaus, dass die irrationale Zahl nicht durch ganze Zahlen, nicht durch die vier Grundrechenarten und auch nicht durch Quadratwurzeln ausgedrückt werden kann. Algebraischer Beweis Im Detail kann der Beweis der Unmöglichkeit über folgende Ideen aus der Algebra vollzogen werden. Es seien eine Menge von Punkten (komplexen Zahlen), welche mindestens 0 und 1 enthält, und ein beliebiger Punkt gegeben. Es ist für diese Überlegungen von Wichtigkeit, dass die komplexen Zahlen als Ebene aufgefasst werden können – im Gegensatz dazu werden die reellen Zahlen schlicht als Gerade aufgefasst. Dann gilt, dass der Punkt genau dann mit Zirkel und Lineal aus den Punkten konstruierbar ist, falls er in einem Körper (dabei ist der Körper der komplexen Zahlen) liegt, der durch Adjunktion einer Quadratwurzel aus dem Körper hervorgeht. Dabei ist grob gesprochen die Menge, die aus Bilden aller Summen, Produkte und Quotienten aus rationalen Zahlen mit entsteht. Hier ist die Menge der komplex Konjugierten von und das Symbol steht für die Vereinigung zweier Mengen. Adjunktion einer Quadratwurzel bedeutet, dass es ein geben muss, so dass . Zum Beispiel geht durch die Adjunktion einer Quadratwurzel aus den rationalen Zahlen hervor, da eine rationale Zahl ist – entsprechend ist die Menge aller Summen, Produkte und Quotienten rationaler Zahlen mit der Zahl . Bei handelt es sich um eine sogenannte Körpererweiterung. Das Problem der Würfelverdopplung mittels Zirkel und Lineal lässt sich also auf die Frage reduzieren, ob die Zahl in einem Teilkörper von liegt, der aus durch sukzessive Adjunktion von Quadratwurzeln gewonnen werden kann. Das bedeutet jedoch, dass der Erweiterungsgrad von aus eine Potenz von 2 sein muss. Es ist aber womit es unmöglich ist, die Würfelverdopplung mittels Zirkel und Lineal vorzunehmen. Dass die Körpererweiterung vom Grad 3 ist, kann wie folgt gesehen werden: Das Polynom ist irreduzibel über den ganzen Zahlen und hat als höchsten Koeffizienten 1. Nach dem Lemma von Gauß ist dann bereits irreduzibel über den rationalen Zahlen. Damit ist bereits das Minimalpolynom von und dieses hat den Grad 3. Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass jedes Element der Menge , bestehend aus allen rationalen Zahlen, die mit der Kubikwurzel aus 2 beliebig durch die Grundrechenarten „vermengt“ wurden, eindeutig als mit rationalen Zahlen geschrieben werden kann. Zum Beispiel ist Damit wird zu einem drei-dimensionalen Vektorraum über . Mit dem gleichen Argument lässt sich zeigen, dass auch eine Würfelvervielfachung um einen natürlichen Faktor , der keine Kubikzahl ist, sich nicht mit Zirkel und Lineal bewerkstelligen lässt. Geometrische Konstruktionen mit mechanischen Hilfsmitteln Nimmt man zu den klassischen (euklidischen) Werkzeugen Zirkel und unmarkiertes Lineal ein weiteres mechanisches Hilfsmittel, wie zum Beispiel ein spezielles mechanisches Werkzeug oder ein entsprechend markiertes Lineal, so kann die zur Würfelverdoppelung erforderliche Kantenlänge des Würfels theoretisch exakt dargestellt werden. Mithilfe eines markierten Lineals Konstruktionen mithilfe einer sogenannten Einschiebung, auch als Neusis-Konstruktionen bezeichnet, verwenden neben dem Zirkel auch ein Lineal, auf dem eine spezielle Markierung als zusätzliche Hilfe aufgebracht ist. Die folgende Neusis-Konstruktion in Bild 1, Heinrich Dörrie nennt sie Papierstreifenkonstruktion, ist eine der bekanntesten. Sie stammt ursprünglich von Isaac Newton aus seinem in Latein erschaffenen Werk Arithmetica Universalis. Konstruktion 1 Bezeichnet man die Kante des Ausgangswürfels mit , wird damit zunächst ein gleichseitiges Dreieck mit den Ecken konstruiert. Es folgt die Verdoppelung der Strecke ab dabei ergibt sich der Schnittpunkt Nun wird die Strecke ab verlängert. Anschließend wird eine Halbgerade ab durch gezeichnet. Nun setze ein mit dem Punkt markiertes Lineal (Abstand Ecke bis Punkt entspricht ) so auf die Zeichnung, dass dessen Ecke auf der Verlängerung der Strecke anliegt, die Markierung Punkt auf der Verlängerung der Strecke aufliegt und die Kante des Lineals durch den Punkt verläuft. Abschließend verbinde den Punkt mit Die Strecke ist die Kantenlänge des gesuchten Würfels mit dem verdoppelten Volumen des Ausgangswürfels. Die Darstellung im Bild 2 sowie die folgende sinnmäßig übersetzte Beschreibung dazu, sind nach Isaac Newton. Ich ziehe eine beliebige Linie, K A = a, halbiere sie in C und ziehe um den Mittelpunkt K mit Abstand K C einen Kreisbogen, ich bestimme C X = b und ziehe eine gerade Linie durch A X und eine durch C X, ich markiere E Y = C A, sodass eine gerade Linie durch E Y sowie durch den Punkt K gehen kann. [...] Konstruktion 2 Von Isaac Newton stammt auch diese weniger bekannte Neusis-Konstruktion (Bild 3), die aber wegen ihrer Einfachheit bemerkenswert ist. Sie beginnt mit dem Errichten einer Senkrechten , gleich der Kante des Ausgangswürfels, auf eine Halbgerade ab . Ein Winkelschenkel mit der Winkelweite am Scheitel schließt sich an. Nun setze ein mit dem Punkt markiertes Lineal (Abstand Ecke bis Punkt entspricht ) so auf die Zeichnung, dass dessen Ecke auf dem Winkelschenkel liegt, die Markierung Punkt auf der Halbgeraden ab aufliegt und die Kante des Lineals durch den Punkt verläuft. Abschließend verbinde den Punkt mit Der eingezeichnete Punkt dient nur der einfacheren Formulierbarkeit im folgenden Beweis. Die Strecke ist die Kantenlänge des gesuchten Würfels mit dem verdoppelten Volumen des Ausgangswürfels. Beweis der Richtigkeit Das Bild 3 zeigt, die rechtwinkligen Dreiecke (blau) und (grün) sind wegen des Scheitelwinkels zueinander ähnlich, folglich gilt nach dem 2. Strahlensatz (1) rechtwinkliges Dreieck und Tangens (2) Teile der Gleichung (2) quadriert (3) umgeformt ergibt sich (4) rechtwinkliges Dreieck nach Satz des Pythagoras (5) Wert von (5) eingesetzt in (4) (6) umgeformt ergibt sich (7) nach der Vereinfachung (8) folgt daraus schließlich (9) In Worten: Das Volumen des Würfels mit der Kantenlänge ist gleich dem doppelten Volumen des Ausgangswürfels mit der Kantenlänge Albrecht Dürers Konstruktion mithilfe eines Lineals mit Strichskale Albrecht Dürer veröffentlichte 1525 in seinem Werk Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen unnd gantzen corporen, neben einer Näherungskonstruktion zur Dreiteilung des Winkels auch eine theoretisch exakte Lösung zur Würfelverdoppelung. Als zusätzliches Hilfsmittel verwendete er dafür ein Lineal mit aufgezeichneter Strichskale. Bereits im 3. Jahrhundert n. Chr. löste Sporus von Nikaia dieses antike Problem anhand einer Konstruktion, die nahezu gleich der von Pappos und der von Dürer ist. Alle drei Lösungen benötigen eine sogenannte Neusis-Konstruktion, aber im Gegensatz zu Dürer, geben Sporus sowie Pappos keine Hinweise, wie die Gleichheit gefunden werden kann. In der nebenstehenden Darstellung ist die Kantenlänge des Ausgangswürfels sowie das – in einer externen Konstruktion bestimmte – geometrische Mittel von und . Sporus zeigt als Lösung die Verhältnisgleichung es gilt auch Sei , dann ist , und . Eingesetzt in die Verhältnisgleichung ergibt jeder dieser Quotienten den Wert für die Kantenlänge des verdoppelten Würfels. Die in der Darstellung gepunkteten Linien sowie die Punkte und sind nicht Teil der Konstruktion, sie dienen lediglich der Beweisführung. Grundkonstruktion nach Dürer Zunächst stellt man sich zwei exakt aufeinanderliegende Würfel mit gleicher Kantenlänge vor, z. B. mit . Auf ihrer gemeinsamen Mittelachse bestimmen sie somit die Punkte und . Der anschließende Halbkreis mit dem Radius um erzeugt den Durchmesser , der mit der Mittelachse einen rechten Winkel bildet. Die nächste Linie wird ab Punkt durch gezogen, bis sie den Halbkreis in schneidet. Die Grundkonstruktion ist somit fertiggestellt. Nun ist die Aufgabe gestellt, mithilfe eines Lineals die Punkte und so zu bestimmen, dass die Strecken und die gleiche Länge aufweisen. Ermittlung der gleichen Strecken und Dafür nimmt man ein schmales Lineal und bringt an einer Kante eine Strichskale mit gekennzeichneter Mitte an. Nun dreht und schiebt man das Lineal Schritt für Schritt vom Punkt in Richtung Punkt , dabei verläuft die Kante des Lineals stets durch den Punkt und die Skalenmitte (roter Strich) bewegt sich auf der Mittelachse . Das Ziel ist erreicht, wenn beide Punkte und den gleichen Abstand zur Skalenmitte haben. Denkbar ist hierfür auch eine Vorgehensweise, bei der man ein unmarkiertes Lineal und einen Zirkel verwendet. Hierzu dreht man das Lineal wieder Schritt für Schritt vom Punkt in Richtung Punkt , dabei verläuft die Kante des Lineals stets durch den Punkt . Nach jedem dieser Schritte werden die Schnittpunkte und markiert und danach ein Kontrollkreisbogen (strichlierte Linie) mit dem Radius um eingetragen. Das Ziel ist erreicht, wenn beide Punkte und auf dem Kontrollkreisbogen liegen. Fertigstellung der Konstruktion Weiter geht es mit dem Ziehen des Viertelkreises um mit Radius , bis er die Strecke in schneidet, sowie des weiteren Viertelkreises um mit Radius , bis er die Strecke in schneidet. Es folgt die Halbierung der Strecke in . Schließlich liefert der Halbkreis um über , mit Schnittpunkt auf dem Radius , die theoretisch exakte Kantenlänge des verdoppelten Würfels. Wegen ergibt sich darüber hinaus: Die Kantenlänge ist auch die Quadratwurzel der Länge (siehe Quadratwurzel, Konstruktion mit Zirkel und Lineal). Beweis der Richtigkeit Wird angenommen, dass die Strecke wahr ist (siehe Berechnungsskizze), dann ist ein möglicher Beweis für = , wenn die Behauptung = wahr ist. Verwendet werden hierzu die vier rechtwinkligen und – wegen ihrer gleichen Innenwinkel – zueinander ähnlichen Dreiecke , , und Rechtwinkliges Dreieck , darin ist und . Nach dem Satz des Pythagoras gilt: (1) . Rechtwinkliges Dreieck , wegen Ähnlichkeit der Dreiecke gilt nach dem W:W:W-Satz (2) , sowie (3) . Rechtwinkliges Dreieck , darin ist , wegen gilt (4) Rechtwinkliges Dreieck , wegen gilt (5) , wegen gilt (6) . Nun bedarf es nur noch zweier Differenzen von Strecken (7) . (8) Daraus folgt (9) . Somit ist , was zu beweisen war. Ermittlung der zwei mittleren Proportionalen mithilfe eines mechanischen Werkzeugs Die Verwendung der beiden im Folgenden beschriebenen mechanischen Werkzeuge liefert die sogenannten zwei mittleren Proportionalen und des Hippokrates von Chios. Sie werden für die Verdoppelung des Ausgangswürfels mit der Kantenlänge benötigt. Die mittlere Proportionale entspricht der gesuchten Kantenlänge des verdoppelten Würfels. Der Satz des Hippokrates von Chios ist im Abschnitt Konstruktion über spezielle Kurven beschrieben. Platons mechanische Methode Wie in der Einleitung erwähnt, benennt Eutokios Platon als den Ersten, der die folgende Methode zur Lösung des Problems der Würfelverdoppelung anwandte. Zwar sprechen neuzeitliche Kommentatoren Platon dies wegen seiner vehementen Ablehnung mechanischer Hilfsmittel ab, aber Lattmann beschreibt in seiner Studie Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid aus dem Jahr 2019 ausführlich, warum die Lösung zu Recht Platon zugeschrieben werden kann. Das mechanische Werkzeug (ohne eine Werkstoffangabe) besteht z. B. aus zwei U-förmigen Linealen. Damit das lose Lineal exakt parallel zu seinem Gegenüber verschiebbar ist, wird es in den beiden Seitenteilen entsprechend geführt. Für eine gute Übersichtlichkeit ist das Werkzeug in der Aufsicht dargestellt. In der nebenstehenden Zeichnung wurden die originären teilweise griechischen Punktebezeichnungen verwendet. Vorgehensweise Zuerst werden die beiden gegebenen Variablen und senkrecht zueinander und mit Verlängerungen ab dem Punkt gezeichnet. Das Werkzeug wird nun auf folgende Art und Weise auf der Zeichnung bewegt (siehe Animation), bis die zwei mittleren Proportionalen und gefunden sind: Die Innenkante des Grundelements verläuft stets durch Punkt und der Punkt liegt stets auf der Verlängerung der Strecke bevor der Punkt des Lineals auf die Verlängerung der Strecke geschoben wird. Als Ergebnis liefert das mechanische Werkzeug und Nachweis Wegen der Parallelität und vier rechter Winkel am Scheitel haben die folgenden Dreiecke gleiche Winkel und sind daher zueinander ähnlich: Euklid, Elemente, 1, 29: Da der Scheitel einen rechten Winkel hat, sind folgende Winkel gleich: Euklid, Elemente, 1, 32: Weil der Scheitel einen rechten Winkel hat, sind auch folgende Winkel gleich: Nach Euklid, Elemente 6, 4 ergeben sich somit die Proportionen: Eratosthenes’ mechanische Methode Eratosthenes von Kyrene ersann (basierend auf dem Satz des Hippokrates) ein mechanisches Werkzeug, das er in dem Brief an König Ptolemaios beschrieb als eine: Die mechanische Vorrichtung ist vorstellbar als ein Kasten, gefertigt aus Holz, Bronze oder Elfenbein, mit drei sehr dünnen Täfelchen in Form identischer rechtwinkliger Dreiecke, die mithilfe von Rillen nach rechts oder links verschoben werden können. Bei einer Aufgabe, in der zu zwei Variablen mehr als zwei mittlere Proportionale gesucht sind, ist die erforderliche Anzahl der Dreiecke stets um eins größer als die Anzahl der gesuchten mittleren Proportionalen. Eratosthenes ließ seine Lösung der Würfelverdoppelung im Tempel der Ptolemäer in Alexandria in Stein meißeln. Die im nebenstehenden Diagramm abstrahiert dargestellte mechanische Vorrichtung – wie Eratosthenes sie nennt – zeigt zwei parallele Strahlen und sie symbolisieren zwei Lineale. Zwischen den Linealen sind drei rechtwinklige Dreiecke, das erste ist fest am Punkt die beiden anderen sind bis verschiebbar geführt. Alternativ sind auch drei Rechtecke mit eingezeichneten Diagonalen möglich. Die hochkant gezeichneten Dreiecke haben als Höhe die Variable und eine kleine Kathete mit frei wählbarer Länge (im Diagramm ). Auf der zu senkrecht stehenden Strecke , im Punkt des dritten Dreiecks, ist die Länge der zweiten Variablen als Strecke abgetragen. Ein (nicht eingezeichneter) Strahl ab Punkt durch schneidet in die Linie , erzeugt die Strecke und lässt somit die Grundidee der Vorrichtung, nämlich den Strahlensatz, erkennen. Vorgehensweise Nur wenige Schritte sind erforderlich, wenn z. B. das zweite Dreieck (blau) und das dritte Dreieck (gelb) auf folgende Art und Weise zwischen den Linealen bewegt werden, bis die zwei mittleren Proportionalen und gefunden sind (siehe Animation): Stets zuerst das zweite Dreieck (blau) so in Richtung Punkt verschieben, dass sich dessen Hypotenuse , die Strecke (rot) und die Senkrechte im Punkt schneiden. Erst im nächsten Schritt das dritte Dreieck (gelb) so nachschieben, dass sich dessen Hypotenuse , die Strecke (rot) und die Senkrechte im Punkt schneiden. Wiederholungen dieser Schritte liefern die zwei mittleren Proportionalen und Nachweis Wenn sich die beiden Strahlen durch bzw. durch in schneiden, dann ist und , während deshalb Ähnlich Damit sind und in kontinuierlicher Proportion sowie und die zwei mittleren Proportionalen. Konstruktion mittels spezieller Kurven Soll ein Würfel mit der Kantenlänge bezüglich seines Volumens mit als Kantenlänge des größeren Würfels verdoppelt werden, so gilt zur Bestimmung der zwei mittleren Proportionalen und der Satz des Hippokrates von Chios: Eliminiert man , so ergibt sich: daraus folgt: (1)  Eliminiert man , so ergibt sich: daraus folgt: (2)  Aus Gründen des besonderen Schwierigkeitsgrades – Dreidimensionalität, erste Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. – wird im Folgenden die Lösung des Problems mithilfe der Kurve des Archytas ausführlich beschrieben. Kurve des Archytas Ein paar Jahrzehnte früher als Archytas gelang Hippokrates von Chios die Verdoppelung des Würfels, indem er sie auf ein Problem der Konstruktion von Verhältnissen zurückführte. Archytas von Tarent gelang deren theoretische Konstruktion mit einer nach ihm benannten speziellen Kurve. Für deren Visualisierung bzw. Anwendung bedarf es folgender drei Figuren (siehe nebenstehendes Diagramm): Halbzylinder, steht auf einem Halbkreis mit Radius und Durchmesser Die Höhe des Halbzylinders beträgt ca. Achtel eines sogenannten Horntorus, quasi ein Torus ohne „Loch“ mit Radius . Kegelausschnitt , entnommen vom Kegel mit Radius und Höhe , mit dem Dreieck als dessen Schnittfläche. Der Kegelausschnitt erreicht seine maximale Größe, nämlich ein Viertel des Gesamtkegels, wenn das Dreieck mit dem Dreieck einen Winkel von einschließt und damit auf der rechteckigen Fläche des Halbzylinders liegt. Die Kurve des Archytas ist eine sogenannte Schnittkurve, die entsteht, wenn ein Halbzylinder ein Achtel eines Horntorus durchdringt. Wie im Diagramm erkennbar, durchdringt das Viertel des Kegels die beiden benachbarten Figuren und erzeugt dadurch eine, mit der Kurve des Archytas kreuzende, zweite Schnittkurve. Die zwei mittleren Proportionalen sind dann gefunden, wenn die Hypotenuse der dreieckigen (blauen) Schnittfläche des Kegels die Kurve des Archytas im (grünen) Punkt schneidet. Der Punkt liegt auf der Mantelfläche des Halbzylinders (auf der Kurve des Archytas), auf der dreieckigen Schnittfläche des Kegelausschnitts und auf der halbkreisförmigen Schnittfläche des Horntorus. Geometrische Vorüberlegung Das nebenstehende Bild sowie das dazu ähnliche Bild im folgenden Abschnitt zeigen den geometrischen Ansatz, den Archytas nutzte, um damit die von ihm gefundene Kurve mithilfe von zwei mittleren Proportionalen zu beschreiben. Die Figur besteht u. a. aus zwei rechtwinkligen, zueinander ähnlichen Dreiecken und mit je einem Thaleskreis. Der zur Grundfläche des Halbzylinders senkrecht stehende und um Punkt drehbare Halbkreis – mit den zwei mittleren Proportionalen und – hat den Durchmesser der Durchmesser des Halbzylinders (s. Bild Kurve des Archytas) ist Mit eingesetzten Werten aus (1) und (2) gilt nach Hippokrates von Chios: (3)  (4)  Es gelten die folgende Streckenverhältnisse: (5)  (6) Konstruktion der Kantenlänge des verdoppelten Würfels Für eine zeichnerische Darstellung – wie im nebenstehenden Bild – verwendet man eine sogenannte Dynamische Geometrie Software (DGS). Es beginnt mit dem Zeichnen des Einheitskreises mit Durchmesser . Der anschließende Radius um schneidet den Kreis in Es folgen eine Tangente durch und die Verlängerung der Strecke beide schneiden sich im Punkt Eine Parallele zu ab schneidet den Durchmesser in und den Kreis in Als Nächstes wird ein kurzer Kreisbogen um mit dem Radius gezogen und darauf der Punkt mit frei wählbarer Position festgelegt. Nach dem Verbinden des Punktes mit ergibt dies die Schnittpunkte auf sowie auf dem Halbkreis . Es folgen ein Halbkreis über und eine Senkrechte auf in , sie ergeben den Schnittpunkt auf dem Halbkreis über . Der nächste Halbkreis über und eine Senkrechte auf in ergeben den Schnittpunkt auf dem Halbkreis – entspricht der Schnittfläche (blau) eines halben Kegels – über Das Errichten des Halbzylinders (Höhe ca. 2,5) über dem Halbkreis schließt sich an. Es geht weiter mit dem Ziehen eines Kreisbogens um den Punkt mit dem Radius ; er schneidet in die Verlängerung der Kante des Halbzylinders, die zu führt. Nun wird der Punkt mit verbunden. Eine Linie von durch den Punkt bis zum Kreisbogen gezogen ergibt den Schnittpunkt Die Verbindung mit erzeugt das mit dem Dreieck kongruente Dreieck Dies ist möglich, da der Halbkreis über und der Viertelkreis zueinander parallel sind. Betrachtet man im Kontext die beiden ebenfalls kongruenten Dreiecke und sowie den Kreisbogen um so ist das Viertel eines Kegels mit dessen Höhe zu erkennen. Nach dem Verbinden der Punkte mit sowie mit ergeben sich schließlich die beiden maßgeblichen rechtwinkligen Dreiecke und Der Halbkreis über – die Schnittfläche eines nicht eingezeichneten Horntorus – soll nun um den Punkt so weit gegen den Uhrzeigersinn gedreht werden, bis die Hypotenuse des ebenfalls, aber im Uhrzeigersinn, gedrehten Dreiecks – Schnittfläche des Kegelausschnitts – den Halbkreis über in schneidet. Es ist zu beachten, dass die Strecken und senkrecht aufeinander stehen. Nach dem Höhensatz von Euklid ergibt sich damit Es folgt aus , dass der Winkel in dieser Stellung gleich ist. Die vier Dreiecke , und sowie sind daher zueinander ähnlich. Die so einregulierte Strecke entspricht der gesuchten Kantenlänge des verdoppelten Würfels, siehe oben. Der Punkt im Dreieck bestimmt während der Drehung des Halbkreises über die (rote) Kurve des Archytas auf der Mantelfläche des Halbzylinders. Für einen exakten Haltepunkt (Punkt trifft auf die Hypotenuse des Dreiecks ) der animierten Drehung des Halbkreises über wird die Strecke mithilfe der DGS bestimmt. Parabel nach Menaichmos Menaichmos löste das Problem bezüglich Konstruktion der zwei erforderlichen mittleren Proportionen als Schnitt zweier Kegelschnitte (basierend auf Hippokrates’ Umformung des Problems). Dazu schreibt Johann Christoph Sturm: (typographisch normalisiert) Zissoide des Diokles Diokles löste das Problem der beiden mittleren Proportionalen mit der nach ihm benannten Kurve, auch bekannt als Kissoide des Diokles. Bezeichnet man die beiden Proportionalen mit und so ergibt sich als zu lösendes Konstruktionsproblem „die doppelte Proportion zwischen a und 2a“. Darin ist die gesuchte Seitenlänge (im Bild 2 mit bezeichnet), es gilt Vorüberlegung Die kartesischen Koordinaten der Zissoide sind z. B. Die Konstruktion wird vereinfacht, wenn der Wert des Faktors in den kartesischen Koordinaten der Zissoide gleich dem der Kantenlänge des Ausgangswürfels ist. Es wird nur der Teil des Graphen der Zissoide benötigt, der im 1. Quadranten eines kartesischen Koordinatensystems liegt. Vorgehensweise Es sei der Koordinatenursprung, der Mittelpunkt des Halbkreises mit beliebigem Radius und der Durchmesser. Um einen Punkt auf der Zissoide zu bestimmen (siehe Bild 1), bedarf es der zwei Parallelen und . Sie stehen senkrecht auf dem Durchmesser und haben aufgrund des Halbkreises die gleiche Länge sowie den gleichen Abstand zum Mittelpunkt . Wird die Parallele bewegt, so liefert die Halbgerade ab mithilfe des Punktes – entweder direkt auf der Parallelen oder auf deren Verlängerung – den auf der Zissoide liegenden Punkt . Eine kontinuierliche Veränderung des Abstandes der beiden Parallelen und zueinander erzeugt, wegen des dadurch bewegten Punktes , im Koordinatenursprung den Graphen der Zissoide im 1. Quadranten. Es geht weiter (siehe Bild 2) mit der auf dem Durchmesser senkrecht stehenden Strecke mit der Länge gleich Die Verbindung des Punktes mit schneidet den Graphen der Zissoide in Die abschließende Verbindung des Punktes mit liefert mit die gesuchte Seite des verdoppelten Würfels. Die parallel zu strichliert eingezeichnete Strecke dient lediglich der Beweisführung. Parabel nach J. Bolyai Johann Bolyai machte während seiner Studienzeit Aufzeichnungen über die Winkeldreiteilung (1898 von Paul Stäckel gefunden) und wie erst später entdeckt, auch zur Würfelverdoppelung. Sein Hauptaugenmerk lag insbesondere auf das n-malige Vervielfachen des Volumens eines Ausgangswürfels. Er generierte dazu Lösungen mithilfe einer Hyperbel, zweier Parabeln sowie mit einer von ihm entwickelten Zissoide. Dabei fand er auch eine offensichtlich sehr einfache Lösung zur Verdoppelung, die mit einer einzigen Parabel, wie im Folgenden beschrieben, auskommt. Die Aufzeichnungen darüber veröffentlichte Róbert Oláh-Gál im Jahr 2007 in einem Aufsatz. Er weist darauf hin, dass die von Bolyai verwendeten Bezeichnungen auf den heutigen Gebrauch umgeschrieben, und wo es nötig war, ergänzt wurden. Vorgehensweise In einem kartesischen Koordinatensystem wird zuerst auf die x-Achse, ab dem Koordinatenursprung die Seitenlänge des Ausgangswürfels zweimal abgetragen; dabei ergeben sich die Strecken und . Nach der Halbierung der Strecke in folgt das Errichten der senkrechten Strecke auf . Der Kreis um durch die Punkte und schließt sich an. Abschließend wird die Parabel generiert; dabei ergibt sich der Schnittpunkt , und das Lot auf mit dem Fußpunkt gefällt. Die so gefundene Strecke ist die Seitenlänge des verdoppelten Würfels. Die gepunkteten Linien sowie die Punkte und sind nicht Teil der Lösung, sie dienen lediglich für den Beweis nach Oláh-Gál. Würfelverdoppelung mit Origami Die Verdoppelung des Würfels kann auch – so wie die Dreiteilung des Winkels – mit dem zusätzlichen Hilfsmittel Origami konstruiert werden. Verwendet wird hierfür ein quadratisches oder rechteckiges Blatt Papier. Beim fertigen Origami ist zu berücksichtigen, dass das Ergebnis der Faltungen nicht die Kantenlänge eines vorgegebenen Ausgangswürfels berücksichtigt. Das Ergebnis zeigt eine Strecke, die im Verhältnis geteilt ist und deren Längenwerte unbekannt sind. Erst die anschließende sogenannte zentrische Streckung mit der vorgegebenen Kantenlänge des Ausgangswürfels als Basis, liefert die gesuchte Kantenlänge des verdoppelten Würfels. Vorgehensweise Um drei gleiche Teile der Blatthöhe als Faltlinien zu erhalten, wird zuerst das Blatt in der Mitte gefaltet (siehe Bild 1); dabei ergeben sich an den beiden Blattkanten und die Punkte bzw. . Es folgen die diagonale Falte und die Falte sie schneiden sich im Punkt Die nächste Falte durch den Punkt und parallel zur Blattkante bestimmt das erste Drittel der Blatthöhe; dabei ergeben sich an den beiden Blattkanten und die Punkte bzw. . Für das zweite und dritte Drittel der Blatthöhe legt man die Blattkante auf die Falte dabei ergeben sich an den beiden Blattkanten und die Punkte bzw. . Als Nächstes wird die Falte so gelegt (siehe Bild 2), dass die Ecke des Blattes auf der Kante und der Punkt auf der Falte zum Liegen kommt. Somit teilt die Strecke im Verhältnis Für das Bestimmen der Kantenlänge (siehe Bild 3) bedarf es – wie oben begründet – der Übertragung der Strecke inklusive des Teilungspunktes als Orthogonale (Senkrechte) auf einer Geraden , einer ebenfalls senkrecht zu angeordneten Kantenlänge des Ausgangswürfels sowie des Punktes auf Es folgt ein Strahl ab dem Punkt durch bis er die Maßhilfslinie der Kantenlänge in schneidet. Anschließend wird im Punkt eine Senkrechte auf die Maßhilfslinie errichtet. Der abschließende zweite Strahl ab durch liefert die Strecke mit der Länge als die gesuchte Kantenlänge des verdoppelten Würfels. Iterative Näherungskonstruktion der Kubikwurzel aus 2 Aus oben bereits beschriebenen Gründen kann das Ergebnis der Kubikwurzel nicht mit Zirkel und Lineal mit endlichen Konstruktionsschritten exakt dargestellt werden. Einen Weg für sehr gute Näherungen ermöglicht das Newtonverfahren. Im Folgenden wird es verwendet, um für die Würfelverdoppelung die reelle Nullstelle der Funktion als Näherung mit wenigen Iterationsschritten zu erreichen. Als Startwert kann genommen werden. Die Iterationsschritte des Algorithmus sind durch definiert. Weil der Ausdruck für nur die Grundrechenarten enthält, lässt sich das Ergebnis jedes Iterationsschritts als Strecke mit Zirkel und Lineal konstruieren. Berechnung der Iterationsschritte In der Formel liefert der Term auf der rechten Seite der Gleichung das Ergebnis des -ten Iterationsschrittes. Ein Iterationsschritt setzt sich aus sechs algebraische Operationen zusammen, von denen stets die Fünfte der Zähler und die Zweite der Nenner eines unechten Bruchs sind. 1. Iterationsschritt , fünf Operationen haben z. B. eingesetzter Wert für 2. Iterationsschritt , fünf Operationen haben z. B. eingesetzter Wert für 3. Iterationsschritt , fünf Operationen haben z. B. eingesetzter Wert für Dieser Ablauf lässt sich beliebig oft wiederholen. Es liegt quadratische Konvergenzgeschwindigkeit vor, was das Verfahren vergleichsweise effizient macht. Konstruktion mit Zirkel und Lineal Bereits nach zwei Iterationsschritten ist die Effizienz der Anwendung des Newtonverfahrens gut erkennbar, der bis dahin erreichte Näherungswert ist Es folgt nun eine konstruktive Weiterführung bis zum Erreichen des 3. Iterationsschritts mit dem Näherungswert . Zuerst wird der unechte Bruch umformuliert in den (unechten) Dezimalbruch und anschließend als exakte Länge auf einer Zahlengerade (Bild 1) abgebildet. Dazu eignet sich z. B. die Methode Konstruktion einer Dezimalzahl mithilfe des 3. Strahlensatzes. Wegen der Größenverhältnisse ist es von Vorteil, dies in einem eigenen Bild zu zeigen. Im nächsten Schritt wird die Länge (rot) aus Bild 1 in das Bild 2 (grün, Ziffer 2) übertragen. Es folgt das Bestimmen der Quadratzahl (Ziffer 3) und der Kubikzahl (Ziffer 4) von Im fünften Schritt wird die Kubikzahl von mit dem Faktor multipliziert und die Zahl addiert. Abschließend (Ziffer 6) wird der Quotient (rot) ermittelt: Beispiel, um den Fehler zu verdeutlichen Bei einem Ausgangswürfel mit der Kantenlänge  m wäre die Kante des nur näherungsweise verdoppelten Würfels ca.  mm zu lang. Nur einen Iterationsschritt mehr, sprich mit den Operationen 7–11 in einem Bild 3, würde man bereits den sehr genauen Wert (vergleiche Sollwert) erhalten. Damit wäre bei einem Ausgangswürfel mit der Kantenlänge  km die Kante des nur näherungsweise verdoppelten Würfels ca.  mm zu lang. Literatur Arthur Donald Steele: Über die Rolle von Zirkel und Lineal in der griechischen Mathematik. In: Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik. Abteilung B, Band 3, 1936, S. 287–369 (harvard.edu [PDF; 8,8 MB]). Claas Lattmann: Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid (= Science, Technology, and Medicine in Ancient Cultures. Band 9). Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2019, S. 177–270 (). Markus Asper: Mathematik. Die griechische Mathematik bis zum Ende des Hellenismus. In: Bernhard Zimmermann, Antonios Rengakos (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 2: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit (= Handbuch der Altertumswissenschaft. Band 7,2). C.H.Beck, München 2014, S. 459–481 (). Jesper Lützen: Why was Wantzel overlooked for a century? The changing importance of an impossibility result. In: Historia Mathematica. 36, 2009, S. 374–394, doi:10.1016/j.hm.2009.03.001. Walter Breidenbach: Das Delische Problem (Die Verdoppelung des Würfels), 1952, DEUTSCHE DIGITALE BIBLIOTHEK Frédéric Beatrix, Peter Katzlinger: A pretty accurate solution to the Delian problem. In: Parabola Volume 59 (2023) Issue 1, online magazine (ISSN 1446-9723) published by the School of Mathematics and Statistics University of New South Wales Weblinks Doubling the cube, McTutor Einzelnachweise Wurfelverdoppelung Wurfelverdoppelung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ornithomimosauria
Ornithomimosauria
Die Ornithomimosauria („Vogelnachahmerechsen“) sind Laufvögeln ähnliche Dinosaurier. Englisch werden sie auch ostrich dinosaurs („Straußendinosaurier“) genannt. Die Ornithomimosauria waren schlank gebaute, und mit zwei bis fünf Metern Länge mittelgroße Vertreter der Theropoden. Sie konnten vermutlich sehr schnell laufen, wobei sie wie alle Theropoden obligat biped waren, das heißt nur auf den Hinterbeinen liefen. Bis auf die urtümlichen Vertreter waren sie zahnlos. Wovon sie sich ernährten, ist bis heute nicht geklärt. Sie lebten in der Kreidezeit vor rund 134 bis 66 Millionen Jahren, der Großteil der Fossilfunde stammt aus dem östlichen Asien und dem westlichen Nordamerika. Informell lassen sich einige urtümliche Vertreter – Pelecanimimus, Shenzhousaurus, Harpymimus und Garudimimus – von den „höheren“ Ornithomimosauriern, den Ornithomimidae, unterscheiden. Merkmale Schädel und Zähne Der Schädel der Ornithomimosauria war relativ klein und saß auf einem langen Hals. Der Schädel war leicht gebaut, die Schnauze war langgestreckt, die Augen sehr groß. Die Schädelhöhle war groß und barg ein gut entwickeltes Gehirn. Das Schädeldach war meist flach, im Gegensatz zu anderen Theropoda waren außer bei Pelecanimimus keine Schädelkämme vorhanden. Der Hirnschädel und die Schnauzenregion waren pneumatisiert, das heißt mit luftgefüllten Hohlräumen versehen. An der Spitze des Oberkiefers saß das Zwischenkieferbein (Praemaxillare). Dieses wies einen langen, nach hinten reichenden Fortsatz auf, der die hintere Begrenzung des Nasenlochs bildete. Dieser Fortsatz ist eine systematisch bedeutsame Synapomorphie, ein gemeinsames abgeleitetes Merkmal. Bei manchen Vertretern wie Garudimimus und Gallimimus war das Zwischenkieferbein U-förmig, bei anderen wie etwa Struthiomimus zugespitzt. Dahinter befand sich der flache, niedrige Oberkieferknochen (Maxillare). Der Schädel wies wie bei allen Theropoda mehrere Schädelfenster auf. Die beiden Temporalfenster (die Schädelfenster der Schläfenregion) waren klein, das Antorbitalfenster (das Schädelfenster vor dem Auge) hingegen vergrößert. Zusätzlich waren davor noch ein Maxillarfenster und manchmal noch ein weiteres Promaxillarfenster vorhanden. Das Nasenbein war langgestreckt, das paarige Stirn- und Scheitelbein bildeten die flache Schädeldecke. Der Unterkiefer war schlank und langgestreckt, das Dentale – der vordere, zahntragende Teil des Unterkiefers – war schlank und länglich und seitlich betrachtet annähernd dreieckig. Ein Fund von Ornithomimus ließ am Ober- und Unterkiefer die Überreste eines Schnabels aus Keratin erkennen, der dicht verschlossen werden konnte. Die urtümlicheren Gattungen der Ornithomimosauria besaßen noch Zähne: Pelecanimimus, der basalste Vertreter, trug rund 220 kleine Zähne im Oberkiefer (am Prämaxillare und Maxillare) und Unterkiefer. Bei allen anderen Tieren war der Oberkiefer zahnlos, Shenzhousaurus und Harpymimus besaßen noch Zähne im Unterkiefer, vermutlich rund neun bis elf pro Kieferhälfte. Alle anderen Ornithomimosauria waren gänzlich zahnlos. Die Zähne der urtümlichen Vertreter wiesen keine Zacken an den Zähnen (Serration) auf, wie sie für Theropoda typisch sind. Die Zähne waren annähernd kegelförmig und hatten einen runden Grundriss. Das Gehirn dieser Tiere dürfte relativ groß gewesen sein. Schädelabgüsse ergaben, dass das Vorderhirn (Prosencephalon) vergrößert war, der Riechkolben hingegen klein. Der Gesichtssinn war – auch aufgrund der großen Augen – vermutlich gut entwickelt, der Geruchssinn hingegen nicht. Rumpfskelett und Gliedmaßen Die Wirbelsäule der Ornithomimosauria bestand aus 10 Hals-, 13 Brust-, 6 Kreuz- und rund 35 Schwanzwirbeln. Der Schwanz war wie bei allen Vertretern der Tetanurae versteift. Diese Versteifung wurde einerseits dadurch erreicht, dass die Schwanzwirbel durch lange, nach vorne und hinten reichende Knochenstäbe (Zygapophysen) und andererseits durch Chevronknochen (V-förmige Fortsätze an der Unterseite der Schwanzwirbel) verbunden waren. Der Schultergürtel war leicht gebaut, im Gegensatz zu den meisten anderen Theropoda fehlte das Gabelbein (Furcula). Die Arme waren verlängert, die Hände eher groß, aber leicht gebaut und nicht an eine räuberische Lebensweise angepasst. Die Hand bestand aus den Strahlen (Mittelhandknochen und Finger) I, II und III (vom Daumen her gezählt), der erste Finger setzte sich aus zwei, der zweite Finger aus drei und der dritte Finger aus vier Fingergliedern (Phalangen) zusammen. Da das erste Fingerglied des ersten Fingers das längste war, waren alle Finger annähernd gleich lang. Eine Besonderheit – zumindest der höher entwickelten Ornithomimosauria – war, dass der Mittelhandknochen (Metacarpus) des ersten Strahls im Gegensatz zu den meisten anderen Theropoden annähernd gleich lang wie die der beiden anderen Strahlen war. Die Finger endeten in Krallen, die an der Unterseite abgerundet und für räuberische Zwecke ungeeignet waren. Das Becken war eher klein und leicht gebaut; das Darmbein war langgestreckt und trug am vorderen Ende einen nach unten ragenden Fortsatz. Das Schambein ragte nach vorne und unten, das nach hinten weisende Sitzbein war am hinteren Ende bei den meisten Vertretern nach vorne gebogen. Die Hinterbeine waren länger als die Vorderbeine und in Relation zur Körpergröße auch länger als bei den meisten anderen Theropoda. Der Unterschenkel war um mehr als zehn Prozent länger als der Oberschenkel, Schien- und Wadenbein waren am unteren Ende des Beines fest zusammengedrückt. Die erste Zehe war bei den urtümlicheren Vertretern wie bei allen Theropoda bereits verkürzt, bei den Ornithomimidae fehlte sie völlig. Die Zehen II, III und IV waren symmetrisch nach vorne gerichtet, die dritte (mittlere) war die längste, die zweite und vierte annähernd gleich lang. Die drei nach vorne ragenden Zehen trugen Klauen aus Horn (Keratin), sie waren im Querschnitt dreieckig und an der Unterseite flach. Der Mittelfuß war schmal und verlängert. Bei den „urtümlichen“ Vertretern befanden sich die drei Mittelfußknochen noch nebeneinander, bei den Ornithomimidae berührten sich die oberen Enden des zweiten und vierten Mittelfußknochens und der obere Abschnitt des dritten Mittelfußknochens verjüngte sich nach oben stark. Dieser Bau des Mittelfußes wird als „arctometatarsal“ bezeichnet und besaß gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung für die Systematik der „höheren“ Theropoden. Das Taxon, das sich auf diesem Merkmal gründete, trug den Namen Arctometatarsalia. Nach aktuellem Kenntnisstand zur Stammesgeschichte der „höheren“ Theropoden ist dieses Taxon identisch mit den Ornithomimosauria und der Name wird deshalb nicht mehr benutzt. Körperbedeckung Über die Körperbedeckung (Integument) der Ornithomimosauria gab es lange Zeit aus dem Fossilbericht außer den Abdrücken eines Hautkammes am Kopf und eines Kehlsacks bei Pelecanimimus keine Hinweise. Die Entdeckung mehrerer gefiederter Dinosaurier seit Mitte der 1990er-Jahre und die phylogenetischen Untersuchungen ließen es jedoch denkbar erscheinen, dass diese Dinosaurier Federn aufwiesen. Im Oktober 2012 wurden Fossilien eines Jungtieres und zweier adulter Exemplare von Ornithomimus in einer etwa 72 Millionen Jahre alten Gesteinsschicht beschrieben, die zeigen, dass die Tiere eine daunenartige Befiederung hatten und die Älteren zusätzlich an den Vorderarmen längere Federn besaßen, die ihren Vordergliedmaßen ein dem Vogelflügel ähnliches Aussehen gaben. Die späte Entwicklung der langen Vorderarmbefiederung lässt vermuten, dass sie möglicherweise der Kommunikation mit Artgenossen (intraspezifische Kommunikation), dem Imponierverhalten diente oder den Eiern brütender Tiere zusätzlichen Schutz bot. Der Fund ist der erste Hinweis auf eine Ausbildung flügelartiger Vordergliedmaßen bei Dinosauriern, die nicht zu den Maniraptora gehören. Paläobiologie Fortbewegung und Sozialverhalten Wie alle Theropoda waren die Ornithomimosauria Zehengänger (digitigrad) und konnten ihre Beine nur in der Sagittalebene (vorwärts-rückwärts) bewegen – es war ihnen nicht möglich, die Gliedmaßen nach außen zu drehen, wie es etwa Säugetiere können. Der Körper war über dem Becken ausbalanciert, die Wirbelsäule wurde annähernd waagrecht gehalten. Um dennoch eine gute Sicht nach vorne zu ermöglichen, war der Hals S-förmig gebogen. Der versteifte Schwanz stand waagrecht nach hinten. Aufgrund des Baus ihrer Hinterbeine – insbesondere der langen Unterschenkel und der modifizierten Mittelfußknochen – gelten die Ornithomimosauria als schnelle Läufer. Ein Vergleich des Beckens und der Hinterbeine dieser Dinosaurier mit denen von Laufvögeln kam aufgrund der rekonstruierten Muskulatur zu dem Schluss, dass Ornithomimosauria die Geschwindigkeit, nicht aber die Manövrierfähigkeit der heutigen Vögel erreichten. Andere Schätzungen über die Höchstgeschwindigkeit dieser Tiere belaufen sich auf 35 bis 60 km/h. Aussagen über das Sozialverhalten der Ornithomimosauria sind schwierig, wie bei allen nur durch Fossilfunde bekannten Tieren. Selbst Funde von Überresten mehrerer Tiere an einem Ort (Taphozönose) müssen nicht auf ein Gruppenleben hindeuten, sondern können auch durch bestimmte Umstände bei der Einbettung der Körper im Sediment erklärt werden. Die meisten Funde stammen von Einzeltieren, zwei Entdeckungen sprechen aber für ein zumindest zeitweiliges Gruppenleben. Von Archaeornithomimus gibt es ein bone bed („Knochenlager“), bei dem die Überreste mehrerer Tiere an einem Ort entdeckt wurden. Bei Überresten von Sinornithomimus lassen die Funde auf ein plötzliches Massensterben einer ganzen Gruppe schließen, die sich sowohl aus Jungtieren als auch aus ausgewachsenen Tieren zusammensetzte. Ob diese beiden Gattungen das ganze Jahr über oder nur saisonal und ob auch andere Vertreter der Ornithomimosauria in Gruppen lebten, ist nicht bekannt. Nahrung Über die Ernährungsweise der Ornithomimosauria gibt es keine gesicherten Erkenntnisse – sowohl für die urtümlichen bezahnten Vertreter als für die zahnlosen Arten. Schon Henry Fairfield Osborn stellte 1917 drei Hypothesen über die Ernährung dieser Tiere auf: Sie könnten Pflanzenfresser gewesen sein, deren Nahrung aus Blättern, Früchten oder ähnlichem bestand, sie könnten Ameisen gefressen oder im Süßwasser lebende wirbellose Tiere gejagt haben. Andere Forscher vermuteten eine räuberische Lebensweise, da die Tiere zur Gruppe der Theropoda gerechnet werden, die größtenteils fleischfressende Dinosaurier umfasst. Sie könnten demnach kleine Wirbeltiere oder auch Eier verzehrt haben. Die Form der Zähne beziehungsweise die Zahnlosigkeit sowie der zierliche Bau der Vordergliedmaßen spricht jedoch gegen eine räuberische Lebensweise. Ein weiteres Gegenargument ist die Lage der Augen seitlich am Kopf. Das ermöglicht einen guten Rundumblick, verkleinert jedoch den Bereich des räumlichen Sehens, der für die Entfernungsabschätzung zur Beute bedeutsam ist. Viele andere, eindeutig räuberische Theropoda, haben im Gegensatz dazu mehr nach vorne gerichtete Augen, so wie auch viele andere fleischfressende Tiere. 1999 wurden bei zwei Ornithomimosauria, dem bezahnten Shenzhousaurus und dem zahnlosen Sinornithomimus, Gastrolithen (Magensteine) entdeckt. Die Position des Gastrolithen innerhalb des Rumpfes könnte darauf hindeuten, dass die Dinosaurier ähnlich wie heutige pflanzenfressende Vögel einen Muskelmagen besessen und Magensteine zur besseren Zerkleinerung der Nahrung verschluckt haben. Diese Entdeckung ist ein Hinweis, dass zumindest diese beiden Gattungen Pflanzenfresser gewesen sein könnten. Das Fehlen von knöchernen Einschlüssen und von Apatit deutet darauf hin, dass sie keine Wirbeltiere gefressen haben. Bei anderen gut erhaltenen Fossilfunden von Ornithomimosauria gibt es allerdings keinerlei Hinweise auf Gastrolithen. 2001 wurde bei Gallimimus eine lamellenförmige Struktur an der Spitze beider Kieferknochen entdeckt. Diese Struktur könnte auf eine filtrierende Nahrungsaufnahme hinweisen, das heißt, sie hätte wie ein Sieb funktioniert, um Kleinlebewesen aus dem Wasser zu fischen. Eine ähnliche Form der Nahrungsaufnahme findet sich auch bei heutigen Vögeln, etwa der Löffelente. Die kleinen Zähne an den Schnauzenspitze der urtümlichen Vertreter stellen demnach ein Frühstadium in der Evolution dieses Filtrierapparates dar. Gastrolithen sind kein Widerspruch zur filtrierenden Ernährung, da manche Magensteine sehr klein waren und sich solche Formen auch bei heutigen Vögeln mit gleicher Ernährung finden. Für diese Theorie spricht auch, dass Fossilfunde von Ornithomimosauria in Lebensräumen nahe bei Seen oder Flüssen häufiger sind als in ausgesprochen trockenen Habitaten. Zumindest einige dieser Dinosaurier könnten ein Teil ihrer Nahrung aus dem Wasser filtriert haben, aber vieles bei der Ernährung der Ornithomimosauria ist noch unbekannt. Fortpflanzung Die Ornithomimosauria haben wie alle anderen Dinosaurier Eier gelegt, die Funde sind jedoch spärlich. Untersuchungen des Beckenkanals ergaben, dass dieser bei diesen Tieren relativ breit war, was dafür sprechen könnte, dass sie größere und weniger Eier als andere Dinosaurier gelegt haben. Aus der Iren-Dabasu-Formation im chinesischen Autonomen Gebiet Innere Mongolei gibt es fossile Eier, die spekulativ den Ornithomimosauria zugerechnet wurden. Ansonsten ist über die Fortpflanzung oder Jungenaufzucht dieser Tiere nichts bekannt. Systematik Paläobiogeographie und Zeitraum Die Ornithomimosauria sind eine erdgeschichtlich relativ junge Gruppe der Dinosaurier, sie sind nur aus der Kreidezeit bekannt. Der wohl älteste und urtümlichste Vertreter, Pelecanimimus, stammt aus dem Barremium (vor 130 bis 126 Millionen Jahren) und wurde in Spanien gefunden. Abgesehen von fragmentarischen Überresten aus den Niederlanden und Australien – die beide von Vertretern dieser Gruppe stammen könnten, aber zu spärlich für eine systematische Zuordnung sind – stammen alle Funde dieser Dinosaurier aus dem östlichen Asien und dem westlichen Nordamerika. Aus Ostasien – der Mongolei und China – stammen dabei die übrigen basalen Gattungen sowie einige Vertreter der Ornithomimidae. Die nordamerikanischen Vertreter, Ornithomimus und Struthiomimus, sind erst ab dem mittleren Campanium oder frühen Maastrichtium (vor rund 80 bis 69 Millionen Jahren) belegt. Zumindest einmal müssen diese Tiere also das spätere Beringia überquert haben. Ob die nordamerikanischen Taxa eine gemeinsame Abstammungslinie bilden oder ob mehrmalige Wanderbewegungen stattgefunden haben, ist nicht bekannt. Wie alle Nicht-Vogel-Dinosaurier sind diese Tiere beim Massenaussterben am Ende der Kreidezeit ausgestorben. (Für die Diskussionen der Gründe für dieses Aussterben siehe Kreide-Tertiär-Grenze und Das Aussterben der Dinosaurier.) Äußere Systematik Die Ornithomimosauria werden innerhalb der Dinosaurier in die Theropoda klassifiziert, zu denen nahezu alle fleischfressenden Dinosaurier, aber auch die Vögel gerechnet werden. Innerhalb der Theropoda gelten sie als relativ basale Gruppe der Coelurosauria, ihr Schwestertaxon sind die Maniraptora. Ein mögliches Kladogramm, das die systematische Position innerhalb der Dinosaurier darstellt, sieht folgendermaßen aus: Innere Systematik Die Ornithomimosauria werden unterteilt in einige basale Vertreter, die noch einige ursprüngliche Merkmale wie etwa Zähne zeigen, und die Ornithomimidae. Die nachfolgende Gattungsliste folgt weitgehend Peter Makovicky und anderen. Ornithomimosauria Arkansaurus Harpymimus Hexing Kinnareemimus Nqwebasaurus Pelecanimimus Shenzhousaurus Thecocoelurus Valdoraptor Deinocheiridae Beishanlong Deinocheirus Garudimimus Paraxenisaurus Ornithomimidae Anserimimus Archaeornithomimus Gallimimus Ornithomimus (einschließlich Dromiceiomimus) Qiupalong Rativates Sinornithomimus Struthiomimus nomen dubium Coelosaurus Bei Coelosaurus sind die Funde zu spärlich für eine systematische Zuordnung. Die innere Systematik der Ornithomimosauria ist nur bei den urtümlicheren Vertretern gut belegt. Pelecanimimus gilt als Schwestertaxon der übrigen Gattungen und hat als einziger noch Zähne im Oberkiefer. Shenzhousaurus ist Schwestertaxon der verbleibenden Ornithomimosauria, was durch ein gerades und nicht nach vorne und unten gebogenes Sitzbein untermauert wird. Harpymimus besitzt noch Zähne im Unterkiefer und steht so der zahnlosen Garudimimus-Ornithomimidae-Klade gegenüber. Die Ornithomimidae haben als gemeinsame Synapomorphien die arctometatarsale Stellung der Mittelfußknochen (siehe oben) und den Verlust der ersten Zehe des Fußes. Die Abstammungslinien innerhalb der Ornithomimidae sind nicht geklärt, kladistische Studien liefern keine eindeutigen Ergebnisse. Entdeckungs- und Forschungsgeschichte Der erste Vertreter der Ornithomimosauria, der entdeckt wurde, war Ornithomimus, der 1890 von Othniel Charles Marsh beschrieben wurde. Marsh prägte auch gleichzeitig die Familie Ornithomimidae, die damals noch monotypisch war. 1902 brachte Lawrence Lambe das später als Struthiomimus bezeichnete Tier ans Tageslicht. Aufgrund der auffälligen Merkmale wie dem zahnlosen Schnabel und der arctometatarsalen Stellung der Mittelfußknochen waren die Ornithomimidae eines der ersten höheren Dinosauriertaxa, die anerkannt wurden. Erste Mutmaßungen über die Paläobiologie stellte Henry Fairfield Osborn 1917 auf. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden in den Vereinigten Staaten und Kanada weitere Fossilien von diesen Tieren entdeckt, die heute allesamt in Ornithomimus oder Struthiomimus eingegliedert werden. 1933 wurde mit dem späteren Archaeornithomimus der erste asiatische Vertreter gefunden. Abgesehen von dem rätselhaften Deinocheirus dauerte es danach bis 1972, bis mit Gallimimus eine neue Gattung dieser Tiergruppe zu Tage gefördert wurde. Im gleichen Jahr veröffentlichte Dale Russell seine paläobiologischen Studien. 1976 prägte der mongolische Paläontologe Rinchen Barsbold das Taxon Ornithomimosauria, zunächst nur für die Ornithomimidae, später auch für die urtümlichen Vertreter Garudimimus (1981) und Harpymimus (1984). 1986 wurden die ersten kladistischen Studien durch Jacques Gauthier veröffentlicht, in denen er die auch heute noch vertretene Sichtweise präsentierte, die Ornithomimosauria seien die Schwestergruppe der Maniraptora. 1994 klassifizierte Thomas R. Holtz die Ornithomimosauria als nahe Verwandte der Troodontidae und Tyrannosauroidea und nannte die gemeinsamen Taxa Bullatosauria und Arctometatarsalia, Sichtweisen, die heute verworfen werden. Im gleichen Jahr wurde mit Pelecanimimus der erste aus Europa stammende Vertreter dieser Tiergruppe beschrieben. Es folgten weitere phylogenetische Studien, unter anderem durch Paul Sereno, Kevin Padian und Yoshitsugu Kobayashi. Sereno schloss beispielsweise noch die Therizinosauroidea und die Alvarezsauridae in die Ornithomimosauria ein, während Padian 1999 die bis heute gültige Definition der Ornithomimosauria aufstellte als das Taxon, das alle Nachkommen des letzten gemeinsamen Vorfahren von Pelecanimimus polyodon und Ornithomimus edmontonicus umfasst. Im 21. Jahrhundert setzt sich die Forschung an diesen Tieren fort. Neben phylogenetischen und paläobiologischen Studien werden auch immer wieder neue Gattungen beschrieben, beispielsweise Shenzhousaurus und Sinornithomimus, und die offen gebliebenen Fragen, etwa bei der Ernährung, lassen weitere Untersuchungen erwarten. Literatur Peter J. Makovicky, Yoshitsugu Kobayashi, Philip J. Currie: Ornithomimosauria. In: David B. Weishampel, Peter Dodson, Halszka Osmólska (Hrsg.): The Dinosauria. 2nd edition. University of California Press, Berkeley CA u. a. 2004, ISBN 0-520-24209-2, S. 137–150. David E. Fastovsky, David B. Weishampel: The Evolution and Extinction of the Dinosaurs. 2nd edition. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2005, ISBN 0-521-81172-4. Einzelnachweise Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Blaufl%C3%BCgel-Prachtlibelle
Blauflügel-Prachtlibelle
Die Blauflügel-Prachtlibelle (Calopteryx virgo) (früherer Name Gemeine Seejungfer) ist eine Libellenart aus der Familie der Prachtlibellen (Calopterygidae) innerhalb der Kleinlibellen. Sie ist neben der Gebänderten Prachtlibelle (Calopteryx splendens) die einzige Art der Prachtlibellen in Mitteleuropa und fällt vor allem durch die namengebenden blauen Flügel der Männchen auf. Merkmale Bau der Imagines Die Imago der Blauflügel-Prachtlibelle erreicht eine Flügelspannweite von 6,5 bis 7 Zentimetern. Die Flügel der Männchen sind vollständig blaugrün und die der Weibchen durchscheinend bräunlich bis kupfern gefärbt. Wie bei allen Prachtlibellen sind die Flügel sehr breit und besitzen keinen stielartigen Ansatz. Die Flügel sind außerdem von einem dichten Adernetz durchzogen und besitzen kein Flügelmal (Pterostigma). Bei den Weibchen ist jedoch ein falsches Flügelmal vorhanden, bei dem eine dichtere Aderung vorliegt. Eine Verwechslungsgefahr besteht aufgrund der sehr deutlichen Färbung innerhalb des Verbreitungsgebietes nur mit der Gebänderten Prachtlibelle, die dieser Art auch in der Lebensweise sehr stark ähnelt (aus diesem Grunde wird sie für Vergleiche im folgenden Text regelmäßig herangezogen). Bei dieser ist die blaue Färbung der Männchen allerdings nur auf den mittleren Teil des Flügels beschränkt, die Basis ist zu etwa einem Drittel der Flügellänge durchscheinend, und Teile der Flügelspitze sind im Regelfall auch farblos. Als weiteres Unterscheidungsmerkmal dient die Unterseite der letzten drei Hinterleibssegmente, die bei der Gebänderten Prachtlibelle gelblich-weiß und bei der Blauflügel-Prachtlibelle leuchtend rot sind. Der Körper und die Flügel der Weibchen der Gebänderten Prachtlibelle sind metallisch-grün. Jedoch besteht vor allem bei frisch gehäuteten und noch nicht ausgefärbten Libellenweibchen sowie bei Fotografien mit Blitzlicht eine Verwechslungsgefahr der Weibchen beider Arten. Bau der Larven Die Larven der Blauflügel-Prachtlibelle entwickeln sich über 10 bis 12 Larvenstadien, zwischen denen jeweils eine Häutung stattfindet. Die Körperlänge der Tiere ist sehr variabel und stark abhängig von den Umweltbedingungen, aus diesem Grunde werden in der Literatur die vergleichenden Körpergrößen auf der Basis der Kopfbreite angegeben. Diese beträgt beim finalen Stadium (F-0-Stadium) der Larve zwischen 3,5 und 4,6 Millimeter und das Körpergewicht liegt mit etwa 4 Milligramm leicht unter dem der Gebänderten Prachtlibelle. Abgesehen davon sind die Larven der Prachtlibellen nur schwer voneinander zu unterscheiden, die erkennbaren Unterschiede liegen dabei vor allem in der Beborstung und der Ausprägung der Tracheenkiemen am Hinterleib. Im Vergleich zu anderen Kleinlibellen fallen Prachtlibellenlarven dagegen sofort aufgrund ihres deutlich verkürzten mittleren Kiemenblattes auf. Der Körperbau der Larven zeigt nur eine relativ geringe Anpassung an die schnell fließenden Gewässer ihres Lebensraums. Der Körper ist nicht abgeflacht, sondern sehr schlank und drehrund, die Beine sind lang und besitzen an ihrem Ende kräftige Krallen, mit denen sie sich in der Vegetation festhalten können. Da sie sich innerhalb des Wasserkörpers allerdings vornehmlich in den ruhigeren Bereichen aufhalten, ist die Gefahr, mit der Strömung verdriftet zu werden, relativ gering. Passiert dies dennoch, strecken sie ihren langen Körper und die Beine möglichst weit, um in Kontakt mit der Vegetation oder dem Substrat zu kommen. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet der Blauflügel-Prachtlibelle umfasst ganz Europa mit Ausnahme der südwestlichen Iberischen Halbinsel, der Balearen sowie Island. Im Norden reicht es bis an das arktische Eismeer und damit deutlich weiter nördlich als jenes der Gebänderten Prachtlibelle. An der nordafrikanischen Mittelmeerküste sind ihre südlichsten Populationen in Marokko und Algerien zu finden. Die nördliche Begrenzung in Asien folgt der 13-°C-Juli-Isotherme; sie kommt also nicht in den Gebieten vor, in denen die Durchschnittstemperatur im Hochsommer unter 13 °C fällt, ansonsten trifft man sie in den gemäßigten und kühlen Gebieten auf dem gesamten Kontinent mit Ausnahme der Wüstengebiete und der Hochgebirge an. Die östlichste Unterart C. v. japonica findet sich auf den japanischen Inseln, allerdings wird bei ihr diskutiert, ob es sich um eine eigene Art handelt. Wie die Gebänderte Prachtlibelle, findet man auch die Blauflügel-Prachtlibelle hauptsächlich in Niederungslagen. Regelmäßige Funde stammen aus Gebieten bis zu einer Höhe von maximal , vereinzelt kommt sie jedoch auch in Höhen bis 1.200 Metern vor, so etwa in den Alpen. Habitat Biotop Die Blauflügel-Prachtlibelle lebt vor allem an kleinen bis mittelgroßen Bachläufen und anderen Fließgewässern. Diese zeichnen sich durch eine relativ niedrige Wassertemperatur sowie mäßige bis schnelle Strömung aus. Die Gewässer dürfen dabei nicht zu nährstoffreich (eutroph) sein. Im nördlichen Teil ihres Verbreitungsgebietes, etwa in Norwegen, ist sie auch an mittelgroßen Flüssen anzutreffen und im Norden Finnlands sogar in größeren Strömen. Die Gewässer liegen dabei meist in unmittelbarer Nähe zu Waldbeständen. Im Gegensatz zur Gebänderten Prachtlibelle findet man sie sogar an Bächen innerhalb von Wäldern und an Moorbächen und -gräben. Imaginalhabitat Die Imaginalhabitate, also die Lebensräume der Erwachsenen, entsprechen weitestgehend denen der Gebänderten Prachtlibellen, wobei entsprechende Larvalhabitate vorhanden sein müssen. Anders als die Imagines der Gebänderten Prachtlibelle trifft man diejenigen der Blauflügel-Prachtlibelle auch an Waldlichtungen, dafür sehr selten am Ufer größerer Stillgewässer. Als Ruheplätze benötigen die Tiere Bäume und Sträucher, oft reichen aber auch hohe krautige Pflanzen wie Bestände der Großen Brennnessel (Urtica dioica) aus. Die Fortpflanzungshabitate entsprechen den zukünftigen Larvalhabitaten, es handelt sich dabei um kühle, weitestgehend beschattete Gewässerläufe mit einer mehr oder minder starken Strömung und einer naturnahen und bewachsenen Uferstruktur. Überwiegend handelt es sich um Bäche im Wiesen- und Weidenbereich, seltener fließen sie durch Wald. Eine ausgeprägte Ufervegetation spielt offensichtlich auch als Windschutz eine Rolle, da die Tiere aufgrund ihrer breiten Flügel leichter vom Wind verweht werden können als andere Libellenarten. Larvalhabitat Die Larven leben in den oben benannten Bachläufen und sind vor allem an der Vegetation im Wasser zu finden, was sie mit den Larven der Gebänderten Prachtlibelle gemein haben. Sie benötigen die Stängel und Blätter vor allem in Bereichen mit stärkerer Strömung, um sich daran festzuhalten. An vegetationsarmen Stellen sowie an flach auslaufenden Ufern oder Bereichen mit glattem Steinboden findet man sie dagegen nur äußerst selten. In ruhigeren Bereichen leben sie zwischen angeschwemmtem Laub oder an freiliegenden Wurzeln des Uferbewuchses. Auch in Unterwasserpflanzen wie Wasserpest (Elodea sp.), Flutendem Wasserhahnenfuß (Ranunculus fluitans) oder anderen Pflanzen sind sie zu finden. Dabei halten sie sich im Regelfall in Tiefen von wenigen Zentimetern bis einigen Dezimetern auf. Verglichen mit den Larven der Gebänderten Prachtlibelle bevorzugen die Larven der Blauflügel-Prachtlibelle die eher ruhigeren Bereiche des Gewässers, da bei geringerer Strömung eine effektivere Aufnahme von Sauerstoff aus dem Wasser möglich ist. Nur sehr selten findet man die Larven in stehendem Wasser. Das Substrat des Gewässers hat nur eine sehr untergeordnete Bedeutung, da sich die Larven überwiegend in der Vegetation aufhalten. Ein wichtiger Faktor für das Vorkommen der Blauflügel-Prachtlibellen ist das Sauerstoffangebot des Gewässers. Die Larven reagieren bei Sauerstoffmangel sehr viel empfindlicher als die Larven der Gebänderten Prachtlibelle, so dass die Sauerstoffsättigung des Wassers entsprechend hoch sein muss. Gewässer mit hohen Anteilen von Sediment und Faulschlamm, bei denen durch bakterielle Abbauprozesse Sauerstoff verbraucht wird, eignen sich entsprechend nicht als Habitat für die Larven. Aufgrund dieser Empfindlichkeit, die auch andere Faktoren der Gewässerchemie betrifft, können die Tiere als Bioindikator für die Abschätzung der Gewässergüte genutzt werden. So wird ihnen nach DIN ein Indikationswert im Saprobiensystem von 1,9 zugeordnet, der für einen gering bis mäßig verschmutzten Gewässertyp (β-mesosaprob) steht und eine Gewässergüteklasse von I bis II bedeutet. Ein weiterer zentraler Faktor für das Vorkommen der Larven der Blauflügel-Prachtlibelle ist der Wärmehaushalt des Gewässers. Diese Art bevorzugt, anders als die Gebänderte Prachtlibelle, vor allem die kühleren und schattigeren Bereiche des Gewässers. Als optimale Temperatur wird ein Sommerdurchschnitt von 13 bis 18 °C angegeben. Bei Temperaturen über 22 °C wurden häufig Schädigungen der Larven und vor allem eine verminderte Schlupfrate aus den Eiern festgestellt. Der Hauptgrund dafür ist allerdings nicht die Temperatur, sondern die damit verbundene verminderte Aufnahmefähigkeit des Wassers für Sauerstoff und der damit einhergehende geringere Sauerstoffgehalt. Einzelne Populationen können sich allerdings an dauerhaft höhere Temperaturen gewöhnen. Lebensweise Flugzeiten Die ersten Imagines der Libellen tauchen, abhängig von der Witterung, von Ende April bis Ende September auf. Die Hauptschlüpfzeit liegt in den Zeiten von Ende Mai bis Ende Juni. Die Emergenz, also die Umwandlung der Larven zu Imagines und das damit verbundene Verlassen des Wassers, erfolgt nicht synchron und dauert über die gesamte Saison bis etwa Mitte Juli an. Die frischgeschlüpften Libellen verbringen nach dem Verlassen der Larvenhülle (Exuvie) die erste Zeit bis zur vollständigen Ausfärbung in der Vegetation der Umgebung des Gewässers. Diese Reifezeit dauert im Regelfall etwa zehn Tage, danach kehren sie zum Gewässer zurück. Die adulten Tiere leben nur eine Saison, dabei wurde eine Lebensdauer von etwa 40 bis 50 Tagen festgestellt. Im Tagesverlauf findet man die Männchen an sonnenbeschienenen Gewässern bereits am frühen Morgen (in Mitteleuropa zwischen 7:00 Uhr und 9:00 Uhr), wobei sie sich immer in den Bereichen aufhalten, die direkt beschienen werden. Bei beschatteten Gewässern tauchen die Tiere entsprechend später auf, meist sonnen sie sich in den Wipfeln der umgebenden Vegetation. Weibchen überfliegen während des Tages das Gewässer auf der Suche nach geeigneten Eiablagestellen; die Hauptaktivität beider Geschlechter, wie Jagd, Werbung, Paarung und Eiablage erfolgt in den warmen Mittagsstunden. Abends sitzen die Tiere ebenso wie am frühen Morgen an sonnenbeschienenen Ruheplätzen in der Vegetation; an diesen Stellen verbringen sie auch die Nacht. Der Aktionsradius und damit der Abstand zwischen Fortpflanzungs-, Jagd- und Ruhebereich beträgt bei den Männchen zwischen 20 und 100 Metern und ist damit sehr klein, bei den Weibchen wurden dagegen Wanderdistanzen von bis zu vier Kilometern pro Tag beobachtet. Verhalten Wie bei der Gebänderten Prachtlibelle, kommt es auch bei der Blauflügel-Prachtlibelle zu einem ausgeprägten Revierverhalten der geschlechtsreifen Männchen. Diese besetzen Tagesreviere, die sie gegen andere Männchen verteidigen. Die Verteidigung besteht dabei meist nur aus Drohgebärden. Dazu spreizen sie ihre Flügel und stellen diese damit deutlich sichtbar zur Schau, außerdem kommt es zu Drohflügen und in seltenen Fällen auch zu Luftkämpfen zwischen rivalisierenden Männchen. Optimale Reviere entsprechen den optimalen Eiablageorten für die Weibchen und zeichnen sich im Normalfall durch eine erhöhte Strömung sowie ein geeignetes Eiablagesubstrat im potenziellen Brutgewässer aus. Die Größe der Reviere und deren Abstand voneinander ist von der Dichte der Population sowie den Begebenheiten des Gewässers abhängig und kann zwischen mehreren Metern und wenigen Dezimetern betragen. Männchen, die keine Reviere besetzen können, halten sich in der Vegetation des Ufers auf und versuchen, sich mit einfliegenden Weibchen zu verpaaren oder freiwerdende Reviere zu besetzen. Besonders wenn nur wenige Männchen vorhanden sind, ist die Revierverteidigung sehr aggressiv, bei einer höheren Anzahl konkurrierender Männchen nimmt die Aggression deutlich ab. Die Männchen sitzen in ihren Revieren meistens an exponierten Plätzen in der Vegetation, die über das Gewässer reicht, manchmal auch auf Vegetationspolstern oder Steinen inmitten des Gewässers. Diese Sitzwarte stellt zugleich das Zentrum des Reviers dar. Sie richten ihren Blick vor allem auf die Gewässermitte und zeigen ein Verhalten, das als „wingclapping“ bezeichnet wird und bei dem die Flügel schnell nach unten geschlagen und langsam wieder gehoben werden. Man geht davon aus, dass es vor allem der Kommunikation dient, es unterstützt jedoch auch die Ventilation im Thorax und spielt entsprechend wahrscheinlich auch eine Rolle bei der Thermoregulation der Tiere. Paarung und Eiablage Die Paarung erfolgt in einer Weise, die für die Gattung Calopteryx typisch ist und der ein auffälliges Werbeverhalten vorausgeht. Die Weibchen überfliegen die Gewässer, immer auf der Suche nach geeigneten Eiablageplätzen. Sie durchfliegen dabei die Reviere der Männchen. Die Männchen, die Weibchen an den Lichtreflexen der sich bewegenden Flügel erkennen, fliegen diesen entgegen, sobald sie die Reviergrenze überflogen haben. Sie nutzen dabei einen auffälligen Schwirrflug, der nur bei der Balz gezeigt wird, und präsentieren dabei die Unterseite ihres hoch erhobenen Hinterleibes. Dessen letzte drei Segmente sind deutlich heller und werden als „Laterne“ bezeichnet, die präsentiert wird. Das Männchen leitet auf diese Weise das Weibchen an die Eiablageplätze („Zeigeflug“) und umkreist es auf der Wasserfläche, sobald es sich abgesetzt hat. Danach folgt wiederum eine Phase des Schwirrflugs. Erst wenn das Weibchen dabei sitzen bleibt und so seine Paarungsbereitschaft signalisiert, kommt es zur Paarung. Dafür setzt sich das Männchen auf die Flügel des Weibchens und beginnt die Kopulation, die zwischen 40 Sekunden und über 5 Minuten dauern kann, wobei die Tiere sich auch als Paarungsrad auf die Vegetation setzen können. Nach der Paarung löst sich das Männchen wieder vom Weibchen und zeigt diesem erneut den Eiablageplatz, das Weibchen bleibt mit herunterhängendem Hinterleib für einige Sekunden sitzen („post copulatory rest“) und folgt dann dem Männchen. Die Eiablage erfolgt in den Stängeln der Wasserpflanzen im Bereich des Wasserspiegels und darunter, wobei das Weibchen bis zu 90 Minuten untertauchen kann. Es klettert dabei (im Gegensatz zu fast allen anderen Libellenarten) kopfabwärts am Stängel hinab und sticht die Eier mit dem Eiablageapparat (Ovipositor) fast senkrecht in die Stängel ein. Während der Eiablage oberhalb der Wasseroberfläche wird das Weibchen vom Männchen gegen andere Männchen verteidigt. Beide Geschlechter verpaaren sich mehrmals am Tag und über mehrere Wochen bis zu ihrem Tod. Larvalentwicklung und Lebensweise der Larven Die Eier, in denen sich die Embryonen entwickeln, sind im Schnitt etwa 1,2 Millimeter lang und haben einen spindelförmigen Aufbau mit etwa 0,2 Millimeter Breite. Am zugespitzten Ende befinden sich, wie bei anderen Prachtlibellen auch, eine Löcherstruktur (Mikropylenapparat) mit vier Löchern, die ein Eindringen der Spermien des Männchens ermöglichen. Außerdem hat das Ei der Gebänderten Prachtlibelle am Vorderende einen trichterartigen Anhang unbekannter Aufgabe, der beim eingestochenen Ei nach außen aus dem Pflanzenstängel ragt. Die Färbung der Eier verändert sich von einem hellen gelb beim frisch gelegten Ei über ein gelbbraun zu einem rotbraun beim älteren Ei. Innerhalb des Eis findet die Embryonalentwicklung der Libelle statt. Erstmals wurde diese für die Blauflügelige Prachtlibelle 1869 beschrieben, dabei handelte es sich um die erste Beschreibung der Embryonalentwicklung eines Insektes überhaupt. Von außen ist das Fortschreiten der Entwicklung durch eine leichte Längenveränderung sowie eine Veränderung der Form erkennbar. Dabei wölbt sich der obere Teil des Eies leicht auf, während der untere Teil sich konkav verformt. Die Entwicklung selbst lässt sich in drei Abschnitte aufteilen: die Primitiventwicklung, bei der sich nach der Befruchtung durch Teilung der Eizelle die Körpergrundgestalt ausbildet die Definitiventwicklung mit der endgültigen Bildung der Körperform bis zum Schlupf aus dem Ei die Larvalentwicklung der geschlüpften Larve bis zur Bildung des geflügelten Imago Die Embryonalentwicklung im Ei kann zwischen 20 Tagen und einem Monat dauern. Die Larvalentwicklung der Blauflügel-Prachtlibelle dauert in mitteleuropäischen Gewässern im Regelfall zwischen sechs und neun Wochen, vor allem durch die Präferenz kühlerer Gewässer ist sie dabei meistens etwas länger als die der Gebänderten Prachtlibelle. Zum Abschluss der Larvalentwicklung kommt es zur Überwinterung und die Entwicklung wird erst im folgenden Jahr mit der Metamorphose zum Imago vollständig abgeschlossen (univoltine Entwicklung). Je kühler ein Brutgewässer ist, desto größer ist der Anteil der Larven, die zwei Überwinterungsphasen durchlaufen und damit eine Entwicklungsphase von fast zwei Jahren aufweisen (semivoltine Entwicklung). In Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass sich das Verhältnis von univoltinen und semivoltinen Larven auch innerhalb eines Gewässers deutlich verändern kann und sich im Verlauf des Gewässers und mit Zunahme der Gewässertemperatur in Richtung univoltiner Larven verschiebt. Wie alle Libellenlarven, leben auch diese räuberisch. Sie ernähren sich vor allem von Insektenlarven wie denen der Kriebelmücken, Zuckmücken, Steinfliegen und Eintagsfliegen sowie von Flohkrebsen. Sie verteidigen ihren Sitzplatz gegenüber anderen Libellenlarven, vor allem denen der eigenen Art. Die Larven reagieren wesentlich empfindlicher auf Änderungen des Lebensraumes als die der Gebänderten Prachtlibelle, insbesondere auf Temperaturschwankungen. Bereits nach wenigen Tagen von Sauerstoff-Unterversorgung steigt die Mortalität rapide an, und auch nachdem wieder akzeptable Sauerstoffbedingungen herrschen, kommt es noch lange danach zu Missbildungen und einer erhöhten Mortalitätsrate unter den betroffenen Tieren. Das liegt vor allem daran, dass sie den Sauerstoff ineffizienter aus dem Wasser aufnehmen. So konnte man in Experimenten nachweisen, dass selbst Larven der Gebänderten Prachtlibelle, denen man die Tracheenkiemenblätter vollständig entfernt hatte, im Normalfall immer noch unempfindlicher gegenüber Schwankungen der Sauerstoffversorgung sind. Die Ineffizienz der Sauerstoffaufnahme wird durch die Habitatwahl ausgeglichen, da sowohl kälteres Wasser als auch Strömung die Aufnahmefähigkeit erhöhen. Gefährdung und Schutz Da die Blauflügel-Prachtlibelle aufgrund ihrer sehr eng begrenzten ökologischen Ansprüche (Stenökie), vor allem der Larven, nur an Gewässern vorkommen kann, die sich durch einen wenig vom Menschen beeinflussten und naturnahen Wasserkörper auszeichnen, ist sie im größten Teil ihres Verbreitungsgebietes sehr selten. Entsprechend fehlt sie in Gebieten um größere Städte oder um industrielle Ballungsräume vollständig; auch in Regionen mit stark ausgeprägter landwirtschaftlicher Nutzung ist sie nur selten anzutreffen. Nachdem die Art früher etwa in Deutschland auf der Roten Liste gefährdeter Arten gestanden hatte, wurde sie dort zuletzt (2015) allerdings dank verbesserter Rahmenbedingungen in vielen Fließgewässerhabitaten nicht mehr als gefährdet eingestuft. Zu den Faktoren, die eine Besiedlung der Gewässer für die Larven der Blauflügel-Prachtlibelle unmöglich machen, gehören zum einen deren Kanalisierung und Verbauung, bei denen die für die Ansiedlung wichtigen Wasserpflanzen verloren gehen. Zum anderen stellt die Eutrophierung der Gewässer durch die Landwirtschaft sowie durch Haushaltsabwässer einen wichtigen Faktor für den Rückgang dar. Diese führt zu einer verstärkten Faulschlammbildung und damit vermehrten Sauerstoffzehrung in den betroffenen Gewässern sowie zu einem verstärkten Algenwachstum von sogenannten „Schmieralgen“. Dabei handelt es sich um Braun- und Grünalgen, die die Wasserpflanzen sowie das Substrat überwachsen. Die veralgten Pflanzen werden von den Weibchen nicht als Eiablagestellen angenommen. Außerdem finden die Larven keine Haltemöglichkeiten gegen die Strömung, und die Algen und Schmutzpartikel setzen sich an den für die Atmung wichtigen Kiemenblättchen ab. Der Veralgung folgt eine Verkrautung und schlussendlich eine Verlandung der Gewässer. Doch auch naturnahe Gewässer mit geringer Belastung können in einem Zustand sein, der für die Tiere nicht nutzbar ist. So darf die Wasserfläche nicht von den Pflanzen des Randbewuchses vollständig überwachsen sein; das geschieht vor allem durch schnell wachsende Pflanzen wie das Echte Mädesüß (Filipendula ulmaria), die Große Brennnessel (Urtica dioica) oder das Indische Springkraut (Impatiens glandulifera). Auch der Baumbewuchs am Gewässerrand darf keine geschlossene Baumkrone ausweisen, da ansonsten die notwendige Sonnenbestrahlung fehlt. Vor allem Bachläufe in brachliegenden Weidegebieten, in denen keine regelmäßige Mahd stattfindet, sind für die Tiere entsprechend nicht besiedelbar. Dem kann durch regelmäßige Beseitigung der Randvegetation begegnet werden, die allerdings auch nicht vollständig sein darf. Auch eine teilweise Auflichtung der Gehölze sollte durchgeführt werden. In intensiver genutzten landwirtschaftlichen Gebieten mit regelmäßigem Eintrag von Gülle als Düngemittel kann ein wenige Meter breiter extensiv oder unbewirtschafteter Uferstreifen eine Einschwemmung verhindern und damit einer Eutrophierung entgegenwirken. Systematik Die Blauflügel-Prachtlibelle stellt eine von etwa 20 heute bekannten Arten der Gattung Calopteryx dar. Allerdings muss angemerkt werden, dass eine umfassende systematische Gattungsrevision bei Calopteryx längst überfällig ist, um eine Reihe derzeit strittiger Punkte zur Berechtigung einzelner Arten bzw. Unterarten zu klären. Neben der Blauflügel-Prachtlibelle sind drei weitere Arten in Europa vertreten, wobei mit der Bronzenen Prachtlibelle (Calopteryx haemorrhoidalis) und der Südwestlichen Prachtlibelle (Calopteryx xanthostoma) zwei Arten nur in Südeuropa vorkommen. Alle anderen Arten verteilen sich über die Holarktis und sind entsprechend in Nordamerika und Asien zu finden. Die Schwesterart der Blauflügel-Prachtlibelle stellt dabei wahrscheinlich die Bronzene Prachtlibelle dar, nach molekularbiologischen Untersuchungen ergab sich für die europäischen Arten folgende Verwandtschaft: Innerhalb der einzelnen Arten werden verschiedene Unterarten diskutiert, die sich vor allem anhand von Färbungen unterscheiden. Auch Hybride zwischen den einzelnen Arten sollen möglich sein und vorkommen, wurden jedoch selten dokumentiert. Einzelnachweise Literatur Heiko Bellmann: Libellen beobachten – bestimmen. Naturbuch Verlag, Augsburg 1993, ISBN 3-89440-107-9. Gerhard Jurzitza: Der Kosmos-Libellenführer. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2000, ISBN 3-440-08402-7. Georg Rüppell: Die Prachtlibellen Europas. (= Die Neue Brehm-Bücherei). Westarp Wissenschaften, Hohenwarsleben 2005, ISBN 3-89432-883-5. Klaus Sternberg, Rainer Buchwald: Libellen Baden-Württembergs. Band 1, Eugen Ulmer Verlag, Stuttgart 2000, ISBN 3-8001-3508-6. B. Misof, C. L. Anderson, H. Hadrys: A phylogeny of the damselfly genus Calopteryx (Odonata) using mitochondrial 16S rDNA markers. In: Molecular Phylogenetics and Evolution. Academic Press, Orlando Fla. Band 15, Nr. 1, 2000, S. 5–14, ( PDF). Weblinks Video: Blauflügel-Prachtlibelle (Calopteryx virgo) – Männchen bewacht das Weibchen bei der Eiablage Prachtlibellen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Steppenfuchs
Steppenfuchs
Der Steppenfuchs (Vulpes corsac) oder Korsak ist eine Art der Echten Füchse (Vulpini) innerhalb der Hunde (Canidae). Er ist über ein großes Gebiet von der unteren Wolga im europäischen Teil Russlands über West- und Zentralasien bis zur Mandschurei, Tibet und bis in den nördlichen Iran verbreitet. Sein Lebensraum sind hauptsächlich Steppen und Halbwüsten bis Wüsten. Wie die meisten Füchse ist auch der Steppenfuchs in erster Linie ein Fleischfresser, wobei er sich vor allem von Insekten und kleinen Säugetieren ernährt. Gesicherte Angaben zur Bestandsgröße oder zur Bestandsentwicklung gibt es nicht. Der Steppenfuchs wird in seinem gesamten Verbreitungsgebiet vor allem wegen seines Pelzes (Korsakfell) bejagt. Aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und der derzeit fehlenden ernsthaften Gefährdungen stuft die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) ihn als „nicht gefährdet“ (Least concern) ein. Merkmale Allgemeine Merkmale Der Steppenfuchs erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von 45 bis 60 Zentimetern mit einem Schwanz von 24 bis 35 Zentimetern Länge und einem Gewicht von 1,6 bis 3,2 Kilogramm bei den Männchen und 1,9 bis 2,4 Kilogramm bei den Weibchen. Die Männchen sind also etwas größer und schwerer als die Weibchen. Davon abgesehen unterscheiden sich die Geschlechter äußerlich nicht, ein über die Größe hinausgehender Sexualdimorphismus ist also nicht ausgeprägt. Die Tiere haben im Sommer ein braungraues bis rötliches Fell, das unterhalb der Kehle und am Bauch gelb oder weißlich ist. Der Kopf ist grau-ockerfarben oder braun, dabei etwas dunkler auf der Stirn mit einer weißen bis gelblichen Färbung um die Schnauze, die Kehle und den unteren Nackenbereich. Die Ohren sind mit einer Länge von 50 bis 70 Millimeter im Vergleich zu anderen Fuchsarten eher kurz und entsprechen in ihrer Färbung der des Rückens; die Vorderseite ist dabei braun gebändert, die Rückseite ockerfarben-braun bis rotbraun. Die Beine sind an der Vorderseite hell gelblich, die Seiten sind rostig-gelb. Die Hinterbeine sind bei gleicher Färbung etwas heller als die Vorderbeine. Die Schwanzlänge beträgt etwa die Hälfte der Kopf-Rumpf-Länge. Der Schwanz ist buschig und dicht behaart, die Farbe reicht von dunkel-ockerbraun bis graubraun. Oberseits ist er schwarz und er besitzt eine dunkle bis schwarze Spitze sowie etwa sechs bis sieben Zentimeter vom Ansatz entfernt einen schwarzen Fleck, der die Violdrüse markiert. Unterseits ist der Schwanz aschgrau bis braun oder rostbraun. Der Steppenfuchs wechselt im Herbst und im Frühjahr sein Fell (Fellwechsel), wobei im Frühjahr das Winterfell vollständig ersetzt wird. Das Winterfell ist deutlich heller, dichter, weicher und seidiger, daher ist es als Pelz begehrt. Es besitzt einen mittig ausgeprägten braunen Streifen und die Haarspitzen sind silberweiß. Das Fell und die Haut schützen den Fuchs vor Kälte und extremen Wetterbedingungen, die für einen Großteil des Verbreitungsgebiets vor allem im Winter typisch sind. Die Maximalgröße der Haarporen liegt bei weniger als 2 Mikrometer und kann saisonal variieren. Dadurch werden die Isoliereigenschaften des Pelzes erhöht. Da sich das Verbreitungsgebiet des Steppenfuchses mit dem mehrerer anderer Fuchsarten überschneidet, besteht in einigen Gebieten eine Verwechslungsgefahr. Vom ähnlichen, jedoch deutlich größeren Rotfuchs (Vulpes vulpes), der im größten Teil des Verbreitungsgebiets sympatrisch vorkommt, unterscheidet sich der Steppenfuchs vor allem durch die längeren Beine im Verhältnis zur Körpergröße. Durch die dunkle bis schwarze Schwanzspitze unterscheidet sich der Steppenfuchs zudem sowohl vom Rotfuchs als auch vom Tibetfuchs (Vulpes ferrilata), mit dem das Verbreitungsgebiet nur am Nordrand des tibetischen Hochlands überlappt. Auch dieser ist etwas größer und besitzt eine deutlich andere Kopfform sowie deutliche, dunkle Nackenstreifen. Der Afghanfuchs (Vulpes cana) unterscheidet sich vor allem in der Färbung und Körperform vom Steppenfuchs. Besonders markant sind bei dieser Art die dunklen Zeichnungen unter den Augen und das dunkelfleckige Fell. Der Bengalfuchs (Vulpes bengalensis) wiederum unterscheidet sich vom Steppenfuchs durch die sandgelbe Färbung der Ohren und der Rüppellfuchs (Vulpes rueppelli) durch die sandgelbe Fellfarbe, den dunklen Gesichtsfleck und den langen Schwanz mit weißer Spitze. Schädel- und Skelettmerkmale Der Schädel hat eine Basallänge von 96 bis 113 Millimetern sowie eine maximale Breite im Bereich der Jochbögen von 57 bis 71 Millimetern. Im Bereich des Hirnschädels ist er 49 bis 50 Millimeter breit. Die Länge der knöchernen Schnauze beträgt 46 bis 52 Millimeter, wobei die Nasenbeine 36 bis 42 Millimeter lang sind. Im Vergleich zum Rotfuchs ist der Schädel kleiner, kürzer und zugleich etwas breiter, zudem sind die Eckzähne beim Steppenfuchs kräftiger. Die Zahnreihe im Oberkiefer ist 48 bis 55 Millimeter lang und die Zähne sind vergleichsweise klein. Der Fuchs besitzt drei Schneidezähne (Incisivi), einen Eckzahn (Caninus), vier Vorbackenzähne (Praemolares) und zwei Backenzähne (Molares) in einer Oberkieferhälfte und drei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Vorbackenzähne und drei Backenzähne in einer Unterkieferhälfte. Insgesamt besitzen die Tiere 42 Zähne. Der erste Backenzahn ist im Vergleich zu dem anderer Fuchsarten deutlich kleiner. Genetik Der Steppenfuchs hat einen einfachen Chromosomensatz (n) von 18 und einen diploiden Chromosomensatz von 36 Chromosomen in jeder Zelle. Dabei wird angenommen, dass sich dieses Genom bei dem gemeinsamen Vorfahren des Steppen- und des Rotfuchses durch Verschmelzungen aus einem ehemals mit 68 Chromosomen ausgestatteten Genom entwickelt hat, wobei die Art der Verschmelzung bei beiden Arten unterschiedlich war. Für verschiedene Gene und Genabschnitte sowohl der Kern-DNA wie auch der mitochondrialen DNA liegen Sequenzdaten vor, die vor allem für phylogenetische Analysen genutzt wurden. Dabei handelt es sich unter anderem um die Sequenzen des Cytochroms b sowie der Gene COI und COII, die alle aus der mitochondrialen DNA stammen und häufig als Standard für diese Analysen genutzt werden. Verbreitung und Lebensraum Das Verbreitungsgebiet des Steppenfuchses umfasst die Steppen-, Halbwüsten und Wüstengebiete Zentralasiens und reicht von der unteren Wolga über West- und Zentralasien bis in die Mandschurei und nach Tibet. In Europa lebt die Art bis in die Region Samara, Tatarstan und im nördlichen Kaukasus. Von hier reicht die Verbreitung über Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan bis in die Steppen- und Waldsteppengebiete Russlands einschließlich des südlichen Bereichs von Westsibirien. Zudem lebt der Steppenfuchs in der Region Transbaikalien sowie in der gesamten Mongolei mit Ausnahme der bewaldeten Bergregionen und im Nordosten der Volksrepublik China mit der Mandschurei, der Inneren Mongolei sowie dem Gebiet zwischen dem Argun und dem Großen Hinggan-Gebirge, in der Dsungarei und Kaschgar in Xinjiang sowie in Afghanistan und im Nordosten Irans. Die südliche Verbreitungsgrenze ist unbekannt. Sie reicht in China wahrscheinlich bis zu den Gebirgszügen, die das Hochland von Tibet im Norden begrenzen. In der jüngeren Vergangenheit wurde eine Erweiterung des Verbreitungsgebietes nach Westen verzeichnet, die wahrscheinlich der Verbreitung und Erholung der Bestände des Steppenmurmeltieres (Marmota bobak) bis in die Region Woronesch folgt. Einzelne Sichtungen der Art sind zudem aus den Steppengebieten der Ukraine bis Pawlodar, dem östlichen Transkaukasien in Aserbaidschan und vielleicht auch aus dem westlichen Kirgisistan dokumentiert. Sein Lebensraum sind hauptsächlich Steppengebiete und Halbwüsten- bis Wüstengebiete. Er meidet Gebirgsregionen und fehlt in der Regel in Wäldern, Gebüschen und Gehölzen sowie in Siedlungsgebieten. Lokal kann er auf der Nahrungssuche auf landwirtschaftlich genutzten Flächen auftauchen und dort nach Beutetieren jagen. Lebensweise Der Steppenfuchs ist sowohl an Trockenheit als auch an Kälte und extreme Witterung angepasst. Er kann längere Zeit ohne Wasser und Nahrung auskommen. Vor allem in Steppenregionen sucht der Fuchs häufig Wasserstellen auf, an denen er auch seine Beute findet. Er ist vor allem nachtaktiv, wobei die Jagdzeit in der Regel am Abend beginnt und ihren Höhepunkt in der ersten Nachthälfte und danach wieder kurz vor dem Sonnenaufgang hat. Insbesondere im Sommer während der Zeit, in der die Jungtiere versorgt werden müssen, können die Tiere jedoch auch tagsüber aktiv sein. Die Sozialstruktur basiert vor allem auf der Familiengruppe. Als Bau nutzt der Steppenfuchs überwiegend verlassene Baue von Murmeltieren oder anderen Nagetieren, seltener die von Rotfüchsen oder Dachsen. Im Norden seines Verbreitungsgebietes werden insbesondere die Baue des Sibirischen Murmeltieres (Marmota sibirica) genutzt. Einer Studie aus der Mongolei zufolge nutzen die Steppenfüchse die Murmeltierbaue regelmäßig und signifikant häufiger als die anderer Arten, wodurch das Murmeltier als Schlüsselart für die Ökologie der Region betrachtet werden kann. Die Baue sind in der Regel nicht tief und haben einen bis vier Eingänge. Sie dienen dem Schutz vor schlechter Witterung sowie vor Fressfeinden. Vor allem während der harten Winterstürme und bei starkem Frost bleiben die Füchse im Bau, wobei sich mehrere Füchse einen Bau teilen können. Die Wurfbaue sind häufig mit mehr Eingängen ausgestattet, die in eine zentrale Kammer führen. Die Größe des Aktionsraums variiert sehr stark entsprechend der Verfügbarkeit von Beutetieren und anderer Ressourcen. In optimalen Lebensräumen kann sich der Aktionsraum eines Paares auf einen Quadratkilometer beschränken, unter ungünstigen Bedingungen ist er 35 bis 40 Quadratkilometer groß. Markierungen mit Urin oder Kot (Fäzes) kommen vor allem in der Nähe der Wurfbauten vor, im Vergleich zu anderen Arten sind sie jedoch selten. Die bevorzugte Form der Kommunikation ist das Bellen, wobei ein Spektrum von verschiedenen Belllauten bei Jagd, Territorialverhalten, Paarung sowie Bedrohung zur Verfügung steht. Hinzu kommen kurze und hohe Töne bei der Nahkommunikation wie Winseln und Fieptöne. Im Winter versucht er, tieferen Schnee von mehr als 15 Zentimetern zu meiden; in ihn würde er aufgrund des vergleichsweise hohen Gewichtsdrucks von 68–80 g/cm² einsinken, wodurch seine Bewegungsfähigkeit eingeschränkt wäre. Der Rotfuchs hat zum Vergleich einen Gewichtsdruck von nur 27–30 g/cm². Entsprechend bevorzugt der Steppenfuchs von Paarhufern festgetretenen Schnee und folgt den Herden der Saiga (Saiga tatarica), der Kropfgazelle (Gazella subgutturosa) oder der Mongolischen Gazelle (Procapra gutturosa), die zudem potenzielle Beutetiere aufschrecken und damit für den Fuchs jagbar machen. Im Winter kann der Steppenfuchs insbesondere aus den nördlichen Teilen des Verbreitungsgebietes Wanderungen in den Süden vornehmen, wobei zwischen 50 und 600 Kilometer zurückgelegt werden. Zudem zieht er von Wald- und Grassteppengebieten in Halbwüstengebiete, in denen das Beutetieraufkommen im Winter größer ist. Weil sich der Steppenfuchs leicht zähmen lässt, wurde er im 17. Jahrhundert in Russland oft als Haustier gehalten. Ernährung Der Steppenfuchs ernährt sich als opportunistischer Jäger vor allem von kleinen bis mittelgroßen Säugetieren und Insekten, aber auch von Vögeln oder pflanzlichem Material. Innerhalb seines Verbreitungsgebietes kann die Zusammensetzung des Beutespektrums entsprechend der vorkommenden und dominierenden Arten variieren. Im Norden des Verbreitungsgebietes stellen die Wühlmaus Microtus gregalis und der Steppenlemming (Lagurus lagurus) einen Großteil der Beutetiere, während in anderen Teilen die Große Rennmaus (Rhombomys opimus) und Rennratten (Meriones), Springmäuse wie die Pferdespringer (Allactaga) oder die Raufuß-Springmäuse (Dipus), Grauhamster (Cricetulus) und Kurzschwanz-Zwerghamster (Phodopus), verschiedene Gattungen der Wühlmäuse wie Alticola, Lasiopodomys und Microtus sowie Langschwanzziesel (Spermophilus undulatus) anteilig überwiegen können. Größere Tiere wie Pfeifhasen (Ochotona), Echte Hasen (Lepus) oder Murmeltiere (Marmota) werden dagegen nur selten bei besonderer Gelegenheit erbeutet. In Teilen von China wurde der Steppenfuchs zudem als einer der Hauptprädatoren für die Asiatische Kragentrappe (Chlamydotis macqueenii) identifiziert. In der Regel jagen die Füchse allein, vor allem im Sommer, allerdings wurden auch kleine Jagdgruppen beobachtet, die wahrscheinlich Familiengruppen oder sozial eng verbundene Gruppen darstellen. Vor allem im Winter, wenn die Beutetiere selten sind, ernährt sich der Steppenfuchs auch von Beuteresten des Wolfs sowie anderen Aasresten. In Gebieten, in denen der Fuchs nahe menschlicher Ansiedlungen lebt, sucht er auch im Müll nach Nahrung. Hinzu kommen Pflanzen, wobei der Steppenfuchs weniger Früchte, sondern vielmehr Lauch wie Allium polyrhizum, Spargel wie Asparagus gobicus sowie den Erd-Burzeldorn (Tribulus terrestris) konsumiert. Die hauptsächlichen Nahrungskonkurrenten des Steppenfuchses sind andere Raubtiere, vor allem der Rotfuchs (Vulpes vulpes) sowie der Wolf (Canis lupus). Hinzu kommen vor allem in nahrungsarmen Zeiten, hauptsächlich im Winter, regional auch der Europäische Dachs (Meles meles), mehrere Marderarten wie das Hermelin (Mustela erminea), das Altaiwiesel (Mustela altaica), der Steppeniltis (Mustela eversmanii), das Mauswiesel (Mustela nivalis) und das Feuerwiesel (Mustela sibirica) sowie der Tigeriltis (Vormela peregusna) und die Manul (Felis manul). Weitere Konkurrenten sind Greifvögel wie der Sakerfalke (Falco cherrug), die Steppenweihe (Circus macrourus) und die Kornweihe (Circus cyaneus), der Steppenadler (Aquila nipalensis), der Raufußbussard (Buteo lagopus) und der Adlerbussard (Buteo rufinus). Die größte Überschneidung besteht dabei mit dem Rotfuchs, der sich wie der Steppenfuchs vor allem von Insekten und kleinen Nagetieren ernährt. Einer Studie anhand von Kotuntersuchungen aus der Mongolei zufolge unterscheidet sich die Nahrung vor allem im Frühjahr und Sommer in der Zusammensetzung, wobei der Steppenfuchs deutlich mehr Käfer und weniger Grillen erbeutet als der Rotfuchs. Zudem ernähren sich Rotfüchse zu einem größeren Anteil von Fleischresten größerer Säugetiere (Aas) als Steppenfüchse. Durch diese Verteilung entsteht Konkurrenz um Nahrung vor allem in den Wintermonaten, wenn keine Insekten vorhanden und die Nahrungsressourcen deutlicher begrenzt sind. Fortpflanzung und Entwicklung Die Weibchen bringen nur einen Wurf pro Jahr zur Welt. Die Paarungszeit fällt im größten Teil des Verbreitungsgebietes in die Zeit von Januar bis März, wobei der Eisprung der Weibchen in der Regel im Januar oder Februar erfolgt. Zum Beginn der Paarungszeit schließen sich die Tiere zu Gruppen zusammen, wobei mehrere Männchen einem paarungswilligen Weibchen folgen und auch gegeneinander kämpfen. Sobald das Weibchen ein Männchen gewählt hat, lebt das Paar monogam und gemeinsam in einem Bau. Die Tragzeit dauert 52 bis 60 Tage und die frühesten Geburten (Würfe) fallen auf Mitte März, die meisten aber in den April. Die Würfe umfassen in der Regel fünf bis sechs Jungtiere, die Spanne reicht jedoch von zwei bis zehn Welpen. Da es vor allem in Jahren mit hoher Nahrungsverfügbarkeit zu größeren Würfen kommt, besteht wahrscheinlich ein Zusammenhang zwischen Wurfgröße und Verfügbarkeit von Nahrung. Die neugeborenen Jungtiere haben eine Körperlänge von 130 bis 140 Millimeter bei einem Gewicht von 60 bis 65 Gramm. Sie sind blind und taub und haben ein hellbraunes und weiches Fell mit einem einfarbigen Schwanz; die Adultfärbung bekommen sie erst während der weiteren Entwicklung. Die Augen öffnen sich nach etwa 14 bis 16 Tagen. Nach etwa 28 Tagen können die Jungtiere erstmals Fleisch fressen. Ab Mitte Mai kommen die Jungtiere zum ersten Mal aus den Bauen. Nach dem Wurf lebt das Weibchen für etwa zwei Monate allein mit den Jungtieren im Bau, während das Männchen einen eigenen Bau in der Nähe bezieht oder einfach außerhalb des Baus lebt; es beteiligt sich allerdings sowohl an der Fütterung als auch am Schutz der Jungtiere. Die Weibchen wechseln den Bau mit den Jungtieren während dieser Zeit bis zu zwei- oder dreimal, wenn es zu Parasitenbefall kommt. Es kommt auch vor, dass zwei Weibchen gemeinsam mit ihren Würfen in einem Bau leben, und auch Hilfe bei der Jungenaufzucht durch Artgenossen kommt vor. Nach der Entwöhnung der Welpen kann das Weibchen mit dem Männchen einen Bau beziehen, während die Jungtiere allein im Wurfbau bleiben. Das Wachstum und die Entwicklung der Jungtiere erfolgt sehr rasch, bereits nach vier Monaten haben sie die Größe der Eltern erreicht. Die Geschlechtsreife erreichen sie nach neun Monaten, sodass sie sich am Ende ihres ersten Lebensjahres zum ersten Mal verpaaren können. Meist verlassen die Jungtiere den elterlichen Bau, bleiben in der Regel jedoch in der Nähe und können zur Herbst- und Wintersaison auch wieder zurückkehren. Zu den Hauptfaktoren der Mortalität bei Jungtieren im Bau gehören Krankheiten und Prädatoren sowie möglicherweise Ameisen, die nach Hinweisen von Jägern die hilflosen Welpen attackieren. Innerhalb der Populationen des Steppenfuchses nehmen die Mortalitätsraten durch den Nahrungsmangel vor allem während langer und harter Winterperioden stark zu. Die ausgewachsenen Tiere können ein Alter von bis zu neun Jahren erreichen. Fressfeinde und Parasiten Zu den Fressfeinden des Steppenfuchses gehören vor allem größere Raubtiere wie der Wolf und auch wildernde Haushunde. Der Jagddruck durch Wölfe ist vor allem im Winter bei starkem Schneefall hoch. Rotfüchse, die deutlich größer als Steppenfüchse sind, dringen im Sommer in die Bauten ein und verdrängen die Steppenfüchse und töten die Jungtiere, fressen sie jedoch nicht. Daneben wird der Steppenfuchs auch von Greifvögeln wie dem Steinadler (Aquila chrysaetos), dem Östlichen Kaiseradler (Aquila heliaca) und dem Hochlandbussard (Buteo hemilasius) sowie von Eulen wie dem Uhu (Bubo bubo) und der Schneeeule (Nyctea scandiaca) erbeutet, zudem wurden Überreste von Steppenfüchsen auch in den Nestern von Mönchsgeiern (Aegypius monachus) gefunden. Wie andere Füchse ist auch der Steppenfuchs Wirt verschiedener Parasiten, die als Ektoparasiten auf der Haut oder als Endoparasiten im Körper des Fuchses leben. Zu letzteren gehören dabei vor allem parasitisch lebende Fadenwürmer wie Trichinella pseudospiralis und Trichinella nativa sowie die zu den Bandwürmern zählenden Echinococcus multilocularis und Mesocestoides lineatus. Hinzu kommen die Kratzwürmer Macracanthorhynchus catulinus sowie die Kokzidien Isospora buriatica und Eimeria heissini. Vor allem im Norden Kasachstans ist die sehr hohe Prävalenz der Infektionen mit Trichinella nativa darauf zurückzuführen, dass Fuchskadaver als Köder ausgelegt werden und sich damit die Infektionen weitertragen. Zudem ist der Steppenfuchs ein natürliches Reservoir des parasitischen Einzellers Leishmania donovani, der ein wichtiger Erreger der viszeralen Leishmaniose ist, sowie Zwischenwirt von Sarcocystis corsaci. Er kann unter Laborbedingungen zudem mit Sarcocystis citellivulpes infiziert werden und bildet sieben oder acht Tage später Sporozoen. Der Steppenfuchs ist auch Träger und Überträger der Tollwut und der Staupe. Unter den Ektoparasiten sind vor allem zahlreiche Arten der Flöhe sowie Milben und Zecken relevant. Der Befall mit Flöhen ist saisonal und regional verschieden, er ist am höchsten im Herbst. Evolution und Systematik Fossilgeschichte Als naher Verwandter oder Vorgänger des Steppenfuchses wird die Art Vulpes praecorsac betrachtet, die im frühen Pleistozän nachgewiesen ist und in Europa gelebt hat. Fossilienfunde der Art gibt es aus Österreich und Ungarn. Der älteste fossile Nachweis des Steppenfuchses stammt aus dem mittleren Pleistozän in China. Für das späte Pleistozän ist der Fuchs von der heutigen Schweiz, also von Mitteleuropa, bis in das nördliche China und in den Ural nachgewiesen. Aus dieser Zeit sind wenigstens 535 Knochenreste von mindestens 26 Individuen der Art aus der Prolom-II-Höhle von der Halbinsel Krim, Ukraine, nachgewiesen, welche in jener Zeit auch von mittelpaläolithischen Jäger-Sammler-Gruppen genutzt wurde, und einige Funde dokumentieren das Vorkommen der Art auf der Krim sowohl in der pleniglazialen Periode (vor 75.000 bis 15.000 Jahren) wie auch in der spätglazialen Zeit von 15.000 bis 9.500 Jahren. Systematik Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Steppenfuchses stammt von Carl von Linné aus dem Jahr 1768. Er beschrieb den Fuchs als Canis corsac und ordnete ihn damit in die Gattung Canis ein. Als Typus wird ein Individuum aus den Steppengebieten des nördlichen Kasachstan (ehemals Sowjetunion) nahe Petropawlowsk benannt. 1912 beschrieb Kastschenko Vulpes nigra, heute ein Synonym des Artnamens. Ognev ordnete die von Linné beschriebene Art 1935 als Vulpes corsak corsak ebenfalls der Gattung Vulpes zu. Im selben Jahr wurde durch Dorogostaiska eine heute nicht mehr gültige Unterart als Vulpes corsac skorodumovi erstmals unter dem heute gültigen Binomen Vulpes corsac beschrieben. Das Artepithethon corsac leitet sich vom russischen bzw. türkischen Namen des Steppenfuchses ab. Der Steppenfuchs wird heute gemeinsam mit elf weiteren Arten in die Gattung Vulpes eingeordnet. Auf der Basis von morphologischen und molekularbiologischen Daten wurde er von Binninda-Emonds et al. 1999 als Schwesterart des Tibetfuchses (Vulpes femitata) erkannt, beide gemeinsam bilden die Schwestergruppe eines Taxons aus dem Rotfuchs (V. vulpes) und dem Rüppellfuchs (V. rueppelli). Durch die Untersuchungen von Zrzavý & Řičánková 2004 wurde diese Position nicht bestätigt, demnach wurde der Tibetfuchs basal in der Gattung eingeordnet. Mit der Nominatform Vulpes corsac corsac und mit Vulpes c. kalmykorum werden nach Wilson & Reeder 2005 zwei Unterarten unterschieden, während Clark et al. 2008 mit V.c. turkmenicus und Sillero-Zubiri 2009 zusätzlich mit V.c. scorodumovi zwei weitere Unterarten benennen. Nach letzterem lebt Vulpes c. corsac im nördlichen Teil des Verbreitungsgebietes bis zu den Steppengebieten des Altai, Vulpes c. kalmykorum im Wolgabecken und dem Volgo-Ural, V. c. scorodumovi im nördlichen China, der Mongolei und Teilen Russlands sowie V. c. turkmenicus im südlichsten Teil des Verbreitungsgebietes von Zentralasien über Afghanistan und Kasachstan bis in den Nordosten des Iran. Das Wort Korsak stammt aus einer Turksprache (vgl. türkeitürkisch karsak) und wurde über die Vermittlung des Russischen (Корсак, korsak) ins Deutsche und weitere europäische Sprachen entlehnt. Die weitere Herleitung ist ungewiss, möglicherweise geht es auf ein turkisches *qarsa „eilig, hastig“ zurück, der Fuchs wäre mithin nach seiner „umherschweifenden“ Lebensweise benannt. Gefährdung und Schutz Der Jagd auf Steppenfüchse ist im heutigen Kasachstan seit der Bronzezeit bekannt. Vor allem dort und im heutigen Kirgisistan geht der Handel mit Korsakfellen bis in das 13. Jahrhundert zurück. Die traditionelle Bejagung findet mit eigens für die Jagd gezüchteten Windhunden, den Tazi, sowie als Beizjagd mit dem Sakerfalken und dem Steinadler (Aquila chrysaetos) statt, allerdings werden auch Gewehre und Fallen an den Eingängen der Baue eingesetzt. Wegen des dichten, schönen Pelzes wurde der Art vor allem in der Vergangenheit stark nachgestellt, die Verfolgung dauert aber bis heute an. In einigen Jahren des 19. Jahrhunderts wurden in Russland 40.000 bis 50.000 Pelze pro Jahr gehandelt. Auf der Messe in der sibirischen Stadt Irbit wurden Ende des 19. Jahrhunderts jährlich etwa 10.000 Korsakfelle verkauft. Vor allem in den 1920er Jahren kam der Korsak aufgrund einer neuen Färbemethode in Mode. Auffallend sind zwei sehr unterschiedliche, willkürliche Jahresexportzahlen: Für die Saison 1925/26 waren es 71.629 Felle, für die darauffolgende Saison 1926/27 sind nur noch 22.836 Stück angegeben. Vor allem in China, der Mongolei, Russland und anderen Teilen der nördlichen Verbreitungsgebiete sind die Pelze bis heute beliebt und werden intensiv gehandelt. Da der Steppenfuchs in Kulturlandschaften nur schlecht zurechtkommt, stellt die Verwandlung vieler Steppengebiete in Acker- und Weideland sowie die regional teilweise sehr starke Zunahme von Weidetieren eine Bedrohung für ihn dar. Die teilweise starke Bejagung führte zudem in Teilen des Verbreitungsgebiets zu starken Rückgängen der Tiere. Diese und der zusätzliche Verlust des Lebensraumes sind die Hauptursachen für das Verschwinden des Steppenfuchses aus großen Teilen seines früheren Verbreitungsgebietes. Für das 20. Jahrhundert sind einige „katastrophale“ Zusammenbrüche der Populationen dokumentiert, die auch zu Jagdverboten wie in Kasachstan von 1928 bis 1938 führten. Gesicherte Angaben zur Bestandsgröße oder zur Bestandsentwicklung gibt es nicht, zudem schwanken die Bestandszahlen abhängig von den klimatischen Bedingungen und anderen Faktoren sehr stark. In besonders extremen Jahren können die Bestände regional bis auf ein Zehntel innerhalb eines Jahres abnehmen. Aufgrund des großen Verbreitungsgebietes und derzeit fehlenden ernsthaften Gefährdungen stuft die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) die Art allerdings als „nicht gefährdet“ (Least concern) ein, da eine akute Bedrohung für die Bestände nicht besteht. Der Steppenfuchs wird zudem nicht in den Listen der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora (Washingtoner Artenschutzübereinkommen, CITES) geführt. Die Jagd auf den Fuchs ist in den Ländern des Verbreitungsgebietes reglementiert. So ist die Bejagung und die Nutzung von Fallen etwa in Russland, Kasachstan und Turkmenistan nur im Zeitraum von November bis März erlaubt. Darüber hinaus sind einzelne Jagdmethoden wie das Ausgraben, Ausräuchern oder Fluten der Baue sowie Giftfallen verboten. In Afghanistan ist der Steppenfuchs eine geschützte Art und die Jagd und der Handel mit Korsakfellen verboten. Einzelnachweise Literatur W. Chris Wozencraft: Corsac Fox. In: Andrew T. Smith, Yan Xie: A Guide to the Mammals of China. Princeton University Press, 2008; S. 420–421. ISBN 978-0-691-09984-2. A. Poyarkov, N. Ovsyanikov: Corsac Fox – Vulpes corsac (Linnaeus, 1768). In: Claudio Sillero-Zubiri, Michael Hoffman, David W. MacDonald: Canids: Foxes, Wolves, Jackals and Dogs – 2004 Status Survey and Conservation Action Plan. IUCN/SSC Canid Specialist Group 2004, ISBN 2-8317-0786-2: S. 142–147 Online (PDF; 1,6 MB) Claudio Sillero-Zubiri: Corsac Fox Vulpes corsac. In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 1: Carnivores. Lynx Edicions, Barcelona 2009. ISBN 978-84-96553-49-1. Weblinks Hunde
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wiesen-Schaumkraut
Wiesen-Schaumkraut
Das Wiesen-Schaumkraut (Cardamine pratensis) ist eine Pflanzenart aus der Gattung der Schaumkräuter (Cardamine) innerhalb der Familie der Kreuzblütengewächse (Brassicaceae). Das Verbreitungsgebiet umfasst weite Gebiete der Nordhalbkugel. Es dominiert mit seinen weiß bis zart violetten Blüten ab Ende April bis Mitte Mai häufig das Erscheinungsbild nährstoffreicher Feuchtwiesen. Beschreibung Erscheinungsbild Das Wiesen-Schaumkraut wächst als überwinternd grüne, ausdauernde, krautige Pflanze, die Wuchshöhen von meist 15 bis 55 (8 bis 80) Zentimetern erreicht. Sie bildet ein relativ kurzes, mit einem Durchmesser von bis 5 Millimetern zylindrisches, knollig-verdicktes Rhizom als Überdauerungsorgan aus. Der aufrechte, unverzweigte Stängel ist im Querschnitt rund, enthält anfangs Mark und wird später hohl und ist kahl oder im unteren Bereich spärlich behaart. Laubblatt Die dünnen Laubblätter stehen in grundständigen Rosetten zusammen und sind wechselständig am Stängel verteilt; die Blattadern sind erhaben. Die meist 2 bis 7 (1 bis 10) Zentimeter lang gestielten Grundblätter weisen eine Länge von 30 Zentimeter auf, sind einfach oder unpaarig gefiedert und besitzen zwei bis 15 Paare rundlicher Fiederblättchen. Die Endfieder der Grundblätter ist 1,5 Zentimeter lang gestielt und bei einem Durchmesser von 0,3 bis 2 Zentimetern kreisförmig bis breit verkehrt-eiförmig mit einer meist gerundeten, selten fast nieren- oder keilförmigen Basis, gewelltem Rand sowie einem gerundeten oberen Ende. Die Grundblätter besitzen auf jeder Seite ihrer Rhachis zwei bis acht (bis zu 15 oder keine) Seitenfiedern, die höchstens gleich groß wie die Endfieder sind; sie sind gestielt oder sitzend, kreisförmig, eiförmig bis breit verkehrt-eiförmig mit gekerbtem oder gewelltem Rand. Es sind meist zwei bis zwölf (bis 18) kahle, kurz gestielte, 2 bis 17 Zentimeter lange, fiederteilige Stängelblätter vorhanden. Der gestielte oder sitzende Endabschnitt der Stängelblätter ist bei einer Länge von meist 1 bis 2,5 (bis zu 3,5) Zentimetern und einer Breite von meist 5 bis 8 (bis zu 10) Millimetern linealisch, länglich, eiförmig oder lanzettlich. Die Stängelblätter besitzen auf jeder Seite ihre Rhachis zwei bis acht (bis zu 15 oder keine) Seitenfiedern, die höchstens gleich groß wie die Endfieder sind; sie sind gestielt oder sitzend und herablaufend, in der Form ähnlich wie bei den Grundblättern und besitzen meist einen glatten oder selten gezähnten Rand. Blütenstand Die Blütezeit des Wiesen-Schaumkrautes erstreckt sich je nach Standort von April bis Juni oder sogar Juli. Die Blüten stehen in einem endständigen, traubigen Blütenstand zusammen, jedoch entstehen am oberen Teil des Stängels häufig noch weitere kleine, traubige Blütenstände. Bei Regenwetter und Dunkelheit krümmen sich die Blütenstiele und die sich schließenden Blüten nehmen eine nickende Stellung ein. Blüte Die zwittrigen Blüten sind vierzählig mit der für Kreuzblütengewächse typischen Anordnung der Blütenorgane. Die vier aufrechten oder ausgebreiteten, grünen, freien Kelchblätter besitzen bei einer Länge von meist 3 bis 5 (2,5 bis 6) Millimetern und einer Breite von 1 bis 2 Millimetern eine längliche oder eiförmige Form mit häutigem Rand und die Basis der zwei seitlichen Kelchblätter ist sackförmig. Die vier freien, genagelten Kronblätter besitzen bei einer Länge von meist 0,8 bis 1,5 (0,6 bis 1,8) Zentimetern und einer Breite von meist 3 bis 7,5 (bis zu 10) Millimetern eine verkehrt-eiförmige Form und ein gerundetes oder ausgerandetes oberes Ende. Die Farben der Kronblätter reichen von selten weiß über meist weißlich und blass-rosafarben mit dunkleren Adern bis purpurfarben. Von den sechs Staubblättern besitzen die mittleren Paare 5 bis 10 Millimeter lange Staubfäden und das seitliche Paar 3 bis 6 Millimeter lange Staubfäden. Die gelben Staubbeutel sind bei einer Länge von (0,8 bis) meist 1,2 bis 2 Millimetern schmal länglich. Die Staubblätter ungefähr dreimal so lang wie die Kelchblätter sind. Das einzige Fruchtblatt enthält 20 bis 30 Samenanlagen. Der haltbare, meist gedrungene Griffel weist eine Länge von 1 bis 2,2 (0,5 bis 2,7) Millimetern auf. Frucht und Samen Die dünnen, meist 1,2 bis 2,5 (0,5 bis 3) Zentimeter langen Fruchtstiele befinden sich aufrecht, aufsteigend oder fast spreizend an der Fruchtstandsachse. Die Schoten besitzen bei einer Länge von 2,5 bis 4,5 (1,6 bis 5,5) Zentimetern eine lineale Form und einem Durchmesser von (1,2 bis) meist 1,5 bis 2,3 Millimeter einen runden Querschnitt sowie kahle Klappen. Die hellbraunen Samen sind bei einer Länge von meist 1,2 bis 1,8 (bis zu 2) Millimetern und einem Durchmesser von 1 bis 1,4 Millimetern länglich. Die Früchte reifen zwischen Juni und August. Chromosomenzahlen Die Chromosomenzahlen betragen 2n = 16, 24, 28-34, 38-44, 48, 56, 96, was auf die Chromosomengrundzahl x = 8 schließen lässt. Es liegt Polyploidie vor, wobei Untersuchungen diploide bis heptaploide Populationen nachweisen. Ökologie Das Wiesen-Schaumkraut ist ein Hemikryptophyt, eine ausdauernde Halbrosettenpflanze mit dünnem, kriechendem Rhizom. Die Blattrosette ist oft wintergrün. Blütenökologisch handelt es sich um „Nektar führende Scheibenblumen“ mit einem Übergang zu „Trichterblumen“. Nektar wird reichlich von kleinen Nektarien an der Fruchtknotenbasis abgesondert, er ist nur Bienen und Faltern zugänglich; Schwebfliegen ernten den Pollen. Die Blüten sind außerdem die wichtigste Pollenquelle der Sandbiene (Andrena lagopus). Wie auch bei anderen Kreuzblütlern sind die Narbenpapillen kutinisiert, sodass auf ihnen nur solche Pollenkörner keimen können, die auch Cutinase, also das Cutin auflösende Enzym produzieren. Die Schoten springen bei Reife auf und verstreuen die einreihig angeordneten Samen. Das Wiesen-Schaumkraut nutzt damit eine Ausbreitungsstrategie, die man botanisch auch als Ballochorie bezeichnet. Das Wiesen-Schaumkraut gehört dabei zu den Saftdruckstreuern, die in der europäischen Flora im Gegensatz zu den Austrocknungsstreuern selten sind. Reifen die Schoten, steigt der Zellsaftdruck und die Wände der Schote schwellen an. Ist ein bestimmter Druck überschritten, reißen die Wände der Schote explosionsartig auf. Durch die dabei freigesetzte Energie wird der Samen bis zu 2,4 Meter weit verstreut. Das Wiesen-Schaumkraut ist ein Lichtkeimer/Hellkeimer. Wenn grundständige Blätter des Wiesen-Schaumkrautes den feuchten Boden berühren, bilden sich häufig an den Ansatzstellen der Fiederblättchen wurzelnde Brutknospen. Aus diesen wachsen selbstständige Pflanzen heran. Mit dieser vegetativen Selbstausbreitung, die botanisch Blastochorie genannt wird, stellt die Pflanze eine Ausbreitung auch dann sicher, wenn die Standortbedingungen oder nasskaltes Wetter ein Ausreifen der Samenschoten verhindern. Synökologie Die Blüten des Wiesen-Schaumkrautes sind sehr nektarreich und werden durch zahlreiche Insekten bestäubt. Aurorafalter Gemeinsam mit der Knoblauchsrauke ist das Wiesen-Schaumkraut die bevorzugte Nahrungspflanze der Raupe des Aurorafalters (Anthocharis cardamines). Der Aurorafalter, der das Wiesen-Schaumkraut auch als Nektarpflanze nutzt, legt seine Eier meist an den Blütenstielen ab. Die Raupen fressen an diesen Pflanzen bis Juli oder August, verpuppen sich zu einer sogenannten Gürtelpuppe und überwintern dann. Wiesenschaumzikade Zu den gleichfalls auf dem Wiesen-Schaumkraut lebenden Insekten zählt die 5 bis 6 Millimeter lange und variabel gefärbte Wiesenschaumzikade (Philaenus spumarius). Wiesenschaumzikaden leben auf krautigen Pflanzen, deren Pflanzensaft sie saugen. Sie legen an ihren Wirtspflanzen auch ihre Eier ab, aus denen im April und Mai Larven schlüpfen, die gleichfalls den Pflanzensaft saugen. Durch Einpumpen von Luftbläschen aus der Atemhöhle in eine eiweißhaltige Flüssigkeit, welche die Larven aus dem After abscheiden, wird der Schaum erzeugt. Der Schaum schützt die darin sitzende Larve vor Feinden, erhält aber in erster Linie die für die Weiterentwicklung nötige Feuchtigkeit und Temperatur. Diese auffälligen Schaumnester sind auch an der Kuckuckslichtnelke und an Gräsern zu finden. Vorkommen Das Verbreitungsgebiet von Cardamine pratensis reicht von Europa bis zur arktischen Klimazone in Nordasien und Nordamerika. Es kommt in Asien in Japan, Korea, Kasachstan, Mongolei, Russland und den chinesischen Provinzen Heilongjiang, Nei Mongol, Xinjiang sowie westlichen Tibet vor. In Nordamerika kommt Cardamine pratensis in Höhenlagen zwischen 0 und 1000 Metern in den kanadischen Provinzen British Columbia, New Brunswick, Nova Scotia, Ontario, Québec sowie in Neufundland und in den US-Bundesstaaten Connecticut, Indiana, Maine, Massachusetts, Michigan, New Hampshire, New Jersey, New York, Ohio, Pennsylvania, Vermont vor, dabei sind die meisten Populationen Neophyten aus Europa, aber es scheint auch Populationen zu geben, die ursprünglich in Nordamerika heimisch sind. Das Wiesen-Schaumkraut ist dabei in diversen Biotoptypen zu finden. Es zählt zu den in Mitteleuropa häufigen Pflanzenarten. Als Standort werden frische bis feuchte Fett- und Feuchtwiesen sowie Bruch- und Auenwälder der collinen bis montanen Höhenstufe bis in Höhenlagen von etwa 1700 Meter bevorzugt. Durch eine Bewirtschaftung feuchter Wiesen wird die Ausbreitung dieser Art stark gefördert. Auch in nährstoffreichen Stauden- und ausdauernden Unkrautfluren, an nährstoffreichen Gewässern, an Quellen und Quellläufen sowie in Hochstaudenfluren und Gebüschen der Gebirge ist das Wiesen-Schaumkraut anzutreffen. Es gedeiht in Mitteleuropa in Gesellschaften der Klasse Molinio-Arrhenatheretea, kommt aber auch in Gesellschaften der Verbände Aegopodion oder Alno-Ulmion vor. Die ökologischen Zeigerwerte nach Landolt et al. 2010 sind in der Schweiz: Feuchtezahl F = 3+w (feucht aber mäßig wechselnd), Lichtzahl L = 3 (halbschattig), Reaktionszahl R = 3 (schwach sauer bis neutral), Temperaturzahl T = 3+ (unter-montan und ober-kollin), Nährstoffzahl N = 4 (nährstoffreich), Kontinentalitätszahl K = 2 (subozeanisch). Systematik Die Erstveröffentlichung von Cardamine pratensis erfolgte 1753 durch Carl von Linné in Species Plantarum, 2, S. 656. Die botanische Artname Cardamine pratensis setzt sich zusammen aus der Gattungsbezeichnung Cardamine, die sich vom griechischen Wort καρδαμίνη kardamíne für Kresse ableitet und dem Artepitheton pratensis, das aus dem Lateinischen kommt und mit „auf Wiesen wachsend“ übersetzt werden kann. Es wurden viele Unterarten und Varietäten beschrieben, die alle heute Synonyme dieser oder anderer Arten sind. Synonyme Cardamine pratensis für sind: Cardamine nemorosa , Cardamine praticola , Cardamine rivularis , Cardamine udicola , Cardamine ullepiciana , Cardamine pratensis subsp. pratensis, Cardamine pratensis subsp. atlantica , Cardamine pratensis subsp. genuina des. inval., Cardamine pratensis subsp. major , Cardamine pratensis subsp. picra , Cardamine pratensis subsp. ullepiciana , Cardamine pratensis var. atlantica , Cardamine pratensis var. carpatica , Cardamine pratensis var. dentata , Cardamine pratensis var. flore-pleno , Cardamine pratensis var. grandiflora , Cardamine pratensis var. grandiflora , Cardamine pratensis var. grandiflora , Cardamine pratensis var. macrantha , Cardamine pratensis var. parvifolia , Cardamine pratensis var. pleniflora , Cardamine pratensis var. pseudohirsuta , Cardamine pratensis var. pubescens , Cardamine pratensis var. subrivularis , Cardamine pratensis var. typica des. inval. Trivialnamen Die im deutschsprachigen Raum üblichen Trivialnamen Wiesen-Schaumkraut oder einfach Schaumkraut beziehen sich möglicherweise auf das Vorkommen von Schaumnestern der Schaumzikaden (Aphrophoridae) an dieser Pflanze. Diese sind im Frühjahr so häufig, dass die im Volksmund auch als „Kuckucksspeichel“ oder „Hexenspucke“ bezeichneten Nester der Pflanze den volkstümlichen Namen „Kuckucksblume“ gegeben haben. Die Bezeichnung Schaumkraut lässt aber auch eine andere Deutung zu, da eine mit Wiesenschaumkraut bestandene Wiese durchaus den Eindruck erwecken kann, als sei sie mit Schaum überzogen: „Betrachtet man eine solche Ebene in der Mitte des Mais zu einer Tageszeit, wo durch die durchwärmenden Sonnenstrahlen jene bekannten wellenförmige Bewegung der Luft entsteht, so erscheint die ganze Fläche wie von einem üppigen Schaum bedeckt, was wohl die Entstehung des Namens Schaumkraut veranlaßt haben mag.“ Als weit verbreitete und auffällige Wiesenblume besitzt das Wiesen-Schaumkraut eine Reihe weiterer regional sehr unterschiedlicher volkstümlicher Namen. Dazu gehören Bettbrunzer, (Schweiz: Bettseicherli), blaues Brunnenkressich, Gauchblume, Harnsamen, Maiblume, Marienblume, Pinksterbloem, Präriekraut, Storchenschnäbli, Strohblume, Wasserkraut und Wilde Kresse. Weitere Namen sind Bachkresse, süße Brunnenkresse (Österreich), Chessali (St. Gallen bei Werdenberg und Sargans), Feldkresse, Fleischblume (Schweiz), Geldseckalischelm (St. Gallen im Rheintal), Geltenblume (Schweiz), Hanotterblom (Altmark), Heinotterblom (Altmark), Hennaäugli (St. Gallen im Rheintal), Kiewitsblome (Oldenburg, Ostfriesland, Wilstermarsch), braune Kresse, wilder Kress (Kärnten bei Glödnitz), Kukuksblome (Unterweser), Maiblome (Oldenburg), Mattenkressich (Schweiz), Milchblümle (Memmingen), Pfingstblumen (Oldenburg), Pingsterblömen (Ostfriesland), Schisgelte (Schweiz), Spreenblome (Wildeshausen), Störkeblöme (Ostfriesland), Wiesenkresse (Schlesien) und Ziegerle (Schweiz). Gebrauch Nahrungsmittel Die jungen Blätter, die vor der Blüte gesammelt werden, sowie die jungen Pflanzen sind essbar und schmecken auf Grund des enthaltenen Senfölglykosids kresseähnlich und leicht scharf. Sie werden in Salaten, in Kräutersuppen, als Gewürz für Quark und Frischkäse sowie in Saucen verwendet. Medizinische Anwendung Wiesen-Schaumkraut enthält als Inhaltsstoffe Senfölglykoside, Bitterstoffe und Vitamin C. Das Öl des Wiesen-Schaumkrautes dient daher in der Dermatologie als Pflegecreme bei strapazierten und trockenen Händen. In der Volksmedizin wird Wiesenschaumkraut-Tee gegen Rheuma und andere Schmerzzustände angewendet. Heilwirkungen beruhen vor allem auf dem enthaltenen Vitamin C sowie den Senfölglykosiden, die insbesondere auf Niere und Leber anregend wirken. Dieser Wirkung verdankt das Wiesen-Schaumkraut auch die volkstümlichen Bezeichnungen Bettsoicher, Harnsamen und Griesblümel. Weil die im Wiesen-Schaumkraut enthaltenen Wirkstoffe jedoch Magen und Nieren auch reizend beeinflussen können, sollte eine Anwendung nur in Maßen erfolgen. Madaus zufolge finden sich trotz offensichtlicher Verbreitung der Pflanze kaum ältere medizinische Erwähnungen. Sie war im 16. Jahrhundert in Apotheken nicht gebräuchlich. Lediglich Dodonaeus kannte ihre Nasturtium aquaticum ähnliche Wirkung. Greding machte sie 1774 bekannter. Buchheims Lehrbuch der Arzneimittellehre von 1853/56 und Dragendorffs Die Heilpflanzen der verschiedenen Völker und Zeiten von 1898 nennen die Wirkähnlichkeit zu Brunnenkresse bzw. auch Meerrettich und Bitteres Schaumkraut bei Krämpfen der Kinder. Bohns Die Heilwerte heimischer Pflanzen nennt Chorea, hysterische Krämpfe und rheumatische Schmerzen, Dinands Handbuch der Heilpflanzenkunde von 1924 außerdem Unterleibsstockungen, Hautkrankheiten und Skorbut. Laut Schulz soll es bei Scharlachfieber benutzt worden sein. Eine blutzuckersenkende Wirkung bei Diabetes mellitus bestätigte sich nicht. Verwendung als Zierpflanze Seit dem 17. Jahrhundert wird das Wiesen-Schaumkraut als Zierpflanze kultiviert, wobei auch eine Form mit gefüllten Blüten angeboten wird. Das Wiesen-Schaumkraut ist für Wildpflanzengärten empfehlenswert. Blume des Jahres 2006 und Gefährdung Das Wiesen-Schaumkraut wurde zur Blume des Jahres 2006 gewählt. Die Stiftung Naturschutz Hamburg und Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen begründete ihre Entscheidung für diese vielerorts noch häufig vorkommende Art damit, dass mit der Wahl einer solchen Feuchtwiesenart auf die zunehmende Gefährdung dieses Biotoptyps aufmerksam gemacht werden soll. Von dem Rückgang solcher Gebiete sind immer mehr Grünlandarten in ihrer Verbreitung betroffen. So sind in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern die Bestände des Wiesen-Schaumkrauts bereits so weit zurückgegangen, dass diese Art dort als gefährdet eingestuft wird und den Rote-Liste-Status 3 erhielt. Philatelistisches Mit dem Erstausgabetag 18. Dezember 2018 gab die Deutsche Post AG in der Serie Blumen ein Postwertzeichen im Nennwert von 15 Eurocent heraus. Der Entwurf stammt von den Grafikern Stefan Klein und Olaf Neumann aus Iserlohn. Quellen Literatur Ihsan A. Al-Shehbaz, Karol Marhold, Judita Lihová: Cardamine. In: Cardamine pratensis textgleich online bei efloras.org (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik). Tai-yien Cheo, Lianli Lu, Guang Yang, Ihsan Al-Shehbaz, Vladimir Dorofeev: Brassicaceae. In Cardamine pratensis textgleich online bei efloras.org (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik). Gertrud Scherf: Wiesenblumen: der etwas andere Naturführer. BLV, München 2004, ISBN 3-405-16909-7. Ruprecht Düll, Herfried Kutzelnigg: Taschenlexikon der Pflanzen Deutschlands und angrenzender Länder. Die häufigsten mitteleuropäischen Arten im Portrait. 7., korrigierte und erweiterte Auflage. Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2011, ISBN 978-3-494-01424-1. Einzelnachweise Weblinks Infoseite zum Wiesen-Schaumkraut bei Ex :: Natura. Detailbilder bei plant-identification.co.uk. Literatur zu Cardamine pratensis in den Kew Bibliographic Databases. Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Datenblatt mit Fotos. Schaumkräuter
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https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert%20Backe
Herbert Backe
Herbert Friedrich Wilhelm Backe (* 1. Mai 1896 in Batumi, Russisches Kaiserreich; † 6. April 1947 in Nürnberg) war ein deutscher Politiker (NSDAP). Er wurde 1933 Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMEL) unter dem damaligen Minister Walther Darré. Ab 1936 war er zugleich Leiter der Geschäftsgruppe Ernährung in Hermann Görings Behörde für den Vierjahresplan. 1942 stieg er zunächst kommissarisch zum Leiter des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft auf. Im April 1944 wurde er offiziell zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich ernannt und mit der Weiterführung der Leitung des RMEL beauftragt. Nach dem Kriegsende wurde Backe von den Alliierten verhaftet und zweimal in Nürnberg vernommen. Am 6. April 1947 erhängte er sich in seiner Zelle im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis. Anders als Darré verfolgte Backe im Rahmen der nationalsozialistischen Agrarpolitik hinsichtlich des Autarkieziels einen pragmatischen Kurs. Während des Zweiten Weltkriegs propagierten Backe und seine Mitarbeiter vor dem Beginn des Unternehmens Barbarossa 1941 eine rigide kriegswirtschaftlich und rassenideologisch begründete Hungerpolitik, die als Backe- oder Hungerplan bezeichnet wird. Dieser hatte zum Ziel, die in den besetzten Gebieten der UdSSR produzierten Lebensmittel der dortigen Bevölkerung zu entziehen und zur Versorgung der Wehrmacht und der deutschen Bevölkerung zu verwenden, wobei der Hungertod von bis zu 30 Millionen Menschen bewusst in Kauf genommen wurde. Herkunft und Jugend in Russland Herbert Backe wurde als Sohn des ausgewanderten Kaufmanns und preußischen Reserveleutnants Albrecht Backe in der damals zu Russland gehörenden Stadt Batumi am Schwarzen Meer geboren. Seine Mutter Luise Backe stammte aus einer Anfang des 19. Jahrhunderts nach Russland ausgewanderten württembergischen Bauernfamilie. Auch weil sein Großvater mütterlicherseits es zum Fabrikanten gebracht hatte, wuchs er zunächst „in durchaus gesicherten, um nicht zu sagen, wohlhabenden Verhältnissen auf“, die sich durch ungünstige Wirtschaftsentwicklungen infolge der Russischen Revolution 1905 verschlechterten. Ab 1905 besuchte Backe in Tiflis das Gymnasium. 1907 beging sein Vater Suizid. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 musste er die Schule ohne Abschluss verlassen und wurde in Russland als Zivilgefangener vier Jahre lang interniert, weil er deutscher Staatsangehöriger war. Während des Russischen Bürgerkriegs gelangte Backe 1918 infolge der Vermittlung der schwedischen Botschaft in St. Petersburg nach Deutschland. Backe fand eine Beschäftigung als Hilfsdreher, später Hilfsschlosser und Lohnbuchhalter in einem Betriebsteil der Gute-Hoffnungs-Hütte Oberhausen in Sterkrade und holte am Realgymnasium das Abitur nach. Gemäß seinem sogenannten „Großen Bericht“ über seinen Werdegang, den er 1946 in der Nürnberger Haft anfertigte, befand sich die Familie Backes in den ersten Jahren nach der Übersiedlung ins Deutsche Reich in materieller Not, so dass Backe die kranke Mutter, den Bruder und die drei Schwestern unterstützen musste. Studium und nationalsozialistische Landwirtschaft in der Weimarer Republik Herbert Backe studierte von 1920 bis 1923 an der Georg-August-Universität Göttingen Landwirtschaft und schloss das Studium als Diplom-Landwirt ab. Von 1923 bis 1924 war er Assistent für Agrargeographie, insbesondere russische Agrarwirtschaft, bei Erich Obst an der Technischen Hochschule Hannover. Während dieser Assistentenzeit entstand Backes als Dissertation geplante Schrift Die russische Getreidewirtschaft als Grundlage der Land- und Volkswirtschaft Russlands. Diese wurde zwar von der Universität nie angenommen, aber 1941 „nur für den Dienstgebrauch“ vervielfältigt, und zwar in einer Auflage von 10.000 Exemplaren im Selbstverlag. Wie Backe selbst in der Einleitung seiner überarbeiteten Fassung 1941 schrieb, lehnte die Universität seine Dissertation ab, weil sie einerseits konzeptionell zu breit angelegt gewesen sei und andererseits die mikroökonomischen Aspekte nicht ausreichend betrachtet habe. In dieser Schrift formulierte er seine Grundsätze nationalsozialistischer Agrarpolitik und forderte eine „Neuordnung Europas“ auf landwirtschaftlichem Gebiet. Sein Konzept einer kontinentaleuropäischen Ernährungswirtschaft forderte die Ausnutzung landwirtschaftlicher Überschussgebiete aus sogenannten Ländern mit höherer „Selbstversorgungsrate“, beispielsweise der Ukraine, zugunsten hoch industrialisierter Länder auf der Basis eines „Zusammenschluss[es] der Völker gleicher oder verwandter Rasse und gleichen Raumes“. Er vertrat in seiner zurückgewiesenen Doktorarbeit die These, dass die Unterentwicklung Russlands nicht in dessen Geschichte, geographischer Lage und Großräumigkeit oder anderen Bedingungsfeldern zu suchen sei, sondern aus der rassischen Minderwertigkeit der Slawen und deren genetischer Disposition hervorgehe: Backe trat 1922 der SA sowie 1925 in Hannover der NSDAP bei und erhielt die Mitgliedsnummer 22.766. Der damalige Leiter des NS-Gaus Hannover-Süd, Ludolf Haase, beschrieb ihn in seiner Schrift Der Kampf der NSDAP 1921/24 rückblickend als „unbedingte[n] Anhänger des Rassegedankens“, der sich „besonders hingezogen [fühlte] zu der unbedingten Härte und Klarheit unseres Kampfes“. Nach der Auflösung des Gaus Hannover-Süd 1928 ließ Backe seine Mitgliedschaft bis 1931 ruhen. Im Jahre 1927 war Backe Oberinspektor, eigentlich Gutsverwalter auf einem großen Gut in Pommern. Seit Anfang Oktober 1928 war er mit Ursula Backe verheiratet und übernahm mit finanzieller Unterstützung seines Schwiegervaters im November 1928 als Pächter die Domäne Hornsen mit rund 950 Morgen im Kreis Alfeld. Es gelang ihm, den in schwieriger Lage befindlichen Betrieb wirtschaftlich erfolgreich zu führen. Vor diesem Hintergrund, so der Historiker Joachim Lehmann, „ist der Wiedereintritt Backes ins politische Leben zu sehen“. Während seiner Tätigkeit als Gutsverwalter war Backe von 1927 bis Ende 1930 Mitglied des paramilitärischen Stahlhelm, für den er Vorträge und Reden hielt. In seinem Stahlhelm-Vortrag vom 7. Dezember 1930 bedauerte Backe, dass die politische Führung im Ersten Weltkrieg nicht den Mut gehabt habe, die Eroberung von Siedlungsraum im Osten als Kriegsziel auszugeben: Noch 1930 meldete sich Backe wieder bei der NSDAP, in die er am 1. Oktober 1931 erneut aufgenommen wurde, und übernahm schließlich die NSDAP-Ortsgruppenleitung in Lamspringe. Ebenfalls 1931 wurde er als Kreisvorsitzender Bauernfunktionär des Reichslandbundes und schrieb Artikel in der Fachpresse. So forderte er in seiner Schrift „Deutscher Bauer erwache!“ 1931 die zukünftige Organisation der kontinentalen Großraum-Wirtschaft mit Gewalt und sah die Lösung „des Problems ‚Volk ohne Raum‘ durch das Schwert, nicht durch Erwerbung von Rohstoffkolonien, sondern durch Weitung des natürlichen Lebensraums im Osten“.  Backe führte darin weiter aus, dass kurzfristige Ertragssteigerung nur Mittel zum Zweck seien, um die Voraussetzungen für die künftige Eroberung von Raum zu schaffen: Über solche Beiträge wurde Walther Darré auf ihn aufmerksam und holte ihn als Mitarbeiter in seinen Agrarpolitischen Apparat der NSDAP. Auf Darrés Bestreben hin kandidierte Backe für den preußischen Landtag, woraufhin er nach erfolgreicher Wahl im April 1932 als Obmann der Fraktion im landwirtschaftlichen Ausschuss eingesetzt wurde. Backe selbst sieht in seinem in Nürnberger Internierung 1946 verfassten Bericht in zwei Veranstaltungen mit Adolf Hitler im Frühjahr und Oktober 1931 in Braunschweig einen entscheidenden Anstoß für seine verstärkte politische Aktivität. Hitler habe ihn sehr beeindruckt, da er „die Volksgemeinschaft als erste Voraussetzung jeder inneren Gesundung verlangte und an den Idealismus und Opfermut jedes einzelnen appellierte“. Anfang Januar 1933 hielt Backe in München einen Vortrag über die Lage der deutschen Landwirtschaft im kleinsten Kreis vor Hitler. Zeit des Nationalsozialismus Backe und sein Förderer, Ernährungsminister Walther Darré, pflegten 1933 ein vertrautes und freundschaftliches Verhältnis, das sich darin zeigte, dass Darré Taufpate von Backes im August 1933 geborenem zweiten Kind Albrecht wurde. Auf Betreiben Darrés wurde Backe im Juni 1933 zunächst Reichskommissar und im Oktober 1933 Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Des Weiteren war er Hauptabteilungsleiter im Stabsamt des Reichsnährstandes und gehörte dem Reichsbauernrat an. Ein Jahr später führte er die sogenannte Erzeugungsschlacht ein. Dabei ging es darum, durch eine Erhöhung der Lebensmittelproduktion die Importe so niedrig wie möglich zu halten und so dem Ideal einer autarken Wirtschaft nahezukommen, eine Zielvorstellung, die aber nie erreicht werden konnte. Auch in der SS gelang Backe eine steile Karriere. Am 1. Oktober 1933 wurde er zum SS-Sturmbannführer ernannt (SS-Nr. 87.882) und dem Stab des Rasse- und Siedlungshauptamtes zugewiesen. Am 29. März 1934 avancierte er zum SS-Obersturmbannführer, am 20. April 1934 zum SS-Standartenführer, am 9. September 1934 zum SS-Oberführer und am 1. Januar 1935 zum SS-Brigadeführer, um am 1. Dezember 1937 innerhalb der Hierarchie der SS-Führer die 71. Stelle einzunehmen. Im November 1942 wurde er zum SS-Obergruppenführer, der zweithöchsten Stufe eines SS-Generals, befördert. Schon am 27. Februar 1934 hatte sich Backe beim Geheimen Staatspolizeiamt aus rassistischen Gründen gegen den Einsatz von Juden als „Landhelfer“ in der Landwirtschaft gewandt, da Im Juli 1935 bezeichnete Backe seinen Minister Darré in einem Brief an seine Frau Ursula als „Versager“, er sei in allen wirtschaftlichen Fragen „schwach“ und „unsicher“. 1936 wurde Backe Leiter der Geschäftsgruppe Ernährung im Rahmen des Vierjahresplans und damit Hermann Göring direkt unterstellt. Damit war er in Ernährungsfragen zum Vorgesetzten des Reichslandwirtschaftsministers Darré aufgestiegen, da Görings Vierjahresplanbehörde kriegswirtschaftlich den Ministerien übergeordnet war. Er hatte nun de facto mehr Macht als sein Minister. Backe wurde in den Jahren von 1933 bis 1936 „Schritt für Schritt zur entscheidenden Figur innerhalb der Agrarpolitik“. Er selbst charakterisierte 1946 seine Ernennung zum Ernährungsbeauftragten Görings als „Möglichkeit, nach oben durchzukommen, um die Probleme, die von der Landwirtschaft gesehen, dringend der Lösung bedurften, anzuschneiden“. Konzeptionell vertrat Backe zwar den rassenideologischen Ansatz Darrés, verband diesen aber mit einer Kapitalismuskritik und einem aus der Beschäftigung mit dem Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts erwachsenen Bestreben für einen extremen Protektionismus. Tatsächlich hatte er die Möglichkeit erhalten, auch Hitler direkt zur Ernährungslage vorzutragen. Senator und Erster Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Neben seinen Ämtern als Ernährungsstaatssekretär und Leiter der Geschäftsgruppe Ernährung in der Vierjahresplanbehörde agierte Backe als Wissenschaftspolitiker. 1937 wurde er Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) zur Förderung der Wissenschaften. Im Zentrum seiner Arbeit stand der Ausbau der agrarwissenschaftlichen Institute, die unter seinem Einfluss zu den am stärksten expandierenden Instituten der KWG avancierten. So wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung intern als „Backe-Institut“ bezeichnet. Schwerpunkt der Forschungen war die Züchtung von eiweiß- und ölhaltigen Pflanzen, mit denen die Eiweiß- und die „Fettlücke“ der deutschen Wirtschaft geschlossen werden sollten. Ende November 1937 schlug Backe dem Senat zusätzlich die Gründung eines „Instituts für Tierforschung“ vor, das dann Mitte 1938 realisiert wurde, nachdem die KWG vom Reichsernährungsministerium zu diesem Zweck 2000 Hektar Wirtschaftsflächen unweit Rostock erhalten hatte. Als weitere „Backe-Institute“ der KWG galten das „Institut für landwirtschaftliche Arbeitswissenschaften“ und das „Institut für Kulturpflanzenforschung“. Am 31. Juli 1941 ernannte der Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Backe zum Ersten Vizepräsidenten seines Präsidiums. Backes Wahl zum Ersten Vizepräsidenten ging zum einen auf eine entsprechende Intervention Görings zurück und entsprach zudem den Wünschen des Reichsernährungsministeriums, das zusammen mit dem Reichserziehungsministerium der größte Geldgeber der KWG war; das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung“ bezog sogar 80 Prozent seiner Etats aus Backes Ministerium. Backes Wahl stand in Zusammenhang mit dem wenige Wochen zuvor erfolgten „Beginn des Rußlandfeldzuges“, da man annahm, der erwartete „rasche militärische Sieg über die Sowjetunion würde die Stellung des Reichsernährungsministeriums und vor allem Herbert Backes als des starken Mannes dort enorm aufwerten“. Im Zuge der beabsichtigten Nutzung der besetzten Gebiete der Sowjetunion, vor allem der Ukraine, als „Kornkammern“ für das Deutsche Reich plante man, dort umfassende Forschungs- und Handlungsmöglichkeiten für die agrarwissenschaftlichen Institute zu schaffen. Als „Wissenschaftspolitiker“ erwirkte Backe die verstärkte Einbindung der landwirtschaftlichen Forschungen der KWG in die Zielvorstellung eines „kontinentaleuropäischen Wirtschaftsraums unter deutscher Führung“, auf der praktischen Seite trieb er „die Züchtung von Pflanzen und Tieren, die speziell für die landwirtschaftlichen Verhältnisse der besetzten Gebiete geeignet waren“, voran. Am 9. Februar 1942 erzielte Backe mit dem geschäftsführenden KWG-Vorstand Ernst Telschow und Heinrich Himmlers Agrarwissenschaftler sowie SS-Oberführer Konrad Meyer Einvernehmen über den Ausbau der züchterischen Forschungsstationen in den schon besetzten und noch zu besetzenden Gebieten der UdSSR, der aufgrund des Kriegsverlaufs aber nicht mehr verwirklicht wurde. Backes Verhältnis zu Telschow war so „herzlich“, dass der ehemalige KWG-Vorstand noch 1949 in einer eidesstattlichen Versicherung Backe als im Kern unpolitischen, die Wissenschaften fördernden Ehrenmann darstellte: „Herr Backe gehörte zu denjenigen Persönlichkeiten, die sich in ganz besonderem Maße für die deutsche wissenschaftliche Forschung eingesetzt haben […] Entsprechend dieser Auffassung hat er sich niemals bei den Beratungen im Senat […] von politischen Gesichtspunkten leiten lassen.“ Görings Ernährungsbeauftragter im Zweiten Weltkrieg Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war Backe für den Lebensmittelnachschub für die im Osten kämpfenden Truppen verantwortlich. Schon am 1. Juni 1941 hatte er in seiner Eigenschaft als Staatssekretär im RMEL „12 Gebote für das Verhalten der Deutschen im Osten und die Behandlung der Russen“ veröffentlicht, die als Ergänzung seiner Richtlinien und Weisungen für die Landwirtschaftsführer der Wirtschaftsorganisation Ost gedacht waren. Diese hätten ihre „Leistung“ auf der Basis „höchsten und rücksichtslosesten Einsatz[es]“ zu bringen. Man dürfe „keine Angst vor Entscheidungen, die falsch sein könnten“, haben, diese dürfe im Kampf gegen Russland, dem „Land der Korruption, der Denunziation und des Byzantinismus“ keine Rolle spielen. Es sei das Ziel, „die Bevölkerung […] zu unserem Werkzeug zu machen“, wobei die zentrale Frage jeder Entscheidung lautete: „Was nützt es Deutschland?“, während gegenüber den Menschen der zu erobernden sowjetischen Gebiete gelte: „Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der russische Mensch schon seit Jahrhunderten. Sein Magen ist dehnbar, daher kein falsches Mitleid.“ Verteilt wurden Backes „12 Gebote“ in der „Kreislandwirtschaftsführermappe“ vom 1. Juni 1941, die in der Literatur auch als „Gelbe Mappe“ bezeichnet werden, an über 10.000 Landwirtschaftsführer, die für den Osteinsatz vorgesehen waren. Aufgrund seiner Herkunft und seiner Forschungsschwerpunkte galt Backe als Russlandexperte. Daher folgte er am 23. Mai 1942 Darré, der zwar nicht nominell entlassen, aber in dauerhaften „Krankheitsurlaub“ geschickt wurde, als Leiter des Landwirtschaftsministeriums. Seinen Minister hatte er schon vor dessen Beurlaubung Schritt für Schritt „über Görings Vierjahresplanbehörde entmachtet“. Backe saß als Nachfolger Darrés zudem ab dem 16. Mai 1942 als Oberbereichsleiter dem Reichsamt für das Landvolk der NSDAP geschäftsführend vor. Backes Hauptaufgabe war es, für den Nachschub an Lebensmitteln im Krieg gegen die Sowjetunion zu sorgen. Als Mitglied von Görings Wirtschaftsführungsstab Ost, dem er seit April 1941 angehörte, hatte Backe schon im Frühjahr 1941 einen radikalen Hungerplan gegen die Zivilbevölkerung der UdSSR entworfen. Darin hatte er den Hungertod von 30 Millionen Menschen einkalkuliert, um die Nahrungsmittel aus den sowjetischen Überschussgebieten, insbesondere der Ukraine, nicht mehr für die Versorgung der sowjetischen Großstädte zu verwenden, sondern für die Ernährung der kompletten Wehrmacht und zur ergänzenden Lebensmittelversorgung der deutschen Bevölkerung. Über seine Planungen der Ernährungspolitik im „Unternehmen Barbarossa“ im Frühjahr 1941 informierte er Darré, damals formell noch sein Minister, den er in kriegswirtschaftlichen Fragen als ignorant ansah und für den er nur noch „Verachtung“ empfand, nicht einmal mehr. Wegen des fehlgeschlagenen Blitzkriegs verhungerten statt der einkalkulierten 30 Millionen nach Schätzung des Yale-Historikers Timothy Snyder tatsächlich 4,2 Millionen Menschen in den besetzten Gebieten. Betroffen waren neben Einwohnern abgeriegelter Großstädte wie Leningrad, in erster Linie Menschen, die aufgrund angeblicher rassischer Minderwertigkeit oder kriegswirtschaftlicher Nützlichkeitserwägungen am unteren Ende der Ernährungshierarchie standen: vor allem sowjetische Kriegsgefangene, Juden, Behinderte und Psychiatriepatienten. Nachdem Backe schon vorher an der „Heimatfront […] für die Kürzung der Rationen der noch in Deutschland lebenden Juden“ gesorgt hatte, arbeitete er zusammen mit Himmler von Mai bis August 1942 konsequent daran, den Nahrungsverbrauch im Generalgouvernement drastisch zu reduzieren und rechtfertigte, so der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, „die Eliminierung aller polnischen Juden aus der Nahrungsmittelkette erstmals expressis verbis mit der allgemeinen Ernährungslage“. Als die deutschen Beamten vor Ort am 23. Juni 1942 darauf hinwiesen, dass schon die vorhandenen Nahrungsrationen für die Polen nicht ausreichten und ein Abfluss von Lebensmitteln nach Deutschland untragbar sei, erhielten diese folgende Erwiderung Backes: In den besetzten Gebieten der Sowjetunion kooperierten Backe und Himmler vor allem bei der „Ernteerfassung“, bei der durch Aktivitäten der Partisanen große Ausfallquoten zu verzeichnen waren, so dass im Juli 1942 Himmlers SS die „Erntesicherung“ in den besetzten Ostgebieten übergeben wurde. Für 1942 vermerkt Himmlers Diensttagebuch mehrere Treffen mit Backe und die editierenden Historiker sprechen in ihrer Einleitung von einer „besonders eng[en]“ Verbindung Himmlers mit Backe, insbesondere bei der „Zusammenarbeit in der Siedlungspolitik und bei der gewaltsamen Beschlagnahme landwirtschaftlicher Produkte“. Seine Wertschätzung für Backe zeigte Himmler auch in seiner Posener Rede vom 4. Oktober 1943 vor seinen SS-Führern: An den Beratungen für die Ausarbeitung des Generalplan Ost, der nach dem von der NS-Führung erhofften siegreichen Krieg die Deportation von mindestens 31 Millionen Menschen vorsah, war Backe „immer wieder beteiligt“. Obwohl der Schwerpunkt seiner Tätigkeit als Görings Ernährungsbeauftragter beim Ostkrieg lag, kümmerte sich Backe auch in den besetzten westeuropäischen Ländern in großem Ausmaß um die Beschaffung von Nahrungsmitteln und übte Druck aus. So hatte das kleine Dänemark den beträchtlichen Anteil von zehn Prozent des deutschen Gesamtbedarfs an Fleisch, Butter und Zucker sowie 90 Prozent des Bedarfs an frischem Fisch zu liefern. Ende 1943 sah Backe, wie er in einer Aufzeichnung für Außenminister Joachim von Ribbentrop schrieb, in dem Reichsbevollmächtigten für Dänemark Werner Best den maßgeblichen Akteur für die schwieriger werdende Aufgabe, die Steuerung der dänischen Wirtschaft gegen divergierende Interessen so zu gestalten, dass „die Zufuhren aus Dänemark in der vorgesehenen Höhe weitergehen“, wovon die „Lebensmittelversorgung Deutschlands im fünften Kriegswirtschaftsjahr wesentlich“ abhänge. Backes Selbstverständnis als „Leistungsmensch“ im Nationalsozialismus In einem Brief vom Herbst 1943 an seine Frau bezeichnete Backe sich als Politiker, der „stets nur die Leistung für sich sprechen läßt“, und bedauerte, dass „Leistungsmenschen“ wie er beim „Führer“ weniger Sympathien als die „Angeber“ besäßen. Zu den „Leistungsmenschen“, mit denen er auch private freundschaftliche Beziehungen unterhielt, zählte er den Gauwirtschaftsberater und SS-Wirtschaftsführer Hans Kehrl und den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich. Wie groß die Wertschätzung Heydrichs für Backe gewesen war, zeigt ein Brief vom 27. Juni 1942 von Heydrichs Witwe Lina an Backe: Wie sehr der „Leistungsmensch“ Backe die Vernichtung der Juden wünschte, zeigen erhalten gebliebene Notizen, die er während einer dienstlichen Italienreise am 5. Mai 1943 auf einer Menükarte hinterließ: Backe selbst schrieb in seinen Lebenserinnerungen in alliierter Haft, eine Kernidee des Nationalsozialismus habe er darin gesehen, „dass das Leben des Einzelnen nur gesichert ist in einem gesunden Volkskörper“, und er selbst habe sich den ihm „als Züchter selbstverständlichen Gedanken der Auslese der Tüchtigsten“ zur Handlungsorientierung genommen, um eine größtmögliche Wirkung „für die Allgemeinheit“ zu erreichen. Backe, der wesentlich pragmatischer als sein Vorgänger war, drängte die romantisierende Blut-und-Boden-Ideologie zurück und orientierte sich an den industriellen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft in den 1930er- und 1940er-Jahren. Am 6. April 1944 wurde er von Hitler zum „Reichsminister ohne Geschäftsbereich“ ernannt und mit der Weiterführung der Leitung des RMEL beauftragt. Die Bezeichnung „Reichsminister ohne Geschäftsbereich“ diente dazu, weiterhin „die Entmachtung Darrés nach außen zu verschleiern“. Backe zählt für den renommierten Hitler-Biographen Ian Kershaw „zu den Gefährten [Hitlers] aus alten Zeiten“.  So behielt Backe gemäß Hitlers politischem Testament auch nach dessen Suizid in der nachfolgenden geschäftsführenden Reichsregierung seinen Ministerposten. Er gehörte zu den Männern, denen Hitler die Aufgabe anvertraute, „die Arbeit kommender Jahrhunderte fortzuführen“, womit, nach der Deutung Ian Kershaws, der „Aufbau eines nationalsozialistischen Staats“ gemeint war. Diese offenkundige Wertschätzung durch den Führer bedeutete für Backe, wie er 1946 in amerikanischer Haft schrieb, viel. Verhaftung und Tod Nach der bedingungslosen deutschen Kapitulation wurde Backe zusammen mit dem Reichsverkehrsminister Dorpmüller durch die Alliierten aufgefordert, „zu Eisenhowers Hauptquartier zu fliegen und um Anweisungen für die ersten Wiederaufbauschritte zu bitten“. Von seiner Verhaftung am 15. Mai 1945 im US-Hauptquartier in Reims wurde Backe überrascht. Er war in dem Glauben gewesen, die Amerikaner würden ihn als Experten zur Vermeidung einer Hungersnot brauchen. Backe bereitete sich sogar auf ein von ihm erwartetes Treffen mit General Dwight D. Eisenhower vor und hatte nicht damit gerechnet, als Gefangener behandelt zu werden. In einem Brief an seine Frau vom 31. Januar 1946 verteidigte er den Nationalsozialismus als eine der „großartigsten Ideen aller Zeiten“, die vor allem ihren Niederschlag in der nationalsozialistischen Agrarpolitik gefunden habe. In alliierter Haft wurde Backe im Rahmen der Nürnberger Prozesse am 21. Februar und 14. März 1947 vernommen. Backe war als Angeklagter für den Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess vorgesehen. Im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis schrieb Backe zwei Abhandlungen: einen sogenannten „Großen Bericht“ über seinen Werdegang und sein Wirken im Nationalsozialismus sowie am 31. Januar 1946 einen für seine Frau Ursula und seine vier Kinder gedachten Testamentsentwurf. Aus Angst vor einer Auslieferung an die Sowjetunion erhängte sich Backe am 6. April 1947 in seiner Zelle. Geschichtswissenschaftliche Rezeption Eine umfassende Biografie zu Herbert Backe liegt nicht vor. Gesine Gerhard, Professorin an der kalifornischen University of the Pacific, arbeitete langjährig an diesem Projekt und stellte ihre Forschungen 2009 in einem Zwischenbericht in der Fachzeitschrift Contemporary European History vor. In ihrer 2015 erschienenen Studie Nazi Hunger Politics führte sie diese Erkenntnisse weiter aus, verzichtete aber auf eine spezielle Backe-Biografie zugunsten einer Gesamtdarstellung der Geschichte der nationalsozialistischen Ernährungspolitik mit Backe „at the center of this story“. Bis heute stützen sich Fachpublikationen vor allem auf die Kurzbiografie des Rostocker Historikers Joachim Lehmann, der galt. Lehmann und Gerhard haben für ihre Veröffentlichungen Backes Nachlass ausgewertet. Dies gilt auch für die erst 2011 publizierte Studie von Bertold Alleweldt, der für seine im Jahre 2000 an der Universität Frankfurt eingereichte Magisterarbeit auch Backes Kinder Armgard und Albrecht Backe befragen konnte. Nach dem Krieg wurde Backe meist „auf einen effizienten, unpolitischen Technokraten nach der Art von Albert Speer reduziert“. Demgegenüber charakterisierte der von den 1950er- bis in die 1970er-Jahre maßgebliche amerikanische Osteuropaforscher Alexander Dallin Backe nur insofern als Vertreter einer „unpolitischen“ Kriegsführung, als es diesem darum gegangen sei, gegenüber der Sowjetbevölkerung keinerlei politische Konzessionen zuzulassen oder Integrationsbemühungen zu zeigen, sondern „sie lediglich als Ausbeutungsobjekt“ zu betrachten. Backe gehört für Dallin wie Göring zur Gruppe „der extremen Ausbeuter“ in der NS-Führung. Backe sei der „Hauptpfeiler des deutschen Wirtschaftsegoismus“ gewesen. Während Backe in der deutschen Enzyklopädie des Nationalsozialismus schlicht nicht aufgeführt ist, stellt ihn die nicht minder renommierte Enzyklopädie des Holocaust in einer Kurzbiografie als dem „führungsschwachen Ernährungsminister Walter Darré“ folgenden „Ernährungsdiktator“ dar, der in der NS-Führung der starke Mann für die Planung und Durchführung der „rücksichtslose[n] Ausbeutung der Nahrungsmittelbestände der besetzten Gebiete im Osten“ gewesen sei. Jüngere Einschätzungen zur Person Backes schwanken zwischen „Blut-und-Boden-Ideologe“ und realistisch-technokratisch orientiertem Pragmatiker. Susanne Heim sieht in Backes kriegswirtschaftlichem Kalkül beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion eine „Strategie, bei der der Hungertod von ‚zig Millionen Menschen‘ von vornherein eingeplant war“; dies sei ein Indiz dafür, dass er als kühl kalkulierender NS-Pragmatiker im Gegensatz zu seinem Minister, dem „in Blut- und Bodenmythen schwebenden Landwirtschaftsminister Darré“ gestanden habe. Dieser Auffassung widerspricht Gesine Gerhard: Sie sieht darin die Konstruktion eines Scheinwiderspruchs zwischen Ideologie und Pragmatismus, die auf Darrés Selbstdarstellung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zurückgehe. Backe habe in keinem Dissens zu Darrés „Blut- und Boden-Ideologie“ gestanden, sondern dessen ideologischen Impetus in eine pragmatisch kriegswirtschaftlich orientierte und legitimierte Hungerpolitik gelenkt, der er höchste Priorität zugemessen habe und bei deren Umsetzung er Hitlers volles Vertrauen genossen habe. Ihrer Auffassung nach lässt sich Backe mit seinem effektiven Handeln im Krieg gut in die ehrgeizige Gruppe der von Michael Wildt vor allem im Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes verorteten „Generation des Unbedingten“ einordnen, die ihrem Selbstverständnis nach eine historische Mission zur Transformation der Gesellschaft im Sinne des Nationalsozialismus zu erfüllen hatte. Rüdiger Hachtmann sieht Backe wie Göring als prominentes Beispiel eines „Typus […] des politischen Machers“. Für Joachim Lehmann vertrat Backe wie Darré „Visionen einer bäuerlich begründeten […] Gesellschaft“, die er aber im Unterschied zu Darré erst „für die Jahrzehnte nach einem erfolgreichen Krieg“ aufbauen wollte, sodass die „Konstruktion eines Gegensatzes zwischen dem ‚Etatisten‘ Backe und anderen ‚Blut- und Boden‘-Ideologen vordergründig und falsch“ sei. Der britische Wirtschaftshistoriker und Spezialist zur nationalsozialistischen Kriegsgeschichte Adam Tooze stimmt Lehmanns Einschätzung zu, dass Backe beides war: pragmatischer Technokrat und Agrarideologe. Tooze vertritt die These: „In Wirklichkeit war Backe als nazistischer Ideologe kein bisschen weniger fanatisch als Darré oder, was das betrifft, Heinrich Himmler.“ Die Beziehung von Backe zu Darré sei nicht durch ideologische Differenzen geprägt gewesen, sondern dadurch, dass Backe den „ewigen Wahrheiten“ Darrés „ein konventionelles Stufenmodell von der historischen Entwicklung“ entgegengesetzt habe, das mit kurzfristigen kriegswirtschaftlichen Ergebnissen ebenso kompatibel gewesen sei wie mit dem langfristigen Ideal des Autarkieziels. Auch Gesine Gerhard verneint einen ideologischen Gegensatz zwischen Darré und Backe. Sie spricht von einem „finalen Bruderkampf“, der nicht ideologisch, sondern durch den Konflikt unterschiedlicher Persönlichkeiten und politischer Rivalitäten bedingt gewesen sei. Der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller sieht in Backe den „stärkste[n] Motor für eine radikale Hungerpolitik“; es sei diesem gelungen, „das vermeintlich ökonomisch Notwendige mit dem ideologisch Wünschbaren zu verbinden“. So bestehe der Kern von Backes zweifelhafter Leistung in folgendem Tatbestand: „Er lieferte die Argumente, um die Hungerpolitik als Instrument des rassenideologischen Vernichtungskriegs sachlich zu rechtfertigen.“ Schriften Das Ende des Liberalismus in der Wirtschaft. Reichsnährstand Verlags-GmbH, Berlin 1938. Die russische Getreidewirtschaft als Grundlage der Land- und Volkswirtschaft Rußlands. Nur für den Dienstgebrauch. Eigenverlag [1941/42]. Um die Nahrungsfreiheit Europas. Weltwirtschaft oder Großraum. Goldmann, Leipzig 1942. Kapitalismus und Nahrungsfreiheit. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Rolf Hinder. (= neue, veränderte Auflage von Um die Nahrungsfreiheit Europas). Verlag des Instituts für Geosoziologie und Politik, Bad Godesberg 1957. Literatur Bertold Alleweldt: Herbert Backe. Eine politische Biographie. wvb, Berlin 2011, ISBN 978-3-86573-642-0. Wigbert Benz: Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941. wvb, Berlin 2011, ISBN 978-3-86573-613-0. Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Band 1, Hrsg. v. Eberhard Jäckel, Peter Longerich und Julius H. Schoeps. Argon, Berlin 1993, ISBN 3-87024-300-7 (Kurzbiografie S. 149 f.) Gesine Gerhard: Nazi hunger politics. A history of food in the Third Reich. Rowman & Littlefield, Lanham 2015, ISBN 978-1-4422-2724-8 (Rezension beim Archiv für Sozialgeschichte online). Gesine Gerhard: Food and Genocide. Nazi Agrarian Politics in the occupied territories of the Soviet Union. In: Contemporary European History. 18, Heft 1 (2009), S. 45–65. PDF (Abstract). Rüdiger Hachtmann: Wissenschaftsmanagement im Dritten Reich. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. 2 Bände, Wallstein Verlag, Göttingen 2007, ISBN 978-3-8353-0108-5. Susanne Heim: Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933–1945. (= Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, hrsg. v. Reinhard Rürup und Wolf Schieder im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft, Band 5). Wallstein, Göttingen 2003, ISBN 3-89244-696-2, insbesondere S. 23–32 (Herbert Backe als Wissenschaftspolitiker). Susanne Heim: Research for Autarky. The contribution of scientists to Nazi rule in Germany. Ergebnisse 4. Reihe: Ergebnisse. Vorabdrucke zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Hrsg. v. Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. Berlin 2001. PDF. Beatrix Herlemann, Helga Schatz: Biographisches Lexikon niedersächsischer Parlamentarier, 1919–1945. Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2004, S. 29/30. Juni 1941 – der tiefe Schnitt. June 1941 – the deepest cut. Hrsg. v. Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst. Ch. Links Verlag, 2. erw. Aufl., Berlin 2011, ISBN 978-3-86153-657-4 (Kurzbiografie zu Backe in deutscher und englischer Sprache S. 82–88). Alex J. Kay: „The Purpose of the Russian Campaign Is the Decimation of the Slavic Population by Thirty Million“: The Radicalization of German Food Policy in Early 1941. In: Nazi Policy on the Eastern Front, 1941: Total War, Genocide, and Radicalization. Hrsg. v. Alex J. Kay, Jeff Rutherford und David Stahel. University of Rochester Press, Rochester, NY 2012. ISBN 978-1-58046-407-9, S. 101–129. Ulrike Kohl: Die Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Max Planck, Carl Bosch und Albert Vögler zwischen Wissenschaft und Macht. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Chinolin
Chinolin
Chinolin, auch Azanaphthalin oder Benzo[b]pyridin genannt, ist eine organische Verbindung aus der Gruppe der Heteroaromaten und gehört zu den zweikernigen heterocyclischen Stammsystemen. Sie besteht aus zwei anellierten aromatischen sechsgliedrigen Ringen – einem Benzol- und einem Pyridinring –, woraus sich die Summenformel C9H7N ergibt. Formal handelt es sich somit um ein Naphthalinmolekül, bei welchem ein Kohlenstoffatom des Ringgerüsts durch ein Stickstoffatom ausgetauscht wurde. Chinolin ist eine farblose, wasserbindende Flüssigkeit mit unangenehmem, stechendem Geruch. Als Heteroaromat weist Chinolin bezüglich der elektrophilen aromatischen Substitution eine geringere Reaktivität als Naphthalin auf, geht jedoch im Vergleich leichter nukleophile aromatische Substitutionen ein. Chinolin ist in Steinkohlenteer enthalten und kann aus Kohle ausgetrieben werden. Es existieren zahlreiche natürliche Derivate des Chinolins, welche oftmals als Alkaloide in Pflanzen anzutreffen sind (siehe Chinolin-Alkaloide). Zu dieser Gruppe gehören die China-Alkaloide mit Chinin als bekanntestem Vertreter. Chinolin wurde erstmals 1834 von Friedlieb Ferdinand Runge aus Steinkohlenteer in reiner Form isoliert. 1842 wurde es von Charles Frédéric Gerhardt durch den Abbau des Alkaloids Cinchonin erhalten, von welchem sich auch die Bezeichnung Chinolin ableitet. Chinolin ist ein bedeutender Grundstoff in der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Es wird zur Herstellung von Arzneimitteln, Herbiziden und Fungiziden sowie als basisches Lösungsmittel eingesetzt. Obwohl mehrere synthetische Zugänge zu Chinolin bekannt sind, wird aus ökonomischen Gründen bis heute noch ein Großteil des weltweiten Chinolinbedarfs durch Isolation aus Steinkohlenteer gedeckt. Geschichte Die Isolierung reinen Chinolins gelang erstmals Friedlieb Ferdinand Runge im Jahre 1834. Dieser extrahierte es aus Steinkohlenteer und gab der Verbindung den Namen Leucolin. 1842 wurde Chinolin ein zweites Mal von Charles Frédéric Gerhardt entdeckt, der die Zersetzungsprodukte von Chinin und Cinchonin durch Einwirkung von Alkalien analysierte und vermeintlich in beiden Fällen die gleiche, seiner Kenntnis nach bis dato unbekannte chemische Verbindung erhielt. Die Namensgebung erfolgte in Anlehnung an die Verbindungen Chinin und Cinchonin, aus welchen er Chinolin gewonnen hatte. 1843 bezeichnete Gerhardt die Verbindung als Chinoleïn, später wurde auch Quinolein (vergleiche auch ) verwendet. Gerhardt irrte jedoch in der Annahme, dass Chinolin als Abbauprodukt sowohl von Chinin als auch von Cinchonin auftritt, denn wie später gezeigt wurde entsteht durch Zersetzung von Chinin ein methoxyliertes Chinolinderivat, wohingegen nur der Abbau von Cinchonin unsubstituiertes Chinolin liefert. Die molekularen Strukturen von Runges Leucolin und Gerhardts Chinolin war zum Zeitpunkt der Entdeckung noch unbekannt. Erst 1882 wurde die Identität der beiden Verbindungen durch Hoogewerff und van Dorp eindeutig geklärt. Ab diesem Zeitpunkt begann sich die Bezeichnung Chinolin durchzusetzen. Die Aufklärung der Molekularstruktur des Chinolins gelang im Jahre 1879. Zuvor wurde bereits postuliert, bei Chinolin handele es sich um Naphthalin, bei welchem ein Kohlenstoffatom des Rings durch Stickstoff ersetzt sei. Da Naphthalin einige Jahre zuvor durch Cyclisierung von 4-Phenyl-1-buten dargestellt werden konnte, könnte diese Hypothese durch die analoge Cyclisierung von N-Allylanilin zu Chinolin bestätigt werden. Dies gelang Koenigs im Jahre 1880 unter Verwendung von Blei(II)-oxid, wodurch die postulierte Struktur von Chinolin als Naphthalin-Analogon erhärtet werden konnte. In den folgenden Jahrzehnten wurden in zahlreichen Untersuchungen die chemischen und physikalischen Eigenschaften der Verbindung geklärt und verschiedene Synthesewege für Chinolin und dessen Derivate etabliert. Vorkommen Chinolin kommt in der Natur praktisch nicht frei vor, bildet jedoch das Grundgerüst zahlreicher Naturstoffe, aus denen es durch Abbaureaktionen freigesetzt werden kann. Hierzu gehört die Gruppe der China-Alkaloide, welche in hoher Konzentration in Chinarindenbäumen auftreten. Chinolin findet sich zu etwa 0,3 % – zusammen mit vielen weiteren heterocyclischen Verbindungen – im Steinkohlenteer, einem Nebenprodukt der Koksgewinnung aus Steinkohle. In Tabakrauch ist Chinolin analytisch nachweisbar. Nomenklatur Neben Chinolin sind auch die Bezeichnungen Benzopyridin und 1-Azanaphthalin gelegentlich anzutreffen. Benzopyridin beschreibt das Molekül als Pyridin mit anelliertem Benzolring und ist ohne weitere Qualifikatoren nicht eindeutig, da diese Bezeichnung auch auf das isomere Isochinolin zutrifft; korrekt und eindeutig ist Benzo[b]pyridin. 1-Azanaphthalin beschreibt Chinolin als Derivat von Naphthalin, bei welchem das Kohlenstoffatom (oder besser die Methingruppe) in 1-Position durch ein Stickstoffatom ausgetauscht wurde. Im Gegensatz zu Benzopyridin ist diese Bezeichnung eindeutig. Die Nummerierung der Ringatome folgt der allgemeinen Regel für mehrkernige aromatische Systeme. Hierbei wird die Zählung am höchstrangigen Stammsystem begonnen, welches im vorliegenden Fall der Pyridinring ist. Dem Stickstoffatom wird hierbei als Heteroatom die höchste Priorität und damit eine möglichst kleine Nummer zugewiesen. Im Falle des Chinolins besitzt das Stickstoffatom die Nummer 1 und die Kohlenstoffringatome des Pyridinrings werden von dort aus fortlaufend mit 2–4 durchnummeriert. Die Zählweise wird fortlaufend im Benzolring weitergeführt, wobei die Brückenatome übersprungen werden. Diesen werden nach dem allgemeinen Nummerierungsschema für kondensierte Ringsysteme die Bezeichnungen 4a und 8a zugewiesen. Die systematische Bezeichnung des Chinolinrestes lautet Chinolyl, wobei die Position der Verknüpfung als Zahl vorangestellt wird. Analog dem Pyridinrest (Pyridyl anstatt systematisch Pyridinyl) wird die systematische Bezeichnung Chinolinyl nur selten verwendet. Die Verschmelzungskomponente von Chinolin als Stammsystem in kondensierten polycyclischen aromatischen Systemen lautet Chino. Gewinnung und Darstellung Chinolin kann ebenso wie eine Reihe weiterer heterocyclischer Stickstoffbasen (beispielsweise Pyridin und Pyrrol) aus Steinkohlenteer gewonnen werden, in welchem es zu 0,3 % enthalten ist. Im Gegensatz zu Pyridin, dessen weltweiter Bedarf heutzutage im Wesentlichen durch synthetische Verfahren gedeckt wird, erfolgt die Gewinnung von Chinolin auch heute noch zu großen Teilen aus Steinkohlenteer. Durch fraktionierte Destillation geht es zusammen mit Isochinolin und Chinaldin in der Methylnaphthalin-Fraktion über, aus welcher es mit Schwefelsäure zusammen mit Methylnaphthalin und Isochinolin extrahiert wird. Die anschließende Abtrennung vom Methylnaphthalin erfolgt durch Ausfällung mit Ammoniak. Auf Grund des um 6 °C höheren Siedepunkts von Isochinolin kann das verbleibende Gemisch aus Chinolin und Isochinolin durch Rektifikation aufgetrennt werden. Zur weiteren Aufreinigung von Chinolin bestehen verschiedene Möglichkeiten, wie die Verharzung von Verunreinigungen mit Formaldehyd, die Behandlung mit Alkalien, die selektive Oxidation sowie die Bildung von Hydraten (Isochinolin bildet keine Hydrate). Des Weiteren kann Chinolin auch durch Azeotroprektifikation mit Ethylenglycol oder Diethylenglycol direkt aus der Methylnaphthalin-Fraktion erhalten und anschließend destillativ gereinigt werden. Skraup-Synthese Nach Koenigs erster Chinolinsynthese aus dem Jahre 1879 stellt die Skraup-Synthese, welche von Zdenko Hans Skraup im Jahre 1880 erstmals publiziert wurde den zweiten synthetischen Zugang zu Chinolin dar. Sie geht aus von Anilin, welches in Gegenwart von Glycerin, Schwefelsäure und einem Oxidationsmittel zu Chinolin umgesetzt wird. Glycerin wird hierbei zunächst zu Acrolein dehydratisiert, welches als α,β-ungesättigte Carbonylverbindung zur Cyclisierung benötigt wird. Die direkte Verwendung von Acrolein verringert hingegen die Ausbeute, da es unter den Reaktionsbedingungen zur Polymerisation neigt. Die Skraup-Synthese liefert zunächst Dihydrochinolin, das durch milde Oxidationsmittel wie dreiwertige Eisensalze, Nitrobenzol oder Iod zu Chinolin oxidiert werden kann. Die Skraup-Synthese stellt einen der wenigen direkten Synthesewege zu unsubstituiertem Chinolin dar. Die Doebner-Miller-Reaktion ist eine Abwandlung der Skraup-Synthese und setzt direkt α,β-ungesättigte Aldehyde ein, wodurch in 2-Position substituierte Chinoline hergestellt werden können. Friedländer-Chinolin-Synthese Die Friedländer-Chinolin-Synthese geht aus von o-Aminobenzaldehyd, welches mit enolisierbaren Carbonylverbindungen zu Derivaten von Chinolin cyclisiert wird. Die Reaktion wird durch Trifluoressigsäure, Toluolsulfonsäure, Iod und verschiedene Lewis-Säuren katalysiert. Die Niemantowski-Synthese ist eine Abwandlung der Friedländer-Chinolinsynthese, welche anstelle von o-Aminobenzaldehyden von Anthranilsäure ausgeht. Weitere Syntheserouten Es sind eine Reihe weiterer Syntheserouten zu Chinolin beziehungsweise dessen Derivaten bekannt. Namentlich seien die Conrad-Limpach-Synthese (nach Max Conrad, Leonhard Limpach), bei welcher Aniline und β-Ketoester eingesetzt werden, und die Povarov-Reaktion, zu der Anilin, Benzaldehyd und aktivierte Alkene benötigt werden, erwähnt. Ferner finden die Camps-Chinolinsynthese, die Knorr-Chinolinsynthese und die Gould-Jacobs-Reaktion Anwendung. Einige Chinolinalkaloide treten als Naturstoffe in biologischen Systemen auf. Der exakte biosynthetische Aufbau des Chinolins ist abhängig vom biologischen System und der genauen Struktur des Chinolinderivats. Den biochemischen Zugang einiger Chinolinderivate stellt die Aminosäure Tryptophan dar, aus welcher in einer mehrstufigen Reaktion das Chinolingerüst aufgebaut werden kann. Über einen weiteren Syntheseweg ausgehend von Anthranilsäure sind hydroxylierte Chinolingerüste zugänglich. Die Fortführung der Synthese führt zu Acridinderivaten. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Chinolin ist farblos und bei Standardbedingungen flüssig. Es siedet bei 237,2 °C und gefriert bei −14,8 °C. Die Dampfdruckfunktion ergibt sich nach Antoine entsprechend log10(P) = A−(B/(T+C)) (P in bar, T in K) mit A = 3,94043, B = 1667,104 und C = −87,085 im Temperaturbereich von 437,8 bis 511,1 K. Es ist eine stark lichtbrechende Flüssigkeit, die bei 21 °C und einer Wellenlänge von 589 nm einen Brechungsindex von 1,6262 aufweist. Bei Standardbedingungen besitzt Chinolin eine mit Wasser vergleichbare Dichte von 1,10 g·cm−3. Chinolin ist diamagnetisch (die molare diamagnetische Suszeptibilität beträgt −86,1·10−6 cm³·mol−1) und weist ein Dipolmoment von 2,29 D auf. Die kritische Temperatur beträgt 527 °C, der kritische Druck 57,8 bar. in der flüssigen Phase beträgt die Standardbildungsenthalpie 141,22 kJ·mol−1, in der Gasphase hingegen 200,5 kJ·mol−1. Bei 25 °C besitzt Chinolin eine Viskosität von 3,337 mPa·s−1 und eine Wärmeleitfähigkeit von 0,147 W·(m·K)−1. Als Festkörper tritt die Verbindung in zwei polymorphen Kristallformen auf. Die Umwandlung von Kristallform II in Kristallform I erfolgt bei −53 °C. Die Kristallform II kristallisiert im monoklinen Kristallsystem in der mit den bei 150 K (−123 °C) bestimmten Gitterparametern a = 992 pm, b = 1085 pm, c = 1337 pm und β = 106,5° sowie acht Formeleinheiten je Elementarzelle. Die einzelnen Moleküle sind dabei in zwei orthogonal zueinander stehenden Ketten angeordnet, die über schwache C-H-N-Wasserstoffbrücken zusammengehalten werden. Zwischen den Ketten bestehen Wechselwirkungen zwischen C–H-Bindungen und dem aromatischen π-System. In Wasser ist Chinolin nur wenig löslich. So lösen sich bei 20 °C lediglich 6 g je Liter. Seine deutlich schlechtere Löslichkeit im Vergleich zu Pyridin, das mit Wasser frei mischbar ist, ist dem unpolaren Benzolring geschuldet. Hingegen ist Chinolin mit Ethanol, Diethylether, Aceton, Benzol und Kohlenstoffdisulfid frei mischbar. Chemische Eigenschaften Chinolin reagiert schwach basisch und bildet in Gegenwart von Salzsäure ein kristallines Hydrochlorid (C9H7N · HCl), welches bei 134 °C schmilzt. Chinolin gehört zur Gruppe der heteroaromatischen Verbindungen, deren Eigenschaften sich in seiner Reaktivität widerspiegeln. Im Vergleich zu seinem Kohlenstoffanalogon Naphthalin ist es weniger reaktionsfreudig bezüglich der elektrophilen Substitutionen, was auf die elektronenziehenden Eigenschaften des Stickstoffatoms zurückzuführen ist, welches zum einen die Elektronendichte im aromatischen System herabsetzt und zum anderen mit angreifenden Elektrophilen unter Bildung von nochmals elektronenärmeren Chinoliniumverbindungen zu reagieren vermag. Im Gegensatz zu Naphthalin besitzt Chinolin jedoch eine vergleichsweise höhere Reaktivität bezüglich nukleophiler Substitutionen. Das Stickstoffatom ist sp2-hybridisiert und weist typische basische Eigenschaften eines Amins auf. Elektrophile aromatische Substitutionen finden bevorzugt am Benzolring statt, während nukleophile aromatische Substitutionen eher am Pyridinring ablaufen. Analog dem Pyridin führt die Reaktion mit vielen Lewis-Säuren zur Addition an das Stickstoffatom. Molekulare Eigenschaften Chinolin weist ein durchkonjugiertes System mit zehn π-Elektronen auf, welche über das gesamte Ringsystem delokalisiert sind. Das heteroaromatische Molekül ist planar gebaut, aber die Elektronendichte ist nicht gleichmäßig verteilt, was auf den negativen induktiven Effekt des Stickstoffatoms zurückzuführen ist. Aus diesem Grund weist Chinolin analog dem Pyridin ein Dipolmoment auf. Die Bindungen im Molekül weisen unterschiedliche Längen auf. Als Ligand im Nickelkomplex betragen sie zwischen 133 und 145 pm und liegen somit wie für aromatische Systeme üblich zwischen den Werten, welche typischerweise für einzelgebundene und doppeltgebundene Atome erwartet werden. Naphthalin weist im Vergleich hierzu C–C-Bindungslängen zwischen 135 und 142 pm auf, was auf eine gleichmäßigere Elektronenverteilung in diesem Molekül schließen lässt. Im Chinolinmolekül sind alle Ringatome sp2-hybridisiert. Das Stickstoffatom stellt das Elektron seines p-Orbitals zur Ausbildung des aromatischen Systems zur Verfügung, sein freies sp2-Elektronenpaar liegt in der Molekülebene und weist vom Ringzentrum fort. Auf Grund seiner Position kann es nicht mit dem π-System in Wechselwirkung treten und trägt somit nicht zur Ausbildung der Aromatizität bei. Es ist jedoch bedeutend für die chemischen Eigenschaften von Chinolin, denn im Gegensatz zu Naphthalin wird das aromatische System durch Anlagerung eines Elektrophils an dieser Position nicht aufgehoben. Die Trennung des freien Elektronenpaars vom aromatischen System bewirkt jedoch auch, dass das Stickstoffatom keinen positiven mesomeren Effekt ausbilden kann. Die Reaktivität des Pyridinrings im Chinolinmolekül wird zu großen Teilen von dem negativen induktiven Effekt des Stickstoffatoms bestimmt. Sein Einfluss ist im Benzolring jedoch geringer. Chinolin ist über sieben mesomere Grenzstrukturen resonanzstabilisiert. Analog dem Naphthalin existieren zwei Grenzstrukturen, welche keinen zwitterionischen Charakter besitzen. Zusätzlich können jedoch fünf weitere zwitterionische Grenzstrukturen formuliert werden, welche dem Stickstoffatom eine negative Ladung zuweisen, wodurch die positive Ladung über das aromatische System verteilt wird. Die Lage der Ladung am Stickstoffatom steht im Einklang mit dessen höherer Elektronegativität im Vergleich zu Kohlenstoff. Reaktionen Elektrophile Substitutionen Im Vergleich zu Pyridin reagiert Chinolin leichter im Sinne einer elektrophilen aromatischen Substitution. Dieser Umstand ist der höheren mittleren Elektronendichte im aromatischen System geschuldet, die durch den relativ elektronenreicheren Benzolring der Verbindung hervorgerufen wird. Auf Grund der höheren Elektronendichte im Benzolring, finden elektrophile Substitutionen bevorzugt an diesem statt. Häufig sind im Reaktionsgemisch für elektrophile Substitutionen auch Brønsted- oder Lewis-Säuren anwesend. Diese können an das Stickstoffatom des Pyridinrings addieren und verursachen damit eine noch stärkere Desaktivierung des Pyridinrings. Aus den beschriebenen elektronischen Gründen laufen elektrophile Substitutionen am schnellsten an den 5- und 8-Positionen des Chinolins ab. So wird als Nitrierungsprodukt eine Mischung aus gleichen Teilen von 5- und 8-Nitrochinolin erhalten, während weitere Isomere nur in untergeordnetem Maße gebildet werden. Die Nitrierung von Chinolin weist hierbei eine schwächere Selektivität auf als jene des Isochinolins, bei der praktisch ausschließlich 5-Nitroisochinolin gebildet wird. Durch Sulfonierung mit Oleum (Schwefelsäure) bei moderater Temperatur wird das in 8-Position substituierte Chinolinderivat als Hauptprodukt und ferner das 5-Chinolylderivat erhalten. Da die elektrophile Substitution an diesen Positionen am schnellsten abläuft, handelt es sich hierbei um die kinetischen Reaktionsprodukte. Bei Erhitzung des Produktgemischs auf über 250 °C findet eine Isomerisierung zur thermodynamisch günstigeren Chinolin-6-sulfonsäure statt. Die Zusammensetzung des durch Halogenierung von Chinolin mit molekularen Halogenen erhaltene Produktspektrum unterliegt stark den Reaktionsbedingungen. Durch Bromierung in Schwefelsäure gehen jedoch meist die in 5- und 8-Position substituierten Chinolinderivate als Hauptprodukte aus der Reaktion hervor. Durch Verwendung des Chinolinhydrobromids ist auch die Substitution am Pyridinring unter milden Reaktionsbedingungen möglich, welche in 3-Position abläuft. Nukleophile Substitutionen Viele aus der Pyridinchemie bekannte nukleophile Substitutionen laufen auch an Chinolin, bevorzugt an der elektronenarmen 2-Position des Pyridinrings, ab. Hierzu gehört Aminierung durch eine Tschitschibabin-Reaktion, bei welcher durch Verwendung von Kaliumamid als Nukleophil in flüssigem Ammoniak bei −66 °C das Amidion bevorzugt an die 2-Position von Chinolin addiert. Durch anschließende Oxidation mit Kaliumpermanganat kann 2-Aminochinolin freigesetzt werden. Bei Erhöhung der Reaktionstemperatur auf −40 °C findet eine Isomerisierung zum thermodynamisch stabileren 4-substituierten Produkt statt. Chinolin kann durch Verwendung der zu Grunde liegenden Lithiumorganyle oftmals direkt alkyliert oder aryliert werden. Das nach wässriger Aufarbeitung der Reaktion als Zwischenprodukt entstehende Dihydrochinolinderivat kann thermisch rearomatisiert werden. Sind gute Abgangsgruppen vorhanden, so ist analog dem Pyridin eine Reihe von ipso-Substitutionen an Chinolin bekannt. Substitutionen an der 3-Position weisen hierbei eher Charakteristika von ipso-Substitutionen an den entsprechenden Halogenaromaten auf, während solche an den 2- und 4-Positionen denen an Pyridin ähneln. Lithiierte Chinoline können aus den zu Grunde liegenden Halogenderivaten sowohl am Pyridin- als auch am Benzolring mittels kommerziell erhältlichen Lithiumorganylen wie n-Butyllithium hergestellt werden. Diese Reaktion steht in Konkurrenz zur oben beschriebenen Alkylierung, welche jedoch durch Reaktionsführung bei niedrigen Temperaturen in vielen Fällen weitgehend zurückgedrängt werden kann. Die erhaltenen lithiierten Chinolinderivate können entweder direkt als Nukleophile verwendet oder zuvor auf ein anderes Metallion transmetalliert werden. Oxidation und Reduktion Analog dem Pyridin-N-oxid bildet auch Chinolin ein N-Oxid, welches durch Oxidation von Chinolin mit Peroxycarbonsäuren, oftmals Perbenzoesäure, hergestellt werden kann. Unter stark oxidierenden Bedingungen tritt hingegen der oxidative Abbau des Benzol- oder des Pyridinrings ein. Welcher der Ringe dem Abbau unterworfen ist, hängt von den Reaktionsbedingungen ab. In der Regel ist hiervon der Benzolring betroffen, wobei oftmals Chinolinsäure entsteht. Als Oxidationsmittel können Kaliumpermanganat, Braunstein oder rauchende Salpetersäure dienen. Als effizienteste Methode gilt jedoch die elektrochemische Oxidation. Die Ozonolyse von Chinolin liefert Pyridin-2,3-dialdehyd, welcher durch anschließende Oxidation mit Wasserstoffperoxid wiederum zu Chinolinsäure oxidiert werden kann. Je nach Reaktionsbedingung kann sowohl der Benzol- als auch der Pyridinring selektiv hydriert werden. Zur Hydrierung des Pyridinrings wird klassisch molekularer Wasserstoff in Methanol bei Raumtemperatur am Platinkatalysator verwendet. Es sind jedoch auch Hydrierungen durch Natriumcyanoborhydrid sowie Natriumborhydrid und Zinkborhydrid in Gegenwart von Nickel(II)-chlorid bekannt. Die selektive Hydrierung des Benzolrings gelingt durch Umsetzung mit Wasserstoff in starken Säuren am Platinkatalysator. Durch längere Reaktionsdauer kann unter diesen Bedingungen auch das vollständig gesättigte Decahydrochinolin erhalten werden. Auch dihydrierte Chinolinderivate sind synthetisch aus Chinolin zugänglich. 1,2-Dihydrochinolin kann durch Reduktion mit Lithiumaluminiumhydrid hergestellt werden, während 1,4- und 3,4-Dihydrochinolin sind durch Reduktion mit elementarem Lithium in flüssigem Ammoniak zugänglich sind. Dihydrierte Chinolinderivate neigen jedoch häufig zu Isomerisierung der Doppelbindung und können deshalb manchmal nicht isoliert werden, sondern treten nur als Zwischenprodukte einer Reaktion auf. Verwendung Ullmanns Enzyklopädie der Technischen Chemie beziffert im Jahre 2005 die Weltjahresproduktion von Chinolin mit 2000 Tonnen. In Analogie zum steigenden Bedarf ähnlicher heterocyclischer Synthesebausteine ist jedoch davon auszugehen, dass die Produktionskapazität zwischenzeitlich erhöht wurde. In der chemischen Industrie besitzt Chinolin weite Verwendungsbereiche. Es ist sowohl ein bedeutender Grundstoff zur Herstellung von Arzneimitteln als auch von Herbiziden und Fungiziden. Des Weiteren wird es auch als basischer Katalysator beispielsweise in der pharmazeutischen Industrie verwendet. Zu den Hauptverwendungen von Chinolin gehört die Herstellung von 8-Hydroxychinolin, einem Komplexbildner, der als Desinfektionsmittel und Antimykotikum verwendet wird. Die Synthese von 8-Hydroxychinolin gelingt durch Sulfonierung von Chinolin zu Chinolin-8-sulfonsäure und anschließender ipso-Hydroxylierung mit heißer Natronlauge. Des Weiteren dient Chinolin der Herstellung von Chinolinsäure, welche ein bedeutender Grundstoff zur Herstellung von Herbiziden wie Imazapyr ist. Chinolin ist außerdem ein Grundstoff zur industriellen Synthese von Nicotinsäure (Vitamin B3), welche durch Decarboxylierung von Chinolinsäure zugänglich ist. Als klassischer Abbau dient hierbei die Oxidation mittels starker Oxidationsmittel wie Kaliumpermanganat, moderne industrielle Verfahren verwenden jedoch günstigere Oxidationsmittel. Auch teilweise hydrierte Chinolinderivate dienen der Herstellung pharmazeutischer Wirkstoffe und Antibiotika. 2-Hydroxychinolin, welches oxidativ durch Hypochlorige Säure oder enzymatische Hydroxylierung aus Chinolin zugänglich ist, stellt ebenfalls einen Grundstoff zur Herstellung von beispielsweise herzwirksamen Arzneistoffen oder Antihistaminika dar. Außerdem ist es Grundstoff zur industriellen Synthese von Cyaninfarbstoffen. Im chemischen Labor oder chemischen Anlagen kann Chinolin als gutes Lösungsmittel und sehr gutes Extraktionsmittel für polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe eingesetzt werden. Manchmal werden hierzu auch Gemische mit Isochinolin verwendet. Chinolin findet des Weiteren als Korrosionsinhibitor und als säurebindende Base in chemischen Reaktionen Einsatz. In der Palladium-katalysierten Hydrierung von Alkinen dient Chinolin zur partiellen Desaktivierung (Vergiftung) des Katalysators (sogenannter Lindlar-Katalysator). Ein solchermaßen desaktivierter Katalysator ermöglicht die einfache Hydrierung des Alkins zum zu Grunde liegenden Alkens und verhindert die zweifache Hydrierung zum Alkan. Auch zur Rosenmund-Reduktion, einer ebenfalls Palladium-katalysierten Reduktion von Carbonsäurechloriden zu Aldehyden, werden mit Chinolin desaktivierte Katalysatoren verwendet. Gefahrenhinweise Chinolin ist als toxisch und umweltgefährdend eingestuft und darf nur bei starker Entlüftung und nur mit geeigneten Schutzhandschuhen gehandhabt werden. Die Freisetzung des Stoffes in die Umwelt ist zu verhindern. Es bestehen hinreichende Anhaltspunkte, dass die Exposition eines Menschen mit Chinolin Krebs erzeugen kann. Des Weiteren besteht der begründete Verdacht auf eine erbgutverändernde Wirkung. Chinolin ist als wassergefährdend Klasse 2 eingestuft. Mit Luft bildet Chinolin ab seinem Flammpunkt von 101 °C zündfähige Luft-Dampf-Gemische. Der Explosionsbereich liegt zwischen 1 Vol.‑% (54 g/m³) als untere Explosionsgrenze (UEG) und 7 Vol.‑% (376 g/m³) als obere Explosionsgrenze (OEG). Die Zündtemperatur beträgt 480 °C. Der Stoff fällt somit in die Temperaturklasse T1. Bei Bränden können nitrose Gase als Zersetzungsprodukte auftreten. Die elektrische Leitfähigkeit ist mit 2,2·10−6 S·m−1 eher gering. Toxikologie Chinolin weist bei peroraler Aufnahme durch Ratten eine mittlere letale Dosis von 270 mg·kg−1 auf, bei dermaler Exposition liegt sie hingegen bei 1400 mg·kg−1. In einer Untersuchung an Ratten trat nach siebenstündiger Inhalation von Chinolin-gesättigter Luft der Tod fast aller Versuchstiere ein. Als akute Symptome der Exposition traten Ataxie und Gänsehaut auf. Bei den toten Versuchstieren wurden Blutungen und Ödeme im Verdauungstrakt festgestellt, welche auf die Chinolinexposition zurückzuführen sind. Bei dermaler Exposition bildeten sich in Untersuchungen mit Kaninchen leichte bis moderate Ödeme und Rötungen, die Haut regenerierte sich jedoch nach Beendigung der Versuchsreihe wieder vollständig. Es wurde auch eine leichte bis moderate, jedoch ebenfalls reversible, augenreizende Wirkung beobachtet. Bei peroraler Aufnahme ergab sich im Langzeitversuch bei Ratten und Mäusen eine karzinogene Wirkung, welche sich in der Ausbildung von Leberzellkarzinomen und Angiosarkomen manifestierte. Im Gegensatz hierzu traten diese Befunde bei Meerschweinchen und Hamstern nicht auf. Eine geringe karzinogene Wirkung bei dermaler Exposition zeigte sich an Mäusen. Nach einer Untersuchung ist die zur Ausbildung von Karzinomen nötige Menge an Chinolin 250–300 mal höher als bei dem starken Karzinogen Benzapyren. Für die karzinogene Wirkung ist jedoch nicht Chinolin selbst, sondern dessen Metabolite verantwortlich. Es sind verschiedene Abbaupfade von Chinolin und dessen Derivaten unter aeroben und anaeroben Bedingungen bekannt. Welcher Pfad beschritten wird, ist vom betrachteten Organismus abhängig. Der erste Abbauschritt besteht meist aus einer Oxidation des Aromaten, welche beispielsweise durch Aldehydoxidase zu 2-Hydroxychinolin oder durch Cytochrom-P450-Proteine zu 3-Hydroxychinolin führt. Säugetiere scheiden die oxidierten Abbauprodukte in kurzer Zeit über den Magen-Darm-Trakt aus. Chinolin in der Umwelt Chinolin wurde in Spuren in der Umgebung Aluminium-verhüttender Betriebe mit angeschlossenen Kokereien sowie Kohle-verarbeitender Betriebe gefunden, was auf das Vorkommen von Chinolinderivaten in der Kohle zurückzuführen ist. Auch bei der Verarbeitung von Steinkohlenteer und Teeröl werden Spuren von Chinolin freigesetzt. Teeröl wird oder wurde als fäulnishemmendes Mittel zur Imprägnierung von Holz, beispielsweise für Bahnschwellen oder Telegrafenmasten verwendet, wodurch Chinolin auch entfernt von entsprechender Industrie in die Umgebung freigesetzt werden kann. Des Weiteren kann Chinolin als Spurengas bei der unvollständigen Verbrennung organischer stickstoffhaltiger Verbindungen entstehen. Aus kontaminiertem Erdreich wird Chinolin durch Wasser in kurzer Zeit ausgewaschen und durch Bakterien und Huminsäuren abgebaut. In der Regel herrschen hierzu in oberflächennahem Wasser günstigere Bedingungen, während der Abbau in Tiefenwasser auf Grund fehlender geeigneter Organismen und ungünstiger chemischer Bedingungen (unter anderem auf Grund der geringen Sauerstoffkonzentration) nur langsam vonstattengeht. Oberflächennah oder atmosphärisch vorhandenes Chinolin unterliegt außerdem der Zersetzung durch Photolyse. Dieser Abbaupfad ist stark abhängig von der Photonendichte, dem pH-Wert und der Temperatur. Je nach Bedingungen liegt die Halbwertszeit von Chinolin durch photolytische Degradation zwischen 21 und 160 Tagen. Die Verbindung besitzt nur ein geringes Potential zur Bioakkumulation, da Chinolin von Bakterien, Fischen und Säugetieren rasch abgebaut wird. Modellrechnungen zur Verbreitung von Chinolin ergaben, dass die Verbindung im Wesentlichen durch Wasser transportiert wird. Der Transport durch die Atmosphäre tritt auf Grund des geringen Dampfdrucks in den Hintergrund. Nachweis Das UV/Vis-Spektrum von Chinolin weist drei Absorptionsbanden auf. Diese resultieren aus π→π*- und n→π*-Übergängen und treten bei Wellenlängen von 226 nm (Extinktionskoeffizient ε = 35.500 l·(mol·cm)−1), 270 nm (ε = 3880 l·(mol·cm)−1) und 313 nm (ε = 2360 l·(mol·cm)−1) auf. Das Infrarotspektrum von Chinolin weist eine Vielzahl von Absorptionsbanden auf. Charakteristische starke und sehr starke Banden treten bei 3333, 1034, 941, 808, 787, 760 und 740 cm−1 auf. Des Weiteren existieren acht weitere eng beieinander liegende starke Absorptionsbanden zwischen 1629 und 1319 cm−1. Die Protonensignale im lösungsmittelfreien 1H-NMR-Spektrum von Chinolin liegen ausnahmslos in einem Bereich, der für aromatische Protonen charakteristisch ist. Innerhalb dieses Bereiches weisen sie jedoch in Relation zu Benzol teils ausgeprägte Verschiebung zu tieferen Feldern auf und sind ein Ausdruck der verminderten Elektronendichte an diesen Wasserstoffatomen. Das Spektrum zeigt sieben Signale korrespondierend mit den sieben chemisch verschiedenen Protonen im Molekül. Da jedes Signal ein Proton repräsentiert, weisen die Signale gleiche Flächenintegrale auf. Das Signal bei tiefstem Feld resultiert von dem Proton in 2-Position δ(2-H) = 8,8 ppm, gefolgt von den Protonen in 8- (δ(8-H) = 8,1 ppm) und 4-Position (δ(4-H) = 8,0 ppm). Die weiteren Protonensignale liegen im Bereich 7,7 und 7,3 ppm. Die größeren chemischen Verschiebungen der Protonen im Vergleich zum Kohlenstoff-Analogon Naphthalin resultieren aus der geringeren Elektronendichte im aromatischen System und korrespondieren relativ mit den niedrigeren Elektronendichten in diesen Positionen, welche aus den mesomeren Grenzstrukturen abgeleitet werden können. Entsprechend der Anzahl der Kohlenstoffatome treten im 13C-NMR-Spektrum neun Signale im Bereich zwischen 122 und 151 ppm auf. Die chemischen Verschiebungen der 13C-Kerne verhalten sich hierbei analog den Protonensignalen. Die beiden Positionen mit niedriger Elektronendichte, die sich in Nachbarschaft des Stickstoffatoms finden, weisen die höchsten Tieffeldverschiebungen auf (151 beziehungsweise 149 ppm). Literatur T. Eicher, S. Hauptmann: The Chemistry of Heterocycles. 2. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2003, ISBN 3-527-30720-6. J. A. Joule, K. Mills: Heterocyclic Chemistry. 3. Auflage. Blackwell Science, Oxford 2004, ISBN 0-632-05453-0. D. T. Davies: Basistexte Chemie: Aromatische Heterocyclen. 1. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 1995, ISBN 3-527-29289-6. Weblinks Einzelnachweise Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 28 Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 72
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dreiteilung%20des%20Winkels
Dreiteilung des Winkels
Unter dem Problem der Dreiteilung des Winkels (auch: Trisektion des Winkels) versteht man in der Geometrie die Frage, ob man einen beliebigen Winkel mit Hilfe von Zirkel und Lineal (mit den euklidischen Werkzeugen) in drei gleich große Winkel unterteilen kann. Die Dreiteilung des Winkels gehört zu den drei klassischen Problemen der antiken Mathematik und ist nur für bestimmte Winkel durchführbar. Obwohl die Problemstellung der Winkeldreiteilung bis in die Antike zurückreicht, konnte erst im 19. Jahrhundert mit Methoden der Algebra gezeigt werden, dass sie mit Zirkel und Lineal im Allgemeinen nicht zu lösen ist. Der erste Beweis dieser Negativaussage stammt von Pierre Wantzel aus dem Jahr 1837. In ihm wird das Problem auf eine algebraische Gleichung dritten Grades reduziert und argumentiert, dass deren Lösungen keine konstruierbaren Zahlen sind, sie sich also nicht in endlich vielen Schritten mit Zirkel und Lineal aus der Länge 1 konstruieren lassen. Um zu zeigen, dass es keine allgemeine Konstruktion für die Winkeldreiteilung gibt, reicht die Angabe eines einzigen Gegenbeispiels: Beispielsweise ist es nicht möglich, den konstruierbaren Winkel 60° zu dritteln, da 20° nicht konstruierbar ist. Es gibt jedoch auch Winkel, die mit Zirkel und Lineal nicht konstruiert, aber mit diesen Mitteln gedrittelt werden können (Näheres in Abzählbarkeit der Menge der drittelbaren Winkel), wenn sie zu Beginn gegeben sind. Obwohl eine klassische Konstruktion nicht möglich ist, kann die Dreiteilung eines Winkels unter Zuhilfenahme von Hilfsmaterialien, wie eines markierten Lineals, exakt vollzogen werden. Einige dieser Techniken waren bereits in der Antike bekannt. In auffälligem Gegensatz zum Problem der Winkeldreiteilung steht die unter Verwendung der Winkelhalbierenden sehr leicht machbare Winkelhalbierung mit Zirkel und Lineal. Klassisches Problem Nach der klassischen Vorgabe zählt eine Lösung nur, wenn der gegebene Winkel allein mit Hilfe eines Zirkels und eines nichtskalierten Lineals in drei gleich große Teile aufgeteilt wird. Dies ist, wie bereits erwähnt, im Allgemeinen nicht möglich. Bei speziellen Winkeln ist eine Dreiteilung des Winkels mit den euklidischen Werkzeugen aber möglich, etwa bei jedem ganzzahligen Vielfachen von 9°. Schon die alten Griechen versuchten vergeblich, eine allgemeine Lösung für beliebige Winkel zu finden. Um das Jahr 1830 schuf der französische Mathematiker Évariste Galois die Grundlagen des späteren Beweises dafür, dass dies nicht allgemein möglich ist. Warum dies unmöglich ist, wird im Abschnitt Beweis der Unmöglichkeit verdeutlicht. Eine allgemeine Dreiteilung ist daher nur möglich, wenn neben Zirkel und Lineal auch zusätzliche Hilfsmittel Verwendung finden, etwa eine Trisektrix, oder wenn auf dem Lineal Markierungen angebracht werden. Andererseits sind mit Zirkel und Lineal beliebig gute Näherungslösungen darstellbar (siehe Abschnitt Näherungsverfahren). Geschichte Antike Die Griechen waren es, die im 5. Jahrhundert v. Chr. das Problem, einen beliebigen Winkel in drei gleich große Winkel zu unterteilen, erkannten. Vermutlich trat dieses Problem in den Vordergrund mathematischen Interesses, als sie versuchten, für astronomische Zwecke eine Sehnentafel aufzustellen. Sie strebten nach einer Lösung, die allein mit Zirkel und einem unmarkierten Lineal – eine auf Oinopides von Chios (~ 440 v. Chr.) zurückgehende Beschränkung – zu bewältigen sei, aber sie fanden keine, die dieser Vorgabe gerecht wurde. Beispielsweise bei der Sehnentafel des Ptolemaios stößt man auf die elementargeometrisch nicht mehr zu bewältigende Aufgabe, aus der Sehne für die Sehne für zu gewinnen. Die für die Sehnengeometrie erforderliche Trigonometrie wurde viele Jahrhunderte bis Nikolaus Kopernikus (1473–1543) lediglich als Bestandteil der Astronomie aufgefasst und dementsprechend in astronomischen Werken behandelt. Das erste selbständige Lehrbuch der Trigonometrie verfasste Regiomontanus um 1464, doch erschien es erst posthum, fast 70 Jahre später, im Jahr 1533. Hippias von Elis (um 460 bis um 400 v. Chr.) fand als Erster um 422 v. Chr. eine Lösung mithilfe eines sogenannten zusätzlichen Hilfsmittels. Es war eine Hilfskurve, sie wurde bekannt als die Trisektrix des Hippias oder Quadratrix des Hippias. Diese ist sogar für die Teilung eines Winkels in gleiche Teile erdacht. Der Name Quadratrix rührt daher, dass sie auch das Problem der Kreisquadratur beantwortet. Daraus kann gefolgert werden, dass es sich um eine transzendente Kurve handelt. Dennoch ist sie leicht beschreibbar, da sie durch zwei einfache Bewegungen erzeugt wird. Archimedes von Syrakus (287 bis 212 v. Chr.) fand eine pragmatische Lösung. Obgleich die Zuweisung an Archimedes nicht gesichert ist, existiert eine nur auf Arabisch überlieferte Konstruktion des regelmäßigen Siebenecks. Während die regelmäßigen Drei-, Vier-, Fünf- und Sechsecke sich bekanntlich mit Zirkel und Lineal in einem gegebenen Kreis beschreiben lassen, geht das beim Siebeneck nicht mehr. Algebraisch führt die Teilung des Kreises in sieben gleiche Teile auf eine kubische Gleichung und gehört daher der gleichen Problemklasse an wie die Würfelverdoppelung und die Winkeldreiteilung. Die angeblich von Archimedes gefundene Konstruktion arbeitet zwar auch nur mit diesen beiden Geräten, verwendet das Lineal allerdings in einer in der euklidischen Geometrie nicht erlaubten Weise: Es wird so lange um einen festen Punkt gedreht, bis zwei Dreiecke, von denen eines bei der Drehung anwächst, während das andere abnimmt, flächengleich sind. Es ist dies ein besonderer Typus einer Einschiebekonstruktion oder sog. Neusis. Das angewandte Verfahren ist zwar von theoretischem Interesse, aber nicht praktisch verwendbar. Heute wird es als Neusis-Konstruktion bezeichnet. Später schuf Archimedes eine spezielle Kurve, nannte sie Spirale (archimedische Spirale) und untersuchte damit die Winkelteilung und die Quadratur des Kreises. Im 2. Jh. v. Chr. ersann Nikomedes ein Instrument, das die Forderung der von Pappos überlieferten Neusis-Konstruktion mechanisch zu erfüllen gestattet. Die damit konstruierbaren Kurven erhielten wegen ihrer Gestalt den Namen Konchoide, auf Deutsch Muschelkurven. Das Instrument besteht aus zwei T-förmig fest miteinander verbundenen Linealen, auf denen sich ein drittes in bestimmter Weise bewegen kann. Es diente ihm damit als zusätzliches Hilfsmittel für die Dreiteilung des Winkels. Pappos von Alexandria (im 4. Jh. n. Chr.) gehörte dem Kreis der alexandrinischen Neuplatoniker an. Seine Collectiones sind ein Sammelwerk in acht Büchern; bis auf das erste und den Anfang des zweiten sind sie allesamt erhalten geblieben. In der frühen Neuzeit entnahmen die europäischen Mathematiker den Collectiones viele Anregungen, enthalten sie doch wichtige Auszüge aus den Schriften von Euklid, Apollonios, Archimedes und anderen Mathematikern. Pappos erweiterte diese Auszüge um kritische Kommentare und teils eigene Ergänzungen. Er zeigte u. a. zwei unterschiedliche Varianten für die Lösung der Winkeldreiteilung mit Hilfsmitteln – eine pragmatische mit einem markierten Lineal als zusätzlichem Hilfsmittel, sprich eine Neusis-Konstruktion (siehe hierzu den Abschnitt Die Methode des Pappos) und eine zweite, in der er die Hyperbel als Trisektrix nutzte. Früh- bis Spätmittelalter Ahmad ibn Mûsâ lebte Mitte des 9. Jahrhunderts in Bagdad und war einer der drei Brüder, die sich Banū Mūsā nannten. Er war Astronom und Mathematiker. Seine Lösung zeigt zwei vorbestimmte Asymptoten einer Hyperbel, die durch einen gegebenen Punkt verläuft. Für die Drittelung des Winkels bedarf es eines markierten Lineals und somit einer Neusis-Konstruktion. Seine Lösung war der von Pappos’ Papierstreifenkonstruktion sehr ähnlich (siehe hierzu den Abschnitt Die Methode des Pappos). Thabit ibn Qurra (826–901) aus Bagdad war anfangs Geldwechsler, fand Interesse an der Wissenschaft, wurde in Mathematik geschult und befasste sich auch mit Philosophie und Astronomie. Für seine Neusis-Konstruktion nutze er ebenfalls die Hyperbel. Seine Konstruktion war aber, im Gegensatz zu der von Ahmad ibn Mûsâ, exakter bezeichnet und ausführlicher begründet. Auch seine Lösung hatte große Ähnlichkeit mit Pappos Papierstreifenkonstruktion. Ihren Höhepunkt erreichte die muslimische Astronomie und Trigonometrie im 15. Jahrhundert an der Sternwarte des Ulug Beg in Samarkand. Dort war al-Kaschi tätig, der sich eines geschickten Iterationsverfahrens bediente, um mit großer Genauigkeit aus der Winkeldreiteilungsgleichung den Sinus von zu berechnen. Im Prinzip ging er folgendermaßen vor. Da sich beliebig exakt bestimmen ließ (man konnte ihn z. B. aus der Differenz von am Fünfeck und am Sechseck mit Zirkel und Lineal konstruieren), verwendete er die Winkeldreiteilungsgleichung . In dieser trigonometrischen Schreibweise findet sie sich erstmals am Ende des 16. Jahrhunderts bei Vieta. Sie ist vom Typus (in der damaligen Klassifikation wurden die Koeffizienten – hier , – als positiv vorausgesetzt). Al-Kaschi berechnete die erste Näherung aus zu . Die zweite Näherung folgt dann analog aus usw., wobei sich als Besonderheit ergibt, dass sich mit jedem Schritt eine weitere Sexagesimalstelle exakt ermitteln lässt. Das Ergebnis al-Kaschis, in Dezimalschreibweise umgerechnet, liefert 18 Stellen: Eine große Anzahl arabischer Handschriften befindet sich noch ungesichtet in orientalischen Bibliotheken, so dass die Forschung bisher kein vollständiges Bild der Entwicklung und des erreichten Wissens erarbeiten konnte. Renaissance bis Neuzeit Albrecht Dürer steuerte als Mathematiker ebenfalls zur Theorie der Winkeldreiteilung bei. Neben guten Näherungskonstruktionen für das reguläre 7-, 9-, 11- und 13-Eck finden sich im 2. Buch seiner Underweysung auch die näherungsweise Winkeldreiteilung. Sie wurde 1931 mit mehreren anderen Näherungslösungen der gleichen Aufgabe verglichen und dabei wurde gezeigt, dass sie nirgends um mehr als etwa 20 Bogensekunden vom genauen Wert abweicht und damit alle anderen späteren Lösungsvorschläge übertrifft. Dürers Konstruktionsidee lässt sich zudem leicht iterieren und liefert nach einigen Schritten eine sehr hohe Genauigkeit. Bei allem ist sich Dürer des grundlegenden Unterschiedes zwischen exakten, er nennt sie demonstrative, und Näherungslösungen, er nennt sie mechanice, jederzeit bewusst und hebt sich damit sogar von den meisten professionellen Mathematikern seiner Zeit ab. Die erste Person, die den Nachweis der Unlösbarkeit des Problems – allein mit Zirkel und Lineal – erbrachte, war Pierre-Laurent Wantzel im Jahr 1837. Es wird von Historikern jedoch bezweifelt, dass Wantzel als Erster um einen Beweis wusste, da schon der junge Carl Friedrich Gauß sehr wahrscheinlich über einen solchen verfügt hat. Ein großer Teil seines 1801 erschienenen Werkes Disquisitiones arithmeticae ist der Frage gewidmet, welche Bedingungen eine Polynomgleichung erfüllen muss, um durch quadratische Radikale lösbar zu sein. Dort finden sich auch die nach Gauß benannten Sätze, mit deren Hilfe für die meisten klassischen Aufgaben die Unlösbarkeit mit Zirkel und Lineal nachgewiesen werden kann. Mit den von ihm entwickelten Techniken bewies Gauß zum Beispiel, dass sich das 17-Eck mit Zirkel und Lineal konstruieren lässt. Die Tatsache, dass Wantzel trotzdem von vielen Autoren als Urheber der Sätze genannt und zitiert wird, führen die Mathematikhistoriker Christoph Scriba und Peter Schreiber auf die „Kommunikationsschwierigkeiten“ der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zurück. Beweis der Unmöglichkeit Geschichte des Beweises Pierre Wantzel veröffentlichte 1837 einen Beweis, dass es im Allgemeinen unmöglich ist, einen Winkel mit Zirkel und Lineal in drei gleiche Teile zu zerlegen. Sein Beweis benutzt, wenn man es in moderner Terminologie ausdrückt, Körpererweiterungen, wie sie in der abstrakten Algebra und insbesondere in der Galoistheorie behandelt werden. Wantzel veröffentlichte diese Ergebnisse früher als Galois (dessen Werk 1846 herauskam) und benötigte dabei nicht den Zusammenhang zwischen Körpererweiterungen und Gruppen, mit dem sich die Galoistheorie befasst. Sein Beweis beruhte auf folgenden algebraischen Überlegungen: 1. Im ersten Teil des Beweises argumentiert er, dass, wenn ein Konstruktionsproblem mit Lineal und Zirkel gelöst werden kann, „die Unbekannte des Problems durch die Lösung einer Reihe von quadratischen Gleichungen erhalten werden kann, deren Koeffizienten rationale Funktionen der Parameter des Problems und der Wurzeln der vorherigen Gleichungen sind“. Mit der „Unbekannten des Problems“ ist dabei zum Beispiel die gesuchte Strecke gemeint. 2. Danach zeigte er, dass jede algebraische Zahl , die Lösung der letzten Gleichung eines Systems ist, wobei die Koeffizienten stets durch sukzessive Adjunktion im Körper liegen, eine Polynomgleichung des Grades mit Koeffizienten in löst. Dabei löst die Gleichung und sind die gegebenen Parameter des Problems. 3. Wantzel wusste, dass jede algebraische Zahl Nullstelle eines Polynoms mit Grad einer Zweierpotenz ist, wenn diese hinreichend groß gewählt würde. Daher war sein Hauptresultat, zu zeigen, dass, wenn die Anzahl an benötigten Gleichungen zu einem Minimum reduziert würde, das resultierende Polynom irreduzibel über ist. Die Unmöglichkeit der Konstruktion folgt nun als Korollar aus den Sätzen 1 bis 3: Wäre, beginnend mit den Strecken 0, 1 und , die Dreiteilung eines Winkels mit Zirkel und Lineal möglich, so müsste Nullstelle eines irreduziblen Polynoms über sein, das als Grad eine Zweierpotenz hat. Das Polynom ist im Allgemeinen irreduzibel über , hat aber den Grad 3. Dies ist ein Widerspruch. Es ist zu beachten, dass Wantzels Originalpublikation von dem Mathematikhistoriker Jesper Lützen als lückenhaft und schwer zu verstehen angesehen wird – dies betrifft vor allen Dingen den „Beweis“ des Hauptsatzes 3. Von Lützen wurden die Lücken im Nachhinein geschlossen und die Resultate, wie oben beschrieben, in moderner Fachsprache formuliert. Wantzels Beweis für die Unmöglichkeit, die Dreiteilung des Winkels und die Verdoppelung des Würfels mit Lineal und Zirkel zu konstruieren, war nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1837 fast ein Jahrhundert lang vergessen. Laut Lützen waren dabei die „mangelnde Berühmtheit des Autors“, die „Tatsache, dass einige seiner Zeitgenossen das Ergebnis als bekannt oder sogar als bewiesen ansahen“, und dass „das Ergebnis zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung nicht als wichtiges mathematisches Ergebnis angesehen wurde“, die treibenden Gründe. Algebraischer Beweis Das Problem der Konstruktion eines Winkels von gegebener Größe ist äquivalent zur Konstruktion zweier Strecken, deren Längen im Verhältnis stehen. Die Lösung eines dieser beiden Probleme mit Zirkel und Lineal ergibt die Lösung des anderen. Mithilfe der Formel zum Kosinus des dreifachen Winkels lässt sich eine algebraische Gleichung aufstellen, die die Werte und in Verbindung bringt. Daraus folgt, dass das Problem der Winkeldreiteilung äquivalent dazu ist, eine bestimmte Strecke zu konstruieren, bei der das Verhältnis zwischen Streckenlänge und Längeneinheit gleich einer Lösung einer bestimmten kubischen Gleichung ist. Damit ist das ursprünglich geometrische Problem auf ein rein algebraisches Problem zurückgeführt. Zu beachten ist hierbei, dass neben den zu Beginn einer Konstruktion mit Zirkel und Lineal zur Verfügung stehenden Strecken 0 und 1 noch auf die Strecke zugegriffen werden kann, da auch der Startwinkel bekannt ist. Dabei ist es insbesondere für die Fragestellung, ob zu gedrittelt werden kann, unerheblich, ob selbst aus 0 und 1 mit Zirkel und Lineal hätte konstruiert werden können. Die kubische Gleichung kann einfach aus der Formel von De Moivre für die komplexe Exponentialfunktion gefolgert werden. Nach der Eulerschen Formel gilt und durch beidseitiges Potenzieren mit 3 kann die Gleichung über einen Vergleich der Realteile und abgelesen werden. Dabei bezeichnet die imaginäre Einheit der komplexen Zahlen. Im Detail kann der Beweis der Unmöglichkeit der Winkeldreiteilung über folgende Ideen aus der Algebra vollzogen werden. Es seien eine Menge von Punkten (komplexen Zahlen), die mindestens 0 und 1 enthält, und ein beliebiger Punkt gegeben. Es ist für diese Überlegungen von Wichtigkeit, dass die komplexen Zahlen als Ebene aufgefasst werden können – im Gegensatz dazu werden die reellen Zahlen schlicht als Gerade aufgefasst. Dann gilt, dass der Punkt genau dann mit Zirkel und Lineal aus den Punkten konstruierbar ist, wenn er in einem Körper (dabei ist der Körper der komplexen Zahlen) liegt, der durch Adjunktion einer Quadratwurzel aus dem Körper hervorgeht. Dabei ist grob gesprochen die Menge, die durch Bilden aller Summen, Differenzen, Produkte und Quotienten aus rationalen Zahlen mit entsteht. Hier ist die Menge der komplex Konjugierten aller Elemente von und das Symbol steht für die Vereinigung zweier Mengen. Adjunktion einer Quadratwurzel bedeutet, dass es ein geben muss, so dass . Zum Beispiel geht durch die Adjunktion einer Quadratwurzel aus den rationalen Zahlen hervor, da eine rationale Zahl ist – entsprechend ist die Menge aller Summen, Differenzen, Produkte und Quotienten rationaler Zahlen mit der Zahl . Bei handelt es sich um eine sogenannte Körpererweiterung. Das Problem der Winkeldreiteilung mittels Zirkel und Lineal lässt sich also auf die Frage reduzieren, ob die Zahl in einem Teilkörper von liegt, der aus durch sukzessive Adjunktion von Quadratwurzeln gewonnen werden kann. Das bedeutet jedoch, dass der Erweiterungsgrad von aus eine Potenz von 2 sein muss. Es ist aber im Allgemeinen womit es unmöglich ist, die Winkeldreiteilung mittels Zirkel und Lineal vorzunehmen. Dass die Körpererweiterung im Allgemeinen vom Grad 3 ist, kann wie folgt gesehen werden: Wäre das Polynom für reduzibel über den rationalen Zahlen, müsste es eine rationale Nullstelle besitzen. Wegen kann äquivalenterweise studiert werden. Nach dem Satz über rationale Nullstellen kommen nur die Werte , , und als rationale Nullstellen dieser Gleichung in Frage. Alle diese Werte können durch Einsetzen als Nullstelle ausgeschlossen werden. Somit muss irreduzibel über sein, und das Minimalpolynom von über hat den Grad 3. Es kann gezeigt werden, dass sich der Winkel nicht mit Zirkel und Lineal dreiteilen lässt, falls eine transzendente Zahl ist. Winkel, für die die Dreiteilung mit Zirkel und Lineal möglich ist, werden als drittelbare Winkel bezeichnet. Abzählbarkeit der Menge der drittelbaren Winkel Wie oben gesehen, ist der Winkel , also 60°, zwar konstruierbar, aber nicht drittelbar. Allgemein können die zueinander unabhängigen Eigenschaften konstruierbar und drittelbar auf vier verschiedene Weisen kombiniert werden, und es stellt sich die Frage, wie häufig jeder Fall auftritt. Es wird damit nach der Wahrscheinlichkeit gefragt, mit der diese vier Fälle für zufällig gewählte Winkel eintreffen. Der Winkel ist konstruierbar und drittelbar. Dann ist der Winkel ebenfalls konstruierbar (und zwar auch ohne zu verwenden). Beispiele: Vielfache von 9° (siehe Grafik in Klassisches Problem). Der Winkel ist konstruierbar, aber nicht drittelbar (der Winkel ist dann nicht konstruierbar). Beispiel: 60° (wie gerade gezeigt). Der Winkel ist nicht konstruierbar, aber drittelbar (der Winkel ist dann ohne Verwendung von nicht konstruierbar, mit aber schon). Beispiel (siehe Grafik rechts): Winkel mit . Der Winkel ist weder konstruierbar, noch drittelbar (der Winkel ist dann nicht konstruierbar, auch nicht unter Verwendung von ). Beispiele: Jeder Winkel , für den transzendent ist (siehe Algebraischer Beweis). Um abzuschätzen, wie häufig die jeweiligen Fälle auftreten, kann die Mächtigkeit der vier Winkelklassen untersucht werden. Die ersten drei Klassen liefern nur abzählbar viele Winkel. Für die ersten beiden Klassen folgt dies unmittelbar: Jede konstruierbare Zahl ist algebraisch und daher gibt es nur abzählbar viele konstruierbare Zahlen. Es ist jedoch im dritten Fall nicht sofort klar, dass für jeden drittelbaren Winkel die Zahl immer algebraisch ist. Da aber Winkel mit transzendentem nicht drittelbar sind (4. Fall), folgt die Algebraizität von im Umkehrschluss. Der Kosinus jedes drittelbaren Winkels ist also algebraisch und daher gibt es nur abzählbar viele drittelbare Winkel. Im Gegensatz dazu enthält die vierte Klasse überabzählbar viele Winkel (da es überabzählbar viele transzendente Zahlen im Intervall gibt). Ein zufällig gewählter Winkel kann also fast sicher mit Zirkel und Lineal nicht gedrittelt werden. Dennoch liegen sowohl drittelbare, als auch nicht drittelbare Winkel in dicht. Es gibt also in beliebig kleinen Umgebungen eines jeden Winkels sowohl drittelbare, als auch nicht drittelbare Winkel. Um das zu zeigen, reichen bereits Winkel der Form für natürliche Zahlen und (für drittelbare Winkel) und Winkel der Form (für nicht drittelbare Winkel). Verallgemeinerung Die allgemeinere Frage, für welche natürliche Zahlen die -Teilung beliebiger Winkel möglich ist, hat keine überraschende Antwort: Es gibt nur die fortgesetzte Winkelhalbierung als allgemeines -Teilungsverfahren und daher muss eine Zweierpotenz sein (Beispiel: dreimaliges Halbieren eines Winkels ergibt die Achtelung des Winkels). Das kann man wie folgt einsehen: Wenn es ein allgemeines Verfahren für ein gibt, das einen Primfaktor > 2 hat, dann könnte man den Vollkreis durch zweimaliges Anwenden des Verfahrens in gleiche Winkel aufteilen und so ein regelmäßiges Polygon mit Ecken konstruieren. Das widerspricht aber der Bedingung für konstruierbare regelmäßige Polygone (die Primteiler > 2 dürfen jeweils nur einmal vorkommen). Daher hat keinen Primfaktor > 2 und muss eine Zweierpotenz sein. Für Winkel dieser Art gibt es auch ein allgemeines Ergebnis: ( für Eckenanzahl eines Vielecks) lässt sich genau dann in gleich große Winkel teilen, wenn das Produkt einer Zweierpotenz und paarweise verschiedener Fermatscher Primzahlen ist, die nicht teilen. Man kann also beispielsweise (siehe Grafik rechts) den zu Beginn gegebenen Zentriwinkel eines regelmäßigen Vierzehnecks mit Zirkel und Lineal in , in und auch in gleich große Winkel teilen. Lösungsversuche durch Amateure Obwohl also die Unmöglichkeit der Dreiteilung eines beliebigen Winkels allein mit Zirkel und Lineal schon lange bekannt ist, werden bis in die Gegenwart mathematische Zeitschriften und Fakultäten mit Beweisversuchen von Amateuren überhäuft. Underwood Dudley, der das Phänomen analysierte, beschreibt den typischen Trisektor als älteren Mann, der in seiner Jugend von dem Problem hörte (es ist von den drei klassischen Problemen wahrscheinlich das für Laien zugänglichste) und im Ruhestand daran tüftelte. Dudley, der hunderte ihrer Beweisversuche sammelte, fand nur zwei Frauen unter den Winkeldreiteilern. Ein weiteres Kennzeichen sei, so Dudley, dass Laien die Bedeutung von „unmöglich“ in der Mathematik nicht verstünden und dies stattdessen eher als Herausforderung sähen. Typischerweise hätten sie nur geringe Mathematikkenntnisse, dies müsse aber nicht unbedingt heißen, dass die Fehler in ihren Konstruktionen einfach zu finden sind. Charakteristischerweise seien ihre Diagramme sehr komplex, könnten aber mit geometrischen Kenntnissen häufig drastisch vereinfacht werden. Des Weiteren seien sie von der Wichtigkeit ihrer Lösungen für technische Anwendungen überzeugt, was wiederum für viele Patent- und Geheimhaltungsfragen nicht unwichtig ist. Nachdem Dudley viele Methoden im Umgang mit hartnäckigen Winkeldreiteilern ausprobiert hatte, empfahl er, deren Arbeit als Beitrag zu einer besseren Näherungslösung an das Problem zu loben (wahlweise für deren Einfachheit oder Eleganz). Darüber hinaus soll man ihnen einen Computerausdruck, der den Fehler des Versuchs für verschiedene Winkel aufzeigt, zukommen lassen sowie Beispiele von „Näherungslösungen“ anderer Winkeldreiteiler. Nichtklassische Verfahren Beschränkt man sich nicht auf die klassischen Konstruktionvorschriften für Zirkel und Lineal, sondern lässt darüber hinaus die Verwendung anderer Konstruktionswerkzeuge und mathematischer Hilfsobjekte zu oder begnügt sich auch mit Näherungslösungen, so ergibt sich eine Vielzahl von möglichen Verfahren, einen beliebigen Winkel dreizuteilen. In den folgenden Abschnitten werden einige von ihnen beispielhaft vorgestellt. Die Methode des Archimedes Archimedes war ein Pragmatiker, er gab zwar eine Lösung in seinem Liber Assumptorum an, aber er und ebenso die nachfolgenden Autoren ließen in den Überlieferungen seiner Werke die Vorgehensweise der sogenannten Einschiebung (Neusis) offen. Es sei der dreizuteilende Winkel wie in nebenstehender Zeichnung. Gehe dann wie folgt vor: Schlage einen Halbkreis um mit beliebigem Radius . Am Lineal bringe zwei Markierungen im Abstand an. Lege das Lineal so an , dass eine der beiden Markierungen auf der Geraden im Punkt und die andere auf der Kreislinie im Punkt liegt, und zeichne die Strecke bzw. . Der Winkel bei ist der gesuchte Drittelwinkel. Zur Begründung beachte man, dass wegen der speziellen Positionierung des Lineals die Länge der Strecke gleich dem Abstand der Markierungen ist, also gleich dem Radius des Kreises, der sich auch als und wiederfindet. Insbesondere ist das Dreieck gleichschenklig, weshalb der Winkel auch bei auftritt. Der Winkel des Dreiecks bei ist einerseits gleich (Winkelsumme im Dreieck), andererseits der Nebenwinkel von , also ist . Da das Dreieck ebenfalls gleichschenklig ist, taucht der Winkel auch bei auf, und der Winkel dieses Dreiecks bei ist gleich . Beachtet man nun, dass sich die Winkel bei zu addieren, ergibt sich . Dass mit dieser Methode jeder Winkel wie bewiesen dreigeteilt werden kann, steht nicht in Widerspruch zur Unlösbarkeit des klassischen Problems, denn die obige Konstruktion wurde nicht nach den klassisch geforderten Regeln durchgeführt. Eine Markierung am Lineal und ein geschicktes Anlegen des Lineals entsprechen keinen klassischen Konstruktionsmethoden. Es wurde also ein abweichender Instrumentensatz verwendet und die möglichen Konstruktionen sind vom Instrumentensatz abhängig. Die Methode des Pappos Aus dem späten Altertum stammt die im Folgenden beschriebene Neusis-Konstruktion des Pappos zur Dreiteilung spitzer Winkel. Zu teilen sei der Winkel , vgl. die rechte Abbildung: Nach dem Zeichnen der beiden Winkelschenkel und wird eine beliebige Länge als Strecke auf dem Schenkel bestimmt. Eine Parallele zu ab sowie das Lot ab mit Fußpunkt auf schließen sich an. Nun wird das Lineal, auf dem die Länge gleich markiert ist, so lange verschoben, bis der Eckpunkt auf der Parallelen zu liegt, die Länge die Strecke in schneidet und dabei die Kante des Lineals durch den Scheitel verläuft. Der so gefundene Winkel ist der gesuchte Winkel Denn dieser Winkel ist als Wechselwinkel gleich dem Umfangswinkel der Kreissehne und nach dem Kreiswinkelsatz ist der zugehörige Mittelpunktswinkel gleich Weil das Dreieck gleichschenklig ist, gilt auch Dieser Winkel ist aber gleich der Differenz also gilt und daraus folgt Die gestrichelten Linien und der Mittelpunkt sind für die Konstruktion nicht erforderlich, sie dienen lediglich der Beweisführung. Teilung mit Tomahawk Der Tomahawk ist eine Figur, die aus mathematischer Sicht aus zwei aufeinander senkrecht stehenden Strecken und einem an einer der Geraden anliegenden Halbkreis besteht; das hintere Ende ist dabei so lang wie der Radius des Halbkreises (siehe Zeichnung). Die Bezeichnung Tomahawk rührt daher, dass die Figur vage an einen Tomahawk (eine indianische Streitaxt) erinnert. Um einen Winkel mit Hilfe des Tomahawks dreizuteilen, muss man ihn so positionieren (siehe Bild 1), dass sein „Stiel“ (Griff des Tomahawks) durch den Winkelscheitel geht, während der Halbkreis (die Klinge des Tomahawks) und der „Haken“ (die hintere Spitze des Tomahawks) jeweils die Schenkel des Winkels berühren. In dieser Position bildet der Stiel mit einem der Schenkel einen Winkel, der genau ein Drittel des Ausgangswinkels beträgt. Die Verbindung des Mittelpunktes des Halbkreises mit der Winkelspitze teilt das zweite und dritte Drittel des Ausgangswinkels. Da der Tomahawk eine Figur ist, die angelegt werden muss, ist diese Methode nicht mit den klassischen Konstruktionsregeln (Lineal und Zirkel) konform. Ist eine direkte Dreiteilung eines Winkels mithilfe eines Tomahawks nicht möglich, weil der gegebene Winkel zu klein ist, um den Tomahawk positionieren zu können, so lässt sich die Dreiteilung des kleinen Winkels aus der Dreiteilung des zugehörigen großen Nebenwinkels konstruieren. Betrachtet man einen Winkel mit seinem Nebenwinkel an einem Halbkreis mit Radius , so erhält man wegen einen konstanten Winkel, der nicht von der Größe des Winkels abhängt (siehe Bild 3). Dieser -Winkel ist Bestandteil eines gleichschenkligen Dreiecks, dessen Höhe beträgt. Damit ergibt sich dann die im nächsten Absatz beschriebene Konstruktion. Es beginnt (siehe Bild 4) mit dem Einzeichnen des Durchmessers , dessen Halbierung in und dem Ziehen des Halbkreises über . Es folgt das Eintragen des gegebenen Winkels mit seinen beiden Winkelschenkeln. Nun wird der Tomahawk folgendermaßen positioniert: der „Haken“ liegt auf der Strecke der Halbkreis berührt den oberen Winkelschenkel und der „Stiel“ verläuft durch den Mittelpunkt Mit dem Einzeichnen der beiden Strecken und erhält man die Dreiteilung des Supplementwinkels . Um eine Dreiteilung des Winkels zu erzielen, wird nun der Punkt auf den Kreisbogen gespiegelt. Hierzu wird der Radius in halbiert und ein Halbkreis um ab gezogen, daraus ergibt sich der Schnittpunkt . Abschließend bedarf es noch eines Halbkreises um mit Radius , des Schnittpunktes und der geraden Linie ab durch bis zum Kreisbogen . Der so erzeugte Schnittpunkt ist eine Spiegelung des Punktes an der virtuellen Strecke . Somit ist der konstruierte Winkel exakt ein Drittel des gegebenen Winkels . Teilung mit einem rechtwinkligen dreieckigen Lineal Im Jahr 1932 veröffentlichte Ludwig Bieberbach seine Arbeit Zur Lehre von den kubischen Konstruktionen. Er führt darin aus: Der Winkel soll gedrittelt werden. Setzt man   und   führt dies zur Gleichung Die folgende Beschreibung der nebenstehenden animierten Konstruktion – angelehnt an die von Bieberbach – enthält deren Weiterführung bis zur vollständigen Dreiteilung des Winkels. Es beginnt mit dem ersten Einheitskreis (Basis für Bieberbachs Beweisführung, prinzipiell ist auch ein Kreis mit beliebigem Radius zielführend) um seinen Mittelpunkt , dem ersten Winkelschenkel und dem daran anschließenden zweiten Einheitskreis um . Nun wird der Durchmesser ab bis zur Kreislinie des zweiten Einheitskreises verlängert, dabei ergibt sich der Schnittpunkt . Es folgen der Kreisbogen um mit dem Radius und das Einzeichnen des zweiten Winkelschenkels des zu drittelnden Winkels , dabei ergibt sich der Punkt . Jetzt kommt das so genannte zusätzliche Konstruktionsmittel zum Einsatz, im dargestellten Beispiel ist es das Geodreieck. Dieses legt man jetzt auf folgende Art und Weise auf die Zeichnung: Der Scheitel des Winkels bestimmt auf dem Winkelschenkel den Punkt , eine Kathete des Dreiecks verläuft durch den Punkt und die andere tangiert den Einheitskreis um . Nach dem Verbinden des Punktes mit und dem Einzeichnen der Tangente ab an den Einheitskreis um zeigt sich der oben genannte Rechtwinkelhaken. Der von den Strecken und eingeschlossene Winkel ist somit exakt . Es geht weiter mit der Parallelen zu ab , dabei ergeben sich der Wechselwinkel oder Z-Winkel und der Punkt auf dem Kreisbogen um . Eine weitere Parallele zu ab bestimmt den Berührungspunkt der Tangente an den Einheitskreis um . Abschließend noch eine gerade Linie von durch ziehen, bis sie den Kreisbogen um in schneidet. Somit ist der Winkel wegen exakt gedrittelt. Kurven Als Trisektrix bezeichnet man eine Kurve, die das exakte Dritteln eines Winkels mit Zirkel und Lineal ermöglicht. Die Existenz beziehungsweise Konstruierbarkeit der Kurve mit anderen Mitteln als Zirkel und Lineal ist hierbei gegeben und unter Zuhilfenahme dieser Kurve als einziges zusätzliches Hilfsmittel ist es dann möglich, einen Winkel zu dritteln. Im Gegensatz zur reinen Konstruktion mit Zirkel und Lineal können Punkte so nicht nur durch den Schnitt von Geraden und Kreisen konstruiert werden, sondern auch durch den Schnitt von Geraden und Kreisen mit der gegebenen Kurve. Die Gesamtheit der Kurvenpunkte selbst ist dabei aber nicht mit Zirkel und Lineal konstruierbar, weshalb die Verwendung einer solchen Kurve eine Verletzung der klassischen Regeln zur Winkeldreiteilung darstellt. Dreiteilung unterschiedlicher Winkel mithilfe der Sinuskurve → Hauptartikel: Sinus und Kosinus Hung Tao Sheng veröffentlichte im Jahr 1969 im Mathematics Magazine den Artikel A Method of Trisection of an Angle and X-Section of an Angle. Darin beschreibt u. a. eine Methode die zur Dreiteilung eines beliebigen Winkels die Sinuskurve verwendet. Vorgehensweise Es beginnt mit dem Viertelkreis um mit Radius gleich und der Verlängerung der Strecke über hinaus. Beim Eintragen der Sinuskurve mittels Schablone oder einer sogenannten Dynamische-Geometrie-Software (DGS) ergibt sich auf der Verlängerung die Kreiszahl als Schnittpunkt. Der zu drittelnde Winkel wird mit den Winkelschenkeln und bestimmt. Es folgt eine Parallele zu ab bis sie die Sinuskurve im 2. Quadranten im Punkt schneidet. Das anschließend gefällte Lot ab hat den Fußpunkt . Die darauffolgende Dreiteilung des Abstandes erzeugt, unter Verwendung des ersten Strahlensatzes, die Teilungspunkte und . Die Übertragung dieser Punkte auf die Sinuskurve ergeben die Schnittpunkte und . Schließlich liefern die zwei Parallelen zu ab und mit den Schnittpunkten und die Dreiteilung des gegebenen Winkels . Dreiteilung unterschiedlicher Winkel mithilfe einer einzigen Hyperbel → Hauptartikel: Hyperbel, Hyperbel als Trisektrix Im Jahr 1902 veröffentlichte K. Matter den Aufsatz Zur Trisektion des Winkels. Darin zeigt er eine Methode, die es ermöglicht, mit nur einer Hyperbel unterschiedliche Winkel zu dritteln. Auswahl der bekanntesten Trisektrizes Trisektrix des Hippias (5. Jahrhundert v. Chr.) sowie die Spirale des Archimedes (3. Jahrhundert v. Chr.) gehören zu den ältesten Beispielen für solche Kurven. Hyperbel als Trisektrix, diese Kurve nutzte Pappos im 4. Jahrhundert n. Chr. zur Lösung dieses Problems. Parabel als Trisektrix, beschrieben von René Descartes in seinem Werk La Geometria aus dem Jahr 1637. Pascalschnecke als Trisektrix, gefunden vom französischen Juristen Étienne Pascal um das Jahr 1637. Zykloide von Ceva, entdeckt vom italienischen Jesuiten Tommaso Ceva (1648–1736), ermöglicht ebenfalls, einen beliebigen Winkel zu dritteln. Maclaurin-Trisektrix, wurde von Colin Maclaurin im Jahr 1742 untersucht. Trisektrix von Longchamps, stammt vom französischen Mathematiker Gohierre de Longchamps (1842–1906). Dreiteilung des Winkels mit Origami Während die Dreiteilung des Winkels mit den klassischen Instrumenten der Geometrie nicht möglich ist, kann die Aufgabe mit der Papierfalttechnik Origami – so wie die Würfelverdoppelung – gelöst werden. Verwendet wird hierfür ein rechteckiges oder quadratisches Blatt Papier. Für die Dreiteilung eines Winkels bedarf es sechs Faltungen des Blattes. Zuerst wird das Blatt in der Mitte gefaltet (siehe Bild 1), dabei ergeben sich an den beiden Blattkanten die Punkte und Alternativ kann auch mit einer frei wählbaren Länge der Strecke festgelegt werden. Es folgt die Falte sie halbiert die Strecke Punkt wird nun nach Belieben (siehe Bild 2) auf der Strecke bestimmt und im Anschluss das Blatt von bis gefaltet. Damit ergibt sich der Winkel am Scheitel Jetzt folgt die maßgebende vierte Faltung (siehe Bild 3) zur Dreiteilung des Winkels , indem man zuerst die Ecke auf die Falte und den Punkt auf die Falte legt. Nach dem Markieren des Punktes auf das Blatt, wird die Ecke zurückgebogen und der Schnittpunkt markiert – entstanden durch die vierte Falte mit – das Blatt hat so wieder seine rechteckige Form. Abschließend (siehe Bild 4) noch die Falte von durch sowie die von durch knicken. Die Faltlinien und teilen den Winkel in drei (exakt) gleiche Teile. Dreiteilung des Winkels mithilfe eines flexiblen Lineals In dieser Methode wird auf einer zylindrischen Mantelfläche eine Schraubenlinie (Helix) aufgetragen, die von einer dreidimensionalen Linie an vier Stellen geschnitten wird. Die beiden inneren Schnittpunkte dritteln den Winkel, der durch die beiden äußeren vorgegeben ist. Bei genauer Betrachtung sieht man die Ähnlichkeit der Konstruktion mit der Methode Quadratrix des Hippias. Anstatt der euklidischen Werkzeuge – Zirkel und Lineal – werden hierfür ein zylindrischer Körper mit gegebenem Kreismittelpunkt des Zylinders, ein flexibles Lineal (z. B. Rollbandmaß) und z. B. ein Anschlagwinkel verwendet. Vorgehensweise Zuerst wird vom Kreismittelpunkt der Winkelschenkel eingezeichnet (siehe Bild 1) und der zu drittelnde Winkel mittels des Winkelschenkels bestimmt. Es folgt das Einzeichnen der beiden (roten) Strecken und auf die Mantelfläche mithilfe des flexiblen Lineals oder alternativ z. B. mithilfe eines (rechtwinkligen) Anschlagwinkels. Es geht weiter mit dem Auftragen der Schraubenlinie (grün) auf die zylindrische Mantelfläche (siehe Bild 2). Das flexible Lineal wird an die Zylinderkante gelegt und fixiert. Es folgen fünf Wicklungen mit gleicher Ganghöhe sie entspricht der Breite des Lineals. Das Einzeichnen der Schraubenlinie geschieht bei schrittweisem Abwickeln, jeweils an der freien Kante des Lineals. Nun werden die Schnittpunkte mit der ersten Wicklung der Schraubenlinie und mit der vierten Wicklung markiert. Das flexible Lineal wird nun so auf die zylindrische Mantelfläche (siehe Bild 3) gesetzt, dass die Kante des Lineals durch die Punkte und verläuft. Nach dem Einzeichnen der Kurvenlinie (hellblau) durch und folgt das Markieren der Schnittpunkte und auf der Schraubenlinie. In diesem Fall ist diese Linie – ebenfalls eine Schraubenlinie mit einer sehr großen Ganghöhe – die kürzeste Verbindung der beiden Punkte und Abschließend werden mithilfe des flexiblen Lineals, oder alternativ z. B. mithilfe eines Anschlagwinkels, die Strecken und sowie und eingetragen. Wegen ist somit der Winkel exakt dreigeteilt. Näherungsverfahren Albrecht Dürers Näherung der Dreiteilung Karl Hunrath veröffentlichte 1906 eine Untersuchung zu Dürers Näherungslösung der Winkeldreiteilung aus dem Jahr 1525 in der Zeitschrift Heidelberger Texte zur Mathematikgeschichte. Konstruktionsbeschreibung In einem gegebenen Kreissektor mit Mittelpunkt und einem Mittelpunktswinkel größer wird die Sehne in und gedrittelt. Es folgt das Errichten der beiden Senkrechten auf in und , dabei ergeben sich die Schnittpunkte bzw. mit dem Kreisbogen. Nun wird ein Kreisbogen mit dem Radius ab und ein zweiter mit dem Radius ab gezogen, bis sie die Sehne in bzw. in schneiden. Nach dem Dritteln der Strecke nahe dem Punkt und der Strecke nahe dem Punkt ergeben sich die Schnittpunkte bzw. Die Projektion der Punkte und auf den Kreisbogen liefert die gesuchten Punkte und Die Verbindungslinien (rot) mit sowie und teilen den Mittelpunktswinkel in annähernd drei gleiche Teile. Dieses Ergebnis wird mit zwei Iterationsschritten erreicht. Nach der ersten Iteration ergeben sich die Winkel und Die eingezeichneten Punkte und sowie die mittige Strecke werden für die Konstruktion nicht benötigt, sie dienen ausschließlich dem von Hunrath ausführlich erörterten Beweis. Fehlerbetrachtung Dürers Näherungslösung zeigt bei Winkeln nur sehr geringe absolute Fehler Näherung durch iterative Winkelhalbierung Dieses weniger effiziente, aber viel einfachere Verfahren verwendet die geometrische Reihe Beispiel Winkel nach neun Iterationen Es ist zu beachten, dass die folgende Formel gilt: Es gibt damit auch einen indirekten Zusammenhang mit der Darstellung im Binärsystem. Näherung für Winkelweiten größer 0° bis 90° Im Jahr 2011 sandte Chris Alberts eine außerordentlich gute Näherung einer Winkeldreiteilung an Rouben Rostamian (University of Maryland, Baltimore County). Rostamian hat die Konstruktion von Alberts umformuliert und neu geordnet, aber die Unterschiede zum Original sind, so sagt er, nur kosmetisch. Zu Beginn der Konstruktionsbeschreibung verweist er auf eine Erläuterung („Explanation here“), in der er auch die Gründe aufzeigt, weshalb von dieser Konstruktion keine Bilder zu sehen sind. Nichtsdestotrotz ist die im Folgenden dargestellte Konstruktion allein mithilfe Rostamians Beschreibung machbar. Konstruktion (Übersetzung) Betrachte den Kreisbogen auf dem Kreis , der in zentriert ist (siehe Bild). Angenommen, der Winkel liegt zwischen und Grad, dann gehe folgendermaßen vor, um zu teilen: Zeichne den Kreis um mit einem Radius die Schnittpunkte mit den Strecken bzw. sind bzw. Ziehe den Kreis (grün dargestellt) um durch den Punkt Es sei der Mittelpunkt der Strecke Zeichne eine Linie ab parallel zu durch die Kreislinie von bis zum Kreis die Schnittpunkte sind bzw. Es sei der Mittelpunkt der Strecke Ziehe eine Linie ab durch bis sie den Kreis in schneidet. Zeichne eine Linie ab parallel zu und wähle den Punkt darauf so, dass ist. Verlängere die Strecke bis sie den Kreis in schneidet. Ziehe die Linie und verlängere sie, bis sie den Kreis in schneidet. Hinweis: Sieht man sich die Zeichnung genau an, ist zu erkennen, dass sich die Strecken und nicht überdecken, d. h. nicht kollinear sind. Es sei diametral gegenüber dem Punkt im Kreis Ziehe eine Linie ab parallel zu und wähle den Punkt darauf so, dass der Abstand ist. Hinweis: Die Strecke ist keine Verlängerung der Strecke Verlängere die Strecke bis sie den Kreis in schneidet. Spiegle an der Strecke um den Punkt zu erhalten. Der Winkel ist nahezu gleich einem Drittel des Winkels Fehleranalyse Rostamian führte eine Fehleranalyse durch, u. a. mit folgenden Ergebnissen: Die obigen Konstruktionsschritte (1.–10.) beinhalten drei Stufen der Näherungsgrade, d. h. drei unterschiedliche Fehlergrößen im Bereich zwischen und : Stufe 1: Nach dem 5. Schritt ist die Differenz des Winkels zu einem exakt gedrittelten Winkel max. Stufe 2: Nach dem 7. Schritt ist die Differenz des Winkels zu einem exakt gedrittelten Winkel nur noch max. Stufe 3: Nach dem 10. Schritt hat der Winkel zu einem exakt gedrittelten Winkel den hervorragenden kleinen Differenzwert von max. Die dargestellte Konstruktion wurde mit der Dynamische-Geometrie-Software (DGS) GeoGebra angefertigt; darin werden in diesem Fall die Winkelgrade mit signifikanten dreizehn Nachkommastellen angezeigt. Die sehr kleinen Fehler des Winkels sprich, die Differenzen werden deshalb von GeoGebra stets mit angezeigt. Verdeutlichung des absoluten Fehlers Der Differenzwert von max. entspricht einem absoluten Fehler der – nicht eingezeichneten – Sehne der sich wie folgt ergibt: Anschaulich: Hätten die Winkelschenkel die Länge gleich 1 Billion km (das Licht bräuchte für diese Strecke fast 39 Tage), wäre der absolute Fehler der Sehne ca. 2,32 mm. Anwendungen Lösung kubischer Gleichungen Eine kubische Gleichung mit reellen Koeffizienten kann genau dann geometrisch mit Zirkel, Lineal und einem Winkeldreiteiler gelöst (d. h. deren Lösungen konstruiert) werden, wenn sie drei reelle Lösungen hat. Dabei werden die Koeffizienten des Polynoms als gegeben gesehen und bei der Konstruktion verwendet. Insbesondere kann die Kubikwurzel aus 2, die bei der Verdopplung des Würfels benötigt wird, nicht über diese Werkzeuge konstruiert werden, da die Gleichung nicht ausschließlich reelle Lösungen besitzt. Ein regelmäßiges Vieleck mit Seiten lässt sich genau dann mit Lineal, Zirkel und Winkeldreiteiler konstruieren, wenn mit paarweise verschiedenen Fermatschen Primzahlen größer als 3 der Form , vgl. dazu auch Pierpont-Primzahl. Mithilfe der kubischen Gleichung des Siebenecks wird im Folgenden exemplarisch erläutert, wie damit der Kosinus des Winkels gefunden wird, der mithilfe eines sogenannten zusätzlichen Hilfsmittels (z. B. Tomahawk) gedrittelt werden kann. Das Siebeneck hat die kubische Gleichung Setzt man ergibt sich als eine Lösung von Durch Einsetzen von vereinfacht es sich zu schließlich erhält man den Kosinus des Winkels, der gedrittelt werden kann: . Im Folgenden wird am Beispiel Siebeneck beschrieben, wie die kubische Gleichung ermittelt wird. Es beginnt mit dem Zeichnen eines regelmäßigen Siebenecks. Konstruktionsbeschreibung Umkreis des Siebenecks mit dem Radius um den Nullpunkt eines kartesischen Koordinatensystems. Markieren der Punkte und Ein Kreisbogen mit Radius schneidet die -Achse in und die Strecke ist die Seite eines gleichseitigen Dreiecks mit Umkreisradius Verbindung der Punkte mit und mit der Winkel entspricht Bogen um mit Radius Dreiteilung des Winkels z. B. mithilfe eines Tomahawks, ergibt den Schnittpunkt Parallele zu durch ergibt die Schnittpunkte und und sind Eckpunkte des – nicht eingezeichneten – regelmäßigen Siebenecks Nachweis der Konstruktion Sei der Schnittpunkt der Strecke mit der -Achse. Aus der Konstruktion geht hervor, dass Die Konstruktion ist korrekt, wenn   oder gleichwertig, wenn   wobei die Normierung des Kosinus um den Faktor von der Wahl des Radius herrührt. Man muss also nur folgende Identität feststellen: Um dies zu tun, sei eine primitive siebte Einheitswurzel in . Setze dann ist Somit ist eine Wurzel der kubischen Gleichung Wie oben beschrieben, erhält man daraus den Kosinus des Winkels : Dreiteilung des Zentriwinkels eines regelmäßigen Polygons Bei regelmäßigen Polygonen mit der Definition ( für eine ganze positive Zahl) ist eine Dreiteilung des Zentriwinkels ( für Eckenanzahl) möglich. Erreicht wird dies – wie im Folgenden exemplarisch anhand des Siebzehnecks erläutert – indem man ein gleichseitiges Dreieck so um das Polygon legt, dass zwei Ecken und eine Seite des Polygons das Dreieck berühren. Die Konstruktion des Polygons wird als gegeben betrachtet, unabhängig davon mit welchen zusätzlichen Hilfsmitteln es eventuell erstellt wurde. Von da an ist nur noch eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal erlaubt, um das gleichseitige Dreieck zu konstruieren. Beispiel Zentriwinkel des Siebzehnecks Gegeben sei die Konstruktion eines regelmäßigen Siebzehnecks () und dessen Mittelpunkt . Es beginnt mit dem Einzeichnen des Zentriwinkels und Benennen der Eckpunkte des Siebenecks und diametral gegenüber. Ausgehend vom Eckpunkt werden mit einem Abstand von jeweils drei Eckpunkten die betreffenden Ecken mit bzw. bezeichnet. Nach der Verbindung mit zieht man ab dem Mittelpunkt eine Halbgerade durch , Schnittpunkt halbiert . Es folgt ein Kreisbogen um mit Radius und ein zweiter mit gleichem Radius um ; dabei ergibt sich der Schnittpunkt . Die darauffolgende Sekante des Umkreises durch und schneidet in die Halberade von durch . Dadurch ergibt sich der Winkel . Eine zweite Sekante durch die Punkte und sowie eine weitere durch und generieren das gleichseitige Dreieck . Die beiden Verbindungen mit und mit schließen am Scheitel den gesuchten Winkel ein. Beweis Ein möglicher Beweis für Polygone mit der Definition ist, wenn nachgewiesen kann, dass ein derart konstruiertes gleichseitiges Dreieck am Scheitel den gedrittelten Winkel erzeugt. Die folgende Beweisführung benötigt zu Beginn den Zentriwinkel sowie dessen gedrittelten Winkel eines beliebigen regelmäßiges Polygons das erfüllt. Hierzu ist es vorteilhaft, wenn die benötigten Winkelweiten einfach zu konstruieren sind, wie dies beim kleinstmöglichen Polygon, dem regelmäßigen Fünfeck () mit dem Zentriwinkel und dem gedrittelten Winkel zutrifft. Vorgehensweise Zuerst wird der Umkreis mit beliebigem Radius um den Mittelpunkt gezogen und die Mittelachse ab der Kreislinie durch eingezeichnet. Der Zentriwinkel () und dessen gedrittelter Winkel () eines Fünfecks werden so eingetragen, dass die Mittelachse sie halbiert. Zieht man nun eine Halbgerade von durch bis sie die Mittelachse in schneidet, sieht es so aus, als sei nach der Methode des Archimedes geteilt worden. Nach dem Verbinden des Punktes mit , ergibt Schnittpunkt , dreht man den Winkel um gegen den Uhrzeigersinn und erhält somit den Winkel . Da das rechtwinklige Dreieck kongruent ist mit dem rechtwinkligen Dreieck , schneidet eine Sekante des Umkreises durch und die Mittelachse im Schnittpunkt gleich . Sprich das rechtwinklige Dreieck mit dem Winkel am Scheitel gleich ist der sechste Teil eines gleichseitigen Dreiecks, das am Scheitel den gedrittelten Winkel liefert. Was zu beweisen war. Satz von Morley Auch wenn es im ersten Moment den Anschein hat, der Satz von Morley wäre für die Dreiteilung eines beliebigen Winkels geeignet, dem ist nicht so. In einem vorgegebenen Dreieck werden zuerst die Winkel an den Scheitelpunkten und gedrittelt. Dazu bedarf es eines zusätzlichen Hilfsmittels, z. B. einer Dynamische-Geometrie-Software (DGS). Die damit exakt erzeugten Winkeldreiteilenden (rot) liefern die Eckpunkte , und des Morley-Dreiecks. Satz von Morley: Literatur Ernst-Erich Doberkat: Die Dreiteilung des Winkels. In: Die Drei (S. 59–85), Springer Verlag, 2019. Underwood Dudley: The Trisectors. Mathematical Association of America, 1996. Underwood Dudley: A budget of trisections. Springer Verlag, 1987. Christoph Scriba, Peter Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Springer Verlag, 2010. Weblinks Jim Loy: Matroids Matheplanet: Winkeldreiteilung und der Satz von Haga. Schweizer Fernsehen: Origami löst unlösbare Probleme. Einstein, 9. April 2009. Sarah Kuchar: Die Dreiteilung des Winkles – eine Zeitreise. 10. Januar 2016. Einzelnachweise Ebene Geometrie Winkel
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https://de.wikipedia.org/wiki/25.%20Zusatzartikel%20zur%20Verfassung%20der%20Vereinigten%20Staaten
25. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten
Der 25. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (Twenty-fifth Amendment to the United States Constitution) regelt Fragen, die im Zusammenhang mit der vorzeitigen Beendigung einer Präsidentschaft auftreten können: Er schreibt vor, dass der Vizepräsident dem Präsidenten in das Amt folgt, wenn das Amt des Präsidenten vakant wird. Damit wurde die seit 1841 geltende Praxis kodifiziert, dass ein nachrückender Vizepräsident auch tatsächlich Präsident wird und nicht etwa nur dessen Befugnisse ausübt. Ferner legt er fest, dass der Präsident nach Zustimmung der beiden Kammern des Kongresses einen neuen Vizepräsidenten ernennen kann. Dies erschien notwendig, da in diesem Moment noch kein weiterer Vizepräsident als Nachrücker zur Verfügung steht, und so der dritte in der Rangfolge, der Sprecher des Repräsentantenhauses, als kommissarischer Präsident amtiert hätte. Die dritte Regelung betrifft die vorübergehende Übertragung der Aufgaben des Präsidenten auf den Vizepräsidenten wegen temporärer Amtsunfähigkeit. Die vierte Regelung behandelt die Feststellung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten durch den Vizepräsidenten mit Zustimmung des Kabinetts, und dann mit weiterer Zustimmung des Kongresses auch gegen den Willen des Präsidenten. Obwohl die Angelegenheit bereits zuvor auf einfachem gesetzlichen Wege, also durch ein Gesetz des Kongresses, geregelt war, wurde sie in die Verfassung übernommen, auch um die Legitimität eines solchen Verfahrens zu erhöhen. Nachdem der Zusatzartikel im Januar 1965 in den Kongress eingebracht worden war, wurde er am 10. Februar 1967 von der notwendigen Anzahl von Bundesstaaten ratifiziert; am 23. Februar 1967 wurde die Aufnahme des Textes in die Verfassung der Vereinigten Staaten amtlich festgestellt. Der 25. Verfassungszusatz wurde bisher einmal im Jahr 1974 zur Ernennung eines Vizepräsidenten zum Präsidenten angewendet. Zweimal, 1973 und 1974, wurde ein Vizepräsident ernannt. Viermal, 1985, 2002, 2007 und zuletzt 2021, erklärte der Präsident sich selbst für vorübergehend amtsunfähig und übertrug seine Amtsbefugnisse für jeweils wenige Stunden an den Vizepräsidenten. Der endgültige Verfassungszusatz Wortlaut Der endgültige Wortlaut des 25. Verfassungszusatzes lautet: Section 1/Absatz 1 In case of the removal of the President from office or of his death or resignation, the Vice President shall become President. Im Falle der Amtsenthebung, des Todes oder des Rücktritts des Präsidenten wird der Vizepräsident Präsident. Section 2/Absatz 2 Whenever there is a vacancy in the office of the Vice President, the President shall nominate a Vice President who shall take office upon confirmation by a majority vote of both Houses of Congress. Sofern das Amt des Vizepräsidenten frei wird, benennt der Präsident einen Vizepräsidenten, der das Amt nach Bestätigung durch Mehrheitsbeschluss beider Kammern des Kongresses antritt. Section 3/Absatz 3 Whenever the President transmits to the President pro tempore of the Senate and the Speaker of the House of Representatives his written declaration that he is unable to discharge the powers and duties of his office, and until he transmits to them a written declaration to the contrary, such powers and duties shall be discharged by the Vice President as Acting President. Sofern der Präsident dem Präsidenten pro tempore des Senates und dem Sprecher des Repräsentantenhauses seine schriftliche Erklärung übermittelt, dass er unfähig ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes auszuüben, und bis er ihnen eine schriftliche Erklärung gegenteiligen Inhaltes übermittelt, werden diese Rechte und Pflichten vom Vizepräsidenten als kommissarischem Präsidenten ausgeübt. Section 4/Absatz 4 Whenever the Vice President and a majority of either the principal officers of the executive departments or of such other body as Congress may by law provide, transmit to the President pro tempore of the Senate and the Speaker of the House of Representatives their written declaration that the President is unable to discharge the powers and duties of his office, the Vice President shall immediately assume the powers and duties of the office as Acting President. Thereafter, when the President transmits to the President pro tempore of the Senate and the Speaker of the House of Representatives his written declaration that no inability exists, he shall resume the powers and duties of his office unless the Vice President and a majority of either the principal officers of the executive department or of such other body as Congress may by law provide, transmit within four days to the President pro tempore of the Senate and the Speaker of the House of Representatives their written declaration that the President is unable to discharge the powers and duties of his office. Thereupon Congress shall decide the issue, assembling within forty-eight hours for that purpose if not in session. If the Congress, within twenty-one days after receipt of the latter written declaration, or, if Congress is not in session, within twenty-one days after Congress is required to assemble, determines by two-thirds vote of both Houses that the President is unable to discharge the powers and duties of his office, the Vice President shall continue to discharge the same as Acting President; otherwise, the President shall resume the powers and duties of his office. Immer wenn der Vizepräsident und eine Mehrheit entweder der Minister oder eines anderen Gremiums, welches der Kongress durch Gesetz bestimmen kann, dem Präsidenten pro tempore des Senates und dem Sprecher des Repräsentantenhauses eine schriftliche Erklärung des Inhalts übermitteln, dass der Präsident unfähig ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes auszuüben, übernimmt der Vizepräsident unverzüglich die Rechte und Pflichten des Amtes als kommissarischer Präsident. Danach, wenn der Präsident dem Präsidenten pro tempore des Senats und dem Sprecher des Repräsentantenhauses seine schriftliche Erklärung des Inhalts übermittelt, dass keine Amtsunfähigkeit besteht, übernimmt er die Rechte und Pflichten seines Amtes wieder, außer der Vizepräsident und eine Mehrheit entweder der Minister oder eines anderen Gremiums, welches der Kongress durch Gesetz bestimmen kann, übermitteln binnen vier Tagen dem Präsidenten pro tempore des Senats und dem Sprecher des Repräsentantenhauses eine schriftliche Erklärung des Inhalts, dass der Präsident unfähig ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes auszuüben. In diesem Fall entscheidet der Kongress, der zu diesem Zweck, falls er nicht gerade tagt, binnen 48 Stunden zusammenkommt, die Angelegenheit. Wenn der Kongress innerhalb von 21 Tagen nach Erhalt der letztgenannten schriftlichen Erklärung, oder, sofern er nicht tagt, innerhalb von 21 Tagen nach dem vorgeschriebenen Zeitpunkt des Zusammentretens des Kongresses mit Zweidrittelmehrheit beider Kammern entscheidet, dass der Präsident unfähig ist, die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen, nimmt der Vizepräsident dieselben weiterhin als kommissarischer Präsident wahr; andernfalls übernimmt der Präsident wiederum die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes. Kommentar zum Verfassungszusatz Absatz 1 regelt unmissverständlich, dass der Vizepräsident bei der Erledigung des Amtes des Präsidenten nicht nur dessen Rechte und Pflichten, sondern auch dessen Amt als solches übernimmt. Der Vizepräsident wird damit nächster US-Präsident. Absatz 2 regelt erstmals die nachträgliche Bestellung eines Vizepräsidenten, wenn dessen Amt frei wird. In diesem Fall ernennt der Präsident einen Kandidaten, der zum Vizepräsidenten ernannt werden kann, sobald beide Häuser des Kongresses, also Repräsentantenhaus und Senat, diesem Kandidaten zugestimmt haben. Anders als bei der Benennung eines Ministers (secretary) bedarf es hier also auch der Zustimmung des Repräsentantenhauses. Nach Absatz 3 des Verfassungszusatzes kann der Präsident selbst – durch Schreiben an die Vorsteher der beiden Kammern des Kongresses – seine zeitweilige Amtsunfähigkeit erklären. Er kann auf dem gleichen Weg die Wiederherstellung seiner Amtsfähigkeit erklären. Zwischen diesen beiden Zeitpunkten übernimmt der Vizepräsident als kommissarischer Präsident die Rechte und Pflichten des Amtes, nicht jedoch das Amt selbst. Dabei ist der Sprecher des Repräsentantenhauses der gewählte Vorsitzende dieser Kammer und dem Präsidenten des Deutschen Bundestages vergleichbar. Präsident des Senates ist jedoch an sich der Vizepräsident. Dieser übt allerdings ausschließlich im Falle einer Stimmengleichheit ein Stimmrecht aus und sitzt den Verhandlungen im Senat nur selten vor. Der Senat wählt deswegen einen so genannten Präsidenten pro tempore (pro tem), d. h. einen Präsidenten „auf Zeit“, der im Falle der Abwesenheit des Vizepräsidenten formal die Sitzungen leitet. Es handelt sich dabei stets um den dienstältesten Senator der Mehrheitspartei; dieser überträgt die tatsächliche Sitzungsleitung aber meist seinerseits auf einen jüngeren Senator. Absatz 4 regelt in einem recht komplizierten Verfahren, wie die Amtsunfähigkeit des US-Präsidenten ohne oder gegen seinen Willen festgestellt werden kann: Wenn der Vizepräsident und die Mehrheit der Minister (secretaries) den Vorstehern der beiden Kammern schriftlich versichern, dass der US-Präsident nicht in der Lage ist, seinen Amtspflichten nachzukommen, so übernimmt der Vizepräsident unverzüglich die Amtsgeschäfte. Der Kongress kann statt des Kabinetts (principle Officers of the executive department) auch ein anderes Gremium mit einer solchen Aufgabe betrauen; von diesem Recht hat er jedoch bisher keinen Gebrauch gemacht. Eine Mitwirkung des Vizepräsidenten ist in jedem Falle erforderlich. Erklärt der Präsident gegenüber den Vorstehern der beiden Kammern, dass er nun wieder in der Lage sei, die Rechte und Pflichten des Amtes auszuüben, so übernimmt er diese wieder, es sei denn, dass der Vizepräsident und die Mehrheit der Minister binnen vier Tagen dieser Aussage widersprechen. Haben der Vizepräsident und die Mehrheit der Minister der Stellungnahme des Präsidenten widersprochen, so tritt der Kongress spätestens binnen 48 Stunden zusammen. Spätestens 21 Tage nach diesem Zeitpunkt muss er entscheiden, ob er mit Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern der Auffassung des Vizepräsidenten und der Mehrheit des Kabinetts zustimmt. Stimmt er nicht zu, so übernimmt der ursprüngliche Präsident wieder die Amtsgeschäfte. Der Verfassungszusatz regelt allerdings nicht, was passiert, wenn der Vizepräsident amtsunfähig wird. Grundsätzlich ergibt sich hieraus kein Problem, da das Amt des Vizepräsidenten bis auf die Funktion des tie-breakers im Senat ohne wichtige Kompetenzen ist. Stirbt allerdings der US-Präsident, so ist in der Verfassung nicht festgeschrieben, wer dann in der Funktion des „Vizepräsidenten“ die Amtsunfähigkeit des neuen Präsidenten feststellen lassen kann. Nach Absatz (a) des Gesetzes über die Nachfolge des Präsidenten (Presidential Succession Act) findet in diesem Fall die übliche Reihenfolge der Präsidentennachfolge Anwendung, mithin schlüpft der Sprecher des Repräsentantenhauses in die Rolle des Vizepräsidenten. Da dieses Verfahren allerdings verfassungsrechtlich nicht verankert ist (anders als es das im Bayh-Long-Vorschlag weiter unten gewesen wäre) und außerdem der Eindruck der Übernahme der Exekutive durch die Legislative entstehen könnte, bleibt festzustellen, dass sich hier eine Regelungslücke auftut, deren Eintritt zwar unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen ist. Auch wenn aufgrund des Presidential Succession Act die Reihenfolge feststeht, erscheint die Legitimation des Sprechers des Repräsentantenhauses als kommissarischer Präsident aufgrund ihrer nur einfachgesetzlichen Grundlage schwächer. Ähnliches gilt für den Fall der Erledigung des Amtes des Vizepräsidenten und der Notwendigkeit der Feststellung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten. Zudem enthält der 25. Verfassungszusatz keine Ermächtigungsgrundlage für ein solches Gesetz. Dafür enthält Artikel II Absatz 1 der Verfassung, also der ursprüngliche Verfassungstext, die Vorschrift, dass „the Congress may by Law provide for the Case of Removal, Death, Resignation or Inability, both of the President and Vice President, declaring what Officer shall then act as President, and such Officer shall act accordingly, until the Disability be removed, or a President shall be elected“, dass der Kongress also durch Gesetz Vorsorge für den Fall treffen kann, dass sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident seines Amtes enthoben werden, sterben, zurücktreten oder amtsunfähig werden, und festlegen kann, welcher Beamte als Präsident amtiert, bis die Amtsunfähigkeit behoben ist oder ein Präsident gewählt ist. Diese Ermächtigung zur einfachgesetzlichen Regelung erscheint allerdings als verfassungsrechtlich nicht einwandfrei, zumal der Sprecher des Repräsentantenhauses in diesem Fall einem deutlichen Interessenkonflikt unterläge, da er einerseits als unmittelbarer Anwärter auf das Präsidentenamt gilt, andererseits aber Mitglied des Gremiums ist, welches ebendiese Nachfolgeregelung beschlossen hat. Darüber hinaus ist nicht ganz klar, dass diese Stelle der ursprünglichen Fassung nicht durch den 25. Verfassungszusatz bereits gegenstandslos geworden ist. Historische Entwicklung Ursprünglicher Verfassungstext Der ursprüngliche Verfassungstext enthielt in seinem Artikel II Absatz 1, die Vorschrift, dass „[i]n Case of the Removal of the President from Office, or of his Death, Resignation, or Inability to discharge the Powers and Duties of the said Office, the same shall devolve on the Vice President“, dass also im Falle der Amtsenthebung des Präsidenten, seines Todes, seines Rücktrittes oder seiner Unfähigkeit, die Rechte und Pflichten des genannten Amtes auszuüben, dieselben (bzw. dasselbe) auf den Vizepräsidenten übergehe(n). Diese Vorschrift wurde als zweideutig angesehen, weil nicht klar war, ob der Vizepräsident nur die Rechte und Pflichten des Präsidenten („the same“ als „Powers and Duties“) übernehmen, also das Amt des Präsidenten kommissarisch ausüben, oder aber tatsächlich dem Präsidenten ins Amt nachfolgen sollte („the same“ als „the said Office“). Diese Frage wurde de facto mit dem Präzedenzfall 1841 beantwortet, als John Tyler nach William Henry Harrisons Tod diesem ins Amt folgte und sich fortan als Präsident aus eigenem Recht betrachtete, ja sogar Briefe an den „Acting President“ („amtierenden Präsidenten“) ungeöffnet zurückgehen ließ. Auch alle weiteren bis zur Ratifikation des 25. Verfassungszusatzes ins Präsidentenamt nachgerückten Vizepräsidenten (Millard Fillmore 1850, Andrew Johnson 1865, Chester A. Arthur 1881, Theodore Roosevelt 1901, Calvin Coolidge 1923, Harry S. Truman 1945 und Lyndon B. Johnson 1963) haben diese Ansicht verteidigt. Dennoch wurde diese Frage verfassungsrechtlich als nicht eindeutig beantwortet angesehen. Ausgangssituation zu Beginn der Diskussion über einen Verfassungszusatz Von der Ratifikation der US-Verfassung 1789 bis zur Verabschiedung des 25. Verfassungszusatzes 1967 gab es keine Möglichkeit, einen verstorbenen, zurückgetretenen oder ins Präsidentenamt nachgerückten Vizepräsidenten zu ersetzen. Das Amt blieb vakant bis zur nächsten regulären Wahl. Das Amt des Vizepräsidenten war bis 1967 insgesamt 16 Mal vakant, und zwar nach den Todesfällen von George Clinton (1812–1813), Elbridge Gerry (1814–1817), William R. King (1853–1857), Henry Wilson (1875–1877), Thomas A. Hendricks (1885–1889), Garret Hobart (1899–1901) und James S. Sherman (1912–1913), dem Rücktritt von John C. Calhoun (1832–1833) sowie nach dem Nachrücken ins Präsidentenamt von John Tyler (1841–1845), Millard Fillmore (1850–1853), Andrew Johnson (1865–1869), Chester A. Arthur (1881–1885), Theodore Roosevelt (1901–1905), Calvin Coolidge (1923–1925), Harry S. Truman (1945–1949) und Lyndon B. Johnson (1963–1965). Ebenso fehlte eine klare verfassungsrechtliche Regelung für den Fall, dass der Präsident amtsunfähig wird. Zwar enthielt Artikel II Absatz 1 der ursprünglichen Verfassung die Ermächtigung an den US-Kongress, für einen solchen Fall vorzusorgen. Dennoch erschien eine solche einfachgesetzliche Regelung unbefriedigend, da sich die elementare Frage der Ausübung der Rechte und Pflichten des Präsidenten nicht aus der Verfassung ergab: Weder konnte der Präsident selbst – etwa im Falle einer Operation und längeren Erholungsphase – seine Amtsunfähigkeit auf eine in der Verfassung vorgesehene Weise feststellen (lassen) noch konnte der Präsident von anderen verfassungsrechtlich einwandfrei für amtsunfähig erklärt werden. Im Falle einer Demenz oder eines Schlaganfalls bestand also die Gefahr eines politischen Vakuums: Auch wenn die Nachfolge durch Gesetz eindeutig geregelt war, war die (verfassungsrechtliche) Legitimation eines solchen (kommissarischen) Präsidenten beeinträchtigt. Allerdings musste sichergestellt werden, dass niemand den Präsidenten mit dem Vorschieben einer Amtsunfähigkeit staatsstreichartig aus dem Amt drängen konnte. Nach dem Attentat auf Präsident James A. Garfield 1881 lag dieser 80 Tage lang im Krankenbett und erließ nur eine einzige Verfügung, bis er schließlich am 19. September 1881 starb. Ihm folgte schließlich sein Vizepräsident Chester A. Arthur ins Amt nach. Die Frage der Vertretung des US-Präsidenten in diesem offensichtlichen Fall der Amtsunfähigkeit war hier ebenso akut wie nach dem Schlaganfall von Präsident Woodrow Wilson 1919. In diesem Fall wurde das ganze Ausmaß der Amtsunfähigkeit Wilsons sogar vor dem Vizepräsidenten und dem Kabinett geheim gehalten und erst nach seinem Tod öffentlich gemacht. Die Krankheit Wilsons, der bis zum März 1921 schwer behindert amtierte und schließlich am 3. Februar 1924 starb, gilt als der schwerste Fall der Amtsunfähigkeit eines US-Präsidenten. Wilson war zwar offenbar noch in der Lage, wichtige Dokumente, die ihm von seiner Frau gebracht wurden, durchzusehen; dennoch war seine Behinderung eines der wichtigsten Argumente für die Ausarbeitung des 25. Verfassungszusatzes. Schon während der Beratung des ersten Vorschlages zu einem 25. Verfassungszusatz 1963 wurde durch die Ermordung John F. Kennedys die Diskussion erneut angefeuert. Obwohl der erste im Amt ermordete US-Präsident seit 62 Jahren nicht lange im Koma lag, erschien es – zu einer Zeit der politischen Instabilität während einer Hochphase des Kalten Krieges und nur ein Jahr nach der Kuba-Krise – notwendig, verfassungsrechtliche Regelungen für den Fall zu schaffen, dass der Präsident ins Koma fiele oder sonst amtsunfähig würde. Ergänzung der amerikanischen Verfassung Die Ergänzung der amerikanischen Verfassung ist sehr schwierig. Sie geht stets vom Kongress aus: Entweder müssen der Senat und das Repräsentantenhaus mit Zweidrittelmehrheit eine Verfassungsänderung vorschlagen oder aber der Kongress beruft auf Ersuchen der Parlamente von zwei Dritteln der US-Bundesstaaten einen Konvent zur Ausarbeitung einer Verfassungsänderung ein. In der Regel geht eine Verfassungsänderung auf den Vorschlag einer Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Kongresses aus. Danach muss ein Verfassungszusatz von drei Vierteln der amerikanischen Bundesstaaten ratifiziert werden. Dabei entscheidet der Kongress, ob die Ratifikation durch die gesetzgebenden Körperschaften der Bundesstaaten oder aber durch Konvente in den einzelnen Bundesstaaten erfolgt. Meist wird ein Verfassungszusatz durch die Parlamente der Bundesstaaten angenommen. Möglichkeiten der Erledigung des Amtes des Präsidenten Neben der offensichtlichen Möglichkeit des Todes des US-Präsidenten sah die amerikanische Verfassung von Anfang an den Rücktritt dieses Amtsträgers vor. Hinzu kommt die Möglichkeit der Amtsenthebung (impeachment): Betrachtet das Repräsentantenhaus den Präsidenten des Treason, Bribery, or other high Crimes and Misdemeanors (Artikel II Absatz 4), also des Verrates, der Bestechung oder anderer schwerer Verbrechen und Vergehen, für schuldig, so erhebt es Anklage gegen den Präsidenten. Über die Verurteilung entscheidet der Senat unter dem Vorsitz des Chief Justice des Supreme Courts mit Zweidrittelmehrheit. Mit der Verurteilung wird der Präsident seines Amtes enthoben. Obwohl schon vier Mal gegen Präsidenten (Andrew Johnson 1868, Bill Clinton 1999 und Donald Trump 2019 und 2021) das formelle Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wurde, wurde noch nie ein Präsident vom Senat verurteilt. Bei Johnson fehlte eine Stimme, das Verfahren gegen Clinton scheiterte an einer deutlichen Mehrheit im Senat. Trump, der wegen zweier verschiedener Punkte angeklagt war, behielt beim ersten Mal sein Amt, ähnlich wie Clinton, weil die zur Amtsenthebung notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat deutlich verfehlt wurde. Sein zweites Amtsenthebungsverfahren endete erst nach Ende seiner Amtszeit, erneut mit einem Freispruch. Die vierte von der Verfassung vorgesehene Möglichkeit ist die Amtsunfähigkeit des Präsidenten. Obwohl sie als solche in der Verfassung verankert ist, wurde die Form ihrer Feststellung zunächst der einfachen Gesetzgebung des Kongresses unterworfen. Erst durch den 25. Verfassungszusatz wurde die Feststellung der Amtsunfähigkeit verfassungsrechtlich verankert. Der Keating-Kefauver-Vorschlag 1963 Im Jahr 1963 schlug der New Yorker Senator Kenneth Keating deshalb den folgenden, zunächst auch von der amerikanischen Anwaltskammer unterstützten Verfassungszusatz vor. Senator Estes Kefauver aus Tennessee, Vorsitzender des Unterausschusses für Verfassungszusätze und langjähriger Verfechter einer Lösung der Amtsunfähigkeitsfrage, brachte den Vorschlag voran, verstarb aber am 10. August 1963 an einem Herzinfarkt. Sein Tod führte faktisch zum Ende der Gesetzesinitiative. Allerdings wird vom heutigen Standpunkt aus die Ansicht vertreten, dass der Vorschlag die Fragen nicht beantwortet, sondern im Gegenteil noch verschärft hätte. Der Text des Vorschlages lautete wie folgt: In case of the removal of the President from office or of his death or resignation, the said office shall devolve on the Vice President. In case of the inability of the President to discharge the powers and duties of the said office, the said powers and duties shall devolve on the Vice President, until the inability be removed. The Congress may by law provide for the case of removal, death, resignation or inability, both of the President and Vice President, declaring what officer shall then be President, or, in case of inability, act as President, and such officer shall be or act as President accordingly, until a President shall be elected or, in case of inability, until the inability shall be earlier removed. The commencement and termination of any inability shall be determined by such method as Congress shall by law provide. Im Falle der Amtsenthebung des Präsidenten, seines Todes oder seines Rücktrittes geht das Amt auf den Vizepräsidenten über. Im Falle der Unfähigkeit des Präsidenten, die Rechte und Pflichten des Amtes auszuüben, gehen die genannten Rechte und Pflichten auf den Vizepräsidenten über, bis die Amtsunfähigkeit endet. Der Kongress kann durch Gesetz Regelungen für den Fall der Amtsenthebung, des Todes, des Rücktrittes oder der Amtsunfähigkeit sowohl des Präsidenten wie des Vizepräsidenten erlassen und darin festlegen, welcher Beamte in diesem Fall Präsident wird oder im Falle der Amtsunfähigkeit als Präsident amtiert; und dieser Beamte wird entsprechend Präsident oder amtiert als solcher, bis ein Präsident gewählt ist oder im Falle der Amtsunfähigkeit dieselbe früher beendet ist. Der Beginn und das Ende jeglicher Amtsunfähigkeit wird auf eine vom Kongress durch Gesetz festgelegte Weise bestimmt. An diesem Vorschlag wird insbesondere bemängelt, dass auch der Verfassungszusatz es weiterhin dem Kongress überlassen hätte, wie die Amtsunfähigkeit festgestellt wird. Auch wenn die faktisch schon weitgehend geklärte Frage der tatsächlichen Amtsübernahme durch den Vizepräsidenten durch diesen Entwurf (wie durch alle späteren Vorschläge) auch im Verfassungstext kodifiziert worden wäre, so hätte sich an der Situation, dass der Kongress einfachgesetzlich über die Feststellung der Amtsunfähigkeit entscheidet und dies eben nicht im Verfassungstext festgehalten ist, nichts geändert. Der Bayh-Long-Vorschlag 1965 Während der Keating-Kefauver-Vorschlag als zu ungenau angesehen wurde, betrachtete man den Vorschlag der Senatoren Bayh aus Indiana und Long aus Missouri als überexakt, zumal er das Gesetz über die Nachfolge des Präsidenten (Presidential Succession Act) mit in die Verfassung übernommen hätte. Auf diese Weise wäre also die Nachfolge des Präsidenten vollständig in der Verfassung verankert gewesen. Das Problem einer solchen mit der Tradition des Common Law ohnehin nicht übereinstimmenden exakten Festlegung der Verfassung zeigt sich jedoch immer dann, wenn der Presidential Succession Act von 1947 geändert werden soll. Seit 2005 berät der Kongress eine Änderung dieses Gesetzes, mit der der Minister für Innere Sicherheit in die Nachfolgerliste des Präsidenten aufgenommen werden und außerdem einige Änderungen in der Reihenfolge vorgenommen werden sollen. Zumindest zur Änderung der Reihenfolge wäre im Fall der Annahme des Bayh-Long-Vorschlages stets eine Verfassungsänderung notwendig gewesen. Der Text des Vorschlages lautete wie folgt: Section 1/Absatz 1 In case of the removal of the President from office, or of his death or resignation, the Vice President shall become President for the unexpired portion of the then current term. Within a period of thirty days thereafter, the new President shall nominate a Vice President who shall take office upon confirmation by both Houses of Congress by a majority of those present and voting. Im Falle der Amtsenthebung des Präsidenten, seines Todes oder seines Rücktrittes wird der Vizepräsident für den verbleibenden Teil der dann laufenden Amtszeit Präsident. Innerhalb eines Zeitraumes von dreißig Tagen benennt der neue Präsident einen Vizepräsidenten, der sein Amt antritt, nachdem er von beiden Häusern des Kongresses von der Mehrheit der Anwesenden und Abstimmenden bestätigt wurde. Section 2/Absatz 2 In case of the removal of the Vice President from office, or of his death or resignation, the President, within a period of thirty days thereafter, shall nominate a Vice President who shall take office upon confirmation by both Houses of Congress by a majority vote of those present and voting. Im Falle der Amtsenthebung des Vizepräsidenten, seines Todes oder seines Rücktrittes benennt der Präsident binnen eines Zeitraums von dreißig Tagen einen Vizepräsidenten, der sein Amt antritt, nachdem er von beiden Häusern des Kongresses von der Mehrheit der Anwesenden und Abstimmenden bestätigt wurde. Section 3/Absatz 3 If the President shall declare in writing that he is unable to discharge the powers and duties of his office, such powers and duties shall be discharged by the Vice President as Acting President. Wenn der Präsident schriftlich erklärt, dass er nicht in der Lage ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes auszuüben, werden diese Rechte und Pflichten vom Vizepräsidenten als kommissarischen Präsidenten ausgeübt. Section 4/Absatz 4 If the President does not so declare, the Vice President, if satisfied that such inability exists, shall, upon the written approval of a majority of the heads of the executive departments in office, assume the discharge of the powers and duties of the office as Acting President. Gibt der Präsident eine solche Erklärung nicht ab, so übernimmt der Vizepräsident die Ausübung der Rechte und Pflichten des Amtes als kommissarischer Präsident, sofern er überzeugt ist, dass eine solche Amtsunfähigkeit besteht, und mit der schriftlichen Zustimmung der Mehrheit der im Amt befindlichen Minister. Section 5/Absatz 5 Whenever the President makes public announcement in writing that his inability has terminated, he shall resume the discharge of the powers and duties of his office on the seventh day after making such announcement, or at such earlier time after such announcement as he and the Vice President may determine. But if the Vice President, with the written approval of a majority of the heads of executive departments in office at the time of such announcement, transmits to the Congress his written declaration that in his opinion the President’s inability has not terminated, the Congress shall thereupon consider the issue. If the Congress is not then in session, it shall assemble in special session on the call of the Vice President. If the Congress determines by concurrent resolution, adopted with the approval of two-thirds of the Members present in each House, that the inability of the President has not terminated, thereupon, notwithstanding any further announcement by the President, the Vice President shall discharge such powers and duties as Acting President until the occurrence of the earliest of the following events: (1) the Acting President proclaims that the President’s inability has ended, (2) the Congress determines by concurrent resolution, adopted with the approval of a majority of the Members present in each House, that the President’s inability has ended, or (3) the President’s term ends. Wann immer der Präsident öffentlich und schriftlich erklärt, dass seine Amtsunfähigkeit beendet ist, übernimmt er die Ausübung der Rechte und Pflichten seines Amtes am siebten Tag nach einer solchen Erklärung oder zu einem solchen früheren Zeitpunkt nach der Ankündigung, wie er und der Vizepräsidenten ihn bestimmen dürfen. Wenn aber der Vizepräsident, mit der schriftlichen Zustimmung der Mehrheit der zum Zeitpunkt einer solchen Ankündigung im Amt befindlichen Minister, dem Kongress seine schriftliche Erklärung übermittelt, dass nach seiner Meinung die Amtsunfähigkeit des Präsidenten nicht beendet ist, soll der Kongress daraufhin die Angelegenheit behandeln. Wenn der Kongress zu diesem Zeitpunkt nicht tagt, soll er sich auf Ruf des Vizepräsidenten hin zu einer Sondersitzung versammeln. Wenn der Kongress durch gleichlautende Entschließung, die von zwei Dritteln der in jedem Haus anwesenden Mitglieder beschlossen wurde, feststellt, dass die Amtsunfähigkeit des Präsidenten nicht beendet ist, übernimmt daraufhin ungeachtet irgendeiner weiteren Erklärung des Präsidenten der Vizepräsident die Ausübung der Rechte und Pflichten als kommissarischer Präsident, bis das früheste der folgenden Ereignisse eintritt: (1) der kommissarische Präsident erklärt, dass die Amtsunfähigkeit des Präsidenten beendet ist, (2) der Kongress beschließt durch gleichlautende Entschließung, die durch die Zustimmung einer Mehrheit der in jedem Haus anwesenden Mitglieder angenommen wird, dass die Amtsunfähigkeit des Präsidenten beendet ist, oder (3) die Amtszeit des Präsidenten endet. Section 6/Absatz 6 (a) (1) If, by reason of death, resignation, removal from office, inability, or failure to qualify, there is neither a President nor Vice President to discharge the powers and duties of the office of President, then the officer of the United States who is highest on the following list, and who is not under disability to discharge the powers and duties of the office of President, shall act as President: Secretary of State, Secretary of the Treasury, Secretary of Defense, Attorney General, Postmaster General, Secretary of Interior, Secretary of Agriculture, Secretary of Commerce, Secretary of Labor, Secretary of Health, Education and Welfare, and such other heads of executive departments as may be established hereafter and in order of their establishment. (a) (2) The same rule shall apply in the case of the death, resignation, removal from office, or inability of an individual acting as President under this section. (a) (3) To qualify under this section, an individual must have been appointed, by and with the advice and consent of the Senate, prior to the time of the death, resignation, removal from office, or inability of the President and Vice President, and must not be under impeachment by the House of Representatives at the time the powers and duties of the office of President devolve upon him. (b) In case of the death, resignation, or removal of both the President and Vice President, his successor shall be President until the expiration of the then current Presidential term. In case of the inability of the President and Vice President to discharge the powers and duties of the office of President, his successor, as designated in this section, shall be subject to the provisions of sections 3, 4, and 5 of this article as if he were a Vice President acting in case of disability of the President. (c) The taking of the oath of office by an individual specified in the list of paragraph (1) of subsection (a) shall be held to constitute his resignation from the office by virtue of the holding of which he qualifies to act as President. (d) During the period that any individual acts as President under this section, his compensation shall be at the rate then provided by law in the case of the President. (a) (1) Wenn aufgrund von Tod, Rücktritt, Amtsenthebung, Amtsunfähigkeit oder Fehlen der Wählbarkeit weder ein Präsident noch ein Vizepräsident die Rechte und Pflichten des Amtes des Präsidenten ausüben können, dann amtiert derjenige Beamte der Vereinigten Staaten, der auf der folgenden Liste am höchsten steht und nicht unfähig ist, die Rechte und Pflichten des Präsidenten auszuüben, als Präsident: der Außenminister, der Finanzminister, der Verteidigungsminister, der Generalstaatsanwalt, der Generalpostmeister, der Innenminister, der Landwirtschaftsminister, der Handelsminister, der Arbeitsminister, der Minister für Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt und danach solche Minister, deren Ämter in Zukunft gegründet werden und in der Reihenfolge ihrer Gründung. (a) (2) Die gleiche Regel findet Anwendung im Fall des Todes, des Rücktrittes, der Amtsenthebung oder der Amtsunfähigkeit einer Person, die als Präsident nach diesem Absatz amtiert. (a) (3) Um nach diesem Absatz wählbar zu sein, muss eine Person nach der Beratung und der Zustimmung durch den Senat vor dem Zeitpunkt des Todes, des Rücktrittes, der Amtsenthebung oder des Eintritts der Amtsunfähigkeit des Präsidenten oder Vizepräsidenten ernannt worden sein; und sie darf zum Zeitpunkt der Übertragung der Amtsgewalt nicht unter einer Anklage des Repräsentantenhauses stehen. (b) Im Fall des Todes, des Rücktrittes oder der Amtsenthebung sowohl des Präsidenten als auch des Vizepräsidenten ist der Nachfolger Präsident bis zum Ende der dann laufenden Amtszeit des Präsidenten. Im Falle der Amtsunfähigkeit des Präsidenten und des Vizepräsidenten unterliegt der nach diesem Absatz bestimmte Nachfolger den Vorschriften der Absätze 3, 4 und 5 dieses Artikels, als ob er Vizepräsident wäre, der wegen der Amtsunfähigkeit des Präsidenten als Präsident amtiert. (c) Das Leisten des Amtseides durch eine in Unterabsatz (a) Paragraph (1) bestimmte Person gilt als Rücktritt von jenem Amt, dessen Innehaben zum Zugang zum Amt als Präsident berechtigt. (d) Während der Zeit, in der eine Person als Präsident nach diesem Absatz amtiert, erhält er die durch Gesetz für den Präsidenten vorgesehene Entlohnung. Section 7/Absatz 7 This article shall be inoperative unless it shall have been ratified as an amendment to the Constitution by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years from the date of its submission. Dieser Artikel ist unwirksam, sofern er nicht binnen sieben Jahren nach dem Tag seiner Übermittlung von den gesetzgebenden Organen von drei Vierteln der Bundesstaaten als Zusatz zur Verfassung ratifiziert wird. Der ursprüngliche Cellar-Bayh-Vorschlag 1965 Der Verfassungszusatz wurde im Repräsentantenhaus am 4. Januar 1965 durch den Abgeordneten Emanuel Celler und im Senat am 6. Januar durch den Senator Birch Bayh eingebracht. Dieser lautete in seinen Absätzen 1 und 2 wie der dann später verabschiedete Verfassungszusatz. Die Absätze 3 bis 5 weichen allerdings von der endgültigen Fassung ab und lauteten wie folgt: Section 3/Absatz 3 If the President declares in writing that he is unable to discharge the powers and duties of his office, such powers and duties shall be discharged by the Vice President as Acting President. Wenn der Präsident schriftlich erklärt, dass er nicht in der Lage ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes auszuüben, werden diese Rechte und Pflichten vom Vizepräsidenten als kommissarischem Präsidenten ausgeübt. Section 4/Absatz 4 If the President does not so declare, and the Vice President with the written concurrence of a majority of the heads of the executive departments or such other body as Congress may by law provide, transmits to the Congress his written declaration that the President is unable to discharge the powers and duties of his office, the Vice President shall immediately assume the powers and duties of the office as Acting President. Gibt der Präsident eine solche Erklärung nicht ab und übermittelt der Vizepräsident dem Kongress mit der schriftlichen Zustimmung der Mehrheit der Minister oder eines anderen Gremiums, wie der Kongress durch Gesetz bestimmen kann, seine schriftliche Erklärung, dass der Präsident nicht in der Lage ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes auszuüben, übernimmt der Vizepräsident unverzüglich die Rechte und Pflichten des Amtes als kommissarischer Präsident. Section 5/Absatz 5 Whenever the President transmits to the Congress his written declaration that no inability exists, he shall resume the powers and duties of his office unless the Vice President, with the written concurrence of a majority of the heads of the executive departments or such other body as Congress may by law provide, transmits within two days to the Congress his written declaration that the President is unable to discharge the powers and duties of his office. Thereupon Congress will immediately decide the issue. If the Congress determines by two-thirds vote of both Houses that the President is unable to discharge the powers and duties of the office, the Vice President shall continue to discharge the same as Acting President; otherwise the President shall resume the powers and duties of his office. Wann immer der Präsident dem Kongress seine schriftliche Erklärung übermittelt, dass keine Amtsunfähigkeit besteht, übernimmt er die Rechte und Pflichten seines Amtes wieder, außer der Vizepräsident übermittelt mit der schriftlichen Zustimmung der Mehrheit der Minister oder eines anderen Gremiums, die der Kongress durch Gesetz bestimmen kann, dem Kongress binnen zwei Tagen seine schriftliche Erklärung, dass der Präsident nicht in der Lage ist, die Rechte und Pflichten seines Amtes auszuüben. Daraufhin entscheidet der Kongress unverzüglich über die Angelegenheit. Wenn der Kongress mit einer Mehrheit von zwei Dritteln in beiden Häusern feststellt, dass der Präsident nicht in der Lage ist, die Rechte und Pflichten des Amtes auszuüben, übt der Vizepräsident diese weiterhin als kommissarischer Präsident aus; anderenfalls übernimmt der Präsident die Rechte und Pflichten seines Amtes wieder. Die Änderung des Celler-Bayh-Vorschlages in den Ausschüssen und seine Ratifikation Bis zum 19. Februar 1965 fanden Anhörungen in beiden Häusern des Kongresses statt. An diesem Tag schließlich nahm der Senat mit einem einstimmigen Votum von 72:0 den Verfassungszusatz an. Das Repräsentantenhaus nahm das Amendment in einer etwas veränderten Form am 13. April 1965 mit einem Stimmenverhältnis von 368 zu 29 an. Nachdem ein Vermittlungsausschuss (Conference Committee) die leichten Textdifferenzen geglättet hatte, wurde die endgültige Fassung am 6. Juli 1965 vom Senat verabschiedet und an die Bundesstaaten zur Ratifikation übermittelt. Im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag oben wurde präzisiert, wem gegenüber Präsident und Vizepräsident eine Amtsunfähigkeit des Präsidenten erklären müssen, nämlich den Vorstehern der beiden Kammern des Kongresses. Weiter wurde die Einspruchsfrist des Vizepräsidenten, die im ursprünglichen Entwurf auf zwei Tage festgelegt wurde, auf vier Tage verlängert. Zudem wurde die Frist für den Zusammentritt des Kongresses auf 48 Stunden präzisiert, zuvor war nur die Rede von „immediately“ (unverzüglich). Nur sechs Tage später, am 12. Juli 1965, ratifizierte der Staat Nebraska den Verfassungszusatz als erstes. In den folgenden Monaten folgten weitere Bundesstaaten, aber erst am 10. Februar 1967 nahmen auch Minnesota und Nevada als 37. bzw. 38. Bundesstaat den Verfassungszusatz an und verhalfen ihm damit über die in der Verfassung vorgeschriebene Hürde von drei Vierteln der Bundesstaaten. Insgesamt wurde der Verfassungszusatz von 47 Staaten ratifiziert – lediglich North Dakota, Georgia und South Carolina haben dies nicht getan. Am 23. Februar 1967 fand im Ostflügel des Weißen Hauses eine Zeremonie statt, in der der für die Verkündung der Verfassungsänderung zuständige Beamte feierlich feststellte, dass der Zusatz Teil der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika geworden war. Anwendung und Diskussion des Zusatzes in der verfassungsrechtlichen Praxis Der 25. Verfassungszusatz wurde bisher fünfmal angewandt: Zweimal wurde ein Vizepräsident neu ernannt (Absatz 2), dreimal die Amtsgewalt vom Präsidenten an den Vizepräsidenten übertragen (Absatz 3). Hinzu kommt, dass 1974 Gerald Ford Richard Nixon ins Präsidentenamt nachfolgte (Absatz 1). Dies war das einzige Mal seit 1967, dass der Vizepräsident in verfassungsrechtlich kodifizierter Weise dem Präsidenten ins Amt nachfolgte. Eine Anwendung von Absatz 4, der Feststellung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten durch Vizepräsident und Kabinett, fand bisher nicht statt. Ernennung von Gerald Ford zum Vizepräsidenten 1973 Nach dem Rücktritt von Vizepräsident Spiro Agnew aufgrund von Bestechungsvorwürfen am 10. Oktober 1973 schlug Präsident Nixon dem Kongress am 13. Oktober 1973 den langjährigen Abgeordneten aus Michigan, Gerald Ford, als Nachfolger Agnews im Amt des Vizepräsidenten vor. Nach der Zustimmung der beiden Kammern (Repräsentantenhaus 387 zu 35, Senat 92 zu 3) übernahm Ford das Amt des Vizepräsidenten am 6. Dezember 1973. Ernennung von Nelson A. Rockefeller zum Vizepräsidenten 1974 Nach dem Rücktritt von Präsident Nixon folgte Ford diesem ins Amt des Präsidenten nach. Dadurch wurde das Amt des Vizepräsidenten erneut vakant. Nachdem er Melvin Laird und George Bush erwogen hatte, schlug Präsident Ford dem Kongress am 20. August 1974 den früheren Gouverneur von New York, Nelson A. Rockefeller, als seinen Nachfolger im Amt des Vizepräsidenten vor. Nach langen und umfangreichen Anhörungen, die insbesondere die Vermeidung von Interessenkonflikten des Vizepräsidenten zu den geschäftlichen Aktivitäten seiner Familie zum Ziel hatten, wurde er mit 287 zu 128 Stimmen im Repräsentantenhaus und 90 zu 7 Stimmen im Senat bestätigt und am 19. Dezember 1974 vereidigt. Nichtanwendung nach dem Reagan-Attentat 1981 Obwohl das Attentat auf Präsident Ronald Reagan am 30. März 1981, in dessen Folge dieser operiert wurde und einige Zeit seinen Pflichten nicht vollständig nachkommen konnte, als klassischer Fall der Anwendung des 25. Verfassungszusatzes angesehen wurde, lehnte Vizepräsident Bush es nach einer Diskussion mit seinen Beratern ab, den Präsidenten für amtsunfähig zu erklären, weil er ein solches Verfahren als kalten Staatsstreich betrachtete. Weder vorher noch nachher unternahm ein Vizepräsident den Versuch, den Präsidenten für amtsunfähig erklären zu lassen und selbst die Präsidentschaft zu übernehmen. Übertragung der Amtsgewalt auf Vizepräsident Bush durch Präsident Reagan 1985 Am 12. Juli 1985 unterzog sich Präsident Reagan einer Darmspiegelung, bei der eine durch Operation zu entfernende Geschwulst festgestellt wurde. Nachdem er von seinem Arzt darüber informiert worden war, dass die Operation innerhalb von wenigen Wochen durchgeführt werden müsste, entschied sich Reagan, die Operation unverzüglich anzusetzen. Am Nachmittag des 12. Juli besprach Reagan telefonisch mit seinem Rechtsberater Fred F. Fielding, ob er den 25. Verfassungszusatz anwenden sollte und ob eine solche Anwendung einen nicht erwünschten Präzedenzfall schaffen würde. Sowohl Fielding als auch der Stabschef des Weißen Hauses, Donald Regan, empfahlen dem Präsidenten die formale Übertragung der Amtsgewalt. Daraufhin wurden zwei Briefe entworfen, von denen aber nur einer die ausdrückliche Nennung von Absatz 3 des 25. Verfassungszusatzes enthielt. Um 10:32 Uhr am 13. Juli 1985 unterzeichnete Reagan den Brief, welcher den 25. Verfassungszusatz nicht ausdrücklich erwähnte, ordnete aber seine Übermittlung an die Vorsteher der beiden Kammern an, so wie es der Verfassungszusatz verlangt. Um 11:28 Uhr erhielten der Sprecher des Repräsentantenhauses und der Präsident pro tempore des Senats den Brief zugestellt, um 11:50 Uhr wurde Vizepräsident Bush offiziell mitgeteilt, dass er seit 22 Minuten als Präsident amtiere. Um 19:22 Uhr folgte der zweite Brief von Reagan, dass er wieder in der Lage sei, sein Amt auszuüben. Damit endete die kommissarische Präsidentschaft des Vizepräsidenten. Aufgrund von nicht eindeutigen Formulierungen und weil Reagan die Anwendung des Verfassungszusatzes in seinem Brief nicht ausdrücklich erwähnte, vertreten einige Verfassungsrechtler die Ansicht, dass Reagan die Amtsgewalt nicht wirksam an Vizepräsident Bush übertragen habe. Aus mehreren Büchern, darunter Reagans Autobiographie, ergibt sich jedoch, dass Reagan die Amtsgewalt wirksam im Sinne des 25. Verfassungszusatzes übertragen hatte, jedoch keinen Präzedenzfall schaffen wollte. Vereinbarungen zwischen dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten Präsident George Bush wie auch Präsident Bill Clinton hatten mit ihren Vizepräsidenten, Dan Quayle und Al Gore, Absprachen getroffen, wie im Falle ihrer Krankheit oder anderweitigen Amtsunfähigkeit zu verfahren sei. Diese Absprachen wurden jedoch nie öffentlich, da sie nicht zur Anwendung kamen, obwohl Bush während seiner Amtszeit zweimal ernsthaft erkrankt war. Präzisierungsforderungen von Ärzten 1996 nahmen Historiker und frühere Ärzte des Weißen Hauses in einem Bericht Stellung zur Erklärung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten und empfahlen, ihre Schlussfolgerungen in ein Gesetz zu fassen. Insbesondere forderten sie, dass für den Präsidenten und den Vizepräsidenten die Pflicht festgeschrieben wird, eine Vereinbarung zur Übertragung der Amtsgewalt auszuarbeiten, bevor sie vereidigt werden, dass der Hausarzt des Präsidenten bei der Frage der Feststellung der Amtsunfähigkeit vorrangig befragt werden sollte, dass dem Arzt des Weißen Hauses, der traditionell ein Mitglied des militärischen Büros des Weißen Hauses ist, ein offizieller Titel außerhalb der militärischen Befehlskette eingeräumt wird, dass die Feststellung der körperlichen Fähigkeiten des Präsidenten ausschließlich auf standardisierten medizinischen Tests beruhen sollte und dass die Präsidenten ihren Gesundheitszustand in vernünftiger Abwägung zwischen dem Recht auf Privatsphäre und dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit bekannt machen sollten. Der Forderung auf gesetzliche Verankerung der Vorschläge ist der Kongress bisher nicht nachgekommen. Übertragungen der Amtsgewalt auf Vizepräsident Cheney durch Präsident Bush 2002 und 2007 Ausdrücklich erwähnt und damit erstmals eindeutig angewendet wurde der 25. Verfassungszusatz am 29. Juni 2002, als Präsident George W. Bush sich einer Darmspiegelung unterzog und für einige Zeit seine Rechte und Pflichten an den Vizepräsidenten Dick Cheney übertrug. Der Brief von George W. Bush an die Vorsteher der beiden Kammern des Kongresses wurde um 7:09 Uhr unterzeichnet. Um 9:24 Uhr übermittelte er ein zweites Schreiben, in dem er erklärte, nun wieder in die Ausübung seiner Rechte und Pflichten einzutreten. Obwohl Bush nur etwas mehr als zwei Stunden betäubt war, wollte er jede Unsicherheit für den Fall vermeiden, dass während seiner Narkose ein unvorhergesehenes Ereignis stattfand: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 lagen weniger als ein Jahr zurück. Am 21. Juli 2007 unterzog sich Präsident Bush abermals einer Darmspiegelung. Wieder war er nur für kurze Zeit betäubt, wieder wollte er aber alle möglichen Vorkehrungen für ein unvorhergesehenes Ereignis treffen. Die maßgeblichen Schreiben wurden um 7:16 Uhr und um 9:21 Uhr übermittelt. Ratifizierung Der 25. Zusatzartikel wurde am 6. Juli 1965 vom US-Kongress vorgeschlagen, am 10. Februar 1967 ratifiziert: Nebraska: 12. Juli 1965 Wisconsin: 13. Juli 1965 Oklahoma: 16. Juli 1965 Massachusetts: 9. August 1965 Pennsylvania: 18. August 1965 Kentucky: 15. September 1965 Arizona: 22. September 1965 Michigan: 5. Oktober 1965 Indiana: 20. Oktober 1965 Kalifornien: 21. Oktober 1965 Arkansas: 4. November 1965 New Jersey: 29. November 1965 Delaware: 7. Dezember 1965 Utah: 17. Januar 1966 West Virginia: 20. Januar 1966 Maine: 24. Januar 1966 Rhode Island: 28. Januar 1966 Colorado: 3. Februar 1966 New Mexico: 3. Februar 1966 Kansas: 8. Februar 1966 Vermont: 10. Februar 1966 Alaska: 18. Februar 1966 Idaho: 2. März 1966 Hawaii: 3. März 1966 Virginia: 8. März 1966 Mississippi: 10. März 1966 New York: 14. März 1966 Maryland: 23. März 1966 Missouri: 30. März 1966 New Hampshire: 13. Juni 1966 Louisiana: 5. Juli 1966 Tennessee: 12. Januar 1967 Wyoming: 25. Januar 1967 Washington: 26. Januar 1967 Iowa: 26. Januar 1967 Oregon: 2. Februar 1967 Minnesota: 10. Februar 1967 Nevada: 10. Februar 1967 Connecticut: 14. Februar 1967 Montana: 15. Februar 1967 South Dakota: 6. März 1967 Ohio: 7. März 1967 Alabama: 14. März 1967 North Carolina: 22. März 1967 Illinois: 22. März 1967 Texas: 25. April 1967 Florida: 25. Mai 1967 Georgia, South Carolina und North Dakota haben den 25. Zusatzartikel nicht ratifiziert. Fiktionale Anwendungen des 25. Verfassungszusatzes Die Frage der Nachfolge des US-Präsidenten hat in mehr als einem Dutzend Büchern, Serien und Spielfilmen eine beträchtliche Rolle gespielt. Direkt auf den 25. Verfassungszusatz nehmen die folgenden Werke Bezug: Im Roman Thirty-four East von Alfred Coppel aus dem Jahr 1974 wird der Vizepräsident von arabischen Terroristen entführt. Gleichzeitig kommt der Präsident bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Da der Vizepräsident offenbar amtsunfähig ist, übernimmt der Sprecher des Repräsentantenhauses als kommissarischer Präsident die Macht. Er wird dabei aber als schwacher Charakter dargestellt, der vom Stabschef manipuliert wird. Der Roman Full Disclosure von William Safire aus dem Jahr 1978 enthält die Situation, dass der US-Präsident bei einem Attentat das Augenlicht verliert. Einige Minister betrachten dies als Amtsunfähigkeit und betreiben die Amtsübernahme durch den Vizepräsidenten nach dem 25. Verfassungszusatz. In der Komödie Dave von 1993 übernimmt nach einem Schlaganfall des Präsidenten dessen Doppelgänger das Präsidentenamt, weil der Vizepräsident vom Stabschef als zu moralisch für das Amt des Präsidenten eingeschätzt wird. Schließlich durchschaut der Doppelgänger das Spiel und sorgt dafür, dass der im Koma liegende echte Präsident für amtsunfähig erklärt wird und sein Vizepräsident das Amt übernimmt. Im Spielfilm The Enemy Within von 1994 sorgt der korrupte Stabschef für die Erklärung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten, damit der von ihm beeinflusste Vizepräsident ins Amt kommen kann. In den Romanen Ehrenschuld (Debt of Honor) und Befehl von oben (Executive Orders) von Tom Clancy aus den Jahren 1994 und 1996 tritt der Vizepräsident nach einem Skandal zurück, woraufhin Clancys Romanheld Jack Ryan nach einstimmigem Votum des Kongresses zum Vizepräsidenten ernannt wird. Vor seiner Vereidigung fliegt jedoch ein Flugzeug ins Kapitol und tötet nahezu alle Mitglieder des Kongresses sowie den Präsidenten. Ryan wird als Präsident vereidigt, doch der frühere Vizepräsident behauptet, nie wirksam zurückgetreten zu sein. Die bekannteste Anwendung des 25. Verfassungszusatzes dürfte im Spielfilm Air Force One von Wolfgang Petersen vorkommen: Das Flugzeug des Präsidenten wird mit ihm an Bord entführt. Da der Präsident in der Maschine bleibt und möglicherweise wegen seiner Familie erpressbar ist, versucht der Verteidigungsminister in Washington, die Vizepräsidentin zur Erklärung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten zu bewegen, was diese jedoch verweigert. Diese Verweigerung steht in Übereinstimmung mit der sich entwickelnden Tradition in der Realpolitik, nämlich dass der Vizepräsident nur im absoluten Notfall die Amtsunfähigkeit des Präsidenten erklärt. In der Folge Twenty Five der Fernsehserie The West Wing wendet Präsident Bartlet nach der Entführung seiner Tochter den 25. Verfassungszusatz an. Da zu dieser Zeit noch kein neuer Vizepräsident ernannt ist (Vizepräsident Hoynes ist kurz zuvor zurückgetreten), geht das Präsidentenamt auf den Sprecher des Repräsentantenhauses Glen Allen Walken über. Dieser tritt aber ausdrücklich vor Übernahme des Präsidentenamtes von seinem Amt als Sprecher des Repräsentantenhauses zurück, damit die Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Legislative gewahrt bleibt. Walken fungierte als Präsident ab Sonntag, den 8. Mai 2003, bis Dienstag, den 10. Mai 2003. Ebenfalls in der Fernsehserie The West Wing stirbt am Wahltag der fiktiven US-Präsidentschaftswahlen 2006 der demokratische Vizepräsidentschaftskandidat. Trotz seines Todes wird er zum „Vizepräsidenten“ gewählt. Der neue gewählte Präsident ernennt nach seiner Amtseinführung einen neuen Vizepräsidenten. In der zweiten Staffel der Fernsehserie 24 übernimmt der Vizepräsident kurzzeitig die Amtsgewalt mit Zustimmung der Ministerrunde, da der Präsident sich weigert, mit einem Vergeltungsschlag auf die Explosion einer nuklearen Bombe zu reagieren. In der vierten Staffel mit anderen Amtsträgern wird der Vizepräsident Nachfolger des amtierenden Präsidenten, welcher auf Grund eines Attentats auf die Air Force One für unbestimmte Zeit regierungsunfähig ist. In der sechsten Staffel schließlich wird ein Anschlag auf den Präsidenten verübt, wobei dieser schwer verletzt wird. Nach einer kurzen Behandlung ist er aber wieder im Stande, die Amtsgeschäfte zu führen. Der Vizepräsident will dennoch vom Kabinett die Amtsunfähigkeit des Präsidenten feststellen lassen, da dieser sich weigert, nach einem atomaren Terroranschlag einen Vergeltungsschlag zu führen. Die Abstimmung scheitert jedoch an der nötigen Mehrheit. In der Pilotfolge der Fernsehserie Commander in Chief (in deutschsprachiger Ausstrahlung Welcome, Mrs. President) stirbt Präsident Teddy Bridges, weshalb die Protagonistin Mackenzie Allen als Vizepräsidentin fortan das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ausfüllt. Der 25. Verfassungszusatz wird speziell in der Folge The Elephant in the Room (Der Elephant im Porzellanladen) erwähnt, als Präsidentin Allen infolge eines Blinddarmdurchbruches vorübergehend amtsunfähig wird. Weil zu diesem Zeitpunkt das Amt des Vizepräsidenten vakant ist (der von Präsidentin Allen gewünschte Vizepräsident Warren Keaton war zurückgetreten), tritt der Sprecher des Repräsentantenhauses und Gegenspieler der Präsidentin Nathan Templeton für wenige Stunden das Amt des Präsidenten an. Im Kinofilm White House Down von Roland Emmerich (Deutscher Kinostart: September 2013) kommt der Zusatzartikel zum zweifachen Einsatz. Zunächst wird der bei einem paramilitärischen Angriff auf das Weiße Haus fälschlicherweise für tot erklärten US-Präsidenten James W. Sawyer durch den Vizepräsidenten Alvin Hammond ersetzt. Als dieser wiederum bei einem Raketenangriff auf die Air Force One ums Leben kommt, wird der Sprecher des Repräsentantenhauses Eli Raphelson kurzerhand zum Präsidenten vereidigt. Der Kreis schließt sich, als sich der totgeglaubte James W. Sawyer aus den Trümmern des weißen Hauses rettet und den an einem Komplott beteiligten Eli Raphelson verhaften lässt – womit Sawyer der neue alte Präsident wird. In der US-amerikanischen Serie House of Cards tritt zunächst Vizepräsident Jim Matthews nach etwa einem Jahr im Amt zurück, um für die Demokraten erneut das Gouverneursamt in Pennsylvania zu gewinnen. Präsident Garrett Walker ernennt daraufhin die Hauptfigur der Serie, Francis Underwood, zum neuen Vizepräsidenten. Aufgrund einer Spendengeldaffäre tritt Präsident Walker etwa ein Jahr später zurück, um einer drohenden Amtsenthebung zu entgehen. Underwood, der hinter den Kulissen selbst maßgeblich zu Walkers Sturz beigetragen hat, rückt daraufhin am Ende der zweiten Staffel selbst zum Präsidenten auf. Seinerseits ernennt er mit Donald Blythe einen Vizepräsidenten. In der vierten Staffel wird auf Präsident Underwood ein Attentat verübt, das ihn auf unbestimmte Zeit amtsunfähig macht. Vizepräsident Blythe wird vom Kabinett zum kommissarischen Präsidenten ernannt. Nach einer erfolgreichen Lebertransplantation unterzeichnet Underwood in Anwesenheit des Kabinetts ein Dokument, das ihn wieder zum Präsidenten macht. Im Kinofilm Iron Man 3 wird der Präsident entführt und soll später auf einem Öltanker verbrannt werden. Dies soll öffentlichkeitswirksam medial übertragen werden, obwohl es dem Antagonisten Aldrich Killian nur darum geht ihn zu töten, damit der Vizepräsident nachrückt. Dieser wurde zuvor von Killian geködert, welcher verspricht die Behinderung seiner Tochter zu heilen. In der US-amerikanischen Serie Designated Survivor werden verschiedene verfassungsrechtliche Szenarien durchgespielt. Die Hauptfigur Thomas Kirkman ist ursprünglich Minister und kommt kommissarisch ins Amt des Präsidenten, als eine Bombe während der State of the Union Address detoniert. Dabei werden sowohl Präsident als auch Vizepräsident und alle anderen in der Nachfolge des Präsidenten vor ihm stehenden Personen getötet. Nachdem ein neuer Kongress durch Nachwahlen gebildet wurde, schlägt er mittels des 25. Zusatzartikels den Kongressabgeordneten Peter MacLeish vor, der dann zum Vizepräsidenten gewählt wird. Bei dessen Vereidigung wird Kirkman angeschossen und muss operiert werden. Er übergibt seine Amtsgeschäfte gemäß dem Verfassungszusatz für einige Stunden an MacLeish. Nach Kirkmans Erwachen aus der Narkose nimmt er Kontakt zur Vorsitzenden des Repräsentantenhauses und dem – da noch nicht neu gebildeten – vorläufigen Senat auf und amtiert wieder als Präsident. Literatur Robert E. Gilbert: „The Contemporary Presidency“: The Twenty-Fifth Amendment: Recommendations and Deliberations of the Working Group on Presidential Disability. In: Presidential Studies Quarterly. Vol. 33, No. 4, Dezember 2003, , S. 877–888. John D. Feerick: The Twenty-Fifth Amendment, Its Complete History and Earliest Applications. Fordham University Press, New York 1998. ISBN 0-8232-1373-0. Herbert L. Abrams: “The President Has Been Shot”: Confusion, Disability, and the 25th Amendment. Stanford University Press, Stanford Cal 1994. ISBN 0-8047-2325-7. Birch Bayh: One Heartbeat Away, Presidential Disability and Succession. Bobbs-Merrill Co., Indianapolis 1968. ISBN 0-672-51160-6. Einzelnachweise Anmerkungen Weblinks Informationsseite des US-Senates zum 25. Verfassungszusatz Quellen 25 Rechtsquelle (20. Jahrhundert) Exekutive (Vereinigte Staaten) Politik 1965
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kettenschifffahrt
Kettenschifffahrt
Die Kettenschifffahrt (häufig auch mit dem Oberbegriff Tauerei bezeichnet) wurde in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf mehreren europäischen Flüssen angewendet. Sie revolutionierte die Flussschifffahrt insofern, als ein mit einer Dampfmaschine angetriebenes Schiff selbstfahrend wurde, und somit das bisher übliche Treideln (vorwiegend bei Bergfahrt erforderlich) entfiel, und, dass dieses Schiff zusätzlich mehrere antriebslose Binnenschiffe – sogenannte Schleppkähne – ziehen konnte. Es entstand die Schleppschifffahrt mit Kettenschleppschiffen. Der Antrieb geschah mit Hilfe einer Kettentrommel, von der aus sich das Schiff gegen eine im Fluss liegende Kette abstützte. Diese wurde über das Vorschiff aus dem Wasser gehoben, lief gewunden um die von der Dampfmaschine angetriebene Kettentrommel über das Deck und versank hinten wieder im Fluss. Die Kette lag durchgehend, den Flusswindungen folgend, in der Mitte des Flusses. Zahlreiche der damals nicht begradigten Flüsse zeichneten sich durch starke Strömung und geringe Tiefe aus, wofür Raddampfer weniger geeignet waren. Die Kettenschifffahrt begann auf der Seine in Frankreich und der Elbe in Deutschland, sie fand aber auch auf anderen Flüssen wie Neckar, Main und Saale statt. Anfänglich fuhren die Kettenschiffe auch talwärts an der Kette. Wegen der zeitraubenden und komplizierten Kreuzungsmanöver zwischen berg- und talwärts fahrenden Schiffen wurden die Kettenschleppschiffe aber bald für die Talfahrt mit einem zusätzlichen Hilfsantrieb ausgerüstet. Geschichtliche Entwicklung Technische Vorstufen vor dem 19. Jahrhundert Der Warentransport auf dem Fluss war in der Zeit vor der Kettenschifffahrt beschränkt auf Holzschiffe ohne eigenen Antrieb. Flussabwärts ließ man die Boote treiben oder nutzte mit Segeln die Windkraft aus. Flussaufwärts zogen Menschen und/oder Tiere vom Ufer aus die Boote an langen Seilen, was als Treideln bezeichnet wird. In seichten Gewässern konnten die Boote auch durch Staken (Abstoßen des Bootes vom Flussgrund mit Hilfe von langen Stangen) flussaufwärts bewegt werden. Dort, wo ein Treideln vom Ufer nicht möglich war, wurde eine Fortbewegung praktiziert, die man als „Warpen“ bezeichnet. Diese Stromabschnitte konnten überwunden werden, indem man oberhalb der betreffenden Stelle ein Seil verankerte, an dem sich die Besatzung auf ihrem Boot stromaufwärts zog. Der italienische Ingenieur Jacopo Mariano zeigte in einer Bilderhandschrift aus dem Jahr 1438 eine Abbildung mit der Grundidee der späteren Kettenschifffahrt. Das Schiff zieht sich an einem längs im Fluss verlegten Seil flussaufwärts. Das Seil ist dabei um eine mittlere Welle geschlagen, die von zwei seitlichen Wasserrädern angetrieben wird (siehe obere Abbildung). Hinter dem Schiff befindet sich ein kleiner schiffsartiger Körper, der von der Strömung erfasst wird, das Seil straff hält und so für die nötige Reibung auf der Welle sorgt. Fausto Veranzio beschrieb um 1595 ein System der Seilschifffahrt, das eine höhere Geschwindigkeit erlaubte und ebenfalls ohne zusätzliche Antriebsmaschine auskommt. Zwei Boote sind mit einem Seil verbunden, das über eine fest im Fluss verankerte Umlenkrolle geführt wird. Das flussabwärts fahrende kleinere Boot wird durch die großen, beidseitig angebrachten Wassersegel stärker vom Wasser getrieben und zieht damit das größere Boot gegen den Strom bergauf. Das große Lastschiff hat auf dem Bild zwei seitliche Wasserräder, die zusätzlich das Seil aufwickeln und somit die Geschwindigkeit erhöhen. Es ist jedoch nicht überliefert, inwieweit das System auch praktisch zum Einsatz kam. 1723 beschrieb der spätere kursächsische Kommerzienrat Paul Jacob Marperger einen Vorschlag des Mathematikprofessors Nicolaus Molwitz aus Magdeburg zur Verwendung eines mechanischen Hilfsmittels, um den schnellen Wasserfall unter den Magdeburgischen Brücken zu überwinden. Bis dahin seien wohl 50 Mann für die Überwindung dieses Flussabschnittes nötig gewesen. Die Idee war, eine „Maschine“ mit zwei liegenden Wellen zu bauen, wobei die Taue derart um die vordere Welle umgeschlagen werden sollten, dass diese sich immer wieder von der vorderen Welle abwickeln und auf die hintere Welle aufwickeln. Durch zusätzlichen Einsatz von Hebeln sollte es nach Marperger möglich sein, mit fünf oder sechs Mann für die Schiffspassage auszukommen. Er betont aber gleichzeitig, dass die Maschine zwar „angegeben“, aber nie „zum Gebrauch gekommen“ sei. Aufgrund der Beschreibung scheinen Teile dieses Grundprinzips dem Aufbau späterer Kettenschiffe ähnlich zu sein. Dieser Flussabschnitt war später auch der Ausgangspunkt für die ersten Kettenschiffe in Deutschland. Die ersten praktischen Versuche mit einem Seilschiff gab es 1732 auf Veranlassung des in französischen Diensten stehenden Marschalls Moritz von Sachsen. Diese fanden auf dem Rhein in der Nähe von Straßburg statt. Drei Trommelpaare mit unterschiedlichem Durchmesser waren dazu auf einer drehbar gelagerten und durch zwei Pferde angetriebenen senkrechten Achse angeordnet. Das Seil wurde je nach benötigter Kraft durch Umwicklung eines der Trommelpaare bewegt, während die anderen beiden Trommelpaare frei mitliefen. Diese variable Übersetzung ermöglichte eine bessere Ausnutzung der Kraft. Verglichen mit dem Treideln von Land aus verdoppelte sich bei gleicher eingesetzter Pferdeanzahl die vorwärtsbewegte Last. Versuche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ab 1820 gab es in Frankreich gleich mehrere Erfinder, die sich mit der technischen Umsetzung des Antriebs von Schiffen mit Seilen oder Ketten beschäftigten. Dazu zählten auch die Ingenieure Ambroise-Théodore Tourasse und Courteaut mit ihren Versuchen auf der Saône bei Lyon. Sie befestigten ein etwa 1 km langes Zugseil aus Hanf am Ufer. Dieses wurde auf einer auf dem Schiff befindlichen Trommel aufgewickelt und so das Schiff vorwärts gezogen. Sechs Pferde sorgten für die Bewegung der Trommel. Mit der fortschreitenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert nahm der Bedarf an Transportkapazitäten auf dem Wasserwege deutlich zu. Die Industrialisierung revolutionierte aber auch das Transportwesen selbst. Mit der Dampfmaschine stand der erste Motor für einen unabhängigen Antrieb der Schiffe zur Verfügung. Die Leistung der ersten Dampfmaschinen war jedoch noch relativ gering, während ihr Gewicht gleichzeitig sehr hoch war. So suchte man nach Möglichkeiten, die Kraft möglichst effektiv in eine Bewegung des Schiffes umzusetzen. Etwas später führten die beiden Ingenieure Tourasse und Courteaut auf der Rhone zwischen Givors und Lyon Versuche unter Anwendung der Dampfkraft durch. Ein mit Dampf betriebenes Begleitschiff transportierte das 1000 Meter lange Hanfseil flussaufwärts und verankerte es hier an Land. Danach fuhr das Begleitschiff zurück und brachte das untere freie Seilende zum eigentlichen Tauer. Dieser zog sich am Seil flussaufwärts und gab dabei das Seil während des Zuges wieder an die Trommel des Begleitschiffs ab. Während dieser Prozedur startete ein zweites Begleitschiff, eilte flussaufwärts, um dort ein zweites Seil zu verankern und so Wartezeit zu sparen. Vinochon de Quémont ersetzte bei Versuchen auf der Seine das Seil durch eine Kette. Zu den Ergebnissen der ersten Versuche ist im Jahrbuch der Erfindungen von 1866 zu lesen: Wiewol bei allen diesen [bisherigen] Versuchen keine durchlaufende Kette in Anwendung kam, sondern die Zugkette immer von neuem wieder durch ein Boot ein Stück vorwärts geschafft werden musste, ehe das Schiff in Gang gesetzt werden konnte, so erschienen doch die Resultate so befriedigend, daß bereits im Jahre 1825 sich unter der Leitung von Edouard de Rigny eine Gesellschaft zum Befahren der Seine auf der Strecke Rouen-Paris nach diesem Systeme bildete. Die Einführung der „entreprise de remorquage“ scheiterte jedoch infolge fehlerhafter Konstruktion. Der Kettendampfer „La Dauphine“ war nicht genau nach den Angaben von Tourasse gebaut worden. Der Tiefgang des Schiffes war zu groß und die Maschine zu schwach. Außerdem befanden sich die Winden zu weit hinten auf dem Deck. Aber auch die Kapitalkraft der Gesellschaft war zu gering. 1826 erprobte François Bourdon eine Variante mit zwei Dampfzugschiffen. Eines der Schiffe fuhr angetrieben durch ein Schaufelrad voraus und wickelte gleichzeitig ein Seil mit einer Länge von 600 m ab. Nach dem Abwickeln ankerte es und zog das zweite Zugschiff mit den angehängten Kähnen zu sich herauf, wobei das hintere Zugschiff den Vorgang durch seinen eigenen Antrieb unterstützte. Danach tauschten die beiden Zugschiffe die Position und die gleiche Prozedur lief erneut ab. Durch die Ankermanöver ging jedoch sehr viel Zeit verloren. Seit diesen Versuchen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die Technik der Kettenschifffahrt ständig und kam auf der Seine in Frankreich das erste Mal erfolgreich zur Anwendung. Auch andere französische Flüsse und Kanäle wurden anschließend mit der Kette versehen. In Deutschland war die Kette in Elbe, Neckar, Main, Spree, Havel, Warthe und Donau verlegt worden und auch in Russland war die Kettenschifffahrt verbreitet. Insgesamt waren in Europa etwa 3300 Kilometer Kette verlegt. Veränderungen durch die Kettenschifffahrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die Kettenschifffahrt revolutionierte die Binnenschifffahrt vor allem auf Flüssen mit stärkerer Strömung. Verglichen mit der bis dahin üblichen Treidelschifffahrt konnte ein Kettendampfer bedeutend mehr und deutlich größere Frachtkähne ziehen. Die mögliche Zuladung eines einzelnen Schleppkahns stieg in wenigen Jahren auf das Fünffache an. Außerdem war der Transport an der Kette ungleich schneller und billiger. Die Anzahl der möglichen Fahrten eines Schiffes erhöhten sich zum Beispiel auf der Elbe fast auf das Dreifache. Statt zwei Reisen konnten die Schiffer jährlich sechs bis acht Reisen durchführen oder statt 2500 Kilometer jährlich bis zu 8000 Kilometer zurücklegen. Die Lieferfristen wurden demgemäß verkürzt und zuverlässiger eingehalten bei gleichzeitig sinkenden Kosten. Durch den Einsatz der Dampfmaschine war es überhaupt erst möglich, den steigenden Bedarf an Transportkapazitäten der zunehmenden Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu decken. Den Schiffern mit ihren Frachtkähnen bot die Kettenschifffahrt auch die Möglichkeit, sich gegen die zunehmende Konkurrenz der Eisenbahnen zu behaupten. Vor der Einführung der Kettenschifffahrt waren zwar auf einigen Flussabschnitten schon Raddampfer als Schlepper und Frachtschiffe tätig, sie führten aber nicht zum Durchbruch im Massentransport. Die Raddampfer konnten aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Wasserstand des Flusses keinen regelmäßigen Transport garantieren. Erst regelmäßige Fahrpläne mit schnellen Verbindungen, sowie garantierte, niedrige Befördungsentgelte der Kettenschifffahrt ließen die Schleppschifffahrt konkurrenzfähig werden. Mit der Entwicklung und Verbreitung neuer Antriebe wie Schraubenantrieb und Dieselmotor in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten sich selbstfahrende Schiffe immer mehr durch. Der Ausbau der Flusssysteme (Kanalisierung und Schleusenbau), sowie die Konkurrenz auf Straße und Schiene reduzierten die Rentabilität der auf kontinuierlichen Schleppbetrieb ausgelegten Kettenschifffahrt weiter. Kettenschlepper kamen nur noch vereinzelt an besonders schwierigen Flussabschnitten zum Einsatz. Verbreitung der Kettenschifffahrt Frankreich Im Jahr 1839 wurde der erste technisch und wirtschaftlich erfolgreiche Kettendampfer „Hercule“ gebaut und auf einem etwa 5 bis 6 Kilometer langen, strömungsreichen Abschnitt der Seine innerhalb des Stadtgebietes von Paris eingesetzt. An diesem Flussabschnitt war Edouard de Rigny einige Jahre zuvor aufgrund technischer Schwierigkeiten gescheitert. Ausgehend von Paris breitete sich die Kettenschifffahrt ab 1854 bis zur flussaufwärts liegenden Stadt Montereau an der Mündung der Yonne, sowie flussabwärts bis Conflans (an der Einmündung der Oise) aus. Ab 1860 erfolgte der Ausbau in Richtung Seinemündung sogar bis Le Trait. Die maximale Gesamtlänge der Kette in der Seine betrug 407 Kilometer. Hinzu kam ab 1873 noch eine 93 Kilometer lange Strecke auf der Yonne selbst (zwischen Montereau und Auxerre). Die Beschaffenheit des Flussbettes der Seine bot optimale Bedingungen für die Kettenschifffahrt. Der Fluss war gleichmäßig tief, hatte ein relativ starkes Gefälle und sein Bett gestaltete sich sandig und regelmäßig. Im Gegensatz dazu waren die Flüsse, deren Quelle in der Alpenregion liegt, weniger geeignet. Diese führten vor allem bei starken Fluten große Mengen Sand mit sich. Die Kette wurde bei Versuchen der Kettenschifffahrt auf der Rhone immer wieder auf großen Strecken von Sand und Geröll begraben. Auch die Versuche auf der Saône scheiterten und wurden relativ schnell eingestellt. Außer auf Flüssen diente die Kettenschifffahrt in Frankreich auch zum Schiffstransport auf Kanälen. Die Tunnel im Bereich der Scheitelhaltung waren sehr lang und elektrisch angetriebene Kettenschlepper schleppten hier die Schiffe. Aufgrund der mangelnden Entlüftung der Tunnelanlage sind die elektrisch betriebenen Kettenschlepper auch nach Einführung der selbstfahrenden Motorschiffe zum Teil bis heute in Betrieb. Belgien In Belgien verkehrten ab 1866 Kettendampfer auf dem Canal de Willebroek zwischen Brüssel und der Einmündung in die Rupel. Im Gegensatz zu den Kettenschleppern in Frankreich und Deutschland kam bei den Kettenschleppern in Belgien ein System von Bouquié zum Einsatz, bei dem die Kette nicht über die Mittellinie des Schiffes, sondern nur über eine Kettenscheibe an der Seite des Schiffes geführt wurde. Die Kettenscheibe war mit Zähnen besetzt, um das Gleiten der Kette zu verhindern. Jeden Tag verkehrten etwa fünf Schleppzüge in beide Richtungen, wobei jeder Zug 6 bis 12 Schiffe enthielt. Jede Haltung besitzt ihr eigenes Kettenschiff, so dass die Kette an den Schleusen unterbrochen und jedes Kettenende am Schleusenhaupt an einem Anbindepfahl befestigt ist. Deutsches Reich und Kaiserreich Österreich Elbe und Saale In Deutschland begann die Kettenschifffahrt 1866 mit dem Verlegen einer eisernen Kette an der Elbe. Der erste, reguläre Schleppdienst mit einem Kettendampfer wurde auf einem Teilstück der Elbe zwischen Magdeburg-Neustadt und Buckau realisiert. Die Länge dieser Strecke betrug etwa eine dreiviertel Preußische Meile (gut 7,5 km – Streckenlänge somit 5 bis 6 km). Dort weist die Elbe durch den Domfelsen eine besonders hohe Strömungsgeschwindigkeit auf. Die Hamburg-Magdeburger Dampfschifffahrtsgesellschaft betrieb dort die Kettendampfer. Die ersten beiden Dampfschiffe auf der Elbe waren bei 6,7 Meter Breite und 51,3 Meter Länge mit etwa 45 kW (60 PS) motorisiert und zogen vier Lastkähne bis zu 250 Tonnen. 1871 lag die Kette bereits von Magdeburg bis Schandau an der böhmischen Grenze. Drei Jahre später erweiterte die Hamburg-Magdeburger Dampfschifffahrtsgesellschaft die Strecke Richtung Nordwesten bis Hamburg. Auf einer Gesamtlänge von 668 Kilometern rasselten bis zu 28 Kettenschlepper die Elbe stromaufwärts. In den Jahren 1926/27 wurde in weiten Abschnitten der Elbe die Kettenschifffahrt eingestellt und die Ketten gehoben. Die Kettendampfer wurden nur noch in besonders schwierigen Streckenabschnitten eingesetzt. Der letzte Teilabschnitt in Böhmen wurde 1948 eingestellt. An der Saale wurde 1873 die Strecke von der Mündung der Saale bis Calbe in Betrieb genommen und bis zum Jahr 1903 bis nach Halle (105 km Kette) verlängert. Das letzte Kettenschiff auf der Saale verkehrte 1921. Donau Nach Erteilung der Konzession zur Ausübung der Kettenschifffahrt im Jahr 1869 wurde die Kette von der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft von Wien etwa 65 km abwärts bis Preßburg (dt. Bezeichnung für Bratislava) verlegt. Im Jahre 1871 kam es jedoch auf einigen Streckenabschnitten schon zum Verbot der Kettenschifffahrt. Ab 1881 fuhren Kettenschiffe auf der Donau auch von Spitz etwa 110 km aufwärts bis Linz. Es standen zehn Kettenschiffe im Einsatz. Immer häufiger brechende Ketten (im Schnitt einmal pro Reise) waren 1890 der Grund für den Umbau der Kettenschiffe in Zugschiffe. Im Jahre 1891 wurde der Kettenschifffahrtsbetrieb zwischen Regensburg und Hofkirchen (113 km) aufgebaut. 1896 kam es zur Einstellung der Kettenschifffahrt zwischen Wien und Ybbs, sowie 1906 dann auch zur Einstellung der Kettenschifffahrt zwischen Regensburg und Hofkirchen. Aufgrund der starken Strömung auf der Donau konnten die Kettenschiffe talwärts nicht an der Kette fahren. Sie hatten daher als zusätzlichen Antrieb große seitliche Schaufelräder mit 300–400 PS. Brahe Die 15 Kilometer lange untere Brahe (polnisch Brda) diente als Verbindungsstrecke zwischen Weichsel und dem gut ausgebauten Wasserwegenetz mit Westeuropa. Dieser Wasserweg war insbesondere für den Holztransport von Bedeutung, allerdings musste das Floßholz auf der Brahe zwischen der Mündung in die Weichsel und der Bromberger Stadtschleuse flussaufwärts geschleppt werden. Hierzu wurden auf dem nur etwa 26 Meter breiten, krümmungsreichen und relativ schnell fließenden Flussabschnitt lange Zeit Pferde eingesetzt. Am 12. November 1868 richteten die Inhaber des für das Treideln verantwortlichen Bromberger Treiber-Comptoirs einen Konzessionsantrag zur Einführung eines Kettenschleppbetriebs auf der unteren Brahe an die Regierung in Bromberg. Die Konzession vom 3. Juni 1869 war antragsgemäß auf 25 Jahre befristet und entsprach im Wesentlichen den für die Elbe geltenden preußischen Bestimmungen. Gleich darauf begannen im Sommer 1869 die ersten Probefahrten mit einem von der Maschinenfabrik Buckau gebauten Kettendampfer. Der Betrieb musste jedoch schon im Herbst wieder eingestellt werden, da der Schlepper die geforderte Leistung und Geschwindigkeit nicht erbringen konnte. Ein Ersatzschlepper mit ausreichender Leistung konnte ab Sommer 1870 eingesetzt werden. Trotzdem konnten pro Tag nur ein bis zwei Fahrten durchgeführt werden. Erst mit dem Bau eines Durchstiches am kritischsten Streckenabschnitt im März 1871 und der Beschaffung eines zweiten Kettendampfers im Frühjahr 1872 konnte ein signifikanter Anteil der Flöße durch die Kettenschlepper transportiert werden. Der eine Dampfer stellte im Bereich der Brahemündung die Flöße zusammen und schleppte diese etwa einen Kilometer flussaufwärts. Hier übergab er die etwa 100 Meter langen und 7,5 Meter breiten Flöße an den zweiten Dampfer, der die restlichen 14 Kilometer bis zur Bromberger Stadtschleuse bewältigte. Der Transport war profitabel und die Anzahl der Kettendampfer wurde auf vier erhöht. Am 30. April 1894 verlängerten der Minister für Handel und Gewerbe und der Minister der öffentlichen Arbeiten die Konzession nochmals um 25 Jahre. Neckar Bereits 1878 ging auch auf dem Neckar zwischen Mannheim und Heilbronn der erste Kettenschlepper mit neun Kähnen im Anhang auf Fahrt. Der Betrieb der Kettenschifffahrt unterlag der Kettenschifffahrt auf dem Neckar AG. Als in den 1930er Jahren die Regulierung des Flusses durch Staustufen und damit der Ausbau zur großen Wasserstraße begann, bedeutete dies das Ende der bis dato noch rentablen Neckar-Kettenschleppschifffahrt und ihre Ablösung durch große Binnenschiffe. Havel und Spree Auch auf der Havel gab es kurzzeitig Versuche mit der Kettenschifffahrt, da die Strömung der Havel schon immer gering war, konnte mit einem Kettendampfer gleichzeitig eine große Anzahl von beladenen Schleppkähnen kostengünstig geschleppt werden. Auf der Havel und der Spree zwischen Pichelsdorf nahe der damaligen Stadt Spandau und der Kronprinzenbrücke, dem Unterbaum am Rand des damaligen Berlin, nahm die 1879 von zwei Engländern gegründete Berliner Krahn-Gesellschaft am 16. Juni 1882 eine Kettenschifffahrt auf. Im Havelland gab es zahlreiche Ziegeleien, deren Produkte fast nur per Schiff transportiert wurden. Im Sommer 1894 wurde die Kettenschifffahrt auf Havel und Spree eingestellt, die Entwicklung der Schleppdampfer mit Propellerantrieb hatte die Kettenschifffahrt verdrängt. Main Auch auf dem Main gab es die Kettenschifffahrt in der Zeit von 1886 bis 1936. Die Kette lag in dem rund 396 Kilometer langen schiffbaren Flusslauf zwischen Mainz und Bamberg. Bis zu 8 Kettenschleppschiffe waren auf dem Main im Einsatz. Die Kette wurde nach 1938 aus dem Main genommen und verwertet. Die Kettenschiffe auf dem Main wurden auch Maakuh, Määkuh oder Meekuh genannt. Russland Die „Wolga-Twer’sche Kettenschifffahrtsgesellschaft“ richtete ab 1871 einen Schleppbetrieb auf der oberen Wolga zwischen Rybinsk und Twer ein. Der etwa 375 km lange Flussabschnitt war schlecht reguliert und besaß häufig nur eine Wassertiefe von 0,52 m. Die erzielte Dividende war nur gering. Im Jahr 1885 waren 10 Kettendampfer mit einer Leistung von 40 beziehungsweise 60 PS auf der Wolga im Einsatz. Auf der Scheksna wurde die Kettenschifffahrt ebenfalls 1871 eingerichtet und von der „Kettendampfschifffahrtsgesellschaft auf der Scheksna“ mit Sitz in St. Petersburg betrieben. Die Kette erstreckte sich auf einer Länge von 445 km von der Mündung in die Wolga bis St. Petersburg. Anfangs erzielte der Kettenschleppbetrieb nur schlechte Ergebnisse. Daraufhin stellte die Gesellschaft die Kettenschifffahrt auf einer etwa 278 km langen Strecke mit sehr schwachem Gefälle ein und ersetzte diese durch einen Schleppdampfer-Betrieb. Auf der 167 km langen Reststrecke mit starker Strömung erbrachte die Kettenschifffahrt in manchen Jahren eine Dividende von etwa 30 %. 1885 setzte die Gesellschaft auf diesem Flussabschnitt 14 Kettendampfer mit einer Leistung von jeweils 40 PS ein. Daneben war die Kettenschifffahrt auf der Moskwa mit 4 Dampfern mit je 60 PS und auf dem Fluss Swir mit 17 Dampfern mit insgesamt 682 PS im Einsatz. Auf dem Jenissej erfolgt die Passage der Kasatschinskistromschnelle durch Tauerei mit einem Seilschlepper. Außerhalb Europa Die Kettenschifffahrt wurde auf dem Sueskanal während der Bauphase auf einem Teilstück südlich von Ismailia zum Transport von Maschinen und Rohstoffen eingesetzt. Technische Beschreibung Kettenschleppschiff Die Kette wurde am Bug des Schiffes über eine Verlängerung (Ausleger) aus dem Wasser gehoben und über das Deck entlang der Schiffsachse zum Kettenantrieb in der Mitte des Schiffes geführt. Die Kraftübertragung von der Dampfmaschine auf die Kette erfolgte meist über ein Trommelwindwerk. Von dort führte die Kette über das Deck zum Ausleger am Heck und wieder zurück in den Fluss. Durch die seitliche Beweglichkeit des Auslegers und die beiden sowohl vorne und hinten angebrachten Ruder war es möglich, die Kette auch bei Flussbiegungen wieder in der Flussmitte abzulegen. Kette Die Kette musste von den Kettenschifffahrtsgesellschaften selbst finanziert werden und war als steglose Rundstahlkette ausgeführt. Die einzelnen Kettenglieder bestanden aus einem gut schweißbaren Rundeisen mit niedrigem Kohlenstoffgehalt. Die Rundeisen hatten je nach Flussabschnitt eine typische Dicke von 18 bis 27 Millimetern. Trotzdem kam es immer wieder zu Kettenbrüchen. Im Abstand von einigen hundert Metern befanden sich Schäkel als Kettenschlösser, die durch Herausschrauben des Bolzens geöffnet werden konnten, wenn sich zwei Kettenschlepper begegneten. Die meisten dieser qualitativ hochwertigen Ketten wurden in England oder Frankreich hergestellt. Begegnung zwischen berg- und talwärts fahrenden Kettenschiffen Begegneten sich zwei Kettenschiffe, so war ein kompliziertes Ausweichmanöver notwendig, bei dem die Kette über eine Hilfskette an den anderen Schlepper übergeben wurde. Dieses Manöver bedeutete für den Schleppverband auf Bergfahrt eine Verzögerung von mindestens 20 Minuten, während das talfahrende Schiff durch das Manöver einen Zeitverlust von etwa 45 Minuten erlitt. Durch die Einführung von Zusatzantrieben fuhr das Kettenschleppschiff auf der Talfahrt außerhalb der Kette, und Ausweichmanöver entfielen. Versuche mit endloser Kette Um die großen Kosten der Anschaffung einer Kette oder eines Kabels zu vermeiden, wurden von Henri Dupuy de Lôme auf der Rhône Versuche mit einer endlosen Kette durchgeführt. Der Schlepper brachte dabei seine eigene Kette mit. Die Kette wurde hierbei am Vorderschiff (Bug) ins Wasser gelassen und legte sich durch das Eigengewicht auf den Flussgrund. Am Hinterschiff (Heck) wurde die Kette aus dem Wasser hinaufgezogen und durch den Kettenantrieb über das Deck des Schiffes nach vorne transportiert. Unter der Voraussetzung, dass der untere Teil der schweren, in sich geschlossenen Kette durch die Flusssohle am Gleiten gehindert wird, zieht sich das Schiff vorwärts. Diese Art des Antriebs kam jedoch wirtschaftlich nicht zum Einsatz, da eine vernünftige Kraftübertragung nur bei einer angepassten Kettenlänge gegeben ist. Ist die Wassertiefe zu groß, so verringert sich die Länge des Kettenabschnitts, der auf der Flusssohle zu liegen kommt und damit die erforderliche Reibung. Bei zu geringer Wassertiefe hätte die Kette eine zu große Länge und würde nicht langgezogen, sondern klumpenweise am Boden zu liegen kommen. Eine Variation in der Flusstiefe erschwert daher die Steuerfähigkeit des Schiffes erheblich. Konzessionen Um die Kettenschifffahrt betreiben zu können, benötigte die für den Kettenschleppbetrieb verantwortliche Gesellschaft eine Konzession. Die Konzession garantierte den Gesellschaften das alleinige Recht für diese Art des Schiffstransportes. Da der Kauf der Kette und der Kettenschlepper für den Betreiber eine hohe finanzielle Belastung darstellte, bot die Konzession eine gewisse Sicherheit. Die Konkurrenz durch die Eisenbahn, Radschlepper oder den Treidelzug blieb aber weiter bestehen. Im Gegenzug wurden in der Konzession aber auch die Rechte und Pflichten gegenüber den Schiffern geregelt. Alle Kähne mussten zu staatlich festgelegten Tarifen befördert werden. Vergleich Kettenschleppschiff – Radschleppdampfer Die Kettenschifffahrt hatte sich nicht nur dem Wettbewerb mit der Eisenbahn zu stellen, sondern bekam auch die Konkurrenz auf dem Wasserwege deutlich zu spüren. Verglichen mit Radschleppdampfern hatten die Kettendampfer überall dort Vorteile, wo sich für die Schifffahrt Schwierigkeiten ergaben, wie Stromschnellen, starke Krümmungen des Flusslaufes und Untiefen. Strömung und Fließgeschwindigkeit Bei einem Rad- oder Schraubendampfer wird zur Erzeugung des Vortriebs das Wasser nach hinten weggedrückt. Ein nicht unerheblicher Teil der Energie wird dabei in Wasserverwirbelung umgewandelt und steht so nicht für den Vortrieb des Schiffes zur Verfügung. Der Kettendampfer hingegen zieht sich an der festen Kette vorwärts und kann so einen viel größeren Anteil seiner Dampfkraft in Vortrieb umwandeln. Bei gleicher Zugleistung ergibt sich somit ein um etwa zwei Drittel geringerer Kohleverbrauch. Bei höherer Fließgeschwindigkeit des Flusses verschiebt sich der Vorteil immer weiter zugunsten der Kettendampfer. Ewald Bellingrath stellte 1892 folgende allgemeine Regel auf: Bei einem Durchschnittsgefälle des Flusses bis 0,25‰ seien Raddampfer überlegen. Zwischen 0,25 und 0,3 ‰ Gefälle seien beide Schlepparten gleichwertig. Oberhalb 0,3 ‰ seien Kettendampfer vorteilhafter einzusetzen. Ab einem Gefälle von 0,4 ‰ bekämen Raddampfer zunehmend Schwierigkeiten und müssten ab 0,5 ‰ Gefälle ganz auf einen Schlepptransport verzichten. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigten, dass frei fahrende Radschlepper mit 400 PS (etwa 300 kW) bei einer Fließgeschwindigkeit von 0,5 Metern pro Sekunde (1,8 km/h) eine Geschwindigkeit von etwa 3 Metern pro Sekunde (10,8 km/h) erreichen. Dadurch könnten sie bis zu einer Strömung von 2 Metern in der Sekunde (7,3 km/h) wirtschaftlich schleppen. Auch größere Gefällestürze konnten überwunden werden, wenn diese nur eine kurze Strecke ausmachten. Durch ein Nachlassen der Schlepptaue konnte der Radschlepper das Hindernis überwinden. Wenn der Anhang aus Frachtschiffen dann in diesen Bereich kam, so hatte der Raddampfer bereits den Bereich mit höherer Strömung überwunden und konnte wieder seine volle Zugkraft umsetzen. Bei einer Stromgeschwindigkeit über 3 Meter pro Sekunde würde die Nutzleistung gegen Null sinken. Viele der Sturzgefälle waren relativ kurz und konnten durch das beschriebene Manöver auch von Radschleppern überwunden werden. Eine zu starke Strömung bei Hochwasser konnte aber auch für die Kettenschifffahrt problematisch werden. Je nach Art der Gestaltung des Flussbettes führten starke Geschiebebewegungen zu einer Aufschotterung und damit zu einem Überdecken der Kette mit Geröll und Steinen. Ein klippenreiches Flussbett oder große Felsblöcke enthaltende Streckenabschnitte der Donau führten durch Verhaken der Kette ebenso zu einer Behinderung der Kettenschifffahrt. Das von den Raddampfern aufgewühlte Wasser bewirkte außerdem deutlich stärkere Wellenbewegungen. Die Wellen konnten verstärkt zu Uferschäden führen. Die zusätzlichen Strömungen und Wellen bewirkten außerdem einen zusätzlichen Widerstand für die gezogenen Frachtschiffe. Hinter einem Kettenschlepper befand sich der Anhang hingegen in ruhigen Gewässern. Wassertiefe Einige Kettenschlepper sind mit einem geringen Tiefgang von nur 40–50 Zentimetern für einen Einsatz bei sehr niedrigen Wasserständen konstruiert und damit an die Gegebenheiten vieler Flüsse der damaligen Zeit angepasst. Auch bei einer Wassertiefe von 57 Zentimetern war so noch ein leistungsfähiger Betrieb auf dem Neckar möglich. Raddampfer benötigen hingegen für einen wirtschaftlichen Einsatz deutlich größere Wassertiefen von 70 bis 75 Zentimetern. Bei starker Strömung erhöht sich die Mindestwassertiefe für Raddampfer zusätzlich. Schraubenschlepper benötigen ebenfalls eine große Wassertiefe um effektiv arbeiten zu können. Nur eine Schraube, die tief im Wasser angeordnet ist, kann einen genügenden Vortrieb erzeugen. Kettenschiffe haben nicht nur einen geringen Tiefgang, auch ihr technisches Prinzip ist für niedrige Wassertiefen vorteilhaft: Bei geringer Wassertiefe steigt die Kette flach aus dem Wasser und ein sehr hoher Anteil der Dampfkraft kann in Vortrieb umgesetzt werden. Ist die Wassertiefe jedoch sehr hoch, so nimmt der Anteil der Energie zu, die für das Heben der auflaufenden Kette benötigt wird. Durch das Eigengewicht ist die Zugkraft so schräg nach unten gerichtet und die Effizienz sinkt. Außerdem nimmt die Manövrierfähigkeit mit zunehmender Tiefe ab. Anlagekosten Die Kette selbst bedeutete für die Gesellschaft hohe Anlagekosten. Auf dem rund 200 Kilometer langen Abschnitt des Mains zwischen Aschaffenburg und Kitzingen veranschlagte man für die erste Kette inklusive Verlegung über eine Million Mark. Dieses entsprach ziemlich genau dem Gesamtpreis für acht Kettenschlepper, die auf diesem Abschnitt eingesetzt werden sollten. Die Kette unterlag einer fortwährenden Instandhaltung und musste etwa alle 5 bis 10 Jahre erneuert werden. Zu den Kosten für die Kette kamen noch Kosten zum Umbau von Fähren, die für diese Strecke einmalig mit etwa 300.000 Mark zu Buche schlugen. Dieser Umbau war notwendig, da sich die Kette der Kettenschiffe und die Seile der Fähren nicht kreuzen durften. Statt der bis dahin üblichen Seilfähren musste daher auf Gierfähren umgestellt werden. Flexibilität Die ersten Kettenschiffe waren in ihrer Fortbewegung an die Kette gebunden, das heißt, sie legten sowohl die Bergfahrt als auch die Talfahrt an der Kette zurück. Bei einer Begegnung kam es zu Ausweichmanövern mit hohem Zeitverlust. Auf dem 130 Kilometer langen Neckar mit insgesamt sieben eingesetzten Kettenschleppern bedeutet das bei sechs Begegnungen einen Zeitverlust von mindestens fünf Stunden für die Talfahrt. Um das Manöver zu umgehen, wurden auf einigen Flussabschnitten Frankreichs die Lastschiffe von einem zum anderen Kettendampfer übergeben. Eine derartige Übergabe war jedoch ebenfalls mit einem erheblichen Zeitverlust verbunden. Der Schleppbetrieb mit Frachtkähnen fand in der Regel nur auf der Bergfahrt statt. Talwärts ließen sich die Frachtkähne meist, um Geld zu sparen, treiben. Bei starker Strömung wäre der Betrieb mit einem langen Schleppzug auch gefährlich gewesen. Sollte der Kettenschlepper gezwungen werden, plötzlich zu halten (zum Beispiel durch einen Kettenbruch), so war die Gefahr groß, dass hintere Schiffe auf die vorderen auffuhren und es so zu einer Havarie kam. Radschleppdampfer waren zumindest zur Anfangszeit der Kettenschifffahrt auf der Bergfahrt langsamer als die Kettenschiffe. Auf der Talfahrt waren sie hingegen schneller und konnten zusätzlich Frachtkähne mitnehmen. Neben den technischen Einschränkungen wurde den Kettenschleppschifffahrtsunternehmen durch Konzessionen Regeln vorgegeben, welche zum Beispiel die Reihenfolge der Beförderung und die Beförderungsgebühren festlegten. Sie konnten daher nicht so flexibel auf Angebot und Nachfrage reagieren wie die Unternehmen mit Radschleppern. Das Ende der Kettenschifffahrt Ein Grund für das Ende der Kettenschifffahrt war die Steigerung der technischen Leistungsfähigkeit der neuen Radschleppdampfer. Sie besaßen eine erhöhte Zugkraft bei reduziertem Kohlenverbrauch. Die Verbunddampfmaschinen auf den Radschleppdampfern verbrauchten, bezogen auf die abgegebene Leistung, nur etwa die Hälfte an Kohle. Derartige Verbunddampfmaschinen konnten auf Kettendampfern wegen des ruckweisen Anziehens nicht eingesetzt werden. Gleichzeitig belasteten hohe Anlage- und Reparaturkosten die Kettenschifffahrtsunternehmen. Ein anderer Grund für das Ende waren Umstrukturierungen der Flussläufe. An der Elbe wurden viele Stromregulierungen vorgenommen, wobei sich die Gefälle mehr und mehr ausglichen und sich die Krümmungen des Flusses sowie die Untiefen verminderten. Dadurch reduzierten sich auch die Vorzüge der Kettenschifffahrt. Beim Main und dem Neckar kamen zusätzlich zahlreiche Staustufen und Schleusen als künstliche Hindernisse für die Kettenschlepper hinzu. Das Aufstauen des Flusses führte zu einer größeren Wassertiefe und reduzierte gleichzeitig die Fließgeschwindigkeit. Vor allem mussten die langen Schleppzüge an den Schleusen der Staustufen aufgeteilt und getrennt geschleust werden, was zu erheblichen Zeitverlusten führte. Kettenschifffahrt in der Literatur Eine historische Dokumentation stammt von dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain, der in seinem Reisebericht Bummel durch Europa (1880) die Kettenschifffahrt auf dem Neckar wie folgt beschreibt: Literatur Tauerei. In: Meyers Konversations-Lexikon. Band 15, 1888, S. 15.543. Prospect für die Ketten-Schleppschifffahrt auf der Ober-Elbe von Magdeburg bis Schandau. Blochmann, Dresden 1869. (Digitalisat) Ewald Bellingrath: Ein Leben für die Schifffahrt. In: Sigbert Zesewitz, Helmut Düntzsch, Theodor Grötschel: Schriften des Vereins zur Förderung des Lauenburger Elbschiffahrtsmuseums e. V. Band 4, Lauenburg 2003. Georg Schanz: Studien über die bay. Wasserstraßen. Band 1: Die Kettenschleppschiffahrt auf dem Main. C.C. Buchner Verlag, Bamberg 1893. (Digitalisat) Sigbert Zesewitz, Helmut Düntzsch, Theodor Grötschel: Kettenschiffahrt. VEB Verlag Technik, Berlin 1987, ISBN 3-341-00282-0. Siehe auch Gondoletta Weblinks Kettenschleppschiffahrt aus Lueger, Lexikon der gesamten Technik 1907. Kettenschifffahrt in Frankreich (1865) auf Wikisource Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Contagious%20Diseases%20Acts
Contagious Diseases Acts
Die Contagious Diseases Acts (Gesetze über ansteckende Krankheiten) sind britische Parlamentserlasse des 19. Jahrhunderts zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Anlass für die Verabschiedung dieser Erlasse war die hohe Anzahl von Geschlechtskrankheiten unter Angehörigen des britischen Militärs. Die Erlasse räumten Polizeibeamten weitgehende Rechte ein, Frauen und Mädchen, die scheinbar oder tatsächlich der Prostitution nachgingen, aufzugreifen, sie zu internieren und anzuordnen, dass sie sich einer gynäkologischen Untersuchung zu unterziehen haben. Der erste Contagious Diseases Act wurde 1864 verabschiedet, in den Jahren 1866 und 1869 jeweils ausgeweitet und verschärft. Die Erlasse wurden 1883 außer Kraft gesetzt und 1886 vollständig aufgehoben. Britische Frauen aller Schichten wehrten sich ab 1869 in einer Kampagne gegen diese Erlasse, die Prostituierte kriminalisierten, ihre Kunden aber unbehelligt ließen. Die von 140 Frauen unterzeichnete Petition zur Abschaffung der Contagious Diseases Acts zählt zu den Gründungsdokumenten des modernen Feminismus. Leitfigur der Kampagne war Josephine Butler. Der Kampf gegen die Contagious Diseases Acts trug wesentlich dazu bei, die britischen Frauen zu politisieren, und prägte die britische Frauenwahlrechtsbewegung des 19. Jahrhunderts. Der Protest in Großbritannien übertrug sich auf andere Länder, in denen sich in ähnlicher Weise Protestgruppen formten. Der Protest gegen die Erlasse führte in Großbritannien zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung über die Ursachen der Prostitution, die Lebensbedingungen von Prostituierten sowie die vorherrschende sexuelle Doppelmoral. Nach vorherrschender Auffassung war Prostitution ein für Männer notwendiges und daher zu tolerierendes gesellschaftliches Übel, während die Frauen, die der Prostitution nachgingen, gesellschaftlich streng geächtet wurden. Prostitution, Geschlechterrollenverständnis und Sexualmoral in Großbritannien Die Ursachen, die die Verabschiedung des Contagious Diseases Acts herbeiführten, und die Gründe, warum sich insbesondere eine hohe Anzahl von Frauen gegen diesen Erlass stellte, liegen im damaligen Umgang mit der Prostitution, im Verständnis der weiblichen und männlichen Sexualität und der Auffassung über die jeweilige Geschlechterrolle. Prostitution in Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Entsprechend den gesellschaftlichen Konventionen waren Prostitution und die durch sie übertragenen Geschlechtskrankheiten bis 1857 kein Thema, das in Großbritannien außerhalb medizinischer Magazine in größerer Breite diskutiert wurde. Gesellschaftlich wurde dieses Thema weitgehend ignoriert. Prostitution war jedoch weit verbreitet. Der Londoner Chief Commissioner of Police schätzte 1841, dass es allein im innerstädtischen Bereich Londons 3325 Bordelle gebe. In einigen Stadtteilen galt jedes zweite Haus als „Haus von zweifelhaftem Ruf“, wie man Bordelle und Stundenhotels umschrieb. Manche Straßenzüge galten für eine „anständige“ Frau ab den frühen Nachmittagsstunden als nicht mehr passierbar, da dort Prostituierte offen und aggressiv um Kunden warben. Das Leben der Prostituierten war wenig glamourös – nur wenige führten ein Leben, das dem der Violetta in Verdis La traviata glich. In der Nähe der Garnison Aldershot beispielsweise lebten Prostituierte halbnackt und verdreckt in Erdlöchern, die sie selbst in die Dünen gegraben hatten. Viele litten nicht nur an Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, sondern auch an Tuberkulose. Aufgrund vielfältiger Ursachen war die Anzahl der Prostituierten im 19. Jahrhundert stark angestiegen. Vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution hatte eine Landflucht eingesetzt, die die Anzahl der Stadtbevölkerung hochtrieb. Damit war auch der Anteil der Stadtbevölkerung angestiegen, der nicht ausreichend bezahlte Arbeit fand, um damit den Lebensunterhalt finanzieren zu können. Besonders hart betroffen davon waren Frauen, denen nur sehr wenige und dann überwiegend schlecht bezahlte Verdienstmöglichkeiten offen standen. Zur Gruppe der Gelegenheitsprostituierten zählten beispielsweise Dienstmädchen, Modistinnen, Blumenfrauen und Wäscherinnen, die sich damit ihre mageren Gehälter aufbesserten. Für viele Frauen stellte Prostitution die einzige Möglichkeit dar, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zu den wenigen gesellschaftlichen Kreisen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Prostitution nicht ignorierten und sich vor allem der „Rettung der Prostituierten“ verschrieben, zählten verschiedene religiöse Gruppen wie beispielsweise jüdische Organisationen, die Heilsarmee, Bibelkreise und katholische Ordensleute. Auch wenn ihre religiösen Ausrichtungen unterschiedlich waren, waren sie sich alle gleichermaßen der bestehenden Doppelmoral bewusst. Im Zentrum ihrer Arbeit stand daher in der Regel nicht die „Bestrafung“ von Prostituierten, sondern ihre „Reformierung“ oder Bekehrung zu einem besseren Leben. Das Ziel dieser religiösen Gruppen war letztlich die Durchsetzung eines für Männer und Frauen gleichermaßen geltenden Moralkodex, dessen Kern eheliche Liebe und Treue war. Während es für eine Angehörige der britischen Mittel- oder Oberschicht legitim war, sich auf dem Gebiet der sozialen Wohlfahrt zu engagieren, besaßen nach dem vorherrschenden Rollenverständnis „anständige“ Frauen keine Kenntnis solcher „schmutziger“ und „unziemlicher“ Vorkommnisse. Die Frauen, die sich um Prostituierte kümmerten, setzten sich daher bereits über gesellschaftliche Konventionen hinweg. Aus dem Kreis dieser Frauen formierten sich 1869 die ersten Gruppen, die gegen die Erlasse protestierten. William Acton und sein Buch über die Prostitution Zu einer breiteren öffentlichen Diskussion über die Prostitution kam es, nachdem 1857 William Acton – einer der führenden Mediziner seiner Zeit – ein Buch über Prostitution veröffentlicht hatte. Auch William Actons Buch zeugt von der vorherrschenden Doppelmoral seiner Zeit: Actons Buch wurde in vielen Kreisen gelesen – bereits 1867 wurde die zehnte Auflage seines Werkes in Druck gegeben. Es wird heute als das ausschlaggebende Werk angesehen, das zum Contagious Diseases Act führte. Anders als die religiösen Gruppen, die sich bislang dem Thema der Prostitution widmeten, war William Acton fest davon überzeugt, dass Prostitution nicht ausrottbar sei. In seinem Buch und seinen Vorträgen vertrat er jedoch die Ansicht, dass weitreichende Maßnahmen eingeleitet werden sollten, um die „physischen Schäden“ durch Prostitution einzudämmen. Unter physischen Schäden verstand er dabei die Übertragung von Geschlechtskrankheiten. Tatsächlich war die Anzahl der Erkrankungen an Geschlechtskrankheiten im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark angestiegen. Besonders stark betroffen davon waren die Angehörigen des Militärs: 1864 war jeder dritte Krankheitsfall innerhalb der britischen Armee auf eine Geschlechtskrankheit zurückzuführen. Trotz dieser hohen Erkrankungsrate an Geschlechtskrankheiten hatte man die Zwangsuntersuchung von Soldaten auf Geschlechtskrankheiten 1859 eingestellt, da die Soldaten sehr ablehnend auf diese intime Untersuchung reagierten. Stattdessen verfolgte man die Idee, Prostituierte zwangsweise auf Geschlechtserkrankungen zu untersuchen. Die Verabschiedung des Contagious Diseases Acts Der erste Erlass 1864 Actons Eintreten für einen Erlass, der für Prostituierte eine zwangsweise Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten vorschrieb, traf auf Zustimmung bei seinen Berufskollegen. Es entsprach dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, ein bestehendes gesellschaftliches Problem „wissenschaftlich“ lösen zu wollen. Wie Acton in einem Vortrag vor der Royal Medical Society im Jahre 1860 betonte, hatten die Philanthropen und die Kirche bei der Eindämmung der Prostitution versagt. Acton vertrat außerdem die Auffassung, dass mit der Einführung einer Zwangsuntersuchung von Prostituierten auf Geschlechtskrankheiten der Staat keineswegs ein Laster gutheißen oder gar unterstützen würde, sondern letztlich mit einem Anheben der öffentlichen Hygiene auch die nationale Moral anheben werde. Das britische Parlament setzte eine Kommission ein mit dem Auftrag, Möglichkeiten zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten auszuarbeiten. Vor dieser Kommission sprach auch Florence Nightingale, die seit ihrem heroischen und wirkungsvollen Einsatz für die Verwundeten des Krimkrieges als erfolgreiche Reformerin des öffentlichen Gesundheitswesens galt. Für ineffektiv und widerwärtig befand sie Zwangsuntersuchungen, wie sie in Frankreich und Belgien bereits durchgeführt wurden. Insbesondere Frankreich war dafür bekannt, dass Prostituierte dort willkürlichen Maßnahmen von polizeilicher, medizinischer oder kirchlicher Seite ausgesetzt waren, ohne dass deren Verursacher Konsequenzen zu fürchten hatten. Nightingale empfahl die Einrichtung geschlossener Krankenstationen, in denen insbesondere hygienische Grundsätze beachtet werden sollten, sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen in Militärgarnisonen. Sie forderte außerdem, dass nicht die Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit bestraft werden sollte, sondern die Verheimlichung einer Ansteckung. Durchsetzen konnte sich William Actons Vorschlag, der es Polizeibeamten erlaubte, Prostituierte zu einer gynäkologischen Untersuchung aufzugreifen. Wer sich dieser Untersuchung verweigerte, konnte in einem Gerichtsverfahren zu Zwangsarbeit verurteilt werden. Wurde dagegen in der Untersuchung eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert, so konnte die Prostituierte in einem Arbeitshaus festgesetzt werden, bis man sie für geheilt erklärte. Der Contagious Diseases Act wurde 1864 ohne längere Debatten durch das Parlament verabschiedet. Anwendung fand der Erlass in einigen Hafen- und Garnisonsstädten Großbritanniens und in den britischen Kolonien. Die Verschärfungen des Erlasses 1866 und 1869 Der Contagious Diseases Act wurde innerhalb weniger Jahre signifikant erweitert. Die erste Erweiterung von 1866 zwang die Frauen und Mädchen, die aufgrund einer beeideten Aussage eines Polizeibeamten als Prostituierte anzusehen waren, sich dieser gynäkologischen Untersuchung alle drei Monate zu unterziehen. Diese Untersuchungen, die überwiegend mit Hilfe eines Spekulums durchgeführt wurden, fanden keineswegs in der hygienischen Abgeschiedenheit eines Arztzimmers statt. Im Hafen von Davenport konnten die Dockarbeiter durch die Fenster zusehen, wie die Frauen einer hastigen und brutalen Untersuchung ihrer Vagina unterworfen wurden. Nach wie vor fand jedoch der Contagious Diseases Act nur in wenigen Städten Anwendung, allerdings wurde die Anwendung des Erlasses auf eine Zehn-Meilen-Zone rund um diese Städte ausgedehnt. Die Erweiterung von 1869 dehnte die Anwendbarkeit des Erlasses auf alle Garnisonsstädte in britischem Hoheitsgebiet aus und schränkte die Rechte der Frauen und Mädchen dabei erheblich ein. Der Erlass erlaubte es, der Prostitution verdächtige Frauen und Mädchen ohne Haftbefehl oder richterliche Anweisung für fünf Tage zu internieren, bevor sie der gynäkologischen Untersuchung unterzogen wurden. Polizeibeamte in Zivil fahndeten gezielt nach Frauen, die heimlich der Prostitution nachgingen. Wie viele Frauen, die keine Prostituierte waren, sich aufgrund von Verdächtigungen dieser Zwangsuntersuchungen unterziehen mussten, ist nicht bekannt. Überliefert ist jedoch der Fall einer Frau aus dem Jahre 1875, die ihre Anstellung verlor, nachdem sie sich einer solchen Untersuchung hatte unterwerfen müssen, und die sich daraufhin das Leben nahm. Die Kampagne gegen den Contagious Diseases Act Prostituierte – Opfer oder Täter? Der erste Erlass aus dem Jahr 1864 und seine Verschärfungen von 1866 und 1869 waren in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden. Das änderte sich, als im Herbst 1869 diskutiert wurde, den Contagious Diseases Act in ganz Großbritannien anzuwenden. Man kritisierte die Möglichkeiten, die er der Polizei einräumte, und Hunderttausende unterzeichneten Petitionen, die eine weitere Verschärfung verhinderten. Die Auseinandersetzung mit dem Erlass machte nun zahlreiche Frauen darauf aufmerksam, dass er sich ausschließlich mit den Prostituierten, nicht aber mit deren Kunden befasste. Viele Frauen, die bereits im Bereich der sozialen Wohlfahrt engagiert waren, leiteten daraus die Notwendigkeit ab, gegen den Erlass anzugehen. Es war jedoch schwer, eine Frau zu finden, die als Sprecherin einer Kampagne auftreten konnte, denn die Beschäftigung mit den Themen Prostitution und Sexualität galt als obszön und unpassend für eine „anständige“ Frau. Die Leiterin einer Kampagne musste über jeglichen moralischen Zweifel erhaben sein. Sie musste außerdem den Mut aufbringen, sich mit diesem unpopulären Thema an eine Öffentlichkeit zu wenden, die auch von persönlichen Angriffen nicht absehen würde. So trafen sich im Oktober 1869 etwa siebzig Frauen in Bristol, um den Widerstand gegen den Contagious Diseases Act zu organisieren, doch keine von ihnen fühlte sich in der Lage, die Kampagne anzuführen. Im Anschluss an das Treffen wandte sich eine der Teilnehmerinnen, die spätere Frauenwahlrechtskämpferin Elizabeth Wolstenholme, per Telegramm an ihre einundvierzigjährige Bekannte Josephine Butler mit der Bitte, diese Aufgabe zu übernehmen. Josephine Butler Josephine Butler war die Ehefrau des Erziehers und anglikanischen Priesters George Butler sowie Mutter von vier Kindern. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie sich seit dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges 1861 auf die Seite der Union gestellt und in Großbritannien sowohl für die Unterstützung dieser Kriegspartei als auch deren geplante Abschaffung der Sklaverei geworben. Sie besaß daher bereits Erfahrung in der Durchführung einer politischen Kampagne. Keinerlei Erfahrung dagegen besaß sie als öffentliche Rednerin. Mit Prostitution und den Frauen und Mädchen, die ihr nachgingen, war Josephine Butler aufgrund langjähriger ehrenamtlicher Arbeit vertraut. Unter den mittellosen Prostituierten, die im Arbeitshaus einsaßen, sowie denen, die in den Docks auf Kunden warteten, hatte sie für ein religiöseres Leben missioniert. Um über den Unfalltod einer ihrer Töchter hinwegzukommen, gründete sie selbst ein Heim, in dem Prostituierte Aufnahme fanden. Zumindest von zwei an Tuberkulose sterbenden Prostituierten ist bekannt, dass Josephine Butler sie in ihrem eigenen Heim pflegte, bis diese an ihrer Krankheit verstarben. Aus Butlers Sicht waren Prostituierte Opfer ihrer Lebensumstände. Josephine Butler besaß nicht nur große Vertrautheit mit den Lebensumständen von Prostituierten. Sie war außerdem eine charismatische, mutige und willensstarke Frau mit großer Ausstrahlung. Ihr Ehepartner George Butler unterstützte sie in ihrer Entscheidung, sich im Kampf gegen diesen Erlass zu engagieren, obwohl ihr Engagement sich sowohl auf seinen Ruf als auch auf seine berufliche Karriere negativ auswirken musste. Die „Kreischende Schwesternschaft“ Am 1. Januar 1870 erschien die Petition, die dazu aufforderte, den Contagious Diseases Act vollständig zu widerrufen. Von den Petitionen, die im Sommer und Herbst 1869 die weitere Verschärfung des Contagious Diseases Act verhinderten, unterschied sich diese in ihrer klaren und expliziten Sprache. In dem Manifest begründeten die Unterzeichnerinnen, dass der Contagious Diseases Act die Reputation, Freiheit und die körperliche Unversehrtheit von Frauen der Willkür der Polizei aussetze. Es sei Unrecht, das Geschlecht unbestraft zu lassen, dessen Lüsternheit die Prostitution begründe, dafür aber Frauen zu inhaftieren, sie einer Zwangsuntersuchung zu unterziehen und wenn sie sich widersetzten, zu Zwangsarbeit zu verurteilen. Für Männer sei der Contagious Diseases Act ein Mittel, ihr lasterhaftes Leben sicherer und leichter zu machen, während er Frauen nur demütige. Der Erlass würde die Anzahl der Geschlechtserkrankungen nicht verringern, denn deren Ursachen seien weniger physisch als moralisch. Zu den 140 Frauen, die diese Petition unterzeichneten, gehörte neben Josephine Butler unter anderem Florence Nightingale, die Philosophin Harriet Martineau, die Sozialreformerin Mary Carpenter und die Suffragette Lydia Becker. Die Petition provozierte einen Skandal, da sich noch nie zuvor respektable Frauen öffentlich in derart klarer Sprache zu einem solchen Thema geäußert hatten. Die britische Zeitung Saturday Review karikierte die unterzeichnenden Frauen als „shrieking sisterhood“, als „kreischende Schwesternschaft“. Und der Verleger John Morley warnte in seiner eigentlich liberalen Zeitung Fortnightly Review, dass die Petition all denen, die den Ausschluss von Frauen aus dem politischen Leben befürworteten, willkommener Beweis sei, dass Frauen zu einer politischen Debatte nicht in der Lage seien. Die Ladies’ National Association Der Skandal, den die Petition hervorrief, sorgte dafür, dass sich erstmals viele britische Frauen mit den weitergehenden Implikationen des Contagious Diseases Acts auseinandersetzten. Die 140 Unterzeichnerinnen der Petition gründeten die Ladies’ National Association for the Abolition of the State Regulation of Vice (LNA), die innerhalb weniger Monate in allen größeren Städten Großbritanniens Zweigniederlassungen besaß. Der Grad der Mobilisierung gegen die Contagious Diseases Acts, die der LNA bewirkte, lässt sich an der Anzahl der Petitionen messen, die in den Folgejahren gegen diese Erlasse eingereicht wurden: Von 1870 bis 1879 erhielt das britische Parlament 9667 Petitionen, die insgesamt 2.150.941 Unterschriften trugen. Unterstützung fand die Organisation auch bei vielen Männern. Im Norden Großbritanniens gründete der Arzt Hoopell die Zeitung The shield, die zum Sprachrohr des Widerstands gegen den Erlass wurde. Aus Paris schrieb der französische Autor Victor Hugo und ermutigte die Frauen, weiterhin gegen den Erlass vorzugehen. Zu den Forderungen der LNA unter Leitung von Josephine Butler gehörte weit mehr als nur der vollständige Widerruf des Contagious Diseases Acts. Mangelhafte Ausbildung und unzureichende Beschäftigungsmöglichkeiten gehörten zu den Ursachen, die Frauen zur Prostitution zwängen, argumentierte Butler. Die beengten Wohnverhältnisse in den Slums der britischen Städte trügen außerdem dazu bei, dass Frauen sehr früh sexuelle Erfahrungen sammelten. Zur Bekämpfung der Prostitution gehöre daher die Verbesserung der Lebensbedingungen sowie eine Änderung der Vaterschaftsgesetze. Regelungen zur Bekämpfung der Straßenprostitution sollten auf Prostituierte wie ihre Kunden gleichermaßen Anwendung finden. Die Taktik des LNA Josephine Butler führte eine stark emotionale Kampagne gegen den Contagious Diseases Act. Die Verwendung des Spekulums bei der Untersuchung der Prostituierten verglich sie mit einer Vergewaltigung und behauptete in öffentlichen Reden, dass sie eher sterben würde, als einem Mann zu gestatten, sie mit einem solchen Instrument zu untersuchen. In ihren Reden und Schriften nahm sie häufig Bezug auf ihre Arbeit mit Prostituierten: Sie erschütterte ihre Zuhörer- und Leserschaft beispielsweise mit Schilderungen einer Mutter, die verzweifelt am Totenbett ihrer Tochter den Namen des angesehenen Parlamentsmitglieds schrie, der als Erster das junge Mädchen verführt habe, oder sie konfrontierte ihr Publikum mit den trostlosen Lebensberichten von Prostituierten. Einer ihrer Zeitgenossen beklagte sich, dass Butlers Kampagne ihn schon bei der Morgenlektüre seiner Zeitung zwinge, sich mit ausgesprochen unziemlichen Themen auseinanderzusetzen, und dass es für ihn wenig Möglichkeiten gebe zu verhindern, dass sowohl seine Frau als auch seine Tochter von diesen Themen Kenntnis nähmen. Das ungewöhnliche Spektakel einer angesehenen Frau, die in einer öffentlichen Rede bereit war, zu solchen Themen Stellung zu nehmen, zog eine große Zuhörerschaft an. Butler trat gezielt in den Orten und Landkreisen auf, in denen sich strenge Befürworter des Contagious Diseases Acts zur Wahl für das Parlament stellten. Selbst wenn Butler die Wahl eines Befürworters des Erlasses nicht immer verhindern konnte, gelang es ihr und der LNA, diesen doch so viel Stimmen wegzunehmen, dass in der Presse ausführlich über die Kampagne berichtet wurde. Ihre Zuhörerschaft reagierte nicht immer mit Sympathie auf ihr Anliegen. Mehrfach mussten Butler und ihre Unterstützer vor der aufgebrachten Menge fliehen. Je mehr sie aber bedroht wurde und je mehr sie ihre Zuhörer aufbrachte, desto ausführlicher wurde das Thema in der Presse behandelt und desto mehr Befürworter konnte sie gewinnen. Insbesondere diese Taktik wurde später von Suffragetten wie Christabel Pankhurst gezielt eingesetzt. Der Mut, den Josephine Butler mit ihrem Auftreten bezeugte, sowie ihre persönliche Integrität brachten ihr viel öffentliche Sympathie ein. Trotzdem mangelte es nicht an persönlichen Angriffen auf ihre Person. Sie wurde als hysterisch bezeichnet, als schamlos und als vollkommen verantwortungslos. Immer noch waren die meisten ihrer Zeitgenossen davon überzeugt, dass das wirkungsvollste Mittel gegen Prostitution Gebet und harte Arbeit sei. Realistischere Zeitgenossen wie Lord Dufferin, der Vizekönig von Indien, fanden ihre Forderung nach einem keuschen Leben für Soldaten naiv und meinten, dass ihre Kampagne lediglich einen Anstieg der Krankheits- und Todesrate innerhalb der britischen Armee zur Folge haben werde. Selbst viele Liberale fanden es schwierig, sich mit ihrem Anliegen zu identifizieren. John Morley schrieb in der Pall Mall Gazette vom 3. März 1870: Ausweitung der Forderungen Die von Josephine Butler geführte Kampagne war stark von dem sittlichen und religiösen Anliegen des Protestantismus geprägt. Im Gegensatz zu vielen ihrer Anhänger war sie jedoch davon überzeugt, dass, wenn eine Frau sich dafür entscheide, ihren Körper auf der Straße zu verkaufen, sie auch das Recht habe, dies ohne Behelligung durch die Polizei zu tun. Trotz dieser libertinären Ansichten stand auch für Butler ein für beide Geschlechter geltendes Keuschheitsgebot im Mittelpunkt ihres Kampfes. Da sie Prostituierte überwiegend als die Opfer gesellschaftlich bedingter Not sah, initiierte ihre Bewegung zahlreiche Bestrebungen, weitergehende Sozialreformen durchzusetzen. Dazu gehörte beispielsweise die Verbesserung der rechtlichen Stellung der Frau innerhalb der Ehe und Änderungen der Scheidungsgesetzgebung. In den Jahren bis zur Aussetzung der Contagious Diseases Acts trat jedoch immer stärker die Forderung hinzu, Frauen ein stärkeres Mitspracherecht auf der politischen Bühne zu gewähren. Männer seien es, die Gesetze schüfen, die moralisches Unrecht festschrieben, argumentierte Butler. Frauen dagegen sah sie den Männern gegenüber als moralisch Überlegene an. 1885 wandte sie sich in einem melodramatischen Appell an die Männer, die berechtigt waren, die Mitglieder des Unterhauses zu wählen: Aufhebung der Contagious Diseases Acts Der lange und leidenschaftliche Kampf, den Josephine Butler und die LNA gegen die Contagious Diseases Acts führte, erzielte 1883 einen ersten Teilerfolg. Während sie und ihre Anhängerinnen in einem Raum nahe der Houses of Parliament beteten, entschied das britische Parlament, die Contagious Diseases Acts außer Kraft zu setzen. Die Zwangsuntersuchungen von der Prostitution Verdächtigen wurde aufgehoben, die Zugriffsgewalt der Polizisten eingeschränkt. Für viele Liberale war es nicht nachvollziehbar, dass Butler und die LNA ihren Kampf gegen die Contagious Diseases Acts auch danach weiter fortsetzten. Solange die Contagious Diseases Acts in den Statuten festgeschrieben waren, war aber aus Sicht von Butler das Ziel noch nicht erreicht. Erst 1886 wurden die Contagious Diseases Acts vollständig aus den Statuten entfernt, und zwar aufgrund eines parlamentarischen Manövers. Das Parlamentsmitglied James Stanfield war als Nachfolger des Ministers Joseph Chamberlain vorgesehen. Stanfield, der zu dem Personenkreis zählte, der sich seit langem gegen die Contagious Diseases Acts verwendet hatte, wollte dieses Amt jedoch nur antreten, wenn die Erlasse endgültig annulliert würden, was dann auch geschah. Der Kampf gegen den Contagious Diseases Act und die britische Frauenwahlrechtsbewegung Der Widerstand gegen den Erlass prägte die Zeit nach 1890, als der Kampf britischer Frauen um das Wahlrecht intensiver wurde. Emmeline Pankhurst, die spätere Leitfigur der Suffragetten, adaptierte viele der Taktiken, die Josephine Butlers in ihrem Widerstand gegen den Erlass erfolgreich eingesetzt hatte. Nach Einschätzung der Autorin Philipps, die sich in ihrem Buch The Ascent of Women ausführlich mit der britischen Frauenrechtsbewegung auseinandergesetzt hat, schuf erst diese Kampagne die Basis einer von vielen Frauen unterstützten Wahlrechtsbewegung: Während der Zeit des Kampfes der LNA gegen den Erlass war dieser Widerstand unter den Gruppen, die sich vor allem für das Wahlrecht von Frauen einsetzten, nicht unumstritten. Vielen Befürwortern des Frauenwahlrechts galt er als zu heikel, zu umstritten und potentiell schädlich. Um dem Kampf um das Wahlrecht für Frauen nicht zu schaden, gab es durchaus Bemühungen, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gruppen möglichst gering zu halten. Literatur Melanie Phillips: The Ascent of Woman – A History of the Suffragette Movement and the ideas behind it. Time Warner Book Group, London 2003. ISBN 0-349-11660-1 Georges Duby, Michelle Perrot (Hrsg.): Geschichte der Frauen–19. Jahrhundert. Campus, Frankfurt/New York 1994. ISBN 3-593-34909-4 Geschichte des Feminismus Frauengeschichte (Vereinigtes Königreich) Britische Geschichte (19. Jahrhundert) Rechtsquelle der Neuzeit Geschichte der Prostitution Historische Rechtsquelle (Vereinigtes Königreich) Sozialgeschichte (Vereinigtes Königreich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gustave%20Moynier
Gustave Moynier
Louis Gabriel Gustave Moynier (* 21. September 1826 in Genf; † 21. August 1910 ebenda) war ein Schweizer Jurist und insbesondere in verschiedenen karitativen Organisationen und Vereinen seiner Heimatstadt Genf aktiv. Er war Mitbegründer des 1863 entstandenen Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, das seit 1876 den Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) trägt. Ein Jahr nach der Gründung des Komitees übernahm er von Guillaume-Henri Dufour das Amt des Präsidenten und hatte es bis zu seinem Tod inne. Durch seine langjährige Tätigkeit als Präsident erwarb er sich große Verdienste um die Entwicklung des IKRK in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung. Innerhalb des Komitees galt er allerdings als Widersacher Henry Dunants, der mit seinem 1862 erschienenen Buch „Eine Erinnerung an Solferino“ den Anstoß zur Gründung der Rotkreuz-Bewegung gegeben hatte. Darüber hinaus hatte Gustave Moynier entscheidenden Anteil an der Gründung des Institut de Droit international im September 1873, einer wissenschaftlichen Vereinigung zur Weiterentwicklung des internationalen Rechts. Er war somit an der Entstehung von zwei mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Institutionen maßgeblich beteiligt, ohne jedoch trotz mehrfacher Nominierung selbst den Preis erhalten zu haben. Zu den zahlreichen Würdigungen seines Wirkens zählten neben verschiedenen rotkreuzspezifischen Ehrungen auch hochrangige staatliche Orden der damaligen Zeit, Mitgliedschaften in Gelehrtengesellschaften und vergleichbaren Organisationen sowie Ehrendoktortitel verschiedener Universitäten in den Bereichen Rechtswissenschaften, Soziologie und Medizin. Leben Studium und soziales Engagement Gustave Moynier wurde 1826 in Genf geboren und stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie von Händlern und Uhrmachern, die aus religiösen Gründen im 18. Jahrhundert aus dem französischen Languedoc nach Genf ausgewandert war und dort in einem bürgerlich geprägten Teil der Stadt lebte. Sein Vater Jacques André Moynier (1801–1885) heiratete im November 1824 Laure Deonna und war zwölf Jahre lang in der Genfer Lokalpolitik aktiv, unter anderem von 1843 bis 1846 als Mitglied des Conseil d'Etat, des Staatsrates des Kantons Genf. Gustave Moynier war das einzige Kind aus der Ehe seiner Eltern. Er besuchte 1834 zunächst eine Genfer Privatschule und anschließend von 1835 bis 1842 das Collège Calvin sowie bis 1846 eine Akademie zur Vorbereitung auf ein Studium. Aufgrund der Unruhen in Genf, die sich im Oktober 1846 aus der Ablehnung der Auflösung des Sonderbundes durch den Staatsrat sowie den Genfer Großen Rat ergaben, ging die Familie Moynier im gleichen Jahr nach Paris ins Exil. Hier studierte er von 1846 bis 1850 Rechtswissenschaften und schloss das Studium im März 1850 mit dem Doktortitel ab, im Juli des gleichen Jahres erhielt er seine Anwaltszulassung. In Paris lernte er darüber hinaus auch seine spätere Frau Jeanne-Françoise (1828–1912) kennen, eine Tochter des Bankiers Barthélemy Paccard. Sie heirateten am 14. Juni 1851 und hatten im Laufe der gemeinsamen Ehe zwei Töchter und drei Söhne. Drei der Kinder starben allerdings bereits früh. Die Heirat mit seiner Frau brachte ihm aufgrund ihrer Herkunft, noch über seine eigenen familiären Verhältnisse hinaus, Wohlstand, soziale Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung. Sie befreite ihn insbesondere von der Notwendigkeit einer geregelten Tätigkeit zum Lebensunterhalt. Aufgrund seiner calvinistischen Überzeugungen begann er deshalb bald nach seiner Rückkehr nach Genf im Jahr 1851, sich mit sozialen Problemen und Fragen des Gemeinwohls zu beschäftigen. Ein zweiter Grund war wahrscheinlich, dass er sich selbst wegen seines introvertierten und scheuen Charakters als nicht geeignet für den Beruf des Anwalts sah. 1856 übernahm er den Vorsitz der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft. Er war darüber hinaus in etwa 40 weiteren karitativen Organisationen und Gruppen tätig, deren Spektrum von Verbesserungen der Situation von Gefängnisinsassen bis hin zur Versorgung von Waisenkindern reichte, und nahm an mehreren internationalen Wohltätigkeitskongressen teil. Im Zuge der Unruhen in den Jahren 1856 bis 1857 aufgrund des royalistischen Putsches in Neuchâtel leistete Moynier Im Januar und Februar 1857 fünf Wochen Dienst in der Schweizer Armee als Soldat des Genfer Regimentes. 1862 bekam er von Henry Dunant ein Exemplar von dessen Buch „Eine Erinnerung an Solferino“ zugesandt. Er zeigte großes Interesse an der Realisierung von Dunants Ideen zur Gründung von freiwilligen Hilfsorganisationen für die Versorgung von Kriegsverletzten und brachte das Buch am 9. Februar 1863 in der Mitgliederversammlung der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft zur Diskussion. In der darauf folgenden Debatte überzeugte er die Mitglieder der Gesellschaft nach deren anfänglichen Bedenken von Dunants Vorschlägen. In der Folge entstand zunächst als Komitee der Fünf eine Kommission der Gesellschaft zur Untersuchung der Realisierbarkeit von Dunants Ideen. Mitglieder dieser Kommission waren außer ihm und Dunant die Ärzte Louis Appia und Théodore Maunoir sowie der Armeegeneral Guillaume-Henri Dufour. Bereits acht Tage später benannten die Mitglieder die Kommission in Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege um, und 1876 erhielt das Komitee seinen noch heute gültigen Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz. Zum Präsidenten des Gremiums wurde nach der Gründung 1863 Dufour gewählt, Moynier wurde zunächst Vizepräsident. An der Ausarbeitung der ersten Genfer Konvention, die ein Jahr später im August 1864 verabschiedet wurde, war er wesentlich beteiligt. Der Konflikt mit Henry Dunant Schon frühzeitig zeigten sich Differenzen zwischen Moynier und Dunant zur Frage, wie weit die Befugnisse der zu gründenden Hilfsorganisationen reichen sollten und wie die Gründung juristisch und organisatorisch zu erfolgen habe. Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung war die Idee Dunants, im Falle eines bewaffneten Konflikts die Hilfskräfte und Verwundeten zwischen den kriegsführenden Parteien unter den Schutz der Neutralität zu stellen. Moynier war ein entschiedener Gegner dieser Idee, da er sie für kaum realisierbar hielt und bei einem Beharren ein Scheitern des gesamten Projekts befürchtete. Dunant warb jedoch bei politisch und militärisch einflussreichen Persönlichkeiten in ganz Europa eigenmächtig für seine Vorstellungen und hatte, als es 1864 zur Verabschiedung der ersten Genfer Konvention kam, damit auch Erfolg. Im gleichen Jahr wurde Moynier Präsident des Internationalen Komitees und setzte sich in dieser Funktion vor allem für die Verbreitung und Akzeptanz der Genfer Konvention ein. Nach seinem Amtsantritt kam es aber auch zu einer Zunahme der Spannungen zwischen dem Pragmatiker Moynier und dem Idealisten Dunant. Diese führten nach dem Bankrott Dunants im Jahr 1867 zu dessen hauptsächlich durch Moynier betriebenen Ausschluss aus dem Internationalen Komitee. Dunant verließ Genf und lebte in den folgenden Jahren unter ärmlichen Verhältnissen in verschiedenen europäischen Ländern. Es gilt als wahrscheinlich, dass Moynier durch seinen Einfluss mehrfach verhinderte, dass Dunant finanzielle Hilfe durch Unterstützer aus verschiedenen Ländern gewährt wurde. Aufgrund der Bestrebungen von Moynier wurde beispielsweise die Goldmedaille der Sciences Morales der Pariser Weltausstellung im Jahr 1867 nicht an Dunant, sondern zu gleichen Teilen an Moynier, Dufour und Dunant verliehen. Das Preisgeld kam somit nicht Dunant zugute, sondern wurde an das Internationale Komitee überwiesen. Ein Angebot des französischen Kaisers Napoléon III., die Hälfte von Dunants Schulden zu begleichen, wenn dessen Freunde die andere Hälfte übernehmen würden, wurde aufgrund von Moyniers Betreiben nie realisiert. IKRK-Präsidentschaft Bereits kurz nach seinem Amtsantritt begann er, neben der Hilfe für Kriegsverwundete als originärer Aufgabe des IKRK auch Möglichkeiten zur Verhinderung von bewaffneten Konflikten zu untersuchen. Ebenso beschäftigte er sich mit der Frage der Zusammenarbeit zwischen dem IKRK und den in den folgenden Jahrzehnten entstehenden nationalen Rotkreuz-Gesellschaften. Seine ursprüngliche Idee, dass jede Gesellschaft ein Mitglied des Komitees entsenden sollte, verwarf er allerdings später insbesondere aufgrund von Befürchtungen, dass dies im Fall von Konflikten zu Spannungen und Beeinträchtigungen der Tätigkeit des Komitees führen könnte. Bereits 1870 war er der Meinung, dass die nationalen Gesellschaften ein Bündnis bilden würden, das vor allem auf der Zusicherung gegenseitiger Unterstützung beruhen sollte. In gewisser Weise sah er damit die Gründung der Liga der Rotkreuz-Gesellschaften voraus, die allerdings erst neun Jahre nach seinem Tod erfolgte. Um seine Vorstellungen zu veröffentlichen und zu verbreiten, nutzte er seinen Einfluss als Herausgeber des 1869 erstmals erschienenen Bulletin international des Sociétés de secours, des offiziellen Organs des IKRK. 1873 veröffentlichte er in der Juli-Ausgabe des Bulletins einen Rückblick auf die ersten zehn Jahre der Rotkreuz-Bewegung. Henry Dunant wurde in diesem Artikel nicht erwähnt. Es ist historisch nicht eindeutig nachvollziehbar, ob Moynier Angst hatte vor negativen Folgen für das Internationale Komitee aufgrund von Dunants aus seiner Sicht zweifelhaftem Ruf, oder ob er bewusst sich selbst als den alleinigen Gründer des Roten Kreuzes darstellen wollte. Im Jahr 1874 formulierte er erstmals vier Grundsätze für die Tätigkeit des IKRK und der nationalen Gesellschaften, nämlich die Existenz einer einzigen Rotkreuz-Gesellschaft in jedem Land (Zentralisierung), die Vorbereitung der Gesellschaften auf den Einsatz im Kriegsfall (Bereitschaft), die unterschiedslose Behandlung der Opfer (Neutralität) und die Zusammenarbeit zwischen den Gesellschaften (Solidarität). In späteren Veröffentlichungen postulierte er Universalität, Nächstenliebe, Brüderlichkeit, Gleichheit und Nichtdiskriminierung als die Prinzipien, denen jede nationale Gesellschaft verpflichtet sei und deren Einhaltung er als Voraussetzung für eine Anerkennung durch das Internationale Komitee betrachtete. Insbesondere dem Zusammenhalt zwischen den nationalen Gesellschaften maß er bis zu seinem Tod besondere Bedeutung für die Verbreitung und Weiterentwicklung der Rotkreuz-Bewegung bei. 1882 veröffentlichte er unter dem Titel «La Croix-Rouge, son passé et son avenir» - «Das Rote Kreuz, seine Vergangenheit und seine Zukunft» - ein Buch zur Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes. Zu den Feierlichkeiten zum 25-jährigen Bestehen der Rotkreuz-Bewegung schlug er am 18. September 1888 das noch heute gültige Motto Inter arma caritas - «Inmitten der Waffen Nächstenliebe» - als gemeinsame Losung aller Rotkreuz-Vereine vor. Im März 1889 verschickte er an alle nationalen Gesellschaften eine Publikation mit dem Titel «But et Organisation générale de la Croix Rouge», in der er wichtige allgemeine Prinzipien und Regeln für deren Tätigkeit zusammenfasste. Diese Broschüre wurde in den nächsten Jahrzehnten mehrfach erweitert und neu aufgelegt, ab 1930 erschien sie als «Handbuch des Internationalen Roten Kreuzes» (heute «Handbuch der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung»). Im Oktober 1898 bat er das Internationale Komitee aufgrund gesundheitlicher Probleme, ihn von der Position des Präsidenten zu entbinden. Die anderen Mitglieder überzeugten ihn jedoch davon, sein Rücktrittsgesuch zurückzunehmen und stattdessen einige seiner bisherigen Aufgaben abzugeben, so beispielsweise die Position des Herausgebers des Bulletins. Auch weitere Versuche in den Jahren 1904 und 1907, sich vom Amt zurückzuziehen, führten lediglich zur Befreiung von weiteren Verpflichtungen, so dass er weiterhin zumindest offiziell als Präsident fungierte. Er unterstützte die Initiative des russischen Zaren Nikolaus II. zur Einberufung der ersten Internationalen Friedenskonferenz in Den Haag im Jahr 1899, konnte jedoch aufgrund seiner Gesundheitsprobleme nicht selbst an dieser Konferenz teilnehmen. Das IKRK war deshalb nur durch Édouard Odier als Mitglied der Schweizer Delegation vertreten. Moynier begrüßte die im Rahmen dieser Konferenz erfolgte Annahme eines Abkommens zur Anwendung der Regeln der Genfer Konvention von 1864 auf den Seekrieg. Eine Überarbeitung der Konvention selbst sah er jedoch als Aufgabe des IKRK im Rahmen einer Konferenz in Genf an und widersetzte sich deshalb entsprechenden Bestrebungen im Vorfeld der Konferenz in Den Haag. Er hatte zwischen 1864 und 1885 mehrere Vorschläge zur Erweiterung der Konvention veröffentlicht und damit großen Anteil an der neuen Fassung, die im Juli 1906 beschlossen wurde. Eine der wichtigsten Neuerungen war dabei die explizite Anerkennung freiwilliger Hilfsgesellschaften zur Versorgung der Kriegsverletzten. Das Institut de Droit international Auf einer Zusammenkunft des Internationalen Komitees am 3. Januar 1872 unterbreitete Moynier, unter dem Eindruck massiver Verstöße gegen die Genfer Konvention während des Preußisch-Französischen Krieges von 1870/71, erstmals einen förmlichen Vorschlag zur Einrichtung eines Internationalen Schiedsgerichts zur Ahndung von Verstößen gegen das Kriegs- und Völkerrecht. Dieser Vorschlag wurde anschließend unter dem Titel «Note sur la création d’une institution judiciaire internationale propre à prévenir et à réprimer les infractions à la Convention de Genève» im Bulletin international des Sociétés de secours aux militaires blessés (Ausgabe 11, April 1872, S. 122) veröffentlicht. Moynier änderte damit grundlegend seine noch 1870 publizierte Auffassung, dass ein solcher Gerichtshof unnötig sei, da zur Durchsetzung der Genfer Konvention der Druck der öffentlichen Meinung ausreichen würde. Wie die Konvention von 1864 bestand auch dieser Entwurf aus zehn Artikeln. Zu einer Zeit, als viele Nationalstaaten gerade erst entstanden und somit Souveränitätsdenken und Nationalbewusstsein die Stimmung in Europa prägten, wurde dieser Vorschlag jedoch von keinem Land offiziell unterstützt und damit nicht umgesetzt. Ein Jahr später, am 8. September 1873, gründete Moynier mit zehn anderen Juristen aus verschiedenen Ländern im belgischen Gent das Institut de Droit international (Institut für Völkerrecht). Dieses Institut sollte als unabhängige Einrichtung zur Weiterentwicklung des Völkerrechts und dessen Implementierung beitragen. Moynier hatte neben dem belgischen Juristen Gustave Rolin-Jaequemyns, den er 1862 während eines Wohlfahrtkongresses in London kennengelernt hatte, den größten Anteil an der Idee zur Gründung. Am 9. September 1880 wurde das von ihm verfasste Manuel des lois de la guerre sur terre von der sechsten Sitzung des Instituts in Oxford einstimmig angenommen. Dieses auch als Oxford Manual bezeichnete Handbuch war vor allem als Grundlage für die nationale Gesetzgebung zum Kriegsrecht in den damaligen Staaten gedacht. Im Jahr 1892 leitete er die in Genf stattfindende 13. Sitzung des Instituts, zwei Jahre später wurde er als zweites Mitglied nach Rolin-Jaequemyns zum Ehrenpräsidenten ernannt. Moynier und die Friedensbewegung Im Mai 1868 war Moynier darüber hinaus Mitglied der Ligue internationale et permanente de la Paix, der von Frédéric Passy ein Jahr zuvor gegründeten Internationalen Friedensliga, geworden. Da er innerhalb des ersten Jahres nach Gründung der Liga beigetreten war, gilt Moynier auch für die Ligue internationale et permanente de la Paix als Gründungsmitglied. Einer der Gründe für seinen Beitritt waren Vorwürfe von Friedensaktivisten, dass die Tätigkeit des Roten Kreuzes Kriege erträglicher und damit wahrscheinlicher machen würde. Er selbst war stets der Meinung, dass die Friedensbewegung und die Rotkreuz-Bewegung vereint seien in der Ablehnung des Krieges, jedoch unterschiedliche Mittel und Wege nutzen würden zum Erreichen dieses Ziels. Obwohl er Krieg als „düstere Krankheit“ und Schlichtung, Abrüstung sowie die Verbreitung pazifistischer Ideale als Ansätze zu deren Behandlung ansah, war er sich auch der Unzulänglichkeiten dieser Mittel bewusst. Den Beitrag der Idee des Roten Kreuzes zum Frieden sah er insbesondere im Abbau nationaler Egoismen, der aus der Verpflichtung der Rotkreuz-Gesellschaften zu unterschiedsloser Hilfeleistung resultierte. Moynier wurde in den Jahren 1901, 1902, 1903 und 1905 von Fredrik Herman Rikard Kleen, einem Mitglied des Institut de Droit international, für den Friedensnobelpreis nominiert. Im Gegensatz zu Dunant, der 1901 zusammen mit Frédéric Passy bei der erstmaligen Verleihung des Preises ausgezeichnet wurde, erhielt er diesen jedoch nicht. Dem IKRK wurde in den Jahren 1917, 1944 und 1963 als bisher einzigem Preisträger dreimal der Friedensnobelpreis verliehen. Auch die Arbeit des Instituts de Droit international wurde im Jahr 1904, und damit noch zu Lebzeiten Moyniers, mit dem Preis gewürdigt. Obwohl ihm selbst diese Anerkennung nie zuteilwurde, ist es somit seine wesentliche Lebensleistung, an der Gründung und Entwicklung von zwei mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Institutionen maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Wirken als Generalkonsul des Kongo-Freistaates Ab 1876 unterstützte Moynier die Kolonialbestrebungen Belgiens unter König Leopold II. in der afrikanischen Kongo-Region. So begründete er 1879 die monatlich erscheinende Zeitschrift „L'Afrique explorée et civilisée“ und wurde von Leopold II. am 22. Mai 1890 zum Generalkonsul des Kongo-Freistaates ernannt. Ein Aufsatz von ihm, den er 1883 dem Institut de Droit international präsentiert hatte und der an alle europäischen Regierungen verschickt wurde, trug entscheidend zur Anerkennung des von Leopold II. ausgerufenen Kongo-Freistaates durch die internationale Kongokonferenz in Berlin im Jahr 1885 bei. Angesichts von Moyniers sonstigen Aktivitäten im Bereich des internationalen Rechts erscheint es aus heutiger Sicht fragwürdig, warum er die völkerrechtlich einzigartige Vereinnahmung des Kongos durch Leopold II. als dessen Privatbesitz unterstützte. Wahrscheinlich spielten dabei seine christlichen Überzeugungen zu Fragen der Wohltätigkeit und des Gemeinwohls eine Rolle. König Leopold II. hatte 1876 im Rahmen einer internationalen Konferenz die Gründung eines gemeinnützigen Komitees zur «Verbreitung der Zivilisation unter den Völkern der Kongoregion durch wissenschaftliche Untersuchung, legalen Handel und Kampf gegen arabische Sklavenhändler» vorgeschlagen und später die «Brüsseler Konferenzen» zur Bekämpfung des Sklavenhandels ins Leben gerufen. Die Ablehnung des Sklavenhandels durch Leopold II. war allerdings angesichts seines Vorgehens im Kongo kaum mehr als ein Versuch zur Verschleierung der dortigen kolonialen Realität. Sie deckte sich aber aus Moyniers Sicht mit dessen Forderungen nach einer Abschaffung der Sklaverei, einer für die damalige Zeit nicht selbstverständlichen Position. Am 11. Januar 1904 trat er aus gesundheitlichen Gründen vom Amt des Kongo-Generalkonsuls zurück, im März es gleichen Jahres wurde er zum Ehrenkonsul ernannt. Letzte Lebensjahre und Tod Im Jahr 1902 stiftete Gustave Moynier 20.000 Schweizer Franken, um aus den Erträgen dieses Kapitals die Finanzierung einer Bibliothek in Genf zu ermöglichen, die sich der Sammlung von Veröffentlichungen zum Völkerrecht und zu humanitären Themen widmen sollte. Diese Bibliothek wurde am 15. Januar 1905 eröffnet. Sie ist heute als Salle Moynier Teil der Stadt- und Universitätsbibliothek Genf und umfasst etwa 1.200 Titel. Darüber hinaus richtete er in den letzten Jahren seines Lebens einen Raum seines Hauses als kleines Museum ein, in dem er seine zahlreichen Auszeichnungen und gesammelten Werke der Öffentlichkeit präsentierte. Er starb im Jahr 1910 in seiner Heimatstadt, zwei Monate vor Dunant, ohne dass es jemals zu einer Versöhnung zwischen ihnen gekommen war. Sein Grab befindet sich im Bereich G des Cimetière des Rois, einem exklusiven Friedhof in Genf, auf dem neben anderen prominenten Bürgern der Stadt beispielsweise auch der Reformator Johannes Calvin beerdigt wurde. Obwohl Moynier in den letzten Jahren alle administrativen Aufgaben innerhalb des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz abgegeben hatte, blieb er bis zu seinem Tod dessen Präsident. In der Geschichte des Komitees war er damit der Präsident mit der längsten Amtszeit und, durch Dunants frühen Ausschluss und den Tod der anderen drei Gründer (1869 - Théodore Maunoir; 1875 - Guillaume-Henri Dufour; 1898 - Louis Appia), das letzte noch verbliebene Mitglied aus dem ursprünglichen Komitee der Fünf. Sein Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde sein Neffe Gustave Ador, der bereits seit 1870 Mitglied des Komitees war. Auch sein Sohn Adolphe, der wie sein Vater Jura studiert hatte und als Börsenmakler tätig war, stand von 1898 bis 1918 als Schatzmeister im Dienst des IKRK. Die Villa Moynier am Genfersee, das frühere Familienanwesen und zwischenzeitlich Sitz des IKRK, wird heute von der Universität Genf und vom Europäischen Kulturzentrum Genf genutzt. Rezeption und Nachwirkung Lebenswerk Es ist angesichts von Moyniers Aktivitäten nicht angemessen, ihn hinsichtlich seiner historischen Bedeutung nur als den Widersacher von Henry Dunant zu betrachten. Durch sein langjähriges Wirken als Präsident des IKRK gelang es ihm, die entstehende Rotkreuz-Bewegung zu konsolidieren und damit wesentlich zur Verbreitung der Idee des Roten Kreuzes beizutragen. Sowohl mit seiner Arbeit im Internationalen Komitee vom Roten Kreuz als auch mit der Gründung und Tätigkeit des Institut de Droit international hatte er darüber hinaus entscheidenden Anteil an der Entstehung und Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts. Durch seinen Einsatz für das humanitäre Völkerrecht trug er auch dazu bei, der Rotkreuz-Bewegung eine säkulare, auf juristischen Prinzipien beruhende normative Grundlage zu geben. Trotz seiner eigenen calvinistischen Überzeugungen gab er somit bewusst einer universell akzeptablen Basis den Vorzug vor den ursprünglich christlichen Idealen, die zur Gründung des Internationalen Komitees geführt hatten. Er verstand dabei die im humanitären Völkerrecht formulierten Regeln als «la philosophie naturelle», also als natürliches Recht, das unabhängig von religiösen Glaubensgrundsätzen gilt. Sein Wirken war jedoch auch, insbesondere in späteren Jahren, durch eine sehr konservative Grundhaltung geprägt. Er wollte vor allem Erreichtes beziehungsweise Bestehendes bewahren und es nicht durch Änderungen und Erweiterungen gefährden. Anders als Henry Dunant und Louis Appia widersetzte er sich beispielsweise während seiner gesamten Amtszeit einer Ausweitung der Zuständigkeiten der Rotkreuz-Bewegung auf Aktivitäten zugunsten von Kriegsgefangenen oder Flüchtlingen, oder in Friedenszeiten für die Opfer von Naturkatastrophen. Er trat diesbezüglich für eine Beibehaltung des ursprünglichen Mandates und für eine strikte Trennung zwischen verwundeten Soldaten und nicht verwundeten Kriegsopfern ein. Im Gegensatz zu Dunants charismatischem Idealismus beruhte die Tätigkeit – und der Erfolg – von Moynier auf pragmatischer Geduld, Diplomatie und Beharrlichkeit. Er galt als charakterfest und unerschütterlich hinsichtlich seiner moralischen und religiösen Prinzipien. Gleichwohl wurde seine Persönlichkeit als scheu, humorlos und selbstzweifelnd beschrieben, gekennzeichnet von einem religiös begründeten ängstlichen Streben nach Erfolg und Anerkennung sowie einem ausgeprägten Mangel an Selbstbewusstsein. Im Gegensatz zu Henry Dunants religiösen Vorstellungen insbesondere in dessen späteren Jahren war der Glauben von Moynier jedoch nicht von mystischen Ideen, sondern vor allem von Rationalismus geprägt. Sein persönlicher Umgang mit Dunant beruhte zum einen auf der Angst davor, dass dessen aus Moyniers Sicht übertriebener Eifer und Idealismus die Idee des Roten Kreuzes scheitern lassen würde. Ein weiterer Grund insbesondere in seinen späteren Lebensjahren war die vor allem in der Nobelpreisverleihung an Dunant zum Ausdruck kommende und nach Moyniers Meinung ungerechtfertigte Bewertung seines eigenen jahrzehntelangen Wirkens im Vergleich zu dem, was Dunant mit seinem Buch innerhalb kurzer Zeit erreicht hatte. Allerdings stellen einige Autoren auch die Sichtweise in Frage, dass Dunant und Moynier gleichermaßen an der Entstehung des Roten Kreuzes beteiligt gewesen wären und dass das Wirken von beiden eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg gewesen sei. Aufgrund der grundlegend verschiedenen Ideale und Charaktereigenschaften beider Protagonisten sei es vielmehr sehr unwahrscheinlich, dass es eine substantielle Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ziel mit sich gegenseitig ergänzenden Bestrebungen gegeben habe oder hätte geben können. Eine diesbezügliche Darstellung der Rotkreuz-Geschichte entspringt dieser Ansicht nach dem Bestreben, die Bedeutung der Aktivitäten Moyniers zu beschönigen (siehe dazu Ottaviani et al. in Vesalius, 2005). Auszeichnungen und Würdigung Das Wirken von Gustave Moynier wurde bereits zu seinen Lebzeiten in vielfältiger Weise gewürdigt. So ernannten ihn mehrere nationale Rotkreuz-Gesellschaften zum Ehrenmitglied. Im Oktober 1867 erhielt er, wie sieben Jahre zuvor Henry Dunant und Louis Appia, mit dem Orden des Heiligen Mauritius und Lazarus die zweithöchste Auszeichnung des Königreichs Italien und zwei Jahre später den Orden vom Niederländischen Löwen. Von Seiten der deutschen Königshäuser wurde er unter anderem im Juni 1869 zum Ritter zweiter Klasse des preußischen Kronenordens ernannt, im Februar 1870 wurde er mit dem Kommenturkreuz zweiter Klasse des württembergischen Friedrichs-Ordens ausgezeichnet. Im August 1871 erfolgte seine Aufnahme als Offizier in die französische Ehrenlegion. Die Universität Bern ernannte ihn im Oktober 1885 zum Ehrendoktor der Rechtswissenschaften. Zwei Jahre später erhielt er mit dem Orden der Aufgehenden Sonne die höchste Auszeichnung, die in Japan an Ausländer verliehen werden kann. Im Juni 1898 wurde in den Vereinigten Staaten das erste Hospitalschiff in der Geschichte unter der Flagge des Roten Kreuzes auf den Namen „Moynier“ getauft. Die Universität Genf verlieh ihm im Juni 1901 das Ehrendoktorat in Soziologie, ein Jahr später wurde er zum ausländischen assoziierten Mitglied der Académie des sciences morales et politiques ernannt. Im April 1903 erhielt er von der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg zusammen mit Henry Dunant die Ehrendoktorwürde. Der Parc Moynier und die Straße Rue Gustave-Moynier in Genf sind nach ihm benannt worden, eine Gedenkbüste befindet sich im Genfer Parc des Bastions. Literarische Darstellung Eine frühe Darstellung der Rolle von Gustave Moynier in der Rotkreuz-Geschichte ist das Werk „Le Berceau de la Croix Rouge“ des Historikers Alexis François von der Universität Genf, das 1918 in Genf und damit acht Jahre nach Moyniers Tod herausgegeben wurde und eine der ersten historischen Studien zur Entstehung des Roten Kreuzes war. Das 2005 erschienene Buch „The Geneva Convention: The Hidden Origins of the Red Cross“ der irischstämmigen und in Genf ansässigen Autorin Angela Bennett stellt die Phase des Lebens von Gustave Moynier dar, die 1864 zum Abschluss der ersten Genfer Konvention führte und dabei durch den sich verschärfenden Konflikt mit Henry Dunant geprägt war. Das Werk beschreibt wechselweise das Wirken beider Protagonisten und ihren jeweiligen Anteil am Erfolg der gemeinsamen Bemühungen. Eine umfassende Biographie wurde, basierend auf einem unvollendeten Manuskript André Durands, vom Genfer Juristen und Historiker Jean de Senarclens im Jahr 2000 in französischer Sprache und 2005 als englischsprachige Übersetzung veröffentlicht. Werke (Auswahl) La guerre et la charité. Traité théorique et pratique de philanthropie appliquée aux armées en campagne. Cherbuliez, Paris und Genf 1867 (zusammen mit Louis Appia) Les institutions ouvrières de la Suisse. Mémoire. Cherbuliez, Genf 1867 La Croix-Rouge, son passé et son avenir. Sandoz et Thuillier, Paris 1882 But et Organisation générale de la Croix Rouge. Genf 1889 L'institut de droit international. Picard, Paris 1890 Conférence sur la Convention de Genève. Soullier, Genf 1891 Literatur François Bugnion: Gustave Moynier 1826–1910. Deutsches Rotes Kreuz, Henry-Dunant-Gesellschaft und Forschungszentrum „Humanitäres Genf“, Berlin und Genf 2011, ISBN 2-88-163038-3 Jean de Senarclens: The Founding of the Red Cross: Gustave Moynier, its Master Builder. Editions Slatkine, Genf 2005, ISBN 2-83-210222-0; französischsprachige Originalausgabe: Gustave Moynier: le bâtisseur. Editions Slatkine, Genf 2000, ISBN 2-05-101839-1 Pierre Boissier: History of the International Committee of the Red Cross. Volume I: From Solferino to Tsushima. Henry Dunant Institute, Genf 1985, ISBN 2-88-044012-2 Caroline Moorehead: Dunant's Dream: War, Switzerland and the History of the Red Cross. HarperCollins, London 1998, ISBN 0-00-255141-1 (gebundene Ausgabe); HarperCollins, London 1999, ISBN 0-00-638883-3 (Taschenbuch-Ausgabe) Angela Bennett: The Geneva Convention: The Hidden Origins of the Red Cross. Sutton Publishing, Gloucestershire 2005, ISBN 0-75-094147-2 André Durand: Gustave Moynier and the Peace Societies. In: International Review of the Red Cross. 314/1996. ICRC, S. 532–550, Christopher Keith Hall: The First Proposal for a Permanent International Criminal Court. In: International Review of the Red Cross. 322/1998. ICRC, S. 57–74, André Durand: The International Committee of the Red Cross at the Time of the First Hague Peace Conference (1899). In: International Review of the Red Cross. 834/1999. ICRC, S. 353–364, André Durand: The first Nobel Prize (1901) Henry Dunant, Gustave Moynier and the International Committee of the Red Cross as candidates. In: International Review of the Red Cross. 842/2001. ICRC, S. 275–285, James Cockayne: Islam and International Humanitarian Law: From a Clash to a Conversation between Civilizations. In: International Review of the Red Cross. 847/2002. ICRC, S. 597–626, Raimonda Ottaviani, Duccio Vanni, M. Grazia Baccolo, Elizabeth Guerin, Paolo Vanni: Rewriting the Biography of Henry Dunant, the Founder of the International Red Cross. In: Vesalius - Acta Internationalia Historiae Medicinae. 11(1)/2005. International Society for the History of Medicine, S. 21–25 Weblinks Red Cross and Red Crescent Movement History – Gustave Moynier (englisch) Präsident (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) Person (humanitäre Hilfe) Mitglied des Institut de Droit international Mitglied der Académie des sciences morales et politiques Mitglied der Ehrenlegion (Offizier) Mitglied der Internationalen Friedensliga Korporierter im Schweizerischen Zofingerverein Träger des Ordens der Aufgehenden Sonne Träger des Ordens vom Niederländischen Löwen Träger des Preußischen Königlichen Kronenordens 2. Klasse Kommentur II. Klasse des Friedrichs-Ordens Träger des Ordens der hl. Mauritius und Lazarus (Ausprägung unbekannt) Ehrendoktor der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Person (Genf) Henry Dunant Schweizer Geboren 1826 Gestorben 1910 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/John%20Bull
John Bull
John Bull ist eine nationale Personifikation des Königreichs Großbritannien. Sie wurde 1712 von John Arbuthnot im Pamphlet Law is a bottomless pit geschaffen und Ende des 18. Jahrhunderts von britischen Karikaturisten als Symbol Großbritanniens verwendet. Darstellung John Bull wird normalerweise als untersetzter Mann in Frack, Kniebundhosen und einer Union-Jack-Weste dargestellt. Er trägt einen Zylinderhut auf dem Kopf (zuweilen John-Bull-Zylinder genannt) und wird häufig von einer Bulldogge begleitet. Er ist eine häufige Figur im britischen Cartoon des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In der Werbung tritt John Bull in zahlreichen Variationen auf. Die wohlmeinende Karikatur des stockkonservativen Einwohners Großbritanniens, gekleidet wie ein englischer Landadliger, zuweilen ausdrücklich kontrastiert zu dem üblicherweise dürren Sansculotten Jacobin der Französischen Revolution, wurde seit etwa 1790 von den britischen Satirikern James Gillray, Thomas Rowlandson und George Cruikshank entwickelt. John Bull wurde vom schottischen Immigranten William Charles in die Karikaturtradition der Vereinigten Staaten eingeführt. Der „Vater der amerikanischen Karikatur“, Thomas Nast, führte diese Tradition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort. John Bull wurde zur Zeit des Ersten Weltkrieges auf deutscher Seite gerne als Karikatur des Gegners England verwendet, so z. B. häufig in der Zeitschrift Simplicissimus. Weblinks The British Library newspaper catalogue Einzelnachweise Nationale Personifikation Nationales Symbol (Vereinigtes Königreich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Benno%20Elkan
Benno Elkan
Benno Elkan OBE (* 2. Dezember 1877 in Dortmund; † 10. Januar 1960 in London) war ein deutscher Bildhauer, der die Große Menora vor der Knesset in Jerusalem und zahlreiche Denkmale, Büsten und Medaillen in Deutschland und England schuf. Elkan begann sein Schaffen als Bildhauer in seiner Heimatstadt Dortmund mit Grabdenkmalen. Später porträtierte er Militärs, Staatsmänner, Wissenschaftler und Künstler, vor allem aus Deutschland, Frankreich und England in Büsten und Medaillen. Elkan erhielt als jüdischer Künstler 1935 Berufsverbot. 1937 wurden in der Aktion „Entartete Kunst“ nachweislich zwei seiner Plastiken aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt. Elkan emigrierte nach London. In Deutschland war er zunächst vergessen, bis seine Werke in den 1950er-Jahren erneut in Ausstellungen gezeigt wurden. Elkans Schaffen ist keiner festen Stilrichtung zuzuordnen. Erst in den letzten Jahren wurde er auch als einer der ersten deutschen Fußballpioniere bekannt. Leben Kindheit und Jugend in Dortmund Elkan war das einzige Kind des Schneidermeisters Salomon Elkan, Mitinhaber eines Herrentextilgeschäftes in der Dortmunder Innenstadt, und dessen Frau Rosalie (* 1861 in Heidelberg). Hier besuchte er auch das Städtische Gymnasium (damals „Schola Tremoniae“) bis zum „Einjährigen“. Dortmund war zur Jugendzeit Elkans eine Stadt, in der sich die kleine jüdische Gemeinde (1.306 von 90.000 Einwohnern im Jahre 1890) erfolgreich etablieren konnte, wofür der Bau einer großen Synagoge und die Integration eines jüdischen Bereichs auf dem Ostenfriedhof Indizien waren. Soweit bekannt nahm Benno Elkan am Leben der jüdischen Gemeinde teil, feierte seine Bar Mitzwa und besuchte am Gymnasium den jüdischen Religionsunterricht. Wanderjahre Um seine Sprachkenntnisse zu verbessern, besuchte Elkan nach der Mittleren Reife 1893/94 für ein Jahr das seit 1880 bestehende elitäre Knabenpensionat Château du Rosey in Rolle am Genfersee. Hier lernte er den Fußball durch seine englischen Mitschüler kennen und lieben. Mit einigen Gleichgesinnten gründete Benno Elkan 1895 den Dortmunder FC 95, später Dortmunder SC 95 (heute nach Fusion TSC Eintracht Dortmund), und damit Dortmunds ältesten Fußballclub. In Antwerpen übte er kurz eine kaufmännische Tätigkeit aus, brach sie aber mit Einverständnis seiner Eltern ab, um sich zunächst ab Dezember 1897 in München auf der privaten Kunstschule des Malers Walter Thor auf die Aufnahmeprüfung der Kunstakademie vorzubereiten. Nach bestandener Prüfung Ostern 1898 studierte er an der Kunstakademie bei dem Maler Johann Caspar Herterich. Am 27. Februar 1900 war er eines von 17 Gründungsmitgliedern des FC Bayern München. Im selben Jahr leistete er seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger ab und setzte danach 1901 in Karlsruhe bei dem Maler Friedrich Fehr sein Kunststudium fort. Dort fasste er 1903 den Entschluss, sich fortan ausschließlich der Bildhauerei zu widmen. Der erste Auftrag als Bildhauer erreichte Benno Elkan aus seiner Heimatstadt Dortmund. Der damalige Chefredakteur des Dortmunder General-Anzeigers, Karl Richter, ließ den jungen Bildhauer eine lebensgroße Frauenfigur für das Grab der Familie Richter-Seippel erstellen. Die so entstandene Figur „Wandelnde“, die das Leben als tastende Suche nach dem richtigen Weg symbolisiert, ist auf dem Ostenfriedhof Dortmund erhalten. Obwohl Elkan als Bildhauer Autodidakt war, zeigte sich das Dortmunder Publikum beeindruckt. In Karlsruhe begegnete Elkan auch seiner zukünftigen Frau, der Pianistin Hedwig Einstein, einer Schwester des Kunsthistorikers Carl Einstein, die er 1907 heiratete. Paris Anfang des Jahres 1905 ging Elkan nach Paris, wo er in einem Atelierhaus mit dem Bildhauer Julius Steiner und dem amerikanischen Maler Patrick Henry Bruce wohnte. Schon 1905 konnte Elkan in einer Ausstellung der Société nationale des beaux-arts einige Werke zeigen. In der französischen Hauptstadt begegnete er Auguste Rodin, der den jungen Bildhauer tief beeindruckte. Benno Elkan schreibt über eine Begegnung mit Rodin: Elkans Pariser Werke zeigen jedoch zunächst kaum etwas von Rodins Einfluss. Die Wirkung Rodins zeigt sich eher im Spätwerk Elkans, etwa in den erzählenden Werken wie den großen Kirchenleuchtern mit Bildern aus der Bibel, die auch von Lorenzo Ghibertis Paradiespforte am Baptisterium des Florentiner Doms beeinflusst sind. In Elkans letztem Werk, dem Mahnmal für die Opfer des Bombenkrieges, findet sich das Vorbild von Rodins Höllentor wieder. In den Pariser Werken wie der Skulptur „Flötenspieler“ (1906) zeigen sich eher zeitgenössische Einflüsse des Jugendstils. Obwohl Elkan intensiv Eindrücke aus der Pariser Umgebung aufnahm, schloss er sich keiner der modernen Strömungen oder Gruppen an. Eine Freundschaft entwickelte sich zu dem expressionistischen Maler Jules Pascin (eigentlich Julius Mordecai Pinkas), der bereits für den Simplicissimus gezeichnet hatte. Gleichzeitig hielt Elkan aber die Kontakte nach Karlsruhe, wo seine Verlobte wohnte, und nach Dortmund aufrecht und schuf weitere Grabmäler für den Dortmunder Ostfriedhof. Bei einem Besuch baute er auch erste Kontakte zu seinem Förderer Karl Ernst Osthaus auf, den er auf seine Denkmale auf dem Ostenfriedhof Dortmund hinwies. Menzel-Severing nimmt in seiner Dissertation über Elkan an, dass dessen Teilnahme an der Deutschen Kunstausstellung 1906 in Köln auf die Unterstützung von Osthaus zurückgehe. 1906 gestaltete Elkan dann seine erste Einzelausstellung. Im alten Dortmunder Rathaus zeigte er Büsten und Skulpturen. Es blieb bis nach dem Zweiten Weltkrieg die einzige Ausstellung Elkans in seiner Vaterstadt, obwohl Elkan durchaus an Ausstellungen teilnahm, etwa 1908, 1910 und 1912 in der Kunsthalle Bremen (schon wegen seiner Mitgliedschaft im Deutschen Künstlerbund), 1915 in Wiesbaden zur Museumseröffnung oder die 25. DKB-Jahresausstellung 1929 im Kölner Staatenhaus, wo er die im Jahr zuvor geschaffene Bronzeplastik Tatjana Barbakoff zeigte. Rom 1907 bis 1911 lebte Elkan mit seiner Frau in Rom, nachdem er den Rom-Preis der Michael-Beer-Stiftung gewonnen hatte. Von 1907 bis 1909 wurde Elkan ein Atelier auf dem Gelände der Villa Strohl-Fern zur Verfügung gestellt. Sie lebten dort in einem Palazzo, der zu dem Palast Papst Julius’ III. gehörte, das Atelier lag in der Via Quattro Fontane. In Italien unternahm Elkan verschiedene Reisen, u. a. nach Neapel und Florenz. Er studierte intensiv die Bildhauerei der Renaissance. 1910 wurde die älteste Tochter Ursula geboren (die spätere Frau des Pianisten der Comedian Harmonists Erwin Bootz), drei Jahre später der Sohn Wolf. Auch in Rom bearbeitete Elkan Aufträge aus Dortmund, so die Grabplastik Todesgang und die Persephone-Skulpturen. Besonders deutlich werden die Einflüsse der italienischen Umgebung in der großen Grabplastik Bergpredigt (1909), einem dreiteiligen Relief für das Grab von Pfarrer Karl Evertsbusch in Bad Godesberg. Das Relief stellt in der mittleren Tafel den predigenden Jesus, rechts die Anhänger, links die Gegner dar. Die Übergänge zwischen den Tafeln realisierte Elkan nach dem Vorbild von Donatellos Relief im Altar von Dom S. Antonio in Padua durch große Figuren. Die malerische Gestaltung des Reliefgrundes ist angeregt durch Ghibertis Paradiestüren. In Rom arbeitete Elkan in bewusster Auseinandersetzung mit der Antike zum ersten Mal mit Stein. Bei der Abreise aus Rom nahm er Material aus antiken Ruinen mit. Alsbach an der Bergstraße Nach seiner Rückkehr aus Rom lebte Elkan von 1911 bis 1919 zunächst in Alsbach bei Darmstadt in einem eigenen Haus, wo ihn 1912 von Heidelberg aus Friedrich Burschell und Ernst Blass besuchten. In Alsbach erstellte Elkan verschiedene Auftragsarbeiten, etwa die Medaillen zum Tode Gustav Mahlers oder mit dem Porträt Frank Wedekinds. Er fertigte auch neue Porträtbüsten, zum Beispiel 1912 das Bildnis Alfred Flechtheims. Für den jüdischen Friedhof an der Roßweide in Wickrath, heute ein Ortsteil von Mönchengladbach, gestaltete Elkan 1912 das erste seiner großen Steindenkmale, den „Stein der Klage“, der bildlich an das Dortmunder Denkmal „Todesgang“ in Dortmund anknüpfte. In der Alsbacher Zeit hielt Elkan auch enge Verbindung zu dem Schriftsteller René Schickele, der den Namen Elkans, leicht verfremdet, für ein unvollendetes Romanprojekt verwendete: „Benkal, der Frauentröster“ (Leipzig 1914). 1914 wurde Elkan zum Militärdienst eingezogen. Bis zu einer Choleraerkrankung diente er als Versorgungsoffizier in Polen, später bei der Postüberwachung in Frankfurt am Main. Elkan hielt seine polnischen Kriegseindrücke in dem Buch „Polnische Nachtstücke“ fest, das er mit düsteren Federzeichnungen illustrierte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Elkans Medaille zum Gedenken an Generalfeldmarschall August von Mackensen. Frankfurter Jahre Ab Oktober 1919 wohnte die Familie in Frankfurt am Main, wo sich Elkan im Kulturleben etablieren konnte. Das Haus in Alsbach behielt die Familie als Sommerresidenz. Bereits 1919 war er Vorsitzender des Künstlerrats in Frankfurt, der die Interessen der Künstler beim Magistrat der Stadt vertreten sollte. Elkan schreibt, dass der Künstlerrat erreichte, „daß viele Aufträge für städtische Rechnung gegeben wurden.“ Menzel-Severing legt nahe, dass Elkan in der unmittelbaren Nachkriegszeit Anhänger des Spartakusbundes gewesen sei. Benno Elkan führte ein großes Haus im bürgerlichen Frankfurt-Westend, in dem er zahlreiche Gäste aus dem Kulturleben empfing. Sein Atelier lag in der Karmelitergasse im Kreuzgang des Karmeliterklosters. Im Jahre 1919 erhielt Elkan von der Stadt Frankfurt den Auftrag, ein Mahnmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs zu schaffen. Elkan entwarf zunächst eine monumentale, 40 Meter hohe Stele mit dem Relief eines Jünglings. Daten und Fakten aus den Jahren 1913 und 1919 sollten im Vergleich die verheerenden Folgen des Weltkriegs deutlich machen. Dieser pazifistische Entwurf wurde nicht realisiert; die Stadt Frankfurt kaufte stattdessen Elkans 1913/14 in Alsbach entstandene Skulptur Heldenklage. Am 3. Oktober 1920 wurde das Denkmal an der Ecke Kaiserstraße/Gallusanlage eingeweiht. Das Denkmal geriet in die Kritik nationaler Kreise, da es mit der Inschrift „Den Opfern“ und der trauernden Mutterfigur mit der Tradition martialischer Kriegerdenkmale brach. Benno Elkan ließ sich von der nationalistischen Kritik nicht einschüchtern. Als die Stadt Völklingen beschloss, ein Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs errichten zu lassen, übernahm er den Auftrag. Auch das Völklinger Denkmal zeigte eine trauernde Frauenfigur, die Elkan doppelt lebensgroß in poliertem, schwarzen Odenwaldgranit ausführte. Die auf dem Boden hockende Trauernde schmiegte ihren nach rechts geneigten Kopf in die Hände. Die Inschrift auf dem hellgrauen, fast weißen Sockel lautete „Allen Opfern“ und machte die Intention des Denkmals in Frankfurt nochmals explizit deutlich. Das Denkmal wurde am 7. Juni 1925 zusammen mit dem verlagerten Kriegerdenkmal für den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 eröffnet. In seiner Einweihungsrede interpretierte der damalige Völklinger Bürgermeister Karl Janssen die Inschrift so, dass „alle Opfer materieller und ideeller Art“ gemeint seien, also nicht die des Gegners. Dabei betonte er die Zugehörigkeit des Saarlandes zu einem demokratischen Deutschland. Auch in Völklingen wurde gegen das Denkmal von nationalen Kreisen, vor allem von der Deutsch-Völkischen Freiheitspartei und dem Deutschnationalen Jugendbund, protestiert. Trotz der heftigen Kritik deutschnationaler Kreise wurde der starke Ausdruck der Trauer, den das Denkmal vermittelte, zum Anlass für eine Replik: In der Gemeinde Cunewalde im Kreis Bautzen wurde 1929 eine etwa halb so große Variante der Völklinger Figur aufgestellt, diesmal in Bronze. Die Inschrift wurde um die Jahreszahlen des Ersten Weltkriegs ergänzt. Auf einem Zwischensockel wurden die Namen von 109 Gefallenen aus der Region eingraviert. Eine weitere, 90 cm hohe Replik der Skulptur findet sich auf dem Grab von Hedwig und Benno Elkan auf dem Liberal Jewish Cemetery von Willesden Green im London Borough of Brent. Benno Elkan hatte die Völklinger Skulptur als seine „vielleicht schönste Figur“ bezeichnet. In den späten 1920er Jahren fand Elkans Werk zunehmende Beachtung. So wurde er zu einer repräsentativen Ausstellung „Deutsche Kunst“ im Kunstpalast Düsseldorf (2. Mai bis Oktober 1928) eingeladen, die führende Künstler der Moderne aus Deutschland, Deutschösterreich und der Schweiz zusammenbrachte. Elkan erzielte jetzt hohe Honorare für seine Arbeiten, um die 5.000 Reichsmark kostete ein Bronzeporträt. In Frankfurt gewann Elkan einen großen Freundeskreis, er sammelte selbst Gegenwartskunst und interessierte sich für Musik, Theater und Literatur. Er veröffentlichte kunsttheoretische Beiträge in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration und verfasste literarische Werke, die er selbst illustrierte, etwa 1918 die Sammlung Polnische Nachtstücke zu seinen Kriegsimpressionen in Polen oder 1926 das Werk Spanien, von einem Künstler gesehen. Unveröffentlicht im Nachlass fand sich ein weiteres Reisemanuskript mit dem Titel Kunstreise durch Frankreich. 1921 veröffentlichte er das Kinderbuch Die Große Reise der Tante Clementine, 1927 schrieb er das Libretto zu Ernst Tochs Oper Die Prinzessin auf der Erbse. 1930 erregte erneut eine politisch motivierte Arbeit Elkans großes Aufsehen. In Anwesenheit von Reichspräsident Paul von Hindenburg wurde auf dem Schillerplatz in Mainz das Befreiungsdenkmal enthüllt. Anlass war das Ende der alliierten Rheinlandbesetzung, in deren Zuge Mainz von französischen Truppen besetzt war. Das Denkmal mit dem Titel Die Freiheit zeigte eine aus Stein gemeißelte 3,5 bis 4 Meter hohe Frauenfigur mit nacktem Oberkörper. Das Haupt zurückgebeugt, schien die Frau wie erwachend aus schwerer Zeit in eine bessere Zukunft zu blicken, so interpretierte es der Mainzer Anzeiger. Elkans Arbeit stand hier im Kontext einer erwachenden nationalen Begeisterung, die ihn und seine Familie kurze Zeit später aus Deutschland vertreiben sollte. Dabei wurde die Arbeit aufgrund der entblößten Frauenfigur von Anfang an kritisiert. Auch in Mainz begannen kurz nach Abzug der französischen Truppen erste antisemitische Aktivitäten. Das Denkmal wurde bereits Ende März 1933 auf Initiative des kommissarischen Mainzer Oberbürgermeisters Philipp Wilhelm Jung entfernt und später aufgrund seiner politischen Aussage und der jüdischen Herkunft des Künstlers zerstört. Exil in England Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurden viele Werke Elkans aus dem öffentlichen Raum entfernt, es folgten Hausdurchsuchungen. Mit einem Schreiben der Reichskulturkammer vom 12. Februar 1935 wurde der Aufnahmeantrag Elkans in die „Reichskammer der Bildenden Künste, Fachverband Bund Deutscher Bildhauer“ abgelehnt „gemäß dem § 10 der ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes vom 1. November 1933 (RGBl. I S. 797) …, da Sie Nichtarier sind und als solcher die für die Schaffung deutschen Kulturguts erforderliche Geeignetheit und Zuverlässigkeit nicht besitzen.“ Die weitere Berufsausübung wurde ihm untersagt. Auch Elkans Familie geriet zunehmend unter Druck. An der Frankfurter Universität begann unmittelbar 1933 ein SS-Sturmbann „V 2 SS“ unter dem Jura-Referendar Georg-Wilhelm Müller, jüdische und politisch missliebige Studenten zu terrorisieren. Elkans Sohn wurde ausgegrenzt und bespitzelt und musste schließlich die Universität verlassen. Wolf Elkan versuchte zunächst, sein Studium in Berlin und Heidelberg abzuschließen, flüchtete aber schließlich über Rom und England in die USA, wohin auch seine Schwester Ursula emigrierte. Unter dem zunehmenden Druck bereitete Benno Elkan seit 1933 seine Emigration vor. Das genaue Datum der Ausreise nach London ist nicht bekannt. Es gelang ihm, Werke, Modelle und Privatbesitz zumindest zum Teil mitzunehmen. Vermutlich traf er erste Vorbereitungen hierzu bereits bei einem geschäftlichen Aufenthalt in London im Sommer 1933. Die endgültige Ausreise Benno Elkans erfolgte wahrscheinlich um Ende 1934. Vor seiner Emigration hatte er noch Gelegenheit, sich im Falkensteiner Rest Home aufzuhalten. Elkan wohnte zunächst in einem Atelierhaus in Paddington, später mit der Familie in einem Haus in der Exeter Road 26. Eine Arbeit aus dieser Zeit ist eine Orang-Utan-Gruppe, die heute im Zoo von Edinburgh steht. Schon 1934 beteiligte sich Elkan mit der Büste von John D. Rockefeller an einer Ausstellung der Royal Academy of Arts. 1935 unternahm Elkan eine Reise nach Lausanne. Dort porträtierte er den Schweizer Minister Stucki und den jungen König von Siam (Ananda Mahidol) sowie 1937 den Prinzen Edward of Kent. Die erste Einzelausstellung Elkans in London veranstaltete die Galerie Knoedler im November 1936. Von London aus beteiligte er sich auch noch einmal an einer Ausstellung in Berlin: 1936 veranstaltete der Kulturbund Deutscher Juden die „1. Reichsausstellung jüdischer Künstler“, auf der auch Werke Elkans gezeigt wurden. In England erstellte Elkan bronzene Leuchter für die Buckfast Abbey in Devon und weitere Arbeiten im Auftrage des dortigen Abtes. Weitere Leuchter sowie Porträtbüsten bekannter Persönlichkeiten zeigen, dass Benno Elkan in England schnell Fuß fassen konnte. Er porträtierte zum Beispiel Jakob Rothschild und Arturo Toscanini. Zur Erinnerung an Rudyard Kipling gestaltete Elkan 1938 ein großes Bleirelief, das Figuren aus dem Dschungelbuch zeigt. Nachdem Elkans Haus in London 1943 bei einem Bombenangriff beschädigt worden war, bezog er eine Etage im Haus der Psychoanalytikerin Eva Rosenfeld in Oxford. Im selben Jahr entstand die Porträtbüste von dem Ökonomen Lord Beveridge. Nach dem Krieg unternahm Elkan eine längere Reise zu seinen Kindern in den USA. 1949/50 schuf er im Auftrag von Sir Bracewell Smith, Präsident von Arsenal London den „Fighting Cockerel“ (einen Kampfhahn, der in den Greifen einen Fußball hält), das Emblem von Tottenham Hotspur. Die 43 cm große Skulptur schenkte Arsenal London im März 1950 den „Spurs“ als Dank dafür, dass man ab 1941 auf dem Platz von Tottenham trainieren und spielen durfte. Das eigene Sportgelände der „Gunners“ in Highbury hatte damals eine deutsche Brandbombe dem Boden gleichgemacht. Anlässlich der Arbeit an dem großen Leuchter für das Parlament in Israel sollen die ersten Teilreliefs dieses Werks in den 50er Jahren in England gezeigt worden sein. Reisen und Kontakte nach Deutschland In den 1950er Jahren reiste Elkan auch nach Deutschland. 1953 organisierte er anlässlich einer Taunusreise eine Ausstellung seiner Werke in Frankfurt im Kunstkabinett von Hanna Bekker vom Rath für das Jahr 1954, die auch in seiner Heimatstadt Dortmund Interesse weckte. 1956 wurde schließlich eine Ausstellung einiger Werke Elkans im Dortmunder Stadthaus eröffnet, die eigentlich geplante große Werkschau mit Katalog scheiterte jedoch. Zudem wurden die Werke nicht, wie von Elkan gewünscht, mit Gemälden von Arthur Kampf gezeigt, sondern mit Reproduktionen von Bernhard Hoetger. Schon seit dem Kriege verfolgte Elkan die Idee eines Mahnmals für die Bombenopfer. Er schrieb 1955 an den Dortmunder Erich Leue: 1959 erstellte Elkan ein Tonmodell des Denkmals, von dem Fotos erhalten sind. Es zeigte in den Trümmern aus großen Steinquadern die Leiden der zerschlagenen Opfer. Das Denkmal wollte Elkan zunächst in Frankfurt errichten, was dort nach öffentlichen Diskussionen abgelehnt wurde. Elkans Freund Erich Leue versuchte nun, in Dortmund Interesse für das Projekt zu wecken. Aber auch hier kam es zu keiner Realisierung. Das Gipsmodell des Mahnmals findet sich im Verzeichnis des Nachlasses, es gilt aber heute als verschollen. Als virtuelles Mahnmal wurde es 2020 in Dortmund realisiert. Die große Menora Krankheit und Tod 1957 erhielt Elkan den Orden Order of the British Empire. Nachdem er seit 1956 unter gesundheitlichen Problemen gelitten hatte, starb er 1960 – drei Monate nach seiner Frau – in London. Der Nachlass des Künstlers wurde am 6. November 1960 in 153 Losen vom Londoner Auktionshaus Christie’s versteigert. Dabei erwarb das Dortmunder Institut für Zeitungsforschung einige Stücke, die später dem Museum am Ostwall übergeben wurden. Der Dortmunder Kulturdezernent Alfons Spielhoff stellte eine Anfrage an Christie’s bezüglich der nicht verkauften Stücke. Ende 1961 kaufte das Museum am Ostwall vier Büsten und 52 Zeichnungen an. Einige der Medaillen Elkans überdauerten den Krieg im Cappenberger Museum. 2011 veranstaltete das Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund eine Ausstellung ausgewählter Zeichnungen, Büsten und Medaillen, die auch Fotos von Grabmalen und Skulpturen präsentierte. Werk Aufgrund des bewegten Lebens Benno Elkans und der Vertreibung durch das NS-Regime sind die Werke weit verstreut, einige Plastiken finden sich in Elkans früherer Heimatstadt Dortmund, vor allem auf dem Ostenfriedhof Dortmund, im Museum am Ostwall und ein Christuskopf mit Dornenkrone, der sich ursprünglich am Grabmal der Familie Feuerbaum auf dem Ostenfriedhof befand, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. In der Dortmunder Marienkirche wurden in der Nazi-Aktion „Entartete Kunst“ 1937 aus der Nationalgalerie Berlin (Kronprinzen-Palais) seine Büste Alfred Flechtheims (Bronze, 25 cm, 1912) und aus der Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf die Plastik „Bettler“ beschlagnahmt. Die Flechtheim-Büste wurde vernichtet. Vor allem durch die Große Menora wird das Interesse am Werk Benno Elkans wachgehalten. Im Jahre 2008 wurden die Motive des Leuchters vor der Knesset in Jerusalem in einer Wanderausstellung „Die Menora – Ein Gang durch die Geschichte Israels“ in Nürnberg, Leer und Nordhorn präsentiert. Der größte Teil der Werke Benno Elkans ist von Menzel-Severing in einem Katalog erfasst und durchnummeriert worden. Nummerierungen der hier beschriebenen Objekte beziehen sich auf dieses Werkverzeichnis. Die hier vorgestellten Werke sind repräsentative Beispiele, kein vollständiges Verzeichnis. Bei der Auswahl spielten auch die Zugänglichkeit freier Fotografien und die Erwähnung im Artikel eine Rolle. Menzel-Severing versucht in seiner Dissertation eine Zäsur im Werk Elkans zu verorten und bezeichnet die Arbeiten nach 1940 als „Alterswerk“. Besonders an den Leuchtern zeige sich der Wandel von einer strengen „Formbehandlung zu Gunsten einer spontaneren, malerischen Arbeitsweise.“ Vor allem spiele das Erzählen nun eine wesentliche Rolle. Vielfach wurde Elkan als Eklektiker charakterisiert. Menzel-Severing erklärt dies zum Teil daraus, dass Elkan keiner Strömung seiner Zeit zuzuordnen sei und zudem eine sehr variable Formsprache entwickelt habe. Heinrich Strauss hat Elkans Eklektizismus als „Folge der Emanzipationsbestrebungen eines jüdischen Künstlers, der nicht mehr eingebettet ist in die kulturelle Gemeinschaft und seinen Weg alleine in einer veränderten Welt finden musste“, verstanden. Trotz aller Unterschiede sieht Menzel-Severing bei Elkan auch Einflüsse des Expressionismus, vor allem in der Betonung des Expressiven, des künstlerischen Ausdrucks bei Elkan. Nach Menzel-Severing entsteht die Formenvielfalt zudem aus der Bewegung zwischen den Gestaltungspolen „Natur oder Vision“. Büsten und Skulpturen Die Büsten Benno Elkans porträtieren Künstler, Politiker, Industrielle, Militärs, Wissenschaftler und auch lokal bedeutsame Persönlichkeiten. Die hier aufgelisteten Beispiele zeigen, dass es Elkan über Deutschland hinaus gelungen war, sich einen Namen zu machen. Elkan arbeitete viele seiner Büsten nicht in langen Sitzungen mit dem Skizzenblock aus, sondern versuchte in langen Gesprächen, den Charakter des Darzustellenden zu erfassen, und erstellte dann aus dem Gedächtnis in kurzer Zeit ein Tonmodell. Menzel-Severing spricht bezüglich vieler Porträtbüsten Elkans von „offizieller, fast denkmalhafter Wirkung“ im Stil antiker Kaiserporträts, etwa bei dem Kopf Carl Einsteins oder dem Porträt Rathenaus. Andere Werke Elkans seien weniger bildhauerisch-abstrakt, sondern um „malerisch-plastische“ Details ergänzt, etwa die Büsten von Irmgard Egeling und Anna Richter. 1937 als "entartet" aus deutschen öffentlichen Sammlungen beschlagnahmte Werke Alfred Flechtheim (Porträtbüste, Bronze, Höhe 25 cm, 1912; Nationalgalerie Berlin im Kronprinzenpalais; 1938 in Hamburg auf der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ vorgeführt und danach vernichtet.) Bettler (Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf; 1937/1938 in den Propaganda-Ausstellungen „Der ewige Jude“ in München vorgeführt. Verbleib ungeklärt.) Weitere Büsten und Skulpturen (Auswahl) um 1905: Dr. Friedrich Wilhelm Müser, Bronze, 44 cm hoch, für den Sitzungssaal des Harpener Bergbau-Vereins, Museum am Ostwall, Dortmund, Wk-Nr. 1 1906: Jules Pascin, Maler und Illustrator, Bronzebüste, 22 cm, Hamburger Kunsthalle, Hamburg um 1909: Eugen d’Albert, Komponist und Pianist, Bronzebüste 1911: Wilhelm Trübner, Maler, Bronzebüste, verschiedene Ausführungen, u. a. Wk-Nr. 16. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Städtische Kunsthalle Mannheim, Hamburger Kunsthalle, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt, Museum Wiesbaden, Privatsammlung USA um 1911: Carl Einstein, Schwager des Künstlers, Bronzebüste grünlich patiniert, 30,4 cm, unsigniert, Museum am Ostwall, Wk-Nr. 17 1912: Alfred Flechtheim, Kunsthändler in Düsseldorf und Berlin, 28 cm. Museum am Ostwall, Dortmund, Wk-Nr. 19 1917: Generalfeldmarschall Graf Gottlieb von Haeseler, 32 cm hoch, Museum am Ostwall, Dortmund 1922: Liegende, Skulptur einer liegenden Frau, von der Dortmunder Stadtsparkasse angekauft zur Eröffnung der Räume des heutigen Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte 1923, 26 × 117 × 40 cm, Bronze, Wk-Nr. 74 um 1924: Karl Valentin, Bleibüste, 26,6 cm. Museum am Ostwall, Dortmund, Wk-Nr. 34 1925: Walther Rathenau, Bronzebüste, 32 cm. Museum am Ostwall, Dortmund 1928: Tatjana Barbakoff, Bronzekopf, Stadtmuseum Landeshauptstadt Düsseldorf 1931: Karl Richter, Chefredakteur des Dortmunder Generalanzeigers, 42 cm hoch, Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund 1931: Karl Herxheimer, Frankfurter Dermatologe, zum 70. Geburtstag 1933: Oberrabbiner Dr. J. H. Hertz (Bronze, 42 × 32 × 22 cm,; Ben Uri Galerie und Museum London) 1933/1934: John Davison Rockefeller sen., Großindustrieller, Bronzebüste, 58,4 cm, Wk-Nr. 54 37: Prince Edward of Kent, Wk-Nr. 60 1937/1953: Arturo Toscanini 1942/1949: Winston Churchill, Bronzebüste, 59,7 cm. Familienbesitz 1943: Lord Beveridge, Bronze, befestigt an einem grauen Steinblock mit Inschrift, Balliol College Archives & Manuscripts, Wk-Nr. 71 1947/48: Lord Keynes, Wk-Nr. 77 1949: Chaim Weizmann, Wk-Nr. 82 1949/50: „Fighting Cockerel“ Medaillen und Plaketten Seit 1903 bis in die 50er Jahre interessierte sich Benno Elkan für die Erstellung von Medaillen, seit 1905 erhielt er regelmäßig Aufträge auf diesem Gebiet, einem im 20. Jahrhundert eher seltenen Betätigungsfeld für bildende Künstler. Elkan nahm erfolglos am Wettbewerb für die Geldmünzen von 1908/9 teil. Er gestaltete Medaillen in verschiedenen Formaten von Geldstück- bis Handtellergröße. Die Medaillen sind Menschen aus Politik und Kunst gewidmet, teilweise auch Dortmunder Persönlichkeiten. Menzel-Severing führt Elkans frühes Interesse an Medaillen auf seine Anfänge als Maler und Zeichner zurück und sieht die Miniaturreliefs als Übergang zur Skulptur. Elkans Medaillenkunst fand früh Anerkennung, Experten urteilen durchweg positiv: „Unter den Künstlern, die in dieser Zeit beginnen, sich der Gussmedaille zu widmen, ist Benno Elkan … wahrscheinlich der Größte.“ 1904: Carl Schäfer, Professor an der Akademie der Künste in Karlsruhe, Bronze, 9,9 cm, Museum am Ostwall 1904: Hans Thoma, einseitiger Bronzeguss, brüniert, 8,9 cm, 298 g, Umschrift: HANS THOMA – MCMIV, Kunsthalle Bremen um 1905: Mudding Richter, einseitiger Bronzeguss, brüniert, 9,1 cm, 176 g, Umschrift: MUDDING – RICHTER, von der Kunsthalle Bremen erworben 1909 um 1904: Gustav Wendt, einseitiger Bronzeguss, brüniert, 9,1 cm, 398 g, Umschrift: GEH.RAT Dr. – G. WENDT, von der Kunsthalle Bremen erworben 1909, Wk-Nr. 150 1906: Ludwig Dill, Maler in Karlsruhe, Bronze, 8,1 cm, Museum am Ostwall 1906: Maurice Rouvier, französischer Ministerpräsident, Bronze, 7,7 cm, Museum am Ostwall um 1906: Armand Fallières, Präsident der französischen Republik, Bronze, 7,8 cm, Museum am Ostwall vor 1909: Émile Combes, Präsident des frz. Ministerrats (7. Juni 1902–24. Januar 1905), zweiseitiger Bronzeguss, brüniert, 9,3 cm, 444 g, erworben 1909 von der Kunsthalle Bremen vor 1909: Max Laeuger, einseitiger Bronzeguss, brüniert, 8,0 × 7,6 cm (achteckig), 188 g, erworben von der Kunsthalle Bremen 1909 vor 1909: Albert Bürklin, Politiker und langjähriger Abgeordneter der Nationalliberalen Partei im Reichstag, Generalintendant des Karlsruher Hoftheaters, einseitiger Bronzeguss, brüniert, 9,7 cm, 303 g, Umschrift: GEN: INTEND.EXC.DR.ALB.BÜRKLIN, 1909 erworben von der Kunsthalle Bremen, Wk-Nr. 147 1909: Hans Thoma, Maler, Professor an der Akademie der Künste in Karlsruhe 1899–1919, 8,3 cm, Museum am Ostwall, Wk-Nr. 154 1910: Heinrich Kirchhoff, für den Elkan auch das Grabdenkmal schuf (s. u. Persephone), Dortmunder Bürger, Bronze 9,8 cm, Museum am Ostwall 1911/12: Gustav Mahler, Komponist, Bronze, 12,7 cm, Vorderseite Profil links, Aufschrift GUSTAV MAHLER, Rückseite nackte Figur, die vom Feuer verzehrt wird, eine Allegorie auf Mahlers frühen Tod, Museum am Ostwall um 1912: Wilhelm Leibl und Johann Sperl, beide Maler, Plakette, Bronze 8,6 × 9,1 cm, Museum am Ostwall 1914: Frank Wedekind, Schriftsteller, Bronze, 8,3 cm, auf der Rückseite Pegasus auf Kugel, Signatur Benno Elkan, Museum am Ostwall um 1915: General Mackensen, Profil, Blick nach links, 7,9 cm, Gusseisen, rechts vom Profil signiert, Rückseite männliche Gestalt mit Hammer, Aufschrift MACKENSEN 1922: Gerhart Hauptmann, zweiseitiger Bronzeguss, brüniert, 13,5 cm, 1107 g, Aufschrift (Avers): 1922 GERHART HAUPTMANN, Vorder- und Rückseite BENNO ELKAN, Kunsthalle Bremen 1924: Hedwig Elkan, geb. Einstein, Widmung „MEINE LIEBE FRAU“, Vorderseite Porträt im Profil, Rückseite weibl. Akt mit Leier, Bronze, 11 cm, Museum am Ostwall 1925: Friedrich Ebert, der erste deutsche Reichspräsident, Bronze 12,6 cm, Rückseite Fahnenträger, Staatliche Museen zu Berlin – Münzkabinett, ausgestellt im Bode-Museum, Wk-Nr. 255 1925: Louis Hagen, Bankier und Präsident der IHK Köln, Rückseite Hermesfigur, Bronze 10 cm, Museum am Ostwall 1925: Richard von Schnitzler, Bankier, Industrieller (I.G. Farben), Mäzen, Bronze, 12 cm, Museum am Ostwall 1927: Bronzemedaille zum 400-jährigen Bestehen der Philipps-Universität Marburg. Brustbild des Landgrafen Philipp von Hessen halblinks, Burg über stilisierter Stadtansicht, 4,6 cm, Umschrift Vorderseite: PHILIP.LANDGRAF.ZU.HESSEN, Rückseite: PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG 1527 1927 1931: 30 Medaillen für die Plakette der Medizinischen Fakultät der Universität Frankfurt, Silber, Vorderseite Karl Weigert und Paul Ehrlich, Rückseite Inschrift: Die Medizinische Fakultät der Universität Frankfurt am Main dem Förderer der Wissenschaften, Name des Geehrten 1931: Medaille zum 50. Geburtstag von Alfons Paquet im Auftrag der Stadt Frankfurt 1944: Carl Flesch, Violinist Denkmale Bis auf zwei Grabmale in England stammen Benno Elkans Grabdenkmale aus der Zeit vor 1927. Bis zu diesem Zeitpunkt war Elkans Tätigkeit auf diesem Gebiet derart umfangreich, dass man in Frankfurt in Abwandlung des bekannten Sprichworts gewitzelt haben soll: «de mortuis nihil nisi Benno» (Über die Toten nur Benno). Die Denkmale zeigen, wie etwa der Dortmunder Christuskopf oder das Grabmal „Bergpredigt“ auf dem Burgfriedhof in Bad Godesberg, teilweise auch christliche Motive. Typisch für die Bildsprache der Grabdenkmale Elkans sind aber eher konventionelle Symbole des Todes, etwa der Schlaf, die erloschene Fackel, Urnen, der letzte Weg usw. Teilweise wird auch der Verstorbene in Form einer Büste oder Medaille dargestellt. Trotz dieser konventionellen Ikonografie waren die Grabdenkmale künstlerisch vor allem deshalb innovativ, weil sie Trauer und Tod mit weiblicher Sinnlichkeit konfrontierten. Besonders deutlich wird die Umsetzung dieser Ambivalenz in Elkans Figur der Persephone aus dem Jahre 1908. Die Figur zeigt zugleich die üppige Weiblichkeit der Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, sowohl in ihrer Haltung mit der hervorgehobenen Linie der Hüfte als auch im Symbol der Früchte, die sie in den Händen hält, aber drückt auch Trauer und Versunkenheit aus. Typisch für die Bildsprache Elkans ist auch der zur Seite geneigte Kopf der Frauenfigur und die dadurch hervorgehobene Halslinie. Menzel-Severing weist auf die geometrischen Grundstrukturen vieler Elkan-Denkmale hin, die er auf den Einfluss der Theorie von der «einfachen Volumendarstellung» des Bildhauers Adolf von Hildebrand zurückführt. Oft erschienen die Figuren Elkans in einem klar umgrenzten, rechteckigen Raum. Zudem seien die Figuren selbst oft durch klare Diagonalen – etwa die Linie Schulter, fast überdehnter, zur Seite geneigter Hals, Kopf – gekennzeichnet. H. K. Zimmermann hatte dies bereits 1921 für Elkans „Heldenklage“ aufgewiesen: „Die zusammengedrängten Glieder des mächtigen Körpers scheinem von einem Viereck straffer Umrißlinien umspannt…“ Menzel-Severing spricht in Bezug auf das Völklinger Denkmal von „Blockhaftigkeit“. Betrachtet man die Abbildungen der Denkmale und vor allem der Reliefs im öffentlichen Raum, wird der schlechte Zustand der Kunstwerke sehr deutlich. Einige der Werke Elkans auf dem Dortmunder Ostfriedhof werden nicht mehr viele Jahre überdauern. Grabmale auf dem Ostenfriedhof Dortmund Wandelnde, 1904, Inschrift: „UND DIE RICHTIG VOR SICH GEWANDELT HABEN / KOMMEN ZUM FRIEDEN JESAIA 57 2“, laut Menzel-Severing beeinflusst von „neubarocken Vorbildern der Begas-Schule“ Relief „Kauernde“, 52 cm × 47 cm, 1905, signiert, Grabstätte Alex Mendelsohn Christuskopf für das Grabmal der Familie Feuerbaum, heute in der Dortmunder Marienkirche Auferstehung, 1905, Inschrift: „SIE SCHALLT DIE POSAUNE/DIE TOTEN ERSTEHN“, 78 cm × 112 cm, Signatur: „BENNO/ELKAN/PARIS/05“, Gießerei ALEXIS RUDIER FONDEUR PARIS Sitzender, Flöte spielender Knabe, 1906/1907, Grabstätte Hermann Weeck, Marmor, 41 cm × 33,5 cm, signiert, Wk-Nr. 112 Grabmal Familie Melcher, 1908, früher mit Büste von G. A. Melcher (Bronze, 50 cm hoch, entfernt), Aufbauten des Grabmals aus Muschelkalk, Relief aus römischem Travertin, 84 cm × 105 cm, stark verwittert, Wk-Nr. 114 Persephone, 1908, Grabstätte Heinrich Kirchhoff auf dem Ostenfriedhof Dortmund, ca. 200 cm, unsigniert, Wk-Nr. 115; 1910 polychrome Fassung aus „verschiedenen Steinsorten, Marmor und Halbedelstein, … Hausflur des Apáczaci Csere János Utca 3, Budapest“, letztere Wk-Nr. 10 Todesgang, 1910, Wk-Nr. 118 Kniender Mann mit erloschener Fackel, 1910 Ruhende, 1910 (verschollen), Wk-Nr. 123 um 1910 Grabmal Adolf Hirsch auf dem Karlsruher Hauptfriedhof (Bronzeplakette identisch mit dem Grabmal Schmidt in Dortmund), Grabmal nicht mehr vorhanden 1913/1914 „Heldenklage“, dunkelgrüner, polierter Granit, 1920 in Frankfurt am Main als Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs aufgestellt, Wk-Nr. 25, 1933 von den Nationalsozialisten entfernt; Die Skulptur erhielt sich zufällig trotz geplanter Zerstörung im Betriebshof der Städtischen Straßenreinigung. Am 18. April 1946 wurde das Denkmal wieder am ursprünglichen Standort aufgestellt. 1919: Grabmal für Frank Wedekind, Pegasus auf Kugel balancierend auf Säule, Wk-Nr. 67 1925: Mahnmal für die Opfer des Ersten Weltkrieges auf dem Völklinger Ehrenfriedhof, Figur „die Trauernde“ auf Sockel mit der Inschrift „ALLEN OPFERN“, enthüllt am 7. Juni 1925, 1935 von den Nationalsozialisten zerstört, Wk-Nr. 77 1927: Grabmal Hans Thoma (Sandstein / Bronze), Putten und Monogramm von Konrad Taucher, Karlsruher Hauptfriedhof 1930: Mainz, Schillerplatz, Denkmal zur Befreiung der Rheinlande, Wk-Nr. 49, symbolisiert durch eine erwachende, sich erhebende Frau (am 1. Juli 1930 von Reichspräsident Hindenburg enthüllt, 1933 von den Nationalsozialisten abgerissen, auf einer Rheinaue zwischengelagert und später gesprengt) 1938: Orang-Utan-Gruppe, Edinburgher Zoo 1939: Moglie’s Dschungelfreunde, Windsor 1939: Der alte und der neue Bund, Westminster Abbey, London 1959: Mahnmal für die wehrlosen Opfer des Bombenkriegs (Entwurf nicht ausgeführt, nur Fotos von einem Tonmodell erhalten, vgl. Abschnitt Virtuelles Denkmal) Leuchter Von 1921 bis 1956 schuf Benno Elkan insgesamt zehn siebenarmige Leuchter (Menorot), darunter sein bekanntestes Werk, die große Menora vor dem israelischen Parlament (der Knesset) in Jerusalem. Dabei arbeitete Elkan nur in einem Fall direkt für eine Synagoge, mehrere Arbeiten entstanden für christliche Institutionen wie die Westminster Abbey oder die Buckfast Abbey, was sich auch in der Darstellung von Szenen aus dem Neuen Testament niederschlug. 1921–1931: Leuchter des Alten Testaments, 2 m hoch, 2,20 m breit, 32 Einzelfiguren, Bronze, Guss in Frankfurt, Wk-Nr. 310, 1939 von einem Mitglied des Oberhauses der Westminster Abbey geschenkt, vorher mehrfach in Deutschland und England ausgestellt um 1925: „Die fünf Makkabäer“, 68,6 cm hoch, neun Kerzen, signiert, Sammlung Alexander Margulies, London, Wk-Nr. 311 1927: zwei Leuchter und schmiedeeisernes Gitter am Rednerpult für die Synagoge in Bruchsal, Wk-Nr. Gitter 312 1934: Leuchter für die King’s College Chapel in Cambridge, Wk-Nr. 313 1936: „Die vier Kardinaltugenden“, Buckfast Abbey, 251 cm hoch, Wk-Nr. 314 1938: „Verkündigung“, New College Chapel Oxford, 1,06 m, 0,62 m breit, Wk-Nr. 315 1942: Leuchter des Neuen Testaments, Westminster Abbey, Höhe 1,83 m, Breite 2,13 m, 31 Figuren, Wk-Nr. 317 1943–1945: „Der Davids-Leuchter“, neunarmiger Leuchter, Bronze, 2,14 m hoch, Verbleib unbekannt, Wk-Nr. 318 1944/1945: „Die vier Propheten“, Buckfast Abbey, Bronze, 2,52 m hoch, Wk-Nr. 319 1949–1956: Knesset-Menora, Jerusalem, 4,47 m hoch, 3,65 m breit, 29 Reliefs, Wk-Nr. 320 Publikationen und Zeichnungen Polnische Nachtstücke. Mit Federzeichnungen des Künstlers, Delphin Verlag, München 1918. Bernhard Fischer: Der Sektionskurs. Kurze Anleitung zur Pathologisch-Anatomischen Untersuchung menschlicher Leichen. (unter Mitwirkung von E. Goldschmid, Prosektor und Benno Elkan, Bildhauer; mit 92 zum Teil farbigen Zeichnungen) J. F. Bergmann, Wiesbaden 1919. Zeichnungen von Benno Elkan Die große Reise der Tante Klementine. Erzählt und mit vielen Bildern ausgestattet von Benno Elkan, Althoff Verlag, Leipzig 1921. Römer-Maske. Eine Festschrift phantastischer Satire und satirische Phantasie. Frankfurt am Main 1925. (124 S. mit zahlreichen, teils farbigen Abbildungen und Zeichnungen; „Aus Anlaß und zur Erinnerung an den Maskenball der Farbe. Veranstaltet vom Bunde tätiger Altstadtfreunde und unter dem löblichen Präsidium des Stadtkämmerers Doctor Heinrich Anastasius Langer in sämtlichen Räumen des ehrwürdigen Tanzhauses Germaniae im Römer der Stadt Frankfurt am Main am 21. Februar 1925.“) Spanien gesehen von einem Künstler. Mit 32 Federzeichnungen des Verfassers, Delphin-Verlag, München 1926. Libretto zu dem Musikmärchen Die Prinzessin auf der Erbse von Ernst Toch (1887–1964), nach Hans Christian Andersen. B. Schott Söhne, Mainz 1927., Uraufführung am 17. Juli 1927 in Baden-Baden (Im Repertoire der Kinderoper Köln 2008) Ehrungen In seiner Geburtsstadt Dortmund wurde im April 2016 eine Straße am Dortmunder U zwischen Ritterstraße und Emil-Moog-Platz nach Elkan benannt, die Benno-Elkan-Allee. Sie erinnert an den Bildhauer und Fußballpionier, wie es auf dem Straßenschild heißt. Ehrengast der offiziellen Einweihung war Beryn Hammil, die in den USA lebende Enkeltochter von Benno Elkan. Unter den Teilnehmern war auch Reinhard Rauball, der Präsident des Fußballvereins Borussia Dortmund. Virtuelles Denkmal: Mahnmal für die wehrlosen Opfer des Bombenkriegs Beryn Hammil, die in den USA lebende Enkeltochter von Benno Elkan, war Ehrengast zur offiziellen Einweihung der Benno-Elkan-Allee im Jahr 2016. Dort regte sie die Vollendung des 1959 begonnenen Mahnmal für die wehrlosen Opfer des Bombenkriegs unter dem Titel Bennos Traum an. Von Ullrich Sierau, dem Oberbürgermeister der Stadt Dortmund gebeten, machten sich Gerd Kolbe, ehemaliger Leiter des Dortmunder Presseamts, und Wolfgang E. Weick, ehemaliger Leiter des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte, auf die Suche nach Möglichkeiten der Verwirklichung. Sie fanden die Unterstützung von Professor Heinrich Müller vom Lehrstuhl für Graphische Systeme, Informatik VII, der Technischen Universität Dortmund und Markus Rall, CEO der Firma viality, einem Full-Service-Provider für die Konzeption und Realisierung digitaler Informationssysteme im Dortmunder Technologiezentrum. Beide Teams arbeiteten ein Jahr lang ehrenamtlich mit Hilfe photogrammetrischer und anderer grafischer Programme an der Umsetzung dieser Idee. Am 140. Geburtstag Elkans im Dezember 2017 konnte Oberbürgermeister Ullrich Sierau erklären, dass „Bennos Traum“ in Dortmund in Erfüllung gehen kann: Das Mahnmal wird computergestützt entstehen und als 3-D-Rekonstruktion in Augmented Reality (AR) präsentiert werden, sichtbar mit Spezialbrillen und modernen Smartphones und Tablets. Als Projektträger stellte sich der Historische Verein für Dortmund und die Grafschaft Mark mit dem Vorsitzenden Altbürgermeister Adolf Miksch zur Verfügung, als Sponsor wurde die Sparkasse Dortmund mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Uwe Samulewicz gewonnen. Am 31. August 2018 wurde das modernste Denkmal Deutschlands der Öffentlichkeit im Orchesterzentrum NRW vorgestellt. Das Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund zeigt die 3-D-Rekonstruktion des Mahnmals in der 4. Etage der Ausstellung. Siehe auch Jüdisches Museum Westfalen in Dorsten, Lebensweg Elkans Literatur Darstellungen Naftali Arbel, Michael Ben Hanan: High Lights of Jewish History as Told By the Knesset Menorah. Israel Biblos Publishing House, 1972. Achim Becker (Red.), Stadtarchiv Völklingen (Hrsg.): Das Denkmal „Allen Opfern“ des Bildhauers Benno Elkan in Völklingen. (= Völklinger Schätze, Sonderausgabe) Völklingen 2008. Anett Beckmann: Mentalitätsgeschichtliche Untersuchung der Grabmalsplastik des Karlsruher Hauptfriedhofes. Dissertation, Universität Karlsruhe (TH), Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, 2005, ISBN 3-86644-032-4. (Creative Commons Lizenz by-nc-nd/2.0/de) Ernst Blass: Benno Elkan. In: Die Kunst, Monatshefte für freie und angewandte Kunst, 31. Band: Freie Kunst der „Kunst für Alle“, 30. Jahrgang 1915. Petra Bonavita: „Nichtarier werden gebeten, den Hörsaal zu verlassen“. (PDF; 568 kB), Georg-Wilhelm Müller und der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund erobern die Frankfurter Universität. Forschung Frankfurt 2/2004, zur Vertreibung Wolf Elkans von der Frankfurter Universität. Camilla Bork: Im Zeichen des Expressionismus. Kompositionen Paul Hindemiths im Kontext des Frankfurter Kulturlebens um 1920. Schott Musik International, 2006, ISBN 3-7957-0117-1. Micha Brumlik, Martin Stoehr, Gerard Minnaard: Die Menora. Ein Gang durch die Geschichte Israels. (Medienmappe für Schule und Gemeinde) Wittingen 1999, ISBN 3-932810-06-6. Wolf Elkan: Und ich war davon überzeugt, dass es nur ein Land gab, in dem ich leben wollte: Deutschland. in: Aylke Bartmann, Ursula Blömer, Detlef Garz (Hrsg.): „Wir waren die Staatsjugend, aber der Staat war schwach.“ Jüdische Kindheit und Jugend in Deutschland und Österreich zwischen Kriegsende und nationalsozialistischer Herrschaft. (= Oldenburgische Beiträge zu Jüdischen Studien, Band 14.) Oldenburg 2003, S. 143–149. Wolf Elkan: Erinnerungen. Harvard University, Houghton Library, 1940. My Life in Germany before and after January 30. 1933. (bMS Ger 91), Cambridge (Massachusetts). Uwe Fleckner: Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biographie. 2006, ISBN 3-05-003863-2. Werner Gross, Gert Preiser (Hrsg.): Die Plakette der Medizinischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main. (= Frankfurter Beiträge zur Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Band 12.) Olms 1991, ISBN 3-487-09344-8. Fritz Hofmann, Peter Schmieder: Benno Elkan. Ein jüdischer Künstler aus Dortmund. Essen 1997, ISBN 3-88474-650-2. Hannelore Künzl: Die Menora in Jerusalem von Benno Elkan, Aufbau und Reliefs. (Essay) Text auf www.menora.de Daniel Krochmalnik: Die jüdische Freiheitsstatue. Zum Bildprogramm der Großen Menora von Benno Elkan. In: Michael Graetz (Hrsg.): Ein Leben für die jüdische Kunst. Gedenkband für Hannelore Künzl. (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg) Carl Winter Verlag, Heidelberg 2003, S. 215–233. Fried Lübbecke: Benno Elkan, Alsbach i. H. In: Deutsche Kunst und Dekoration, 30. Halbband (April bis September 1912), S. 21–28. Hans Menzel-Severing: Der Bildhauer Benno Elkan. Dissertation, Verlag des Historischen Vereins Dortmund, Dortmund 1980. Hans Menzel-Severing: Benno Elkan. Ein Bildhauer zwischen Tradition und Moderne. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Band 69 (2003), S. 79–97. Iris Nölle-Hornkamp, Hartmut Steinecke: Westfälische Lebensstationen, Texte und Zeugnisse jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Westfalen. (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Band 27.) Aisthesis Verlag, 2007, ISBN 3-89528-649-4. Kenneth Romeny Towndrow: Project for a Great Menorah I. The Sculptor Benno Elkan. In: The Menorah Journal, Volume XXXVII, No. 2 (Frühjahr 1949). Karl Schwarz: Benno Elkan. In: Ost und West, Februar 1913, Sp. 129–138 Archivalien Akten im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main: Kulturamtsakte 380; Kulturamtsakte 949; S1/75, Nr. 25. Matrikelbücher der Akademie der Bildenden Künste München, Bd. 3, München 1884–1920, Eintrag Benno Elkan: Matrikelnummer: 1847, Eintritt: 13. Mai 1898, Stand der Eltern: Vater: Kaufmann, Konfession: israelitisch, Alter: 20, Fach bei Einschreibung: Naturklasse Herterich. Benno Elkan: Erinnerungen. (Fragment), o. O., o. J., 13 Seiten, Manuskript (Leo Baeck Institute New York Bibliothek und Archiv, eingeschränkte Vorschau über google books) Korrespondenz mit Franz Kobler (1882–1965), AR 7184 / MF 760, Leo Baeck Institute New York Bibliothek und Archiv Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund, Bestand K 1 ([Industrie- und] Handelskammer zu Dortmund, Kunstausstellungen), darin Korrespondenz mit Bildhauer Benno Elkan 1950–1970 (1) Henry Moore Institute Leeds, 2001.94/H/6, Source material on contemporary sculpture, 1950s-1970s, Includes postcards, and images from publications, magazines and newspapers: postcards include images of sculpture by Benno Elkan. Princeton University, Princeton Manuscripts (Princeton University Library, Rare Books and Manuscript divisions), Benno Elkan Collection of Goethe. Akademie der Künste, 10117 Berlin-Mitte, Pariser Platz 4, Archiv Bildende Kunst: Benno Elkan Archiv, Archiv und Sammlung, 1,4 lfm. Werkfotos und Aufsätze zu Arbeiten Elkans, u. a. zur Großen Menorah für Jerusalem (1950er Jahre); Typoskripte, u. a. von Reiseimpressionen und Kunstbetrachtungen, vom Libretto zu Ernst Tochs Oper „Die Prinzessin auf der Erbse“ nach Hans Christian Andersen sowie zur Autobiographie; Familienkorrespondenz. Weblinks (zuletzt abgerufen am 8. November 2012) (zuletzt abgerufen am 8. November 2012) Interpretation der Menora (zuletzt abgerufen am 8. November 2012) Benno-Elkan-Archiv im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Stolperstein-Biographien der Stadt Frankfurt Einzelnachweise Bildhauer (Dortmund) Bildhauer (London) Medailleur Mitglied im Deutschen Künstlerbund Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus Deutscher Emigrant im Vereinigten Königreich Officer des Order of the British Empire Person (Dortmunder SC 95) Person (FC Bayern München) Judentum in Dortmund Judentum in Alsbach-Hähnlein Judentum in Frankfurt am Main Deutscher Geboren 1877 Gestorben 1960 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rote%20Insel
Rote Insel
Die Rote Insel, auch Schöneberger Insel genannt, ist eine Ortslage im Berliner Ortsteil Schöneberg. Sie gehört seit der Bezirksreform von 2001 zum siebten Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg, stellt aber selbst keine offizielle administrative Einheit dar. Das Viertel hat sich aus seiner Insellage zwischen verschiedenen Bahngleisen herausgebildet und wies traditionell eine „rote“ – also eine eher politisch linke – Orientierung seiner Bevölkerung auf. Baugeschichtliche Bedeutung haben die Königin-Luise-Gedächtniskirche von 1912 und der markante Schöneberger Gasometer – das Industriedenkmal überragt als architektonische Landmarke die gesamte Rote Insel. Lage Geografisch Die Rote Insel liegt auf dem Teltow-Höhenzug südlich des Warschau-Berliner Urstromtales. Die Koordinaten sind (zentriert auf die Königin-Luise-Gedächtniskirche auf dem Gustav-Müller-Platz). Die Postleitzahl des Wohngebiets ist 10829. Im Stadtbild des heutigen Berlin Das Viertel liegt am südlichen Rand der Innenstadt innerhalb eines markanten spitzwinkligen Dreiecks, dessen Seiten von den Gleisen der Wannseebahn im Westen, der Dresdener bzw. Anhalter Bahn im Osten und der Ringbahn im Süden gebildet werden. Die Eckpunkte sind die Bahnhöfe der Berliner S-Bahn: Schöneberg, Südkreuz und Yorckstraße. Letztere Bezeichnung tragen zwei verschiedene, aber nur rund 300 Meter voneinander entfernt liegende Bahnhöfe, von denen derjenige mit dem Zusatz Großgörschenstraße an der Wannseebahn liegt. Im Westen grenzt der ehemalige Ortskern von Schöneberg an die Rote Insel (Richard-von-Weizsäcker-Platz und Hauptstraße – die ehemalige Dorfaue). Im Nordosten schließt sich der Ortsteil Kreuzberg an, östlich und südöstlich Wohngebiete, die teilweise bereits zum Ortsteil Tempelhof gehören. Über die eigentliche Insel-Lage zwischen den Bahngleisen hinaus werden mitunter auch die angrenzenden Straßenzüge in Schöneberg und Kreuzberg noch zur Roten Insel gezählt. So nennt sich beispielsweise die in der Feurigstraße gelegene Geschäftsstelle der Partei Die Linke als Geschäftsstelle Rote Insel. Auch die am nördlichen Zipfel der Insel angrenzenden Straßenzüge rund um den Bahnhof Yorckstraße zählen sich selbst zur Roten Insel, obwohl sie geografisch außerhalb dieses Gebietes liegen. Ein Beispiel ist das besetzte Haus in der Mansteinstraße, deren Bewohner den Mythos der Roten Insel bis heute mit Graffiti-Aktionen, Partys und politischen Veranstaltungen pflegen (Stand?). Zentraler Insel-Kiez Zwei Straßen durchqueren die Rote Insel als Hauptachsen in west-östlicher Richtung: die (kleinere) Monumenten- und die Kolonnenstraße, die bis in die 1980er Jahre hinein die Haupteinkaufsstraße der Ortslage war. Die Straßenzüge südlich der Kolonnenstraße und westlich der Naumannstraße bilden traditionell den eigentlichen Kern des Kiezes. Diese fünf parallel und in Nord-Süd-Richtung angelegten Straßen sind (von West nach Ost) die Cherusker-, Goten-, Leber-, Gustav-Müller- und die Naumannstraße. Diese werden nur von kleineren Straßen gequert, der Leuthener und der Torgauer Straße sowie der nur wenige Meter langen Roßbachstraße. Heute ist nicht mehr ohne Weiteres erkennbar, dass die außerhalb dieses Kerns gelegenen Straßen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nur begrenzt als der Insel zugehörig empfunden wurden. Jedoch waren die – wie völlig normale Gründerzeit-Wohnhäuser wirkenden – Gebäude, wie die beispielsweise in der Czeminskistraße (früher: Siegfriedstraße) oder der Hohenfriedbergstraße, vielfach Sitz kleiner Büros militärischer oder sonstiger staatlicher Dienststellen bzw. Unterkünfte für Militärangehörige. Die eigentliche Wohnbevölkerung der nördlichen Insel war daher lange Zeit eher gering, stark fluktuierend und recht inkohärent; es gab keine Grundlage für die Entstehung des kiezigen sozialen Geflechts, das den südlichen Teil schon früh prägte. Nordzipfel Der in der nördlichen Dreieckspitze gelegene Alte St. Matthäus-Kirchhof verdeutlicht mit seinem sanft zum Berliner Urstromtal, also zum Spree­tal abfallenden Gelände die geologische Lage der Roten Insel auf der Hochfläche des Teltow. Der Kirchhof liegt als Inselausläufer am Teltowhang, der sich – wie die nebenstehende Karte von 1875 noch gut erkennen lässt – nach Osten im Kreuzberg und in der Hasenheide fortsetzt. In diesem Wohngebiet im Tal (unterhalb der Teltow-Hochfläche, um die Katzlerstraße), das von der übrigen Insel durch den Friedhof einerseits und das Kasernengelände des III. Eisenbahnpionierregiments andererseits getrennt ist, wohnte nach der Errichtung ab 1890 auch August Bebel. Sein Wohnhaus in der Großgörschenstraße steht allerdings nicht mehr. Heute befindet sich dort ein kleiner Spielplatz. Topografie Die Bahnstrecken, die das Inseldreieck bilden, sind auf der historischen Karte von 1877 bereits fast vollständig eingezeichnet. Das Gebiet der Insel selbst – genau im Schriftzug Alt von „Alt-Schöneberg“ gelegen – war zu dieser Zeit noch unbebaut. Schöneberg, das während des 19. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung von einer dörflichen Landgemeinde zur selbstständigen Stadt erlebte, bietet ein besonders anschauliches Beispiel für ein in ganz Europa erkennbares Phänomen in der Siedlungsgeschichte des Industriezeitalters. Vom alten Schöneberger Ortskern aus wurden um 1900 zwei sehr unterschiedliche Wohngebiete erschlossen: das noble Bayerische Viertel mit seinen weitläufigen Erholungseinrichtungen wie dem angrenzenden Rudolph-Wilde-Park im Westen, im Osten aber, zwischen Bauernhöfen, Fabriken und den „beiden Eisenbahnen […] mit ihrem ununterbrochenen Getöse und die Luft verpestenden Kohlendunst“ (so Max Schasler 1868), das zukünftige Arbeiterviertel Schönebergs. Das angeführte Zitat deutet an, warum in den aufstrebenden Industriestädten Europas die Wohngebiete der einfachen Leute fast immer im Osten zu liegen kamen: In Europa ist die vorherrschende Windrichtung Westen und in den Abgasschwaden und dem Lärm der boomenden Städte siedelte sich vorzugsweise die Bevölkerungsschicht an, die sich nichts Besseres oder Gesünderes leisten konnte. Zur Herkunft des Namens Insel Die geschilderte Lage des Kiezes – „von Trassen umschlossen“ – hat in seiner Entwicklung sowohl in historischer wie soziologischer Hinsicht eine bedeutende Rolle gespielt. Zu Beginn der koordinierten Bebauungsmaßnahmen um 1870–1890 in diesem Teil der damals noch selbstständigen Stadt Schöneberg wirkten die bereits im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts angelegten Eisenbahnstrecken unplanmäßig eher als Hindernis für die Erschließung. Erst in der späten Kaiserzeit zwischen der Wende zum 20. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg verbesserte sich die Verkehrsanbindung nach Alt-Schöneberg und Berlin. Das lag zum einen am rasanten Wachstum der Hauptstadt in das Umland hinein, zum anderen daran, dass der nördliche und östliche Teil der Insel intensiv durch das preußische Militär genutzt wurden. Insgesamt vier Brücken verbinden seit dem frühen 20. Jahrhundert die Rote Insel mit der Stadt: Julius-Leber-Brücke (früher: Sedan-Brücke) und Langenscheidtbrücke (früher: Siegfried-Brücke) nach Westen und damit Alt- und Neu-Schöneberg sowie Monumenten- und Kolonnenbrücke nach Osten in Richtung Kreuzberg bzw. Tempelhof. Im Jahr 1901 wurde in Höhe der heutigen Julius-Leber-Brücke unter dem Namen Schöneberg ein Bahnhof an der Südringspitzkehre vom Potsdamer Bahnhof zur Ringbahn errichtet, der ein kleines Bahnhofsgebäude mit einem charakteristischen Türmchen besaß. Die Züge auf der Stammbahn bzw. der Wannseebahn hielten dort nicht. Er war der erste Bahnhof, der den Namen Schöneberg trug. Mit der Umbenennung des Bahnhofs Ebersstraße an der Kreuzung von Ring- und Wannseebahn zu Berlin-Schöneberg wurde er in Kolonnenstraße umbenannt. Der Bahnhof wurde bis 1944 betrieben und nach dem Krieg nicht wieder in Betrieb genommen. Das Gebäude wurde nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen. Seit 1985 gab es Pläne für eine S-Bahn-Station an der Wannseebahn in diesem Bereich, die aber erst 2008 verwirklicht wurden. Am 2. Mai 2008 wurde der neue S-Bahnhof Julius-Leber-Brücke mit zwei Außenbahnsteigen in Betrieb genommen. Langfristig wird ein Wiederaufbau der Verbindung zur Ringbahn in der letzten Ausbaustufe des Projektes S21 überlegt, an der in diesem Bereich ebenfalls ein Halt eingerichtet werden soll. Ursprünglich gab es auf der Insel zwei Straßenbahnlinien (25, später umbenannt in 2), deren Betrieb in den 1960er Jahren eingestellt wurde. Die heutigen Omnibuslinien 104 (ehemals: Linie 4), 106 und 204 (früher: 23) folgen auf der Insel weitgehend demselben Verlauf wie die ehemaligen Tramlinien. Ferner gab es östlich der heutigen Naumannstraße am südlichen Ast der Kolonnenstraße, direkt an der Dresdener Bahn gelegen, seit der Kaiserzeit den Berliner Militärbahnhof (1874/1875 fertiggestellt). Dieser hatte für die Bevölkerung der Insel kaum eine Bedeutung, obwohl er 1888 auch für den öffentlichen Verkehr freigegeben wurde. Von historischem Interesse ist er, weil hier die Militäreisenbahn in Richtung Zossen, Sperenberg und Jüterbog zu den Truppenübungsplätzen und der Heeresversuchsanstalt begann. Preußen hatte nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 die Bedeutung der Eisenbahn für die Truppenbewegung und den Nachschub erkannt und deshalb eigene Eisenbahnregimenter aufgestellt, die im Betrieb und im Aufbau der Strecken und Brücken ausgebildet werden sollten. Von hier ging im Ersten Weltkrieg ein Teil der Truppentransporte aus der Hauptstadt ab, aufgrund der relativ kleinen Kapazitäten des Schöneberger Militärbahnhofs waren aber auch die anderen Berliner Bahnhöfe beteiligt. Die Ruine des Bahnhofsgebäudes wurde 1955 abgerissen. Rot Die folgende Anekdote trägt zwar Züge eines Großstadtmythos, aber gibt eine Erklärung, warum die Insel mit dem Attribut rot belegt wurde: Bereits zur Zeit ihrer Entstehung war die Insel ein Wohngebiet der kleinen Leute. Nach der Abschaffung des Sozialistengesetzes (1890) konnte die SPD in diesem Teil Schönebergs ungewöhnlich hohe Stimmenanteile erzielen. Die Bevölkerung der Insel musste im Gefolge der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg einen weiteren spürbaren sozialen Abstieg hinnehmen. In den Jahren der Weimarer Republik gab es hier deshalb einen hohen Anteil von Wählern „roter“ (SPD, USPD, KPD), sowie – durch die Offiziersfamilien des Eisenbahnregiments bedingt – deutsch-nationaler Parteien. Bei der Niederschlagung des Kapp-Putsches von 1920, in dessen Verlauf sich dramatische Ereignisse um das alte Schöneberger Rathaus am damaligen Kaiser-Wilhelm-Platz abspielten, kam der links-orientierten Bevölkerung der Roten Insel eine wichtige Rolle zu. Eine Gedenktafel am Standort des Alten Rathauses erinnert heute an die Opfer. Im gleichen Jahr wurde die Insel, wie ganz Schöneberg, nach Groß-Berlin eingemeindet. Im Vergleich zu den großen Arbeitervierteln der Hauptstadt wie dem „Roten Wedding“, Neukölln oder Friedrichshain nahm sich das noblere und immer noch vorstädtisch geprägte Schöneberg freilich eher bescheiden aus. Dennoch wagte sich bis zum Ende der Weimarer Republik die SA nur schwer bewaffnet, überfallartig und in großen Trupps auf das von Sympathisanten linker Parteien dominierte Gebiet der Insel. Julius Leber, einer der führenden politischen Köpfe der Widerstandskämpfer des Attentates vom 20. Juli 1944, arbeitete während der Kriegsjahre getarnt in einer Kohlenhandlung an der Torgauer Straße (gegenüber der Einmündung der Gotenstraße). Die ehemalige Sedanstraße und -brücke sind heute nach ihm benannt. Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich das Wahlverhalten der Inselbewohner insofern verändert, als die Grünen im Kiez Wahlanteile von oft weit über 20 Prozent erzielen. Andere Benennungen des Viertels Die Sedanstraße war in der auf die Reichsgründung 1871 folgenden Boomperiode die erste Straße auf der Insel, die planmäßig erschlossen, angelegt, bebaut und besiedelt wurde. Aufgrund dieses Primats sprach man bis etwa zum Zweiten Weltkrieg vom Sedanviertel. Die Sedanstraße wurde auf Weisung der NSDAP 1937 in Franz-Kopp-Straße umbenannt – nach einem SA-Mann, der am 30. März 1933 auf dem Gebiet der Roten Insel erschossen worden war. Bei dieser Umbenennung blieb es nur für die wenigen Jahre bis 1945. Seitdem heißt die Straße Leberstraße. Beide Namen hatten jedoch keinen Einfluss auf die Benennung des Viertels. Architektur Gasometer Die markanteste Landmarke der Roten Insel und ihr architektonisches Wahrzeichen ist der 1910 errichtete Riesengasometer. Er ist über 50 Meter hoch und konnte ursprünglich bis zu 160.000 m³ Stadtgas speichern, das seinerzeit zur Beleuchtung von Straßen und Wohnungen sowie zum Heizen und Kochen genutzt wurde. Die Gasanstalt wurde von der englischen Imperial Continental Gas Association (ICGA) betrieben, aber schon 1916 enteignet. Im Ersten Weltkrieg wollte man dieses kriegswichtige Unternehmen in ausschließlich deutschem Besitz behalten. Bis zu seiner Stilllegung 1993 war der Gasometer den „Rotinsulanern“ eher ein Dorn im Auge, was teilweise verständlich ist, da die riesige Anlage den Anwohnern „Luft und Sonne verdrängte“. Zu katastrophalen Explosionen ist es – entgegen vielen Befürchtungen – in der Betriebszeit des Gasometers nie gekommen. Inwieweit es für Menschen und Umwelt Spätfolgen gibt, die direkt auf die giftigen Abfallprodukte der Gasaufbereitung (z. B. Toluol) zurückzuführen sind, ist derzeit nicht bekannt. Das Außengestell des Gasometers wurde nach seiner Stilllegung unter Denkmalschutz gestellt, da er ein bedeutendes Stück Industriekultur repräsentiert. Heute markiert die kilometerweit sichtbare Stahlkonstruktion deutlich die Lage der Roten Insel im Berliner Häusermeer. Nachdem Pläne für eine kulturelle Nutzung mangels Nachfrage von Investoren nicht hatten realisiert werden können, verfolgt der Bezirk derzeit eine Umwidmung des Geländes in ein Kerngebiet mit dem Ziel, dort planungsrechtlich einen Ausbau des Gasometers zu einem Bürohochhaus und die dichte Bebauung der Randbereiche des Grundstücks zu ermöglichen. Kirchen und öffentliche Gebäude Die beiden größten Kirchen der Roten Insel sind St. Elisabeth (katholisch, 1911 geweiht) Königin-Luise-Gedächtniskirche (evangelisch, 1912) Wie im Berlin der Kaiserzeit üblich, wurde der evangelischen Kirchengemeinde ein vergleichsweise repräsentativer Platz für den Bau einer freistehenden Kirche zuerkannt, in diesem Fall der Gustav-Müller-Platz. Die in Berlin eher seltene Bauform der Saalkirche und die markante Kuppel des Baus geben dem Platz bis heute sein Gepräge. Die katholische Gemeinde der Insel war zur Zeit der Weihe von St. Elisabeth für Berlin verhältnismäßig groß – mit über 5000 Gläubigen stellte sie annähernd 20 Prozent der Bevölkerung, was wiederum dafür spricht, dass im Kiez viele Zuwanderer aus anderen Teilen Preußens und des Deutschen Reichs lebten. St. Elisabeth steht im Gegensatz zur Königin-Luise-Gedächtniskirche nicht frei, sondern ist in die nördliche Häuserzeile der Kolonnenstraße integriert. Auf der Insel gibt es zwei kleine historische Friedhöfe: den Zwölf-Apostel- und den bekannteren Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Beide gehören nicht zu einer Insel-Gemeinde, der letztere nicht einmal zu einer aus Schöneberg: St. Matthäus befindet sich im südlichen Tiergarten (dem ehemaligen Geheimratsviertel). Ihren Begräbnisplatz hatte die Gemeinde jedoch an der Großgörschenstraße. Hier liegen die Gräber solcher großbürgerlichen Berühmtheiten wie die Brüder Grimm, Rudolf Virchow und Max Bruch. Wie auf über 40 anderen Berliner Friedhöfen wurden auf dem Zwölf-Apostel-Kirchhof während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion eingesetzt, die in einem Lager an der Neuköllner Hermannstraße unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert waren (→ weitere Infos hier). Als die Bevölkerung der Insel zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf knapp 30.000 Menschen angewachsen war, begannen der preußische Staat und die Stadt Schöneberg die dortige Infrastruktur auszubauen. Auf einem Gelände an der Kolonnenstraße wurden 1894/1895 die IV. und V. Gemeindeschule errichtet. Auf dem straßenseitigen Teil desselben Grundstücks entstanden 1908 die Fichte-Realschule und eine zehnklassige Höhere Mädchenschule. Diese beiden Gebäude sind noch erhalten und beherbergen heute die Robert-Blum-Oberschule. Viele öffentliche Bauten der Kaiserzeit auf der Insel standen im Zusammenhang mit der hier stationierten Garnison des Ersten Preußischen Eisenbahnbataillons. Neben der eigentlichen Kaserne an der Fiscalischen Straße (1920–1936: Immelmannstraße, heute: Kesselsdorfstraße, benannt nach der Schlacht von Kesselsdorf) gab es zahlreiche der militärischen Infrastruktur dienende Zweckbauten. Diese wurden im Laufe der Jahre nacheinander abgerissen bzw. stark umgebaut. Zum größten Teil auf ehemaligem Kasernengelände befindet sich beispielsweise der 1974 errichtete Neubau der Schwielowsee-Grundschule, die seinerzeit die erste Ganztags-Grundschule in West-Berlin war. Selbst die heute rein „zivil“ genutzten Wohnhäuser der nördlichen Insel, etwa an der Czeminski-, Brunhild- und Hohenfriedbergstraße, wurden seinerzeit vielfach von der Armee in Beschlag genommen. Hier gab es nicht nur die Büros verschiedener militärischer Dienststellen. Auch die Wohnungen wurden zur Unterbringung von Armeeangehörigen genutzt, da die staatlich verordneten Einquartierungen bei den Hausbesitzern der südlichen Insel äußerst unbeliebt waren. Kaiserzeitliche Wohnbebauung Diese Bauphase sorgte für den Großteil der Bauten auf der Insel. Der Baustil unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen innerstädtischen Berliner Ortsteilen. Es handelt sich in der Regel um Gebäude mit bis zu fünf Stockwerken, in denen außer Wohnungen auch kleine Läden und Gewerbebetriebe untergebracht waren. Die heute noch weitgehend vorhandene Bausubstanz wurde in den drei Phasen 1882–1895; 1898–1907 und 1912–1918 errichtet. Auf der Insel führten besondere Umstände dazu, das spezielle Flair des Kiezes bis auf den heutigen Tag zu bewahren. Zunächst sah der Bebauungsplan der Insel (festgesetzt in den Jahren 1884 und 1892/1893) relativ kleine Parzellen vor. Das führte dazu, dass die Häuser höchstens zwei Quergebäude und ein Hinterhaus haben. Die als Folge des Hobrecht-Plans (1862) entstandenen prekären Wohnverhältnisse der Mietskasernen anderer Berliner Arbeiterviertel mit vielen aufeinanderfolgenden Hinterhöfen ohne Licht und Luft entwickelten sich hier nicht. Der Hobrecht-Plan hatte zwar eine Bebauung der nördlichen Insel mit großen Mietskasernen vorgesehen, doch bewirkten der Ausbau der Gleisanlagen und der Widerstand des Schöneberger Ortsvorstands, dass es dazu nicht kam. Wären die gigantomanischen Planungen von Adolf Hitler und Albert Speer der 1930er Jahre für die Umgestaltung Berlins zur Welthauptstadt Germania in ihrer Realisierung auch nur über Ansätze hinausgekommen, so wäre die Insel vermutlich als einer der ersten Berliner Kieze komplett dem Abriss anheimgefallen. Wie greifbar diese Aussicht war, zeigen nicht nur etliche erhaltene Dokumente aus Speers Behörde, in denen dieser Abriss des Bezirkes 25 bereits bis ins Detail projektiert war, sondern auch die beginnende Entmietung in den Kriegsjahren und die teilweise Erweiterung bestehender Straßenzüge. Nicht zufällig befindet sich der in diesem Zusammenhang zum Test der Untergrundfestigkeit errichtete Schwerbelastungskörper an der Tempelhofer General-Pape-Straße in unmittelbarer Nähe. Besonderen Zynismus bewies die NS-Verwaltung im Zusammenhang mit der Episode um die Arisierung des Kaufhauses Lesser (Ecke Kolonnen-/Czeminskistraße): Susette Lesser, der Witwe des Gründers, war es 1939 gelungen, einen Verkauf des Grundstücks und Geschäfts zu für die Zeitumstände günstigen finanziellen Konditionen zu arrangieren, die ihr die Emigration ermöglicht hätten. Die zuständigen Behörden untersagten den Verkauf mit der Begründung, das Gebäude werde ohnehin in kurzer Zeit abgerissen und sei daher wertlos. Frau Lesser wurde im Oktober 1941 ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert; über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt – das Haus, das ihr Mann im Jahr 1906 erworben hatte, steht noch heute. Auch von den Folgen der alliierten Luftangriffe während des Bombenkrieges, die Berlin 1944 und 1945 besonders hart trafen, blieb die Insel weitgehend verschont. Die kaiserzeitliche Bausubstanz ist daher größtenteils intakt erhalten geblieben, wurde jedoch in großen Teilen entstuckt. An einigen Stellen wurden Gebäude der Nachkriegsmoderne errichtet. Schließlich bewirkte das Engagement der Bevölkerung in den 1970er und 1980er Jahren, dass die sogenannte „Kahlschlagsanierung“, die den Kiez womöglich dem Konzept der autogerechten Stadt geopfert hätte, der Insel erspart blieb: Die Bauarbeiten für die geplante Westtangente kamen nach jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen Senat und Bevölkerung nicht über das nahegelegene Autobahnkreuz Schöneberg hinaus. Die Bürgerinitiative Westtangente, die maßgeblich an diesem Ergebnis beteiligt war, war mit ihren Mitgliedern und ihrem Büro viele Jahre in der Cheruskerstraße und in der näheren Umgebung ansässig. Bahnhof Südkreuz An der Stelle des heutigen Bahnhofs Südkreuz wurde 1901 der Bahnhof Papestraße eröffnet. Trotz seiner Funktion als Kreuzungsbahnhof zwischen Ring- und Vorortbahn kam ihm über ein Jahrhundert keine herausgehobene Bedeutung im Verkehrsnetz der Stadt zu. Dies änderte sich mit der Umsetzung des Pilzkonzeptes: Unter dem Namen Bahnhof Südkreuz wurde der neu gebaute Bahnhof am 28. Mai 2006 als einer der größten hauptstädtischen Fernverkehrsbahnhöfe in Betrieb genommen. Schöneberger Müllverbrennungsanlage Zwischen Gasometer und Südkreuz befanden und befinden sich zahlreiche Gewerbeanlagen. Besonders auffallend war dabei in diesem Bereich die erste Müllverbrennungsanlage Berlins. Die Schöneberger Müllverbrennungsanlage überzog in den 1920er bis in die 1940er Jahre die Umgebung mit einer Schicht aus Kohlenstaub und anderen Stoffen. Nach mehreren Umnutzungen befindet sich mittlerweile ein Betriebshof der Berliner Stadtreinigungsbetriebe auf dem ehemaligen Gelände der Anlage. Bis zum 1. August 2000 konnte man hier noch auf einem Recyclinghof Altpapier, Flaschen und andere Dinge entsorgen. Der Cheruskerpark Ursprünglich verfügte die Insel – wenn man von den Friedhofsanlagen absieht – über keine ausgedehntere Grünfläche, da die Schöneberger Gemeindeverwaltung an der Anlage einer Erholungsfläche in dem Arbeiterviertel kein vordringliches Interesse zeigte. Typisch für die Geschichte des Kiezes ist die Art und Weise, wie diesem Mangel – zumindest in gewisser Weise – abgeholfen wurde. Geschichte Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die im Jahr 1944 zerstörte „Südringspitzkehre“ zum Potsdamer Ringbahnhof nicht wieder instand gesetzt. Ein Teil des Gleisdreiecks der Ringbahn, darunter die sogenannte „Cheruskerkurve“, wurde 1948 abgebaut. Auf der freigewordenen Fläche entstand, eingezwängt zwischen Gasometer, Kolonnen-, Cherusker- und Torgauer Straße, der Cheruskerpark. Diese bewusst hochtrabend klingende Bezeichnung war zunächst nur der ironisierende Spottname der ansässigen Bevölkerung für das wenig repräsentative Gelände. Im Laufe der Zeit übernahm das Bezirksamt Schöneberg diesen Namen in offiziellen Darstellungen. Da der Park mit zunehmend schlechterer finanzieller Ausstattung Berlins in einen Zustand immer größerer Verwahrlosung geriet, mieden viele Anwohner das Gelände, das zu sehr als „Hundeklo“ und Schauplatz von Kleinkriminalität empfunden wurde, um für Jogger oder spielende Kinder attraktiv zu bleiben. Außerdem musste im Laufe der 1990er Jahre der mit Schadstoffen (Cadmium) belastete Boden abgetragen werden. Von 2005 bis 2006 ließ das Bezirksamt umfassende Instandsetzungsarbeiten im Park vornehmen, der nun wieder vollständig der Öffentlichkeit zugänglich ist. Bereits in der Umbauphase waren Bürgerinitiativen aktiv, die sich für bzw. gegen ein Hundeverbot im wieder eröffneten Park einsetzten. Letztlich wurde ein Kompromiss umgesetzt, der etwa die Hälfte der Parkfläche für Hunde unzugänglich macht. Gleichzeitig wurde ein Hundeauslauf auf der anderen Seite der Ringbahn geschaffen. Ob dem Park in der derzeitigen Gestalt ein langfristiges Bestehen vergönnt sein wird, ist nicht zuletzt deswegen unklar, weil es Überlegungen zur Wiedererrichtung des östlichen Astes der Cheruskerkurve gibt. Danach ist dieser Abschnitt als vierte Ausbaustufe der Planungslinie S21 vorgesehen. Um- und Ausbau 2013 (Schöneberger Schleife) Für den Ausbau des Flaschenhalses, der Schöneberger Linse und der damit verbundenen Schöneberger Schleife als Gesamtkonzept zur urbanen Nutzung und als Erweiterung von Grünflächen begann im Frühjahr 2013 ein schrittweiser Abriss der Bebauung auf der Nordseite der Torgauer Straße zugunsten der Erweiterung des Parks. Die Abrissarbeiten waren im Frühsommer 2013 abgeschlossen. Anschließend wurde mit dem Abriss der auf der Südseite befindlichen Bebauung bis hin zur Wilhelm-Kabus-Straße nahe dem Bahnhof Südkreuz begonnen. Dort endet, vorerst, der Radweg aus nördlicher Richtung kommend. Bis Sommer/Herbst 2014 waren die Bauarbeiten abgeschlossen. Jetzt kann durchgehend vom Deutschen Technikmuseum am nördlichen Ende des Möckernparks über den Flaschenhals, das ehemalige Bahngelände südlich der Yorckstraße, bis zum Bahnhof Südkreuz, westlich der Ringbahn folgend in einer Schleife, nördlich in den Cheruskerpark folgend, über einen Wander- und Fahrradweg westlich der Wannseebahngleise im S-Bahn-Einschnitt bis zum Potsdamer Platz gelaufen bzw. geradelt werden. Der Weg kreuzt hierbei den Kleinen Wannseebahntunnel. Dieser Überweg wurde im März 2013 eröffnet, vorher war es nicht möglich, von der Cheruskerstraße direkt auf die den Bahngleisen gegenüberliegende Ebersstraße zu gelangen. Dieser Zugang bietet nun auch den Bewohnern des Feurigkiezes Zugang zum Park. Mit Mitteilung des Eisenbahn-Bundesamts vom 28. März 2017 wurden mehrere Flächen an der Einmündung der Südringspitzkehre in den Südring von Bahnbetriebszwecken freigestellt. Dies betrifft u. a. Flächen zwischen Torgauer Straße und Ringbahn sowie die westliche Verbindungskurve in Richtung des Bahnhofs Schöneberg, nicht jedoch die östliche Verbindungskurve zum Bahnhof Südkreuz. Projekt Inselgarten 2016 Im Jahr 2016 entsteht als Projekt ein gemeinschaftlich genutzter Stadtgarten im öffentlichen Raum (Urban Gardening) an der Cheruskerstraße nahe dem S-Bahnhof Julius-Leber-Brücke. Es ist eine Initiative von Über den Tellerrand e. V., dem Lebensmittelgeschäft Bio-Insel und der Technischen Universität Berlin. Dort wird der Bau des Inselgartens in eine Lehrveranstaltung am Institut für Architektur eingebunden. Das Projekt soll sich auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse auf der Roten Insel beziehen und die Anwohnenden aktiv einbeziehen. Die Insel nach der Wiedervereinigung Die beengten Wohnverhältnisse des 20. Jahrhunderts – bedingt durch Wohnungsknappheit, große Familien, Schlafgänger und Einquartierungen – existieren gegenwärtig nicht mehr. In der Zeit von 1920 bis 1960 hatte die Einwohnerzahl der Insel gleichmäßig um die 35.000 betragen, heute wohnen etwa 13.000 Menschen im Kiez. Der Ausländeranteil beträgt rund 20 Prozent. Wie erwähnt befanden sich früher in der Mehrzahl der Insel-Wohnhäuser kleine Läden, Kneipen und Gewerbebetriebe, deren Zahl seit den 1980er Jahren stark zurückgegangen ist. Das ist auch eine Folge der deutschen Wiedervereinigung: Aus dem – seit 1989 bei Weitem nicht mehr so zentral gelegenen – Schöneberger Ortskern fand eine Abwanderungsbewegung in Richtung Berlin-Mitte statt; die Insel befand sich vollends in einer ungünstigen Randlage. Für die Lebensqualität des Kiezes erwiesen sich diese Entwicklungen aber als keineswegs ausschließlich negativ. Die leerstehenden Flächen wurden und werden vielfach in einer – für Berlin ohnehin typischen – Weise als Ladenwohnungen genutzt. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung auf der Roten Insel ist selbst für die Situation des modernen Berlin auffallend niedrig (unter 15 % der über 60-Jährigen), denn vor allem der südliche Teil der Insel ist eine sehr kinderreiche Gegend. Hierbei fällt auch die bemerkenswert hohe Dichte an Kinderläden auf. In ihrer politischen Grundhaltung haben sich die Rotinsulaner ihre Tradition bewahrt: Bei den Wahlen dominieren Bündnis 90/Die Grünen und die SPD (siehe die Angaben des Statistischen Landesamtes Berlin). Im Jahr 2012 wurde die Insel für Fußgänger und Radfahrer durch den Ost-West-Grünzug über den Alfred-Lion-Steg mit dem Norden Tempelhofs verbunden. Die Anlage erfolgte im Rahmen des Stadtumbaus West (Fördergebiet Schöneberg-Südkreuz), der bis 2015 unter anderem eine großräumige Grünvernetzung des Quartiers vorsieht. Persönlichkeiten der Ortslage Marlene Dietrich, Schauspielerin und Sängerin, wurde im Haus Sedanstraße 53 (jetzt: Leberstraße 65) geboren. Der expressionistische Schriftsteller Paul Zech lebte von 1925 bis 1933 im Haus Naumannstraße 78 (bis 1929: Königsweg). Am Haus befindet sich eine Gedenktafel für ihn. Der Widerstandskämpfer Julius Leber arbeitete nach seiner Freilassung aus dem Konzentrationslager 1937 bis zu seiner erneuten Verhaftung 1944 in einer Kohlehandlung in der Torgauer Straße, die er für konspirative Aktionen nutzte. Nach ihm sind die Leberstraße und die Julius-Leber-Brücke benannt. Der CDU-Politiker und zweite Bundestagspräsident Hermann Ehlers wurde in der Gotenstraße 6 geboren. Der Bischof von Berlin Alfred Kardinal Bengsch wurde 1921 im Haus Gustav-Müller-Straße 38 geboren. Willi Stoph, SED-Politiker und langjähriger Vorsitzender des Ministerrats der DDR, verlebte seine Kindheit und Jugend auf der Roten Insel – seine verwitwete Mutter wohnte in der Sedanstraße 11–12 (jetzt: Leberstraße 22). Hildegard Knef verbrachte einen großen Teil ihrer Kindheit (sie war Halbwaise) bei ihren Großeltern auf der Insel in der Sedanstraße 69 (jetzt: Leberstraße 33). Der südliche Vorplatz des Bahnhofs Südkreuz trägt ihren Namen. August Bebel, sozialistischer Arbeiterführer, wohnte nach 1890 in der Großgörschenstraße 22. Alfred Lion, der 1939 mit seinem (aus dem Bezirk Tiergarten stammenden) Jugendfreund Frank Wolff im New Yorker Exil das später weltberühmte Jazz-Label Blue Note Records gründete, wurde angeblich in der Gotenstraße 7 geboren. Nach ihm wurde der Alfred-Lion-Steg benannt, der in Verlängerung der Leuthener Straße über die Gleise der Anhalter Bahn führt. Friedrich Naumann, liberaler Politiker und Theologe der Kaiserzeit, wohnte von 1901 bis 1906 in der Hohenfriedbergstraße 11 und 1906–1919 im Königsweg 6 (heute: Naumannstraße 24). Theodor Heuss, erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, lebte während seiner Zeit als Redakteur der Zeitschrift Die Hilfe ab 1908 im dritten Geschoss des Hauses Königsweg 8 (heute: Naumannstraße 28). Der Maler, Grafiker und Schriftsteller Hans Baluschek fand in diesem Kiez viele Motive für seine Werke, von denen im Artikel einige abgebildet sind. Der Künstler selbst lebte einige Jahre in den nahegelegenen Ceciliengärten. Nach ihm wurde der Hans-Baluschek-Park südlich des Bahnhofs Südkreuz entlang der Eisenbahnstrecke benannt. Sonstiges zum Namen In Kroatien, dem Ort Rovinj zugehörig, gibt es eine natürliche Insel, die offiziell Rote Insel (Crveni Otok) heißt. Sie ist hier erwähnt. Rote Insel heißt auch das Haus Mansteinstraße 10/10a. Es wurde während des West-Berliner Häuserkampfs am 7. Januar 1981 als erstes Haus in Schöneberg besetzt. Heute hat das Haus einen Pachtvertrag und sieht sich als alternatives Wohn- und Hausprojekt. Da es einige Meter westlich des S-Bahnhofs Yorckstraße (Großgörschenstraße) steht, befindet es sich streng genommen außerhalb des Kiezes, auf dessen linke Tradition sich das Hausprojekt bis heute sehr betont bezieht. Ein anderer – mit dem Industriezeitalter eng verbundener – Ort heißt ebenfalls Rote Insel: Der US-Bundesstaat Rhode Island (ursprünglich niederländisch: ‚roode eiland‘). Der Hauptteil der Handlung des 1894 fertiggestellten Romans Die Poggenpuhls von Theodor Fontane ist in der Großgörschenstraße angesiedelt. Literatur Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Die Rote Insel Berlin-Schöneberg. Bruchstücke zu einer Stadtgeschichte. Dirk Nishen Verlag, Berlin 1987, ISBN 3-88940-131-7. Erweiterte Neuauflage 2008, ISBN 978-3-925702-19-8. Helmut Winz: Es war in Schöneberg – Aus 700 Jahren Schöneberger Geschichte. Berlin 1964. Ulf Mailänder, Ulrich Zander: Das kleine West-Berlin Lexikon. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2003, ISBN 3-89602-518-X. Gisela Wenzel: Die Rote Insel. In: Spurensicherung in Schöneberg 1933. Hrsg. von der Berliner Geschichtswerkstatt, Berlin 1983. Weblinks St. Matthäus-Kirchhof Rote-Insel-Blog Insel Tour – historischer Spaziergang der Museen Tempelhof-Schöneberg Anmerkungen und Einzelnachweise Ort in Berlin Berlin-Schöneberg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rotfu%C3%9Ffalke
Rotfußfalke
Der Rotfußfalke (Falco vespertinus) ist ein kleiner Vertreter der Eigentlichen Falken innerhalb der Familie der Falkenartigen (Falconidae). Bei den dunkel blaugrauen Männchen fällt die rostrote Befiederung der roten Beine besonders auf. Bei den Weibchen kontrastiert das dunkle Obergefieder mit dem orangebraunen Kopf und Untergefieder. Das geschlossene Verbreitungsgebiet der Art reicht von Ungarn ostwärts bis ins Baikalgebiet. Seit den 1960er Jahren gehen die Bestände des Rotfußfalken fast im gesamten Verbreitungsgebiet der Art zurück. Beschreibung Die Oberseite erwachsener Männchen ist dunkel blaugrau. Meist ist dieser Grauton im Kopfbereich, vor allem rund um die Augen noch etwas dunkler. Die Arm- und Handschwingen sind auf der Oberseite heller silbrig-grau, was einen auffälligen Kontrast zu den dunklen Oberflügeldecken ergibt. Auch die Unterseite des Vogels ist schiefergrau mit Ausnahme des Unterbauchs, der Unterschwanzdecken und der Befiederung der Beine („Hosen“), welche satt rotbraun gefärbt sind. Auffallend sind außerdem der eisenoxidrote Augenring und die ebenso gefärbte Wachshaut. Der Schnabel ist blaugrau und wird zur Spitze hin dunkler, die Krallen sind sehr hell, nur ihre Spitzen sind dunkelgrau. Die Beine und Zehen sind lachsrot. Erwachsene Weibchen unterscheiden sich deutlich von den Männchen. Ihre Oberseite ist heller schiefergrau, oft auch leicht braungrau mit deutlicher, dunkelgrauer Bänderung. Der Schwanz ist etwas heller als das Obergefieder und weist einige dunkle Bänder auf. Das Subterminalband (vergleiche Endbinde) ist fast schwarz und etwas breiter, die Spitzen der Steuerfedern sind schmutzigweiß oder cremefarben. Nacken, Oberkopf und die gesamte Unterseite sind leuchtend bräunlich-orange. Das Bauchgefieder weist eine undeutliche, schwarze Längsstrichelung auf. Die Wangen und die Kehle sind weiß. Auffallend ist die schwarze Augenmaske, die sich in einem kurzen Bartstreif zu den Wangen hin verlängert. Der Augenring und die Wachshaut sind leuchtend orange. Beine und Zehen sind satt orange, die Krallen hell(gelb) mit dunkler Spitze. Juvenile Rotfußfalken sind feldornithologisch nicht immer leicht zu bestimmen. Ihre Oberseite ist matt dunkelbraun und wirkt etwas geschuppt. Die Schwungfedern sind dunkel, kontrastieren aber nicht sehr deutlich mit dem übrigen Obergefieder. Die Unterseite ist hell, die Färbung variiert zwischen blassorange und blassbraun, die Arm- und Handschwingen sind wie bei erwachsenen Weibchen graubraun mit deutlichen hellen Streifen. Der Schwanz ist deutlich gebändert und weist ein breites, dunkles Subterminalband auf. Kopf und Scheitel sind hellbraun oder bräunlich-orange und deutlich fein längsgestrichelt. Die Augenmaske und der Bart sind braun, Wachshaut und Augenringe gelborange. Die Beine und Zehen sind blassgelb. Immature Rotfußfalken (noch nicht ausgefärbte Individuen) sind auch im Freiland meist leicht zu bestimmen, da bei ihnen – individuell allerdings sehr verschieden – die Merkmale des Erwachsenenkleides schon stark ausgebildet sind. In der Untersicht vermitteln sie oft einen uneinheitlichen, scheckigen Eindruck, da das Brust- und Bauchgefieder, die Unterflügeldecken sowie einige (meist die inneren) Handschwingen bereits ins Erwachsenenkleid gemausert sind, die übrigen Handschwingen sowie die meisten Armschwingen aber noch die graubraune, weiß gesprenkelte Färbung des Jugendkleides aufweisen. In der Obersicht gleicht ein Immaturer bereits weitgehend einem erwachsenen Rotfußfalken, nur die äußeren Steuerfedern weisen deutliche weiße Kennzeichen auf. Oft ist auch ein orangebrauner, meist nicht geschlossener Halsring erkennbar. Am Ende des zweiten Lebensjahres wechseln Rotfußfalken in das Erwachsenenkleid. Der gewandte, schnelle und wendungsreiche Flug des Rotfußfalken wird regelmäßig von kurzen Gleitphasen unterbrochen, bei denen die Flügel sichelförmig nach hinten gestreckt werden. Die Art rüttelt häufig, meist ziemlich bodennah und nicht so ausdauernd wie der Turmfalke. Die Körperposition ist dabei waagrechter als bei Turmfalken. Im Segelflug sind die gestreckten Flügel etwas abgesenkt, der Schwanz ist breit gefächert. Maße und Körpermasse Die Körperlänge liegt zwischen 29 und 31 Zentimetern. Die Spannweite variiert zwischen 60 und 75 Zentimetern. Der Rotfußfalke entspricht in der Größe etwa dem Rötelfalken und ist bei gleicher Spannweite etwas kleiner als ein Turmfalke und deutlich kleiner als ein Baumfalke. Männchen wiegen zwischen 115 und 190 Gramm, Weibchen sind mit 130 bis 197 Gramm etwas schwerer. Insgesamt ist der Geschlechtsdimorphismus in Bezug auf Größe und Gewicht jedoch gering, verglichen mit anderen Greifvögeln. Stimme Als Koloniebrüter sind Rotfußfalken sehr stimmfreudig. Besonders in der Vorbrutzeit sowie in Rastgesellschaften sind sie ausgesprochen laut. Einzeln brütende Paare sind dagegen akustisch nicht sehr auffällig. Die Rufe ähneln denen des Baumfalken, sind aber höher, weicher und auch langsamer gereiht. Bei steigender Erregung werden die Rufe spitzer und die Intervalle zwischen den Einzelelementen kürzer. In etwa lassen sie sich mit kjiiie-kjiie transkribieren. Entfernt erinnern sie an die Rufe des Wendehalses. Die Rufe des Weibchens sind ähnlich, klingen jedoch etwas kläglich. Bei großer Erregung vibrieren sie eigenartig und klingen dann keckernd. Häufig ist auch ein langgezogenes Lahnen, das wie thschree - triiie - triii klingt, zu hören. Verwechslungsmöglichkeiten Vor allem juvenile Rotfußfalken können leicht mit jungen Baumfalken verwechselt werden. Beim juvenilen Baumfalken sind der Kopf und die Gesichtsmaske dunkel, fast schwarz, die Wachshaut und die Augenringe sind unauffällig blaugrau. Die mittleren Schwanzfedern des Baumfalken sind einfarbig dunkelgrau und weisen keine Bänderung auf. Im Flugbild fallen die größere Spannweite des Baumfalken, die an der Basis breiteren Flügel und der kräftigere, plumper wirkende Flug auf. Auch Merlinweibchen sind juvenilen Rotfußfalken sehr ähnlich, doch erlauben die deutlich geringere Spannweite des Merlins, sein insgesamt eher dreieckiger Flügelumriss sowie die völlig andere Flugweise meist eine sichere Bestimmung. Systematik F. vespertinus ist nahe mit dem Amurfalken (Falco amurensis) verwandt, dessen Verbreitungsgebiet ostwärts an das des Rotfußfalken anschließt, und bis an den Amur, südostwärts bis Nordkorea reicht. Diese Art ist etwas kleiner als der Rotfußfalke und unterscheidet sich vor allem in der Gefiederfärbung der Weibchen deutlich von diesem. Weibliche Amurfalken haben einen dunkel schiefergrauen Kopf. Die Augenringe und Wachshaut sind ziegelrot. Die Unterseite der Weibchen weist auf nur blass bräunlich orangem Grund eine deutliche schwarze Fleckung auf. Amurfalken fliegen in die gleichen Winterquartiere wie Rotfußfalken. Auf dem Heimzug kommt es gelegentlich in Südeuropa zu Nachweisen dieser Art. Bis vor einigen Jahren galt der Amurfalke als Unterart des Rotfußfalken (Falco vespertinus amuriensis), er wird heute jedoch als eigenständige Art betrachtet, so dass vom Rotfußfalken keine Unterarten beschrieben werden. Verbreitung Die Schwerpunkte der europäischen Verbreitung liegen in Südrussland sowie in der Ukraine. In größeren Zahlen kommt die Art in Ungarn, Rumänien und Serbien vor. Kleinere Populationen bestehen in Italien, Bulgarien und Moldawien, in Österreich, der Slowakei sowie in Belarus. Unregelmäßig brütet der Rotfußfalke auch in Tschechien und in den baltischen Staaten, gelegentlich auch in Deutschland. In Asien verlaufen die Brutvorkommen in einem relativ schmalen Band etwas südlich der geschlossenen Taiga ostwärts bis zur oberen Lena, wo sie östlich des Baikals das Verbreitungsgebiet der Schwesterart Falco amurensis berühren. Die Nordgrenze schwankt zwischen dem 63° und 58° nördlicher Breite, die Südgrenze etwa um den 45° nördlicher Breite. Sie verläuft zunächst entlang der Nordabdachung des Altai und folgt dann westwärts dem Übergang aufgelockerter Kiefernwälder in die baumlosen Steppengebiete Zentralasiens. Weiter westwärts erreichen die geschlossenen Brutgebiete am Unterlauf der Wolga sowie an der Nordküste des Kaspischen Meeres Europa. Die südlichsten Vorkommen liegen in den Steppengebieten nördlich des Kaukasus und in Südgeorgien. Einige inselartige Brutgebiete befinden sich in der nördlichen Türkei. Den Winter verbringen sie im südlichen und östlichen Afrika. Lebensraum Der Rotfußfalke ist ein Bewohner weitgehend offener, von Baumgruppen bestandener, oder mit kleinen Wäldchen durchsetzter Landschaften. Neben einem reichlichen Angebot an Großinsekten und Kleinsäugern, ist die Art auf das Vorhandensein von geeigneten Nistmöglichkeiten, insbesondere von alten Saatkrähen- und Elsternestern angewiesen. In seinen Schlüsselverbreitungsgebieten in Zentralasien und Südosteuropa kommt er vor allem in Baumsteppengebieten vor. Er besiedelt jedoch ebenso den Südrand des geschlossenen paläarktischen Nadelwaldgürtels, in besonderer Dichte jene Regionen, in denen der geschlossene Fichtenbestand in einen aufgelockerten Kiefernbestand übergeht. Die Art vermag auch in große, zusammenhängende Waldgebiete vorzudringen, wenn dort durch Stürme, Brände oder Kahlschläge große Lichtungen entstanden sind. In seinen nördlicheren Verbreitungsgebieten brüten Rotfußfalken auch in baumbestandenen Heidelandschaften sowie in Moorgebieten. Ebenso können aufgelockerte Auwälder, seltener auch von Baumreihen begrenztes Kulturland Bruthabitate des Rotfußfalken sein. Dort, wo ausreichend Duldung durch die Menschen besteht, können Rotfußfalken in Siedlungsnähe oder an Siedlungsrändern nisten. Wüstengebiete werden niemals besiedelt, baumlose Steppengebiete nur in Ausnahmefällen, vor allem dann, wenn sich Brutmöglichkeiten an Klippen oder Felseninseln anbieten. Der Rotfußfalke ist ein Bewohner der Niederungen. In Europa liegen nur wenige Brutplätze über 300 Meter Meereshöhe. In Asien kommt die Art bis 1500 Meter über dem Meeresspiegel vor. In den Winterquartieren, in denen die Art ein nomadisierendes Leben führt, werden verschiedene Landschaftstypen wie Feuchtsavannen, Trockensavannen, Dorngrassavannen sowie offenes Grasland aufgesucht. Nahrung und Nahrungserwerb Die Nahrungsgrundlage erwachsener Rotfußfalken besteht fast ausschließlich aus Großinsekten und wenigen anderen Wirbellosen. Die Jungen werden jedoch mehrheitlich mit Reptilien, Amphibien und Kleinsäugern gefüttert. Eine besondere Bevorzugung einzelner Arten ist nicht feststellbar. In den Mägen untersuchter Rotfußfalken fanden sich gehäuft solche Spezies, die saisonal häufig vorkommen und leicht zu erbeuten sind. Mengen- und gewichtsmäßig überwiegen relativ große Arten wie Heuschrecken, unter ihnen vor allem Grillen, sowie Käfer, insbesondere Maikäfer, Mistkäfer (zum Beispiel Geotrupes sylvaticus) und Laufkäfer, Libellen und Schmetterlinge (sowohl Larven als auch Imagines). Daneben spielen auch verschiedene Hautflügler, wie Bienen, Wespen sowie Zweiflügler eine gewisse Rolle im Nahrungsspektrum dieser Art. Bei besonderer Nahrungsknappheit werden auch andere Wirbellose wie Spinnen, Schnecken und Regenwürmer gefressen. Im zeitigen Frühjahr, wenn Großinsekten noch nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, sowie während der Jungenaufzucht, schlägt der Rotfußfalke kleine Nagetiere etwa bis zur Größe von Hamstern und jungen Zieseln sowie Spitzmäuse. Auch Kleinvögel und Nestlinge, Reptilien und Amphibien sind in dieser Zeit wichtige Nahrungsbestandteile. Bei Gradationen bestimmter Beutetiere, z. B. der Feldmaus (Microtus arvalis), oder der Knoblauchkröte (Pelobates fuscus), können diese zum fast ausschließlichen Beutetier werden. Im Winterquartier bilden vor allem Heuschrecken, Zikaden, Termiten und geflügelte Ameisen die Nahrungsgrundlage. Rotfußfalken sind sowohl Ansitzjäger als auch Suchflugjäger. In der Ansitzjagd beobachten sie von einer meist niedrig gelegenen Warte aus die Umgebung und erbeuten in kurzen Ausfallflügen ihre Beutetiere entweder in der Luft oder am Boden. Im Suchflug werden kleinere Geländeabschnitte in einem langsamen, von Rüttelphasen unterbrochenen Flug abgesucht. Dieser Flug wechselt ständig in der Höhe und erinnert etwas an den Jagdflug der Trauerseeschwalbe (Chlidonias niger). Die Beute wird mit vorgestreckten Fängen ergriffen. Kleinere Beutetiere werden nach Abbeißen des Kopfes im Flug verzehrt, größere zu einem Ansitz getragen und dort gekröpft. Häufig jagen Rotfußfalken auch zu Fuß, wobei sie sich sehr geschickt hüpfend und laufend fortbewegen. Die Jagd erfolgt oft in kleinen Verbänden. Ob in diesen koordinierte Jagdmethoden stattfinden, ist nicht bekannt. Gelegentlich jagen Rotfußfalken anderen kleineren Falken, insbesondere Rötelfalken (Falco naumanni), ihre Beute ab. Verhalten Wenn es das Nahrungsangebot sowie das Vorhandensein von Brutmöglichkeiten erlauben, leben Rotfußfalken sozial, wobei die Gruppengrößen zwischen mehreren Paaren und mehreren hundert Paaren schwanken können. Kolonien mit mehr als 20 Brutpaaren sind jedoch in Europa selten geworden. An den Rändern seines Verbreitungsgebietes im Westen und Norden brütet die Art in der Regel einzeln. Rotfußfalken beanspruchen kein Territorium. Auch innerhalb der Brutkolonie, in der die Nestabstände durch die Weiterbenutzung alter Rabenvogel-Nester vorgegeben sind, ist die Art gegenüber dem Brutnachbarn sehr verträglich. Artfremde Eindringlinge, insbesondere Krähen, werden von den Brutpartnern, die der Aggression am stärksten ausgesetzt sind, energisch vertrieben. Andere Koloniemitglieder beteiligen sich zwar durch lautes Geschrei, nicht aber aktiv an der Auseinandersetzung. Auch außerhalb der Brutzeit sind Rotfußfalken nur sehr selten einzeln anzutreffen. Sie sammeln sich zu großen Zuggemeinschaften und verbringen auch die Zeit im Winterquartier in großen Gruppen. Jagd- und Schlafgesellschaften mit mehr als 1000 Individuen wurden beobachtet. Wie beim Rötelfalken verläuft das Aktivitätsprofil der Art zweigipfelig. Einer ersten intensiven Jagdphase, die am späteren Morgen beginnt, folgt ein ausgiebiges Ruhe- und Putzintervall, das im Sommer bis etwa 16:00 Uhr dauert. In dieser Zeit ruhen die Koloniemitglieder oder sind mit Gefiederpflege beschäftigt. Selbst sehr leicht erreichbare Beute wird während dieser Stunden meist nicht beachtet. Nur bei knapper Nahrungsverfügbarkeit und während der Brutzeit können die ersten Beuteflüge schon in den frühen Morgenstunden beginnen. Der zweite Aktivitätsgipfel reicht vom späten Nachmittag bis in die späte Dämmerung, in hellen Mondnächten bis in die Nacht. Der Tag endet auch während der Brutzeit mit gemeinschaftlichen, lauten Flugspielen. Balz und Paarbildung Rotfußfalken werden am Ende des ersten Lebensjahres geschlechtsreif, jedoch brüten viele erst im darauf folgenden Jahr. Sie führen eine monogame Brutsaisonehe. Ob Paare bereits ansatzweise verpaart im Brutrevier erscheinen, ist nicht bekannt. Hauptbalz und Paarbildung erfolgen erst im Brutgebiet. Hauptelemente der relativ kurzen Balz sind Schauflüge des Männchens, die jenen des Turmfalken sehr ähnlich sind. Dabei steigt das Männchen auf und umfliegt unter Drehungen und Wendungen das sitzende Weibchen, auf das es immer wieder herunterstößt und es gelegentlich sogar berührt. Das Weibchen duckt sich, sträubt leicht das Rückengefieder und richtet den Schwanz steil auf. Begleitet sind diese Flugspiele von lauten Rufen beider Partner. Gelegentlich landet das Männchen neben dem Weibchen und übergibt Beutetiere. Auch das wiederkehrende zeremonielle Nestzeigen ist ein Element der Balz, das vor allem die Funktion hat, die Nistplatzwahl der Partner zu koordinieren, die oft verschiedene Nester ins Auge gefasst haben. Die Begattungen erfolgen auf dem Nest oder auf einem Zweig und werden zur Eiablage hin in immer kürzeren Intervallen vollzogen. Gelege und Brut Gleich nach Ankunft im Brutgebiet – je nach Region von Ende April bis Ende Mai – versuchen die heimkehrenden Falken Nistplätze zu besetzen. Verwendet werden in der Regel alte, nicht mehr benutzte Krähennester. Elster, Aaskrähe, besonders aber die Saatkrähe sind die häufigsten Nestlieferanten. Gelegentlich werden auch Horste von Greifvögeln benutzt. Da die Saatkrähe ausschließlich in Kolonien brütet, ist dem Rotfußfalken das soziale Brüten praktisch vorgegeben. Werden Saatkrähennester benutzt, scheinen die höher gelegenen attraktiver als die niedriger im Gehölz errichteten zu sein. Üblicherweise sind die bezogenen Nester nicht besetzt. Gelegentlich warten Rotfußfalken mit der eigenen Eiablage, bis die Nestlinge des Vorbesitzers ausgeflogen sind. Es wurde aber auch beobachtet, dass Rotfußfalkenpaare noch brütende Saatkrähen und Nebelkrähen angriffen und vom Nest vertrieben. Selten kommt es zu Bruten auf Felsklippen oder in Halbhöhlen. Gelegentlich wurden auch Bodenbruten festgestellt. Das Gelege besteht aus drei bis vier auf hellem Grund dicht rotbraun gesprenkelten, eher stumpfovalen Eiern mit Mittelmaßen von 37 × 29 Millimetern. Das Eigewicht beträgt im Durchschnitt 21 Gramm. Die Eier ähneln in Größe und Aussehen denen des Turmfalken, sind aber geringfügig kleiner und etwas heller. Große Gelege mit sechs Eiern wurden ebenso festgestellt wie solche mit nur einem Ei. Ob bei Gelegeverlust Nachgelege vorkommen ist unbekannt. Die Eiablage beginnt zwei bis drei Wochen nach Ankunft im Brutgebiet, im südöstlichen Mitteleuropa etwa Mitte Mai. Die spätesten Ankunftsdaten stammen aus dem nordöstlichen Sibirien wo die Bestände erst in der zweiten Junidekade eintreffen. Das Gelege wird von beiden Partnern meist nach Ablage des zweiten Eies bebrütet. Auch das Männchen entwickelt in dieser Zeit einen Brutfleck. Über die exakte Brutzeitdauer herrscht Unklarheit. Ältere Angaben von nur 22–25 Tagen werden heute meist als zu kurze Ausnahmebeobachtungen eingestuft. Die durchschnittliche Brutdauer dürfte bei 27–28 Tagen liegen. Auch zur Nestlingsdauer liegen nur wenige Daten vor, die meisten Autoren geben sie mit 26–28 Tagen an. In den ersten beiden Wochen werden die Küken vom Weibchen gehudert und beschattet, welches die vom Männchen herbeigebrachte Nahrung zerteilt. Danach beteiligt sich auch das Weibchen an der Nahrungssuche. Nach dem Ausfliegen werden die Jungen sehr schnell selbständig und können schon nach zwei Wochen Beute schlagen. Der Familienverband löst sich daraufhin auf. Wanderungen Rotfußfalken sind obligate Langstreckenzieher, was bedeutet, dass sie auch unabhängig von klimatischen Ereignissen stets den Zug vollführen. Alle Populationen verbringen den paläarktischen Winter im südost- beziehungsweise südafrikanischen Winterquartier. Auch die Vögel der ostasiatischen Brutgebiete ziehen in diese Gebiete und legen dabei Gesamtstrecken weit über 20.000 Kilometer zurück. Sehr selten wurden Überwinterungen auf der Krim, in Makedonien sowie in der Türkei festgestellt. Vor dem Wegflug Ende August bis Mitte September versammeln sich in den Brutgebieten umfangreiche Zuggesellschaften. Die Art wandert meist bei Tag und in großen Höhen, oft gemeinsam mit anderen kleineren Falken. Die Ostpopulationen fliegen zuerst nach Westen und schwenken im Bereich des Ostufers des Schwarzen Meeres beziehungsweise des östlichen Mittelmeeres nach Süden. Zuweilen erfolgt dieser anfängliche Westzug noch weiter nördlich, so dass es zu herbstlichen Einflügen von Rotfußfalken in Südschweden und Norddeutschland kommt. Die osteuropäischen Brutvögel ziehen sofort in südöstliche Richtungen. Ihre Überwinterungsgebiete in Angola, Sambia, Namibia, Botswana, Simbabwe und der Republik Südafrika erreichen sie etwa Mitte November und verweilen dort bis Ende Februar. Der Heimzug verläuft viel weiter westlich, so dass das Mittelmeer in breiter Front häufig in seinen westlichen und zentralen Bereichen überflogen wird (Schleifenzug). Besondere Witterungsbedingungen führen die Art regelmäßig auf dem Heimzug nach Mitteleuropa, gelegentlich auch bis Norddeutschland, Großbritannien und in die Niederlande. So wurden 1992 in den Niederlanden über 1500 durchziehende Rotfußfalken gezählt. Bestand und Bedrohung Wie bei anderen Großinsektenjägern verläuft die Bestandsentwicklung des Rotfußfalken seit den 1960er Jahren negativ, in einigen Regionen wie Ungarn sogar stark negativ. In Ungarn brüteten 1998 noch über 2000 Paare, 2002 wurde der Bestand mit maximal 1000 Brutpaaren beziffert. Besonders negativ erweist sich der Umstand, dass große Brutkolonien weitgehend verschwunden sind, die Produktivität aber in solchen bedeutend größer ist als in kleineren Kolonien oder bei Einzelbrütern. Diese Entwicklung lässt einen weiteren Rückgang der Bestände in der näheren Zukunft befürchten. Neben Biotopzerstörung und direkter Verfolgung wirkt sich vor allem der großflächige Einsatz von Bioziden negativ auf die Bestände aus. Heute scheinen diese vor allem unter der Bekämpfung der Heuschrecken in den Überwinterungsgebieten zu leiden. Auch die Verfolgung von Saatkrähe und Elster, den wichtigsten Horstlieferanten, reduzierte die Vorkommen der Art. Neuere Untersuchungen gehen von etwa 32.000 Brutpaaren in Europa aus, den Weltbestand beziffert Ferguson-Lees und Christie mit mindestens 100.000 Brutpaaren. Da viele Gebiete Asiens mit geeigneten Biotopen ornithologisch nicht untersucht sind, könnte der tatsächliche Weltbestand bedeutend höher liegen. Laut IUCN gilt der Rotfußfalke als near threatened, er steht also knapp vor einer Gefährdung. Birdlife Europe stuft die Bestände – hauptsächlich wegen der signifikanten Rückgänge in der Ukraine und im europäischen Teil Russlands mit vulnerable (gefährdet) ein, doch sind in diese Bewertung die erst kürzlich hochgerechneten gesamtukrainischen Bestände nicht mit eingeflossen. Es können jedoch auch positive Entwicklungen verzeichnet werden. In Ostösterreich und in der Westslowakei, wo die Art gegen Ende der 1980er Jahre nicht mehr brütete, kommt der Rotfußfalke wieder regelmäßig als Brutvogel vor. 1995 wurden im Raum Parma die ersten Bruten in Italien festgestellt. Heute brüten vor allem in der Provinz Ferrara bis zu 70 Paare. Namensherleitung Der Gewohnheit des Rotfußfalken, bis in die späte Dämmerung zu jagen, trägt der wissenschaftliche Name Rechnung: lat. vespertinus lässt sich mit Der Abendliche übersetzen. Auch im Dänischen (Aftenfalk) und im Schwedischen (Aftonfalk) war diese Eigenschaft namensgebend. Auf italienisch heißt die Art Falco cuculo, was auf eine gewisse Ähnlichkeit juveniler Rotfußfalken mit einem Kuckuck (Cuculus canorus) hinweist. In vielen anderen Sprachen sind die auffälligen roten Beine der Männchen dieser Art für den Namen verantwortlich wie beispielsweise Cernícalo de patas rojas im Spanischen, was übersetzt Falke mit roten Beinen bedeutet. Literatur Hans-Günther Bauer und Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Wiesbaden 1998, ISBN 3-89104-613-8, S. 122f. Mark Beaman und Steven Madge: Handbuch der Vogelbestimmung. Europa und Westpaläarktis. Stuttgart 1998, S. 207 und 246, ISBN 3-8001-3471-3 James Ferguson-Lees und David A. Christie: Raptors of the World. Boston/New York 2001, ISBN 0-618-12762-3, S. 864–867; Plate 99 (S. 276). Benny Génsbøl und Walther Thiede: Greifvögel. Alle europäischen Arten, Bestimmungsmerkmale, Flugbilder, Biologie, Verbreitung, Gefährdung, Bestandsentwicklung. München 2005, ISBN 3-405-16641-1. Urs N. Glutz von Blotzheim, Einhard Bezzel und Kurt M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 4, 2. Auflage, Wiesbaden 1989, ISBN 3-89104-460-7, Seiten 768–788. Theodor Mebs und Daniel Schmidt: Die Greifvögel Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Biologie, Kennzeichen, Bestände. Stuttgart 2006, S. 382–388, ISBN 3-440-09585-1 Viktor Wember: Die Namen der Vögel Europas. Bedeutung der deutschen und wissenschaftlichen Namen. Wiebelsheim 2005, Seiten 66, ISBN 3-89104-678-2 Quellen Weblinks Informationen über den Rotfußfalken Federn des Rotfußfalken Wildlife-Fotos des Rotfußfalken Falkenartige
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https://de.wikipedia.org/wiki/Confuciusornis
Confuciusornis
Confuciusornis ist eine urtümliche Vogelgattung, deren fossile Reste in der chinesischen Provinz Liaoning in Sedimentgesteinen der unteren Kreidezeit entdeckt wurden. Die Vollständigkeit zahlreicher zu Tage geförderter Skelette und gut erhaltene Gefieder-Abdrücke machen Confuciusornis zu einem der am besten bekannten Vögel des Erdmittelalters. Geschichte der Entdeckung und Erforschung Noch vor den Funden gefiederter Dinosaurier, welche die Volksrepublik China in den Mittelpunkt paläontologischer Forschung rückten, wurden im Jahr 1993 in der Gegend um Sihetun und Jianshangou nahe der Stadt Beipiao die fossilen Überreste eines etwa 30 Zentimeter großen Vogels entdeckt und 1995 von einer chinesischen Forschergruppe um Lianhai Hou als Confuciusornis sanctus („heiliger Konfuzius-Vogel“) beschrieben. Besonders die Fundstelle bei Sihetun erwies sich seither als sehr reich an Vogelfossilien: Mehr als 1000 Exemplare der Gattung Confuciusornis sind dort bis zur Jahrtausendwende geborgen worden. Confuciusornis sanctus blieb nicht die einzige Art der Gattung Confuciusornis: Die Forschergruppe benannte in den Jahren 1997 und 1999 insgesamt drei weitere Arten, von denen zwei jedoch umstritten sind. Mit Liaoningornis im Jahr 1996 und Changchengornis im Jahr 1999 kamen von derselben Fundstätte auch weitere neue Vogelgattungen hinzu. Bedauerlicherweise gingen Ende der 1990er-Jahre der Wissenschaft durch die Tätigkeit von Raubgräbern der paläontologischen Forschung viele Vogelfossilien verloren. Bis es gelang, die wichtigsten Fundstellen um Beipiao vor illegalen Fossilienjägern und -händlern zu schützen, waren hunderte Exemplare ausgegraben und verkauft, ohne wissenschaftlich untersucht worden zu sein. Bei der Erstbeschreibung von Confuciusornis glaubte man, die Gesteinseinheiten der Jehol-Gruppe, zu denen die Fundschichten bei Sihetun und Jianshangou gehören, hätten ein vergleichbares Alter wie die Solnhofener Plattenkalke, aus denen der Urvogel Archaeopteryx stammt. Im Jahr 1999 veröffentlichte Ergebnisse radiometrischer Datierungen der Gesteine belegen jedoch für die gesamte Jehol-Gruppe ein geringeres Alter (Unterkreide gegenüber Oberjura). Der im Vergleich zu Archaeopteryx anatomisch modernere Vogel Confuciusornis war demnach auch der eindeutig jüngere. Confuciusornis’ Anatomie im Vergleich Seit den 1980er-Jahren, als Archaeopteryx zeitlich und morphologisch von den anderen damals bekannten fossilen Vögeln isoliert war, wurden zahlreiche Mosaikformen entdeckt, welche die bestehende Lücke füllten, Confuciusornis ist eine davon. Dem Urvogel ähnlich, zeigt das Erscheinungsbild von Confuciusornis ein auffälliges Mosaik aus urtümlichen Merkmalen, also solchen, die bereits bei den Vorfahren der Vögel (den theropoden Dinosauriern) ausgebildet waren, und abgeleiteten Merkmalen, die im Verlauf der Vogelevolution neu hinzukamen. Sie sind in Tabelle 1 aufgelistet. „Nichtvogeltheropode“ ist ein aus der englischen Sprache kommender Begriff für theropode Dinosaurier im herkömmlichen Sinne ohne Einbeziehung ihrer Nachfahren, der Vögel. Der Schädel zeigt eine ungewöhnliche Merkmalskombination: Der Schnabel von Confuciusornis war wie bei heute lebenden Vögeln unbezahnt, während zeitgleiche modernere Vogelgattungen wie Liaoningornis und Yanornis noch Zähne besaßen. Hingegen war die Schläfenregion so wie bei diapsiden Reptilien ausgebildet: Zwei paarige Schläfenfenster (das Infratemporal- und das Supratemporalfenster) lagen hinter der Augenöffnung (Orbita). Bei allen anderen Vögeln einschließlich Archaeopteryx sind solche Schläfenfenster nicht nachgewiesen. Der Flugapparat von Confuciusornis war gegenüber dem von Archaeopteryx fortgeschritten: Das Brustbein (Sternum) zeigt bei manchen Exemplaren einen flachen Kamm, der an den Brustbeinkiel (Carina) moderner Vögel erinnert. Als Ansatzstelle für die wichtigsten Flugmuskeln zum Flügelauf- und -abschlag ist bei allen rezenten flugfähigen Vögeln ein ausgedehnter Brustbeinkiel entwickelt. Das im Vergleich zu Archaeopteryx verlängerte Rabenbein (Coracoid) zeigt ebenfalls den Umbau der Schultermuskulatur in Richtung moderner Vögel an. Der Brustkorb von Confuciusornis wurde verstärkt durch Hakenfortsätze an den Rippen und durch so genannte Sternalrippen, das heißt mit dem Brustbein verbundene Rippenelemente. Das Gabelbein hingegen hatte wie bei Archaeopteryx und verschiedenen (Nichtvogel-)Theropoden keine gabelförmige, sondern eine bumerangähnliche Form. In zeichnerischen Rekonstruktionen (siehe auch das Bild in der obigen Box) wirkt die Hand von Confuciusornis eher urtümlich. Tatsächlich waren die Mittelhandknochen (Metacarpalia) II und III nahe der Handwurzel zusammen mit dem halbmondförmigen Handwurzelknochen zu einem Carpometacarpus verschmolzen. Bei modernen Vögeln sind die Verschmelzungen der Hand so weitreichend, dass nur noch ein Fingerglied des ersten Fingers frei beweglich ist: Der „Daumen“ trägt den so genannten Eck- oder Daumenfittich (Alula), dessen Abspreizen bei bestimmten Flugmanövern zur Manipulation des Luftstroms wichtig ist. Einen solchen Daumenfittich besaßen Confuciusornis und Archaeopteryx nach bisheriger Erkenntnis noch nicht. Dieses Merkmal ist bis auf eine Ausnahme (Microraptor) erst bei Vögeln der höher entwickelten Gruppe Ornithothoraces wie beispielsweise Eoalulavis („früher Alula-Vogel“) ausgebildet. Der Oberarm von Confuciusornis endet in einem ausgedehnten Pectoralkamm, der eine ovale Öffnung aufweist. Diese Öffnung, deren Funktion ungeklärt ist, hielt man für eine Autapomorphie, also für das Exklusivmerkmal dieser Gattung. Im Jahr 2002 wurde der Vogel Sapeornis beschrieben, der ebenfalls aus den Gesteinen der Jehol-Gruppe stammt und ein ähnliches Oberarmfenster besaß. Demnach könnte dieses Merkmal unter frühen Vögeln weiter verbreitet sein als zuerst angenommen. Wichtige Neuerungen, die Confuciusornis (und Sapeornis) von noch urtümlicheren Vögeln wie Archaeopteryx, Rahonavis und Jeholornis unterschieden, waren die Verkürzung des knöchernen Schwanzes und die Ausbildung eines Pygostyls durch Verschmelzen der letzten Schwanzwirbel. Ein derartiger Umbau des Schwanzskeletts war für die Flugnavigation von Vorteil. Systematik Arten der Gattung Confuciusornis Von den sechs bisher beschriebenen Arten der Gattung Confuciusornis sind nach Auffassung der Forschergruppe um Luis M. Chiappe zwei ungültig: Confuciusornis suniae und Confuciusornis chuonzhous beruhen auf der Fehlinterpretation innerartlicher Unterschiede von Confuciusornis sanctus. Alle Exemplare, die den beiden Arten zugerechnet wurden, gehörten demnach wie die Mehrheit aller Funde zu C. sanctus. Confuciusornis dui, die vierte 1999 beschriebene Art, unterscheidet sich von C. sanctus unter anderem in den Handproportionen, in der Form und der Ausprägung mehrerer Schädelelemente sowie in der Form des Brustbeins und der am Brustbein ansetzenden Rippen. 2009 und 2010 wurden zwei weitere Arten beschrieben, Confuciusornis feducciai benannt nach dem US-amerikanischen Paläornithologen Alan Feduccia und Confuciusornis jianchangensis. Gattungen der Familie Confuciusornithidae Zur Familie Confuciusornithidae zählt neben Confuciusornis die Gattung Changchengornis, die sich von der ersteren unter anderem durch einen kürzeren Schnabel, das Fehlen eines Oberarmfensters, die Form einiger Schultergürtel-Elemente und die Länge der rückwärtsgerichteten ersten Zehe (Hallux) unterscheidet. Der längere Hallux ist ein Hinweis dafür, dass Changchengornis Äste besser umgreifen konnte als Confuciusornis. Gemeinsame Merkmale aller Mitglieder der Familie Confuciusornithidae sind das Fehlen von Zähnen, die nahezu viereckige Ausprägung des Deltopectoralkamms am Oberarm, der V-förmige hintere Rand des Brustbeins und die Größenverhältnisse der Handkrallen. Die im Jahr 2001 als Jinzhouornis beschriebenen Vogelfossilien stammen ebenfalls aus den Gesteinen der Jehol-Gruppe und sind der Familie Confuciusornithidae zuzurechnen. Bisher liegt noch keine detaillierte Beschreibung dieser Gattung in englischer Sprache vor. Verwandtschaftsverhältnisse mesozoischer Vögel (Kladogramm in Anlehnung an Zhou 2004.) Die Mitglieder der Familie Confuciusornithidae gehören innerhalb der Gruppe Pygostylia zu den urtümlichsten Formen. Bei den Ornithothoraces, den höher entwickelten Vertretern dieser Gruppe, ist die Zahl der Rückenwirbel (Thoracalia) reduziert und der erste Finger bildet einen Daumenfittich (Alula) aus (siehe auch Punkt 2). Alle Vertreter moderner Vogelordnungen sind Nachkommen dieser Gruppe. Flugfähigkeit und Lebensweise Die Flugfähigkeit von Confuciusornis wird von den verschiedenen paläornithologischen Arbeitsgruppen unterschiedlich eingeschätzt. Confuciusornis besaß große gebogene Krallen an Händen und Füßen. Auf dieser Beobachtung beruht die Idee, dass der Flugapparat von Confuciusornis für das Abheben vom Boden nicht leistungsfähig genug war. Anstatt dessen kletterte Confuciusornis mit Hilfe seiner Krallen auf Bäume, um aus dem freien Fall den Schlagflug zu beginnen. Dieser Ansicht widerspricht, dass der Hinterfuß unspezialisiert und im Vergleich zu rezenten auf Bäumen lebenden Vögeln schlecht an das Umgreifen von Ästen angepasst war. Außerdem dürften die langen Schwungfedern beim Klettern hinderlich gewesen sein. Gegner der Theorie vom kletternden Confuciusornis halten die verschiedenen Anpassungen des Skeletts an den Vogelflug für ausreichend, um beispielsweise aus dem Lauf vom Boden zu starten. Laut Peters und Qiang sei die Idee, Confuciusornis sei nur eingeschränkt flugfähig gewesen, angesichts der großen Flügel abwegig. Letztere sprechen auch dafür, dass die Vertreter der Gattung gute Segelflieger waren. Die Arbeitsgruppe um Lianhai Hou hält für wahrscheinlich, dass Confuciusornis ein Pflanzenfresser war. Dalsätt und andere hingegen beschrieben ein 2006 Confuciusornis-sanctus-Exemplar aus der Jiufotang-Formation, das einen direkten Beleg für die Art der Ernährung lieferte: Mehrere Wirbel und Rippen des Teleostiers Jinanichthys im unteren Hals- und vorderen Brustbereich des Vogelskeletts zeigen an, dass Confuciusornis unter anderem Fische fraß. Die Fischknochen waren vermutlich Teil eines Speiballens, den der Vogel kurz vor seinem Tod hochwürgte. Dalsätt und andere interpretieren die Schnabelmorphologie von Confuciusornis als die eines Allesfressers ähnlich den rezenten Krähen – Fische waren ihrer Ansicht nach neben Samen und/oder anderen Pflanzenteilen ein üblicher Teil der Nahrung. Massenvorkommen von Confuciusornis-Skeletten in den Seeablagerungen der Fundstätte Sihetun weisen darauf hin, dass die Vögel möglicherweise in Schwärmen die Ufer von Seen aufsuchten. Wenn in manchen der Schichten mehr als 40 Exemplare je 100 Quadratmeter vorkommen, könnte die Ursache dafür der gemeinsame Tod infolge einer Naturkatastrophe gewesen sein: Bei einem der häufigen vulkanischen Aschefälle starben die Individuen zu gleicher Zeit und ihre Kadaver wurden vom Seeufer aus in den See eingeschwemmt. Aus dieser Theorie folgt, dass Individuen der Gattung Confuciusornis ähnlich wie Vertreter vieler rezenter Vogelarten in Gruppen zusammenlebten oder zeitweilig zusammentrafen. Sexualdimorphismus und Paarungsverhalten Die Exemplare von Confuciusornis unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Befiederung: Etwa fünf bis zehn Prozent der Individuen weisen Abdrücke eines Paares verlängerter Schwanzfedern auf. Eine Erklärung für diesen Unterschied könnte laut Ansicht verschiedener Bearbeiter die Geschlechter-Zugehörigkeit sein. Falls diese Theorie stimmt, läge das früheste Indiz für Sexualdimorphismus bei Vögeln vor. Die verhaltensbiologischen Konsequenzen eines derartigen Geschlechterunterschieds wären vielfältig: Es könnte eine Form von Partnerwahl gegeben haben, bei der Individuen des einen Geschlechts vor Individuen des anderen ihr Gefieder zur Schau stellten. Falls die männlichen Tiere diejenigen mit den langen Schwanzfedern waren, weist das ungleiche Verhältnis der Individuenzahlen darauf hin, dass eine Form von Polygynie („Vielweiberei“) bestand. Die aufwändige Wahl des Geschlechtspartners durch das Weibchen ist unter anderem dann zweckmäßig und ökonomisch, wenn sich das Männchen an der Brutpflege beteiligt, zum Beispiel die Gelege der von ihm begatteten Weibchen beschützt. Der Unterschied in der Befiederung macht deutlich, dass es bereits bei den Vögeln der unteren Kreidezeit ein komplexes Sozialverhalten gegeben haben dürfte. Wachstum und Entwicklung Die Evolution der Wachstumsmuster bei Vögeln wurde anhand der Gliedmaßenknochen von Confuciusornis sanctus und anderer früher Vögel untersucht. Durch das stetige Wachstum eines Knochens von innen nach außen (Akkretion) lassen sich auf ähnliche Weise wie bei Baumringen (siehe Dendrochronologie) Veränderungen im Wachstum während der Entwicklung eines Individuums nachvollziehen. Die Unterscheidung von Wachstumsphasen erfolgt bei der Analyse eines Knochenquerschnitts unter dem Mikroskop. Die Knochenrinde (Kortikalis) von Confuciusornis besteht aus schnell wachsendem, gut durchblutetem inneren Rindengewebe, das dem Fibrolamellargewebe heutiger Vögel gleicht, und einem langsam wachsenden äußeren Rindengewebe. Letzteres war intern stärker zoniert sowie von weniger Blutgefäßen durchsetzt, es repräsentiert das spätere Wachstum des Vogels. De Ricqlès und andere zeigen 2003 anhand knochenhistologischer Untersuchungen, dass Confuciusornis in 20 oder etwas weniger Wochen ausgewachsen war. Diese Zeitspanne ist lang verglichen mit den meisten rezenten Vogelarten, aber etwas kürzer als bei den oft größeren Coelurosauriern. Offenbar erreichten frühe Vögel eine Verringerung der Erwachsenenkörpergröße (Verzwergung), in dem sie gegenüber ihren Dinosaurier-Vorfahren besonders die frühe Phase schnellen Wachstums, die durch das innere Rindengewebe repräsentiert wird, verkürzten. Der Nachweis von Fibrolamellargewebe bei Confuciusornis belegt dennoch, dass, anders als zuvor angenommen, bereits urtümliche Vögel (gleich ihren Vorfahren und Nachfahren) Phasen schnellen Wachstums zeigten; sie also bereits einen hinreichend hohen Metabolismus besaßen, um hohe Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Das langsam wachsende Knochengewebe der Enantiornithiformes, das zunächst als beispielhaft für urtümliche Vögel galt, repräsentiert offenbar eine nachträgliche nochmalige Wachstumsverlangsamung, die bei den ersten Vögeln und bei Confuciusornis derart noch nicht vorlag. Sehr hohe Wachstumsraten, wie sie moderne Vögel zeigen, bildeten sich dann sekundär im Verlauf der Kreidezeit heraus. Als mögliche Ursache für langsame Wachstumsraten bei frühen Vögeln wird auch eine besondere Entwicklungsstrategie diskutiert: Fossile Embryonen des Kreidevogels Gobipteryx zeigen ein gut ausgebildetes verknöchertes Flügelskelett, das die Schlussfolgerung zulässt, Vertreter dieser Gattung und vielleicht urtümliche Vögel im Allgemeinen seien extrem frühreife Nestflüchter gewesen, die bereits kurz nach dem Schlüpfen fliegen konnten. Gemäß dieser Theorie würde ein Großteil der Energie des Jungvogels für das Fliegen aufgewandt und stünde daher nicht für das Größenwachstum zur Verfügung. Dieser Zustand würde erst bei Vogelarten überwunden, die eine intensive Brut- und Nachwuchspflege betrieben. Dadurch müssten die Jungvögel nicht direkt nach der Geburt flügge und ohne Hilfe der Eltern überlebensfähig sein, sondern könnten einen Großteil der durch Nahrung aufgenommenen Energie in das Wachstum investieren. Die Bedeutung von Confuciusornis als Element der Jehol-Avifaunen In der folgenden stratigraphischen Tabelle sind vom Älteren (unten) zum Jüngeren (oben) die Fundschichten der Jehol-Gruppe sowie die jeweils beschriebenen Vogelarten aufgelistet. Im Gegensatz zu den anderen Vogelgattungen kam Confuciusornis über mehr als 15 Millionen Jahre, also nahezu während des gesamten Bildungszeitraums, in den Sedimenten der Jehol-Gruppe vor. Diese Beobachtung zeigt, dass sich Confuciusornis trotz seiner vergleichsweise schlecht entwickelten Flugeigenschaften gegen konkurrierende Vögel mit fortschrittlicheren Bauplänen durchsetzen konnte. In der Abfolge besteht dennoch ein Trend hin zu höher entwickelten Vögeln. Spätestens während der Bildung der Jiufotang-Formation dominierten die Enantiornithes, eine Gruppe, die bis zu ihrem Aussterben am Ende der Kreidezeit in vielen Ökosystemen vorherrschte. Interessanterweise erscheint die Vogelart Jeholornis prima, die dem Urvogel Archaeopteryx noch ähnlicher war als Confuciusornis, erst zum Ende des Bildungszeitraums der Jehol-Gruppe. Siehe auch: Paläornithologie Literatur Allgemeines, Geschichte Ursula B. Göhlich, Gerald Mayr: Zu Besuch bei Confuciusornis & Co. in Nordost-China. In: Natur und Museum. 131, Nr. 11, 2001, S. 401–409. Erik Stokstad: Exquisite Chinese Fossils Add New Pages to Book of Life. In: Science. 291, Nr. 5502, 2001, S. 232–236, . Carl C. Swisher III, Yuan-Qing Wang, Xiao-Lin Wang, Xing Xu, Yuan Wang: Cretaceous age for feathered dinosaurs of Liaoning, China. In: Nature. 400, Nr. 6739, 1999, S. 58–61, . Zhong-He Zhou, Lianhai Hou: The Discovery and Study of Mesozoic Fossil Birds in China. In: Luis M. Chiappe, Lawrence M. Witmer (Hrsg.): Mesozoic Birds. Above the Heads of the Dinosaurs. University of California Press, Berkeley 2002, ISBN 0-520-20094-2, S. 160–182. Anatomie, Systematik, Phylogenese Luis M. Chiappe, Shu'an Ji, Qiang Ji, Mark A. Norell: Anatomy and Systematics of the Confuciusornithidae (Theropoda: Aves) from the Late Mesozoic of Northeastern China. (PDF; 9,7 MB) In: Bulletin of the American Museum of Natural History. Nr. 242, 1999, S. 98. Dieter Stefan Peters: Ein nahezu vollständiges Skelett eines urtümlichen Vogels aus China. In: Natur und Museum. 126, Nr. 9, 1996, S. 198–302. Dieter Stefan Peters, Ji Qiang: The diapsid temporal construction of the Chinese fossil bird Confuciusornis. In: Senckenbergiana lethaea. 78, Nr. 1–2, 1998, S. 153–155, . Andrea Goernemann: Osteologie eines Exemplars von Confuciusornis aus der unteren Kreide von West-Liaoning, China. In: Archaeopteryx. 17, 1999, S. 41–54. Andrzej Elzanowski, Albrecht Manegold, Dieter Stefan Peters: Redescription of a skull of Confuciusornis sanctus. In: Archaeopteryx. 23, 2005, S. 51–55. Lianhai Hou, Zhong-He Zhou, Larry D. Martin, Alan Feduccia: A beaked bird from the Jurassic of China. 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David Ligon: The Evolution of Avian Breeding Systems. Oxford University Press, Oxford 1999, ISBN 0-19-854913-X. Dieter Stefan Peters, Qiang Ji: Mußte Confuciusornis klettern? In: Journal für Ornithologie. 140, Nr. 1, 1999, S. 41–50. David J. Varricchio, Frankie D. Jackson: Origins of avian reproduction: answers and questions from dinosaurs. In: Palaeovertebrata. 32, Nr. 2–4, 2003, S. 149–169. Wachstum, Individualentwicklung Anusuya Chinsamy, Andrzey Elzanowski: Evolution of growth patterns in birds. In: Nature. 412, Nr. 6845, 2001, S. 402–403 . Kevin Padian, Armand J. de Ricqlès, John R. Horner: Dinosaurian growth rates and bird origins. In: Nature. 412, 2001, S. 405–408, . A. J. de Ricqlès, K. Padian, J. R. Horner, E.-T. Lamm, N. Myhrvold: Osteohistology of Confuciusornis sanctus (Theropoda: Aves). In: Journal of Vertebrate Paleontology 23, Nr. 2, S. 373–386. Biostratigraphie der Jehol-Gruppe Xiao-lin Wang u. a.: Vertebrate Biostratigraphy of the Lower Cretaceous Yixian Formation in Lingyuan, Western Liaoning and its neighboring southern Nei Mongol (Inner Mongolia), China. In: Vertebrata PalAsiatica. 38, Nr. 2, 2000, S. 81–99. Zhonghe Zhou, Paul M. Barett, Jason Hilton: An exceptionally preserved Lower Cretaceous ecosystem. In: Nature. 421, Nr. 6925, 2003, S. 807–814, . Einzelnachweise Weblinks Experte bildet älteste Blumen und Vögel nach Staatlicher Geopark für paläontologische Fossilien in Chaoyang in der Provinz Liaoning Fossiler Vogel †Confuciusornis Aves
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bombenangriff%20auf%20Braunschweig%20am%2015.%20Oktober%201944
Bombenangriff auf Braunschweig am 15. Oktober 1944
Der Bombenangriff auf Braunschweig am 15. Oktober 1944 durch die 5. Bombergruppe der Royal Air Force (RAF) markiert den Höhepunkt der Zerstörung der Stadt Braunschweig im Zweiten Weltkrieg. Der Luftangriff erzeugte einen Feuersturm, der zweieinhalb Tage lang wütete, über 90 % der mittelalterlich geprägten Innenstadt zerstörte und das Erscheinungsbild der Stadt bis in die Gegenwart hinein nachhaltig verändert hat. Das Flächenbombardement ziviler Ziele (Innenstadt, Wohngebiete und andere) durch die RAF erfolgte aufgrund der vom britischen Luftfahrtministerium (Air Ministry) am 14. Februar 1942 erteilten „Area Bombing Directive“. Angriffsziel Braunschweig Der erste Luftangriff auf Braunschweig erfolgte am 17. August 1940 durch die Royal Air Force; dabei wurden sieben Personen getötet. Von diesem Tage an wurden die Luftangriffe zahlreicher, präziser und verheerender in ihrer Wirkung. Seit dem 27. Januar 1943 griffen die Bomber der United States Army Air Forces (USAAF) deutsche Städte auch bei Tage an. Ab Februar 1944 („Big Week“) war Braunschweig planmäßig Ziel amerikanischer und britischer Bomberstaffeln, wobei die RAF die Nachtangriffe und die USAAF die Tagesangriffe flog. Diese Aufteilung entsprach der bei der Konferenz von Casablanca 1943 festgelegten „kombinierte Bomberoffensive“ (Combined Bomber Offensive; CBO), einem gemeinsamen Vorgehen der Bomberkräfte Großbritanniens und der USA. Forschungs- und Rüstungsstandorte in und um Braunschweig In den 1930er Jahren wurde Braunschweig kontinuierlich zu einem Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie ausgebaut. Die Großbetriebe, die zum Teil mitten in der Stadt angesiedelt waren, zogen Tausende von Arbeitern an, für die neue Wohngebiete geschaffen werden mussten, so z. B. die ab Mitte 1933 als „Dietrich-Klagges-Stadt“ erbaute Gartenstadt und die NS-Muster-Siedlungen Lehndorf, Mascherode-Südstadt und Schuntersiedlung. Insgesamt war Braunschweig – zu Beginn des 20. Jahrhunderts hauptsächlich eine Arbeiter- und Industriestadt – während des Zweiten Weltkrieges ca. 42 Luftangriffen britischer und amerikanischer Bomberverbände ausgesetzt. Die Angriffe galten vorwiegend den Rüstungsbetrieben in und um Braunschweig, in denen insbesondere Kampfflugzeuge, Panzer, Lastkraftwagen sowie optische und feinmechanische Präzisionsinstrumente hergestellt wurden, dem Hafen am Mittellandkanal, den Konservenfabriken, den Bahnhöfen und dem Reichsbahnausbesserungswerk. Weitere Ziele waren die in der Stadt zwischen 1936 und 1939 gegründeten vier Institute der Technischen Hochschule Braunschweig: Die Institute für Flugzeugbau, Triebwerkslehre, Aerodynamik sowie für Luftfahrtmesstechnik und Flugmeteorologie. Aus ihnen war das neue Luftfahrt-Lehrzentrum am Flughafen Waggum entstanden. In südlicher Richtung befand sich seit 1936 bei Völkenrode die Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring (LFA). Ebenfalls kriegswichtig war das Institut für baulichen Luftschutz. Rüstungsbetriebe in und um Braunschweig (Auswahl) Braunschweigs bedeutendste Rüstungsbetriebe waren neben solchen der Flugzeugindustrie wie z. B. der Flugzeugwerke Braunschweig GmbH die Luther-Werke, die u. a. Jagdflugzeuge vom Typ Bf 110 produzierten, die Niedersächsischen Motorenwerke (NIEMO) und das Vorwerk Braunschweig des Volkswagenwerkes, das Kampfflugzeuge vom Typ Ju 88 herstellte. Daneben gab es kleinere Unternehmen, die hauptsächlich Reparatur- und Zulieferaufgaben wahrnahmen wie Grotrian-Steinweg für Flugzeuge oder die MIAG, die Panzer und Sturmgeschütze III fertigte. Büssing war ein für die Produktion von Lastkraftwagen kriegswichtiges Unternehmen, während die Schuberth-Werke vorrangig Stahlhelme herstellten. Betriebe aus dem Bereich Maschinen- und Anlagenbau waren die Braunschweigische Maschinenbauanstalt (BMA), Karges & Hammer, Wilke-Werke, Wullbrandt & Seele, Lanico, Selwig & Lange sowie die zu Siemens & Halske gehörende Eisenbahnsignal-Bauanstalt Max Jüdel & Co. Für feinmechanische und präzisionsoptische Instrumente wie Zielvorrichtungen (Reflexvisiere) oder (Luftbild-)Kameras waren die Unternehmen Franke & Heidecke und Voigtländer bekannt. Darüber hinaus gab es eine Vielzahl unterschiedlich großer Firmen, die in vielen kriegswirtschaftlich wichtigen Bereichen tätig waren, wie beispielsweise der Konservendosenhersteller Schmalbach. In unmittelbarer Nähe Braunschweigs befanden sich zudem ca. 15 km südlich in Salzgitter die Reichswerke Hermann Göring und ca. 25 km nordöstlich bei Fallersleben das Volkswagen-Werk. Die Stadt entwickelte sich in den 1930er Jahren allmählich zur „Stadt der Flieger“. Das Luftflottenkommando 2 hatte seinen Standort am Nußberg, gleich neben dem neu gebauten „Fliegerviertel“ (Wohnhäuser für Angehörige der Luftwaffe). Dazu kamen das „Luftwaffenlazarett“ an der Salzdahlumer Straße (später Städtisches Klinikum) sowie zahlreiche Kasernen. In Waggum, Broitzem und Völkenrode wurden Flugplätze errichtet bzw. ausgebaut. Sie wurden im Laufe des Krieges nach und nach, wie auch die gesamte Stadt, in die systematische Zerstörung mit einbezogen. Luftverteidigung in und um Braunschweig Flugabwehrstellungen Wegen seiner Bedeutung als Industrie- und Forschungsstandort war Braunschweig ab etwa Herbst 1943 von einem dicht geschlossenen, starken und tief gestaffelten Gürtel von Flak-Batterien umgeben, was die Stadt für die angreifenden Bomberverbände zu einem gefürchteten Ziel machte, da jedes Mal mit hohen Verlusten zu rechnen war. Das Gebiet Braunschweig und Umgebung gehörte zum Luftgaukommando XI (Hamburg), 8. Flakbrigade, Flakregiment 65. Die Flugabwehr Braunschweigs verfügte über ca. 100 Geschütze des Kalibers 8,8 cm oder größer, welche in Batterien, Doppelbatterien oder Großbatterien gegliedert waren. Eine „Batterie“ umfasste in der Regel sechs Geschütze (meist 8,8-cm-Flak, aber auch 10,5 cm), eine „Doppelbatterie“ hatte folglich zwölf Kanonen, eine Großbatterie war ein Zusammenschluss aus zehn Einzelbatterien. Dazu kamen noch ungezählte leichte Flakeinheiten für die Tieffliegerabwehr und den direkten Objektschutz. In der Stadt selbst sowie in ihrer unmittelbaren Umgebung befanden sich folgende Luftabwehrstellungen: Einzelbatterien Abtstraße, Eintracht-Stadion, Lamme, Ölper und Mascherode, Doppelbatterien in Bevenrode, Broitzem, Lünischteich (nahe Kloster Riddagshausen), Ölper und Melverode (plus Schwere Heimatflak), Querum (teilweise mit Eisenbahnflak), Wenden sowie die Großbatterie Wenden. Dazu kamen die Eisenbahnflak Abtstraße, am Bahnhof Groß Gleidingen und in Lehndorf. Fliegerhorste und Luftwaffeneinheiten In Waggum, Broitzem und Völkenrode waren teilweise seit 1916 Flugplätze vorhanden. Diese wurden in den 1930er Jahren von der Luftwaffe übernommen und kriegsmäßig ausgebaut. Folgende Einheiten waren zumindest zeitweise auf ihnen stationiert: I. Gruppe Jagdgeschwader 11 III. Gruppe Jagdgeschwader 302 „Wilde Sau“ 3. Staffel Nachtjagdgeschwader 5 I. Gruppe Zerstörergeschwader 26 „Horst Wessel“ Vorbereitung des Luftangriffs vom 15. Oktober 1944 Zweck des Angriffs Am 13. Oktober 1944 erhielt die Royal Air Force die Anweisung zur Durchführung der „Operation Hurricane“. Zweck dieser Operation war einerseits die Demonstration der Zerstörungskraft der alliierten Bomberstreitkräfte gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung, andererseits aber auch von deren Luftüberlegenheit. Die Anweisung enthielt folgende Passage: Operation Hurricane sah als Hauptziel Duisburg für die ca. 1000 schweren Bomber der RAF vor und Köln für die ca. 1200 Bomber der USAAF. Weitere 233 Bomber der RAF waren für die damals ca. 150.000 Einwohner zählende Stadt Braunschweig bestimmt. Bereits im März 1944 verfügte der Oberbefehlshaber des britischen Bomber Command, Air Chief Marshal Arthur Harris („Bomber-Harris“), über eine Liste mit den sechs wichtigsten Bomberzielen in der Endphase des Krieges. An erster Stelle: Schweinfurt, gefolgt von Leipzig und an dritter Stelle Braunschweig, dann Regensburg, Gotha und schließlich Augsburg. In Schweinfurt war die deutsche Wälzlager-Industrie (FAG Kugelfischer, VKF/Vereinigte Kugellagerfabriken: Fichtel & Sachs/SKF) konzentriert; die anderen Städte hatten bedeutende Flugzeugwerke (Erla, Luther-Werke, Messerschmitt, Gothaer Waggonfabrik). In Augsburg war neben der Messerschmitt AG auch die MAN (U-Boot-Dieselmotoren) Angriffsziel. Aufgrund der hohen Priorität Braunschweigs beschlossen Harris und der Kommandeur der 8. US-Luftflotte („Mighty Eighth“), Generalmajor James Doolittle, am 28. März 1944 einen Angriff am 29., der aber nicht den gewünschten Erfolg brachte, weil der zweite Teil der Operation Double Blow wegen schlechten Wetters abgesagt werden musste. Die geplante Zerstörung der Stadt musste also verschoben werden. Die Planung des Oktober-Angriffs auf Braunschweig war seit dem 15. August 1944 abgeschlossen. Nachdem Darmstadt am 11. September 1944 als eine der ersten deutschen Städte „erfolgreich“ mit einer neuen Angriffstaktik (spezielle Markierungstechnik, fächerförmiger Anflug und zeitliche Staffelung der Spreng- und Brandbomben) zerstört worden war (ca. 11.500 Tote), war die Reihe am 15. Oktober 1944 nunmehr an Braunschweig. Braunschweig sollte nicht nur als wichtiger Standort der Rüstungsindustrie, sondern vor allem auch als ziviler Wohnort großflächig zerstört und damit dauerhaft unbewohnbar und unnutzbar gemacht werden. Das Ziel, nämlich die größtmögliche Zerstörung, sollte durch detaillierte Angriffsplanung und -ausführung sowie durch die Eigenschaften der eingesetzten (Kampf-)Mittel erreicht werden (s. u. „Einsatzbefehl“ und „Kriegstagebuch“). Das Mittel zur Zielerreichung war der Feuersturm, dessen Entstehung kein Produkt des Zufalls war, sondern wissenschaftlich fundiert in akribischer Kleinarbeit erarbeitet worden war. Am 13. Oktober teilte der Chefmeteorologe in High Wycombe, dem Hauptquartier des Bomber Command, der RAF die Wettervorhersage für das Wochenende 14./15. Oktober mit: geringe Bewölkung, die ganze Nacht gute Sicht, mäßige Winde. Daraufhin erteilte Harris den Befehl zum Angriff am 14. Oktober (u. a. auf Braunschweig mit dem Zielcode „SKATE“ – dt.: „Rochen“) Die Decknamen der Ziele gingen auf den Stellvertreter von Harris zurück: Der begeisterte Angler Air Vice-Marshal Robert Saundby versah alle in Auswahl kommenden deutschen Städte mit einem Fish code. RAF No. 5 Bomber Group Die No. 5 Bomber Group (Motto: „undaunted“, dt. furchtlos) wurde 1937 gegründet und während des Krieges fortlaufend aufgerüstet und modernisiert. Air Vice Marshal Arthur Harris war von 1939 bis 1940 selbst Kommandeur der Gruppe, bevor er Oberbefehlshaber des Bomber Command wurde. 1943 wurde das Hauptquartier der gegen Kriegsende 15 Staffeln umfassenden Gruppe nach Morton Hall, Swinderby, verlegt. Die Gruppe wurde zum Zeitpunkt des Angriffs auf Braunschweig von Air Vice Marshal Ralph Cochrane kommandiert. No. 5 Bomber Group wurde für verschiedene Spezialeinsätze herangezogen, wie zum Beispiel der Bombardierung von Talsperren („Dam-Buster-Raid“) und der großflächigen Zerstörung von Städten wie z. B. Köln, Dresden oder Würzburg. Einige der wichtigsten Einsätze von No. 5 Bomber Group: erster „Tausend-Bomber-Angriff“ auf Köln am 30. Mai 1942 im Rahmen der „Operation Millennium“ Dam-Buster-Angriff auf die Talsperren der Möhne und der Eder in der Nacht zum 17. Mai 1943 (alleinige Ausführung) Luftangriff auf Heilbronn am 4. Dezember 1944 (alleinige Ausführung) Luftangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 (alleinige Ausführung des ersten Angriffs) Luftangriff auf Würzburg am 16. März 1945 (alleinige Ausführung) RAF Bomber Command hatte im Laufe des Jahres 1944 bereits viermal vergeblich versucht, Braunschweig dauerhaft zu zerstören, war bisher aber aus unterschiedlichen Gründen (hauptsächlich schlechtes Wetter, zu starke Abwehr etc.) gescheitert. Am Sonnabend, dem 14. Oktober 1944, wurden im Hauptquartier der No. 5 Bomber Group in Morton Hall die Vorbereitungen für den Angriff abgeschlossen, um 13:10 Uhr Ortszeit erging der Einsatzbefehl an alle beteiligten Staffeln, um 15:30 Uhr gefolgt vom Briefing der Besatzungen. Einsatzbefehl vom 14. Oktober 1944 Auszugsweise Übersetzung des handschriftlich geringfügig geänderten Einsatzbefehls: Einsatz: Mindestens 220 Flugzeuge der No. 5 Group werden das Ziel angreifen. Außerdem 1.000 Flugzeuge der No. 1, 3, 4 und 6 Groups COD [= Codebezeichnung Duisburg] um 01:29 und um 03:25 Uhr. Einsatzziel: Zerstörung eines feindlichen Industriezentrums vollenden. Einsatztag: Nacht 14./15. Oktober 1944 Einsatzkräfte: 53. Basis – mehr als 80 Flugzeuge, 55. Basis – mehr als 100 Flugzeuge, 49. Staffel – mehr als 18 Flugzeuge, 54. Basis – 13 Flugzeuge (106. Staffel) zusätzlich Beleuchter- und Markierer-Einheiten. Ziel: SKATE [= Codebezeichnung für Braunschweig]. Angriffszeit: Voraussichtliche Angriffszeit 02:30 Uhr. Zeit über Ziel Angriffszeit +6 Minuten. Flugzeuge haben sich während der Zeit über Ziel gleichmäßig zu verteilen. Flugzeuge mit längeren Verzögerungen haben in der ersten Welle anzugreifen. Bombenladung und Zünder: 51 Flugzeuge: 1× 2000 HC (= Luftmine) plus Maximum „J“-Cluster (= Flammstrahlbombe) Restliche: 1× 1000 MC/GP (= Sprengbombe mit Aufschlagzünder). Plus Maximum Brandbomben vorzugsweise in Streubehältern, sonst in Schüttkästen. Filmaufnahmen: Alle Flugzeuge sind mit nachttauglichen Kameras und Blitzlichtern auszurüsten, die bei 60 % der Flughöhe zünden müssen. Alle Staffeln mit Ausnahme der 106. haben für Details 50 % der Flugzeuge mit anderem Filmmaterial auszurüsten. Die 106. führt zu 100 % andere Filme mit. Angriff: Das Ziel ist in Abschnitten strahlenförmig vom Markierungspunkt ausgehend mit verzögerter Bombenauslösung anzugreifen. Zielmarkierung: Angriffszeit −10 [Minuten]: Blindmarkierung. Grüne Zielmarkierungen werden in die Mitte des Hauptzieles (= Frankfurter Straße, Ecke Luisenstraße) geworfen. Sie werden um Angriffszeit −5 erneuert. Rote Markierungsbomben werden um Angriffszeit −9, −7 und −5 über dem Ziel abgeworfen. Bombardierungsanweisungen: Besatzungen haben bei roten Zielmarkierungen so zu zielen, dass die mittlere Bombe ihrer Bombenreihe das Zentrum des Ziels trifft. Verlauf des Luftangriffs Anflug des Zieles No. 5 Bomber Group der RAF startete planmäßig gegen 23 Uhr Ortszeit am Abend des 14. Oktober, um das Ziel „SKATE“ anzufliegen. Gleichzeitig starteten weitere 1000 RAF-Bomber anderer Groups, um Duisburg zu bombardieren. Der für Braunschweig bestimmte Verband nahm einen ihn weit südlich des späteren Zieles führenden Kurs, um den Flaksperrgürtel des stark gesicherten Ruhrgebiets zu umgehen. Bei Paderborn drehte er nach Norden, überquerte Hannover, um schließlich Braunschweig anzufliegen. Er bestand aus 233 schweren, viermotorigen Bombern vom Typ Avro Lancaster I und III (jeder mit einer Bombenlast von ca. sechs Tonnen); begleitet wurden die Lancasters von sieben De Havilland Mosquitos. Um 01:20 Uhr hörte man in Braunschweig über Radio die Durchsage, dass sich „starke feindliche Bomberverbände im Anflug auf Hannover“ befänden, das nur knapp 60 km westlich von Braunschweig liegt. In Braunschweig selbst wurde zunächst Kassel als eigentliches Angriffsziel vermutet, trotzdem wurde wegen der Nähe zu Hannover vorsorglich „Voralarm“ ausgelöst. 25 Minuten später lautete die Durchsage: „Die Spitze des gemeldeten feindlichen Bomberverbandes hat das Stadtgebiet von Hannover überflogen und befindet sich nun im Anflug auf Braunschweig.“ Daraufhin wurde in der Stadt „Vollalarm“ ausgelöst. Nur kurz danach wurde das Stadtzentrum bereits von den „Markierern“ überflogen und schon wenige Minuten später fielen die ersten Bomben. Ausschaltung der deutschen Flugabwehr durch Täuschung Zu etwa gleicher Zeit flogen 141 Trainingsflugzeuge einen Scheinangriff auf Helgoland, 20 Mosquitos steuerten Hamburg an, acht Mannheim, 16 Berlin und zwei Düsseldorf. Darüber hinaus wurden 140 weitere Maschinen für andere Ablenkungsmanöver eingesetzt. Zusätzlich wurden gegen 01:40 Uhr Stanniolstreifen (Codename „Window“) in großen Mengen abgeworfen, um die Radaranlagen des deutschen Luftverteidigungssystems zu stören. Die Kombination von Scheinangriffen auf weit auseinanderliegende Ziele in Verbindung mit Window-Abwürfen führte dazu, dass Abwehrmaßnahmen vom Boden und aus der Luft in dieser Nacht nahezu wirkungslos blieben, da die deutschen Nachtjäger z. B. über ein viel zu großes Gebiet verstreut agieren mussten, was ihre Schlagkraft erheblich reduzierte. Markierung des Zieles Die Mosquitos waren für eine von der No. 5 Bomber Group speziell entwickelte Tiefstmarkierungstechnik über dem Ziel zuständig. Die Bombergruppe hatte ihre Zielmarkierungstechnik über die Kriegsjahre hindurch permanent verbessert und nunmehr optimiert. Über Braunschweig angekommen, warfen Beleuchtermaschinen zahlreiche Leuchtmittel ab, die wegen ihres charakteristischen Aussehens von der Bevölkerung Christbäume genannt wurden. Ihre Aufgabe bestand darin, das Ziel für den nachfolgenden Bomberpulk minutenlang taghell zu erleuchten, anschließend warfen Pfadfindermaschinen verschiedenfarbige Zielmarkierungen ab. Im Südwesten der Stadt, im Bereich der Frankfurter Straße/Ecke Luisenstraße, wo sich zahlreiche Rüstungsbetriebe befanden, lag der Hauptzielpunkt. Ein zusätzlicher Zielpunkt wurde über dem Braunschweiger Dom für den Fall gesetzt, dass das Hauptziel durch Rauchentwicklung o. Ä. nicht mehr eindeutig zu erkennen sein sollte. Die Markierung über dem Dom war grün und als „Blindmarkierung“ für das Bombenradar vorgesehen. Diese „Christbäume“ setzten in 1.000 m Höhe ca. 60 Leuchtkerzen frei, die langsam zu Boden schwebten, wobei sie ca. 3–7 Minuten brannten. Dank der klaren Nacht (Bericht der Filmaufklärung: „Visibility: excellent“ – „Sicht: ausgezeichnet“), des feindfreien Anflugs und der einwandfreien Markierung des Zieles waren die Angriffsbedingungen aus britischer Sicht optimal. Der Untergang des alten Braunschweig Die letzte Entwarnung am Samstag, dem 14. Oktober, war in Braunschweig gerade erst um Mitternacht verklungen, als am 15. gegen 01:50 Uhr erneut Fliegeralarm ausgelöst wurde – der Angriff der RAF hatte begonnen. Obwohl der Luftangriff nur ca. 40 Minuten dauerte, ging Sonntag, der 15. Oktober 1944, als der Tag des Untergangs des alten Braunschweig in die Stadtgeschichte ein. No. 5 Bomber Group hatte neben der speziellen Markierungstechnik auch ein ausgeklügeltes Bombardierungsverfahren entwickelt, mit dem größtmöglicher Schaden angerichtet werden sollte – es wurde „sector bombing“ (etwa „Fächerbombardierung“) genannt. Es bestand aus dem Dom als Punktziel des Masterbombers („Leitender Bombenschütze“) in der vordersten Maschine. Die grüne Markierung auf der Dom-Insel diente der Orientierung der Bombenschützen aller folgenden Maschinen, die diese Markierung aus verschiedenen Richtungen fächerförmig überflogen, wobei sie ihre Bomben abwarfen. RAF-Filmaufnahmen des Angriffs Dieser Luftangriff auf Braunschweig wurde von einer speziell dafür ausgestatteten Lancaster gefilmt. Die Maschine flog, wie der größte Teil des Bomberpulks, in einer Höhe von 4950 m über dem Ziel und mit einer Geschwindigkeit von 260 km/h. Die Aufnahmen wurden mit drei Kameras vom Typ Bell & Howell „Eyemo“ gemacht. Als Angriffszeit wurde 02:33 Uhr (Bordzeit) notiert. Eine Kopie dieses Filmes befindet sich heute im Städtischen Museum Braunschweig. Der Film ist mit folgendem Text versehen: Der Feuersturm Binnen knapp 40 Minuten wurden ca. 847 Tonnen Bomben auf die Stadt abgeworfen, zunächst ca. 12.000 Sprengbomben (u. a. Luftminen, sogenannte „Wohnblockknacker“) in mehreren Bombenteppichen auf die Fachwerkstadt, um den beabsichtigten Feuersturm bestmöglich mit brennbarem Material zu versorgen. Die Druckwellen deckten Dächer ab und legten damit das Innere der Häuser frei, ließen Fensterscheiben bersten und Inneneinrichtungen in Stücke gehen, brachten Mauern zum Einsturz, zerrissen Strom- und Wasserleitungen und trieben Lösch- und Rettungskräfte sowie Schadensbeobachter in Keller und Bunker. Nach den Sprengbomben wurden ca. 200.000 Phosphor- und Brandbomben abgeworfen. Ihre Aufgabe war es, einen Feuersturm zu entfachen. Wie schon bei Angriffen auf andere Städte (z. B. Hamburg) war der Feuersturm nicht das Produkt des Zufalls, sondern das Ergebnis der akribischen Auswertung der Folgen früherer Angriffe. Durch die Brände aufgeheizte Luftmassen wurden durch die entstehende Thermik nach oben gerissen, kältere Luft strömte unten nach; so kam es zu orkanartigen, ständig wechselnden Winden, die die Brände noch weiter anfachten, was wiederum die Winde und den durch sie entstehenden Sog verstärkte. So wurden kleinere Möbelstücke mitgerissen und Menschen umgeworfen. Etwa dreieinhalb Stunden später, gegen 06:30 Uhr morgens, erreichte der Flächenbrand in der Innenstadt schließlich seinen Höhepunkt. 150 Hektar historischen Stadtgebietes standen in Flammen. Die höchsten Kirchtürme der Stadt, die der knapp 100 m hohen Andreaskirche, brannten weithin sichtbar und verbreiteten einen Funkenregen über das gesamte Stadtgebiet. Die gesamte Innenstadt wurde von Brandbomben getroffen. Rettungs- und Löschkräfte wurden so daran gehindert, schnell zu den Brandherden vorzudringen. Braunschweig brannte so intensiv und hell, dass der Feuerschein noch weit entfernt zu sehen war. Helfer und Feuerwehren strömten aus Entfernungen von bis zu 90 km in die brennende Stadt. Innerhalb der 24 Stunden, die die Operation Hurricane dauerte, warf die RAF ca. 10.000 Tonnen Bomben ab, die höchste innerhalb von 24 Stunden abgeworfene Bombenlast des gesamten Zweiten Weltkrieges. Rettung von 23.000 Eingeschlossenen mittels Wassergasse Die zahlreichen Brandherde in der Innenstadt wuchsen zu einem großräumigen Flächenbrand zusammen. In diesem Gebiet lagen sechs überfüllte Großbunker und zwei Luftschutzräume, in die sich etwa 23.000 Personen geflüchtet hatten. Es bestand die Gefahr, dass die Bunkerinsassen entweder durch Sauerstoffmangel erstickten, wenn sie in den Bunkern blieben, oder verbrannten, wenn sie die vom Feuersturm eingeschlossenen Schutzräume zu verlassen suchten. Unter anderem auf Initiative des Leutnants der Braunschweiger Feuerschutzpolizei, Rudolf Prescher, gelang es gegen 5:00 Uhr morgens – noch bevor der Feuersturm seine größte Intensität entwickelt hatte – eine Wassergasse zu bilden, durch die die Evakuierung der 23.000 Bunkerinsassen ermöglicht wurde. Dazu mussten sich die Feuerwehrmänner aber zunächst selbst unter Lebensgefahr an die Bunker heranarbeiten. Die Wassergasse bestand aus einer langen Schlauchleitung, die unter einem ständigen Wasserschleier zum Schutz gegen die Brandhitze zu den Eingeschlossenen vorgetrieben wurde. Die Reichweiten der einzelnen Strahlrohre überschnitten sich, sodass eine geschlossene, künstliche „Regenzone“ entstand. Am Sonntagmorgen gegen 7:00 Uhr, etwa eine Stunde nachdem der Brand seine größte Intensität erlangt hatte, erreichte die Feuerwehr den Bunker. Alle Eingeschlossenen waren noch am Leben und konnten in sichere Gebiete, wie z. B. den Museumspark, evakuiert werden. In einem Luftschutzraum in der Schöppenstedter Straße 31 kam die Hilfe für die meisten zu spät. Wegen Sauerstoffmangels waren hier 95 von 104 Personen erstickt. Statistik zum 15. Oktober 1944 Bausubstanz des Stadtzentrums Die Innenstadt bestand 1944 aus ca. 2800 Häusern, die im Laufe von Jahrhunderten und somit in unterschiedlichen Stilperioden erbaut worden waren. E. Hundertmark erstellte dazu 1941 folgende Auflistung: Zerstörte Bauwerke (Auswahl) Die eng bebaute Innenstadt war zu großen Teilen durch ihre ca. 800 Fachwerkgebäude geprägt, von denen einige bis in das Mittelalter zurückreichten. Darüber hinaus bestand die Bebauung aus Steingebäuden, die meist im 17. und 18. Jahrhundert entstanden waren. Die engen, z. T. verwinkelten Straßen und deren dichte Bebauung mit leicht entflamm- und brennbaren Fachwerkhäusern sorgte in Verbindung mit der Taktik der Briten, zuerst Spreng- und dann erst Brandbomben einzusetzen, zunächst für ein schnelles Ausbreiten der Einzelbrände und führte schließlich nach deren Ineinandergreifen zu einem Feuersturm, der in den 2½ Tagen seines Wütens fast die gesamte Innenstadt zerstörte. Neben unersetzlichen Kulturgütern und -denkmälern gingen so auch Wohnviertel und sogar ganze Straßenzüge, wie z. B. Bäckerklint, Geiershagen, Meinhardshof, Nickelnkulk, Südklint, Rehnstoben, Taschenstraße oder Wüste Worth unwiederbringlich verloren. In einem Lagebericht vom 25. Januar 1945 an Otto Georg Thierack, Reichsminister der Justiz, schrieb der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Braunschweig: Der Braunschweiger Dom, den die Nationalsozialisten zur Nationalen Weihestätte umfunktioniert hatten und der der RAF in jener Nacht als Zielpunkt für den Angriff diente, war jedoch von Bomben und Feuer verschont geblieben. Neben ganzen Straßenzügen der Innenstadt wurden auch viele stadt- und architekturgeschichtlich bedeutende Bauwerke größtenteils bzw. vollständig zerstört (Auswahl): Knapp neun Stunden nach dem Ende des Bombenangriffes überflog ein Fernaufklärer der Briten gegen 11:40 Uhr die Stadt, um die Schäden zu dokumentieren. Infolge der vielen Brände und der damit verbundenen starken Rauchentwicklung waren jedoch nur einige wenige Objekte zu erkennen. Ein Augenzeuge berichtete: „Es wurde nicht hell an diesem Tag. Ein gewaltiger Rauchpilz verdunkelte die Sonne.“ Am Abend des 17. Oktober waren die letzten Großbrandstellen gelöscht, das Löschen kleinerer Brände zog sich noch drei Tage, bis zum 20. Oktober, hin. 80.000 Einwohner, das waren 53,3 % der Gesamtbevölkerung Braunschweigs, waren durch diesen Angriff obdachlos geworden. Die Zerstörungen waren so groß, dass Bevölkerung wie Experten noch Jahre nach Kriegsende überzeugt waren, dass es sich am 15. Oktober 1944 um einen der „Tausend-Bomber-Angriffe“ wie den auf Köln am 30./31. Mai 1942, gehandelt hatte. Anders konnte man sich das Ausmaß nicht erklären. Erst nach Öffnung britischer Militärarchive stellte sich heraus, dass es „nur“ 233 Bomber gewesen waren. Die Opfer Genaue Opferzahlen des Angriffs vom 15. Oktober sind nicht bekannt. Zeitgenössische Zahlen schwanken zwischen 484 und 640 Toten. Vermisst wurden 101 Personen, die Anzahl der Verletzten belief sich auf 1258. Historiker gehen heute jedoch davon aus, dass durch diesen Angriff mehr als 1000 Personen den Tod fanden. Diese vergleichsweise geringen Verluste waren auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: Braunschweig lag auf der direkten Flugroute, in der „Einflugschneise“, nach Magdeburg und Berlin sowie in unmittelbarer Nähe der kriegswichtigen Rüstungsgroßstandorte Salzgitter (Hermann-Göring-Werke) und Fallersleben (Volkswagen-Werk). Die Braunschweiger Bevölkerung war durch die zahlreichen Alarme (2.040 Warnungen und 620 Fliegeralarme zwischen 1939 und 1945) „trainiert“, schnell in die Bunker zu gelangen. Bis Mitte 1943 war die Stadt weitgehend von größeren Bombenangriffen und entsprechenden Zerstörungen verschont geblieben. Da es bei fortschreitendem Krieg aber nur noch eine Frage der Zeit war, wann ein solcher Angriff kommen würde, erhielt Braunschweig bald die Spottbezeichnung „Wartestadt im Zittergau“ Dies war eine Verballhornung des von den Nationalsozialisten verwendeten Begriffes „Gau“ und der zahlreichen „Ehrentitel“ für deutsche Städte und ein Wortspiel mit dem zeitgenössischen Begriff „Warthegau“. Ein weiterer Grund für die vergleichsweise geringe Anzahl an Bombenopfern lag in der Anzahl moderner Luftschutzbunker im Zentrum der Stadt. Außerdem ist die Evakuierung von Bewohnern zu berücksichtigen. Die anhand der Verteilung der Lebensmittelkarten berechnete Zahl der versorgten Zivilpersonen sank von August 1943 bis August 1944 von 201.181 auf 152.686 – und lag Anfang Dezember 1944 dann bei 138.048. Die RAF hatte über Braunschweig eine Lancaster durch Flakfeuer verloren. Ein zweites Flugzeug wurde durch Beschuss so stark beschädigt, dass der Pilot die Besatzung anwies abzuspringen, was drei Besatzungsmitglieder taten. Sie gerieten in Kriegsgefangenschaft. Dem Piloten gelang es, mit seiner Maschine zum Stützpunkt zurückzukehren. Bunker in Braunschweig Braunschweig besaß im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten eine große Anzahl modernster Großbunker. Am Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz der Technischen Hochschule Braunschweig wurde die „Braunschweiger Bewehrung“ entwickelt, die wegen ihrer besonderen Widerstandsfähigkeit zu einer Art Sicherheitsstandard beim Bau von Luftschutzbunkern im gesamten Deutschen Reich wurde. Trotz der großen Anzahl waren die Bunker mit zunehmender Dauer des Krieges überfüllt. Eingesetzte braunschweigische und auswärtige Feuerwehren Nach Schätzungen wird davon ausgegangen, dass vor allem in der Bombennacht selbst sowie an den darauf folgenden sechs Tagen, bis zur Löschung der letzten Brände circa 4500 Feuerwehrmänner im Einsatz waren. Diese waren sowohl Angehörige städtischer Feuerwehren (u. a. aus Blankenburg, Celle, Gifhorn, Hannover, Helmstedt, Hildesheim, Peine, Salzgitter, Wernigerode und Wolfenbüttel), als auch von Freiwilligen Feuerwehren und Werkfeuerwehren verschiedener Betriebe aus Braunschweig und Umgebung. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass die Stadt in dieser Nacht nicht vollkommen verbrannte. Nachwirkungen Berichterstattung in der lokalen NS-Presse Noch in der Angriffsnacht nutzten die Nationalsozialisten die Gelegenheit, die Opfer für ihren „Totalen Krieg“ zu instrumentalisieren, denn bereits am nächsten Tag, am Montag, dem 16. Oktober – die Stadt brannte noch immer – erschien die „Braunschweiger Tageszeitung“, das lokale NS-Propagandaorgan, mit der Schlagzeile: „Die teuflische Fratze des Gegners“ und markigen Durchhalteparolen des Gauleiters von Süd-Hannover-Braunschweig Hartmann Lauterbacher an die Braunschweiger. Am 19. Oktober wurde die Zahl der Gefallenen des 15. Oktober mit 405 angegeben, am 20. erschien eine ganzseitige Todesanzeige mit 344 Namen. Am 22., eine Woche nach dem verheerenden Angriff, fand im „Staatsdom“, so seit 1940 die von den Nationalsozialisten benutzte Bezeichnung des Braunschweiger Domes, und auf dem Schlossplatz (damals Platz der SS) ein Gedenkakt für die Opfer statt, die anschließend überwiegend auf dem Braunschweiger Hauptfriedhof in einem extra dafür angelegten Bereich bestattet wurden. Noch in derselben Nacht traf Braunschweig bereits der nächste schwere Luftangriff, diesmal waren es Bomber der USAAF vom Typ B-17 „Flying Fortress“. Der letzte Bombenangriff auf die Stadt fand am Vormittag des 31. März 1945 durch die 392. US Bomb Group statt und galt vor allem dem Ostbahnhof, dem heutigen Braunschweiger Hauptbahnhof. Wehrmachtbericht zum 15. Oktober 1944 Der Wehrmachtbericht des OKW erwähnt den Angriff auf Braunschweig nur beiläufig: Über das Ausmaß der Zerstörungen und die Anzahl der Opfer wird nichts berichtet. Kriegstagebuch des Bomber Command: 15. Oktober 1944 Im Kriegstagebuch des RAF Bomber Command findet sich folgender Eintrag zum Angriff vom 15. Oktober 1944 auf Braunschweig: Aus dem Text geht eindeutig hervor, dass dem RAF Bomber Command schon sehr bald nach dem Luftangriff bewusst war, wie verheerend die Folgen für die Stadt Braunschweig waren. Vorbereitungen für die Zerstörung Dresdens In der Rückbetrachtung kann man den Angriff vom 15. Oktober auf Braunschweig zusammen mit dem Luftangriff auf Darmstadt vom 11. September 1944 als Vorbereitung der RAF auf die zerstörerischen Luftangriffe auf Dresden vom 13. und 14. Februar 1945 betrachten. RAF-Air Vice-Marshal Don Bennet bezeichnete die optimierte Fächerbombardierungstechnik, die bei diesem Angriff auf Braunschweig eingesetzt wurde, in der folgenden Angriffsaus- und -bewertung als entscheidende Vorstufe für die Vernichtung Dresdens. Statistik einer Zerstörung Einwohnerzahl und Todesopfer Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte Braunschweig 202.284 Einwohner; bei Kriegsende hatte sich diese Zahl um 26,03 % auf 149.641 reduziert. Durch Kriegseinwirkungen, hauptsächlich Bombenangriffe und deren Folgen, etwa die Beseitigung und Entschärfung von Blindgängern, starben nach zeitgenössischen Angaben insgesamt 2905 Personen, von denen 1286 Ausländer waren, also 44,3 %. Bei diesen Ausländern handelte es sich überwiegend um Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Im Bereich des Arbeitsamtes Braunschweig gab es Mitte 1944 circa 51.000 Ausländer, die v. a. in Rüstungsbetrieben wie Büssing, MIAG und NIMO arbeiteten. Ihnen war der Zutritt zu Bunkern und Luftschutzräumen verboten, was die hohe Zahl an Bombenopfern unter dieser Gruppe erklärt. Heutige Schätzungen gehen von einer Gesamtopferzahl von etwa 3500 Toten aus. Zerstörung von Wohnraum, Infrastruktur etc. Zwischen 1940 und 1945 war Braunschweig 42 Mal das Ziel von Luftangriffen der RAF und der USAAF. Die 42 Angriffe gliederten sich in 12 Einzelangriffe, 10 leichte, 8 mittelschwere und 10 schwere, wobei sich Tag- und Nachtangriffe die Waage hielten. Genaue(re) Zahlen liegen lediglich über zerstörte Wohnhäuser und Wohnungen vor. In seinem o. g. Lagebericht führte der Generalstaatsanwalt folgende Zahlen für den 15. Oktober 1944 an: 15.776 Wohngebäude insgesamt, davon infolge des Feuersturms bzw. durch Bombeneinwirkung in jener Nacht in Mitleidenschaft gezogen: 3600 Gebäude vollständig zerstört, 2000 schwer, 1800 mittel und 1400 leicht beschädigt. Sieben Monate später, bei Kriegsende, waren lediglich ca. 20 % vollkommen unversehrt geblieben, 25 % waren zu 100 % zerstört und etwa 55 % waren teilweise beschädigt (wobei der Grad der Zerstörung stark variierte). 1943, vor Beginn der großflächigen Bombardierung Braunschweigs, gab es in der Stadt 15.897 Häuser, davon waren Mitte 1945 nur noch 2.834 (ca. 18 %) unbeschädigt. Wohnungen gab es 59.826, davon unversehrt bei Kriegsende waren nur noch 11.153 (ca. 19 %). Der Gesamtzerstörungsgrad der Wohngebäude lag bei 35 %. Das wiederum hatte zur Folge, dass fast 80 % der Stadtbevölkerung bei Kriegsende obdachlos waren. 60 % der Kulturstätten (inkl. der Verwaltungsgebäude) waren ebenfalls zerstört sowie ca. 50 % der Industrieanlagen. Gesamtzerstörungsgrad und Trümmermenge Der Zerstörungsgrad der Braunschweiger Innenstadt (innerhalb des Okerringes) lag bei Kriegsende bei 90 %, der Gesamtzerstörungsgrad der Stadt bei 42 %. Die Gesamttrümmermenge belief sich auf 3.670.500 m³. Damit gehört Braunschweig zu den am schwersten zerstörten deutschen Städten. Nachkriegszeit Wiederaufbau Am 17. Juni 1946 begann in Braunschweig offiziell die Trümmerräumung. Sie dauerte 17 Jahre – erst 1963 erklärte die Stadt offiziell die Aufräumarbeiten für beendet. Tatsächlich jedoch wurden sie aber noch Jahrzehnte danach in kleinerem Umfang fortgesetzt. 14 Jahre nach Kriegsende, Anfang Juni 1959, wurden die letzten bekannten Blindgänger im Stadtgebiet beseitigt. Aber auch Jahrzehnte später werden noch immer Bomben jeder Art und Größe in der Stadt und ihren Randbezirken gefunden, so z. B. der Fund im Stadtzentrum auf dem Gelände des ehemaligen Schlossparks: Am 7. Juni 2005 wurde dort eine Fliegerbombe gefunden. 10.000 Menschen mussten aus der Innenstadt evakuiert werden, bevor der Blindgänger zur Entschärfung abtransportiert werden konnte. Gegen 11:30 Uhr des 20. Juli 2015 wurde bei Baggerarbeiten in unmittelbarer Nähe des Braunschweiger Hauptbahnhofs eine 500-kg-Bombe, wahrscheinlich aus dem Jahre 1944, entdeckt. Da der Bagger die Bombe unbeabsichtigt bewegt und dabei einen der Aufschlagzünder beschädigt hatte, wurde entschieden, den Blindgänger noch am selben Tag zu entschärfen. Ab 17:00 Uhr begann die Evakuierung von 11.000 Anwohnern (unter anderem auch aus dem Marienstift) im Umkreis von einem Kilometer um die Fundstelle, der Straßen- und Bahnverkehr wurde umgeleitet, der Hauptbahnhof geschlossen. Es handelte sich um die größte Evakuierungsmaßnahme in der Geschichte der Stadt Braunschweig. Die Entschärfung war kurz nach 23:00 Uhr abgeschlossen. Die jüngste Entschärfung fand in den Nachtstunden des 11./12. April 2018 statt. Am selben Tag war bei Bauarbeiten im südlichen Stadtbereich an der Kreuzung Hennebergstraße/Wolfenbütteler Straße ein Bagger auf eine US-amerikanische 250-kg-Bombe mit zwei Zündern gestoßen. Da der Bagger die Bombe touchiert hatte, musste sie umgehend vor Ort entschärft werden. Ab 21:00 Uhr am 11. April wurden in einem Umkreis von einem Kilometer 8400 Einwohner sowie 2000 Hotelgäste vorübergehend evakuiert. Obwohl sich gleichzeitig über der Stadt ein schweres Gewitter entlud, konnte die Entschärfung gegen 03:00 Uhr morgens erfolgreich abgeschlossen werden. In den 1950er und 1960er Jahren ging der Wiederaufbau der Stadt schnell voran, denn es wurde dringend Wohnraum benötigt, die Infrastruktur musste wieder hergestellt und die Wirtschaft wieder belebt werden. Da die Innenstadt größtenteils eine Trümmerwüste war, ergriffen neue Stadtplaner und Architekten ihre Chance und entwarfen und bauten die neue, moderne, und v. a. „autogerechte Stadt“, wobei sie u. a. den Maximen der sogenannten „Braunschweiger Schule“ unter den Architekten Kraemer, Oesterlen und Henn folgten. Dies wiederum führte an vielen Orten zu weiteren Zerstörungen (u. a. durch neu angelegte Straßenschneisen) bzw. Beseitigung der historisch gewachsenen Stadtlandschaft und wirkt so bis in die Gegenwart, da z. T. der frühere Stadtgrundriss ignoriert wurde, beschädigte Gebäude, statt instand gesetzt, oft vorschnell abgerissen wurden und der Verkehr – insbesondere des Kraftfahrzeugs – zum Maßstab des „neuen“ Braunschweig erhoben wurde. So entstand besonders im Stadtzentrum der Eindruck einer zweiten Zerstörung Braunschweigs. Diese nachträgliche Zerstörung historischen Bau- und Kulturgutes in Friedenszeiten, wie z. B. der Abriss zahlreicher mittelalterlicher, barocker und klassizistischer Bauwerke oder der umstrittene Abriss des beschädigten Braunschweiger Schlosses im Sommer 1960, führte, ähnlich wie beim Berliner Stadtschloss und anderen prominenten Bauwerken in anderen deutschen Städten zu einem weiteren Identitätsverlust der ortsansässigen Bevölkerung und war jahrzehntelang Anlass für sehr kontrovers geführte Diskussionen. Der (Wieder-)Aufbau beschädigter bzw. zerstörter Gebäude zieht sich noch bis in die Gegenwart, so wurde in jüngerer Vergangenheit z. B. die 1944 zerstörte Alte Waage komplett neu aufgebaut. Aktuellstes Beispiel ist die teilweise Rekonstruktion der Fassade des Braunschweiger Schlosses in den Jahren 2005–2007. Gedenken Sinn und Notwendigkeit der Zerstörung Bereits früh während des Zweiten Weltkrieges vertrat der anglikanische Bischof und Mitglied des britischen House of Lords George Bell die Auffassung, dass Bombenangriffe derartigen Ausmaßes auf deutsche Städte die ethischen Grundlagen der westlichen Zivilisation bedrohten und die Chancen einer künftigen Versöhnung zwischen den Kriegsgegnern zunichtemachten. Mehrfach äußerte er seine Bedenken in Reden im House of Lords, so z. B. 1944: Aus Nachkriegssicht und v. a. vor dem Hintergrund der britischen Area Bombing Directive stellt sich die Frage, ob das Ziel einer großflächigen, sogar endgültigen Zerstörung Braunschweigs im Oktober 1944 militärisch zum einen sinnvoll und zum anderen angesichts der Endphase des Krieges notwendig war. Diese Debatte wird in ähnlicher Form in Bezug auf die Zerstörung von Köln, Hamburg, Dresden, Magdeburg, Würzburg, Darmstadt sowie anderer, wesentlich kleinerer, Städte wie Heilbronn, Pforzheim, Nordhausen und Halberstadt geführt. Künstlerische Verarbeitung Bereits kurz nach dem Bombenangriff schuf Maler und NSDAP-Mitglied Walther Hoeck sein wohl bekanntestes Gemälde Das brennende Braunschweig. Hoeck hatte den Angriff wohl selbst miterlebt bzw. von seinem damaligen Wohnort Lehndorf, einem Stadtteil Braunschweigs, mit angesehen. Von dem Gemälde sind heute sechs nur geringfügig voneinander abweichende Fassungen bekannt. Alle sind undatiert und entstanden aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen Oktober 1944 und wahrscheinlich 1946. Das größte dieser Bilder mit den Maßen 124,5 cm × 204,4 cm befindet sich heute im Besitz der NORD/LB in Braunschweig. Das kleinste ist etwa halb so groß und in Privatbesitz. Ein Exemplar ist im Altstadtrathaus, einer Außenstelle des Städtisches Museums Braunschweig ausgestellt. Alle Gemälde zeigen aus großer Entfernung gesehen die lodernde Silhouette der Stadt, wobei auf keinem der Bilder Menschen oder Tiere zu sehen sind. Hoeck inszenierte den Feuersturm als apokalyptisches Inferno, als gewaltige Katastrophe, die in ihrer Zerstörungskraft eine eigene Ästhetik entwickelt. Im dargestellten Flammenmeer sind nur einige wenige, dafür aber charakteristische Bezugs- und Identifikationspunkte der Stadt zu erkennen, so die Türme der Andreas-, Katharinen- und Michaeliskirche sowie die des Braunschweiger Doms (s. unter „Weblinks“). Noch heute ist Das brennende Braunschweig für viele Braunschweiger der bildliche Inbegriff der Zerstörung ihrer Stadt. 1956 fertigte Karl Wollermann, ehemals einer der höchsten NS-Kulturfunktionäre und seit Ende 1951 Rektor der Braunschweiger Werkkunstschule in der Nürnberger Gobelin-Manufaktur einen 250 × 400 cm großen, farbigen Wandteppich mit dem Titel Phoenix aus der Asche, der den Untergang des brennenden Braunschweig und dessen Wiederauferstehen („Wie Phönix aus der Asche“) künstlerisch verarbeitet. Der Teppich war für den großen Ratssaal des Braunschweiger Rathauses geschaffen worden und befindet sich im Besitz der Stadt. Der 15. Oktober als Fixpunkt in der Stadtgeschichte Seither finden in Braunschweig an jedem 14./15. Oktober Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen statt. Die Ereignisse jener Tage haben auch in der lokalgeschichtlichen Literatur starken Widerhall gefunden. 1994, zum 50. Jahrestag der Bombardierung, fand neben zahlreichen anderen Gedenkveranstaltungen die Ausstellung Braunschweig im Bombenkrieg im Braunschweigischen Landesmuseum statt. Innerhalb der ersten Woche wurden nahezu 10.000 Besucher gezählt. Im selben Jahr erschienen drei umfangreiche Publikationen und Zeitzeugenberichte von R. Prescher (in Neuauflage), E. Grote und G. Starke (s. u. „Literatur“). Am 15. Oktober 2004, dem 60. Jahrestag der Zerstörung fand eine Ausstellung mit dem Titel 14. Oktober 1944 – 60 Jahre Zerstörung Braunschweigs. Braunschweiger Presse und Erinnerungskultur. Im Braunschweiger Dom wurde im Beisein des britischen Botschafters von Musikern und Sängern aus Braunschweig und aus der englischen Partnerstadt Bath das War Requiem von Benjamin Britten aufgeführt. 2019, zum 75. Jahrestag des Bombenangriffes, gibt es wieder zahlreiche Gedenk- und Informationsveranstaltungen in der Stadt. So z. B. vom 15. September bis 15. Oktober die Ausstellung 15. Oktober. Die Zerstörung der Stadt Braunschweig. Sie ist verteilt über sechs Orte der Stadt: Städtisches Museum, Jakob-Kemenate, Kemenate Hagenbrücke, Bankhaus Löbbecke, Augustinum und Andreaskirche. Ausgestellt sind Werke von Künstlern, die die Zerstörung und die Trümmerlandschaften des 15. Oktober 1944, aber auch den Wiederaufbau in Radierungen, Aquarellen, Grafiken, Ölgemälden und Zeichnungen festgehalten haben. Zu den ausgestellten Künstlern zählen: Herman Flesche, Wilhelm Frantzen, Hedwig Hornburg, Günther Kaphammel, Bruno Müller-Linow, Peter Lufft, Karl-Heinz Meyer, Ernst Straßner, Daniel Thulesius und Herbert Waltmann; aber auch anonyme Werke sind zu sehen. Die Werke stammen teilweise aus einer Privatsammlung, teilweise vom Städtischen Museum. Auf dem Braunschweiger Hauptfriedhof, wo viele Opfer beigesetzt sind, befindet sich seit November 1962 ein Mahnmal. Siehe auch Liste von Luftangriffen der Alliierten auf das Deutsche Reich (1939–1945) Literatur Zeitschriften und Dokumente Braunschweiger Zeitung (Hrsg.): Die Bomben-Nacht. Der Luftkrieg vor 60 Jahren, Spezial-Heft Nr. 10, Braunschweig 2004. Friedenszentrum Braunschweig e. V. (Hrsg.): Braunschweig im Bombenkrieg. 50 Jahre danach. Den Opfern des Krieges gewidmet. Band 1: Dokumente zur Ausstellung 30.09.–31.10.1993, Braunschweig 1994, 4., verbesserte Auflage 2004. ders.: Braunschweig im Bombenkrieg. 50 Jahre danach. Den Opfern des Krieges gewidmet. Band 2: Dokumente von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen: „Bomben auf Braunschweig“. Landesmuseum 11. September–16. Oktober 1994, Braunschweig 1994. ders.: Braunschweig im Bombenkrieg. 50 Jahre danach. Den Opfern des Krieges gewidmet. Band 3: Dokumente aus der Gedenknacht 14./15.10.1994: „Die Gerloff-Berichte“, Braunschweig 1994, 2., verbesserte Auflage Braunschweig 2006. ders.: Braunschweig im Zweiten Weltkrieg. Dokumente einer Zerstörung – Stunde Null – Neubeginn In: Arbeitsberichte aus dem Städtischen Museum Braunschweig, Nr. 65; Braunschweig 1994. Funke Medien Niedersachsen GmbH (Hrsg.): Codename SKATE. Erinnerungen an den Bombenkrieg über der Region. JHM Verlag, Braunschweig 2020. Monografien Hartwig Beseler, Niels Gutschow: Kriegsschicksale Deutscher Architektur. Verluste, Schäden, Wiederaufbau. Band I: Nord. Karl Wachholtz, Neumünster 1988, ISBN 3-926642-22-X, S. 202–231. Eckart Grote: Braunschweig im Luftkrieg. Alliierte Film-, Bild- und Einsatzberichte der US-Air Force / British Royal Air Force aus den Jahren 1944/1945 als stadtgeschichtliche Dokumente. Braunschweig 1983, ISBN 3-924342-00-8. Eckart Grote: Target Brunswick 1943–1945. Luftangriffsziel Braunschweig – Dokumente der Zerstörung. Braunschweig 1994, ISBN 3-9803243-2-X. Peter Neumann: Braunschweig als Bombenziel. Aus Aufzeichnungen der Jahre 1944 und 1945, in: Braunschweigisches Jahrbuch, Band 65, Braunschweig 1984. Rudolf Prescher: Der rote Hahn über Braunschweig. Luftschutzmaßnahmen und Luftkriegsereignisse in der Stadt Braunschweig 1927 bis 1945, Braunschweig 1955. Günter K. P. Starke: Das Inferno von Braunschweig und die Zeit danach. 4. erweiterte Auflage, Appelhans Verlag, Braunschweig 2002, ISBN 3-930292-58-0. Schilderungen von Zeitzeugen Anja Hesse, Annette Boldt-Stülzebach (Hrsg.): Die Nacht, in der die Bomben fielen. Zeitzeugen erinnern sich an den 14./15. Oktober 1944. Johann Heinrich Meyer Verlag, Braunschweig 2010, ISBN 978-3-926701-80-0. Hedda Kalshoven: Ich denk’ so viel an Euch. Ein deutsch-niederländischer Briefwechsel 1920–1949. Luchterhand Verlag, München 1995, ISBN 3-630-86849-5. Eckhard Schimpf: Nachts, als die Weihnachtsbäume kamen. Eine ganz normale Braunschweiger Kindheit im Chaos von Kriegs- und Nachkriegszeit. Braunschweiger Zeitungsverlag, Braunschweig 1997. Filmdokumentationen Braunschweig 1945 – Bombardierung, Befreiung, Leben in Trümmern. erinnert und kommentiert von Eckhard Schimpf. Braunschweiger Zeitung und Archiv Verlag, Braunschweig 2005 (39m05s) Feuersturm – Der Bombenkrieg gegen Deutschland. DVD-Edition, SPIEGEL TV history. Polar Film, Gescher 2003 (enthält Ausschnitte aus dem Originalfilm der RAF von der Bombardierung am 15. Oktober 1944) Weblinks Filmaufnahmen des alten Braunschweig vor der Zerstörung (mit Zeitzeugeninterview) Bunkeraufnahmen (mit Zeitzeugeninterview) Original-Filmaufnahmen von der Bombardierung am 15. Oktober 1944 (Luftaufnahmen) Original-Filmaufnahmen von der Bombardierung am 15. Oktober 1944 (Bodenaufnahmen) Chronologische Liste der Bombenangriffe auf Braunschweig (mit Opferzahlen) , Gemälde von Walther Hoeck (aus dem Internet Archive) Andreas Döring: 10. Februar 1941: Bomben auf Braunschweig. NDR 1 Niedersachsen; Radio-Feature Vor 70 Jahren: Bombenhagel auf Braunschweig. ndr.de, 14. Oktober 2014 Einzelnachweise Anmerkungen Braunschweig Braunschweig Braunschweig Braunschweigische Geschichte (Zeit des Nationalsozialismus) Braunschweig
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https://de.wikipedia.org/wiki/Von%20der%20Heydt-Museum
Von der Heydt-Museum
Das Von der Heydt-Museum ist ein Kunstmuseum in Wuppertal-Elberfeld, das 1902 als Städtisches Museum Elberfeld gegründet wurde. Seit 1961 trägt es den Namen von der Heydt in Erinnerung an die für die Förderung des Museums wichtige Bankiersfamilie. Die Sammlung des Museums umfasst Gemälde, Skulpturen, Grafiken und Fotografien vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Sammlungsschwerpunkte sind die französische Malerei des 19. Jahrhunderts und die Moderne Kunst. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden im Von der Heydt-Museum zahlreiche Werke als „Entartete Kunst“ beschlagnahmt und in der Folge veräußert oder vernichtet. Weitere Gemälde und Zeichnungen gingen im Zweiten Weltkrieg verloren. Nach dem Krieg konnten aber Lücken im Bestand wieder geschlossen werden. Seit Beginn der 1990er-Jahre nahm die Tätigkeit des Museums im Bereich der Sonderausstellungen zu, die zum Teil überregionales Interesse hervorriefen. Der Kunst- und Museumsverein Wuppertal betreibt auch die Von der Heydt-Kunsthalle in der Barmer Ruhmeshalle. Geschichte Vorgeschichte Das Von der Heydt-Museum hat eine tief im 19. Jahrhundert verwurzelte Tradition, die seine Gründung und sein Wachstum prägte. Als Beginn der Geschichte des Museums gilt die Gründung des Barmer Kunstvereins im Jahr 1866 in Barmen, in dem sich kunstinteressierte Industrielle organisierten. Ab 1900 hatte dieser Verein seinen Sitz in der Kaiser-Wilhelm-Ruhmeshalle, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Haus der Jugend Barmen wiederaufgebaut wurde und dessen Teil Barmer Kunsthalle noch als Von der Heydt-Kunsthalle für Nebenausstellungen des Museums genutzt wird. Der Sammlungsschwerpunkt lag auf niederländischer Malerei des Barock und der Düsseldorfer Malerschule. 1907 übernahm Richart Reiche den Vorsitz des Barmer Kunstvereins und veränderte den Tätigkeitsschwerpunkt auf die Moderne Kunst. Er organisierte 1910 eine Ausstellung mit Werken der Neuen Künstlervereinigung München, in der Folge zeigte er auch Werke von Franz Marc, Edvard Munch und Emil Nolde. Parallel dazu wurde 1892 der Elberfelder Museumsverein gegründet, der die Einrichtung eines städtischen Museums in Elberfeld zum Ziel hatte. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte der Bankier August von der Heydt, der eine der treibenden Kräfte für die Einrichtung eines Museums war. Drei Jahre nach seiner Gründung, 1895, mietete der Elberfelder Museumsverein auf Vorschlag von der Heydts im Haus Schwanenstraße 33, hinter dem ehemaligen Rathaus, eine Etage an, um dort Ausstellungen zeitgenössischer Kunst zu veranstalten. Von der Heydt übernahm zusammen mit seinem Schwager Julius Schmits die Bürgschaft für die Miete dieser Räumlichkeiten. 1896 bewilligte die Stadt Elberfeld dem Museumsverein einen Zuschuss von 3000 Mark im Jahr zur Aufrechterhaltung der Ausstellungstätigkeit und zum Kauf von Kunstwerken. Im Gegenzug sicherte sich die Stadt ein Mitspracherecht bei Neuerwerbungen. 1898 übergab die Stadt die ihr vererbte Sammlung von Carl Erbschloe, die 77 Gemälde und 230 kunstgewerbliche Objekte umfasste, an den Elberfelder Museumsverein. Weitere Schenkungen und Ankäufe erweiterten die Sammlung. Gründung des Museums und erste Jahre Die Ausstellungsräume in der Schwanenstraße reichten schnell nicht mehr aus, um der wachsenden Sammlung genug Platz zu bieten. Am 7. April 1901 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, das alte Rathaus aus Platzgründen aufzugeben. Das frei werdende Gebäude sollte anschließend für die Nutzung als Museum umgebaut werden. Am 9. März 1902 berief der Elberfelder Museumsverein den Kunsthistoriker Friedrich Fries, der vom Städel in Frankfurt am Main kam, als ersten Direktor des Museums. Eröffnet wurde das Städtische Museum Elberfeld im ehemaligen Rathaus am 25. Oktober 1902. In der ersten Ausstellung präsentierte Fries neben den Beständen des Museums Kunstwerke aus Privatsammlungen aus der Stadt. Fries wurde im Folgejahr als städtischer Beamter übernommen. Zudem wurde die Einrichtung einer städtischen Museumskommission beschlossen. In ihr saßen der Oberbürgermeister, drei Stadtverordnete, Fries und drei Vertreter des Museumsvereins. Im Fokus von Fries’ Arbeit stand zu Beginn vor allem die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts. Ebenfalls legte er einen Schwerpunkt auf den frühen Realismus, wobei er Werke von Künstlern wie Carl Blechen, Louis Ferdinand von Rayski, Wilhelm Leibl und der Schule von Barbizon erwarb. Diesen Gemälden stellte er solche aus dem niederländischen Barock an die Seite. Gemeinsam mit Mitgliedern des Elberfelder Museumsvereins konnte Fries die Sammlung des Museums im Bereich der Gemälde, aber auch der Skulptur und Grafik erweitern. In den ersten Jahren hielt sich August von der Heydt aus den Belangen des Museums weitestgehend heraus. Dies änderte sich 1905, als er sich zum Vorsitzenden des Museumsvereins wählen ließ. Zwischen 1905 und 1914 schenkte August von der Heydt zusammen mit Carl August Jung dem Städtischen Museum Elberfeld zudem zehn Gemälde des Elberfelder Künstlers Hans von Marées und drei von Ferdinand Hodler, der zu dieser Zeit in Deutschland noch recht unbekannt war. Mit diesen Schenkungen stärkte von der Heydt auch Fries den Rücken, der sich etwa für eine Ausstellung mit Werken von Marées 1904 großer Kritik ausgesetzt sah. Ab 1913 konnte der Direktor in einem Raum des Museums dauerhaft zeitgenössische Kunst zeigen, die August von der Heydt als Leihgaben zur Verfügung stellte. Die expressionistischen Werke wurden kontrovers diskutiert. Generell standen Teile des Museumsvereins der neuen Kunst skeptisch gegenüber. Sie befürchteten, dass Fries mit seiner Ablehnung gegenüber der Düsseldorfer Malerschule und diesen Sammlungsbeständen die bis dahin geleistete Arbeit des Vereins gefährden würde. Den Impuls der Ausstellungen von zeitgenössischer Kunst durch den Barmer Kunstverein nahmen August von der Heydt, sein Schwager Julius Schmits und weitere Elberfelder Bürger auf und erwarben unter anderem Landschaften der französischen Impressionisten und der Fauvisten. Von der Heydt erwarb 1911 das Gemälde Akrobat und junger Harlekin von Pablo Picasso, das zum ersten Werk dieses Künstlers in einem deutschen Museum wurde. Auch in der Ausstellungstätigkeit wandte sich das Museum dieser Kunst zu, etwa mit der vielbeachteten Ausstellung Courbet und die Entwicklung der modernen französischen Malerei aus dem Jahr 1907. Mit ihr begründete das Museum den Durchbruch der jüngsten französischen Kunst beim Publikum. Wegen der schnell wachsenden Sammlung wurde 1913 das Museum in einem Geschäftshaus hinter dem Rathaus erweitert. 1915 wurde das Museum in Kaiser-Wilhelm-Museum umbenannt, erhielt aber nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution 1918 seinen ursprünglichen Namen zurück. Infolge der Vereinigung der Städte Elberfeld und Barmen zur Stadt Wuppertal im Jahr 1929 wurde das Museum in Städtisches Museum Wuppertal umbenannt. In diesem Jahr gab Friedrich Fries das Amt des Direktors ab. Sein Nachfolger wurde Victor Dirksen, der 1931 zudem Richart Reiche als Vorsitzender des Barmer Kunstvereins ablöste. In der Folge leitete er sowohl das Museum als auch die Ruhmeshalle, in der weiterhin Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst veranstaltet wurden. Nachdem August von der Heydt 1929 verstorben war, hatte seine Frau Selma dem Museum 15 bedeutende Werke aus dem Erbe übergeben. Zeit des Nationalsozialismus Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden viele Werke in der Sammlung des Museums als Entartete Kunst klassifiziert. In der Aktion Entartete Kunst 1937 und 1938 beschlagnahmten die Nationalsozialisten im Städtischen Museum Wuppertal 56 Gemälde und 355 grafische Arbeiten, in der Barmer Ruhmeshalle waren es 85 Werke. Das Museum verlor dabei so bedeutende Gemälde wie Picassos Akrobat und junger Harlekin oder Lyonel Feiningers Schärenkreuzer. Weitere Verluste waren unter anderem Werke von Max Burchartz, Maurice de Vlaminck, Ewald Platte, Eduard Dollerschell, Max Peiffer Watenphul, Lyonel Feininger, Otto Weber, Paul Wellershaus und Wilhelm Nagel. Der Picasso wurde 1939 in der Auktion der Galerie Fischer in Luzern zur Gewinnung von Devisen versteigert. Den Zuschlag erhielt Roger Janssen aus Brüssel für 80.000 Schweizer Franken. Die von Selma von der Heydt nach dem Tod ihres Mannes gestifteten Werke wurden ihr zum Schutz vor Beschlagnahmungen zurückgegeben. Sie gingen jedoch in der Mehrzahl verloren, als 1943 ihr Haus bei einem Bombenangriff zerstört wurde. Als Kompensation für die im Zuge der Aktion Entartete Kunst erlittenen Verluste überließ Eduard von der Heydt dem Städtischen Museum Wuppertal seine Sammlung indonesischer Textilien als Dauerleihgabe. Es war der Beginn seiner verstärkten Zuwendungen an das Museum, die vor allem nach dem Krieg größere Ausmaße annahmen, nachdem er zuvor vor allem die Berliner Nationalgalerie unterstützt hatte. Daneben gab es weitere Zugänge in der Sammlung, vor allem im Bereich der Kunst des 19. Jahrhunderts. Während der Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg war auch das Wuppertaler Museum auf dem dortigen Kunstmarkt tätig und erwarb einige Gemälde. Ihre Provenienz ist nicht geklärt, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie aus ehemals jüdischem Besitz stammten. Die Bestände des Museums wurden 1943 zum Schutz vor Luftangriffen in die Festung Ehrenbreitstein in Koblenz ausgelagert. Während der Bombenangriffe auf Wuppertal wurde am 25. Juni 1943 auch das Museumsgebäude stark beschädigt. In der Festung Ehrenbreitstein wurden weitere Kunstwerke beschlagnahmt oder gingen aus anderen Gründen verloren. Insgesamt verlor das Städtische Museum Wuppertal während des Nationalsozialismus aufgrund der Kunstverfolgung und des Krieges 1680 Gemälde, von denen 531 als vernichtet gelten. Die grafische Sammlung verzeichnete einen Verlust von 1538 Blättern, die Skulpturensammlung 67 Werke. Die im besetzten Frankreich erworbenen Bilder wurden von den französischen Besatzern zurückgeführt, ihre ursprünglichen Besitzer wurden jedoch nicht ermittelt. Zu den vom französischen Kunstkommissar beschlagnahmten Bildern gehörten unter anderem Werke von Eugène Delacroix, Gustave Courbet, Jean-Auguste-Dominique Ingres und Pierre-Auguste Renoir. Nachkriegszeit Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden bereits im Dezember 1945 erste Ausstellungen und Vorträge im Museumsgebäude abgehalten, die offizielle Wiedereröffnung fand aber erst 1950 statt. 1947 vereinigten sich der Barmer Kunstverein und der Elberfelder Museumsverein mit ihren Sammlungen zum Kunst- und Museumsverein Wuppertal, der von Victor Dirksen und Klaus Gebhard geleitet wurde. Der Verein bemühte sich, die Sammlung der Moderne wieder aufzubauen. Seit Kriegsende trug auch Eduard von der Heydt mit Schenkungen verstärkt zum Wiederaufbau der Sammlung bei. 1952 vereinbarte er mit der Stadt Wuppertal, dass alle bisherigen und zukünftigen Dauerleihgaben nach seinem Tod in den Besitz der Stadt übergehen sollten und damit dauerhaft dem Museum zur Verfügung stehen. Diese Schenkung bildete zudem den Abschluss der Amtszeit von Dirksen als Direktor. 1953 folgte Harald Seiler Dirksen als Direktor des Museums nach. 1962 wurde er von Günter Aust abgelöst. Unter der Führung von Seiler und Aust wurde die Sammlung weiterentwickelt, ohne dass die Räumlichkeiten und die technischen Möglichkeiten des Museums Schritt halten konnten. Auch mit Seiler als Direktor verstand sich Eduard von der Heydt gut und er setzte sein Bemühen um das Museum fort. Er stiftete in den Folgejahren bis zu seinem Tod 1964 zudem weitere Werke. Durch das Engagement von der Heydts wurde die Sammlung vor allem im Bereich der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts erheblich gestärkt. Daneben richtete Eduard von der Heydt eine Stiftung ein, die das Museum in die Lage versetzte, weitere Neuerwerbungen vorzunehmen. Sein Engagement verstand er dabei als Fortsetzung der Bemühungen seines Vaters. Diesen Umstand betonte er beispielsweise 1955, als er von der Hamburger Kunsthalle ein Stillleben von Paula Modersohn-Becker, das dem Museum als Leihgabe zur Verfügung gestellt worden war, vom sich sträubenden Direktor zurückforderte, um es dem Wuppertaler Museum zur Verfügung zu stellen. Diesen Schritt begründete Eduard von der Heydt explizit damit, dass es dem Wunsch seines Vaters entsprochen hätte. Aus Dankbarkeit gegenüber den wichtigsten Stiftern des Museums, die insgesamt rund 300 Werke zur Sammlung beigetragen und viele weitere als wechselnde Leihgaben zur Verfügung gestellt hatten, wurde es 1961 in Von der Heydt-Museum umbenannt. Dies wurde mit dem internationalen Renommee des Hauses begründet, das vor allem aufgrund des Engagements der von der Heydts bestünde. Zugleich wurden Bedenken, dass andere Mäzene durch diesen Schritt abgeschreckt würden, mit dem Hinweis entkräftet, dass sich auch bis dahin keine weiteren Mäzene im Umfang der von der Heydts um das Museum verdient gemacht hätten. Den Namen Von der Heydt-Museum trägt die Institution bis heute. Während der Amtszeit von Günter Aust gab es Überlegungen, ein neues Museumsgebäude zu bauen. Zu diesem Zweck sammelte der Kunst- und Museumsverein Wuppertal den so genannten Museumspfennig, mit dem der Bau unterstützt werden sollte, und aus deren Mitteln verschiedene Planungsphasen mitfinanziert wurden. Mehrere Plätze für ein neues Gebäude standen zur Debatte und wurden von sechs Architekten aus dem Museumsverein bewertet. Im September 1969 entschied sich der Rat der Stadt für einen Neubau neben dem Schauspielhaus. Vor dem geplanten Architektenwettbewerb gab es jedoch eine Anhörung von Museumsexperten, die unterschiedliche Vorstellungen vom Zweck und von der Nutzung eines Museums zu Tage förderte. Während Aust eine eher pragmatische Einstellung zu einem Museum vertrat, hatten einige der Experten bei der Anhörung im Januar 1970 sehr progressive Vorstellungen, die den Besucher in den Mittelpunkt rücken sollten. Bazon Brock schlug ein sehr variables, sich schnell veränderndes Ausstellungskonzept vor, das jedoch von den Medien als konservativ empfunden wurde und zur Verunsicherung beitrug. Im Februar 1970 wurden deshalb die Planungen vorläufig eingestellt. Der Wuppertaler Kulturausschuss bat Aust um eine detaillierte Raumplanung als Basis für den Fortgang der Planungen und die Ausschreibung des Wettbewerbs. Diesen Plan legte der Direktor im November 1970 vor. Aufgrund der angespannten finanziellen Lage der Stadt kam es jedoch zu keinen weiteren Schritten in Richtung Neubau. Stattdessen wurde nun über den Umbau des bestehenden Gebäudes nachgedacht. 1973 wurden dem Rat der Stadt mit dem Museumspfennig finanzierte Architektenvorschläge für den Umbau vorgestellt. Für die Realisierung dieser mittlerweile favorisierten Option standen allerdings bis 1978 keine Mittel zur Verfügung. Dennoch wurde 1974 der Neubaubeschluss von der Stadt zurückgenommen und der Umbau des alten Gebäudes beschlossen. Letztendlich wurden 1984 verschiedene Möglichkeiten für den Umbau in Betracht gezogen und die Arbeiten selbst für den Zeitraum 1985 bis 1989 im Investitionsprogramm vorgesehen. Im März 1985 stellten mehrere Architekten ihre Konzepte vor und Busmann + Haberer erhielten den Zuschlag. Am 1. April 1985 trat Aust von seinem Amt zurück, damit sein Nachfolger als Direktor auf die Planungen Einfluss nehmen konnte. Jüngere Geschichte Unter der Leitung von Günter Aust war die Sammlung weiter vergrößert worden, jedoch bestanden die räumlichen und technischen Probleme des Museums weiterhin. Als Nachfolgerin von Aust wurde Sabine Fehlemann berufen, die im April 1985 ihr Amt antrat. Sie kam vom Museum Abteiberg in Mönchengladbach, wo sie vor allem im Bereich der zeitgenössischen Kunst tätig gewesen war. Deshalb war mit ihrem Wechsel auch die Befürchtung verbunden, dass sie die Gegenwartskunst bei ihrer Arbeit am Von der Heydt-Museum überbetonen könnte. Ihren Einstand in Wuppertal gab sie mit einer Ausstellung zu Henri Laurens. Damit stellte sie sich bereits in die Tradition des Museums und setzte diese in den folgenden Jahren ihrer Amtszeit auch weiter fort. Nach ihrem Amtsantritt begannen die endgültigen Planungen für den Umbau und die Modernisierung des Museumsgebäudes. 1986 wurde das Museum für die Bauarbeiten geschlossen, erst am 25. März 1990 konnte das modernisierte Gebäude wiedereröffnet werden. Die Kosten betrugen 25,4 Millionen D-Mark. Während der Bauzeit schickte Fehlemann die Sammlung des Museums in Sonderausstellungen in verschiedene Teile der Welt, wo zwischen 1986 und 1988 über eine Million Museumsbesucher die Werke aus dem Von der Heydt-Museum sahen. In den 1990er- und 2000er-Jahren wuchs die Sammlung durch einige bedeutende Schenkungen. Außerdem gelang es Fehlemann, einige Gemälde, die in der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmt worden waren und der Sammlung verlorengingen, wieder in das Von der Heydt-Museum zu holen. Zugleich wurde die Ausstellungstätigkeit verstärkt. Dies war jedoch vor allem dem Engagement von Förderern zu verdanken, da die Stadt Wuppertal seit 1994 keinen Etat zum Ankauf von Kunstwerken mehr bereitstellte. Seit 2005 unterstützt die Renate und Eberhard Robke-Stiftung das Museum von der Heydt mit Mitteln für den Ankauf von zeitgenössischer Kunst, bereits seit 2003 fördert die Heinz Olof Brennscheidt-Stiftung die Ausstellungstätigkeit. In ihrer Amtszeit veranstaltete Fehlemann bei sinkendem städtischen Etat für Ausstellungen insgesamt 232 Sonderausstellungen, von denen 133 lebenden Künstlern gewidmet waren. Auch im Bereich der ständigen Ausstellung wurden unter Fehlemann Neuerungen eingeführt. So trat an Stelle einer recht statischen Ausstellung eine jährlich wechselnde Präsentation von rund 200 Kunstwerken. Sie etablierte zudem den Museumsshop und neue Events wie Museumsnächte. Im Jahr 2004 restituierte der Rat der Stadt Wuppertal je ein Werk von Hans von Marées, Adolph Menzel und Otto Scholderer, die auf Judenauktionen während der Zeit des Nationalsozialismus erworben worden waren, obwohl sich Fehlemann gegen diese Entscheidung sträubte. Sie lehnte die Rückgaben als nicht rechtlich, sondern bloß moralisch begründet ab. 2006 löste Gerhard Finckh Fehlemann als Direktor des Von der Heydt-Museums ab. Er setzte die Arbeit seiner Vorgängerin vor allem im Bereich der Wechselausstellungen fort. Ende 2012 einigten sich das Museum und die Stadt Wuppertal, dass das Museum weiterhin als städtische Einrichtung betrieben und ihm ein angemessenes Gebäude zur Verfügung gestellt werde. Jedoch erklärte der Stadtkämmerer Johannes Slawig, dass die Zahl der Vollzeitbeschäftigten von 25 auf 19 sinken solle, was durch den Einsatz Ehrenamtlicher kompensiert werde. Für das an seine Kapazitätsgrenze stoßende Museum im Alten Elberfelder Rathaus wurde erneut das Schauspielhaus ins Gespräch gebracht. Im Februar 2014 beschloss der Rat der Stadt Wuppertal die Restitution von Caspar Netschers Gemälde Dame mit Papagei am Fenster, das ursprünglich zur Sammlung der Alten Pinakothek in München gehört hatte und von den Nationalsozialisten gegen Devisen an das belgische Sammlerehepaar Hugo und Elisabeth Jacoba Andriesse verkauft worden war. Nachdem die Andiessens in die USA geflohen waren, beschlagnahmten die Nationalsozialisten 1942 das Gemälde zum zweiten Mal. Es war 1952 durch die Schenkung Rudolf Zierschs in die Sammlung des Von der Heydt-Museums gelangt. Das Museum kooperierte mit der Erbengemeinschaft Andriesse, die das Gemälde zur Versteigerung brachte, um den Erlös für wohltätige Zwecke zu nutzen. Das Gemälde wurde am 4. Juni 2014 bei Christie’s in New York versteigert. Mit einem Ergebnis von 5,09 Millionen Dollar wurde der zwischen 2 und 3 Millionen Dollar liegende Schätzpreis weit übertroffen und ein neuer Rekord für Netscher aufgestellt. Liste der Museumsnamen 1902–1915 Städtisches Museum Elberfeld 1915–1918 Kaiser-Wilhelm-Museum 1918–1929 Städtisches Museum Elberfeld 1929–1961 Städtisches Museum Wuppertal seit 1961 Von der Heydt-Museum Liste der Museumsdirektoren 1902–1929 Friedrich Fries (1865–1954) 1929–1952 Victor Dirksen (1887–1955) 1953–1962 Harald Seiler (1910–1976) 1962–1985 Günter Aust (1921–2018) 1985–2006 Sabine Fehlemann (1941–2008) 2006–1. Mai 2019 Gerhard Finckh (* 1952) seit 1. April 2020 Roland Mönig (* 1965) Architektur Das Museumsgebäude des Von der Heydt-Museums ist das Alte Elberfelder Rathaus. Es liegt in der Elberfelder Fußgängerzone in der Straße Turmhof, Ecke Wall. Sein Entwurf stammte vom Architekten Johann Peter Cremer. Der Grundstein wurde 1828 gelegt, 1831 konnte der Bau von der Stadtverwaltung bezogen werden und wurde dann in einem zweiten Bauabschnitt von 1839 bis 1842 vollendet. Das Gebäude wurde im Stil des Klassizismus errichtet. Die Fassade besteht aus Sandstein, dessen Quader im Erdgeschoss gleichmäßige, in den Obergeschossen wechselnde Schichthöhen haben. Horizontal wird sie von kräftigen Gesimsen gegliedert. Die ersten beiden Geschosse weisen eine Gliederung durch Blendarkaden als dominierendes architektonisches Element auf. Das dritte Geschoss ist ebenfalls durch Arkaden gekennzeichnet, deren Stellung enger ist als in den unteren Etagen. Die Fassade des Gebäudes wird von einem Krönungsgesims und einem Eisengitter nach oben hin abgeschlossen. Die Deckenkonstruktion besteht aus Kreuz- und Stutzkuppelgewölben. Hinzu kommen Kassettendecke und Holzbalkendecke. Über dem Eingang befindet sich mittig am Gebäude ein Balkon mit gusseiserner Brüstung. 1902 wurde das Gebäude zum Museum umfunktioniert. Im Zweiten Weltkrieg wurde es von Bomben schwer beschädigt und nach dem Krieg wiederhergestellt. Jedoch wurden die Räume und die technische Ausstattung lange Zeit aufgrund der finanziellen Situation der Stadt vernachlässigt, auch wenn mehrere Ideen vom Neubau an anderer Stelle in der Stadt bis hin zum Umbau des Alten Rathauses zur Diskussion standen. Währenddessen verschärfte sich die bauliche Situation. Das Dach des Museums war undicht, in den Räumen mit Oberlichtern kam es im Sommer zu Hitzestaus mit Temperaturen über 38 °C und die Heizung ließ sich nicht im erforderlichen Maß regulieren. 1985 begannen Planungen für eine Modernisierung und Erweiterung des Gebäudes, die zwischen 1986 und 1990 ausgeführt wurden. Den Zuschlag erhielten die Architekten Busmann + Haberer aus Köln. Ihr Konzept sah vor, den Cremer-Bau zu erhalten und in ihm einen Neubau zu vollziehen. Durch Einbeziehung neuer Räume in das Ausstellungskonzept und die Überdachung des Innenhofs mit einem Sheddach wuchs die Ausstellungsfläche von 4000 auf 7000 Quadratmeter an. Mit Einverständnis der Denkmalpfleger wurde das zu Jahrhundertbeginn ergänzte Jugendstil-Treppenhaus entfernt und durch zwei neue Treppen ersetzt. Die untere Treppe wurde den Ideen von Cremer nachempfunden, die obere folgt modernen Gestaltungsprinzipien. Um die Treppen herum liegen die Ausstellungsräume. Die Ausstattung wurde den modernen Bedürfnissen eines Museums angepasst, etwa im Hinblick auf die Lichtführung mit natürlichem Licht durch die Oberlichter und einem neu entwickelten Kunstlichtkonzept. Zudem wurde die Klimatisierung der Räume verbessert. Seit 1991 befindet sich statt der beiden schreitenden Löwen rechts und links der Freitreppe hin zum Eingang die zweiteilige Skulptur Early Forms von Tony Cragg. Der Künstler kombinierte in ihr antike und moderne Gebrauchsgegenstände. So stellt die eine Skulptur eine Verbindung von Amphore und Blechdose dar, die andere kombiniert in ihrer Form Mörser und Plastikflasche. Den Kauf förderten das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadtsparkasse Wuppertal. Sammlung Die Sammlung des Von der Heydt-Museums umfasst Gemälde, Skulpturen, Grafiken und Fotografien. Die Gemäldesammlung enthält Werke vom Barock bis in die Gegenwart. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne. Die Skulpturen in der Museumssammlung stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und repräsentieren vor allem die französische und deutsche Moderne. Die Sammlung der Grafiken reicht von der Renaissance bis in die Gegenwart. Auch in dieser Abteilung liegt der Schwerpunkt auf der französischen Moderne. Fotografien stammen vor allem aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und repräsentieren zeitgenössische Künstler in der Sammlung. Gemälde Die Gemäldesammlung des Museums Von der Heydt umfasst insgesamt 3000 Werke. Die ältesten Gemälde im Besitz des Museums stammen aus dem späten 16. und dem 17. Jahrhundert. Die 50 flämischen und niederländischen Gemälde repräsentieren die Kunst des Goldenen Zeitalters. Es handelt sich um Landschaften, Genrebilder und Stillleben von Künstlern wie etwa Joachim Patinir, Claes Molenaer, Floris van Schooten, Jan van Goyen und David Teniers der Jüngere. Die Bilder wurden als Ergänzung zur Malerei des 19. Jahrhunderts in die Sammlung aufgenommen, einige von ihnen wurden von August und Eduard von der Heydt gestiftet. Herausragende Werke in diesem Sammlungsbereich sind eine Hochgebirgslandschaft von Joos de Momper und Jan Brueghel dem Älteren und Frans Snyders Stillleben mit Wildschweinkopf. Die Waldlandschaft von Jacob Isaacksz. van Ruisdael wurde mit der Unterstützung von Wilhelm von Bode 1910 in Paris für 45.000 Reichsmark erworben, obwohl der Verkauf an das Metropolitan Museum of Art in New York bereits vorgesehen worden war. Die Schwerpunkte der Sammlung liegen aber klar auf der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Landschaftsmalerei der Romantik wird im Von der Heydt-Museum durch Maler wie Carl Blechen, Jakob Philipp Hackert und Carl Rottmann repräsentiert. Die Malerei des Biedermeier ist durch einige Bildnisse wie etwa von Heinrich Christoph Kolbe und Ferdinand Georg Waldmüller vertreten. Ein weiteres Sammelgebiet ist die Münchner Schule, die mit ihren bedeutenden Vertretern Wilhelm Leibl, Wilhelm Trübner, Hans Thoma und Anselm Feuerbach präsent ist. Eines der Gemälde aus dieser Zeit, das mit den Niederländern des Barock korrespondiert, ist das Stillleben Hummer, Zinnkanne und Spargelbund von Carl Schuch. Daneben befindet sich etwa auch Carl Spitzweg mit Der Geologe in der Sammlung. Wichtig für das Wuppertaler Museum ist der Bestand an Werken von Hans von Marées, der in Elberfeld geboren worden war und von dem 22 Gemälde das Museum sein Eigen nennt. Das ist nach München und Berlin die drittgrößte Kollektion seiner Werke, was auf Schenkungen von Nachfahren des Künstlers und auf gezielte Erwerbungen vor allem in den Anfangsjahren der Sammlung beruht. Die französische Malerei des 19. Jahrhunderts ist im Von der Heydt-Museum breit vertreten. Alle bedeutenden Maler der Schule von Barbizon befinden sich mit Werken in der Sammlung. Beispielhaft sind etwa Obstgarten im Herbst von Charles-François Daubigny und Landschaft bei Étretat von Jean-Baptiste Camille Corot. Von Gustave Courbet besitzt das Museum die Bilder Winterlandschaft bei Ornans und Felsenküste bei Étretat. Hinzu kommen Werke von unter anderem Eugène Delacroix, Jean-François Millet und Honoré Daumier. Im Bereich des Impressionismus ist die Sammlung ebenfalls sehr gut aufgestellt. Bereits kurz nach der Gründung 1902 begann der erste Direktor Fries damit, diesen Sammlungsbereich mit Schenkungen wohlhabender Bürger aufzubauen. Ergänzt wurde er vor allem durch die Schenkung von Eduard von der Heydt nach dem Zweiten Weltkrieg. Wichtige Werke aus diesem Sammlungsteil sind unter anderem die Landschaft Vétheuil von Claude Monet, Distel und Der Fischer von Édouard Manet, Tänzerinnen im Probesaal von Edgar Degas und Le canal du Loing von Alfred Sisley. Darüber hinaus gehören dem Museum auch Werke von Camille Pissarro, Pierre-Auguste Renoir und Paul Cézanne sowie von den Postimpressionisten Paul Gauguin, Vincent van Gogh und Paul Signac. Ebenso ist die Künstlergruppe der Nabis im Von der Heydt-Museum vertreten. Die Moderne ist mit all ihren Strömungen in der Sammlung präsent. Beispiele für den Fauvismus sind Blumen in einem Krug von Henri Matisse oder Der Hafen von Antwerpen von Georges Braque. Pablo Picassos Harlekinfamilie nähert sich hingegen bereits dem Kubismus an, während Odilon Redon einer der Vertreter des Symbolismus ist. Die deutsche Entwicklung hin zur Moderne wird mit Werken von Paula Modersohn-Becker, Max Slevogt und Edvard Munch illustriert. Von Lovis Corinth befinden sich neun Gemälde im Museum, die seine verschiedenen Schaffensphasen illustrieren. Der Expressionismus ist in der Breite mit Künstlern der Brücke, Neuen Künstlervereinigung München und dem Blauen Reiter vertreten. So finden sich in der Sammlung Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Wassily Kandinsky, Otto Mueller, Emil Nolde, Franz Marc, August Macke, Adolf Erbslöh und Alexej von Jawlensky. Herausragende Werke sind dabei etwa Frauen auf der Straße von Kirchner und Marcs Fuchs. Neben den Expressionisten befinden sich auch Futuristen wie Umberto Boccioni und sich mehr der Abstraktion zuwendende Künstler wie Fernand Léger und László Moholy-Nagy in der Sammlung. Von Oskar Schlemmer, der während des Zweiten Weltkriegs in Wuppertal tätig war, besitzt das Museum vier Gemälde aus dieser Zeit. Hinzu kommt mit Zwölfergruppe mit Interieur von 1930 auch eines seiner früheren Werke. Vertreter der Neuen Sachlichkeit in der Sammlung des Museums von der Heydt sind unter anderem Otto Dix, etwa mit dem Bildnis Karl Krall und An die Schönheit (Selbstbildnis), Else Lasker-Schüler, George Grosz und Christian Schad. Das Von der Heydt-Museum besitzt vier Gemälde des Elberfelder Malers Carl Grossberg, der in seinen Bildern die moderne, industrialisierte Welt aufgriff. Ein Schwerpunkt der Sammlung bildet auch Max Beckmann. 1925 war das Selbstbildnis als Krankenpfleger das erste seiner Bilder in der Sammlung. Die Mehrheit der neun Gemälde kam nach dem Zweiten Weltkrieg ins Museum. 1976 schenkte Klaus Gebhard dem Von der Heydt-Museum das zentrale Beckmann-Werk Luftakrobaten aus dem Jahr 1928. Mit Gemälden von Max Ernst, Paul Klee und Salvador Dalí ist der Surrealismus in der Sammlung des Von der Heydt-Museums vertreten. Auch die Abstrakte Malerei der Nachkriegszeit ist in Wuppertal facettenreich vertreten. So steht etwa das Bild vom 3. 6. 1955 von Karl Otto Götz für den Tachismus, ebenso wie Der Brand von Rom von Georges Mathieu. Mit Jean Dubuffet findet sich der Begründer der Art brut in der Sammlung, wie auch Ernst Wilhelm Nay, der sich der Amerikanischen Farbmalerei angenähert hatte. Weitere Künstler der Nachkriegszeit im Von der Heydt-Museum sind unter anderem Lucio Fontana, Günther Uecker, Sigmar Polke, Gerhard Richter und Francis Bacon. Jüngere Ergänzungen der Sammlung sind beispielsweise die Gemälde Dark Light von Sean Scully aus dem Jahr 1998 und Caspar David Friedrich – Felsenschlucht 1821 von Hiroyuki Masuyama, eine zeitgenössische Neuinszenierung des Gemäldes aus der Romantik, aus dem Jahr 2007. Skulptur Die Sammlung des Von der Heydt-Museums umfasst rund 400 Skulpturen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die vor allem von französischen und deutschen Bildhauern geschaffen wurden. Den Grundstock der Sammlung erhielt das Museum bereits 1901, noch vor der Eröffnung im folgenden Jahr, als Schenkung. Die Werke, darunter Kassandra und Badendes Mädchen von Max Klinger sowie Skulpturen von Emmanuel Frémiet und Nicolaus Friedrich entsprachen dabei dem eher konservativ geprägten Geschmack des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Hinwendung zur zeitgenössischen Plastik erfolgte 1906, als August von der Heydt den Herbstsalon in Paris besucht hatte und anschließend dem Museum die Porträtbüste des Bildhauers Falguière von Auguste Rodin und den Ecce Homo von Constantin Meunier schenkte. In der Folge wurde die Sammlung im Bereich der modernen Skulptur erweitert. So finden sich in ihr etwa Wilhelm Lehmbrucks Geneigter Frauenkopf, Karl Albikers Stehender Jüngling und Raymond Duchamp-Villons Mädchenkopf, der vom Elberfelder Museumsverein erworben wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg erweiterte Eduard von der Heydt den Bestand. Abgesehen von Edgar Degas und Maurice Sarkissoff konzentrierten sich seine Erwerbungen auf deutsche Bildhauer wie Klinger, Lehmbruck, Renée Sintenis und Fritz Huf. Seit den 1960er-Jahren wurde die Sammlung im Bereich der deutschen und französischen Skulptur durch Ankäufe und Schenkungen um Arbeiten von Künstlern wie Rudolf Belling, Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, Oskar Schlemmer, Gerhard Marcks, Eugen Roth, Aristide Maillol, Henri Laurens und Ossip Zadkine ergänzt. Das Museum besitzt auch Skulpturen von Alberto Giacometti und Alexander Archipenko, die beide in Paris tätig waren. Seit 1974 befinden sich in der Sammlung des Von der Heydt-Museums zudem fünf Arbeiten von Hans Arp. In jüngerer Vergangenheit wurde die Skulpturensammlung auch internationalen Strömungen der Bildhauerei stärker geöffnet. So sind ebenfalls Künstler wie George Segal, Donald Judd, Tony Cragg, Alexander Calder, Maurizio Nannucci und Lucio Fontana in der Sammlung vertreten. Grafik und Fotografie Das Von der Heydt-Museum besitzt rund 30.000 grafische Arbeiten von der Renaissance bis in die Gegenwart. Die ältesten Grafiken in der Sammlung stammen von Albrecht Dürer und anderen seiner Zeitgenossen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Werke aus dem Goldenen Zeitalter der Niederlande im 17. Jahrhundert. Dabei sind etwa Zeichnungen und Radierungen von Rembrandt van Rijn hervorzuheben. Das Zentrum der grafischen Sammlung bilden aber Werke aus dem 19. und 20. Jahrhundert. So sind der deutsche Klassizismus und die Romantik in der Sammlung vertreten. Ein wichtiges Konvolut bilden die 41 Einzelblätter und das Neapler Skizzenbuch des in Elberfeld geborenen Deutschrömers Hans von Marées. Sie ermöglichen einen direkten Einblick in seinen Schaffensprozess. Andere deutsche Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie Max Klinger und Max Liebermann befinden sich mit repräsentativen Beständen ebenfalls in der Sammlung. Eduard von der Heydt schenkte dem Museum Aquarelle, Pastelle, Gouachen auf Papier und Zeichnungen von französischen Künstlern der Moderne wie Edgar Degas, Claude Monet, Paul Cézanne, Georges Seurat, Alfred Sisley. Zudem stiftete er frühe Grafiken von Pablo Picasso und Marc Chagall. Besonders hervorzuheben ist die Sammlung des Museums Von der Heydt im Bereich der expressionistischen Grafik sowie der Bestand an Druckgrafik, Aquarellen und Zeichnungen der Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Otto Mueller, Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel. Auch Arbeiten von Edvard Munch befinden sich in der Sammlung wie etwa die frühe Lithografie Vampir. Seit 1991 befinden sich infolge der Schenkung der Tochter des Kunstsammlers Albert Rudolf Ibach zwölf Aquarelle und Zeichnungen von Paul Klee im Von der Heydt-Museum. Auch grafische Arbeiten aus der Nachkriegszeit, etwa von Joseph Beuys, sind Bestandteil der Sammlung. In der Sammlung des Museums befinden sich etwa 640 Fotografien. Sie stammen von rund 50 Künstlern wie unter anderem Man Ray, August Sander, Wols und László Moholy-Nagy. Jüngere Arbeiten stammen etwa von Bernd und Hilla Becher, Klaus Rinke, Peter Hutchinson und Monika Baumgartl. Einzelne Exponate Skulpturen Siehe auch: Die Sitzende, Early Forms Gemälde Siehe auch: Bäuerin mit Kuh, Osny, Bildnis Gerda, Dame mit Papagei am Fenster, Der Geologe, Distel, Der Fischer, Fuchs, Herbstmorgen in Éragny, Mädchen mit rotem Rock, Porträt des Malers Paul Eugène Gorge, Simultanvisionen, Stillleben mit Kaffeetopf und Blumen und Stillleben mit Krug und Birnen Bibliothek Die Bibliothek des Von der Heydt-Museums umfasst rund 100.000 Bände mit dem Sammlungsschwerpunkt im Bereich der Künstlermonografien mit forschungsrelevanten Werkverzeichnissen sowie schwer beschaffbaren Dissertationen und Kleinschriften und auch unveröffentlichte Materialien (Graues Schrifttum) zeitgenössischer oder regionaler Künstler. Als Unikatbestand führt die Bibliothek eine Datenbank-Dokumentation sämtlicher Museumsausstellungen seit 1902 sowie eine Wuppertaler-Künstler-Datenbank mit Einträgen zu rund 2700 lokalen Künstlern. Sonderausstellungen Seit den 1980er-Jahren nahm die Tätigkeit im Bereich der Sonderausstellungen zu. Diese konnten zudem vermehrt ein breites, überregionales Interesse erregen. In den 1990er Jahren fanden unter anderem große Ausstellungen wie Egon Schiele und seine Zeit im Jahr 1990, Von Cranach bis Monet. Meisterwerke aus dem Nationalmuseum Bukarest 1994 und Garten der Frauen. Wegbereiterinnen der Moderne 1996 statt. Daneben gab es monografische Ausstellungen zu Künstlern wie Lovis Corinth und Ferdinand Hodler, die beide 1999 veranstaltet wurden. Im Jahr 2002 zeigte das Museum die Schau Imaginationen. Von Ruysdael bis Manet, Chagall, Kandinsky, die zum hundertjährigen Bestehen abgehalten wurde. In ihr wurde die Sammlungsgeschichte im Bezug auf die beiden größten Mäzene und auf die Verluste während des Nationalsozialismus vorgestellt. Seit 2006 setzte der Direktor Gerhard Finckh die Ausstellungstätigkeit in dieser Tradition fort. Seine erste große Ausstellung war 2007 Abenteuer Barbizon. Ihr folgte Anfang 2008 Auguste Renoir und die Landschaft des Impressionismus, die 95.000 Besucher hatte. Im Anschluss daran zeigte das Museum zwei Ausstellungen mit eher lokaler Ausrichtung: Marées und Der expressionistische Impuls. Meisterwerke aus Wuppertals Privatsammlungen, die beide 2008 gezeigt wurden. 2009/10 folgte dann mit der Ausstellung Monet die bisher erfolgreichste Schau des Von der Heydt-Museums. Mit über 100 Werken aus allen Schaffensphasen war es die bisher umfangreichste Werksschau zu diesem Künstler in Deutschland. Sie zog 297.000 Besucher an und war damit die bisher meistbesuchte Ausstellung des Museums. Finckh verfolgte die Impressionismus-Linie weiter, indem er danach auch Ausstellungen zu Pierre Bonnard (2010/11), Alfred Sisley (2012), Camille Pissarro (2014/15) und Edgar Degas & Auguste Rodin (2016/17) zeigte. 2017/18 folgte eine Ausstellung zu Édouard Manet. In der Folge des Outsides-Projekt, einer illegalen corporate streetart attack auf den öffentlichen Raum in Wuppertal im Jahr 2006, fand im Februar 2007 unter dem Titel Still on and non the wiser in der Kunsthalle Barmen die erste Wuppertaler Streetart- und Graffiti-Ausstellung statt. Im Jahr 2009 folgte die Ausstellung Freiheit, Macht und Pracht und 2011 Street Art 2 in Wuppertal. Die Avantgarde-Ausstellung „Der Sturm“ anlässlich des 100. Geburtstags der Sturm-Galerie aus dem Frühjahr 2012 wurde in einer jährlichen Befragung von zehn renommierten Kritikern durch die Zeitung Welt am Sonntag zur besten Ausstellung des Kunstjahres 2012 in NRW ernannt. Über den Jahreswechsel 2012/2013 zeigte das Museum eine Werkschau mit 50 Gemälden von Peter Paul Rubens. Die Ausstellungspolitik des Museums wurde auch in der Folge positiv rezipiert. Auch für das Jahr 2014 wurde es in der Kritikerumfrage der Welt am Sonntag von zehn Kunstkritikern als Museum mit dem besten Ausstellungsprogramm ausgezeichnet. Die Kritiker wählten die Ausstellung Menschenschlachthaus, in der insbesondere expressionistische Kunst mit Bezug zum Ersten Weltkrieg gezeigt wurde, neben Misunderstanding Photography im Museum Folkwang und Kandinsky, Malewitsch, Mondrian – Der weiße Abgrund Unendlichkeit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zur Ausstellung des Jahres. Filme Museums-Check mit Markus Brock: Von der Heydt-Museum, Wuppertal. 30 Min. Erstausstrahlung: 11. Oktober 2020. Literatur Von der Heydt-Museum (Hrsg.): Von der Heydt-Museum Wuppertal. Gemälde des 19. Jahrhunderts. Wuppertal 1974. Sabine Fehlemann (Hrsg.): Von der Heydt-Museum Wuppertal. Zur Geschichte von Haus und Sammlung. Edition StadtBauKunst, Berlin / Hamburg 1990, ISBN 3-927469-06-8. Sabine Fehlemann (Hrsg.): Von der Heydt-Museum Wuppertal. Skulpturensammlung. Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2000, ISBN 3-89202-040-X. Sabine Fehlemann, Rainer Stamm: Die Von der Heydts: Bankiers, Christen und Mäzene. Müller und Busmann, Wuppertal 2001, ISBN 3-928766-49-X. Sabine Fehlemann (Hrsg.): Von der Heydt-Museum. Die Gemälde des 19. und 20. Jahrhunderts. Wienand Verlag, Köln / Wuppertal 2003, ISBN 3-87909-799-2. Gerhard Finckh, Nicole Hartje-Grave: Von der Heydt-Museum Wuppertal. Meisterwerke. Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2010, ISBN 978-3-89202-076-9. Weblinks Offizieller Internetauftritt des Von der Heydt-Museums Einzelnachweise Museum in Wuppertal Kunstmuseum in Nordrhein-Westfalen Museum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht%20bei%20Warburg
Schlacht bei Warburg
Die Schlacht bei Warburg (auch als Gefecht oder Treffen bei Warburg bezeichnet) war eine militärische Auseinandersetzung während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), die am 31. Juli 1760 bei Warburg im heutigen Nordrhein-Westfalen stattfand. Eine alliierte Armee aus kur-braunschweig-lüneburgischen, braunschweig-wolfenbüttelschen, hessen-kasselschen und britischen Truppen unter Führung des Herzogs Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel besiegte darin eine etwas stärkere französische Heeresabteilung unter dem Comte de Muy. Durch diesen Sieg gelang es den Alliierten, zumindest die Diemel-Linie und somit Westfalen zu verteidigen, während sie gleichzeitig Hessen-Kassel aufgeben mussten. Vorgeschichte Politische Hintergründe Der Frieden von Aachen vom 18. Oktober 1748 setzte dem mehr als achtjährigen Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) ein Ende. Er beendete die Kampfhandlungen zwischen Großbritannien und Frankreich in den nordamerikanischen und indischen Kolonien. Die in Europa umstrittene und vormalige österreichische Provinz Schlesien wurde dem Königreich Preußen zugesprochen. Doch die grundsätzlichen Gegensätze blieben weiterhin bestehen und die Lage spitzte sich ab dem Jahre 1755 wieder zu. Im Tal des Ohio River gerieten Großbritannien und Frankreich erneut aneinander, und auf Betreiben des österreichischen Staatskanzlers Graf Kaunitz (1711–1794) schlossen sich Österreich, Frankreich und Russland gegen Preußen zusammen. Im Mai 1756 brach der Krieg zwischen Frankreich und Großbritannien aus, dem im August 1756 der Ausbruch des mitteleuropäischen Krieges im Kurfürstentum Sachsen folgte. Seit der Konvention von Westminster (16. Januar 1756) waren Großbritannien und Preußen Verbündete. Dieser Vertrag sah vor, dass der Inselstaat das wirtschaftlich schwache Preußen mit Subsidien unterstützte, während dieses im Gegenzug den militärischen Schutz des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg („Kurhannover“) garantierte. Hannover war das Stammland des britischen Königs George II. (1683–1760), der in Personalunion auch Kurfürst von Hannover war. Es war vor allem dieser Umstand, der Preußen in einen Krieg gegen Frankreich verwickelte. Die französische Strategie für den Krieg gegen Großbritannien war nämlich, das Kurfürstentum zu besetzen und als Faustpfand später bei Friedensverhandlungen gegen koloniale Erwerbungen eintauschen zu können. Zum Schutz seiner westdeutschen Besitzungen und Hannovers stellten Preußen und seine Verbündeten aus dem Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, der Landgrafschaft Hessen-Kassel, dem Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel und kleineren Fürstentümern eine Observationsarmee unter dem Oberbefehlshaber Duke of Cumberland (1721–1765), dem Sohn des britischen Königs, auf. Diese wurde jedoch in der Schlacht bei Hastenbeck (26. Juli 1757) von den französischen Truppen geschlagen. Der Duke of Cumberland schloss daraufhin am 10. September die Konvention von Kloster Zeven, und die Franzosen besetzten das gesamte Kurfürstentum Hannover. Die Konvention wurde jedoch von der britischen Regierung nicht anerkannt. Auf persönlichen Wunsch des britischen Königs wurde der preußische General Herzog Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel (1721–1792) mit dem Oberbefehl über die alliierten Truppen betraut. Dieser griff noch im Winter 1757/58 die französischen Truppen in ihren Winterquartieren an und warf sie bis an den Rhein zurück. Die Feldzüge von 1758 und 1759 verliefen unentschieden. Zwar verfügten die Franzosen über eine numerische Überlegenheit, aber in entscheidenden Kämpfen unterlagen sie immer wieder dem operativen und taktischen Geschick der alliierten Truppen. In beiden Fällen waren die Franzosen gezwungen, sich jeweils im Herbst hinter den Rhein und Main zurückzuziehen. Nach der katastrophalen Niederlage in der Schlacht bei Minden (1. August 1759) war Maréchal Victor-François de Broglie, der von Historikern als fähiger Heerführer gesehen wird, mit dem Oberbefehl über die Truppen in Deutschland betraut worden. Er sollte im Feldzug von 1760 endlich die alliierten Streitkräfte zurückdrängen und Hannover als Faustpfand für künftige Friedensverhandlungen in Besitz bringen. Operationen im Sommer 1760 Im Frühsommer 1760 versuchte Herzog Ferdinand von Braunschweig, der Befehlshaber der alliierten Truppen auf dem westlichen Kriegsschauplatz, die Initiative gegenüber den französischen Armeen unter dem Maréchal Duc de Broglie zu gewinnen. Er operierte von Hessen-Kassel aus und versuchte zunächst, die Vereinigung der beiden französischen Teilarmeen nahe Sachsenhausen zu verhindern. Dieser Ansatz war jedoch nicht erfolgreich und führte am 10. Juli 1760 zur Niederlage eines alliierten Korps im Gefecht bei Korbach. Trotz des allgemeinen Kräfteverhältnisses von ca. 66.000 Alliierten gegenüber mehr als 100.000 Franzosen standen sich die beiden Heere in den nächsten Tagen untätig gegenüber. Ein französisches Korps, mit dem Maréchal de Broglie die rückwärtigen alliierten Linien zu bedrohen versuchte, wurde am 16. Juli 1760 im Gefecht bei Emsdorf aufgerieben. Nun ging de Broglie mit der Masse seiner Truppen zur Offensive über und drängte die alliierten Korps bis zum 27. Juli über die Fulda zurück. Das alliierte Hauptheer stand bei Kassel, während das französische bei Balhorn lagerte. Broglie entsandte sein Reservekorps unter dem Comte de Muy über Volkmarsen nach Stadtbergen, um dort die Übergänge über die Diemel für die alliierten Truppen zu sperren. Auf den Übergang bei Warburg sollten die Chasseurs de Fischer angesetzt werden. Nachdem weitere Truppen nach Warburg kommandiert wurden, um diesen wichtigen Übergang zu besetzen, erhielt auch de Muy den Befehl dazu. Er erreichte den Ort am Abend des 29. Juli mit 28 Linienbataillonen, 2 Milizbataillonen sowie 31 Kavallerie-Schwadronen und einem Freikorps; insgesamt etwa 20.000 Mann. Dort bezogen die französischen Regimenter zwischen Warburg und Ossendorf eine Stellung, die nach Nordosten gerichtet war, wo bei Körbecke alliierte Truppen gesichtet worden waren. Herzog Ferdinand von Braunschweig befand sich in einer schwierigen Lage. Durch das Vorgehen de Broglies an die Diemel liefen die alliierten Truppen Gefahr, von ihren Magazinen und Festungen im Herzogtum Westfalen abgeschnitten zu werden. Dann müssten sie sich der französischen Übermacht zwischen Fulda und Diemel unter ungünstigsten Bedingungen zu einer Schlacht stellen oder wie im Vorjahr über die Weser ausweichen. Letzteres hätte den Verlust von ganz Hessen und Westfalen bedeutet. Der Herzog beschloss deshalb, seine Verbände an die Diemel vorzuschieben, um dort den Franzosen zuvorkommen zu können. Am 28. Juli traf dort die Légion Britannique unter Major von Bülow bei Liebenau auf Voraustruppen der Chasseurs de Fischer, die nach Warburg auswichen. Als der Herzog somit von den Bewegungen der französischen Armee erfuhr, dirigierte er das Korps des Generals Friedrich von Spörcken mit 14 Bataillonen, 14 Eskadronen und 22 Geschützen nach Warburg. Das Korps erreichte am 29. Juli Körbecke. Am folgenden Tag trafen weitere Verstärkungen von 10 Bataillonen, 8 Eskadronen und 4 Geschützen unter dem Erbprinz von Braunschweig ein. Im alliierten Hauptquartier überzeugte Philipp von Westphalen, der Sekretär und eigentliche Stabschef des Herzogs von Braunschweig, den Oberbefehlshaber davon, dass die Situation ein schnelles Handeln erforderte. In jetziger Situation könne der Erbprinz an der Diemel geschlagen werden, wenn das Korps de Muys weitere Verstärkungen erhielt. Er schlug vor, mit der Hauptarmee schnell an die Diemel zu marschieren und dort de Muys Verbände zu schlagen. Nur eine Nachhut unter dem Graf Kielmansegg sollte Kassel decken und dieses notfalls auch räumen. Wäre de Muys Korps erst geschlagen, könne man auch das vorübergehend geräumte Hessen wieder einnehmen. Daraufhin erteilte der Herzog sofort den Befehl zum Aufbruch für den Abend des 30. Juli. Gelände um Warburg Die Schlacht fand in unmittelbarer Nähe der Stadt Warburg im Hochstift Paderborn statt. Die überwiegend katholische Bevölkerung war den durchweg protestantischen deutsch-britischen Alliierten durchaus nicht freundlich gesinnt, wobei die ständische Gesellschaft des Hochstifts im schon drei Jahre wütenden Siebenjährigen Krieg im Paderborner Land sich angesichts fouragierender und plündernder Truppen aller Seiten eher ihrem Schicksal ergab. Warburg selbst war zwar die zweitgrößte Stadt des Fürstentums, aber nur unzureichend durch eine mittelalterliche Mauer befestigt. Nordöstlich der Stadt befindet sich der steil aufragende Desenberg inmitten der fruchtbaren Ebene Warburger Börde. Die Diemel begrenzte im Süden das Schlachtfeld. Sie konnte mit einigem Aufwand von Truppen überwunden werden. Bedeutung für die Schlacht hatte vor allem der Höhenzug Richtung Ossendorf; ein wenig abgesetzt befindet sich als eine weitere Erhebung der Heinberg mit dem alten Wachturm Heinturm. Zur Zeit der Schlacht standen die Felder in Ernte. Verlauf der Schlacht Das Korps des Chevalier de Muy umfasste (ohne die Miliz-Bataillone und Freikorps) 28 Bataillone, 31 Eskadronen und 24 Geschütze mit etwa 18.000 Mann. Diese standen nördlich der Diemel auf einem Höhenzug, der nordwestlich von Warburg bis Ossendorf verlief. Von der französischen Stellung aus war das gesamte Gelände bis zum Desenberg südwestlich von Daseburg überschaubar. Die Stellung war relativ günstig und hatte nur den einen Nachteil, dass ihre geringe Tiefe Truppenverschiebungen erschwerte. Südlich der Stellung gab es bei Warburg und Germete Brücken über die Diemel, die um diese Jahreszeit ohnehin nur wenig Wasser führte. Alliierter Aufmarsch Am Morgen des 30. Juli besichtigte der Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel vom Desenberg aus die französische Stellung. Er kannte das Gelände, da er im vorangegangenen Winter sein Winterquartier in Warburg aufgeschlagen hatte. Er entschloss sich zum Angriff und meldete dies an das alliierte Hauptquartier, das gerade dieselbe Absicht entwickelt hatte. Der Erbprinz plante, mit seinen Truppen in der Nacht die französische Stellung zu umgehen und deren linke Flanke am Heinberg anzugreifen. In der Front sollte nur ein schwacher Ablenkungsangriff durchgeführt werden. Der Herzog von Braunschweig hatte inzwischen beschlossen, mit der ganzen Armee nach Warburg zu marschieren. Deshalb wies er den Erbprinzen an zu warten und seine Umgehung erst zu beginnen, wenn die Hauptarmee die Diemel überschritten und somit nahe genug herangekommen wäre. Die Hauptarmee verließ ihr Lager bei Calden um 9 Uhr abends und überschritt die Diemel auf Pontonbrücken zwischen Liebenau und Trendelburg. Am Morgen traf der Herzog vor Warburg ein. Da sich der Übergang des Hauptheeres verzögerte, befahl er dem Erbprinz und General von Spörcken um 7 Uhr, die Umgehungsbewegung einzuleiten, ohne weiter zu warten. Die Truppen, die 14.578 Mann umfassten, formierten zwei Kolonnen. Die rechte marschierte unter General Spörcken über Borgentreich, nördlich um Großeneder und Nörde herum auf Ossendorf. Die linke Kolonne, geführt von General von Zastrow, gelangte über Lütgeneder, Hohenwepel um Menne herum ebenfalls nach Ossendorf. Französische Reaktion Lieutenant-Général de Muy wusste, dass die alliierte Armee in der Nähe war, konnte aber aufgrund des Morgennebels das Gelände nicht einsehen. Er entsandte deshalb Maréchal de camp de Castries mit einigen Grenadier- und Jägerkompanien, zwei Regimentern Dragonern und den „Chasseurs de Fischer“ gegen den Desenberg, um mehr Klarheit zu gewinnen. Dieser stieß dort auf die Légion Britannique unter Major August Christian von Bülow, die sich allerdings schnell nach Rösebeck absetzte. Als es gegen 9:30 Uhr aufklarte, erkannte de Castries und der herbeigeeilte de Muy schließlich die anrückenden feindlichen Kolonnen. De Muy gab Befehl, eine Nachhut am Desenberg zurückzulassen und mit dem Chasseurs de Fischer Warburg zu besetzen. Seinen Truppen schließlich befahl er, sich in Schlachtordnung zu formieren. Da ein Angriff von Osten her erwartet wurde, war die Aufstellung dorthin ausgerichtet. Vier Infanterie-Brigaden und zwei Batterien Artillerie nahmen unter Maréchal de camp de Ségur auf den Höhen westlich von Warburg ihre Positionen ein. Der linke Flügel war vor Ossendorf hakenförmig zurückgebogen. Rechts daneben schlossen zwei Infanterie-Brigaden unter Maréchal de camp de Maupeou an. Die Kavallerie unter den Generalen Lützelburg und Dauvet stand im Zentrum, wo sie ein günstigeres Angriffsgelände vor sich hatte. Hinter der Kavallerie hielt de Muy die Brigade Rouergue in Reserve. Die Bagage wurde vorsichtshalber auf das südliche Ufer der Diemel gebracht. Angriff am westlichen Flügel Es war bereits nach 12:00 Uhr, als die alliierten Umgehungskolonnen ihr Ziel erreichten. Die rechte Kolonne gelangte über Nörde nach Ossendorf und formierte sich dort mit der Front nach Südosten. Die linke Kolonne formierte sich gleichzeitig zwischen Ossendorf und Menne. Da der Platz begrenzt war, mussten die Kavallerie-Verbände hinter den beiden Treffen der Infanterie aufgestellt werden. Unterdessen begann die schwere alliierte Artillerie unter dem hessischen Oberstleutnant Huth mit der Beschießung der französischen Stellung. An der Spitze der rechten Kolonne marschierten zwei englische Grenadier-Bataillone unter Lieutenant Colonel Beckwith. Diese drängten einige französische Vorposten zurück, welche Lieutenant-général de Muy davon in Kenntnis setzten, dass das Ziel des alliierten Angriffs offenbar der Heinberg mit seinem mittelalterlichen Turm war. De Muy reagierte, indem er zunächst ein Bataillon des Regiment de Bourbonnais auf die Anhöhe beorderte. Um dies zu verhindern, versuchten die Alliierten in Eilmärschen den Franzosen zuvorzukommen. Lieutenant Colonel Beckwith lief persönlich mit zehn Grenadieren voraus, während ihm der Erbprinz mit 30 weiteren Soldaten folgte. Als nun das französische Bataillon sich der Hügelkuppe näherte, wurde es von scharfem Abwehrfeuer empfangen. Da unklar war, mit welcher Anzahl Gegner man es zu tun hatte, ließ der französische Kommandeur den Vormarsch einstellen, um auf die Ankunft des II. Bataillons des Regiments zu warten. Die Minuten, die nun verstrichen, erlaubten dem gesamten englischen Grenadier-Bataillon Daulhat den Heinberg zu besetzen. Danach griff das Regiment de Bourbonnais, dem bald die gesamte Brigade gleichen Namens folgen sollte, erneut an. Die doppelte zahlenmäßige Überlegenheit der Franzosen drängte die Engländer bald zurück, doch die Ankunft des englischen Bataillons Maxwell stellte die Situation wieder her. Als Lieutenant Général de Muy die Gefahr erkannte, befahl er der Brigade Bourbonnais, den Heinberg zu besetzen. Dieser gelang es auch zunächst, das englische Bataillon zurückzuwerfen, De Muy beorderte nun auch die Brigaden Couronne und Rouergue heran. Inzwischen trafen jedoch weitere alliierte Bataillone der rechten Kolonne ein, die bisher durch die Artillerie bei Ossendorf aufgehalten worden waren. Die Einheiten der linken Kolonne formierten sich hastig und griffen an, ohne den Gesamtaufmarsch abzuwarten. Die Bataillone des hessischen 4. Garde-Regiments wandten sich hier gegen die Höhen östlich von Ossendorf, welche von den schweizerischen Regimentern Jenner und Planta verteidigt wurden. Unter dem Druck der hannoveranischen und hessischen Truppen wich der französische linke Flügel langsam zurück. Ein kurz darauf erfolgender Angriff der englischen Kavallerie-Regimenter Royal Dragoons und 7th Light Dragoons erschütterte die französische Linie schließlich entscheidend. Lieutenant-général de Muy erkannte, dass seine Stellung unhaltbar geworden war, und befahl, Vorbereitungen für den Rückzug zu treffen. Die beiden Brigaden des rechten Flügels sollten abmarschieren und südlich der Diemel eine Auffangstellung beziehen. Die Kavallerie sollte ihnen folgen. Der französische Zusammenbruch Herzog Ferdinand von Braunschweig hatte inzwischen erkannt, dass die Masse seiner Armee im hohen Korn nicht schnell genug herankommen würde, um noch in die Kämpfe eingreifen zu können. Er erteilte deshalb der Kavallerie unter John Manners, Marquess of Granby, den Befehl, dem Gros vorauszueilen. Letzterer erschien schließlich mit 22 Schwadronen auf dem Schlachtfeld und wurde von zwei leichten Artillerie-Brigaden unterstützt, die von Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe kommandiert wurden. Granby formierte die Reiterei in zwei Treffen und griff die im Abmarsch begriffenen Franzosen sofort an. Da sich die französischen Truppen bereits zurückzogen, konnten sich nur das Régiment Royal-Piémont cavalerie und das Régiment de Bourbon dragons mit je sechs Schwadronen dem Angriff entgegen werfen. Den Reitern gelangt es, die 1st Dragoon Guards des britischen rechten Angriffsflügel zu umfassen und zurückzudrängen, doch diesen kamen die Horse Guards zu Hilfe. Das Regiment Bourbon dragons wurde zurückgeworfen und verlor dabei eine Standarte. „Die Aufopferung der Bourbonischen Kavallerie rettete die zurückweichenden Franzosen vor der vollen Auswirkung des britischen Angriffs, konnte sie aber nicht vor einer erbarmungslosen Verfolgungsjagd bewahren.“ Nachdem aber diese letzten organisierten französischen Einheiten zersprengt waren, stürzte die britische Kavallerie erst den fliehenden feindlichen Reitern nach und griff dann auch die zurückgehende Infanterie an. In dieser Phase erlitten die Franzosen den größten Teil ihrer Verluste. Ein ganzes Bataillon des Regiments Planta wurde eingekreist und zur Kapitulation gezwungen. Auch hunderte Soldaten der Regimenter Bourbonnais und Lochmann wurden gefangen genommen. Das Freikorps Fischer war von der Légion Britannique inzwischen aus Warburg vertrieben worden. Auf offenem Feld wurde es nun ebenfalls von der alliierten Kavallerie eingeholt und vollständig aufgerieben. General de Muy versuchte unterdessen, südlich der Diemel Reste seiner Truppen zu sammeln, während der größte Teil vom Schlachtfeld floh. Die beiden Infanterie-Brigaden Touraine und De la Tour du Pin hatten rechtzeitig und intakt auf den Höhen dort Stellung bezogen und deckten die Absetzbewegung der geschlagenen Heeresteile. Später zogen auch sie sich zurück. Während dieser Flucht fiel zudem ein Teil der französischen Bagage bei Mengeringhausen in die Hände einer alliierten Streifabteilung. Herzog Ferdinand von Braunschweig setzte 12 britische Bataillone und 10 Schwadronen Kavallerie unter dem Marquess of Granby zur Verfolgung des geschlagenen Gegners an, während der Rest der Truppen auf dem Schlachtfeld oder auf den Höhen südlich der Diemel zur Ruhe überging. Folgen Warburg in den Tagen der Schlacht Die Stadt Warburg war bereits im Mai 1757 von hannoveranischen Truppen besetzt worden. Später im Jahr zog eine französische Besatzung ein, die allerdings im April 1758 wieder abziehen musste. Auch 1759 hatten Verbände beider Kriegsparteien kurzzeitig in Warburg geweilt. Die Auswirkungen dieser kurzzeitigen Durchzüge wurden jedoch im Sommer 1760 im Zuge der Schlacht weit übertroffen. Schon am 28. Juli 1760 rückte das Freikorps Fischer in die Stadt ein und drängte die Bevölkerung zur Herausgabe von Dielen und anderem Holz, um damit zusätzliche Brücken über die Diemel zu schlagen, wo das Korps de Muys erwartet wurde. Die Stadt kam dieser Forderung nach und noch in der folgenden Nacht rückte der französische Oberbefehlshaber mit seinem Stab und 4000 Soldaten ein. Der Rest seines Korps lagerte außerhalb. Die in der Stadt untergebrachten französischen Soldaten sollen bereits erste Plünderungen verübt haben, bevor sie ebenfalls in die umliegenden Dörfer verlegt wurden. Als am Morgen des 31. Juli die Kämpfe zwischen den Vortruppen beider Seiten am Desenberg begannen, geriet auch das Stadtgebiet in Mitleidenschaft. „Alle Leute in der Stadt waren in den größten Schrecken, Sorgen und Ängsten,“ berichtete später der Warburger Stadtsekretär Johannes Andreas Fischer. Kurz darauf wurden die ersten 20 verwundeten Husaren in die Stadt gebracht und dort versorgt. Am späten Nachmittag wurde das Freikorps Fischer von der Légion Britannique aus der Stadt geworfen. Nun folgte jedoch für die Stadt der schlimmste Akt. Auf Anordnung des Marquess of Granby wurde den alliierten leichten Truppen gestattet, zwei bis drei Stunden (die Angaben variieren in der Literatur) in Warburg zu plündern. Daran beteiligte sich nicht nur die Légion Britannique, sondern auch hessen-kasselsche und braunschweig-wolfenbüttelsche Husaren. Dabei kam es auch zu schweren Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung, bei denen mindestens eine Frau erschossen und zwei weitere Personen angeschossen wurden. Die Beerdigung der Toten musste neun Tage verschoben werden, da die Friedhöfe außerhalb der Stadt wegen des dort lagernden Militärs nicht zugänglich waren. Nunmehr waren es die Alliierten, die in der Stadt und der gesamten Umgebung das Korn und andere Lebensmittel eintrieben. Herzog Ferdinand und der größte Teil der alliierten Generalität nahmen nun bis zum 24. August in Warburg Quartier. Insgesamt erlitt die Stadt einen materiellen Schaden von etwa 50.000 Talern. Die einzige Entschädigung, welche später ausgezahlt wurde, waren 2.000 Taler, die Herzog Ferdinand dem Stadtrat zukommen ließ. Unmittelbare militärische Folgen Die alliierten Truppen verloren in der Schlacht bei Warburg 66 Offiziere und 1173 Mann. Dabei waren nur wenige Infanterie-Regimenter und die Kavallerie des Marquess of Granby ins Gefecht gekommen. Allein das Grenadier-Bataillon Maxwell hatte 240 Mann verloren und auch die Verluste des Grenadier-Bataillons Daulhatt wogen schwer. Die Kavallerie des Marquess of Granby hatte 590 Mann verloren. Damit waren von den etwa 1200 verlorenen Soldaten mehr als 830 Briten. Das Korps de Muys büßte nach dessen eigenen Angaben 4203 Mann, davon 240 Offiziere, an Verlusten ein. Von diesen sollen 78 Offiziere und 2100 Mann in Gefangenschaft geraten sein. Die Beute der Alliierten umfasste 12 Geschütze, 28 Munitionswagen sowie 10 Fahnen und Standarten. Maréchal de Broglie hatte am Morgen des 31. Juli von dem Abmarsch der alliierten Hauptheeres erfahren. Besorgt um die exponierte Stellung des Korps de Muy hatte er dem Grenadierkorps St. Pern (nahe Volkmarsen) und Lieutenant-général Comte de Guerchy mit drei Infanterie-Brigaden nach Warburg beordert. Diese Truppen kamen jedoch zu spät und konnten nur noch die Reste des Korps de Muy aufnehmen. Allerdings verschaffte der Abmarsch des alliierten Heeres den Franzosen die Gelegenheit, Kassel zu besetzen. Graf Kielmannsegg zog sich, wie zuvor verabredet, zurück und wich am folgenden Tag bis hinter die Weser aus. Maréchal de Broglie hingegen wandte sich nun in Richtung der Diemel, wo der Marquess of Granby mit seiner Abteilung vor dem französischen Druck auswich. Am 4. August fiel auch Göttingen an die Franzosen. Am königlichen Hof in Versailles verursachte die Nachricht von der Niederlage Unverständnis und Unmut. Besonders Kriegsminister Belle Isle war verstimmt. Vor allem de Muy selbst wurde verantwortlich gemacht. Wahrscheinlich wäre er seines Kommandos enthoben worden, doch die gleichzeitig einlaufende Nachricht von der Einnahme Kassels stimmte die Regierungskreise milde, sodass keine personellen Konsequenzen gezogen wurden. Strategisch hatte der Angriff die Lage des alliierten Heeres kaum verbessert. Zwar stand sie nach wie vor in der Defensive und hinter größeren Wasserhindernissen, doch letztlich wog der Verlust von Hessen politisch schwer. Die Festung Kassel bildete in den nächsten Jahren bis zum Ende des Krieges die militärische Ausgangsbasis der französischen Truppen. Für die nächste Zeit war es allerdings das vordergründige Bestreben Herzog Ferdinands, wenigstens Westfalen erfolgreich zu verteidigen. Rezeption Die Kämpfe bei Warburg haben in den verschiedenen nationalen Erinnerungen einen unterschiedlichen Stellenwert. Die preußische Geschichtsschreibung maß ihnen keinen großen Stellenwert bei und klassifizierte sie nicht als „Schlacht“, sondern lediglich als „Treffen“. So wird denn auch oft nur vom „Gefecht bei Warburg“ gesprochen. Allerdings wird die Bedeutung der Ereignisse bei Warburg heute differenzierter betrachtet: „Die Schlacht ist eine wichtige Etappe in der Kette von Niederlagen, die Frankreich im Siebenjährigen Kriege in Westdeutschland erlitten hat […] Die Summe dieser verlorenen Feldzüge hat zweifellos bewirkt, daß Frankreich friedenswillig wurde …“. In der britischen Literatur wurde der Schlacht, nicht zuletzt wegen des großen britischen Anteils, weit mehr Beachtung zuteil. Beim Angriff der britischen Kavallerie ritt der Marquess of Granby in vorderster Linie bei den Horse Guards mit. In vollem Galopp soll ihm dabei sein Hut heruntergefallen sein. Der General kümmerte sich jedoch nicht darum und ritt glatzköpfig in den Kampf. Angeblich stammt daher die noch heute übliche englische Redewendung „going bald-headed“ („glatzköpfig werden“ = „ungestüm vorgehen“). König Georg II. beauftragte den Maler Joshua Reynolds, ein Porträt des Marquess of Granby anzufertigen. Als Reynolds es 1765 fertiggestellt hatte, wurde es im Vorzimmer des St James’s Palace aufgehängt, wo sich morgens die jungen Offiziere vor dem Empfang bei der Königin versammelten. Dort hängt das Gemälde noch heute. Auf dem Bild wurde Granby in der Uniform der Horse Guards, dem Regiment, dessen Chef er war, vor einem Pferd dargestellt. Ganz bewusst wurde er ohne Hut und Perücke mit Glatze dargestellt, so wie er die Attacke bei Warburg geritten hatte. In seinem Roman „The Luck of Barry Lyndon“ (1844) ließ der Autor William Makepeace Thackeray einen Teil der Handlung in Warburg und dessen Umgebung stattfinden. Dabei verarbeitete er auch die Schlacht selbst literarisch. Im Jahre 1975 adaptierte der Regisseur Stanley Kubrick in seinem oscarprämierten Film „Barry Lyndon“ den Roman. Kubrick stellte unter anderem eine Szene aus der Schlacht und den Aufenthalt des Romanhelden in Warburg frei nach. Anlässlich des 250. Jahrestages der Schlacht am 31. Juli 2010 wurden in einer Reenactment-Großveranstaltung am Heinberg, einem der historischen Schlachtfelder, Szenen der Schlacht nachgespielt. Die Leitung dabei hatten die Historischen Kanoniere des Ossendorfer Schützenvereins. Entgegen der Darstellung des Reenactments nahmen an der Schlacht keine preußischen Truppen teil. Zusätzlich gab es eine Ausstellung in der Heinberghalle in Ossendorf. Vom Ossendorfer Schützenverein wurde eine Gedenkschrift herausgegeben. Literatur Harald Kindel: Der Siebenjährige Krieg und das Hochstift Paderborn – Ferdinand Herzog von Braunschweig auf dem französisch-englischen Kriegsschauplatz im Westen. Paderborn 1974 (= Heimatkundliche Schriftenreihe 5/1974). Hans von Geisau: Gedenkschrift anläßlich des 200. Jahrestages der Schlacht bei Warburg am 31. Juli 1760 – Quellen und Studien zur Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Warburg und Umgebung. Junfermann-Verlag, Paderborn 1961. Großer Generalstab: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in einer Reihe von Vorlesungen, mit Benutzung authentischer Quellen. Teil IV, Berlin 1834. (books.google.de) Großer Generalstab / Kriegsgeschichtliche Abteilung (Hrsg.): Der Siebenjährige Krieg 1756–1763. Band 12: Landeshut und Liegnitz. Verlag Ernst Siegfried Mittler & Sohn, Berlin 1914 (= Die Kriege Friedrichs des Großen. Theil 3). Joseph Schüngel: Warburg im Siebenjährigen Kriege. In: J. Hense (Hrsg.): Jahresbericht über das Gymnasium zu Warburg. Warburg 1887, S. 3–17. Georg Friedrich von Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland zwischen dem Könige von Preußen und der Kaiserin Königin mit ihren Alliierten. Band 4, Berlin 1789. (books.google.de) Richard Waddington: La guerre de Sept Ans – Histoire diplomatique et militaire. Band 4, Firmin-Didot, Paris 1907. Philipp von Westphalen: Geschichte der Feldzüge des Herzogs Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg. Band 3, Verlag der königlichen geheimen Ober-Hofbuchdruckerei, Berlin 1871. Christoph Kühne: Der Krieg und das Land. Historisch-archäologische Untersuchungen zur Schlacht bei Warburg von 1760. Ein Vorbericht. In: Archäologie in Ostwestfalen 12, 2014, S. 59–72, ISBN 978-3-89534-902-7. Siegfried Thews: Die Schanze bei Ossendorf – eine Feldbefestigung der Truppen des Herzogs von Braunschweig (1760). Eine Bestandsaufnahme. In: Archäologie in Ostwestfalen 12, 2014, S. 73–77. ISBN 978-3-89534-902-7. Weblinks Einzelnachweise Warburg Warburg Braunschweigische Militärgeschichte Hessische Militärgeschichte Warburg Warburg Karl Wilhelm Ferdinand (Braunschweig-Wolfenbüttel) Konflikt 1760
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https://de.wikipedia.org/wiki/Korallenfinger-Laubfrosch
Korallenfinger-Laubfrosch
Der Korallenfinger-Laubfrosch (Ranoidea caerulea, Synonym: Litoria caerulea), oft auch nur kurz Korallenfinger genannt, ist ein in Australien und auf Neuguinea beheimateter Froschlurch aus der Unterfamilie der Australischen Laubfrösche (Pelodryadinae) innerhalb der Familie der Laubfrösche. Der englische Chirurg John White hat diese Art im Jahr 1790 zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben. Für einen kletternden Laubfrosch ist der Korallenfinger vergleichsweise groß und massig. Die Tiere gelten als relativ zahm und leben häufig auch in der Nähe menschlicher Siedlungen. Aufgrund ihres scheinbar lächelnden Aussehens und ihres behäbigen Wesens erfreuen sich Korallenfinger-Laubfrösche einer besonderen Beliebtheit beim Menschen. Die antibakteriellen und antiviralen Eigenschaften ihrer Hautabsonderungen machen sie aber auch für die Pharmakologie interessant. Merkmale Korallenfinger sind große, plumpe Laubfrösche, die zehn bis zwölf Zentimeter lang werden können (die Weibchen werden geringfügig größer als die Männchen). Der sehr breite Kopf weist eine kurze, runde Schnauze auf und die leicht nach oben gezogenen Mundwinkel verleihen den Tieren einen scheinbar lächelnden Gesichtsausdruck. Hinter den Augen, die eine silber- oder goldmetallischfarbene Iris mit waagerechter Pupille aufweisen, verläuft oberhalb des gut sichtbaren Trommelfells bis zu den Flanken jeweils eine wulstige, drüsenreiche Hautverdickung. Diese erinnert etwas an die Parotiden der Kröten und entspricht diesen auch. Ihre glatte Oberseite changiert farblich zwischen grün und braun (selten auch blau), was unter anderem von der Temperatur, der Umgebung und ihrer Stimmung abhängig ist. Gelegentlich haben die Tiere unregelmäßige weiße und dunkel gerandete oder goldfarbene Flecken von maximal fünf Millimetern Durchmesser an den Flanken, die im Alter mehr werden. Die gekörnelte Bauchhaut ist weißlich, die Kehle des Weibchens ebenfalls. Bei den Männchen ist diese bräunlich-gelb und faltig, da sich dort ihre Schallblase befindet. Die Innenseiten der Hinterschenkel weisen einen bräunlich-roten Farbton auf. Die langen, breiten Finger und Zehen, die vorn bis zu einem Drittel und an den Hinterbeinen bis zu zwei Dritteln über Schwimmhäute miteinander verbunden sind, enden in auffälligen, rundlich-flachen Haftscheiben. Diese können bei ausgewachsenen Tieren bis zu fünf Millimetern breit werden. Sie funktionieren wie Saugnäpfe und erlauben es dem Frosch, auf Bäume zu steigen und sogar problemlos an senkrechten Glasflächen hochzulaufen (Näheres siehe: Europäischer Laubfrosch). Der Korallenfinger-Laubfrosch kann unter anderem mit zwei anderen Arten seiner Familie verwechselt werden, Ranoidea splendida und dem Neuguinea-Riesenlaubfrosch (Nyctimystes infrafrenatus). Von der ersten unterscheidet er sich durch die Drüsenwulste am Hinterkopf, während er von der zweiten durch einen fehlenden weißen Streifen am Unterkiefer differenziert werden kann. Obwohl Frösche Lungen haben, decken sie zusätzlich einen Großteil ihres Sauerstoffbedarfs über die feuchte Hautoberfläche. Allerdings hat ein ständig feuchtes Hautmilieu den Nachteil, dass Krankheitserreger wie Bakterien, Pilze oder Viren leichter eindringen können. Um dem Infektionsrisiko zu begegnen, enthält das Hautsekret von Fröschen Peptide, die diese Keime abtöten können. Bei den Korallenfinger-Laubfröschen sind dies Cearine, eine Gruppe von antibakteriell und antiviral wirksamen Peptiden. Auch enthält das Sekret Caerulin, das denselben physiologischen Effekt wie Cholecystokinin hat. Einige Peptide aus dem Hautsekret sind, wie Laborversuche ergeben haben, außerdem in der Lage, HIV-Viren zu zerstören, ohne dabei gesunde T-Zellen zu schädigen. Verbreitung Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet des Korallenfingers bilden der Norden und Osten Australiens (insbesondere Queensland und Nordterritorium) sowie Neuguinea (insbesondere dessen Süden in Lagen unterhalb von 200 m NN). Sein Lebensraum umfasst Gegenden mit einem warm-feuchten, subtropischen bis tropischen Klima. Im warm-gemäßigten Südosten Australiens kommt er nur dort vor, wo keine „winterlich“ kalte Jahreszeit vorhanden ist, etwa im Tiefland des Bundesstaates New South Wales. Durch den Menschen wurde die Art als Neozoon auch in Teilen Neuseelands und der USA verbreitet. So finden sich in zwei Regionen Floridas kleinere, sich fortpflanzende Populationen. Die in Neuseeland einst vorhandenen Tiere wurden seit den 1950er-Jahren nicht mehr gesichtet. Lebensweise und Verhalten Die Frösche verhalten sich recht ruhig und behäbig; auch sind sie ziemlich ortstreu. Den Tag verschlafen sie in der Vegetation und an kühlen, feuchten Orten, um am frühen Abend munter zu werden und bis in die Nacht auf Beutefang zu gehen. Im regenreicheren Frühling und Sommer der Südhemisphäre sind ihre Rufe zu hören; in der Trockenzeit im Winter legen sie eine Phase der Inaktivität ein. Die Paarungsrufe der Männchen, die diese mit ihrer kehlständigen Schallblase erzeugen, sind ein tiefes, langsames und permanentes Quaken. Die Lautäußerungen, zu denen etwas leiser auch die Weibchen fähig sind, dienen aber nicht allein der Partnerfindung. Auch außerhalb der Paarungszeit, gewöhnlich nach einem Regen, geben die Frösche durch ihr an ein heiseres Bellen erinnerndes Quaken ihren Standort bekannt – häufig hoch oben in Baumkronen und Dachtraufen, nachts auch in Bodennähe. Genauso machen es beispielsweise auch die kleinen Verwandten, die Europäischen Laubfrösche, im Spätsommer. Der Sinn dieses Verhaltens ist noch nicht geklärt – es könnte sich einfach um einen Ausdruck des Wohlgefühls handeln. Außerdem geben die Tiere bei Gefahr einen durchdringenden Schreckruf von sich, beispielsweise, wenn sich ihnen ein Fressfeind nähert oder, wenn etwa ein Mensch auf einen hohlen Baumstamm tritt, in dem ein Frosch lebt. Je nach Verbreitungsgebiet bevorzugen Korallenfinger verschiedene Habitate. Ihr typischer Aufenthaltsort sind Baumkronen in der Nähe ruhiger Gewässer. Sie können aber auch im Schilf von Sumpfgebieten leben oder im Grasland klimatisch gemäßigter Regionen. Als Kulturfolger haben sie auch in der unmittelbaren Umgebung des Menschen ihr Auskommen. So sind Korallenfinger dafür bekannt, Wasserbehältnisse an und in Häusern zu nutzen. Man findet sie in Wassertanks, Drainagerohren und Dachtraufen, weil diese in der Regel feucht und etwas kühler als die Umgebung sind. Abwasserrohre und Wassertanks werden von ihnen anscheinend auch deshalb mit Vorliebe zur Paarungszeit aufgesucht, da hier ihre Laute weiter tragen. Ebenso kann man die Frösche abends an Fenstern beobachten, wo sie vom Licht angelockte Kleintiere jagen. Korallenfinger-Laubfrösche ernähren sich hauptsächlich von Insekten und Spinnen, gelegentlich auch von kleineren Fröschen oder Säugetieren. Die Beute muss sich bewegen, damit sie erkannt wird. Da ihre Zähnchen nicht in der Lage sind, Nahrung zu zerteilen, können Frösche nur mundgerechte Happen zu sich nehmen, die im Ganzen geschluckt werden. Anders als viele andere Froscharten benutzen Korallenfinger-Laubfrösche aber keine Schleuderzunge, sondern stürzen sich auf ihre Beute, packen sie mit ihren Kiefern und stopfen sie mit den Händen ins Maul. Unter den natürlichen Feinden der Art befinden sich einige Arten von Schlangen, Vögeln und Echsen. Mit der Besiedlung Australiens durch europäische Einwanderer kamen noch Hunde und Katzen hinzu. Die Lebenserwartung des Frosches beträgt in Gefangenschaft bis zu 16 Jahre; vereinzelt werden Lebensspannen von 20 Jahren berichtet. In seiner natürlichen Umgebung ist die Lebenserwartung sicher geringer. In der Trockenzeit können diese Laubfrösche den Kondensationseffekt nutzen, um mehr Feuchtigkeit aufzunehmen bzw. nicht zu vertrocknen. So lassen sie sich in kalten Nächten stark abkühlen und suchen dann beispielsweise eine warme Baumhöhle auf, wo sich die Luftfeuchtigkeit als Kondenswasser auf ihrer Haut absetzt. Das Kondenswasser wird von den Fröschen über die Haut aufgenommen. Fortpflanzung, Individualentwicklung Kurz vor Beginn der Paarungsphase in der sommerlichen Regenzeit wächst den Männchen eine bräunliche Brunstschwiele an der Innenseite des jeweils ersten Fingers. Diese rauen Hornschwielen helfen ihnen dabei, sich auf dem Rücken der Weibchen während des Amplexus, also der Umklammerungsphase, festhalten zu können. Nachdem sich die Tiere über die Rufe gefunden haben, erfolgt die Paarung in der Regel in stehenden Gewässern. Während das Weibchen seine Eier ins Wasser abgibt, werden diese vom aufsitzenden Männchen mit Sperma besamt. Ein relativ großer Laichballen aus 200 bis 300 braunen, je 1,1 bis 1,4 Millimeter großen und von der durchsichtigen Gallerte umgebenen Eiern wird so ins Wasser entlassen. Dort sinkt der Klumpen auf den Grund oder heftet sich an unter der Wasseroberfläche befindende Objekte. Der Amplexus kann bis zu zwei Tagen dauern, wobei mehrere Laichballen mit insgesamt 2000 bis 3000 Eiern abgelegt werden. Nach dreitägiger Embryonalentwicklung im warmen Wasser schlüpfen die etwa acht Millimeter großen Kaulquappen. Um ein Überleben und eine günstige Weiterentwicklung zu gewährleisten, muss die Wassertemperatur zwischen 28 und 35 °C liegen und das Gewässer eine Tiefe zwischen 5 und 50 Zentimetern aufweisen. Das äußere Erscheinungsbild der Kaulquappen verändert sich während ihrer Ontogenese. Oberseits sind sie braun gesprenkelt, woraus sich die spätere braune oder grüne Färbung der adulten Tiere entwickelt. Die Unterseite ist zunächst dunkel und hellt sich mit der Zeit auf. Die Kaulquappen wachsen im Verlauf von zwei bis drei Monaten bis zu einer Länge von etwa 44 Millimetern heran, bevor sie die Metamorphose zum Frosch vollenden. Die Geschlechtsreife setzt im Alter von zwei Jahren ein. Gefährdung Seit dem Environment Protection and Biodiversity Conservation Act 1999 steht der Korallenfinger-Laubfrosch wie alle endemischen australischen Tierarten unter Naturschutz. Die früher schwunghafte Ausfuhr für den Tierhandel ist streng reglementiert. Als gefährdend erweist sich, dass vom natürlichen Lebensraum der Art vieles durch den Menschen zerstört wurde. Auch wurden tödliche Pilzinfektionen (vergleiche: Chytridiomykose) bei einzelnen Exemplaren festgestellt. Darüber hinaus ist die Tatsache, dass sich seit den 1950er-Jahren allgemein ein Rückgang der Populationen feststellen lässt, besorgniserregend. Aufgrund der relativ langen individuellen Lebensdauer des Korallenfingers sind jedoch genaue Aussagen zur Bestandsentwicklung noch unsicher, da sich ein kurzfristiger Rückgang der Reproduktionsrate bei einer längerlebigen Art nicht so sehr auswirken muss wie bei einer Art mit geringer Lebenserwartung. Vorerst wird die Art von der IUCN noch als nicht gefährdet gewertet. Taxonomie In seinem Buch Journal of a Voyage to New South Wales beschrieb John White die Art als Erster. Da allerdings das Präparat, das er nach England schickte, unterwegs seine Farbe wechselte, wurde der Korallenfinger-Laubfrosch als Rana caerulea (nach den lateinischen Wörtern für „Frosch“ und „Blau“) klassifiziert. Die eigentlich grüne Färbung des Frosches basiert auf blauen Pigmenten, die auf einer gelben Schicht liegen. Letztere verflüchtigte sich jedoch beim Präparieren der Probe, so dass das konservierte Tier blau erschien. (Es können aber auch tatsächlich lebende blaue Exemplare vorkommen, denen der gelbe Farbstoff ebenfalls fehlt!) Später wurde die Art lange Zeit unter dem wissenschaftlichen Namen Hyla caerulea innerhalb der Unterfamilie Hylinae geführt, also unter anderem in derselben Gattung wie der Europäische Laubfrosch (Hyla arborea). Schließlich hat sich in der zoologischen Systematik aber eine Abtrennung der australischen Laubfrösche von der Gattung Hyla (Eigentliche Laubfrösche) durchgesetzt, die vor allem biogeografisch, weniger morphologisch zu begründen ist. Die Gattungen Ranoidea sowie Litoria und Nyctimystes werden nun in einer eigenen Unterfamilie Australische Laubfrösche (Pelodryadinae) innerhalb der Laubfrösche klassifiziert. Ihren deutschen Trivialnamen hat die Art wegen ihrer manchmal zartrosa („korallenfarben“) gefärbten Hände; häufig trifft diese Farbbeschreibung aber nicht zu. Haustierhaltung Beim Korallenfinger handelt es sich um eine der weltweit beliebtesten Heimtierarten unter den Fröschen. Dafür sorgen sein zahmes Verhalten und sein sympathisches Aussehen, das an den typischen Frosch im Cartoon erinnert. Bei artgerechter, hygienischer Unterbringung und Pflege neigt er weniger zu Krankheiten als manche anderen Terrarientiere. Er benötigt allerdings genügend Platz, Klettermöglichkeiten, Luftfeuchtigkeit und Wärme sowie lebende Beutetiere. Überfütterung kann zu einem Problem werden, da gefangene Korallenfinger – anders als in freier Wildbahn – mangels Bewegung keine Gelegenheit zu ausreichender Energieverbrennung haben und so oft eine übermäßige Körperfülle zeigen. Literatur Harold G. Cogger: Reptiles & Amphibians of Australia. 6. Auflage. Ralph Curtis Books, Sanibel, Florida 2000, ISBN 978-0-88359-048-5 (englisch). Michael J. Tyler: Australian Frogs – A Natural History. Reed, Chatswood 1994, ISBN 0-7301-0468-0 (englisch). John Coborn: White's Tree Frogs. TFH Publications, New Jersey 1994, ISBN 978-0-7938-0282-1 (englisch). Weblinks Korallenfinger-Bilder bei Google-Images Universität Michigan: Informationen zu Ranoidea caerulea (Engl.) Ausführlichere Darstellung zur Biologie und Ökologie der Familie in Australien (PDF, englisch; 1,25 MB) Einzelnachweise Australische Laubfrösche
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Fer%20Hai
Weißer Hai
Der Weiße Hai (Carcharodon carcharias), seltener auch als Weißhai oder Menschenhai bezeichnet, ist die einzige Art der Gattung Carcharodon aus der Familie der Makrelenhaie (Lamnidae). Der Trivialname bezieht sich auf die auffällig helle Bauchfärbung der Tiere. Die Art kommt fast weltweit vor und besiedelt bevorzugt gemäßigte Küstengewässer. Als die größte Haiart, die sich nicht von Plankton ernährt, ist der Weiße Hai der größte Raubfisch; er kann auch Menschen gefährlich werden. Er ist im gesamten Verbreitungsgebiet selten; heute gilt er durch Beifang in der kommerziellen Fischerei sowie gezielte Bejagung zum Gewinn von Trophäen als im Bestand bedroht. Merkmale Der Weiße Hai gehört mit einer durchschnittlichen Länge von etwa vier Metern und einer maximalen Länge von über sieben Metern zu den größten Haiarten. Die Weibchen werden deutlich größer als die Männchen, die maximal etwa fünf Meter Länge erreichen. Das Gewicht kann bis zu dreieinhalb Tonnen betragen. Der Körper ist gedrungen spindelförmig mit konisch zulaufender, stumpf endender Schnauze. Rücken und Flanken sind hellgrau bis bräunlich, seltener bläulich bis fast schwarz und weisen gelegentlich einen kupfernen Schimmer auf. Die Bauchseite ist weiß und in unregelmäßiger Linie scharf von der Flankenfärbung abgegrenzt. Die Brustflossen weisen meistens, vor allem auf der Unterseite, schwarze Spitzen auf; der Körper trägt hinter ihrem Ansatz meist einen dunklen Fleck. Die Männchen weisen an den Bauchflossen Klaspern auf, die bei Jungtieren wenige Zentimeter lang sind, bei geschlechtsreifen Tieren bis zu 50 cm Länge und damit etwa 10 Prozent der Gesamtkörperlänge erreichen und durch eingelagertes Calciumcarbonat versteift sind. Die erste Rückenflosse ist groß und sichelförmig und beginnt auf Höhe des Hinterendes der ebenfalls sichelförmigen Brustflossen. Die zweite Rückenflosse beginnt vor der Afterflosse, beide sind klein. Alle Flossen sind stachellos. Ein Interdorsalkamm ist nicht ausgebildet. Der Schwanz ist seitlich deutlich gekielt und weist vor der Schwanzflosse auf Ober- und Unterseite eine grubenartige Einkerbung auf. Die Schwanzflosse ist halbmondförmig, wobei der untere Lobus fast so groß ist wie der obere. Der Kopf weist keine Barteln oder Sinnesgruben auf. Die Nasenöffnungen sind klein. Die kleinen Augen sind vollständig schwarz, so dass die Pupille nicht klar erkennbar ist. Das Maul ist breit und lang mit kräftigen Kiefern und weist keine Labialfalten auf. Die Zähne sind breit, dreieckig, mit gesägtem Rand und stehen, wie bei allen Haien, in einem Revolvergebiss, werden also zeitlebens nachgebildet. Die aktive Zahnreihe bildet eine geschlossene Schneidekante, wobei die Zähne zur Schnauzenspitze hin größer werden. Im Oberkiefer stehen 23 bis 28 Zähne nebeneinander, im Unterkiefer 20 bis 26, die enger zusammenstehen. Die fünf Kiemenöffnungen liegen als lange Schlitze vor den Brustflossen. Schwimmweise und Physiologie Weiße Haie sind an eine thunniforme Schwimmweise angepasst, das heißt, die Schwanzflosse dient als Hauptantrieb, während der Rumpf nahezu keine Schwingungen ausführt. Dies erlaubt sowohl langsames, ausdauerndes Schwimmen bei hoher Energieeffizienz als auch sehr schnelles Schwimmen auf kürzeren Strecken. Als Anpassungen an diesen Schwimmstil dienen die durch Kollagenfasern verstärkte große erste Rückenflosse, die die Lage des Tieres im Wasser stabilisiert, sowie die ebenfalls durch Kollagenfasern bewirkte Versteifung der Schwanzflosse und des Schwanzstiels, die ein kräftiges, elastisches Schwingen des Schwanzes zur Erzeugung von Vorwärtsschub erlauben. Muskeln im unteren Lappen der Schwanzflosse könnten dabei dazu dienen, den hydrostatischen Druck in der Flosse zu verändern und ihre Eigenschaften so an ein langsames oder schnelles Schwimmen anzupassen. Messungen an markierten Tieren wiesen auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von etwas über drei Kilometern in der Stunde und Tagesstrecken von etwa 80 Kilometern hin. Weiße Haie sind auch zu plötzlichen Beschleunigungen und komplizierten Manövern in der Lage, inklusive des vollständigen Springens aus dem Wasser. Wie viele andere Makrelenhaie weisen Weiße Haie Blutgefäßnetze („retia mirabilia“) auf, die als Wärmetauscher der Thermoregulation dienen und die durch Muskelbewegung erzeugte Wärme im Körperinneren zurückhalten. So werden das Gehirn, die Augen, Muskeln und Eingeweide um etwa drei bis fünf Grad und der Magen um bis zu fünfzehn Grad über die Umgebungstemperatur erwärmt. Die hierdurch erreichte teilweise Endothermie dient wahrscheinlich dazu, die Leistungsfähigkeit der genannten Organe zu erhöhen, was insbesondere bei der Jagd auf warmblütige Beute vorteilhaft sein könnte. Vorkommen Weiße Haie sind beinahe weltweit in allen Ozeanen und eingewandert im Mittelmeer verbreitet. Die Art fehlt in den kalten Gebieten um Arktis und Antarktis sowie im Schwarzen Meer und in der Ostsee. Am häufigsten wird sie in küstennahen Gewässern der gemäßigten Zone im westlichen Nordatlantik, dem Mittelmeer, vor den Südküsten Afrikas und Australiens sowie im östlichen Nordpazifik gesichtet. In den Tropen ist die Art weit verbreitet, wird aber seltener angetroffen. Im gesamten Verbreitungsgebiet ist der Weiße Hai eine eher seltene Fischart. Die Tiere besiedeln verschiedene Habitate in nahezu allen Klimazonen. Sie halten sich häufig in Küstennähe auf und dringen auch in relativ flaches Wasser sowie Buchten, Lagunen und Häfen vor, allerdings nicht in Brackwasser oder Süßwasserbereiche. Daneben finden sie sich aber auch regelmäßig vor ozeanischen Inseln, insbesondere in der Nähe von Robbenkolonien. In den Randmeeren halten sich Weiße Haie in Wassertiefen von der Oberfläche bis zum Grund auf, dringen dabei aber nur selten bis zu den Kontinentalhängen vor. Die größte Wassertiefe, aus der ein Weißer Hai gefangen wurde, betrug 1280 Meter. Etwa 90 Prozent ihrer Zeit verbringen die Tiere entweder innerhalb von etwa 5 Metern unter der Wasseroberfläche oder in Tiefen von 300 bis 500 Metern, während sie sich nur selten in mittleren Wassertiefen aufhalten. Bei mit Sendern versehenen Weißen Haien wurden in den Gewässern um Neuseeland vereinzelt Tieftauchgänge von über 1000 Metern nachgewiesen. Genetische Analysen weisen darauf hin, dass die Weibchen eher standorttreu sind, während hauptsächlich die Männchen zum Teil Tausende Kilometer lange Wanderungen unternehmen und so für die Durchmischung der Populationen sorgen. Lebensweise Sozialverhalten Weiße Haie treten meist einzeln oder paarweise auf, finden sich aber gelegentlich auch zu größeren Gruppen aus zehn oder mehr Tieren zusammen, wobei es Hinweise auf Jahreszeit- und Temperaturabhängigkeiten solcher Ansammlungen gibt. Das Sozialverhalten ist wenig untersucht, scheint aber ähnlich komplex wie bei besser untersuchten Arten zu sein. Die Kommunikation findet vor allem über Schwimmbewegungen statt, da Haie aufgrund der Unfähigkeit zur Lautproduktion und der relativ starren Körperform kaum andere Möglichkeiten haben, Signale zu geben. So wurden paralleles Schwimmen zweier Tiere, gegenseitiges Umkreisen, Aufeinander-Zuschwimmen und Ausweichen, sowie Schwimmen mit buckelartig erhobenem Rücken und angelegten Brustflossen beobachtet. Letzteres könnte wie bei anderen Haien Teil eines Drohverhaltens gegenüber Artgenossen darstellen. Ebenfalls als Drohverhalten wurden das Schlagen mit dem Schwanz auf die Wasseroberfläche sowie ein Öffnen des Mauls und Vorschieben der Kiefer beschrieben. Beides wird häufig beim Fressen gegenüber Artgenossen, aber auch gegenüber Menschen und Gegenständen wie Booten gezeigt. Diese Verhaltensweisen könnten beim Etablieren einer Rangordnung eine Rolle spielen, wie sie wahrscheinlich beim gemeinsamen Fressen eingehalten wird. Die Tiere sind allgemein neugierig und können oft dabei beobachtet werden, menschliche Aktivitäten zu untersuchen oder, häufig in der Nähe von Booten, den Kopf aus dem Wasser zu strecken. Ernährung und Jagd Weiße Haie sind Prädatoren, die einen großen Teil ihrer Nahrung durch aktive Jagd gewinnen, daneben aber auch opportunistisch Aas annehmen. Die Zusammensetzung der Nahrung variiert abhängig von der Verfügbarkeit von Beutetieren stark. Angegriffene Beutetiere sind dabei fast immer kleiner als der angreifende Hai. Bei den erbeuteten Wirbellosen handelt es sich um Tintenfische, andere Mollusken und große Krebstiere. Das Spektrum der von Weißen Haien gefressenen Knochenfische umfasst sowohl bodenbewohnende als auch das freie Wasser besiedelnde Arten von kleinen Schwarmfischen bis zu Thunfischen und Schwertfischen. Gruppen Weißer Haie versammeln sich dabei in Gegenden, in denen Fischschwärme gehäuft auftreten. Schließlich werden auch Knorpelfische wie Haie, Rochen und Chimären gefressen. Kannibalismus tritt offenbar selten oder nie auf, obwohl gelegentlich vom Menschen gefangene oder verwundete Artgenossen angegriffen werden. Meeresschildkröten machen einen geringen Anteil der Beute aus. Seevögel werden teilweise gefressen, häufig aber auch nur geschnappt und wieder freigelassen oder auch getötet, ohne verschlungen zu werden. Vor allem große Weiße Haie mit über drei Metern Länge bejagen auch Meeressäugetiere, von Seeottern und kleineren Robben über See-Elefanten und kleine Zahnwale bis zu Grauwalkälbern. Bei manchen Individuen scheinen Robben einen Großteil der Beute auszumachen, wobei in den Mägen gefangener Tiere meist auch andere, häufig kleinere Beutetiere gefunden werden. Bei Gelegenheit können auch die Kadaver verendeter Großwale einen bedeutenden Anteil an der Ernährung ausmachen. Die Augen des Weißen Hais weisen eine gut ausgebildete Fovea centralis mit Zapfen auf, sodass die Tiere gute Sehschärfe und Farbensehen besitzen. Daher wird angenommen, dass sie vorwiegend tagsüber jagen und ihre Beutetiere per Sicht auswählen. Untersuchungen an mit Ultraschallsendern ausgestatteten Tieren zeigten, dass sie bei der Beutesuche meist längere Zeit langsam nahe der Wasseroberfläche oder am Grund schwimmen, wobei ihre zweiteilige Färbung wahrscheinlich sowohl bei der Ansicht von oben als auch von unten als Tarnung dient (Konterschattierung). Die Tiere jagen dabei einzeln und ohne offensichtliche Jagdterritorien. Mögliche Angriffsbewegungen wurden meist tagsüber, in manchen Fällen aber auch nachts beobachtet. Die Abstände zwischen den Jagden können dabei mehrere Tage betragen. Berechnungen weisen darauf hin, dass eine große Robbe den Energiebedarf eines Tieres für bis zu eineinhalb Monate decken könnte. Kleinere Beutetiere werden ganz geschluckt, größere dagegen durch einen Biss getötet oder so schwer verwundet, dass sie fluchtunfähig verbluten oder am Schock sterben. Computersimulationen zur Biomechanik des Bisses weisen darauf hin, dass ein 200 bis 400 kg schwerer Weißer Hai eine Bisskraft von etwa 3.000 bis 5.000 Newton und ein 3,5 Tonnen schweres Tier eine solche von über 18.000 Newton entwickeln könnte. Dies entspricht der Gewichtskraft einer Masse von 300 bis 500 kg beziehungsweise 1,8 Tonnen und wäre damit die höchste Bisskraft aller heutigen Tiere. Am besten untersucht sind Angriffe auf Robben. Meist werden dabei nahe der Wasseroberfläche schwimmende Tiere von unten attackiert, wobei der Schwung beim Angriff den Hai oft teilweise oder vollständig aus dem Wasser hebt. Verfehlt der Hai die Beute beim ersten Angriff, verfolgt er sie an der Wasseroberfläche. Dabei sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Jagderfolgs mit der Zeit deutlich. Nach einem Biss wird häufig gewartet, bis das Beutetier geschwächt ist. Die Tötung geschieht meist nach Annäherung von hinten durch einen kräftigen, seitlich ausgeführten Biss, bei dem der Hai die Augen im Sockel nach hinten dreht – möglicherweise, um sie vor Verletzung zu schützen. Die Beute wird meist an Ort und Stelle an der Wasseroberfläche gefressen, vor allem bei Anwesenheit anderer Haie aber auch abtransportiert, in der Tiefe gefressen oder aufgegeben. Der einzige bekannte natürliche Feind ausgewachsener Weißer Haie ist der Schwertwal (Orcinus orca). Fortpflanzung und Entwicklung Männliche Weiße Haie erreichen im Alter von 26 Jahren die Fortpflanzungsfähigkeit und weibliche Weiße Haie die Geschlechtsreife weitere sieben Jahre später, mit 33 Jahren. Über das Paarungsverhalten ist so gut wie nichts bekannt; an ausgewachsenen Weibchen gefundene leichte Bissmarken an den Brustflossen weisen aber darauf hin, dass die Männchen sich bei der Paarung hier an den Weibchen festhalten, wie es bei anderen Haiarten beobachtet wurde. Die 2 bis 14 Jungtiere schlüpfen bereits im Mutterleib aus den Eiern (Ovoviviparie) und ernähren sich vor der Geburt durch von der Mutter produzierte Nähreier (Oophagie). Die Tragzeit ist unbekannt, wird aber auf ein Jahr oder länger geschätzt. Die Geburt findet in warmgemäßigten Küstengebieten statt. Die Jungtiere weisen zu diesem Zeitpunkt eine Länge von 120 bis 150 cm und ein Gewicht von 26 bis 32 kg auf, magern aber zunächst während des Erlernens der Jagd auf etwa die Hälfte ihres Geburtsgewichts ab. Das dokumentierte Höchstalter der Männchen liegt bei 73 Jahren, bei Weibchen bis zu 40 Jahren. Damit gehören die Weißen Haie zu den längstlebigen Knorpelfischen überhaupt. Systematik und Evolution Der Weiße Hai wurde zuerst 1758 von Carl von Linné als Squalus carcharias wissenschaftlich beschrieben, später aber von Smith in die monotypische Gattung Carcharodon gestellt. Diese wird meist zusammen mit den Makohaien (Isurus) und den Heringshaien (Lamna) in die Familie der Makrelenhaie (Lamnidae) gestellt. Manche Autoren grenzen Carcharodon allerdings von diesen beiden Gattungen ab und definieren für ihn die eigene Familie der Carcharodontidae. Molekularbiologische Untersuchungen weisen darauf hin, dass der Weiße Hai näher mit den Makohaien als mit den Heringshaien verwandt ist, und sich die beiden Gattungen im Paläozän oder Eozän getrennt haben. Der Chromosomensatz des Weißen Hais besteht aus 41 Paaren (2n = 82). Da die Knorpelskelette von Haien selten vollständig versteinern, ist die Gattung Carcharodon fossil vor allem durch Zahnfunde bekannt, deren älteste aus dem mittleren Paläozän vor etwa 60 Millionen Jahren stammen. In der ursprünglich wahrscheinlich fischfressenden Gattung trat eine zunehmende Spezialisierung auf Meeressäugetiere und eine Aufspaltung in zwei Linien auf. Eine Linie mit auffällig großen Zähnen (englisch „megatooth sharks“) besiedelte vorwiegend wärmere Gewässer und brachte als letzte Art den bis zu 17 Meter langen Megalodon (Otodus megalodon oder Carcharocles megalodon) hervor. Von der Linie mit kleineren Zähnen stammt wahrscheinlich der heutige Weiße Hai ab. Die ältesten diesem zugeordneten fossilen Zähne wurden in etwa elf Millionen Jahre alten Schichten des oberen Miozäns in Kalifornien gefunden. Manche Autoren teilen die Carcharodon-ähnlichen fossilen Arten in mehrere Gattungen auf. So weist der Fund eines vier Millionen Jahre alten Carachodon-Fossils in Peru, bei dem auch ein Großteil des Skeletts erhalten ist, darauf hin, dass die Abstammungslinie des Weißen Hais näher mit den Makohaien als mit den „megatooth sharks“ verwandt ist und die beiden Linien ihre außergewöhnliche Größe unabhängig voneinander entwickelten. Im Februar 2019 entschlüsselten Forscher der Nova Southeastern University das Erbgut des Weißen Hais vollständig. Die Größe des Genoms liegt bei 4.63 Gbp (Giga-Basenpaare), rund eineinhalb mal größer als das des Menschen. Die Forscher erhoffen sich, mithilfe des Erbguts mehr über genetische Abwehrmechanismen herauszufinden, wovon vor allem die Krebsforschung profitieren soll. Weißer Hai und Mensch Bedrohung und Schutz Ausgewachsene Weiße Haie haben kaum natürliche Feinde, auch wenn sie von anderen großen Haiarten und Schwertwalen gelegentlich als Nahrungskonkurrenten angegriffen werden. Aufgrund ihrer Seltenheit wird die Art nicht gezielt kommerziell befischt, aber häufig als Beifang gefangen. Das Fleisch kann frisch, gesalzen oder geräuchert verzehrt werden, wobei es jedoch zu schweren Vergiftungen kommen kann, die wahrscheinlich auf die hohen Konzentrationen an Trimethylaminoxid und Quecksilber im Gewebe zurückzuführen sind. Die Flossen werden im asiatischen Raum für Haifischflossensuppe und in der traditionellen Medizin verwendet. Die Haut kann zu Leder verarbeitet, aus der Leber Öl gewonnen werden. Von Sportfischern wird die Art auf Grund ihrer Größe bejagt. Zwar werden die gefangenen Tiere heute meist wieder freigelassen, ihr Zustand dabei ist allerdings häufig schlecht, so dass ihr weiteres Schicksal oft ungewiss ist. Daneben existiert eine gezielte Bejagung zur Gewinnung von Trophäen. Als solche dienen besonders Zähne, Gebisse und ausgestopfte Tiere, die für mehrere tausend Dollar gehandelt werden. Eine weitere Gefährdung stellen die Haischutzmaßnahmen an Badestränden dar, die gelegentlich gezielte Tötungen einschließen, aber auch Haischutznetze, in denen die Tiere sich verfangen und verenden können. Der Weiße Hai gilt wegen seiner Seltenheit, der späten Geschlechtsreife sowie der geringen Nachkommenzahl als gefährdet. Genaue Bestandszahlen sind nicht bekannt, Schätzungen gehen davon aus, dass die Bestände im Nordatlantik zwischen 1986 und 2000 um 59 bis 89 Prozent abgenommen haben. Im Mittelmeer wurde zwischen 1913 und 2012 eine Abnahme der mittleren Körperlänge gefunden, was auf einen Rückgang der Population hindeutet. Strenge Schutzvorschriften für die Art bestehen in Südafrika, Namibia, Florida und Kalifornien, allerdings gelten lokale Schutzvorschriften wegen der von den Tieren unternommenen weitreichenden Wanderungen als wenig effektiv. In der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN wird sie als „vulnerable“ (gefährdet) gelistet, eine Einstufung als „endangered“ (stark gefährdet) wird erwogen. Im Washingtoner Artenschutzübereinkommen wird sie in Anhang II aufgeführt. Manche Wissenschaftler nehmen an, dass die Art zumindest in manchen Regionen bereits biologisch ausgestorben ist, d. h. die vorhandenen Populationen sind nicht mehr in der Lage, sich zu erholen. Nach fünf tödlichen Haiangriffen innerhalb eines Jahres kündigte im September 2012 die Regierung von Western Australia an, die Jagd und Notschlachtung von Weißen Haien an der Küste des Bundesstaates zu erlauben. Die Maßnahme wurde von Naturschützern als „Hollywood-Reaktion“ kritisiert. Angriffe auf Menschen Wegen seiner Größe, Kraft und Aggressivität gilt der Weiße Hai als für den Menschen gefährlich und ist nach mehreren Studien die am häufigsten für Angriffe auf Menschen verantwortliche Art. Manche Autoren gehen allerdings davon aus, dass hierbei häufig andere Arten wie der Bullenhai mit dem bekannteren Weißen Hai verwechselt werden. Weltweit kommt es pro Jahr durchschnittlich zu drei bis sieben nicht provozierten Angriffen, von denen etwa 20 Prozent tödlich enden. Zu den meisten Angriffen kommt es vor den Küsten Kaliforniens, Südafrikas, Südaustraliens und Japans. Gelegentlich werden auch Boote durch Bisse oder Rammen angegriffen und mitunter versenkt. Am häufigsten werden Surfer und Schwimmer in dunkler Kleidung an der Wasseroberfläche angegriffen, häufig in Ufernähe oder an Flussmündungen und in der Nähe von Robbenkolonien. Der Hai greift dabei meist überraschend von unten oder hinten kommend mit einem einzelnen Biss an, der zu schweren Verletzungen führen kann. Selten wird das Opfer weiter angegriffen oder gefressen, so dass eine Rettung, vor allem mit der Hilfe begleitender Personen, meist möglich ist. Aus diesen Gründen wird angenommen, dass eine Verwechslung des Menschen mit Robben die Angriffe auslöst. Allerdings beobachten Weiße Haie Schwimmer und Taucher oft auch, ohne anzugreifen, und Angriffe bestehen oft aus einem leichten Zugreifen und Festhalten im Gegensatz zu den gegen Beutetiere gerichteten kräftigen Tötungsbissen. Das Verhalten gegenüber Menschen wurde deshalb auch als Untersuchung aus Neugier oder agonistisches Verhalten interpretiert. Kulturelle Rezeption Das Bild des Hais in der westlichen Gesellschaft wurde maßgeblich durch die Haiangriffe an der Küste von New Jersey (1916) beeinflusst, die möglicherweise auf einen jungen weiblichen Weißen Hai zurückgingen. Diese Vorfälle inspirierten auch den Roman Der weiße Hai (im englischen Original Jaws: Kiefer, Maul) von Peter Benchley, der 1975 von Steven Spielberg unter dem gleichen Namen verfilmt wurde. Der Hai tritt im Buch als Sinnbild der menschenfeindlichen Natur auf, die im Widerstreit auch die Aggression des Menschen weckt. In dieser Form ersetzt der Hai den traditionell in dieser Rolle porträtierten Wal, wie er in Herman Melvilles Roman Moby Dick erscheint. Insbesondere in der Verfilmung wird der Weiße Hai zum Archetypus des tierischen Filmmonsters, das Menschen gezielt aus überlegener Position angreift und tötet. Der Film löste bei Zuschauern gesteigerte Angst vor Haien aus, die zu gezielten Haitötungen führte. Er weckte aber auch bei Abenteurern den Wunsch, sich mit dem vermeintlichen Monster zu messen. Im Gegensatz zur westlichen Sicht stehen Haie bei Völkern des Pazifikraums in hohem Ansehen; auf den Fidschi-Inseln dienen sie als Stammessymbole. In den letzten Jahren bemühen sich Umweltschutzorganisationen und Einzelpersonen, das westliche Bild der Haie allgemein und des Weißen Hais im Besonderen zu verbessern. Hierzu gehört auch Peter Benchley, der nach weiteren Recherchen mehrere Bücher zum Hai- und Meeresschutz schrieb und die Folgen von Jaws bereute: Weiße Haie als Attraktion Die Popularität des Weißen Hais erzeugt auch einen großen Schauwert der Tiere. So erhalten Angriffe durch Weiße Haie bis heute oft Aufmerksamkeit durch die Medien. Daneben sind die Tiere beliebte Objekte bei Tierfilmern, und ihre Beobachtung in freier Wildbahn durch Taucher und Schnorchler wird, vor allem in Australien und bei Kapstadt/Südafrika, seit einigen Jahren touristisch vermarktet. Das Anfüttern und Anlocken von Haien durch ins Wasser eingebrachtes Fleisch und Blut (Chumming) ist in Kalifornien allerdings seit 1994 verboten, da befürchtet wurde, dass dies Menschen und Haie gefährden könnte. In Aquarien gehaltene Weiße Haie sterben meist nach wenigen Tagen durch das beim Fang erlittene Trauma und verweigerte Nahrungsaufnahme. Im Monterey Bay Aquarium gelang mehrmals die Haltung junger Weißer Haie, die nach bis zu 198 Tagen im Aquarium mit Sendern versehen wieder freigelassen wurden. Das Monterey Bay Aquarium sieht die Zurschaustellung von Weißen Haien sowie die Präsentation seiner Forschungsprojekte als Beitrag, die Tiere zu entmythisieren und das Verständnis für die Art zu fördern. Belege Literatur Einzelnachweise Weblinks Datenbankeintrag zum Weißen Hai bei der Hai-Stiftung (Shark Foundation) White-Shark – ausführliche deutsche Webseite zum Weißen Hai Shark-Tracker – Forschungs-, Schutz- und Adoptionsprojekt zum Weißen Hai (engl.) Sociable Killers – Artikel zum Sozialverhalten des Weißen Hais von R. Aidan Martin und Anne Martin in Natural History, Oktober 2006 (engl.) Makrelenhaiartige
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https://de.wikipedia.org/wiki/Paraffinoxidation
Paraffinoxidation
Die Paraffinoxidation ist ein historisches chemisch-technisches Verfahren zur Herstellung synthetischer Fettsäuren, welche die chemische Industrie sowohl zu Konsumgütern wie Seifen und Speisefetten als auch zu Schmierfetten für technische Anwendungen verarbeitete. Als weitere Produkte fielen ein breites Spektrum von Carbonsäuren und Oxidationsprodukte wie Alkohole, Aldehyde, Ester oder Ketone an. Rohstoffbasis war kohlestämmiges Paraffingatsch, ein gesättigtes, höhermolekulares Kohlenwasserstoffgemisch und Nebenprodukt der Fischer-Tropsch-Synthese. Die Oxidation der Paraffine erfolgte im flüssigen Zustand durch molekularen Luftsauerstoff unter Spaltung der Kohlenstoffkette in Anwesenheit von Permanganaten, bei Temperaturen im Bereich von etwa 100 bis 120 °C und unter Normaldruck. Die Produkte der Paraffinoxidation standen in Konkurrenz zu natürlich vorkommenden Fettsäuren. Verknappungen durch Konflikte oder Engpässe in der Lebensmittelversorgung verstärkten das Interesse an synthetischen Fettsäureerzeugnissen. In Deutschland erlangte das Verfahren ab Mitte der 1930er Jahre im Rahmen der Autarkiebestrebungen des Deutschen Reichs kommerzielle Bedeutung und wurde bis in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg im großindustriellen Maßstab durchgeführt. Mit diesem Verfahren wurde der Rohstoff für den technischen Fett- und Waschmittelsektor hergestellt; die dafür zuvor benötigten nativen Fette standen damit dem Ernährungssektor zur Verfügung. Weiterhin galt die durch die Paraffinoxidation erstmals ermöglichte großtechnische Erzeugung von künstlichen, für die menschliche Ernährung geeigneten Fetten („Butter“) aus Kohle in der damaligen Zeit als Sensation. Durch die hohe Verfügbarkeit von preiswerten nativen Fetten sowie die Konkurrenz durch erdölstämmige Fettalkohole verlor das Verfahren Anfang der 1950er Jahre in der westlichen Welt an Bedeutung. Verfahrensvarianten wie die Bashkirov-Oxidation, bei der Alkane ohne Kettenspaltung in Gegenwart von Borsäure zu sekundären Alkoholen oxidiert werden, wendet die chemische Industrie aber bis heute für spezielle Synthesen an, beispielsweise für die Produktion von Cyclododecanol. Geschichte Frühe Arbeiten Paraffine sind ein Gemisch aus Alkanen, gesättigten Kohlenwasserstoffen mit der allgemeinen Summenformel CnH2n+2. Ihr Name leitet sich von , wenig beteiligt, ab. Paraffine galten als wenig reaktionsfreudig; mit Reduktionsmitteln wie metallischem Natrium beispielsweise reagieren Paraffine bei Umgebungstemperatur nicht. Im Jahr 1854, nur 19 Jahre nach der Entdeckung der Paraffine durch Karl von Reichenbach, wies Gotthard Hofstädter darauf hin, dass die Paraffine nicht so reaktionsträge sind, wie ihr Name suggeriert. Er berichtete erstmals über Versuche zur Oxidation von Paraffinen durch Kochen mit Salpetersäure. Als Hauptprodukt erhielt er dabei Bernsteinsäure, eine Dicarbonsäure, daneben niedermolekulare, wasserlösliche Monocarbonsäuren. Auch andere starke Oxidationsmittel, wie die von Eduard Meusel verwendete Chromsäure, führten zur Bildung von Carbonsäuren. 1874 beschrieb A. G. Pouchet die Paraffinoxidation mittels eines Gemischs aus rauchender Salpeter- und Schwefelsäure bei Temperaturen unterhalb von 110 °C. Als Produkte fielen erneut eine Reihe von niedermolekularen, wasserlöslichen Carbonsäuren an. Daneben identifizierte Pouchet erstmals eine neue höhermolekulare Carbonsäure, eine Fettsäure, die er „Paraffinsäure“ nannte. Oxidation mit Luft Pompejus Bolley erkannte 1868, dass Paraffine bei einer Temperatur von 150 °C den Luftsauerstoff absorbierten, Carl Engler stellte 1879 bei ähnlichen Untersuchungen die Bildung von wasserlöslichen Fettsäuren fest. Die praktische Bedeutung ihrer Beobachtungen erkannten die Forscher jedoch nicht. Erst einige Jahre später identifizierte Eugen Schaal das kommerzielle Potential dieser Reaktion. Er reichte 1884 das erste Patent für die Umwandlung von Petroleum und ähnlichen Kohlenwasserstoffen in Carbonsäuren durch Oxidation mit Luft ein. Als Katalysator nutzte Schaal unter anderem auf Kieselgur adsorbierte Chlorate, Permanganate oder Nitrate. Die Verwendung von preiswertem Luftsauerstoff stellte einen wesentlichen Fortschritt auf dem Wege zur technischen Umsetzung des Verfahrens dar. Da bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Fettsäuren aus natürlichen Quellen ausreichend zur Verfügung standen, rechnete sich eine Kommerzialisierung dieser Verfahren zunächst nicht. Erst als während des Weltkrieges Fette und damit Fettsäuren zur Mangelware wurden, verstärkte die chemische Industrie die Forschungsanstrengungen, um zumindest den Rohstoff für die Seifenproduktion auf Grundlage von Petroleum oder den bei der Schwelung von Braunkohle anfallenden Teer zu gewinnen. Versuche, die damals bereits bekannten Verfahren in die industrielle Praxis zu überführen, gelangen nur bedingt. Das erste technische Verfahren während des Krieges betrieb die Firma Fanto in Pardubice und nutzte ein Quecksilbersalz als Katalysator. Die erzeugten Fettsäuren waren jedoch von geringer Qualität, die Umsetzung der Paraffine dauerte Tage. Eine Verbesserung von Ausbeute und Qualität gelang durch das systematische Studium des Temperatureinflusses sowie der Luftmenge auf die Qualität des Oxidationsproduktes durch Adolf Grün bei der Schicht AG. Die technisch von der Schicht AG hergestellten Fettsäuren ließen sich gut verseifen, die Seifen lieferten befriedigende Waschwirkung. Nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er Jahren setzten größere Chemieunternehmen wie die IG Farben sowie die Firmen Henkel und Hubbe & Fahrenholz, damals eine der größten und bedeutendsten Ölmühlen in Deutschland, die Forschung auf dem Gebiet der Paraffinoxidation fort. Eine Produktionsstätte der IG Farben in Ludwigshafen stellte ab 1928 synthetische Fettsäuren im kleineren Maßstab her, ein Gemeinschaftsunternehmen der IG Farben und Standard Oil of New Jersey in Baton Rouge produzierte 1931 etwa 3 Tonnen Fettsäuren pro Tag auf Basis von petroleumstämmigen Paraffinen. Die bei dem Verfahren gewonnenen Fettsäuren führten jedoch in der Weiterverarbeitung zu Seifen minderer Qualität mit Geruchsproblemen. Da außerdem die Rohstoffbasis Paraffine knapp und damit teuer war, boten die Verfahren im Vergleich mit den Kosten für die Beschaffung nativer Fettsäuren zu diesem Zeitpunkt wiederum keinen ökonomischen Vorteil. Deutsche Fettsäure-Werke Der Kolloidchemiker Arthur Imhausen, Mitinhaber der Märkischen Seifenindustrie, nahm in den 1930er Jahren die Forschungen von Eugen Schaal wieder auf. Mit seinem Mitarbeiter Werner Prosch entwickelte er das Imhausen-Prosch-Verfahren zur Paraffinoxidation. Das Verfahren verwendete Luft als Oxidationsmittel und Kaliumpermanganat als Initiator. Zunächst verwandte Imhausen Paraffine aus der Hydrierung von Braunkohleschwelprodukten. Der Kommissar für Wirtschaftsfragen Wilhelm Keppler, der sowohl für die Durchführung des Vierjahresplans mit dem Schwerpunkt „Industrielle Fette und Öle“ als auch für die Förderung der Benzinerzeugung zuständig war, bot Imhausen die Verwendung des bei der Fischer-Tropsch-Synthese anfallenden Paraffingatschs als Rohstoff an. Beim Paraffingatsch handelte es sich um eine Mischung von Alkanen ohne wesentliche Verunreinigungen, das bis dahin als störendes Nebenprodukt der Fischer-Tropsch-Synthese galt. Es erwies sich als idealer Rohstoff für die Paraffinoxidation. Durch die Verwertbarkeit aller Kohlesorten in der Fischer-Tropsch-Synthese bestand eine breite Rohstoffbasis für die Gatschherstellung. Weiterhin übernahm das Reich sowohl Preisgarantien für den gelieferten Rohstoff als auch für die produzierten Fettsäuren. Bezogen auf den Paraffingatsch erzielte Imhausen eine Ausbeute bei den Zielprodukten, den Hauptlauffettsäuren mit einer Kettenlänge von 11 bis 20 Kohlenstoffatomen von etwa 50 %. Für eine großtechnische Umsetzung fehlte Imhausen das notwendige Kapital, außerdem gab es technische Probleme bei der Aufarbeitung des Rohfettsäuregemischs. Da Henkel ebenfalls Interesse an Fettsäuren hatte und über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, gründeten Imhausen und Henkel am 21. Februar 1936 die Deutsche Fettsäure-Werke GmbH in Witten als Gemeinschaftsunternehmen zur Herstellung und Vermarktung von Fettsäuren nach dem Imhausen-Prosch-Verfahren. Die Gesellschafter beriefen Arthur Imhausen und Erich Grünthal zu Geschäftsführern, Vorsitzender des Aufsichtsrates wurde der Persil-Erfinder Hugo Henkel. Da auch die IG Farben ein Verfahren zur Paraffinoxidation entwickelt hatte, erfolgte auf Vermittlung von Keppler eine Kooperation zwischen den Deutschen Fettsäure-Werken und der IG Farben zwecks Optimierung der Produktionsverfahren. Das IG Farben-Verfahren bot Vorteile bei der Weiterverarbeitung der Rohfettsäuren. Ab etwa Mai 1938 überwand Imhausen die technischen Schwierigkeiten der Rohfettsäureverarbeitung mit Hilfe des Verfahrens der IG Farben und erhielt ein qualitativ hochwertiges Produkt. Da die Fischer-Tropsch-Kraftstoffe eine niedrige Oktanzahl aufwiesen, baute die nationalsozialistische Wirtschaftsführung stattdessen mehr Hydrieranlagen nach dem Bergius-Pier-Verfahren, die ein höherwertiges Motorenbenzin lieferten; Paraffingatsch wurde schwer erhältlich. Erst ab 1940 steigerten die Fischer-Tropsch-Anlagen ihren Ausstoß erheblich, was zu einer guten Versorgung mit Gatsch führte. Auf Veranlassung von Imhausen ließ Keppler die Fischer-Tropsch-Anlagen auf das Mitteldruckverfahren umstellen, das eine höhere Ausbeute an Paraffingatsch lieferte. Die Werke Ludwigshafen-Oppau und Heydebreck O.S. der IG Farben produzierten je 20.000, das Werk Witten 40.000 Tonnen Fettsäuren pro Jahr. Während das Werk Witten fast nur Fischer-Tropsch-Gatsch verarbeitete, verbrauchte das Werk Oppau zu etwa 80 % braunkohlestämmige TTH-Paraffine, 10 % Fischer-Tropsch-Gatsch und 10 % Nerag-Gatsch, welches aus der Stockpunkterniedrigung von Spindelöl stammte. Butter aus Kohle Vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs deckte die Inlandserzeugung in Deutschland weniger als die Hälfte des Nahrungsfettbedarfs von circa 1,6 Millionen Tonnen, auf dem technischen Sektor mit einem Bedarf von circa 400.000 Tonnen nur etwa 13 %. Den Restbedarf deckte Deutschland durch den Import von Ölen und Fetten von Ölpflanzen aus Ostasien und Südamerika sowie durch arktische Walöle. Die politische Absicht, die Abhängigkeit des Deutschen Reiches vom Import technischer Fette und Nahrungsfette zu beenden, führte bald zur sogenannten Fettlücke. Ab August 1939, vier Tage vor Kriegsbeginn, rationierten die Nationalsozialisten den Bezug von Fetten und steuerten deren Ausgabe über eine Reichsfettkarte. Arthur Imhausen, der jüdischer Abstammung war, gelang es, aus den reinen Fettsäuren der Paraffinoxidation durch Veresterung mit Glycerin das erste synthetische Speisefett der Welt herzustellen und damit die Autarkiebestrebungen des Dritten Reichs zu unterstützen. Auf Vorschlag von Hermann Göring erkannte Adolf Hitler daraufhin Imhausens Familie als Arier an. Ab 1941 stellten die Deutschen Fettwerke Witten in einer Großanlage monatlich 250 Tonnen künstliches Speisefett her. Auf Wilhelm Kepplers Rat hin teilten die Nationalsozialisten das Kunstfett versuchsweise etwa drei Jahre lang an Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen und in den Lagern des Reichsarbeitsdienstes Trebbin und Ruhlsdorf aus. Mediziner der Physiologischen Abteilung des Reichsgesundheitsamts führten daneben Fütterungsversuche an Tieren durch. Als bedenklich galt das Auftreten von ungeradzahligen Fettsäuren, die in nativen Fetten nur selten vorkommen. Negative physiologischen Auswirkungen konnten jedoch nicht nachgewiesen werden. Anteile an ethylverzweigten Carbonsäuren im Fett, sogenannte Isofettsäuren, führten dagegen zur gesundheitlich bedenklichen Dicarbonsäurebildung, die sich schon bei geringer Gabe im Urin nachweisen ließ. Nach dreijähriger Prüfung gab das Reichsgesundheitsamt 1939, wenige Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, unter politischem Druck die Kunstbutter zum Verzehr frei. Das Fett diente als Zusatz zu Schwerarbeiterrationen, zum Kantinenessen in Spitälern und ergänzte die Rationen der Insassen von Arbeits- und Konzentrationslagern sowie von sowjetischen Kriegsgefangenen. Während des Afrikafeldzugs und auf den deutschen Unterseebooten versorgte das Militär die Soldaten mit Speisefett aus der Wittener Produktion. Das Fett wurde durch den hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren kaum ranzig und war daher lange haltbar. Geschmacklich kam es der Butter nahe und es hatte denselben Brennwert. Die Hoffnungen Imhausens auf eine Produktionsmenge jenseits von 100.000 Tonnen pro Jahr erfüllten sich jedoch nicht, während des Kriegs produzierten die Deutschen Fettsäure-Werke nur etwa 3000 Tonnen jährlich. Nachkriegszeit Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren verschlechterte sich die Versorgung der Bevölkerung mit Fett rapide. 1947 sank der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland, der 1938 noch 25,6 Kilogramm betragen hatte, auf 5,7 Kilogramm ab. Politiker und Industrielle versuchten, einen Fettimport anzukurbeln und die Freigabe für die Wiederaufnahme der Fischer-Tropsch-Synthese und das Imhausen-Prosch-Verfahren zu erwirken. Die Produktionsstätten der Deutschen Fettsäure-Werke besaßen für die Herstellung eine betriebsbereite Kapazität von etwa 600 Tonnen synthetischer Butter pro Monat. Dazu setzte die Verwendung synthetischer Fettsäuren für technische Zwecke die gleiche Menge nativer Fettsäuren für Ernährungszwecke frei. Pro Tonne Butter benötigte das Imhausen-Prosch-Verfahren sieben Tonnen Kohle; um dieselbe Menge Butter importieren zu können, war in der Nachkriegszeit etwa der Verkaufserlös der zehnfachen Menge Kohle am Weltmarkt notwendig. Zwar gelang es Arthur Imhausens Sohn, Karl-Heinz Imhausen, die Produktion von kohlestämmigen Seifen und Fetten in der Nachkriegszeit kurzzeitig wieder aufzunehmen, wobei das Werk Witten 1946 etwa 350 Tonnen synthetisches Fett pro Monat produzierte. Das Interesse an der Paraffinoxidation und kohlestämmigen Fettsäuren endete aber in den 1950er Jahren mit dem Einsetzen des Wirtschaftswunders. Das plötzlich vorhandene Überangebot an Naturfetten auf dem Weltmarkt führte zu einem starken Preisverfall bei Fetten und Fettsäuren. Auf dem Tensidmarkt konkurrierten die kohlestämmigen Fettsäuren sowohl mit oleochemischen als auch petrochemischen Produkten wie den Ziegler-Alkoholen. Während dadurch in der westlichen Welt das Verfahren nicht mehr konkurrenzfähig war und Fettsäuren kaum noch künstlich hergestellt wurden, wurden sie in der Sowjetunion und China weiterhin produziert. So wurden 1978 in der Sowjetunion und China über 500.000 Tonnen Fettsäuren durch Oxidation an Mangan-Katalysatoren aus Wachs und Kerosin gewonnen. Rohstoffe Die in der Oxidation eingesetzten Paraffine besitzen eine Kohlenstoffkettenlänge von etwa 18 bis 30 Kohlenstoffatomen, entsprechend einem Schmelzbereich von 28 bis 66 °C und einem Siedebereich von 320 bis 460 °C. Aus Paraffinen dieses Kettenlängenbereichs lassen sich die Zielprodukte, die Fettsäuren mit einer Kettenlänge von 10 bis 18 Kohlenstoffatomen, in größter Ausbeute gewinnen. Die Paraffine sollten zum Erlangen einer hohen Produktqualität möglichst geradkettig sein. Die aus verzweigten Fettsäuren hergestellte Seife hatte eine schlechte Waschwirkung und einen charakteristischen Geruch. Der Sauerstoff greift bei verzweigten Paraffinen außerdem bevorzugt am tertiären Wasserstoffatom an. Dabei entstehen zwar geradkettige Fettsäuren, jedoch mit einem überproportional großen Anteil an niedermolekularen Fettsäuren. Die Paraffine stammten hauptsächlich aus zwei Verfahren, der Hochdruckhydrierung von Braunkohle und deren Verschwelungsteeren sowie aus der Fischer-Tropsch-Synthese. Beim Tieftemperatur-Hochdruck-Hydrierverfahren entstanden geradkettige, so genannte TTH-Paraffine mit einem Verzweigungsgrad von etwa 10 bis 15 %. Obwohl Braunkohle in großer Menge zur Verfügung stand, führten die Absatzprobleme der Nebenprodukte der Verschwelung nur zu einer relativ geringen Verfügbarkeit an geeigneten Paraffinen aus dieser Quelle. Daneben eignen sich die bei der Harnstoff-Extraktiv-Kristallisation von Schmierölen anfallenden n-Alkane ebenfalls als Rohstoffe. Beim Niederdruckverfahren der Fischer-Tropsch-Synthese fiel Paraffingatsch mit der richtigen Kohlenstoffkettenlängenverteilung an. Besser geeignet war das Gatsch des Mitteldruckverfahrens, da es besonders geradkettig war, aber noch 15 bis 20 % kurzkettig verzweigte Paraffine aufwies. Diese eigneten sich aufgrund ihrer tertiären Wasserstoffatome, die einem oxidativen Angriff leichter zugänglich sind, besonders gut als Startmaterial für die Paraffinoxidation. Außerdem war die Ausbeute an Zielparaffinen im Mitteldruckverfahren etwa vier bis fünf Mal höher als beim Niederdruckverfahren. Dafür war der Kettenlängenbereich zu höheren Kettenlängen verschoben, was eine destillative Vorbereitung des Gatschs erforderte. Wegen ihrer inhibierenden Wirkung lag die Grenze für den Anteil an schwefelhaltigen Verbindungen und Phenolen bei 0,05 %. Eine Hydrierung des Rohstoffs entfernte störende Olefine und sauerstoffhaltige Verbindungen. Petroleum eignete sich wegen des Naphthengehalts, der zu zähflüssigen Fettsäuren minderer Waschqualität führte, kaum als Rohstoff für die Paraffinoxidation. Langkettig verzweigte Paraffine, Olefine und Naphthene führten in der Oxidation außerdem zu höheren Anteilen an unerwünschten Hydroxycarbonsäuren. Die Prüfung der Wachseignung geschah mittels einer Test-Oxidation. Verfahren Das Verfahren bestand aus den drei Hauptschritten Oxidation, der Aufarbeitung des Oxidationsgemisches zu Rohfettsäuren und schließlich deren destillative Trennung in Fettsäurefraktionen. Die chemische Industrie verarbeitete die Fettsäurefraktionen weiter zu Endprodukten wie Seifen, Waschmitteln, Weichmachern und synthetischem Fett. Die Betreiber führten die Paraffinoxidation fast ausschließlich in einer Batch-Fahrweise durch, also diskontinuierlich. Oxidation Die Oxidation stellte eine wichtige Verfahrensstufe dar. Das Paraffin reagierte dazu im flüssigen Zustand bei möglichst niedrigen Temperaturen und in Gegenwart eines Katalysators etwa 15 bis 30 Stunden lang mit Luftsauerstoff, bis etwa 30 bis maximal 50 % des Paraffins in Fettsäure umgewandelt waren. Dadurch minimierte sich die Bildung von unerwünschten Nebenprodukten, wie den in Petrolether unlöslichen Anteilen an Dicarbonsäuren, Hydroxycarbonsäuren und niedermolekularen Fettsäuren. Nach einer kurzen, für autokatalytische Reaktionen typischen Latenzphase sprang die Oxidation an, was an einer Wasserbildung sowie dem Anstieg der Säurezahl des Produkts festzustellen war. Enthielt das Rohmaterial Inhibitoren, mussten sie erst oxidiert werden, bevor die Reaktion ansprang. Die Anwesenheit von cyclischen und ungesättigten Kohlenwasserstoffen führte dagegen zur Bildung von Inhibitoren, die eine schon angesprungene Reaktion wieder unterdrückten oder zum Stillstand brachten. Die Reaktion verlief schematisch nach der allgemeinen Gleichung: Die entstandenen Fettsäuren unterlagen weiterhin der Nachoxidation, so dass gegenüber der statistisch zu erwartenden Verteilung eine übermäßige Menge an niedermolekularen Fettsäuren entstanden. Als nicht-flüchtige Produkte entstanden Fettsäuren, Alkohole, Aldehyde, Ketone, Ester sowie Lactone, als flüchtige Produkte entstanden Kohlenstoffdioxid, Wasser, niedermolekulare Carbonsäuren und deren Ester, sowie Peroxide, Aldehyde und Alkohole. Druck und Temperatur Ein hoher Reaktionsdruck erhöhte den Anteil des in Paraffin gelösten Sauerstoffs und damit die Reaktionsgeschwindigkeit. Eine Verdopplung der Drucks halbierte in etwa die Reaktionszeit. In Magdeburg errichtete Hubbe & Fahrenholz während des Zweiten Weltkriegs eine Anlage, die bei einem Druck von 25 bar und ohne Katalysator arbeiten sollte. Die Firma nahm die Anlage aber nicht mehr in Betrieb. Alle anderen Anlagen arbeiteten unter Normaldruck. Der gelöste Sauerstoffanteil erhöhte sich über eine feinverteilte Einperlung der Luft, zum Beispiel über Filterkerzen oder Füllkörper. Bei Temperaturen oberhalb von 170 bis 180 °C verlief die Oxidation recht schnell, aber es entstanden überoxidierte Produkte, die für eine Weiterverarbeitung zu Tensiden nicht geeignet waren. Von Vorteil für die Gewinnung reiner Fettsäuren war eine relativ tiefe Oxidationstemperatur. Bei einer Umsatzbegrenzung auf etwa 30 % und bei Temperaturen von 105 bis 120 °C gewann die chemische Industrie Fettsäuren in hoher Selektivität und guter Qualität. Die für industrielle Belange zu lange Reaktionszeit machte den Einsatz eines Katalysators notwendig. Katalysator/Initiator Die für Paraffinoxidation verwendeten Katalysatoren waren vielfältig. Oft handelte es sich um Oxide von Nebengruppenmetallen, etwa Cobaltsalze. Als guter Initiator für die Paraffinoxidation erwies sich Kaliumpermanganat. Alkalimetall-Salze agierten als Cokatalysator, die dem Verfahren über die Seifenanteile der aufgearbeiteten und rezyklierten Paraffine zugeführt wurden. Eine Suspension des Kaliumpermanganats in den Paraffinen entstand durch Zugabe und schnelles Rühren einer konzentrierten wässrigen Permanganat-Lösung. Bei Temperaturen über 100 °C verdampfte das Wasser und es verblieb eine feinverteilte Suspension des Initiators. Die verwendete Menge betrug zirka 0,1 bis 0,3 % der eingesetzten Paraffinmenge und variierte mit der Qualität des Rohmaterials. Durch die Zugabe des Katalysators erreichten die Betreiber bei relativ niedrigen Temperaturen von 110 bis 120 °C einen Zielumsatz von etwa 30 % nach 10 bis 15 Stunden Reaktionszeit. Eine niedrige Reaktionstemperatur unterdrückte die Bildung unerwünschter Nebenprodukte wie Hydroxy- oder Dicarbonsäuren, die Produktfarbe verbesserte sich. Verfahrensführung Die Paraffinoxidation wurde in säurebeständigen Stahl- oder Aluminiumreaktoren durchgeführt. Diese besaßen einen Durchmesser von 1–3 Metern und eine Höhe von 8–12 Metern. Die Luft perlte über Filterplatten oder -kerzen ein, die Luft verteilte sich im Reaktor über Füllkörper. Die flüchtigen Säuren und Nebenprodukte lösten sich in mit Wasser befülltem Wäscher. Die Oxidation einer Tonne Paraffin benötigte etwa 50 Kubikmeter Luft pro Stunde. Der Reaktionsstart erforderte anfangs eine Temperatur von etwa 150 °C. Nach dem Anspringen der Reaktion, nach etwa 20 bis 60 Minuten, wurde die Reaktionstemperatur auf unter 120 °C gesenkt. Die überschüssige Luft transportierte niedermolekulare Anteile ab. Das Anspringen der Reaktion zeigte sich durch Wasseranfall in einem Kondensator, der auch die leichtflüchtigen Oxidationsprodukte auffing. Da die Oxidation exotherm war, musste der Reaktor gekühlt werden. Die freigesetzte Wärmemenge entsprach etwa 4,5 % der Verbrennungswärme des Paraffins, pro Tonne Oxidationsprodukt etwa 2100 Megajoule. War die Säurezahl von 70 erreicht, so bedeutete dies, dass der Zielumsatz erreicht war und die Oxidation abgebrochen werden konnte. Der Umsatz betrug dann etwa 30 %. Die Umsatzbegrenzung reduzierte die Bildung von Fettsäurefolgeprodukten wie Hydroxycarbonsäuren und Dicarbonsäuren. Aufarbeitung der Rohfettsäuren Die Rohfettsäuren enthielten eine Mischung von Carbonsäuren aller der im eingesetzten Paraffin enthaltenen Kettenlängen, nicht umgesetztes Paraffin sowie ein breites Spektrum von Oxidationsprodukten. In der Aufarbeitung wurden die im Oxidationsprodukt enthaltenen Fettsäuren zuerst mit Wasser gewaschen, um die niedermolekularen sauren Bestandteile sowie den Katalysator abzutrennen. Zur Abtrennung der Fettsäuren von den unverseifbaren Anteilen erfolgte zunächst eine Neutralisation des Rohoxidats mit Natronlauge unter Seifenbildung. Bei höherer Temperatur verseiften auch die entstandenen Ester. Die unverseifbaren Anteile wurden dann in einem Rührkessel mit 45-prozentigem Ethanol oder 20-prozentigem 2-Propanol gemischt. Die Seife löste sich in dem Alkohol, während die unverseifbaren Anteile sich als ölige Schicht auf dem Alkohol-Seifen-Gemisch absetzten. Die ölige Schicht, die meist Paraffine enthielt und als Unverseifbares I (UV I) bezeichnet wurde, wurde in den Oxidationsprozess zurückgeführt. Der Anteil des UV I am Gesamtanteil unverseifbarer Komponenten betrug etwa 85 %. Die restlichen unverseifbaren Anteile, als Unverseifbares II (UV II) bezeichnet, enthielt neben Resten von Paraffinen vor allem Oxidationsprodukte wie Alkohole, Ester und Lactone. Durch Extraktion mit Benzin im Gegenstrom entfernten die Anlagenbetreiber diese Anteile. Getrennt wurden UV II und Benzin durch Destillation. Nach der Trennung von Alkohol- und Seifenphase durch Destillation erfolgte im letzten Schritt die Rückgewinnung der Fettsäuren durch Ansäuern mit Mineralsäuren wie Schwefel- oder Salzsäure. Durch Waschen mit Wasser wurden Reste von kurzkettigen Carbonsäuren entfernt. Anschließend zerlegte eine Wasserdampfvakuumdestillation die Fettsäuren in einzelne Fraktionen. Produkte Die Hauptlauffettsäuren mit einer Kohlenstoffkettenlänge von etwa 10 bis 20 Kohlenstoffatomen wurden mit Natronlauge zu Seifen neutralisiert. Im Gegensatz zu nativen Fettsäuren enthielten die synthetischen Fettsäuren Anteile an ungeraden Kohlenstoffketten. Die Waschkraft der so erhaltenen Seifen unterschied sich nicht von den Seifen aus nativen Quellen. Die Anwesenheit von unverseifbaren Anteilen, die Gegenwart von Lactonen sowie die Anwesenheit von verzweigtkettigen Fettsäuren führte zum Teil zu Geruchsproblemen. Eine Hydrierung reduzierte die Fettsäuren zu Fettalkoholen. Durch Sulfatierung mit Schwefeltrioxid entstanden aus den Fettalkoholen Fettalkoholsulfate. Durch Veresterung mit Glycerin stellte Imhausen als erster im großtechnischen Maßstab Fette und durch Emulgation später Butter aus den synthetischen Fettsäuren her. Dafür verwendeten die Fettsäure-Werke nur natürliches Glycerin von ungenießbaren Fetten. Ein synthetisches Glycerin, das die IG Farben in Heydebreck herstellte, erwies sich als nicht rein genug für diesen Zweck. Die Fettsäuren werden mit der stöchiometrischen Menge von Glycerin unter Verwendung von Zinkstaub verestert. Nach Beendigung der Reaktion löste eine Behandlung mit 20-prozentiger Schwefelsäure das Zink auf. Nach der Neutralisation mit Natronlauge wurden mit einem Gemisch aus Aktivkohle und Bleicherde Seifenspuren entfernt. Durch Vakuumdestillation erhielt Imhausen ein reines Fett, das zum Verzehr geeignet war. Die Vorlauffettsäuren wurden hauptsächlich zum Alkohol reduziert und nach Veresterung mit Phthalsäureanhydrid oder anderen Anhydriden zu Weichmachern verarbeitet. Die Nachlauffettsäuren mit höherer molarer Masse führten die Betreiber wieder in den Oxidationsprozess zurück. Das Luftkühlerkondensat enthielt etwa 80 % Ameisensäure und 9 % Essigsäure und dienten zur Konservierung von Viehfutter. Die Lackindustrie verwendete den Rückstand der Fettsäuredestillation als Bindemittel für Pigmente. Mechanismus Die ersten Ansatz zur Erklärung der Oxidation von paraffinischen Kohlenwasserstoffen lieferte die von Alexei Nikolajewitsch Bach und Carl Engler entwickelte Peroxidtheorie, die als Engler-Bach-Theorie bekannt ist. Demnach bildet sich bei der Oxidation im ersten Schritt ein sekundäres Hydroperoxid. Diese Theorie, nach der sich dieses Hydroperoxid anschließend radikalisch zersetzt, bestätigten spätere Untersuchungen von Eric Rideal. Die Funktion des Metallkatalysators ist es, die Geschwindigkeit sowohl der Bildung als auch der Zersetzung dieses Hydroperoxid zu erhöhen. Dabei entsteht unter anderem ein Alkylradikal, das mit Sauerstoff zu einem Peroxoradikal reagiert. Dieses bildet durch Abstraktion eines Wasserstoffatoms aus einem weiteren Paraffinmolekül ein neues Alkylradikal sowie ein Hydroperoxid. Alkalisalze zersetzen ebenfalls die Peroxide und reagieren als Co-Katalysator. Die relative Geschwindigkeit des Sauerstoffangriffs auf primäre, sekundäre und tertiäre Wasserstoffatome beträgt etwa 1 : 3 : 33. Der Angriff an den hauptsächlich vorkommenden sekundären Wasserstoffatomen erfolgt rein statistisch und führt dazu, dass ein nahezu äquimolares Gemisch aller theoretisch möglichen Carbonsäuren gebildet wird. Durch die Vielzahl der entstehenden Produkte gestaltete sich die genaue Aufklärung des Reaktionsmechanismus als schwierig. Die Reaktionsfolge der Oxidation und die Bildung der Haupt- und Nebenprodukte erklärt sich am besten nach dem von Wolfgang Langenbeck und Wilhelm Pritzkow entworfenen Schema: Als erste Stufe bildet sich ein Hydroperoxid, das als Hauptreaktion in Wasser und ein Keton zerfällt. Als Nebenreaktion entstehen sekundäre Alkohole gemäß folgendem Reaktionsschema: Das Keton unterliegt der Weiteroxidation. Bevorzugt wird dabei die Methylengruppe in α-Stellung zur Ketogruppe oxidiert. Das dabei entstehende α-Ketohydroperoxid zerfällt unter Umlagerung in ein Aldehyd und eine Carbonsäure. Pritzkow nutzte Cyclohexanon als Modellsubstanz und zeigte damit die Richtigkeit der Modellvorstellung. Das Aldehyd geht über die Stufe der Peroxycarbonsäure und Weiterreaktion mit einem weiteren Aldehyd in die Carbonsäure über. Die Bildung der Carbonsäureester und weiterer Carbonsäuren erfolgt über die Baeyer-Villiger-Oxidation des Ketons mit Peroxycarbonsäure gemäß folgender Gleichung: Eine weitere Reaktionsmöglichkeit der α-Ketohydroperoxide ist die Bildung von Diketonen. Diese reagieren mit Peroxycarbonsäuren unter Bildung von Säureanhydriden und Carbonsäuren. Bashkirov-Oxidation Wird die Paraffinoxidation in Gegenwart von Borsäure durchgeführt, entstehen als Hauptprodukt sekundäre Fettalkohole. Dieses Verfahren wird nach seinem Entdecker Andrei Nikolajewitsch Bashkirov, der das Verfahren in den 1950er Jahren entwickelte, Bashkirov-Oxidation genannt. Bei der Bashkirov-Oxidation kommt es nicht zu einem Abbau des ursprünglichen Paraffins, die entstehenden Alkohole entsprechen in ihrer Kettenlänge den als Rohmaterial eingesetzten Paraffinen. Die Kettenlängen des Ursprungsparaffine sind im Vergleich zu den in der Paraffinoxidation eingesetzten dementsprechend kürzer. Das Verfahren wird bei einer Temperatur von 150 bis 160 °C, einem Anteil von 0,1 % Kaliumpermanganat als Initiator und etwa 5 % Borsäure durchgeführt. Die Borsäure fängt die entstehenden Hydroperoxide ab und überführt sie in deren Ester, die unempfindlich gegen die weitere Oxidation sind. Durch anschließende Hydrolyse des Esters werden sekundäre Alkohole erhalten, die zu sekundären Alkylsulfaten oder mit Ethylenoxid zu nichtionischen Tensiden umgesetzt werden. Um Nebenreaktionen einzudämmen, wird der Umsatz auf etwa 20 % begrenzt, der Sauerstoffgehalt der Luft wird durch Verdünnung mit Stickstoff auf 3,5 % gesenkt. Der Umsatz lässt sich bei diesem Verfahren infrarotanalytisch durch die Absorptionsintensität der Bor-Sauerstoff-Streckschwingung von Boratwachs überwachen. Die Bashkirov-Oxidation findet in speziellen Verfahren Anwendung, etwa bei der Herstellung von Cyclododecanon. Dabei wird über die Oxidation von Cyclododecan mit Luftsauerstoff Cyclododecanol gewonnen, das zum Cyclododecanon dehydriert wird. Literatur Friedrich Asinger: Chemie und Technologie der Paraffinkohlenwasserstoffe. Akademie Verlag, 1956. Wilhelm Keim, Arno Behr, Günther Schmitt: Grundlagen der Industriellen Chemie. Otto Salle Verlag, 1985, ISBN 3-7935-5490-2. Klaus Weissermel, Hans-Jürgen Arpe: Industrielle Organische Chemie: Bedeutende Vor- und Zwischenprodukte. Wiley-VCH, 2007, ISBN 978-3-527-31540-6. Birgit Pelzer-Reith und Reinhold Reith: „Fett aus Kohle“? Die Speisefettsynthese in Deutschland 1933-1945. In: Technikgeschichte, Bd. 69 (2002), H. 3, S. 173–205. Weblinks Welt im Film 121/1947 – 19. September 1947 (von 2:40 bis 4:20 min.), Fett aus Kohle, Wochenschau von 1947 über die Produktion von Butter und Seife bei den Deutschen Fettsäurewerken Einzelnachweise Chemisch-technisches Verfahren Industriegeschichte (Deutschland) Technikgeschichte (20. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Otto%20I.%20%28HRR%29
Otto I. (HRR)
Otto I. der Große (* 23. November 912; † 7. Mai 973 in Memleben) aus dem Geschlecht der Liudolfinger war ab 936 Herzog von Sachsen und König des Ostfrankenreiches (regnum francorum orientalium), ab 951 König von Italien und ab 962 römisch-deutscher Kaiser. Otto setzte während der ersten Hälfte seiner langen Herrschaftszeit die Unteilbarkeit des Königtums und seine Entscheidungsgewalt bei der Ämtervergabe durch. Damit griff er tief in das bestehende Herrschaftsgefüge des Adels ein. Die schwersten Aufstandsbewegungen gingen von den Mitgliedern der Königsfamilie selbst aus. Ottos Bruder Heinrich und sein Sohn Liudolf erhoben Anspruch auf Teilhabe an der Königsherrschaft. Aus den Aufständen ging jeweils Otto als Sieger hervor. Durch seinen Sieg 955 in der Schlacht auf dem Lechfeld über die Ungarn endeten nicht nur deren Invasionen, sondern auch die Erhebungen der Großen des Reiches gegen den König. Zudem erlangte er damit den Nimbus eines Retters der Christenheit, zumal ihm noch im selben Jahr ein Sieg über die Slawen gelang. In der Folge setzte eine kulturelle Blütezeit ein, die als Ottonische Renaissance bekannt wurde. 961 eroberte er das Königreich Italien und dehnte sein Reich nach Norden, Osten und bis nach Süditalien aus, wo er in Konflikt mit Byzanz geriet. Dennoch ließ er sich unter Rückgriff auf die Kaiseridee Karls des Großen 962 von Papst Johannes XII. in Rom zum Kaiser krönen, und schließlich gelang ihm sogar ein Ausgleich mit dem byzantinischen Kaiser und die Verehelichung seines Sohnes Otto II. mit dessen Nichte Theophanu. Im Jahr 968 gründete er ein Erzbistum in Magdeburg, jener Stadt, die wie keine zweite mit seinem Nachleben verbunden ist. Das Erzbistum war für Otto die entscheidende Voraussetzung für die Christianisierung der Slawen. Der Beiname „der Große“ gilt spätestens seit dem mittelalterlichen Geschichtsschreiber Otto von Freising als festes Namensattribut. Schon Widukind von Corvey nannte ihn totius orbis caput, das „Haupt der ganzen Welt“. Leben Thronfolger Otto wurde 912 als Sohn des Sachsenherzogs Heinrich I., der im Jahr 919 König des Ostfrankenreiches wurde, und dessen zweiter Ehefrau Mathilde vielleicht in Wallhausen geboren. Mathilde war eine Tochter des sächsischen Grafen Dietrich aus der Familie Widukinds. Aus der annullierten ersten Ehe Heinrichs I. hatte Otto den Halbbruder Thankmar. Ottos jüngere Geschwister waren Gerberga, Hadwig, Heinrich sowie Brun. Über seine Jugend und Erziehung ist nichts bekannt, seine Ausbildung dürfte aber militärisch geprägt gewesen sein. Erste Erfahrungen als Heerführer sammelte Otto an der Ostgrenze des Reiches im Kampf gegen slawische Stämme. Mit einer vornehmen Slawin zeugte Otto als Sechzehnjähriger den Sohn Wilhelm, der später Erzbischof von Mainz wurde. Nach dem Tod Konrads I., dem es nicht gelang, die Großen des Reiches in seine Herrschaft einzubinden, war 919 die Königswürde erstmals nicht an einen Franken, sondern an einen Sachsen übergegangen. Zwar war Heinrich nur von den Franken und Sachsen gewählt worden, doch durch eine geschickte Politik der militärischen Unterwerfung und der anschließenden Freundschaftsbindung samt zahlreichen Zugeständnissen (amicitia und pacta) verstand er es, die Herzogtümer Schwaben (919) und Bayern (921/922) an sich zu binden. Außerdem gelang es Heinrich, Lothringen, das sich zu Zeiten Konrads dem Westfrankenreich angeschlossen hatte, dem ostfränkischen Königreich wieder anzugliedern (925). Um seiner Familie die durch ihn erlangte Herrschaft über das Ostfrankenreich und diesem zugleich die Einheit zu sichern, wurde zumindest 929/930 eine Vorentscheidung zugunsten der alleinigen Thronfolge Ottos getroffen. In einer an seine Gemahlin gerichteten Urkunde vom 16. September 929, der sogenannten „Hausordnung“, bestimmte Heinrich mit Quedlinburg, Pöhlde, Nordhausen, Grone und Duderstadt das Witwengut für Mathilde. Alle Großen des Reiches und sein Sohn Otto wurden zur Anerkennung und Unterstützung dieses „Testaments“ aufgerufen. Der jüngste Sohn Brun wurde Bischof Balderich von Utrecht zur Erziehung übergeben und damit auf eine geistliche Laufbahn vorbereitet. In einem Memorialbuch des Klosters Reichenau wird Otto bereits 929 als rex (König) bezeichnet, nicht aber seine Brüder Heinrich und Brun. Mit dem Titel rex war Otto allerdings noch nicht als Mitkönig installiert. Für eine herrscherliche Tätigkeit in der Zeit zwischen 929 und 936 fehlt jeder Beleg, vielmehr wird Otto in diesem Zeitraum in den Quellen gar nicht erwähnt. Heinrichs Nachfolgeregelung schloss nicht nur die nicht-sächsischen Anwärter, sondern auch die Brüder Ottos aus. Sie war bedeutsam, da Heinrich das Prinzip der karolingischen Herrschaftsteilung aufgab, die jedem Mitglied des Königshauses eine Anwartschaft zuerkannt hatte. Er begründete damit die Individualsukzession, die Unteilbarkeit des Königtums und damit des Reiches, die auch seine Nachfolger beibehalten sollten. Gleichzeitig zu den Krönungsvorbereitungen warben die Ottonen beim englischen Königshaus um eine Braut für Otto. Heinrich bemühte sich auf diese Weise, Dynastien außerhalb seines Reiches an sein Haus zu binden, was bis dahin im ostfränkischen Reich unüblich gewesen war. Neben der zusätzlichen Legitimation durch die Verbindung mit einem anderen Herrscherhaus spiegelte sich darin eine Stärkung des „Sachsentums“, da sich die englischen Herrscher auf die im 5. Jahrhundert auf die Insel ausgewanderten Sachsen beriefen. Darüber hinaus brachte die Braut das Prestige mit, aus der Familie des als Märtyrerkönig gestorbenen Heiligen Oswald zu stammen. Nachdem die zwei Halbschwestern Edgith und Edgiva des englischen Königs Æthelstan an den Hof Heinrichs I. gereist waren, wurde Edgith als Braut für Otto ausgewählt. Ihre Schwester heiratete den westfränkischen König Karl III. den Einfältigen. Nach der Heirat Ottos erhielt seine angelsächsische Gemahlin Edgith 929 Magdeburg als Morgengabe. Zu Pfingsten 930 stellte Heinrich den designierten Thronfolger in Franken und in Aachen den Großen der jeweiligen Region vor, um deren Zustimmung für seine Thronfolgeregelung einzuholen. Nach einer Notiz aus den im 13. Jahrhundert kompilierten Lausanner Annalen, die nachweislich aus einer Quelle des 10. Jahrhunderts stammt, wurde Otto bereits 930 in Mainz zum König gesalbt. Im Frühsommer 936 wurde in Erfurt über den Bestand des Reiches beraten (de statu regni). Heinrich empfahl den Großen nochmals eindringlich Otto als seinen Nachfolger. Thronbesteigung Nach dem Tod Heinrichs I. am 2. Juli 936 wurde die Nachfolge seines Sohnes Otto innerhalb weniger Wochen realisiert, wozu ein gut 30 Jahre später abgefasster Bericht von Widukind von Corvey vorliegt. Möglicherweise projizierte Widukind Details von der Königswahl Ottos II. aus dem Jahr 961 auf 936 zurück. Widukinds detaillierte Darstellung wird derzeit in nahezu allen Einzelheiten diskutiert. Otto soll von Franken und Sachsen zum Oberhaupt gewählt (elegit sibi in principem) und die Pfalz Aachen als Ort einer allgemeinen Wahl (universalis electio) bestimmt worden sein. Am 7. August 936 setzten die Herzöge, Markgrafen und übrigen weltlichen Großen Otto in der Vorhalle des Aachener Münsters auf den dortigen Thron und huldigten ihm. Mitten in der Kirche wurde die Zustimmung des Volkes zur Erhebung des Königs eingeholt. Es folgte die Insignienübergabe (Schwert mit Schwertgurt, Armspangen und Mantel, Zepter und Stab) durch den Mainzer Erzbischof Hildebert von Mainz. Otto wurde von den Erzbischöfen Hildebert von Mainz und Wichfried von Köln in der Stiftskirche zum ostfränkischen König gesalbt und gekrönt. Der Salbungsakt bildete den Anfang einer Vielzahl geistlicher Akte, die dem Königtum jene sakrale Würde verliehen, auf die sein Vater noch demütig verzichtet hatte. Otto knüpfte durch die Wahl des Krönungsortes und bewusstes Tragen fränkischer Kleidung bei der Zeremonie an die fränkisch-karolingische Tradition des Königtums an. Der Wahl- und Krönungsort im lothringischen Reichsteil sollte nicht nur die neue Zugehörigkeit Lothringens zum ostfränkischen Reich betonen, vielmehr war Aachen als Grabstätte Karls des Großen auch ein Symbol der Kontinuität und der Legitimation. Beim anschließenden Festmahl versahen die Herzöge Giselbert von Lothringen als Kämmerer, Eberhard von Franken als Truchsess, Bayerns Arnulf als Marschall und der Schwabe Hermann als Mundschenk die Hofämter. Indem sie diesen Dienst übernahmen, symbolisierten die Herzöge die Zusammenarbeit mit dem König und zeigten so auch recht deutlich ihre Unterordnung unter den neuen Herrscher. Für das Krönungsmahl mit symbolischem Dienst der Herzöge gibt es keine älteren Vorbilder. Die Königserhebung gliederte sich so in geistliche und weltliche Akte. Die Bedeutung der sakral-göttlichen Legitimierung und der gesteigerte Herrschaftsanspruch gegenüber seinem Vater wird auch in der Veränderung der Herrschaftszeichen deutlich. Den ostfränkischen Typus des Siegels, der einen von Gott begünstigten Heerführer zeigt, führte er fort. Ab 936 wird jedoch die Gottesgnadenformel DEI Gratia in die Umschrift des Königssiegels eingefügt. Herrschaftsantritt Trotz seiner Designation trat Otto seine Herrschaft wohl nicht so einvernehmlich und harmonisch an, wie es der Bericht Widukinds suggeriert; bereits vor der Krönung scheint die Herrscherfamilie zerstritten gewesen zu sein, da Ottos Bruder Heinrich ebenfalls die Königswürde beansprucht hatte, wie der Westfranke Flodoard von Reims berichtet. Auch bildete sich Heinrich als Königssohn wohl viel darauf ein, dass die Urkunden ihn bereits kurz nach der Geburt sowie seinen Vater als equivocos („Träger des gleichen Namens“) bezeichneten. Während der Krönung Ottos blieb Heinrich unter Aufsicht des Markgrafen Siegfried in Sachsen. Das Verhältnis zwischen Otto und seiner Mutter scheint ebenfalls gespannt gewesen zu sein. Mathilde war wohl bei der Königserhebung ihres Sohnes Otto nicht anwesend, da sie am 31. Juli noch in Quedlinburg weilte. Die Viten der Königin Mathilde überliefern, dass Ottos Mutter die Thronfolge durch ihren jüngeren Sohn Heinrich bevorzugt hätte. Heinrich war im Gegensatz zu Otto „unter dem Purpur“ geboren, also nach der Krönung Heinrichs I., was für sie eine höhere Würde bedeutete. Fünf Wochen nach der Thronbesteigung ordnete Otto in Quedlinburg das Witwengut für seine Mutter Mathilde neu. Eine Stiftungsurkunde vom 13. September 936 entzog Mathilde die von Heinrich I. zugesicherte Kontrolle über das von ihr gegründete Stift Quedlinburg zugunsten des königlichen Schutzes. Seinen Nachkommen sicherte Otto in der Urkunde die Verfügungsgewalt über das Kloster „solange sie den Thron mit machtvoller Hand innehaben“. Vom Anspruch auf die Vogtei über Quedlinburg wurden zunächst der eigene Bruder und seine Nachkommen ausgeschlossen, solange ein Mann aus der Nachkommenschaft (generatio) Ottos in „Franken und Sachsen“ zum Königsamt gelangt. Gleichzeitig legte Otto Quedlinburg als Ort der Memoria für sein Herrschergeschlecht fest und machte es zum wichtigsten Ort der Ottonen in ihrem sächsischen Kernland. Beim ersten Besuch des Königs am Grab seines Vaters demonstrierte Otto somit die „Individualsukzession“ und die Führung innerhalb der ottonischen Familie. Am 21. September 937 erhöhte Otto mit der Gründung des Mauritiusklosters den kirchlichen Rang Magdeburgs. In seiner Gründungsurkunde gab Otto den Mönchen die Aufgabe, für das Seelenheil seines Vaters, seiner Gemahlin und seiner Kinder, seiner selbst sowie all derjenigen zu beten, denen er Gebetshilfe schuldig sei. Auseinandersetzungen innerhalb der Königsfamilie und im Reich Ottos Herrschaftsbeginn war von einer schweren Krise begleitet, deren Ursache Widukind von Corvey und Liudprand von Cremona jeweils unterschiedlich überliefern. Liudprand stützte sich auf am Hof kursierende Gerüchte und Anekdoten, die die Gegner Ottos diffamierten. Er nennt zwei Ursachen: zum einen die Herrschaftssucht Heinrichs, der sich durch die alleinige Nachfolge seines Bruders benachteiligt fühlte, zum anderen die Ambitionen der Herzöge Eberhard und Giselbert. Beiden wird unterstellt, sie hätten ihrerseits nach Ausschaltung zunächst Ottos und dann ihrer Verbündeten die Königswürde erlangen wollen. Widukind berichtet hingegen, dass Otto bei der Neubesetzung der Ämter die Ansprüche mächtiger Adliger übergangen habe. Nach dem Tod des Grafen Bernhard aus der Familie der Billunger Ende 935 besetzte Otto den Posten des Heerführers (princeps militae) statt mit dem Grafen Wichmann mit dessen jüngerem und ärmerem Bruder Hermann Billung, obwohl der übergangene Wichmann überdies mit einer damals schon verstorbenen Schwester der Königin Mathilde verheiratet gewesen war. Otto hatte damit die Rangordnung in der betroffenen Adelsfamilie empfindlich verändert. Im Jahr 937 war in Sachsen mit Siegfried von Merseburg der secundus a rege (der zweite Mann nach dem König) gestorben. Siegfrieds Kommando im südlichen Teil der sächsisch-slawischen Grenze vergab Otto an Gero. Mit Gero wurde ein jüngerer Bruder des verstorbenen Grafen Siegfried ernannt, obwohl Ottos Halbbruder Thankmar durch seine Mutter Hatheburg mit diesen Grafen versippt war und als Königssohn berechtigtere Ansprüche auf die Nachfolge zu haben glaubte. Ebenfalls im Jahre 937 starb der Bayernherzog Arnulf, der mit Heinrichs I. Billigung nahezu königsgleich in Bayern geherrscht hatte. Seine Söhne verschmähten es aus Hochmut, sich auf des Königs Befehl in dessen Gefolgschaft zu begeben, wenn man der topischen Darstellung Widukinds hierin glauben will. Der von seinem Vater designierte und von den bayerischen Großen zum neuen Herzog erwählte Eberhard weigerte sich 937, Otto zu huldigen, nachdem Otto Eberhard nur hatte anerkennen wollen, wenn dieser bereit gewesen wäre, auf die Investitur der Bischöfe in Bayern zu verzichten. Nach zwei Feldzügen konnte Otto Eberhard verbannen; das Herzogtum wurde an Arnulfs Bruder Berthold vergeben, der sowohl auf die Bischofsinvestitur als auch das alte karolingische Königsgut in Bayern verzichtete und Otto bis zu seinem Tod 947 loyal blieb. Unterdessen hatte im sächsisch-fränkischen Grenzbereich Herzog Eberhard von Franken, Bruder des früheren Königs Konrad I., eine Fehde mit dem sächsischen Vasallen Bruning siegreich bestanden. In ihrem Verlauf hatte er die gegnerische Burg Helmern niedergebrannt. Diese Burg lag im Hessengau, wo Eberhard die Grafengewalt ausübte. Da Otto Eberhard nicht als autonome Zwischengewalt duldete, belegte er Eberhard mit der Buße, Pferde im Wert von 100 Pfund zu liefern. Eberhards Helfer wurden zur Schmachstrafe des Hundetragens auf einer Strecke bis zur königlichen Stadt Magdeburg verurteilt. Diese Nachrichten werden durch den Befund der Gedenkbucheinträge gestützt. Unter Heinrich I. gab es auffällig viele Einträge, und die damalige Herrschaftsstruktur beruhte zu einem guten Teil auf genossenschaftlichen Bindungen zwischen Königtum und Hochadel. Hingegen versiegen die Memorialquellen in den ersten fünf Jahren von Ottos Regierung völlig. Während die Zeit Heinrichs I. unter Leitbegriffen wie „Frieden“ (pax) und „Eintracht“ (concordia) beschrieben wird, stehen unter seinem Sohn „Streit“ (contentio), „Zwietracht“ (discordia) und „Empörung“ (rebellio) im Vordergrund. Aufstand im Reich 937–941 Ottos Politik brüskierte gleich zu Beginn seiner Herrschaft mächtige Adlige in Sachsen, Franken, Lothringen und Bayern, die sich bald gegen den Herrscher auflehnten: „Die Sachsen verloren jede Hoffnung, weiter den König stellen zu können.“ schreibt Widukind, um den Ernst der Lage zu charakterisieren. Der Frankenherzog Eberhard und Graf Wichmann der Ältere aus dem Geschlecht der Billunger verbündeten sich mit Thankmar. Dieser zog gegen die Burg Belecke bei Warstein im Arnsberger Wald und lieferte dort den gefangen gesetzten Halbbruder Heinrich an Herzog Eberhard aus. Doch der Kampf ging für die Aufständischen unglücklich weiter. Herzog Hermann von Schwaben, einer der Aufständischen, lief zu König Otto über. Nachdem sich Wichmann mit dem König ausgesöhnt hatte und Thankmar nach der Befreiung Heinrichs in der Kirche der Eresburg getötet worden war, war Eberhard isoliert und selbst innerhalb seiner eigenen Sippe nicht mehr der unangefochtene Führer, so dass er sich auf Vermittlung des Erzbischofs Friedrich von Mainz dem König unterwarf. Nach kurzer Verbannung nach Hildesheim wurde er begnadigt und bald wieder in seine frühere Würde restituiert. Bereits vor seiner Unterwerfung hatte Eberhard ein neues Bündnis gegen Otto vorbereitet, indem er dessen jüngerem Bruder Heinrich versprach, ihm zur Krone zu verhelfen. Als dritter Verbündeter kam Herzog Giselbert von Lothringen dazu, der mit Ottos Schwester Gerberga verheiratet war. Otto errang zwar zunächst in einer Schlacht bei Birten nahe Xanten einen Sieg, der seinem Gebet vor der Heiligen Lanze zugeschrieben wurde, konnte aber die Verschwörer nicht gefangen nehmen und belagerte erfolglos die Festung Breisach. Erzbischof Friedrich von Mainz und Ruthard von Straßburg versuchten zwischen Eberhard und dem König zu vermitteln; als Otto den Vorschlag der Vermittler nicht annahm, schlossen sie sich den Gegnern an. Währenddessen verheerten Giselbert und Eberhard die Ländereien königstreuer Adliger. Die Erhebung brach aber eher zufällig und ohne direktes Zutun Ottos zusammen: Eberhard und Giselbert wurden 939 nach einem Plünderungszug in die Gebiete zweier Gefolgsleute Herzog Hermanns von Schwaben von einem Heer unter der Führung der Konradiner Udo und Konrad beim Überqueren des Rheins bei Andernach überrascht und in der Schlacht von Andernach am 2. Oktober 939 vernichtend geschlagen. Dabei kamen die beiden aufständischen Herzöge ums Leben: Eberhard wurde erschlagen, Giselbert ertrank im Rhein. Gegen dieses für die Zeitgenossen offensichtliche Gottesurteil hatten es die Gegner des Königs schwer, den Konflikt fortzuführen. Heinrich unterwarf sich und erhielt von Otto das durch Giselberts Tod freigewordene Herzogtum Lothringen in einem Versuch, ihn an der Macht zu beteiligen. Als Ausgleich behielt Otto das ebenfalls vakant gewordene Herzogtum Franken unter direkter königlicher Herrschaft. Francia et Saxonica (Franken und Sachsen) bildeten von nun an das Kerngebiet des Reiches. Markgraf Gero hatte in der Zwischenzeit die Grenze gegen die Slawen unter Inkaufnahme zahlreicher Opfer verteidigt und das Gebiet bis zur Oder unterworfen. Die Slawen planten angeblich sogar einen Anschlag auf den Markgrafen; der kam ihnen allerdings zuvor und ließ 30 Slawenfürsten nach einem convivium (Festmahl) im weinschweren Schlaf umbringen. Da die sächsischen Fürsten angesichts der hohen Verluste durch die lang andauernden Kriegszüge eine zu geringe Beute und zu geringe Tribute beklagten, gerieten sie in Konflikt mit dem Markgrafen. Ihr Unmut richtete sich auch gegen Otto, der den Markgrafen unterstützte. Ottos Bruder Heinrich machte sich diese Stimmung im sächsischen Adel zunutze, so dass sich viele von ihnen an der Verschwörung gegen den König beteiligten. Anfang des Jahres 939 veranstaltete er ein großes Gelage oder Festmahl (convivium) im thüringischen Saalfeld, „dort beschenkte er viele mit großen Gütern und gewann dadurch eine Menge zu Genossen seiner Verschwörung“. Otto sollte am Osterfest 941 in der königlichen Pfalz Quedlinburg am Grabe des gemeinsamen Vaters ermordet werden, und eine mächtige Schwureinung (coniuratio) stand bereit, seinem jüngeren Bruder anschließend die Krone aufzusetzen. Doch der König erfuhr von diesem Vorhaben rechtzeitig, schützte sich während der Festlichkeiten, indem er sich Tag und Nacht mit einer Schar treuer Vasallen umgab, und holte danach unvermittelt zum Gegenschlag aus. Heinrich wurde in der Pfalz Ingelheim festgesetzt, seine Verbündeten wurden verhaftet und zum größten Teil hingerichtet. Heinrich konnte jedoch aus der Haft entkommen und unterwarf sich Weihnachten 941 in der Frankfurter Pfalzkapelle seinem Bruder. So erhielt er erneut Verzeihung, um die er barfuß und fußfällig bat. Von nun an ist kein Versuch Heinrichs überliefert, dem Bruder die Herrschaft streitig zu machen. Adelspolitik Bei der Neubesetzung von Ämtern und Besitzungen wollte Otto seine herrscherliche Entscheidungsgewalt durchsetzen und suchte bei seinen Entscheidungen nicht den erforderlichen Konsens mit den Großen. Er missachtete besonders die Ansprüche der Herzöge und enger Familienangehöriger auf bestimmte Herrschaftspositionen. Otto beförderte hingegen die ihm ergebenen Mitglieder insbesondere auch des niederen Adels in Schlüsselpositionen, um in Sachsen den Status quo zu sichern, und ließ die Getreuen seiner Mutter sich benachteiligt fühlen. Unterordnung verlangte der neue König schließlich auch von den „Freunden“ des Vaters, „der diesen nie etwas verweigert hätte“. Zu den weiteren Gründen für die Adelserhebungen zählten die noch ungewohnte Individualsukzession oder Einzelthronfolge, aus der sich die anfangs ungeklärte Frage ergab, wie die Brüder des Königs zu versorgen seien, sowie Ottos autoritärer Regierungsstil im Vergleich zu seinem Vater. Heinrich hatte auf die Salbung verzichtet, die ihn symbolisch über die Reichsgroßen erhoben hätte, und seine Regierung auf Freundschaftspakte mit wichtigen Personen gestützt. Diese Pakte waren eine wesentliche Grundlage der Herrschaftskonzeption Heinrichs I. gewesen, der dafür auf königliche Prärogative verzichtet hatte, um so im Einvernehmen mit den Herzögen eine Konsolidierung im Inneren zu erreichen. Der gesalbte Otto glaubte, seine Entscheidungen ohne Rücksicht auf Ansprüche und unabhängig von der internen Hierarchie der Adelssippen treffen zu können, da ihn seine Auffassung des Königtums im Gegensatz zu der seines Vaters weit über den übrigen Adel erhob. Zu den strukturellen Besonderheiten der Auseinandersetzungen zählten insbesondere die „Spielregeln zur Konfliktbeilegung“, also die sozialen Normen, die in der ranggeordneten Gesellschaft des 10. Jahrhunderts galten. Nur die Gegner des Königs aus der adligen Führungsschicht und seiner eigenen Familie, die ihre Schuld öffentlich eingestanden und sich bedingungslos unterwarfen, konnten auf Begnadigung hoffen. Die dem König anheimgestellte Strafe fiel dann regelmäßig so milde aus, dass der Bußfertige bald wieder in Amt und Würden war. So wurde vor allem dem Königsbruder Heinrich zunächst in Lothringen, dann in Bayern die Herzogsstellung übertragen. Gewöhnliche Verschwörer wurden im Gegensatz dazu hingerichtet. Jahrzehnt der Konsolidierung (941–951) Das darauf folgende Jahrzehnt (941–951) war durch eine unbestrittene königliche Machtausübung bestimmt. Ottos Urkunden aus dieser Zeit erwähnen immer wieder Belohnungen, die treue Vasallen für ihre Dienste empfingen oder die der Versorgung ihrer Hinterbliebenen dienten. Allein aus den Jahren 940–47 sind 14 Begünstigungen dieser Art bekannt. Dazu kommen zwei Diplome, in denen gerichtlich entzogenes Gut zurückgegeben wurde. Durch die gefestigte Königsherrschaft entwickelten sich auch feste Gewohnheiten der Herrschaftsrepräsentation. Zu erkennen ist dies ab 946 am jährlichen Wechsel von Hoftagen in Aachen und Quedlinburg an Ostern. Otto änderte nach diesen Adelserhebungen zwar nicht seine Praxis, Herzogtümer als Ämter des Reiches nach seinem Gutdünken zu besetzen, verband sie jedoch mit dynastischer Politik. Hatte Ottos Vater Heinrich noch auf die amicitia (Freundschaftsbindung) als wichtiges Instrument zur Stabilisierung seiner Königsherrschaft gesetzt, so trat nun die Heirat an ihre Stelle. Otto lehnte es ab, ungekrönte Herrschaftsträger als gleichberechtigte Vertragspartner zu akzeptieren. Die Integration bedeutender Vasallen vollzog sich nun durch Heiratsverbindungen: Der westfränkische König Ludwig IV. heiratete im Jahr 939 Ottos Schwester Gerberga. Den Salier Konrad den Roten setzte Otto 944 als Herzog in Lothringen ein und band diesen 947 durch die Heirat mit seiner Tochter Liudgard enger an die Königsfamilie. Den Anspruch seines Bruders Heinrich auf eine Teilnahme an der Macht stellte er dadurch zufrieden, dass er ihn mit Judith, Tochter Herzog Arnulfs von Bayern, verheiratete und im Winter 947/948 als Herzog in Bayern einsetzte, nachdem das Herzogtum mit dem Tod von Arnulfs Bruder Berthold frei geworden war. Die Verleihung der bayerischen Herzogswürde an Ottos zuvor aufständischen Bruder Heinrich markierte dessen endgültigen Verzicht auf die Königswürde. Die engste Verwandtschaft des Königs übernahm die wichtigsten Positionen im Reich, während Franken und Sachsen ohne Herzogsgewalt weiterhin direkt dem König unterstanden. Kurz nach dem Tod Edgiths am 29. Januar 946, die in Magdeburg ihr Grab fand, begann Otto die eigene Nachfolge zu regeln. Er ließ die bereits 939 ausgehandelte Ehe seines Sohnes Liudolf mit Ida, der Tochter des Herzogs Hermann von Schwaben, des Anführers der ihm treu gebliebenen Konradiner, wohl im Spätherbst 947 schließen und erklärte ihn zu seinem Nachfolger als König. Alle Großen des Reichs wurden aufgerufen, seinem damals gerade volljährig gewordenen Sohn einen Treueid zu leisten. In bindender Form erhielt Liudolf damit die Zusage, Nachfolger seines Vaters werden zu können. Dadurch wertete er Hermann auf und sicherte seinem eigenen Haus die Nachfolge im Herzogtum, da Hermann keine Söhne hatte. 950 wurde deshalb Liudolf wie geplant Herzog von Schwaben. Beziehungen zu anderen Herrschern in Europa Ottos Herrschaftspolitik war eingebettet in den politischen Kontext des frühmittelalterlichen Europa. Seine Entscheidung für Aachen als Krönungsort warf bereits das Problem der Beziehungen zum Westfrankenreich auf. Aachen lag im Herzogtum Lothringen, auf das die westfränkischen Könige, die noch immer Karolinger waren, Anspruch erhoben. Allerdings war das Herrscherhaus im Westfrankenreich durch die Macht des Hochadels bereits stark geschwächt. Indem Otto sich als legitimer Nachfolger Karls des Großen darstellte, sah er seinen Anspruch auf Lothringen legitimiert. Während Heinrichs Aufstand sowie später, im Jahre 940, versuchte der westfränkische König Ludwig IV., sich in Lothringen festzusetzen, scheiterte aber zum einen an Ottos militärischer Stärke, zum anderen daran, dass Ludwigs innenpolitischer Rivale Hugo der Große mit Ottos Schwester Hadwig verheiratet war. Ludwig konnte seine Ansprüche auf Lothringen zwar noch dadurch geltend machen, dass er Gerberga, die Witwe des 939 gefallenen aufständischen Herzogs Giselbert, heiratete. Da diese eine weitere Schwester Ottos war, wurde er damit allerdings zugleich ein Schwager Ottos und seines eigenen innenpolitischen Rivalen Hugo. Otto betrieb also dem Westfrankenreich gegenüber eine ähnliche Heiratspolitik wie gegenüber den Herzögen im Ostfrankenreich. Im Jahre 942 vermittelte Otto eine formelle Versöhnung: Hugo von Franzien hatte dabei einen Unterwerfungsakt zu vollziehen, und Ludwig IV. musste auf jegliche Ansprüche auf Lothringen verzichten. Im Jahr 946 geriet das Westfrankenreich in eine Krise, als König Ludwig durch Verrat zunächst in die Gefangenschaft eines Dänenkönigs und dann in die Hände seines Hauptgegners Hugo geriet. Otto hatte bereits 942 den Frieden zwischen Ludwig und Hugo vermittelt und musste deshalb über den Bestand des Friedens wachen, der durch die Gefangennahme empfindlich gestört worden war. Auf die dringenden Bitten seiner Schwester Gerberga intervenierte Otto im Westen zugunsten Ludwigs. Die militärische Macht Ottos reichte jedoch nicht aus, um befestigte Städte wie Laon, Reims, Paris oder Rouen einzunehmen. Nach drei Monaten brach Otto den Heerzug ab, ohne Hugo besiegt zu haben. Aber es gelang ihm, Erzbischof Hugo von Reims aus seiner Bischofsstadt zu vertreiben. Den jahrelangen Streit zwischen Ludwig und Hugo, bei dem es auch um die Besetzung des Reimser Erzstuhls ging, legte 948 die Universalsynode von Ingelheim bei, an der 34 Bischöfe teilnahmen, darunter alle deutschen Erzbischöfe und der Reimser Kandidat Artold. Die Wahl des Tagungsortes im ostfränkischen Reich lässt erkennen, dass Otto sich als Schiedsrichter im westfränkischen Reich sah. Die Versammlung stellte sich vor König Otto, im Reimser Schisma entschied sie sich für dessen Kandidaten Artold gegen Hugo, den Favoriten Hugos von Franzien. Ludwig IV. wurde im September 948 exkommuniziert. Seine Stellung als Familienangehöriger wurde jedoch allmählich wieder von Otto aufgebessert, zunächst zu Ostern des Jahres 951, dann zwei Jahre später in Aachen, wo die endgültige Aussöhnung erfolgte. Auf der Universalsynode von Ingelheim wurden jedoch nicht nur westfränkische Probleme behandelt. Die Bischöfe von Ripen, Schleswig und Aarhus wurden ordiniert. Alle drei Bistümer wurden Erzbischof Adaldag von Hamburg-Bremen unterstellt. Diese Bistumsgründungen und die im gleichen Jahr erfolgten Gründungen weiterer Bistümer in Brandenburg und Havelberg bedeuteten eine intensivierte Christianisierung. Von der nationalistischen Geschichtsschreibung wurden diese Maßnahmen anachronistisch als „Ostpolitik“ gedeutet, die auf Expansion und Unterwerfung der slawischen Gebiete ausgerichtet war. Ansätze zur Durchsetzung der Herrschaft gegenüber Dänen und Slawen unter den Ottonen sind jedoch nicht erkennbar. Anders als Karl der Große engagierte sich Otto in der Slawen- und Heidenmission eher zeitlich begrenzt und trotz einiger mit Gewalteinsatz geführter Auseinandersetzungen deutlich zurückhaltender. Otto scheint sich mit der Anerkennung der Oberhoheit über die slawischen Gebiete begnügt zu haben. Zum Königreich Burgund hatte das Ostfrankenreich gute Beziehungen, seitdem Heinrich I. von dessen König Rudolf II. die Heilige Lanze erworben hatte. Als Rudolf 937 starb, holte Otto dessen minderjährigen Sohn Konrad an seinen Hof, um damit eine Übernahme Burgunds durch Hugo von Italien zu verhindern, der Rudolfs Witwe Berta sofort geheiratet und seinen Sohn Lothar mit dessen Tochter Adelheid verlobt hatte. Nach dem Tod des italienischen Königs Hugo am 10. April 947 sorgte Otto außerdem dafür, dass Niederburgund und die Provence an seinen Schützling Konrad fielen, was sein Verhältnis zum burgundischen Königshaus weiter festigte. Otto respektierte die Eigenständigkeit von Burgund und griff nie nach der burgundischen Krone. Enge Kontakte bestanden auch zwischen Otto I. und dem byzantinischen Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (944–959). Die zeitgenössischen Quellen berichten von zahlreichen Gesandtschaften, die in politischen Angelegenheiten von West nach Ost und von Ost nach West reisten. Am 31. Oktober 945 und wieder anlässlich des Osterfestes 949 „überbrachten Gesandte der Griechen unserem König zweimal Geschenke ihres Kaisers, die beide Herrscher ehrten“, berichtet Thietmar von Merseburg in seiner Chronik. Zu dieser Zeit wurde vergeblich über ein Ehebündnis zwischen Byzanz und dem ottonischen Herrscher verhandelt. Eingreifen in Italien und Hochzeit mit Adelheid von Burgund Mit dem Tod Berengars I. von Italien war das karolingisch begründete neue westliche Kaisertum 924 erloschen. Es stand somit jedem Herrscher eines fränkischen Teilreiches frei, sich mit imperialem Glanz zu schmücken, ohne missliebige Reaktionen hervorzurufen. Jedoch scheint Ottos Vorhaben der Kaiserkrönung sich erst spät zu einem festen Handlungskonzept verdichtet zu haben. Solange die Königin Edgith lebte, konzentrierte sich die Aktivität Ottos vornehmlich auf das ostfränkische Reich. In Italien erzeugte Hugos und Lothars Regiment mit der Zeit manchen Unmut unter den Großen, an deren Spitze sich Berengar von Ivrea setzte. Er musste allerdings 941 an den Hof Ottos fliehen, der so erstmals mit den politischen Problemen Italiens in unmittelbare Berührung kam. Otto vermied jedoch eine dezidierte Parteinahme. Weder lieferte er seinen Gast an Hugo aus noch gewährte er ihm seine ausdrückliche Unterstützung, als Berengar 945 von sich aus über die Alpen zurückkehrte und Hugo in Oberitalien rasch in die Enge trieb. Hugo starb 948 in seiner provenzalischen Heimat, wohin er ausgewichen war, und überließ das Feld seinem Sohn Lothar. Bevor es zu einer größeren Auseinandersetzung kam, fand auch Lothar am 22. November 950 einen plötzlichen Tod und machte die noch nicht 20-jährige Adelheid zur Witwe. Nach langobardischer Tradition konnte Adelheid durch Eheschließung die Königswürde weitergeben. Aus diesem Grund nahm Berengar sie in Gefangenschaft und erklärte sich am 15. Dezember 950, nur drei Wochen nach Lothars Tod, zum König sowie seinen jüngeren Sohn Adalbert zum Mitregenten. Doch fand auch er keine allseitige Anerkennung, und die Blicke der Unzufriedenen richteten sich auf Adelheid, die sich anscheinend die Vorstellung zu eigen gemacht hatte, durch Neuvermählung über die Zukunft des Reiches bestimmen zu können. Adelheid war nicht nur Witwe des italienischen Königs, sondern über ihre Mutter Berta auch verwandt mit der schwäbischen Herzogsfamilie, deren Haupt Ottos Sohn Liudolf durch die Ehe mit Ida geworden war. Vor allem aber war Otto selbst sehr daran interessiert, in Italien einzugreifen. Da er seit 946 selbst Witwer war, hatte er die Möglichkeit, Adelheid zu ehelichen und damit seine Herrschaft nach Italien auszudehnen. Zudem bot sich damit die Perspektive auf die Kaiserwürde. Nach der Festsetzung Adelheids entschloss sich Otto, nach Italien zu ziehen; ob er darum gebeten wurde oder gar zur Übernahme der Herrschaft aufgefordert wurde, ist unklar. Wohl schon im Frühjahr 951 war Liudolf ohne Verständigung mit seinem Vater mit nur schwacher Begleitung nach Italien geritten. Was Liudolf damit bezweckt hatte, ist ungewiss. Sein Unternehmen scheiterte jedenfalls an der Intriganz seines Onkels Heinrich, der Liudolfs Gegner heimlich gewarnt hatte, ohne dafür von Otto zur Rede gestellt worden zu sein. Heinrich wurde von Otto sogar als Heerführer eingesetzt und war der wichtigste Mittelsmann auf Ottos Italienzug im September 951, der ohne Kämpfe verlief. Heinrich führte Adelheid von ihrer Fluchtburg Canossa nach Pavia, wo sich Otto im Oktober mit ihr vermählte. Die italienische Königswürde übernahm er, ohne dass ein Erhebungsakt in den Quellen ausdrücklich erwähnt wäre. Seine Kanzlei titulierte ihn am 10. Oktober, deutlich an Karl den Großen anknüpfend, „König der Franken und Langobarden“ (rex Francorum et Langobardorum) und am 15. als „König der Franken und Italiener“ (rex Francorum et Italicorum). Aufstand Liudolfs Die Ehe mit Adelheid führte zu Spannungen zwischen dem König und seinem Sohn und designierten Nachfolger Liudolf, da sich die Frage stellte, welche Rechte den dieser Ehe entstammenden Söhnen zustanden. Auch misstraute Liudolf dem wachsenden Einfluss seines Onkels, des ehemaligen Rebellen Heinrich. Wahrscheinlich war Heinrich anderer Ansicht darüber, wer die Position des secundus a rege (des Zweiten nach dem König) einnehmen sollte: der Bruder oder der Sohn. Liudolf verließ jedenfalls im November in demonstrativem Unmut und ohne Abschied seinen Vater, was einem Affront gleichkam. Über die Alpen begleitet wurde er von Erzbischof Friedrich von Mainz. Der Erzbischof war im Auftrag Ottos persönlich nach Rom gezogen, um beim Papst wegen einer Kaiserkrönung anzufragen, doch blieb seine Reise vergeblich: Papst Agapet II. erteilte den Plänen Ottos aus nicht näher bekannten Gründen eine Absage. Sie ist vielleicht dem Ungeschick des Gesandten anzulasten. Zu Weihnachten 951 veranstaltete Liudolf in Saalfeld ein Gelage (convivium), bei welchem er Erzbischof Friedrich von Mainz und alle anwesenden Großen des Reiches um sich versammelte. Dieses Gelage war bereits vielen Zeitgenossen verdächtig und erinnerte an jenes convivium, das Heinrich ein gutes Jahrzehnt zuvor gefeiert hatte, um eine bewaffnete Erhebung gegen Otto einzuleiten. Mit dem Festmahl wurden Bindungen aktiviert, um Widerstand gegen den König zu sammeln. Als Reaktion darauf kehrte Otto im Februar 952 mit Adelheid nach Sachsen zurück und verweigerte dem Sohn demonstrativ seine Huld. Den Osterhoftag als das wohl wichtigste Ereignis des Jahres beging Otto in Sachsen „zur Repräsentation herrscherlicher Macht und göttlicher Legitimation“. Liudolf gewann in seinem Schwager Konrad dem Roten einen mächtigen Verbündeten. Konrad hatte in Italien durch Verhandlungen Berengar dazu gebracht, Otto in Magdeburg aufzusuchen, und Berengar dabei offensichtlich verbindliche Zusagen zum Ausgang dieses Treffens gemacht. Eine Gruppe von Herzögen, Grafen und Hofleuten, mit den Herzögen Konrad und Liudolf an der Spitze, erkannte Berengar als König an und brachte dies in einem Empfang ostentativ zum Ausdruck. Am Hof angekommen, ließ Otto Berengar jedoch zunächst drei Tage lang warten, um ihn zu brüskieren, gestattete von den Versprechungen Konrads nichts und gewährte Berengar nur den freien Abzug. Da Herzog Konrad und die weiteren Fürsprecher Berengars Ottos Antwort als persönliche Beleidigung empfanden, schlossen sie sich den Gegnern des Königs an. Trotz des sich so formierenden Widerstands wurde in der Frage der Stellung Berengars noch ein Kompromiss erreicht. Als Ort für eine Unterwerfung (deditio) Berengars und für ein freiwilliges Bündnis (foedus spontaneum) mit Otto einigten sich die Kontrahenten auf einem Hoftag in Augsburg, Anfang August 952. Berengar und sein Sohn Adalbert leisteten Otto einen Vasalleneid und erhielten von ihm das Königreich Italien als Lehen. Allerdings wurden die Marken Verona und Aquileja Herzog Heinrich von Bayern zugeschlagen. Nachdem Adelheid im Winter 952/953 mit Heinrich einen ersten Sohn zur Welt gebracht hatte, soll Otto ihn statt Liudolf als Nachfolger gewollt haben. Im März 953 brach in Mainz der Aufstand aus. Als Otto in Ingelheim das Osterfest begehen wollte, zeigten ihm Konrad und Liudolf offen die „Zeichen des Aufstandes“ (rebellionis signa). Liudolf und Konrad hatten inzwischen eine große Schar Bewaffneter zusammengebracht – vor allem junge Leute aus Franken, Sachsen und Bayern sollen darunter gewesen sein. Der König konnte deshalb weder in Ingelheim noch in Mainz oder Aachen das Osterfest als wichtigsten Akt der Herrschaftsrepräsentation feiern. Immer mehr Adelsgruppen verbündeten sich mit Liudolf. Als Otto hörte, dass Mainz in die Hände seiner Feinde gefallen war, zog er in größter Eile dorthin und begann im Sommer mit der Belagerung der Stadt. Schon zu Beginn des Aufstandes hatte Erzbischof Friedrich von Mainz zu vermitteln versucht, aber der König „befahl seinem Sohn und Schwiegersohn, die Urheber des Verbrechens zur Bestrafung auszuliefern, andernfalls werde er sie als geächtete Feinde (hostes publici)“ betrachten. Diese Forderung war für Liudolf und Konrad unannehmbar, da sie ihre eigenen Bundesgenossen hätten verraten müssen. Ein solches Verhalten hätte sie zu Meineidigen gemacht, denn es war üblich, sich gegenseitig Schwüre des Beistands zu leisten, bevor man in eine Fehde ging. Das Zentrum des Konflikts verlagerte sich 954 nach Bayern. Dort hatte Liudolf mit Unterstützung Arnulfs, eines der Söhne des 937 verstorbenen Bayernherzogs, Regensburg eingenommen, sich der dort angesammelten Schätze bemächtigt und sie als Beute unter seine Gefolgschaft verteilt. Auf Drängen Heinrichs begab sich das Heer des Königs umgehend auf den Weg nach Süden, um Regensburg zurückzugewinnen, doch zog sich die Belagerung bis Weihnachten hin. Gleichzeitig mit den Kriegsaktionen vollzog Otto zwei wichtige Personalentscheidungen: Markgraf Hermann Billung wurde zum Herzog und Stellvertreter des Königs in Sachsen ernannt, und Brun, der jüngste unter den Königsbrüdern, wurde zum Erzbischof von Köln befördert. Um den Konflikt zu beenden, wählte man auch in Bayern das Mittel der Verhandlung. Lechfeldschlacht Als Liudolf sich gegen Otto erhob, bedrohten nach wie vor die Ungarn das Reich. Obwohl die Ostmarken zur Sicherung gegen heidnische Slawen und Magyaren eingerichtet worden waren, blieben die Ungarn an der Ostgrenze des Ostfrankenreiches eine dauerhafte Bedrohung. Die Ungarn kannten das Reich und dessen innere Schwäche, die ihnen Anlass gab, im Frühjahr 954 mit einer großen Streitmacht in Bayern einzufallen. Zwar war es Liudolf und Konrad gelungen, ihre eigenen Gebiete zu schonen, indem sie den Ungarn Führer in den Westen mitgaben, die sie östlich des Rheins durch Franken geleiteten. Außerdem hatte Liudolf am Palmsonntag des Jahres 954 in Worms ein großes Gastmahl zu Ehren der Ungarn veranstaltet und sie mit Gold und Silber überhäuft. Aber Liudolf sah sich nun dem Vorwurf ausgesetzt, mit den Feinden Gottes paktiert zu haben, und verlor schlagartig Anhänger an Otto. Die Bischöfe Ulrich von Augsburg und Hartpert von Chur, die engste Vertraute des Königs waren, vermittelten ein Treffen zwischen den Konfliktparteien am 16. Juni 954 auf einem Hoftag in Langenzenn. Verhandelt wurden nicht so sehr die Ursachen des Konfliktes zwischen Vater und Sohn, sondern vielmehr allein die Verwerflichkeit des Paktes Liudolfs mit den Ungarn. Dessen Verteidigung, er habe dies „nicht aus freien Stücken getan, sondern durch die äußere Not getrieben“, überzeugte nicht. Als Ergebnis dieser Verhandlungen trennten sich Erzbischof Friedrich und Konrad der Rote von Liudolf, der dennoch nicht bereit war, sich zu unterwerfen, sondern alleine gegen den Vater weiterkämpfte, der wieder Regensburg belagerte. Zweimal kam der Sohn persönlich aus der Stadt heraus, um Frieden beim Vater zu erbitten. Erst beim zweiten Mal erhielt er ihn durch Vermittlung der Fürsten. Die endgültige Beilegung des Streites wurde auf einen Hoftag in Fritzlar vertagt. Der Konflikt wurde durch die rituelle deditio (Unterwerfung) beigelegt. Noch innerhalb der Frist warf er sich im Herbst 954 während der Königsjagd in Suveldun nahe Weimar barfuß vor dem Vater zu Boden und flehte um Gnade, die ihm gewährt wurde. „So wurde er in väterlicher Liebe wieder zu Gnaden angenommen und gelobte zu gehorchen und in allem den Willen des Vaters zu erfüllen.“ Die Ungarn waren unterdessen vor Augsburg aufgehalten worden, da Bischof Ulrich die Stadt zäh verteidigen ließ. Er verschaffte so Otto Zeit, ein Heer zu sammeln und zum Entsatz Augsburgs zu eilen. Die Schlacht auf dem Lechfeld am 10. August 955 beseitigte die Ungarngefahr dauerhaft. Der triumphale Sieg festigte Ottos Macht und Ansehen. Nach Widukind von Corvey, dessen Darstellung angezweifelt wird, soll Otto noch auf dem Schlachtfeld vom siegreichen Heer zum imperator ausgerufen worden sein, die Hofkanzlei veränderte Ottos Titel auch nach 955 bis zum Februar 962 nicht. Nach dem Zeugnis Thietmars von Merseburg gelobte Otto vor der Lechfeldschlacht im Falle eines Sieges dem Tagesheiligen Laurentius, in seiner Pfalz Merseburg ein Bistum zu dessen Ehren zu errichten. Nach dem Sieg ließ Otto in allen Kirchen des Reiches Dankesgottesdienste feiern und führte den Sieg auf die Hilfe Gottes zurück, die das Gottesgnadentum des Herrschers habe sichtbar werden lassen. Auch fasste er spätestens seit 955 konkrete Pläne zur Errichtung eines Erzbistums in Magdeburg. Dem Gotteshaus, in dem Königin Edgith 946 bestattet wurde, folgte ab 955 ein stattlicher, nach Thietmars Worten mit Marmor und Gold geschmückter Neubau. Im Sommer 955 schickte er den Fuldaer Abt Hademar nach Rom, wo dieser bei Agapet II. für den König die Erlaubnis bewirkte, Bistümer nach Belieben zu gründen. Aus einem Protestbrief des Mainzer Erzbischofs Wilhelm von 955 an Papst Agapet II. geht hervor, dass Otto offenbar die Absicht hatte, das Bistum Halberstadt zu verlegen, um in dessen Grenzen das neue Magdeburger Erzbistum zu schaffen. Geplant war nach Wilhelms Ausführungen, das Bistum Halberstadt nach Magdeburg zu transferieren und es zum Erzbistum zu erheben. Es wäre damit aus dem Verband der Mainzer Erzdiözese ausgeschieden. Derart weitreichende Veränderungen bedurften aber der Zustimmung der betroffenen Bischöfe. Wilhelm und der Halberstädter Bischof Bernhard weigerten sich vehement, einer solchen Schmälerung ihrer Diözese zuzustimmen. Otto sah daher zunächst davon ab, in dieser Sache weiter vorzugehen. Der Widerstand gegen Ottos Magdeburg-Pläne muss in Sachsen erheblich stärker gewesen sein, denn Widukind von Corvey, Hrotsvit von Gandersheim, Ruotger von Köln, Liudprand von Cremona und der Continuator Reginonis, der spätere Erzbischof Adalbert von Magdeburg, berichteten über die Gründung Magdeburgs mit keinem Wort. Die Lechfeldschlacht gilt als eine Wende in der Regierung des Königs. Nach 955 kam es im ostfränkisch-deutschen Reich bis zu Ottos Tod nicht mehr zu Erhebungen der Großen gegen den König, wie sie in der ersten Hälfte seiner Herrscherzeit wiederholt aufgeflammt waren. Ferner blieb Ottos Herrschaftsgebiet fortan von den Einfällen der Ungarn verschont. Sie gingen nach 955 zur sesshaften Lebensweise über und nahmen bald das Christentum an. Im selben Jahr drangen slawische Abodriten in Sachsen ein. Als Reaktion zog König Otto mit einem Heer nach dem Sieg über die Ungarn in den Osten. Als die Abodriten die Tributzahlung und Unterwerfung verweigerten, mussten sie in der Schlacht an der Recknitz eine weitere militärische Niederlage hinnehmen. Im Gegensatz zur Milde gegenüber inneren Rebellen gingen die Ottonen gegen äußere Feinde unnachsichtig und grausam vor. Nach der Schlacht wurde der Anführer Stoinef enthauptet und 700 Gefangene umgebracht. Mit dem Ende der Kämpfe im Herbst 955 endete auch die unruhige Periode um den Aufstand Liudolfs. Ottonische Reichskirche Nicht nur der Aufstand seines Sohnes schwächte zeitweise die Herrschaft Ottos, sondern es verstarben auch innerhalb kürzester Zeit wichtige Akteure, etwa Ottos Bruder Heinrich von Bayern noch 955. Konrad der Rote, der zwar nicht mehr Herzog, aber immer noch eine der bedeutendsten Personen des Ostfrankenreiches war, fiel in der Schlacht auf dem Lechfeld. Liudolf wurde Ende 956 nach Italien geschickt, um dort Berengar zu bekämpfen, doch erlag er schon am 6. September 957 einem Fieber und wurde im Stift St. Alban vor Mainz begraben. Das durch den Tod Heinrichs frei gewordene Herzogtum Bayern wurde nicht wieder vergeben, sondern unter der Regentschaft von Heinrichs Witwe Judith für ihren vierjährigen Sohn Heinrich belassen. Lediglich Schwaben erhielt einen vollwertigen neuen Herzog, Adelheids Onkel Burkhard, der durch die Heirat mit Judiths und Heinrichs Tochter Hadwig enger an die Herrscherfamilie gebunden wurde. Damit waren Otto kurz nach seinem Triumph über den Aufstand plötzlich wichtige Strukturen des Reiches weggebrochen. Hinzu kam, dass die beiden ersten Söhne seiner zweiten Ehe jung gestorben und der dritte Sohn Otto erst Ende 955 zur Welt gekommen war. Nach der älteren Forschung soll Otto nach der Lechfeldschlacht einen zweiten Versuch unternommen haben, das Reich zu konsolidieren, indem er die Reichskirche für seine Zwecke gegen die weltlichen Großen nutzbar gemacht haben soll. Besonders Ottos jüngerer Bruder Brun, der seit 940 Kanzler, seit 951 zugleich Erzkaplan des Reiches und seit 953 Erzbischof von Köln war, soll in der Hofkapelle Kleriker auf ihre spätere Tätigkeit als Reichsbischöfe vorbereitet haben. Dieses sogenannte ottonisch-salische Reichskirchensystem beurteilt die jüngere Forschung zurückhaltender. Mit Poppo I. von Würzburg und Othwin von Hildesheim entstammten lediglich zwei der insgesamt 23 von Otto investitierten Bischöfe der Mainzer Kirchenprovinz der Hofkapelle. Im Beziehungsgefüge zwischen König und Bischof hatten vielmehr das Domkapitel Hildesheim und die Domschulen eine zentrale Funktion. Der König konnte keineswegs allein über die Besetzung bischöflicher Ämter entscheiden. Vor allem in der zweiten Phase seiner Regierung wurde eine Zunahme von Fürsprachen bei Bischofswahlen beobachtet. In die Hofkapelle wurden bevorzugt Söhne aus adligen Familien aufgenommen. Als kirchliche Würdenträger waren sie durch das Kirchenrecht geschützt und dem königlichen Einfluss größtenteils entzogen. Die Reichskirche erhielt zahlreiche Schenkungen, die neben Landbesitz auch königliche Hoheitsrechte (Regalien) wie Zoll-, Münz- und Marktrechte umfassten. Diese Schenkungen verpflichteten jedoch die Beschenkten zu erhöhtem Dienst für König und Reich. Die ottonischen Könige ließen sich von den Reichskirchen beherbergen und verköstigen. Auch waren es die Reichskirchen, die bereits zur Zeit seines Sohnes und Nachfolgers Ottos II. in Kriegszeiten zwei Drittel des Reiterheeres stellten, aber auch im Frieden zu Naturalabgaben (servitium regis) verpflichtet waren. Neben der Versorgungsfunktion dienten die Reichsklöster und Bistümer dazu, die gottgewollte religiöse Ordnung zu verwirklichen, Gebetshilfe zu leisten und den christlichen Kult zu mehren. Vorbereitung des zweiten Italienzugs Eine schwere Krankheit Ottos im Jahr 958 trug neben dem Aufstand des Liudolf zur schweren Krise des Reiches bei. Berengar II. nutzte sie, um die Festigung seiner Macht weiter zu betreiben, obwohl er Italien formal nur noch als Lehen Ottos hielt. Liudolfs Tod sowie Ottos Probleme im nördlichen Reichsteil angesichts zahlreicher vakanter Herzogtümer scheinen Berengar dann ermutigt zu haben, nach Oberitalien auch Rom und das Patrimonium Petri unter seinen Einfluss zu bringen. Er geriet dabei in Konflikt mit Papst Johannes XII., der im Herbst 960 Otto um Hilfe ersuchte. Mit ähnlichem Ziel intervenierten auch mehrere Große aus Italien an Ottos Hof, darunter der Erzbischof von Mailand, die Bischöfe von Como und Novara und der Markgraf Otbert. Der Weg zur Kaiserkrönung wurde in der Forschung unterschiedlich behandelt. Kontrovers wird diskutiert, ob Ottos Politik langfristig auf eine Erneuerung des karolingischen Kaisertums aus war oder ausschließlich auf die Initiative des Papstes in einer akuten Notlage zurückging. Seinen Romzug bereitete der inzwischen wieder genesene König sorgfältig vor. Auf dem Hoftag zu Worms im Mai 961 ließ er seinen minderjährigen Sohn Otto II. zum Mitkönig erheben. Zu Pfingsten 961 wurde Otto II. in Aachen von den Lothringern gehuldigt und von den rheinischen Erzbischöfen Brun von Köln, Wilhelm von Mainz und Heinrich von Trier zum König gesalbt. Die lange Abwesenheit brachte zahlreiche „Probleme der Herrschaftsverwirklichung“ mit sich. Die Italienzüge erforderten hohe Leistungsanforderungen von den Adelsfamilien und den Reichskirchen. Herrschaft war wesentlich von der Präsenz des Königs abhängig. Ein stabiles Netz von Verwandten, Freunden und Getreuen musste während der Abwesenheit des Herrschers die Bewahrung der Ordnung garantieren. Die beiden Erzbischöfe Brun und Wilhelm wurden zu Stellvertretern des Reiches ernannt. Mit ihnen blieb der junge Otto II. nördlich der Alpen. Während der Abwesenheit Ottos in Italien urkundete der Königssohn nördlich der Alpen eigenständig. Durch Entschädigungen, wie den Vorrang vor anderen Bischöfen und das Krönungsrecht des Königs, brach Otto den Widerstand Wilhelms und erhielt von ihm fortan die Unterstützung seiner Magdeburg-Pläne. Kaiserkrönung und italienische Politik Im August 961 brach Ottos Heerzug von Augsburg nach Italien auf und überquerte den Brennerpass nach Trient. Ziel war zunächst Pavia, wo Otto das Weihnachtsfest feierte. Berengar und seine Anhänger zogen sich in Burgen zurück und mieden den offenen Kampf. Ohne sich aufhalten zu lassen, zog Otto nach Rom weiter. Am 31. Januar 962 erreichte das Heer Rom. Am 2. Februar wurde Otto von Papst Johannes XII. zum Kaiser gekrönt. Mit der Kaiserkrönung wurde eine Tradition für alle künftigen Kaiserkrönungen des Mittelalters begründet. Auch Adelheid wurde gesalbt und gekrönt und erhielt so den gleichen Rang. Dies war ein Novum: Keine einzige Gemahlin eines Karolingers war je zur Kaiserin gekrönt worden. Für das Paar verband sich die gemeinsame Krönung mit der Inanspruchnahme Italiens als ihren Besitz, für sich selbst und für ihren bereits zum König erhobenen Erben. Nach der Kaiserkrönung bekam Otto vom Papst einen Arm der heiligen Felicitas und wohl auch das in Silber gefasste Haupt des heiligen Sebastian. Die Kaiserkrönung markierte auch den Beginn einer neuen Phase von Reliquientranslationen aus dem an Märtyrer reichen Italien nach Sachsen. Bis 962 wurden unter Heinrich und Otto Reliquien vor allem aus Westfranken importiert. Der Erwerb von Reliquien gehörte zu den Herrscherpflichten Ottos. Sachsen war nur oberflächlich christianisiert und verfügte über keine christliche Tradition. Reliquien von Heiligen waren daher begehrte Objekte. Im Siegelbild, in der Wahrnehmung des Herrschers in historiographischen Darstellung und im Bereich der Kanzleisprache ereigneten sich in den 960er Jahren grundlegende Veränderungen. Die Darstellung des Herrschers auf den Siegeln hatte sich im Februar 962 schlagartig von fränkisch-karolingischen Vorbildern zu einer Herrscherdarstellung nach byzantinischem Vorbild verändert. Nach Hagen Keller können diese Veränderungen in der Herrschaftsrepräsentation unter Otto I. keineswegs als Folge der Kaiserkrone abgeleitet werden, sondern bereits die Übernahme der Königsherrschaft in Italien dürfte entscheidende Impulse gesetzt haben. Eine Synode am 12. Februar dokumentierte die Zusammenarbeit von Kaiser und Papst. Um den Erfolg der Mission sicherzustellen, verfügte der Papst die Erhebung des Moritzklosters in Magdeburg zum Erzbistum und des Merseburger Laurentiusklosters zum Bischofssitz. Otto und seinen Nachfolgern wurde außerdem die Erlaubnis erteilt, weitere Bistümer zu gründen. Die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln verpflichtete der Papst zur Unterstützung dieser Vorhaben. In der Urkunde hob Johannes nochmals die Verdienste Ottos hervor, die seine Erhebung zum Kaiser rechtfertigten: den Sieg über die Ungarn, aber auch die Bemühungen um die Bekehrung der Slawen. Einen Tag später stellte Otto das so genannte Ottonianum aus. Er anerkannte damit die päpstlichen Besitzrechte und -ansprüche, mit denen schon seine karolingischen Vorgänger dem amtierenden Papst die Besitzungen der römischen Kirche bestätigt hatten. Doch das Privilegium Ottonianum ging in den Verleihungen deutlich über die Vorurkunden hinaus und sprach dem Papsttum Gebiete zu, die bisher zum Königreich Italien gehörten. Anerkannt wurde der Besitz über Stadt und Dukat von Rom, das Exarchat von Ravenna, die Herzogtümer von Spoleto und Benevent und eine Fülle weiterer Besitzungen. Doch keiner der Kaiser gab die Gebiete wirklich aus der Hand, und ihr Besitz blieb bis in die Stauferzeit ein Streitpunkt in den päpstlich-kaiserlichen Beziehungen. Durch das Ottonianum wurde überdies die Papstwahl geregelt; sie sollte dem Klerus und „Volk von Rom“ obliegen. Geweiht werden durfte der Papst aber erst nach Ableistung eines Treueids auf den Kaiser. Daneben wurde über die Magdeburg-Pläne verhandelt. Otto erwirkte bei Papst Johannes XII. eine erste Gründungsurkunde, nach der das Moritzkloster in Magdeburg in ein Erzbistum umgewandelt werden sollte. Aber wieder scheiterte das Vorhaben am Widerspruch des Mainzer und Halberstädter Bischofs. Nach der Kaiserkrönung begab sich Otto zurück nach Pavia, von wo aus er den Feldzug gegen Berengar leitete, der sich 963 in die uneinnehmbare Burg San Leo bei San Marino zurückzog. Offenbar über Ottos Machtwillen verstimmt vollzog Johannes XII. im Frühjahr 963 eine unerwartete Kehrtwende. Er empfing Berengars Sohn Adalbert in Rom und schloss mit ihm ein Bündnis gegen den Kaiser. Infolgedessen musste Otto im Oktober 963 die sich über den ganzen Sommer hinziehende Belagerung Berengars abbrechen und nach Rom eilen, um seinem Anspruch wieder Geltung zu verschaffen. Zum Kampf kam es jedoch nicht, Johannes und Adalbert flohen. Otto ließ sich gleich bei seinem Einzug von den Römern eidlich versichern, niemals einen Papst zu wählen oder zu weihen, bevor sie nicht die Zustimmung oder das Votum des Kaisers und seines Mitkönigs eingeholt hätten. In Rom saß eine Synode im Beisein des Kaisers über den Papst zu Gericht. Papst Johannes XII. antwortete brieflich mit der Androhung des Bannes gegen alle, die es wagen sollten, ihn abzusetzen. Als Reaktion ließ die Synode Johannes tatsächlich absetzen und erhob Leo VIII. zum neuen Papst, was nie zuvor ein Kaiser gewagt hatte, da nach päpstlichem Selbstverständnis nur Gott über den Nachfolger des Apostels Petrus richten durfte. Zur gleichen Zeit wurden Berengar und seine Frau Willa gefangen genommen und nach Bamberg ins Exil geschickt. So schien Ende des Jahres 963 die Rückkehr zu stabileren Verhältnissen in Italien und Rom erreicht. Doch dem abgesetzten Papst gelang es, einen Aufstand der Römer gegen Otto und Leo VIII. zu entfesseln, dessen der Kaiser zunächst Herr werden konnte. Nach seiner Abreise aus Rom nahmen die Römer jedoch Johannes XII. wieder in der Stadt auf, und Leo blieb nichts als die Flucht zum Kaiser. Eine Synode erklärte die Beschlüsse der vorherigen kaiserlichen Synode für ungültig und Leo VIII. für abgesetzt. Noch bevor es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung kommen konnte, starb am 14. Mai 964 überraschend Johannes XII., und die Römer wählten dem kaiserlichen Verbot zum Trotz mit Benedikt V. einen neuen Papst. Otto belagerte daraufhin im Juni 964 Rom und konnte nach wenigen Wochen in die Stadt einziehen. Dort inthronisierte er Leo VIII. erneut und ließ Benedikt nach Hamburg in die Verbannung schicken. Rom und Magdeburg: Die letzten Jahre Nach der vorläufigen Ordnung der Verhältnisse kehrte Otto im Winter 965 in den nördlichen Reichsteil zurück. Sein Zug wurde von mehreren großen Hoffesten begleitet. Da Schriftlichkeit als Herrschaftsinstrument im 10. Jahrhundert gegenüber der Karolingerzeit an Bedeutung verlor, gewannen rituelle Akte der Herrschaftsrepräsentation an Bedeutung. Die Hoffeierlichkeiten wurden so zum wichtigsten Instrument der Herrschaftsverwirklichung. Um der Hoffnung auf dynastische Kontinuität Ausdruck zu verleihen, wurde am 2. Februar in Worms, der Stätte der Königswahl Ottos II., der Jahrestag der Kaiserkrönung gefeiert. Wenige Wochen später beging Otto in Ingelheim das Osterfest. Ein großer Hoftag Anfang Juni in Köln, bei dem nahezu alle Mitglieder der Kaiserfamilie anwesend waren, bildete hierbei den Höhepunkt. Doch die Ruhe in Italien war trügerisch. Adalbert, der Sohn Berengars, kämpfte erneut um die Königskrone Italiens, so dass Otto den Herzog Burkhard von Schwaben gegen ihn entsenden musste, der seine Aufgabe mit Erfolg erledigte. Nun konnte Otto seine Pläne zur Gründung des Erzbistums Magdeburg weiter verwirklichen und traf Ende Juni eine weitreichende Entscheidung. Nach dem Tod des Markgrafen Gero, der seit 937 die Hauptlast der Kämpfe an der Slawengrenze getragen hatte, entschloss sich der Kaiser, die Markgrafschaft in sechs neue Herrschaftsgebilde zu zerlegen. Die drei südlichen deckten sich in etwa mit den Sprengeln der späteren Bistümer Merseburg, Zeitz und Meißen. Der Tod Bruns am 11. Oktober 965 beraubte Otto jedoch einer Person, die sich seit ihren Anfängen in der Hofkapelle immer als loyaler Helfer ihres königlichen Bruders verstanden hatte. Am 1. Oktober wurde Papst Johannes XIII. unter Billigung des ottonischen Hofes zum Nachfolger des inzwischen verstorbenen Leo VIII. gewählt. Doch bereits zehn Wochen später wurde er von den Stadtrömern gefangen genommen und in Kampanien inhaftiert. Sein Hilferuf bewog Otto, erneut nach Italien zu ziehen. Er sollte die nächsten sechs Jahre dort verbringen. In Worms regelte Otto im August 966 die Vertretung während seiner Abwesenheit: Erzbischof Wilhelm sollte für das Reich, Herzog Hermann für Sachsen verantwortlich sein. Dann zog er mit einer Heeresmacht über Chur nach Italien. Die Rückführung des Papstes verlief am 14. November 966 ohne Widerstand. Die zwölf Anführer der römischen Miliz, die den Papst gefangen genommen und misshandelt hatten, wurden von Kaiser und Papst mit dem Tod am Kreuz bestraft. Im Jahr 967 reisten Kaiser und Papst Johannes XIII. nach Ravenna und feierten dort das Osterfest. Auf einer darauffolgenden Synode wurde die Magdeburg-Frage erneut verhandelt. In einer Papsturkunde wurde, anders als in der Vorurkunde von 962, der Umfang der geplanten Kirchenprovinz näher definiert. Magdeburg sollte zum Erzbistum erhoben und ihm die Bistümer Brandenburg und Havelberg aus der Mainzer Diözese zugeordnet werden, außerdem sollten in Merseburg, Meißen und Zeitz neue Bistümer errichtet werden. Allerdings bedurfte es zur Verwirklichung der neuen Bistumsorganisation weiterhin der Zustimmung des Bischofs von Halberstadt und des Mainzer Metropoliten. Bernhard von Hadmersleben (923 bis 968), der Bischof von Halberstadt, hatte bis zu seinem Lebensende die Zustimmung zur Errichtung der Magdeburger Kirchenprovinz verweigert. Nachdem in den ersten Monaten des Jahres 968 Bischof Bernhard von Hadmersleben, Erzbischof Wilhelm von Mainz und Königin Mathilde gestorben waren, konnten Ottos Pläne der Gründung Magdeburgs weiter Gestalt annehmen. Die Nachfolger der verstorbenen Bischöfe konnte der Kaiser vor der Investitur auf die Zustimmung zu seinen Plänen verpflichten. Er bestellte die Bischöfe Hatto von Mainz und Hildeward von Halberstadt zu sich nach Italien und erreichte von dem Halberstädter Bischof, dass Teile seiner Diözese an Magdeburg, andere an Merseburg abgetreten werden. Auch der Erzbischof Hatto gab seine Zustimmung zu der Unterstellung seiner Diözesen Brandenburg und Havelberg unter das neue Erzbistum Magdeburg. Jedoch wurde Otto in einem Brief mit nicht näher bekanntem Absender von seinem Kandidaten, dem Abt des Moritzklosters Richar, abgebracht, und er entsprach der Forderung, den Russenmissionar und Abt von Weißenburg, Adalbert, zum neuen Erzbischof von Magdeburg zu ernennen. Das neue Erzbistum Magdeburg diente vor allem der Ausbreitung des christlichen Glaubens und war von Anfang an die für Otto vorgesehene Grabstätte. Durch die schwierigen italienischen Verhältnisse konnte Otto allerdings die Errichtung des Erzbistums nicht persönlich miterleben. Erst im Frühjahr 973, viereinhalb Jahre nach ihrer Gründung, hat Otto das Erzbistum Magdeburg erstmals aufgesucht. Parallel zu den Magdeburg-Plänen verlagerte Otto seit Februar 967 seinen Aktionsradius in den Raum südlich von Rom. Auf Zügen nach Benevent und Capua nahm er von den dortigen Herzögen Huldigungen entgegen. Da Byzanz die Oberhoheit über diese Gebiete beanspruchte und seine Herrscher sich als einzige legitime Träger des Kaisertitels sahen, verschärften sich die Konflikte mit Kaiser Nikephoros Phokas, der Otto vor allem seine Kontaktaufnahme mit Pandulf I. von Capua und Benevent übel nahm. Dennoch scheint der Byzantiner zunächst bereit gewesen zu sein, auf Frieden und Freundschaft einzugehen, woran auch Otto gelegen war, der überdies an eine purpurgeborene byzantinische Prinzessin als Braut für seinen Sohn und Nachfolger dachte. Otto versprach sich von der Eheverbindung mit der ruhmreichen makedonischen Dynastie offensichtlich Legitimation und Glanz für seinen Sohn und sein Haus. Um seine dynastischen Pläne zu fördern, forderte Otto in einem gemeinsam mit dem Papst verfassten Schreiben seinen Sohn auf, im Herbst 967 nach Rom zu reisen, um mit ihnen Weihnachten zu feiern. Die Erhebung des jungen Otto dürfte mit der Einladung beschlossen gewesen sein. Der Vater reiste ihm bis Verona entgegen. Drei Meilen vor der Stadt wurden Otto und sein Sohn von den Römern am 21. Dezember feierlich eingeholt, und am Weihnachtstag erhob Johannes XIII. Otto II. zum Mitkaiser. Die angestrebte Ehe sollte als Katalysator eine Klärung der offenen Fragen erzielen: des Zweikaiserproblems sowie der Regelung des Herrschaftsbereichs in Italien im Rahmen eines Freundschaftsbündnisses, bei dem keine der Parteien einen Prestigeverlust hinnehmen musste. Als Folge spielten sich in den nächsten Jahren militärische Verwicklungen in Unteritalien parallel zum Gesandtschaftsverkehr ab. Um die Verhältnisse in Süditalien zu ordnen und um zu expandieren, erhoben Kaiser und Papst 969 das Bistum Benevent zum Erzbistum. Erst als Nikephoros im Dezember 969 von Johannes Tzimiskes ermordet und ersetzt wurde, ging der neue byzantinische Kaiser auf die Brautwerbung der Ottonen ein und sandte seine Nichte Theophanu, eine zwar nicht „purpurgeborene“, aber doch dem Kaiserhaus entstammende Prinzessin, nach Rom. Im Jahre 972, gleich nach der Hochzeit, wurde Theophanu am 14. April vom Papst zur Kaiserin gekrönt. Mit einer Prunkurkunde wies Otto II. als Mitkaiser seiner Gemahlin große Besitzungen zu. Durch die Heirat Ottos II. mit Theophanu entspannten sich die Konflikte in den südlichen Teilen Italiens; wie die Neuordnung der dortigen Verhältnisse konkret vorgenommen wurde, ist jedoch unbekannt. Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten dauerte es nur wenige Monate, bis die kaiserliche Familie im August ins Reich zurückkehrte. Nach seiner Rückkehr in das ostfränkische Reich fand im September 972 eine Synode in Ingelheim statt. Diese behandelte vor allem die Nachfolgeregelung von Bischof Ulrich von Augsburg. Bereits in Italien hatten Otto und Ulrich sich auf Ulrichs Neffen Adalberto geeinigt. Die Synode entschied jedoch zunächst gegen den designierten Kandidaten, da Ulrichs Neffe bereits offen den Bischofsstab trug. Gelöst wurde die Krise durch einen Eid, mit dem Adalberto zu bestätigen hatte, dass er unwissentlich damit zum Ketzer geworden sei. Diese Entscheidung desavouierte deutlich die Zustimmung, die Otto der Große zu dem Plan gegeben hatte, und verdeutlicht das Selbstbewusstsein des ottonischen Episkopats. Im Frühjahr 973 besuchte der Kaiser Sachsen und feierte den Palmsonntag in Magdeburg. Diese Feier in Magdeburg stellte zugleich eine Ordnung wieder her, die im Vorjahr provokativ in Frage gestellt worden war. Ottos bis dahin treuer Stellvertreter in Sachsen Hermann Billung hatte sich von Erzbischof Adalbert wie ein König in die Stadt einholen lassen. In Ottos Pfalz hatte er dessen Platz an der Tafel eingenommen und gar im Bett des Königs geschlafen und schließlich noch dafür gesorgt, dass dies dem Kaiser gemeldet wurde. In der Usurpation des königlichen Empfangszeremoniells lag offenbar ein Protest gegen die lange Abwesenheit des Kaisers. Otto hatte sich sechs Jahre ununterbrochen in Italien aufgehalten, so dass in einem vor allem personal strukturierten Herrschaftsverband die Autorität des Königs in seiner Heimat sich zu verringern begann. Das Osterfest am 23. März 973 in Quedlinburg zeigte den Kaiser auf dem Höhepunkt seiner Macht und die europäische Dimension seiner Herrschaft. In Quedlinburg empfing er Gesandte aus Dänemark, Polen und Ungarn, aber auch aus Byzanz, Unteritalien und Rom, ja selbst aus Spanien. Für die Bitttage und Christi Himmelfahrt gelangte Otto über Merseburg zur Pfalz Memleben. Hier erkrankte er schwer. Nach Fieberanfällen verlangte er die Sterbesakramente und starb am 7. Mai 973 an jenem Ort, wo bereits sein Vater gestorben war. Der Übergang der Herrschaft auf seinen Sohn Otto II. erfolgte nahtlos, da die Nachfolge durch die Krönung Ottos II. bereits geregelt war. Am nächsten Tag bestätigten die anwesenden Großen den nun allein herrschenden Sohn in seinem Amt. Sein Vater wurde nach einem prunkvollen 30-tägigen Leichenzug in Anwesenheit der Erzbischöfe Adalbert von Magdeburg und Gero von Köln im Magdeburger Dom an der Seite seiner 946 verstorbenen Frau Edgith beigesetzt. Wirkung Kontinuität und Wandel unter Otto II. In Italien bestanden die ungelösten Probleme aus dem letzten Jahrzehnt seines Vaters fort, das heißt vor allem die Herrschaft über Italien und die Verantwortung für das Papsttum. In der Italienpolitik brach Otto II. mit der Tradition seines Vaters. Im Verhältnis zu Venedig, das sich seit jeher mit Erfolg gegen die territoriale Eingliederung in das Kaiserreich und die politische Unterordnung zur Wehr gesetzt hatte, ging der neue Kaiser massiv vor – ohne Rücksicht auf die langjährigen einvernehmlichen, seit 812 vertraglich geregelten Beziehungen zwischen Venedig und dem Reich. Während die erste von Otto II. im Januar oder Februar 981 angeordnete Handelsblockade Venedig kaum beeinträchtigte (vgl. Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig), fügte die zweite im Juli 983 Venedig erhebliche Schäden zu und spaltete ihre Herrschaftsgruppe. Nur der frühe Tod Ottos II. verhinderte möglicherweise die drohende Unterwerfung Venedigs unter das Imperium. Otto I. hatte sich noch darauf beschränkt, die Fürstentümer Capua, Benevent und Salerno lehnsrechtlich an sich zu binden; sein Sohn verfolgte erheblich weiter gehende Ziele. Otto II. unternahm große Anstrengungen, sie politisch wie kirchlich intensiver und unmittelbarer seiner Kaiserherrschaft zu unterwerfen. Auch im religiösen und monastischen Bereich beschritt Otto II. neue Wege: Mönchtum und Klöster sollten als herrschaftstragende und -stabilisierende Faktoren im Reichsgefüge dienen. Während Otto der Große in 37 Regierungsjahren mit St. Mauritius in Magdeburg nur ein einziges Kloster gründete, darf Otto II. für mindestens vier Klöster – Memleben, Tegernsee, Bergen bei Neuburg/Donau und Arneburg – den Rang eines Gründers oder Mitstifters beanspruchen. Die aktive Einbindung des Mönchtums in die kaiserliche Politik bildete geradezu eine Grundkonstante in seinem Verhältnis zum Klosterwesen, dessen Vertreter er mit zentralen politischen Funktionen betraute. Das Vorhaben, eine Kirchenprovinz einzurichten, ist mit der Gründung des Erzbistums Magdeburg auch nach 968 nicht zur Ruhe gekommen. Die Regelung vieler Details, angefangen mit der genauen Grenzziehung bis hin zur Ausstattung der neuen Bistümer, musste Otto seinem Nachfolger und dessen Helfern überlassen. Otto II. nutzte 981 die erste Gelegenheit zur Aufhebung des Bistums Merseburg, indem er dessen Bischof Giselher auf den Magdeburger Erzstuhl setzte. Dieser Schritt scheint längerfristig geplant und mit den wichtigsten Bischöfen abgesprochen gewesen zu sein. Was den Ausschlag für die Abkehr vom Werk Ottos des Großen gab, ist unbekannt. Ein Jahr nach der Aufhebung Merseburgs wurde das kaiserliche Heer bei Crotone von Truppen der muslimischen Kalbiten in Süditalien vernichtend geschlagen. Ein weiteres Jahr später erhoben sich die slawischen Stämme jenseits der Elbe erfolgreich gegen die ottonische Herrschaft. Schließlich verstarb der Kaiser noch 983 mit 28 Jahren und hinterließ einen erst dreijährigen Sohn. Kultureller Aufschwung Der Zerfall des großfränkischen Reiches hatte zu einem Niedergang des kulturellen Lebens geführt. Erst seitdem Heinrich I. die neue Herrschaftsordnung eingeführt und Otto sie mit dem Ungarnsieg 955 endgültig gesichert hatte, konnte es wieder erblühen. Dieser kulturelle Aufschwung kann in zwei Phasen eingeteilt werden. Während der ersten Phase sicherte der Königshof die materiellen Verhältnisse und schuf damit die Grundlage für den Aufstieg. Der Herrschaftserfolg Ottos brachte neue Einnahmequellen, etwa Tribute aus dem Slawengebiet im Osten und die neu erschlossenen Silberadern im Harz. Diese kamen auch den Kirchen zugute. Die zweite Phase war durch das Wirken von Ottos geistlichem Bruder Brun bestimmt. Als Leiter der Hofkapelle und Erzbischof von Köln bemühte Brun sich besonders um die Förderung der Domschulen, aber auch der Kunst und des Kirchenbaus. Nach seinem Vorbild entstanden Domschulen in Magdeburg, Würzburg und an zahlreichen anderen Orten. Daneben behielten Klöster wie Fulda, St. Gallen, St. Emmeram/ Regensburg oder Corvey ihren Platz als Zentrum der Bildung. Die von Otto geförderten Frauenstifte waren es schließlich, welche die so genannte Ottonische Renaissance einläuteten. Die bedeutendsten Werke der Zeit entstanden in dem Bistum und den Klöstern, die dem König am engsten verbunden waren. Widukind von Corvey und Hrotsvith von Gandersheim bekannten voller Stolz, dass der König und seine Erfolge sie zu ihren Werken beflügelt hätten. Bischöfe wie Gero von Köln oder Willigis von Mainz wetteiferten im Kirchbau und zogen Buchmaler, Goldschmiede oder Bronzegießer an sich, um die Liturgie ihrer Kirchen immer prachtvoller zu gestalten. Die in Austausch und Konkurrenz verschiedener Zentren sich entwickelnde ottonische Kunst griff auf spätantike und karolingische Traditionen zurück und verarbeitete zeitgenössische byzantinische Anregungen, ohne dass sich der Anteil der verschiedenen Einflüsse jeweils genau abgrenzen ließe. Urteile der mittelalterlichen Geschichtsschreibung Im 10. Jahrhundert ging der Stellenwert von Schriftlichkeit als Instrument der Herrschaftspraxis und Kommunikation gegenüber der hochkarolingischen Zeit enorm zurück. Erst seit der Mitte des 10. Jahrhunderts entstand mit den Werken Widukinds, Liudprands, Hrotsvits, den Mathildenviten und Thietmars Chronik eine ganze Reihe von Geschichtswerken, die sich vor allem dem ottonischen Herrscherhaus widmeten. Die Autoren legitimierten Ottos Königtum mit drei Strategien: dem ausdrücklichen Willen Gottes (göttliche electio), der Anerkennung Ottos durch die kirchlichen und weltlichen principes (Fürsten) und der Stärkung des dynastischen Prinzips. Der ottonische Geschichtsschreiber Widukind von Corvey gilt als „Kronzeuge“ für die Geschichte Ottos I. Er schrieb mit den eine „Geschichte der Sachsen“, die bis zu deren sagenhaften Landnahme im 6. Jahrhundert zurückreicht und Otto als einen alles Vorherige überbietenden Höhepunkt in der Geschichte der Sachsen darstellt. Für Widukind war Otto gar „das Haupt der ganzen Welt“ (totius orbis caput). Sein Geschichtswerk widmete er Ottos Tochter Mathilde, um sie mit den Taten ihres großmächtigen Vaters (pater potentissimus) und ruhmreichen Großvaters (avus gloriosissimus) vertraut zu machen. Ihm muss daher klar gewesen sein, dass der Inhalt seines Werkes dem Herrscher bekannt werden würde. Mehrfach betonte er, dass „“ (Ergebenheit) ihn beim Schreiben geleitet habe, und er bittet um „“ (Milde) der hohen Leser bei der Aufnahme seines Werkes. So begann Widukind etwa seinen Bericht über Friedrich von Mainz, der gegen Otto aufständisch geworden war, mit der beschwörenden Versicherung: „Den Grund des Abfalls mitzuteilen und die königlichen Geheimnisse () zu enthüllen, steht mir nicht zu. Doch glaube ich, der Geschichte genügen zu müssen. Lasse ich mir dabei etwas zuschulden kommen, möge man es mir verzeihen.“ Solche Bescheidenheits-Topoi finden sich allerdings häufig in der Geschichtsschreibung. Widukind enthüllte dabei eine überraschende Legitimationsstrategie, indem er die Kaiserkrönung überging und eine gleichsam „romfreie Kaiseridee“ entwickelte. An die Stelle der Sakralisierung durch Papst und Kaiserkrönung trat eine Akklamation des Kaisers durch die siegreichen Heere. Der Sieg Ottos auf dem Lechfeld wurde zum eigentlichen Akt der Herrschaftslegitimation. Neben dieser Vorstellung der Kaiserkrönung im Stile antiker Soldatenkaiser vermischten sich bei Widukind auch germanische und christliche Vorstellungen von Herrschaft und Heldentum. Der Kaiser ist kein universaler Herrscher, sondern ein germanischer , ein Oberkönig über die Völker. Zum Schluss preist der Geschichtsschreiber die Errungenschaften der langen Herrscherzeit Ottos I.: „Der Kaiser hat mit väterlicher Huld regiert, seine Untertanen von den Feinden befreit, die Awaren, die Sarazenen, Dänen und Slawen besiegt, Italien unterworfen, die Götzenbilder der heidnischen Nachbarn zerstört sowie Kirchen und geistliche Gemeinschaften eingerichtet.“ Liudprand von Cremona stand zunächst in den Diensten Berengars von Ivrea. Nach einem Zerwürfnis mit ihm fand er Zuflucht bei Otto und wurde von ihm 961 zum Bischof von Cremona ernannt. In seinem Hauptwerk (Vergeltung) wollte Liudprand die Taten aller Herrscher Europas darstellen. Der Titel Vergeltung weist auch auf eine persönliche Abrechnung mit König Berengar hin, den Liudprand als Tyrannen zu brandmarken sucht. Ottos Königtum ist für Liudprand gottgewollt (göttliche electio). Heinrich I. sei ein demütiger Herrscher gewesen, der seine Krankheit überwunden und die Ungarn (933) besiegt habe. Otto I. sei sein würdiger Nachfolger, der ebenfalls mit Gottes Hilfe seine Feinde überwinde. Liudprand kannte den byzantinischen Hof von mehreren Gesandtschaften. Seine ironische Darstellung des byzantinischen Hoflebens dient dem größeren Ruhme Ottos, sie sollte als Gegenbild dessen Herrschaft verherrlichen. Für den Geschichtsschreiber Thietmar von Merseburg bildete die für Merseburg erbrachte Leistung ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung der ottonischen Herrscher. Thietmar umschrieb etwa vierzig Jahre nach Ottos Tod dessen Herrschaftszeit mit den Worten: „In seinen Tagen erstrahlte das goldene Zeitalter!“ () Er feierte Otto als den bedeutendsten Herrscher seit Karl dem Großen. Charakteristisches Merkmal aller drei Darstellungen ist, dass sie Otto als Werkzeug Gottes zeigen, als einen König, der seine Stärke daraus gewinnt, dass er auf rechtem Wege wandelt und deshalb mit Gottes Schutz und Hilfe rechnen kann. In den Geschichtswerken, die am Ende seines Lebens oder kurz danach entstanden, wird Otto der Große meist zum Helden stilisiert. Die Werke rühmen seine Erfolge, loben seine Amtsführung und bescheinigen ihm vielfältig, dass er alle Eigenschaften besessen habe, über die ein König verfügen sollte. Jedoch hat sich aus der Ottonenzeit auch ein anonymer Geschichtsschreiber erhalten, der Otto nicht nur kritisiert, sondern auch dessen Leben durch göttliche Rache beendet sieht. Diese Darstellung stammt aus Halberstadt, wo man Otto nicht verzieh, dass er zugunsten der Gründung des Erzbistums Magdeburg und des Bistums Merseburg die Halberstädter Diözese erheblich verkleinert hatte. Mit zunehmender zeitlicher Distanz setzte die Historiographie mit Ottos Sieg über die Ungarn, seine Erlangung der Kaiserwürde und die Gründung des Magdeburger Erzbistums drei Schwerpunkte. Der Beiname „der Große“ ist bereits von Zeitgenossen bezeugt, jedoch zunächst im Sinne einer Altersbezeichnung („der Alte“) zur Unterscheidung von Otto II. Spätestens seit dem mittleren 12. Jahrhundert durch die Weltchronik Ottos von Freising gilt magnus als festes Namensattribut. Otto von Freising befand: Otto habe das Kaisertum von den Langobarden zu den „deutschen Ostfranken“ () zurückgebracht und sei vielleicht deshalb als erster König der Deutschen (rex Teutonicorum) genannt worden, obgleich das Reich doch das fränkische geblieben sei, in dem nur die herrschende Dynastie gewechselt habe. Im späten 13. Jahrhundert nannte der Dominikaner-Chronist Martin von Troppau Otto den Großen den ersten Kaiser der Deutschen (). Geschichtsbilder und Forschungsperspektiven Die Zeit der Ottonen geriet seit dem 19. Jahrhundert in das Zentrum nationaler Geschichtsbilder. Die Historiker suchten im Mittelalter nach den Gründen für die verspätete Nationsbildung. Das Reich Heinrichs I. und Ottos I. galt als der erste eigenständige Staat der Deutschen. Otto habe durch seinen Sieg in der Lechfeldschlacht 955 gegen die Ungarn, der Gewinnung Italiens und 962 durch den Erwerb der Kaiserkrone Deutschland den ersten Platz unter den europäischen Völkern verschafft. Mit der Gründung des Erzbistums in Magdeburg leitete Otto außerdem die Ostbewegung ein. Heinrich und Otto galten für Jahrzehnte im Mittelalterbild der Deutschen als Gründer des Deutschen Reiches. Erst durch die Forschungen der letzten Jahrzehnte zur Nationsbildung sind solche ehemals als sicher geltende Vorstellungen verloren gegangen. Die moderne Mediävistik sieht heute das Deutsche Reich in einem Prozess entstanden, der im 11. und 12. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen war. Unter dem Aspekt nationaler Interessen wurde im Sybel-Ficker-Streit des 19. Jahrhunderts die Italienpolitik gegen die Ostpolitik ausgespielt, die durch die Fixierung auf Italien verhängnisvoll gewesen sein soll. Die historische Ostpolitik rückte in den Blickpunkt, als man versuchte, die nationale Gestaltung Deutschlands, die sogenannte großdeutsche oder kleindeutsche Lösung, mit historischen Argumenten zu entscheiden. Ausgelöst wurde der Streit um die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters im Jahr 1859 von Wilhelm Giesebrecht. Er verklärte die Kaiserzeit als „Periode, in der unser Volk, durch Einheit stark, zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh, wo es nicht allein frei über sein eigens Schicksal verfügte, sondern auch anderen Völkern gebot, wo der deutsche Mann am meisten in der Welt galt und der deutsche Name den vollsten Klang hatte“. Der preußische Historiker Heinrich von Sybel widersprach Giesebrecht energisch. Für Sybel war Otto „kein Erretter Deutschlands und Europas aus dem wüsten Elend einer kaiserlosen Zeit“. Dem deutschen Reich aber und dem deutschen Königtum „erwuchs kein Heil aus dem so errungenen kaiserlichen Glanze.“ Die Expansion in den Osten als das natürliche Ziel des deutschen Volkes zu sehen, war seine Kernforderung. Nach Sybel hätten Karl der Große, Otto der Große, auch der Rotbart Friedrich sie nicht gefördert, sondern leichtfertig aufs Spiel gesetzt und somit die Kaisermacht vergeudet. Giesebrecht konterte 1861, dass sein politisches Weltbild und sein Vergangenheitsbild sich von jenem Sybels nur in der Himmelsrichtung unterscheiden. Machtentfaltung und weltbeherrschender Einfluss zählte er auch zu seinen Standards. 1861 schaltete sich Julius Ficker in den Historikerstreit ein und warf Sybel anachronistische Positionen vor: Eine deutsche Nation habe es zu Ottos Zeit noch nicht gegeben; Schuld am Niedergang trage nicht das Kaisertum, vielmehr Barbarossas maßloses Ausgreifen nach Sizilien. Leopold von Ranke blieb abseits des Streites. Er deutete Ottos Kaisertum eher aus dem Gegensatz von romanischer und germanischer Welt als aus der Italien- oder Ostpolitik, wobei jene durch die Kirche, diese durch den Kaiser aus Sachsen repräsentiert gewesen seien. Die Folge war, dass damals neue Forschungsansätze und Fragestellungen wie etwa Karl Lamprechts Kulturgeschichte keine Beachtung fanden. Der Streit, bei dem sich die Positionen klein- oder großdeutsch, preußisch oder österreichisch, protestantisch oder katholisch abwechselten, erschloss zugleich europäische Perspektiven. Ernst Dümmler sah 1876 in seiner bis heute ausführlichsten Darstellung von Ottos Regierung einen „jugendkräftigen Aufschwung“, einen „nationalen Zug“ unter diesem Kaiser „durch die Herzen des Volkes“ gehen, „das damals zuerst anfieng, … sich das deutsche zu nennen und deutsch zu fühlen“. Der Historiker-Streit spaltete die Geschichtswissenschaft und prägte noch im frühen 20. Jahrhundert die Urteile der Historiker. Obgleich Heinrich Claß 1926 „freudiger Stolz“ auf Ottos Leistung erfüllte, verurteilte er dennoch seine Italienpolitik als „verhängnisvoll und unglücksschwanger“. 1936 widmete Robert Holtzmann seine Biographie Ottos „dem deutschen Volke“ mit dem Bemerken, dieser habe „der deutschen Geschichte des Mittelalters Weg und Ziel gewiesen, die deutsche Kaiserzeit nicht nur eingeleitet, sondern auf Jahrhunderte hinaus wahrhaft beherrscht“. Im Nationalsozialismus begann für die Ideologen unter Heinrich I. „die nationale Sammlung der Deutschen“, unter Otto dem Großen „der bewußte Versuch nationaler Aufrichtung und Kultivierung“. Dieser Tenor wurde bald von allen Schulungszentren der Partei bis hin zum „Völkischen Beobachter“ verbreitet. Hingegen wollten Heinrich Himmler und preußisch orientierte Historiker wie etwa Franz Lüdtke oder Alfred Thoss zunächst einzig in Ottos Vater Heinrich I. den Stifter des deutschen Volkes sehen. Das änderte sich mit dem „Anschluss“ Österreichs und dem damit „großdeutsch“ gewordenen Reichsanspruch. Albert Brackmann als der damals einflussreichste und höchstrangige Historiker verfasste auf Einladung Himmlers unmittelbar nach Kriegsbeginn die Schrift „Krisis und Aufbau in Osteuropa. Ein weltgeschichtliches Bild“, die im SS-eigenen Ahnenerbe-Verlag noch 1939 erschien und von der 7000 Exemplare zu Schulungszwecken auch von der Wehrmacht bestellt wurden. Ottos Plan, dem Magdeburger Erzbistum „die ganze Slawenwelt zu unterstellen“, wird darin als „der umfassendste Plan, den je ein deutscher Staatsmann hinsichtlich des Ostens gefasst hat“, dargestellt. Adolf Hitler schloss sich der Sybelschen Einschätzung mit einer günstigeren Sicht auf Otto an. Er nannte in Mein Kampf drei wesentliche und bleibende Erscheinungen, die aus dem „Blutmeer“ der deutschen Geschichte hervorgegangen seien: Die nach der Lechfeldschlacht erfolgende Eroberung der Ostmark, die Eroberung des Gebietes östlich der Elbe und die Schaffung des brandenburgisch-preußischen Staates. Folglich nannte er „Die militärische Weisung für den Einmarsch in Österreich vom 11. März 1938“ das erste Dokument seiner Tätigkeit als neuer Oberbefehlshaber der Wehrmacht, „Unternehmen Otto“, das mit der Weisung zur Umbenennung Österreichs in „Ostmark“ vom 24. Mai 1938 abgeschlossen wurde. Hitlers neuer Generalstabschef Franz Halder, unbeteiligt am „Unternehmen Otto“, arbeitete 1940 den Feldzug gegen Russland als „Plan Otto“ aus. Zur Vermeidung einer Doppelung wurde daraus das „Unternehmen Barbarossa“. Noch 1962 vernahm man anlässlich des Millenniums der Kaiserkrönung von Leo Santifaller, Otto habe „eine feste Konzeption eines starken deutschen Gesamtstaates in sich“ getragen, es sei ihm gelungen, „das Reich im Innern zu einigen und nach außen die feindlichen Angriffe erfolgreich abzuwehren, das Reichsgebiet zu erweitern und den deutschen Einflussbereich nahezu über ganz Europa auszudehnen – so zwar, daß man das Imperium Ottos I. als einen … Versuch einer europäischen Einigung bezeichnen kann“. Solche Töne der Begeisterung über eine nationale Erfüllung im 10. Jahrhundert einschließlich ihrer europäischen Aufgipfelung sind heute in Fachkreisen so gut wie verstummt. Seit den 1980er Jahren veränderte sich die Perspektive auf Otto I. nachhaltig. Die Mediävistik kam durch Untersuchungen zur Herrschaftsorganisation und zur Bedeutung von zeremoniellen und symbolischen Handeln zu neuen Erkenntnissen über die Funktionsweisen mittelalterlicher Königsherrschaft im 10. Jahrhundert. In der Doppelbiografie von Gerd Althoff und Hagen Keller (1985) gelten die beiden ersten Ottonen Heinrich I. und Otto I. nicht mehr als Symbole für Deutschlands frühe Macht und Größe, sondern eher als ferne Repräsentanten einer archaischen Gesellschaft. Im Jahr 2001 sah Johannes Laudage den „Strukturwandel, den Otto I. innerhalb des Herrschaftsgefüges angestrebt und schließlich auch weitgehend durchgesetzt hat“, als eine seiner bedeutendsten Taten an. Dieser Wandel bestand im Wesentlichen in einer stärkeren „Akzentuierung seiner Entscheidungsvollmacht und Autorität“. Zur 1100. Wiederkehr von Ottos Geburtstag legte Matthias Becher 2012 eine Biografie vor. Nach Becher haben „Ottos Erfolge und der Erwerb der Kaiserkrone […] der deutschen Geschichte jedenfalls entscheidende Impulse verliehen“. Nachleben in Magdeburg Im Gegensatz zu Karl dem Großen ist Otto nie als Sagengestalt populär geworden. Vielmehr stehen alle Bilder, die von dem ersten Sachsenkaiser nach seinem Tode geschaffen wurden, in Zusammenhang mit Magdeburg. Die Bedeutung Magdeburgs für die Herrschaft Ottos geht auch aus der Häufigkeit seiner Aufenthalte hervor. Verschiedene Urkunden und andere schriftliche Überlieferungen bezeugen, dass Otto der Große das von ihm begünstigte Magdeburg zeit seines Lebens mindestens 23 mal aufgesucht hat. An keinem anderen Ort ist ein häufigerer Aufenthalt nachzuweisen. Das liturgische Gedenken für Ottos Seelenheil wurde über Jahrhunderte vom Magdeburger Domkapitel gepflegt. Jedoch ist zu keiner Zeit eine Steigerung zum Heiligenkult eingetreten. In der Regierungszeit des Erzbischofs Hartwig von Magdeburg (1079–1102) wurden Münzen geprägt, die auf der einen Seite eine stilisierte Stadtansicht mit der Umschrift , auf der anderen Seite das Bild eines Erzbischofs zeigen, der durch seinen Bischofsstab gekennzeichnet ist, allerdings mit der Umschrift umgeben ist. Diese Münzen werden mit dem 150-jährigen Bestehen des Erzbistums Magdeburg in Verbindung gebracht. Im 12. und noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden unter dem Einfluss der Magdeburger Gießhütte die „Otto-Schalen“, die weite Verbreitung im Elbe-Saale-Gebiet und im südlichen Ostseeraum fanden. Von besonderer Qualität ist dabei eine in Halle gefundene und auf die Zeit um das Jahr 1200 datierte „Otto-Schale“, in deren Mitte sich ein Medaillon mit der Darstellung eines gekrönten und inschriftlich als „OTTO“ bezeichneten Mannes befindet. Die Umschrift („Jerusalem, Erscheinung des Friedens“) lässt einen inhaltlichen Zusammenhang mit Kreuzzugsgedanken vermuten. Im Sachsen des 12. Jahrhunderts richteten sich diese besonders gegen die heidnischen slawischen Nachbarn, an die das Erzbistum nach dem Liutizenaufstand von 983 einen Großteil seiner Suffragane verloren hatte. Die Missionare stellten sich mit der Darstellung Ottos des Großen in dessen Tradition. Für die vielleicht in Magdeburg entstandene Sächsische Weltchronik zählte das Kaisertum Ottos des Großen zu den neun wichtigsten Ereignissen der Weltgeschichte von Christi Geburt bis 1229. Für Magdeburg ebenfalls bedeutend war das seit 1844 nicht wieder gehobene Kaisergrab. Laut seiner 1501 beschriebenen Grabinschrift wurde Otto der Große als „summus honor patriae“ (der höchste Ruhm des Vaterlandes) gefeiert. Um 1240 entstand mit dem Magdeburger Reiter das bedeutendste Denkmal für das Nachleben Ottos des Großen in Magdeburg. Die Skulptur stellt beinahe in Lebensgröße einen hochmittelalterlichen Herrscher zu Pferd dar. Die Deutung des Reiterstandbildes ist indes weiterhin strittig. Für die Bürger Magdeburgs galt Otto nicht nur als Stifter des Erzbistums, sondern auch als Gründer der Stadt und großer Privilegiengeber. So wurde das Reiterdenkmal schon sehr früh in diesen Bedeutungsstrang mit einbezogen. Die Stadt sah in dem Reiter eine steinerne Urkunde, ein zum Monument gewordenes Denkmal der Privilegien Ottos des Großen. In der vom städtischen Ratsschreiber Heinrich von Lammespringe Mitte des 14. Jahrhunderts begonnenen Schöppenchronik wird zum Jahr 938 unter der Überschrift „“ der von Kaiser Otto verliehenen Privilegien gedacht. Zur Erinnerung an die Stadtgründung Magdeburgs ließ die Stadt 1622 Münzen prägen, die als sogenannte Hurenkarren- oder Venustaler bekannt wurden, und den Kaiser zu Pferd im Harnisch mit Szepter zeigen. Otto wurde noch im Spätmittelalter als erster Stadtherr gewürdigt, bis die Stadt 1666 im Kloster Berge ihre politische Eigenständigkeit verlor. Magdeburg etablierte sich nun als brandenburgische Stadt, später als preußische Landes- und Garnisonstadt. Volkstümlichere Denkmäler gewannen nun an Bedeutung. Erst im 19. Jahrhundert wurden Otto wieder bedeutendere Denkmäler gewidmet und er fand Eingang in die Literatur, welche besonders die psychologische Komponente der Kämpfe Ottos gegen seine Verwandten thematisierte. Unter den Herrschern Friedrich Wilhelm III., Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. wurde der Magdeburger Dom mehrfach renoviert und restauriert. Das Reiterdenkmal wurde ebenfalls renoviert und erhielt eine neugotische Einfassung aus Sandstein. Im Jahre 1858 wurde von der Magdeburger Bürgerschaft dem Kronprinzen und späteren Kaiser Friedrich III. und seiner frisch vermählten Gattin Victoria, Tochter der britischen Königin Victoria, bei ihrem Besuch ein Tafelaufsatz überreicht, der die Inschrift „Euch sei zu Euren und des Landes Heil Edithas Glück und Ottos Ruhm zu theil“ trug. Mit diesem Geschenk sollte an die erste Ehe des ostfränkischen Herrschers aus sächsischem Hause mit der angelsächsischen Prinzessin Edgith erinnert werden. Im wilhelminischen Kaiserreich bildete das 1906 eingeweihte Kaiser-Friedrich-Museum der Stadt Magdeburg den Höhepunkt der Rezeption Kaiser Ottos in Magdeburg. Ein Kernstück des Museums ist der „Magdeburger Saal“, in dem ausgewählte Höhepunkte der Stadtgeschichte thematisiert werden. Ein 120 Quadratmeter großes Wandbild des Historienmalers Arthur Kampf zeigt drei mit der Stadt verbundene Szenen aus dem Leben Ottos: Das linke Bild mit der Unterschrift „Otto I. und Editha betreiben die Befestigung von Magdeburg“ zeigt neben dessen erster Frau Edgith Otto, der sich auf einer Baustelle von einem Baumeister einen Plan erläutern lässt. Das mittlere Bild mit dem Titel „Otto I. zieht als Sieger ueber die Slaven und Wenden in Magdeburg ein“ gibt einen triumphalen Einzug des Kaisers im mittleren Lebensalter wieder. Das dritte Bild mit dem Titel „Otto I. und Adelheid nehmen Abschied vom Grabe Edithas“ zeigt den Herrscher kurz vor seinem eigenen Tod mit seiner zweiten Frau Adelheid. Während im Nationalsozialismus insbesondere die Begräbnisorte einiger mittelalterlicher Herrscher, wie die salische Kaisergrablege im Dom zu Speyer oder die Stiftskirche in Quedlinburg mit dem Grab König Heinrichs I. im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie baulich verändert wurden bzw. verändert werden sollten, blieben Eingriffe in größerem Ausmaß in den Magdeburger Dom aus. Die Skulpturen des Magdeburger Reiter-Denkmals wurden im Laufe des Zweiten Weltkrieges zum Schutz vor Bombardierungen in den Elbebunker in Sicherheit gebracht. Im Jahr 1961 wurde die Skulpturengruppe des Magdeburger Reiters im Foyer des wieder aufgebauten Kulturhistorischen Museums aufgestellt. Eine künstlerische von Heinrich Apel angefertigte Nachbildung wurde vergoldet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts rückten drei Magdeburger Ausstellungen Otto in den Blickpunkt eines historisch interessierten Publikums und intensivierten zugleich die Forschung. 2001 wurde Ottos Herrschaft und das 10. Jahrhundert auf der Magdeburger Ausstellung Otto der Große, Magdeburg und Europa in europäische und regionale Bezüge gerückt. Zweihundert Jahre nach dem Ende des Alten Reiches wurde 2006 in Magdeburg eine Ausstellung von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters gezeigt. Zum 1100. Geburtstag Ottos und der 1050. Wiederkehr seiner Kaiserkrönung 962 veranstaltete das Kulturhistorische Museum Magdeburg 2012 eine Ausstellung über das Kaisertum des ersten Jahrtausends. Im Fokus stand die Entstehungsgeschichte des Kaisertums von Augustus bis zur Wiederbegründung des weströmischen Kaisertums 962 auf karolingischen Fundamenten durch Otto den Großen. Von 2006 bis 2010 wurden Grabungen in und um den Magdeburger Dom durchgeführt, deren Höhepunkt die Auffindung der Gebeine von Ottos erster Gemahlin Edgith im Jahre 2008 war. Seit 2018 ehren die Stadt Magdeburg und das Land Sachsen-Anhalt Otto mit einem eigenen Museum, dem Dommuseum Ottonianum Magdeburg. Die 1050. Wiederkehr von Ottos Todestag im Jahre 2023 bildet den Anlass für zahlreiche Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen in Magdeburg, Merseburg, Memleben, Quedlinburg und Walbeck. Quellen Urkunden und Regestenwerke Johann Friedrich Böhmer, Emil von Ottenthal, Hans Heinrich Kaminsky: Regesta Imperii II, 1. Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich I. und Otto I., Hildesheim 1967. Regesta Imperii Literarische Quellen Hrotsvitha von Gandersheim: Gedicht über Gandersheims Gründung und die Taten Kaiser Oddo I. (= Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit. Bd. 32). Übersetzt von Theodor Pfund, neu bearbeitet von Wilhelm Wattenbach, Leipzig 1941. Liudprand von Cremona: Werke. In: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 8). Übersetzt von Albert Bauer, Reinhold Rau. 5. gegenüber der 4. um einen Nachtrag erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 233–589. Thietmar von Merseburg, Chronik. Neu übertragen und erläutert von Werner Trillmich. Mit einem Nachtrag von Steffen Patzold. (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 9). 9., bibliographisch aktualisierte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-534-24669-4. Widukind von Corvey: Die Sachsengeschichte des Widukind von Corvey. In: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 8). Übersetzt von Albert Bauer, Reinhold Rau. 5. gegenüber der 4. um einen Nachtrag erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-01416-2, S. 1–183. Literatur Biographien Matthias Becher: Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63061-3. (Rezension) Rudolf Köpke/Ernst Dümmler: Kaiser Otto der Große. Darmstadt 1962, Nachdruck der 1. Auflage, Leipzig 1876. Johannes Laudage: Otto der Große: (912–973). Eine Biographie. Pustet, Regensburg 2001, ISBN 3-7917-1750-2. (Rezension) Dietmar Salewsky: Otto I. Leben und Wirken eines Herrschers im Spiegel der Quellen. WBG, Darmstadt 2020, ISBN 978-3-534-40330-1. Bernd Schneidmüller: Otto I. In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Porträts von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4, S. 35–61. Stephan Freund, Matthias Puhle: Otto der Große 912–973. Kaiser der Römer, König der Völker. Schnell & Steiner, Regensburg 2023, ISBN 978-3-7954-3823-4. Allgemeine Darstellungen Gerd Althoff: Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat. 3., durchgesehene Auflage, Kohlhammer, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-17-022443-8. Helmut Beumann: Die Ottonen. 5. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2000, ISBN 3-17-016473-2. Stephan Freund, Gabriele Köster, Matthias Puhle (Hrsg.): Des Kaisers letzte Reise. Höhepunkt und Ende der Herrschaft Ottos des Großen 973 und sein (Weiter-)Leben vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Schriftenreihe des Zentrums für Mittelalterausstellungen Magdeburg. Band 8). Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2023, ISBN 978-3-96311-780-0. Joachim Henning (Hrsg.): Europa im 10. Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit: Internationale Tagung in Vorbereitung der Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa“. Von Zabern, Mainz am Rhein 2002, ISBN 3-8053-2872-9. Hagen Keller: Die Ottonen. 6., aktualisierte Auflage. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-77413-3. Gerd Althoff, Hagen Keller: Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 3). 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-60003-2. Gerd Althoff, Hagen Keller: Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn und karolingisches Erbe (= Persönlichkeit und Geschichte. Biographische Reihe. Bd. 122/123). 3. verbesserte Auflage, Muster-Schmidt, Göttingen u. a. 2006, ISBN 3-7881-0122-9. Ludger Körntgen: Ottonen und Salier. 3. durchgesehene und bibliographisch aktualisierte Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-23776-0. Matthias Puhle (Hrsg.): Otto der Große. Magdeburg und Europa. Katalog zur 27. Ausstellung des Europarates, Landesausstellung Sachsen-Anhalt, Kulturhistorisches Museum Magdeburg, 27. August–2. Dezember 2001. Katalog-Handbuch in zwei Bänden. Von Zabern, Mainz am Rhein 2001, ISBN 3-8053-2616-5. (Rezension) Matthias Puhle, Gabriele Köster (Hrsg.): Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike bis zum Mittelalter. Schnell & Steiner, Regensburg 2012 (= Katalog zur Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2012, Kulturhistorisches Museum Magdeburg, 27. August – 9. Dezember 2012). Timothy Reuter (Hrsg.): The New Cambridge Medieval History 3. c. 900–1024. Cambridge University Press, Cambridge 1999, ISBN 0-521-36447-7. Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter, Hartmut Leppin (Hrsg.): Kaisertum im ersten Jahrtausend. Wissenschaftlicher Begleitband zur Landesausstellung „Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter“. Schnell & Steiner, Regensburg 2012, ISBN 978-3-7954-2509-8. Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Ottonische Neuanfänge (= Symposion zur Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa“). Von Zabern, Mainz am Rhein 2001, ISBN 3-8053-2701-3. Hans K. Schulze: Hegemoniales Kaisertum. Ottonen und Salier (= Das Reich und die Deutschen. Bd. 3). Siedler, Berlin 1991, ISBN 3-88680-307-4. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstinkompatibilit%C3%A4t%20bei%20Pflanzen
Selbstinkompatibilität bei Pflanzen
Unter Selbstinkompatibilität bei Pflanzen versteht man Strategien von Samenpflanzen, nach einer Bestäubung die Befruchtung durch eigene Pollen (Autogamie) oder genetisch ähnlichen Pollen zu verhindern. Bei Selbstbefruchtung kann es statistisch häufiger passieren, dass vorher verdeckt vorhandene (heterozygot rezessive) negative Eigenschaften exprimiert werden und die Nachkommen dadurch benachteiligt sind. Daher existieren bei manchen Pflanzen in den Blüten Systeme, die verwandte oder eigene Pollen erkennen können und so eine Befruchtung durch diese verhindern. Darüber hinaus besitzen viele Blütenpflanzen Mechanismen, die schon eine Bestäubung und damit auch die Befruchtung durch eigene Pollen verhindern. Der Begriff der Selbstinkompatibilität bezieht sich jedoch auf die nach einer Bestäubung wirksamen Schutzmechanismen. Im Groben werden die Systeme der Selbstinkompatibilität (kurz: SI) nach dem Ort der Erkennungsreaktion unterschieden. Findet diese anhand von Merkmalen des schlauchartig auskeimenden Polleninneren (Pollenschlauch) statt, so spricht man von Gametophytischer Selbstinkompatibilität (GSI). Im Gegensatz dazu steht die Erkennung durch Charakteristika der Pollenoberfläche (vom väterlichen Sporophyten aufgelagert). Unterscheiden sich die jeweils miteinander kreuzbaren, also die nicht miteinander „verwandten“ Individuen der sporophytischen SI dabei durch bestimmte morphologische Merkmale, so bezeichnet man das als Heteromorphe Selbstinkompatibilität (HMSI). Besitzen alle Individuen hingegen ein gleiches Aussehen, so liegt (Homomorphe) Sporophytische Selbstinkompatibilität (SSI) vor. Es gibt auch eine Kombination aus gametophytischer und sporophytischer Selbstinkompatibilität (GSSI). Auch die Benachteiligung eigenen oder eng verwandten Pollens bei der Pollenkeimung ist ein möglicher Weg, welcher Selbstbefruchtung verhindern kann, man spricht von Kryptischer Selbstinkompatibilität (CSI). Darüber hinaus gibt es noch andere Mechanismen, die z. B. die Bildung eines Nachkommen aus Selbstbefruchtung verhindern, etwa über Gene, die zum Tod von embryonalem Gewebe führen (Letal-Allele) und andere Wirkungsweisen, sogar nach der Befruchtung. Ihre Einordnung als „Selbstinkompatibilitätssystem“ ist unter den Botanikern umstritten, da durchaus eine Selbstbefruchtung stattfindet, aber letztendlich keine Nachkommen daraus erzeugt werden. Botanische und genetische Grundlagen Pflanzen bilden zwei Generationen aus. Die eine Generation, „Gametophyt“ genannt, trägt nur einen Satz an Chromosomen, was man auch als „haploid“ bezeichnet. Der Gametophyt bildet nun Geschlechtszellen, sogenannte „Gameten“ aus: männliche und weibliche. Diese verschmelzen zu einer Zygote, einen Vorgang, den man als „Befruchtung“ bezeichnet. Die Zygote besitzt nun den doppelten Chromosomensatz („diploid“) und bildet die nächste Generation aus. Diese nennt man „Sporophyt“ und diese ist es auch, die man allgemein als „Samenpflanze“, sprich als Baum oder „Blume“ vor Augen sieht. Der Gametophyt ist bei Samenpflanzen auf sehr wenige Zellen reduziert. Der weibliche Gametophyt befindet sich in der Samenanlage, die im Fruchtknoten liegt, der männliche Gametophyt im Inneren des Pollens. Das haploide Polleninnere keimt nach der Bestäubung schlauchförmig aus (daher auch „Pollenschlauch“ genannt) und befruchtet die ebenfalls haploide „Eizelle“ in der Samenanlage. Daraus entsteht wieder ein neuer diploider Sporophyt. Die Befruchtung funktioniert bei Pflanzen im Prinzip genauso wie bei Tieren: Aus zwei einfachen Chromosomensätzen wird ein doppelter. Der Vorteil eines doppelten Chromosomensatzes ist, dass defekte Gene durch die ihnen entsprechenden Gene auf dem zweiten Chromosom ausgeglichen werden können. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum die meisten höher entwickelten Lebewesen nicht haploid sind. Wenn ein diploider Organismus mit einem defekten Gen sich aber selbst befruchtet, kann es sein, dass die beiden defekten Genversionen aufeinander treffen. Das bedeutet, es ist kein Ausgleich mehr möglich und das kann Nachteile oder gar den Tod bedeuten. Selbstbefruchtung kann also negative Folgen haben und wird deswegen allgemein häufig verhindert. Um eine Selbstbefruchtung bei Samenpflanzen zu verhindern, kann man versuchen, schon die Selbstbestäubung auszuschließen. Dies ist recht häufig realisiert, meist aber nicht besonders effektiv. Eine andere Methode wäre es, den „eigenen“ Pollen zu erkennen und ihn vom Befruchten abzuhalten. Dazu bedarf es dreier Dinge: Merkmale des Pollens, Merkmale der Narbe und einen Mechanismus, bei Pollen, der als unerwünscht erkannt ist, dessen Wachstum zu verhindern oder zu stoppen. Da man zu Beginn der Erforschung der Selbstinkompatibilitätssysteme die Genetik noch nicht vollständig verstanden hat, ging man davon aus, dass dies durch ein einziges Gen geschieht. Dieses bezeichnete man als „S-Gen“, wobei das S dabei für „Selbstinkompatibilität“ steht. Heutzutage ist jedoch bekannt, dass nur wenige sehr nahe beieinander liegende („gekoppelte“) Gene dafür zuständig sind. Korrekterweise müsste man daher von einem „S-Genlocus“ sprechen. Da jede Pflanze solche S-Genloci besitzt, müssen die Gene in verschiedenen Formen (so genannten „Allelen“) vorliegen, um eine Unterscheidung zwischen „selbst“ und „fremd“ zu gewährleisten. Das ist ganz analog zu einem Ausweis: Jeder besitzt einen, aber bei jedem sieht er etwas anders aus. Aus diesen verschiedenen Allelen entstehen Proteine mit meist kleinen, aber wichtigen Unterschieden, die zur (Selbst-)Erkennung notwendig sind. Die Anzahl der Allele liegt, je nach System bei 2 (HMSI) oder schwankt zwischen 20 und 70 (GSI und SSI). Um eine wirkliche „Selbsterkennung“ zu gewährleisten, müssen das jeweilige Allel für das Pollencharakteristikum und das Allel für das zusammenpassende Narbenmerkmal stets gekoppelt vorliegen. Täten sie das nicht, so würden sich die Selbsterkennungsmerkmale im Lauf der Zeit unabhängig voneinander innerhalb einer Gruppe (Population) von Pflanzen verteilen (siehe auch 3. Mendelsche Regel). Das liegt daran, dass es bei der Bildung von haploiden Keimzellen (genauer bei der Meiose) zum Austausch von genetischem Material zwischen den jeweils doppelt vorliegenden Chromosomen kommt (Rekombination). Je enger die Gene für die Merkmale zusammenliegen, desto unwahrscheinlicher ist ihre Trennung bei der Rekombination. Welche Merkmale von Pollen beziehungsweise Narbe jeweils genau für die Erkennung verantwortlich sind und wie diese exakt funktioniert, hängt von den jeweiligen SI-Systemen ab. Das bedeutet auch, dass sie evolutionär nicht zwingend miteinander verwandt (homolog) sind. Da sie aber allesamt eine Selbststerilität bewirken, werden sie trotzdem mit dem Überbegriff „S-Gene“ zusammengefasst. Auf Grund der Verteilung der Inkompatibilitätssysteme innerhalb der Samenpflanzen wird davon ausgegangen, dass sie teils mehrfach unabhängig voneinander entstanden sind und dass auch innerhalb eines Systems parallele Entwicklungen stattgefunden haben. Bei den Süßgräsern (Poaceae) ist neben dem S-Gen ein weiteres, analog funktionierendes Gen bekannt, das als „Z-Gen“ bezeichnet wird. Es müssen sowohl S-Allel als auch Z-Allel übereinstimmen, damit es zum Abbruch der Befruchtung kommt. Beim Scharfen Hahnenfuß (Ranunculus acris) wurde ein drittes, bei der Zuckerrübe (Beta vulgaris) sogar noch ein viertes Gen entdeckt. Allerdings wiesen Mulcahy & Bergamini-Mulcahy 1983 darauf hin, dass durch mehrere unabhängige Selbstinkompatibilitätsgene eine Selbsterkennung immer unwahrscheinlicher wird. Gametophytische Selbstinkompatibilität (GSI) Bei der GSI erfolgt die Erkennungsreaktion durch den Genotyp des Gametophyten. Da der auskeimende Pollenschlauch gametophytisch ist und somit nur einen Satz an Chromosomen trägt (haploid), besitzt er nur ein S-Allel. Im Griffel der zu bestäubenden Blüte liegen zwei Allele vor, da er sporophytisch und somit diploid ist. Die beiden Allele werden dort meist gleichzeitig exprimiert (Kodominanz). Die GSI besitzt durch die gametophytische Erkennung einen gewissen Nachteil, durch die eine Befruchtung mit genetisch ähnlichem Pollen möglich wird. Kreuzt z. B. ein männlicher Elter mit S1, S3 mit einem weiblichen Elter mit S1, S2, so können 50 % des Pollens (nämlich die S3-Pollen) die Eizelle befruchten. Da es bei der Meiose während der Gametophytenentwicklung zum Austausch von genetischem Material unter den Chromosomen kommt (Rekombination), können in der befruchteten Eizelle (Zygote) bei beiden Chromosomen identische (homozygote) Genbereiche auftreten. Dies kann bei defekten Genkopien zu negativen Effekten führen. Die GSI ist häufig mit bestimmten Merkmalen korreliert. So ist der Pollen bei der Bestäubung häufig noch zweikernig. Der männliche Gametophyt besteht also aus der Pollenschlauchzelle und der generativen Zelle, die sich erst später in die beiden Spermazellen teilt. Die Schutzschicht auf der Narbenoberfläche (Cuticula) ist diskontinuierlich, besitzt also Lücken oder Dünnstellen. Durch diese sezerniert die Narbe eine zuckerreiche Flüssigkeit („feuchte Narbe“). Bei Süßgräsern existieren diese Korrelationen nicht, obwohl ihre Selbstinkompatibilität sonst über den Gametophyten erfolgt. So sind Gräserpollen dreikernig und die Narbenoberfläche ist stark behaart und sonst trocken. Die GSI ist bei 56 Pflanzenfamilien bekannt. Darunter sind neben den Rosengewächsen, Nachtschattengewächsen und Braunwurzgewächsen auch die Süßgräser vertreten. RNase-Mechanismus Die biochemische Funktionsweise ist zwar noch nicht vollständig geklärt, aber es wurde herausgefunden, dass in vielen Fällen (Nachtschattengewächse, Petunien, Rosengewächse) in den Griffelzellen RNA-abbauende Enzyme (RNasen) gebildet werden. Diese wandern in den Pollenschlauch und verhindern somit dort die Bildung von Proteinen. Polleneigene Genprodukte, sogenannte „S-gekoppelte F-Box-Proteine“ (SFB) greifen, analog einem Immunsystem, alle „fremden“ RNase-Versionen an, die nicht im eigenen Genom codiert sind. Dabei ignorieren sie aber diejenigen Griffel-RNase-Versionen, die gleichzeitig auch im Pollen codiert vorliegen (Selbsterkennung). Diese „eigenen“ RNasen bringen dann die Proteinbiosynthese des Pollenschlauchs zum Erliegen. Der Pollenschlauch stirbt im Griffel ab und die Spermazellen erreichen somit die Eizelle nicht. Beim Absterben des Pollenschlauchs wird dann Callose im Griffel abgelagert. Da der Mechanismus durch sehr ähnliche RNase-Typen und jeweils über F-Box-Proteine verläuft, geht man davon aus, dass dieser Mechanismus einmal entstanden ist und in vielen Gruppen wieder verloren ging. Durch molekulare Datierung wird dieses System auf ein Alter von etwa 90 Millionen Jahren geschätzt. Apoptose-Mechanismus Bei Mohngewächsen löst das als „selbst“ anerkannte S-Allel hingegen eine durch Ca2+-Ionen bedingte Signalkette aus, die erst das Wachstum des Pollenschlauchs durch Abbau des Actin-Cytoskeletts stoppt und dann den programmierten Zelltod (Apoptose) in der Pollenschlauchzelle bewirkt. (Homomorphe) sporophytische Selbstinkompatibilität (SSI) Bei der SSI hängt die Erkennungsreaktion nicht vom Gametophyten ab, sondern vom pollenbildenden Sporophyten. Dadurch spielen beide Allele des diploiden Genoms des „Vaters“ eine Rolle. Dies ist über die Erkennung von Proteinen der äußeren Pollenwandschicht (Exine), die vom „väterlichen“ Sporophyten aufgelagert wurde, möglich. Stimmt auch nur ein S-Allel mit denen des zu befruchtenden mütterlichen Sporophyten überein, so erfolgt eine Abstoßungsreaktion. In der Praxis ist es jedoch beim S-Gen des pollenbildenden Sporophyten meist so, dass nur eines der beiden Allele ausgeprägt wird (Dominanz). Dadurch kann es wie bei der GSI zu partieller Homozygotie kommen, also dass direkt verwandte Genomabschnitte zusammentreffen, was eigentlich verhindert werden soll. Bei der SSI wird der meist dreizellige Pollen schon bei der Keimung behindert. Die Schutzschicht der Narbe (Cuticula) ist im Gegensatz zur GSI kontinuierlich, also ohne Lücken und sondert nur wenig oder gar keine Flüssigkeit ab („trockene Narbe“). Im Gegensatz zur Heteromorphen Selbstinkompatibilität sind an die Inkompatibilität zwischen nahe verwandten Genotypen keine morphologischen Merkmale verknüpft. Die Homomorphe sporophytische Selbstinkompatibilität (SSI) ist bei 8 Pflanzenfamilien bekannt, unter ihnen die Korbblütler, Windengewächse und die Kreuzblütengewächse. Gametophytisch-sporophytische Selbstinkompatibilität (GSSI) Bei der GSSI hängt die Reaktion sowohl von der sporophytischen Pollenaußenschicht (Exine) als auch vom Gametophyten ab. Sie stellt somit eine Kombination aus GSI und SSI dar. Beim Kohl (Brassica) wurden zwei gekoppelte Gene mit jeweils einer Vielzahl von Allelen identifiziert. In der empfänglichen Region der Narbe wird auf dessen Oberfläche ein Protein namens SRK (S-receptor kinase) abgelagert. Das im Genom sehr nahe gelegene und somit nur sehr selten durch Crossing-over getrennte Protein mit dem Namen SCR (small, cystein-rich pollen-coat protein, teilweise auch SP11 genannt) wird im Pollen exprimiert. Das SCR-Protein besitzt recht häufig die Aminosäure Cystein und befindet sich auf der Oberfläche des Pollens. Ungewöhnlicherweise werden die beiden Allele des SCR-Gens nicht, wie von der SSI bekannt, gleichzeitig exprimiert (kodominant), sondern es gibt dominante und rezessive Allele. Die dominanten Allele werden vom Tapetum (das Gewebe der Vaterpflanze, das die Außenschicht des Pollens bildet) und im Pollenschlauch selbst produziert, sodass eine sporophytische Erkennung erfolgt. Die rezessiven SCR-Genvarianten werden nur im Pollenschlauch ausgeprägt, sodass dann eine gametophytische SI erfolgt. Nachgewiesen wurde es in einigen Kreuzblütengewächsen (Brassica, Eruca, Raphanus) und Korbblütlern (Hypochaeris, Pippau). Da die Beispiele innerhalb der „typischen SSI-Familien“ gefunden wurden, kann ein genereller gametophytischer Einfluss auf sporophytische Selbstinkompatibilitätssysteme nicht ausgeschlossen werden. Heteromorphe sporophytische Selbstinkompatibilität (HMSI oder HSI) Die HMSI beschreibt die Selbstinkompatibilität gekoppelt mit unterschiedlichen morphologischen (=heteromorphen) Merkmalen. Das bekannteste Merkmal ist die Länge des Griffels (Heterostylie). Treten zwei Formen auf, bei der einmal die Staubblätter über dem Griffel (Kurzgriffligkeit, englisch: thrum) und einmal der Griffel über den Staubblättern stehen (Langgriffligkeit, englisch: pin), so spricht man von Distylie. Ein bekanntes Beispiel, das bereits Clusius 1583 erkannte, ist die Primel. Erst Charles Darwin erkannte jedoch 1877 den Zusammenhang zwischen Verschiedengriffligkeit und Selbststerilität. Individuen mit dem gleichen Blütenbau bilden keine Nachkommen. Es gibt jedoch weitere Merkmale, die mit der Griffellänge korreliert sind, wie etwa die Größe der Staubbeutel (Lungenkraut und andere), Griffelfarbe (z. B. Eichhornia) oder -behaarung (z. B. Sauerklee). Obwohl die unterschiedliche Länge der Griffel ein optisch hervorstechendes Merkmal ist, ist es bei der HMSI nicht zwingend. So verfügt die selbststerile Strand-Grasnelke (Armeria maritima) über verschiedene Morphen, besitzt jedoch keine unterschiedlichen langen Griffel und Staubblätter, sondern andere morphologische Merkmale wie z. B. unterschiedliche Pollengröße. Das Vorkommen von Heterostylie ist jedoch nicht zwingend (aber sehr häufig) mit der Selbstinkompatibilität verbunden. Es gibt auch trimorphe Varianten, bei der der Griffel und jeweils zwei Staubblattkreise in drei Versionen zueinander stehen können. Man unterscheidet je nachdem, ob der Griffel ganz unten, in der Mitte oder ganz oben steht. Eine solche Tristylie gibt es etwa beim Blut-Weiderich, bei den Sauerkleegewächsen und bei der Wasserhyazinthe. Die heteromorphe sporophytische Selbstinkompatibilität kombiniert mit der sporophytisch erfolgenden Selbsterkennung eine Reduktion der Selbstbestäubung, indem Pollen und Narbe räumlich getrennt sind (Herkogamie). Durch die unterschiedliche Platzierung der Pollen beim Bestäuber werden bevorzugt verschiedengestaltete Morphen bestäubt, was die Effizienz des Systems erhöht. Die Pollenreaktion ist sporophytisch, also bestimmen beide Genprodukte der Allele auf der Pollenaußenschicht, ob der Pollen keimen kann oder nicht. Mit Selbstinkompatibilität gekoppelte Heteromorphien sind in circa 25 Familien und 155 Gattungen bekannt. Besonders häufig sind sie in den Rötegewächsen vertreten, aber auch in Bleiwurzgewächsen, Leingewächsen uvm. Genetik der distylen Vertreter Das S-Gen bei distylen Vertretern liegt bei der HMSI stets nur in zwei Zuständen (Allelen) vor: „S“ und „s“. Das S-Allel ist gegenüber dem s-Allel dominant, setzt sich also stets durch. Da in der Pflanze zwei Allele vorliegen, gilt bei Ss also effektiv „S“ und bei ss effektiv „s“. Der homozygote S-Typus „SS“ ist ausgeschlossen, da er nur durch die Befruchtung von Ss mit Ss entstehen könnte, die jedoch wird durch die Selbstinkompatibilität verhindert. Es können sich also nur Ss- und ss-Individuen miteinander kreuzen. Daraus entstehen dann wieder zu 50 % Ss- und 50 % ss-Individuen. Häufig gilt, dass Ss-Individuen kurze Griffel ausbilden und ss-Individuen lange Griffel (z. B. Buchweizen, Forsythien, Primeln), seltener ist es jedoch andersherum (Hypericum aegypticum). Das S-Gen bei den distylen Primeln besteht aus drei sehr eng gekoppelten Genen. Das erste Gen (G beziehungsweise g) ist für die Griffellänge (beim dominanten G kurze Griffel, bei g lange), die Beschaffenheit der Narbenpapillen (bei G größere Papillen) und die Inkompatibilitätsreaktion der Narbe verantwortlich. Gen 2 (P beziehungsweise p) ist für die Pollenkorngröße (bei P kleinere Pollen als bei p) und die Reaktion des Pollenkorns zuständig, während das dritte Gen (A beziehungsweise a) die Höhe der Staubbeutel (bei A hoch stehend) bestimmt. Seltene Neukombinationen dieser Merkmale haben die Unterschiedlichkeit der Genloci, also die Existenz mehrerer einzelner Gene bewiesen. So kennt man z. B. auch Primeln, bei denen Griffel und Staubbeutel auf gleicher Höhe liegen („homostyl“). Dies ist erklärbar, wenn G und a (Griffel kurz und Staubbeutel niedrig stehend) oder wenn g und A (Griffel lang und Staubbeutel hoch) zusammenkommen. Genetik der tristylen Vertreter Bei tristylen Arten mit HMSI ist die Genetik etwas komplizierter. Dort liegen zwei Genloci („S“ und „M“) mit je zwei Allelen (S/s beziehungsweise M/m) vor. Die Merkmale von M kommen nur zum Vorschein, wenn S jeweils mit dem rezessiven Allel, also als „ss“ vorliegt (man sagt, S ist epistatisch über M). Kommt das dominante S-Allel vor, so ist der Griffel kurz, egal, welches M-Allel vorkommt. Kommt das dominante S-Allel nicht vor (nur bei „ss“), so entsteht der Mittelgriffel, wenn ein dominantes M-Allel vorkommt (bei ssMm, ssmM und ssMM). Die Morphe mit dem langen Griffel entsteht nur, wenn beide Gene nur die rezessiven Allele tragen (ssmm). Dieses System ist häufig bei den Vertretern mit Tristylie so ausgeprägt, es gibt jedoch auch hier wieder Ausnahmen. Der Pollen der langen Staubblätter ist auf langen Griffeln fruchtbar, der Pollen mittlerer Staubblätter auf mittellangen Griffeln und bei kurzen entsprechend. Da jede Blüte 2 Staubblattkreise besitzt, kann eine Morphe die beiden anderen Morphen befruchten. Wie bei den distylen Gruppen haben einige Arten die Selbstinkompatibilität verloren, so kennt man z. B. auch selbstkompatible Sauerklee-Arten mit Tristylie. Auch kann durch den Verlust eines Allels sekundär eine Distylie entstehen. Kryptische Selbstinkompatibilität (CSI) Unter kryptischer Selbst-Inkompatibilität (englisch: cryptic self-incompatibility ) versteht man das Phänomen, dass bei einer ansonsten selbstkompatiblen Art die Pollenschläuche von Fremdpollen schneller wachsen als eigene. Die CSI ist keine eigene Form der Selbstinkompatibilität, sondern beschreibt nur, dass die Fremdbestäubung aktiv bevorzugt wird. Gefunden wurde die Kryptische SI z. B. im Goldlack, bei Decodon verticillatus oder bei Campanulastrum americanum Letalallele Auch bei Gymnospermen und Farnen wird die Selbstbefruchtung verhindert. Da diese jedoch weder Narbe noch Griffel besitzen, geht man davon aus, dass es Letalallele gibt. Das sind rezessive Versionen von Genen, die, wenn sie also im diploiden Chromosomensatz doppelt (homozygot) vorliegen, zum Tod der befruchteten Eizelle oder des Embryos führen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Selbstbefruchtung vorliegt. Meist finden sich eine Vielzahl von Genen mit Letalallelen bei den Farnen und Nacktsamern. Da die Genetik der Letalallele eigentlich nichts mit den anderen Selbstinkompatibilitätssystemen zu tun hat, ist es umstritten, ob man sie hinzuzählen soll oder nicht. Auch findet bei den Letalallelen die Befruchtung statt, nur entsteht kein Nachkomme. Das Argument, dass es für die nächste Generation nur darauf ankommt, ob darunter auch Individuen aus Selbstbefruchtung sind oder nicht, würde Letalallele hingegen zu den SI-Systemen hinzurechnen. Spät einsetzende Selbstinkompatibilität – Postzygotische SI (PSI) – Ovarische SI Unter diesen Begriffen werden Phänomene zusammengefasst, die das Absterben der Pollenschlauchzelle kurz vor der Eizelle oder das Absterben der bereits selbstbefruchteten Eizelle beschreiben. Während bei der späten SI wohl eine verzögerte gametophytische SI vorliegt, ist bei den anderen Formen nicht klar, ob es um eine wirkliche Selbstinkompatibilitätsreaktion handelt oder ob sie die Ausprägung negativer rezessiver Merkmale bei Homozygotie (Inzuchtdepression) beschreiben (siehe auch Letalallele). Durch die unbekannten genaueren Mechanismen ist auch die Uneinigkeit der Begriffe begründet. Bedeutung für Populationen Wenn Pflanzen nicht mehr sich selbst oder nahe Verwandte befruchten können, so hat dies durchaus auch Auswirkungen auf die Population und die Verbreitungsmöglichkeiten der Art. Selbstbefruchtung hat eindeutig Nachteile, so kommt es etwa mit der Zeit zu einem Verlust an genetischer Vielfalt. Zwar verbleiben durch die Rekombination während der Meiose in der ersten Generation nach einer Selbstbefruchtung viele Allele in jeweils unterschiedlichen Versionen in einem Individuum (heterozygot), aber schon nach zirka 8 Generationen sind über 99 % des Genoms in beiden Chromosomen identisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass darunter negative Eigenschaften sind, die dann zum Tragen kommen und die Überlebensfähigkeit der Pflanze verringern, steigt also stetig an. Die Paarung zwischen zwei Geschwistern verzögert diesen Effekt zwar, aber verhindert ihn nicht. Zumal muss auch bedacht werden, dass bereits ein auftretender Gendefekt starke Auswirkungen haben kann. Andererseits stellt die Beschränkung auf Fremdbefruchtung (Xenogamie) auch eine Gefahr dar. Wird eine Population z. B. durch ein katastrophales Ereignis auf wenige Individuen verringert, so kann es passieren, dass diese plötzlich reproduktiv isoliert sind und die Population gänzlich zusammenbricht. Auch die Neubesiedlung weit entfernter Habitate, etwa einer Insel oder eines anderen Berges entspricht einer solchen Situation. Meist werden nur eine oder wenige Ausbreitungseinheiten (Diasporen) über längere Strecken verdriftet oder es kommen nur wenige zur Keimung. Sind die Arten selbstinkompatibel, so kann keine dauerhafte Neubesiedlung erfolgen, die Population stirbt nach einer Generation wieder aus. Der Verlust der Selbststerilität ist insofern also Voraussetzung für die Weiterverbreitung in fremde Gebiete. So sind zum Beispiel die nach Europa eingewanderten Sauerklee-Arten zwar tristyl, aber zur Selbstbefruchtung fähig. Allerdings ist auch die Nutzung von nichtsexueller Vermehrung (Apomixis) eine Möglichkeit, die Besiedlung neuer Standorte zu ermöglichen und gleichzeitig Selbstbefruchtung zu verhindern. Selbstinkompatibilität und Ökologie einer Pflanzenart sind demnach eng miteinander verbunden. Für konkurrenzschwache Arten, die nur selten zur Blüte kommen und/oder in geringen Dichten vorkommen, wäre Selbststerilität sicherlich von Nachteil. Meist ist es jedoch so, dass der Besitz eines Selbstinkompatibilitätssystems eine Selbstbefruchtung nicht kategorisch ausschließt. So gibt es, wie in fast allen Merkmalen auch, bei der Selbstinkompatibilität häufig eine Variation in der Reaktionsstärke bei Selbsterkennung. Somit ist eine Streuung der Vor- und Nachteile beider Fortpflanzungssysteme gegeben, womit ein Überdauern auch widriger Umstände ermöglicht wird. Bedeutung in der Pflanzenzucht Die Selbstinkompatibilität stellt vor allem Pflanzenzüchter vor größere Probleme. Da sie bei den Samenpflanzen weit verbreitet ist, sind natürlich auch diverse vom Menschen genutzte Pflanzen selbststeril. So gehören bedeutende Nutzpflanzen wie Reis und Mais zu den gametophytisch selbstinkompatiblen Süßgräsern. Wirtschaftlich interessante Mutanten können demnach nicht durch Selbstbestäubung erhalten und vermehrt werden. Auch bei vielen anderen Arten wie Tabak oder Gartenblumen erschwert die Selbstinkompatibilität die Züchtung, besonders die Hybridzüchtung. Eine weit verbreitete Lösung für die Erhaltung von interessanten Individuen ist die vegetative Vermehrung, zum Beispiel über Stecklinge. Im Zuge immer besser werdender Kenntnisse der physiologischen Vorgänge in Pflanzen sind auch weitere Techniken, wie die Gewinnung und Kultivierung ganzer Pflanzen aus teilungsfähigem Gewebe (Meristemen), möglich. Aus dem entstehenden, noch undifferenzierten Gewebe (Kallus) kann sich mit Hilfe von Pflanzenhormonen eine vollständige Pflanze entwickeln. Die gewünschten Merkmale der so entstehenden Klone können dann u. U. durch diverse Kreuzungsstrategien in bestehende Zuchtlinien oder Sorten eingekreuzt werden. Diese Methode ist jedoch aufwändig und langwierig. Eine Methode zur Umgehung der Selbstinkompatibilitätssysteme schlug Marianne Kroh 1955 vor, indem die Narbe entfernt und der Pollen direkt ins pollenschlauchleitende Griffelgewebe gebracht werden soll. In vielen Fällen können dadurch die Abstoßungsreaktionen umgangen werden, da sie vor allem in der Narbe stattfinden. Eine weitere, aber komplizierte Methode, die Selbstbefruchtung zu erzwingen, ist die Fusion von Protoplasten. Dazu werden zuerst aus den Zielpflanzen Exemplare mit einfachem Chromosomensatz („haploid“) hergestellt, aus ihnen Zellen entnommen und diese von der Zellwand befreit. Die so entstandenen „nackten“ künstlichen Keimzellen können z. B. über Zellfusion vereinigt werden und wie ein Kallus (siehe oben) behandelt werden. Geschichte Mit der (Wieder-)Entdeckung der Geschlechtertrennung bei Pflanzen (Diklinie) im 18. Jahrhundert kamen auch Fragen über die Bestäubung und die Rolle der Insekten auf. Viele Botaniker beschäftigten sich mit dem Thema, darunter Charles Darwin, der aus experimentellen Serien 1877 schloss, dass Fremdbestäubung die Regel sei (Knight-Darwin’sches Gesetz) und somit ein Selektionsdruck in Richtung der Trennung der Geschlechter in unterschiedliche Blüten vorliegen müsse. Erst im 20. Jahrhundert konnten jedoch tiefere Erkenntnisse gewonnen werden. Durch neue Forschungen nach der Wiederentdeckung von Mendels Regeln schlugen schon 1905 Bateson und Gregory vor, dass die Heterostylie durch zwei Allele eines Gens codiert sein müsse. Der nächste Durchbruch in der Erforschung der pflanzlichen Selbstinkompatibilität kam aber erst 1925. Edward M. East und A. J. Mangelsdorf entdeckten bei Versuchen mit Tabak, dass die Selbstinkompatibilität über ein „Gen“ gesteuert wird, das in vielen Allelen vorliegen muss. So fanden sie heraus, dass eine Bestäubung nur erfolgt, wenn das S-Allel im Pollen nicht mit den Allelen der zu bestäubenden Pflanze übereinstimmt, was heute als Gametophytische Selbstinkompatibilität (GSI) bezeichnet wird. 1950 wurde in den Korbblütlern, durch D. U. Gerstel bei Guayule (Parthenium argentatum) und M. R. Hughes und E. B. Babcock im Stink-Pippau (Crepis foetida), eine Selbstinkompatibilität entdeckt, die nicht durch nur ein Allel (das des Gametophyten), sondern durch zwei Allele des Pollens bestimmt wird. Aus ihren Beobachtungen schlossen sie auf eine sporophytische SI-Reaktion. Im Jahre 1956 entdeckten A. Lundquist und D. L. Hayman parallel die Existenz eines zweiten S-Gens in Süßgräsern, das als „Z-Gen“ bezeichnet wird. Ersterer entdeckte später weitere Selbstinkompatibilitätsgene, die in einer Pflanze vorkommen können. Nur ein Jahr später, 1957, entdeckte J. L. Brewbaker, dass es in der Regel einen Zusammenhang aus sporophytischer beziehungsweise gametophytischer SI und der Zellanzahl des Pollens sowie der Narbenfeuchte gibt. Die biochemischen Zusammenhänge begann man hingegen erst ab 1974 zu verstehen. Vor allem die Arbeiten von Jack Heslop-Harrison und Yolande Heslop-Harrison sowie R. B. Knox, die Proteine der Pollenaußenschicht (Exine) als Faktor der Selbstinkompatibilität bei Kreuzblütengewächsen erkannten, gaben bedeutende Impulse. Die molekularen Funktionsweisen indes wurden erst seit den 1990er Jahren verstanden, begründet durch die Verfügbarkeit der molekularbiologischen Methoden. Zwar vermutete schon Dan Lewis 1947 einen Schlüssel-Schloss-Mechanismus in Bezug auf separate Merkmale von Pollen und Narbe, aber er sollte erst circa 50 Jahre später nachgewiesen werden können. Die Forschung ist heutzutage (Stand 2006) erst am Beginn des Verständnisses der Molekülinteraktionen und somit auch der wirklichen Vielfalt und evolutionären Entwicklung der Systeme. Einzelnachweise Literatur Botanik online der Universität Hamburg William Bateson, Reginald P. Gregory: On the inheritance of heterostylism in Primula. In: Proceedings of the Royal Society of London B. Bd. 76, Nr. 513, 1905, S. 581–586, . James L. Brewbaker: Pollen cytology and self-incompatibility systems in plants. In: The Journal of Heredity. Bd. 48, Nr. 6, 1957, , S. 271–277, . Deborah Charlesworth, Xavier Vekemans, Vincent Castric, Sylvain Glémin: Plant self-incompatibility systems: a molecular evolutionary perspective. In: New Phytologist. Bd. 168, Nr. 1, 2005, , S. 61–69, PMID 16159321, . Dreux de Nettancourt: Incompatibility in angiosperms. In: Sexual Plant Reproduction. Bd. 10, Nr. 4, 1997, , S. 185–199, . Walter Durka: Blüten- und Reproduktionsbiologie. In: Schriftenreihe für Vegetationskunde. Heft 38, 2002, , S. 133–175, . Edward M. East, Albert J. Mangelsdorf: A new interpretation of the hereditary behavior of self-sterile plants. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. Bd. 11, Nr. 2, 1925, S. 166–171, . Dan U. Gerstel: Self-incompatibility studies in guayule. II. Inheritance. In: Genetics. Bd. 35, Nr. 4, 1950, , S. 482–506, (online). David L. Hayman: The genetic control of self-incompatibility in Phalaris coerulescens. In: Australian Journal of Biological Sciences. Bd. 9, Nr. 3, 1956, , S. 321–331, . Aki M. Höltken: Genetische Untersuchungen zu den Voraussetzungen und Konsequenzen rezedenten Lebensweise am Beispiel Vogelkirsche (Prunus avium L.). Göttingen 2005 S. 12–15, online (für GSI) (PDF; 1,9 MB). Morris R. Hughes, Ernest B. Babcock: Self-incompatibility in Crepis foetida (L.) subsp. rhoedifolia (Bieb.) Schinz et Keller. In: Genetics. Bd. 35, Nr. 5, 1950, , S. 570–588, , (online). Benjamin P. Kemp, James Doughty: Just how complex is the Brassica S-receptor complex? In: The Journal of Experimental Botany. Bd. 54, Nr. 380, 2003, , S. 157–168, . Arne Lundquist: The nature of the two-loci incompatibility system in grasses. IV. Interaction between the loci in relation to pseudo-compatibility in Festuca pratensis huds. In: Hereditas. Bd. 52, Nr. 2, 1964, , S. 221–234, . Bruce A. McClure, Julie E. Gray, Marilyn A. Anderson, Adrienne E. Clarke: Self-incompatibility in Nicotiana alata involves degradation of pollen rRNA. In: Nature. Nr. 347, 1990, S. 757–760, . Peter Sitte, Elmar Weiler, Joachim W. Kadereit, Andreas Bresinsky, Christian Körner: Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. Begründet von Eduard Strasburger. 35. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg u. a. 2002, ISBN 3-8274-1010-X. Pflanzengenetik
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Belziger Landschaftswiesen
Die Belziger Landschaftswiesen bilden eine ausgedehnte, flache und heute fast waldfreie Niederungslandschaft im Südwesten Brandenburgs. Sie liegen vollständig innerhalb des Baruther Urstromtales. Das rund 7.600 Hektar umfassende siedlungsfreie Gebiet gehört zum Naturpark Hoher Fläming und ist seit dem 1. Juli 2005 mit einem Teil von rund 4.500 Hektar als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Der Schutz dient der Erhaltung und Wiederherstellung eines in Brandenburg seltenen Durchströmungsmoores mit einem Netz naturnaher Bäche um den Fluss Plane. Neben der Förderung der biotopspezifischen Flora und Fauna liegt ein Schwerpunkt der Maßnahmen in der Weiterentwicklung eines der letzten deutschen Refugien für die Großtrappe. Historische Bedeutung kommt dem Landstrich insofern zu, als mitten durch die Wiesen bis 1815 die Grenze zwischen dem Kurfürstentum bzw. Königreich Sachsen und dem Königreich Preußen verlief. Nach dem Oberspreewald nehmen die nach der Stadt Bad Belzig benannten Wiesen die zweitgrößte Fläche unter den geographischen Niederungslandschaften im Baruther Urstromtal ein, gefolgt vom Fiener Bruch, das sich nach Nordwesten bis hinein nach Sachsen-Anhalt erstreckt, und den Flemmingwiesen östlich der Talenge von Luckenwalde. Geographischer Überblick und Geologie Abgrenzung Die Landschaftswiesen haben sowohl im Nordosten als auch im Südwesten eine markante, deutliche Grenze. Nordöstlich der Landschaftswiesen schließt sich die Hochfläche der Zauche an, die in ihrem südlichen Teil eine ausgedehnte trockene Sanderfläche trägt. Die 86 Meter hohen Rauhen Berge begrenzen den Sander nach Norden und sind Endmoränen der jüngsten, der Weichseleiszeit. Südwestlich der Landschaftswiesen ragen die über 100 Meter NN erreichenden Höhen des Flämings auf. Nach Nordwesten und Südosten ist die naturräumliche Grenze unscharf, da sich dort das Baruther Urstromtal jeweils fortsetzt. Die Talenge des Urstromtales bei der Stadt Brück wird meist als südöstliche Begrenzung angegeben. Etwas willkürlich kann man die Nordwestgrenze der Belziger Landschaftswiesen mit der Bundesstraße 102 zwischen dem Bad Belziger Ortsteil Ragösen und Golzow ziehen, während das deutlich kleinere gleichnamige Naturschutzgebiet seine nordwestliche Begrenzung bereits auf einer Linie zwischen dem Flämingdorf Lütte und dem Zaucheort Cammer findet. Die namensgebende Stadt Bad Belzig liegt mit ihrem Kern rund drei Kilometer südwestlich der Niederung und erstreckt sich mit ihrem Ortsteil Hagelberg bis zum gleichnamigen Hagelberg, der mit 200 Metern höchsten Stelle des Fläming und einer der höchsten Erhebungen der Norddeutschen Tiefebene. Das Tal im Oberlauf des Belziger/Fredersdorfer Baches verbindet die Bad Belziger Altstadt mit den Landschaftswiesen. Entstehung Zählt der Hohe Fläming noch zur Altmoränenlandschaft der Saale-Eiszeit, gehören die Niederungen innerhalb des Urstromtals bereits zum Jungmoränenland der Weichsel-Eiszeit, deren Inlandeis in der Talung seine maximale Ausdehnung nach Süden erreichte. Die Abflussbahn der Schmelzwasser entstand vor rund 21.000 Jahren und hinterließ mit dem Baruther Urstromtal einen im Mittel rund drei bis fünf Kilometer breiten Talboden, der nach der Verlagerung des Urstromes nach Norden (zum Berliner Urstromtal) zwischenzeitlich trocken fiel. Wie alle Urstromtäler bestehen auch die Belziger Landschaftswiesen im Untergrund aus mächtigen Schmelzwassersanden. Das Schmelzwasser erodierte an einigen Stellen stark am Nordhang des Fläming und schnitt bis zu 60 Meter aufragende Geländestufen heraus. Vor rund 7.000 bis 9.000 Jahren kam es zu einer Anhebung des Grundwasserspiegels und das Gebiet der Belziger Landschaftswiesen vermoorte großflächig. Es bildete sich Torf. Ob die Bäche zu dieser Zeit in einem eigenen Flussbett flossen oder den Moorkörper, wie bei einem Durchströmungsmoor üblich, infiltrierten, ist nicht eindeutig geklärt. Sicher ist jedoch, dass sich mit der Vermoorung flächendeckend Bruch- und Feuchtwälder herausbildeten. Sie bestanden meist aus Erlen, Eschen, Eichen und Hainbuchen. Heutiges Landschaftsbild Der tischebene, vermoorte Niederungsstandort mit einer Höhe zwischen 40 und 44 Meter über NN ist neben einer Vielzahl schnurgerader Meliorationsgräben von mehreren Bächen wie dem Hellbach (im Mittellauf: Temnitz), dem Baitzer Bach und dem Belziger/Fredersdorfer Bach durchzogen, die ihre Wasser dem Hauptfluss Plane und damit der Havel zuführen. An den artenreichen Bachufern und Grabenrändern dominieren im Sommer Seggen und Hochstauden. Von den einst vorhandenen Bruchwäldern blieben nur Restbestände erhalten. Das Gebiet wird, wie es der Name Landschaftswiesen schon andeutet, heute vor allem als Grünland genutzt. Das Bild des Grünlands prägen unterschiedliche Wiesenarten und Ackerbauflächen. Einige nasse Vertiefungen, die zum Teil bis in den Sommer hinein Wasser tragen, eingelagerte Talsandflächen und kleinflächige randliche Dünenkomplexe ergänzen den Standort. Überwiegend in den Randgebieten runden vereinzelte Weidengebüsche, Reste der Erlenbrüche und Kiefernforste das Bild der Belziger Landschaftswiesen ab. Landschaftliche Reize bietet das insgesamt eher monotone, eintönige Gebiet Freunden stiller, weiter Landschaften und den Liebhabern der Vogelkunde. Hydrografie und Klimadaten Charakteristisch für die gegenwärtige hydrologische Situation der Landschaftswiesen sind neben dem umfangreichen Entwässerungssystem der 1970er Jahre die vielen Bäche, die im Hohen Fläming entspringen und die Wiesen mit hoher Geschwindigkeit durchfließen. Allein im Naturdenkmal Dippmannsdorfer Paradies sickern 32 Quellen aus dem Fläminghang. Das Gewässernetz weist eine Gesamtlänge von 169 Kilometern auf, davon entfällt auf die natürlichen Fließgewässer ein Anteil von 19 %, also von rund 30 Kilometern. Die Naturschutzverordnung sieht im Rahmen der hydrographischen Maßnahmen die naturnahe Entwicklung beziehungsweise Wiederherstellung der Bachläufe und eine Entfernung der noch vorhandenen Staueinrichtungen vor. Entscheidende Bedeutung für die Umsetzung der Schutz- und Entwicklungsmaßnahmen von Flora und Fauna kommt der gezielten Wasserregulierung mit einer möglichst hohen Wasserhaltung zu. So soll beispielsweise die von den Rindern verschmähte und wiesenüberwuchernde Ackerkratzdistel (Cirsium arvense) zurückgedrängt werden. Die hydrologischen Maßnahmen erfolgen heute durch die Naturschutzstation Baitz in enger Abstimmung mit den Landwirten und dem Wasser- und Bodenverband. In der feuchten und oft nebelverhangenen Niederung herrscht, anders als im Fläming, ein kontinental getöntes Klima mit einer Jahresmitteltemperatur von 8,6 °C und einem mittleren Jahresmaximum von 33,3 °C. Der mittlere Jahresniederschlag beträgt 541 mm und ist damit deutlich geringer (um ca. 100 mm) als auf dem nur wenige Kilometer entfernten Fläming. Die Sonne scheint im Mittel rund 1.700 Stunden im Jahr. Die mächtigen wärmespeichernden Schmelzwassersande des Urstromtals und die ausgedehnten Sandflächen des Fläming sorgen mit den Aufwinden der erst flachen, dann hügeligen Landschaft für eine ausgezeichnete Thermik für den Segelflug, wie einige „große“ Flüge über 1.000 Kilometer vom nahegelegenen Segelflugplatz Lüsse widerspiegeln. Im Jahr 2008 fanden hier die Weltmeisterschaften im Segelflug statt. Ortschaften und Bahntrasse Während sich innerhalb der Wiesen keine Siedlungen und auch keine Straßen finden, gibt es außer der Stadt Brück folgende Dörfer am Rand der Landschaftswiesen: die Bad Belziger Ortsteile Schwanebeck, Fredersdorf, Lütte, Dippmannsdorf und Ragösen sowie die nach Brück eingemeindeten Dörfer Baitz, Trebitz und Gömnigk. Nördlich der Landschaftswiesen finden sich die Planebruch-Ortsteile Freienthal, Damelang und Cammer. Am nordwestlichsten Zipfel liegt die Gemeinde Golzow. Viele dieser Dörfer und Städte verfügen über historische Feldsteinkirchen oder architektonisch interessante Kirchenbauten wie Schinkels Normalkirche in Lütte, Stülers ungewöhnliche Fachwerkkirche in Dippmannsdorf oder die oktogonale Golzower Kirche. Kulturell bedeutsam sind zudem Herrenhäuser wie in Fredersdorf und verschiedene Wassermühlen. Dem Dorf Schwanebeck brachten eine eisenhaltige und eine mit Schwefel versetzte Quelle bereits im Jahr 1715 den Titel Kurort ein. Am Südrand der Wiesen bietet der vorbeiführende Europaradweg R1 gute Einblicke in das Gelände. Insbesondere das autofreie Teilstück zwischen Baitz und Trebitz, das am Hang von Fuchsberg (64 Meter) und Räuberbergen (68 Meter) in erhöhter Lage verläuft, eröffnet einen weiten Überblick über die flache Landschaft. Am Westrand führt die stillgelegte Trasse der eingleisigen Brandenburgischen Städtebahn entlang, die zwischen 1904 und 1962 Treuenbrietzen über Bad Belzig und Rathenow mit Neustadt (Dosse) verband. Bis zum Jahr 2003 war noch die Teilstrecke zwischen Bad Belzig und Brandenburg an der Havel in Betrieb, deren Züge auch an Bahnhöfen der Dörfer Fredersdorf, Lütte und Dippmannsdorf hielten. Kurz vor Ragösen schwenkt die Bahntrasse nach Norden und verläuft parallel zur Bundesstraße 102 nach Golzow. Geschichte Frühe Randbesiedlung und Klostermühle Die Fläming- und Zaucheforste sowie die trockenen Bereiche rund um die Wiesen waren laut Norbert Eschholz zu allen geschichtlichen Zeiten vom Menschen besiedelt. Bodenfunde belegen, dass der Raum vom Ende der Bronzezeit bis in die Eisenzeit (7. – 6. Jahrhundert v.u.Z.) […] sogar recht dicht besiedelt war. Wann es zu ersten Rodungen der heutigen Landschaftswiesen kam, ist unbekannt. Im Jahr 1251 erhielt das einflussreiche und vermögende Kloster Lehnin die Mühle Gömnigk (molendinum Gomenik) am Planezufluss zu den Wiesen mit den zugehörigen Gewässern, die sich zwischen Rottstock und Trebitz (Trebegotz) bis zum südlichen Wiesenrand erstreckten, von Graf Baderich von Belzig zum Geschenk. Die Zisterzienser Mönche aus der märkischen Zauche weiteten damit ihren Einflussbereich bis ins konkurrierende Magdeburgische, also Sächsische aus und stützten damit gezielt den Landesausbau und die Siedlungspolitik der askanischen Markgrafen. Erst Hundert Jahre zuvor, 1157, hatte der Askanier Albrecht der Bär die Kerngebiete der Mark den nach den Semnonen hier siedelnden Slawen endgültig abgerungen und die Mark Brandenburg aus der Taufe gehoben. Die darauf folgenden Rufe zur Besiedlung an die namensgebenden und überwiegend niederländischen Flamen (Fläming) hatten sowohl die Askanier wie auch der Magdeburgische Erzbischof Wichmann erteilt. Zur Sicherung der jungen Gebiete entstand noch im 12. Jahrhundert die Belziger Burg Eisenhardt. Zur Schenkung an die Mönche, die laut Theodor Fontane mit dem Kreuz in der Linken, mit Axt und Spaten in der Rechten, lehrend und Ackerbauend, bildend und heiligend die Kultur in die Mark brachten, führt das Regestenverzeichnis des Klosters Lehnin unter dem 6. August 1251 den Eintrag: Schenkung Graf Bederichs v. Belzig: eine Mühle bei Rottstock auf dem Fluß Plane mit allen Gewässern bis zum Dorf Trebegotz. Erste Rodungen im Wiesenbereich fallen in diese Zeit. Heu aus dem Urstromtal Da sie weder auf den trockenen Fläminghängen noch in den engen periglazialen Trockentälern, den flämingtypischen Rummeln, Heu gewinnen konnten, mussten die Belziger Bauern den drei Kilometer weiten Weg durch das Bachtal bis in die Niederung in Kauf nehmen, um feuchten und flachen Boden zur Anlage von Wiesen zu erreichen. Das heutige Wiesengelände war noch um 1780 fast flächendeckend von Bruchwäldern bedeckt. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen die Flämingbauern, neue Erkenntnisse im Wasserbau zur größeren Wiesengewinnung zu nutzen. Der Belziger Rektor Paul Quade beschrieb 1900 die schwierige Heueinbringung: Zwischen Lütte und Brück liegen an der Plane die Landschaftswiesen, von denen die Bewohner des Fläming oft meilenweit ihr Heu holen müssen. Zur Zeit der ersten Mahd und des Grummets entwickelt sich dann in den an der Straße zu den Wiesen gelegenen Dörfern ein reges Leben. Vom Nachmittage bis zum Abend ziehen schwer bepackte Heuwagen hindurch. Viele halten beim Wirtshause an, und Tiere und Menschen ruhen sich ein wenig aus vom schweren Tagewerk und erquicken sich durch einen kühlen Trunk. Die Gewinnung des Heus wird dem Landmann von der Natur meist recht schwer gemacht. Oft kann er nicht mähen, da die Wiesen unter Wasser stehen. Ist der Schnitt glücklich gelungen, dann stören heftige Regengüsse wieder das Einbringen des Heus. An manchen Stellen kann es nur durch Ochsen herausgeschafft werden, an anderen müssen es sogar die Menschen heraustragen. Naß muß es nach Hause gefahren und dort erst getrocknet werden. (Quade S. 443 / Erläuterung: Grummet = zweiter und weitere Grasschnitte) Rechtsplanische Stoppelbauern Die Dörfer rund um die Wiesen lebten zu einem erheblichen Teil von dem Holzreichtum der Fläming- und Zauchewälder. Friedrich der Große ließ beispielsweise 1754 das Dorf Freienthal (frei von Steuern und Abgaben) als Kolonistendorf mit der Order an die Familien anlegen, Bauholz aus den umliegenden Amtsforsten der Zauche zu gewinnen. Dass schon 12 Jahre später im harten Winter 1762/1763 trotz der nahen Wälder viele Dörfler erfroren, büßte der Kolonie-Direktor Groschop mit vier Jahren Festungshaft in der Zitadelle Spandau, da er die Siedler nicht ausreichend mit Holz versorgt hatte. Gelegentlich sahen sich die Zauche-Bauern gezwungen, bei den Flämingbauern jenseits der Wiesen Holz zu kaufen. Das fiel ihnen nicht leicht, verspotteten sie die Fläminger doch gerne als Stoppelsachsen (angeblich rasierten sich die Sachsen nur einmal wöchentlich). Bis zum Wiener Kongress verlief durch die Belziger Landschaftswiesen die Grenze zwischen dem Königreich Sachsen und der Mark Brandenburg, erst mit der Bildung der gleichnamigen Provinz Brandenburg 1815 als Kerngebiet Preußens kam der Fläming zu Brandenburg. Als sogenannte Neupreußen oder Musspreußen wehrten sich die Fläminger noch längere Zeit mit passivem Widerstand gegen diese unwillkommene Maßnahme. Kursächsische Postmeilensäulen in Bad Belzig und Brück bilden heute beredte steinerne Zeugen dieser Zeit, in der sich die Bauern zu beiden Seiten der Landschaftswiesen einige feindselige Scharmützel lieferten. Diebstahlsvorwürfe aus der Zauche an die «Rechtsplanischen Stoppelbauern» waren eine Zeit lang an der Tagesordnung, was die sächsischen Bauern allerdings nicht hinderte, den preußischen Dörflern jenes Holz zu verkaufen, dass sie selber in den staatlichen Flämingforsten gestohlen hatten. (Feustel, S. 164f.) Nach der Vereinigung unter dem märkischen Adler führten die Bauern erste umfangreichere Rodungen der dichten Sumpfwälder und die Anlage eines ersten kleinräumigen Kanalsystems zur Entwässerung durch. Sie schufen damit die Grundlage für die umfassenden engmaschigen Meliorationsmaßnahmen der 1970er Jahre und für die Herausbildung der Belziger Landschaftswiesen, wie sie sich heute als geschütztes Gebiet darstellen. Naturschutzverordnung Die online verfügbare Verordnung für das Naturschutzgebiet Belziger Landschaftswiesen vom 24. Mai 2005, die am 1. Juli 2005 in Kraft trat, regelt detailliert Schutz- und Pflegemaßnahmen des 4.435 Hektar umfassenden Gebietes, das zu den wichtigsten Wiesenbrütergebieten Brandenburgs zählt. Die Flächen gehören zu Gemarkungen der Gemeinden Bad Belzig, Brück und Planebruch. Die Verordnung integriert die Landschaftswiesen in die Gesamtentwicklung eines Biotopverbundes mit der Nuthe-Nieplitz-Niederung, dem Fiener Bruch, der mittleren Havel und dem Havelländischen Luch. Naturschutz als Interessenmanagement Zentraler Stellenwert kommt dem ausgleichenden Management der unterschiedlichen Interessen zu, die sich auf verschiedenen Ebenen darstellen und deshalb nicht immer vermittelbar sind (siehe Kapitel „Wiesen und Landschaftspflege“). Das Umweltministerium Brandenburg konnte einen Teil der Zielkonflikte mit einer Aufteilung des Gebiets lösen. Mit 2.461 Hektar steht etwas mehr als die Hälfte der Gesamtfläche der landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung und ist nochmals in drei Zonen mit unterschiedlichen Nutzungsbeschränkungen unterteilt: Zone 1: rund 962 Hektar Zone 2: rund 132 Hektar Zone 3: rund 1.367 Hektar Im Rahmen des Interessenmanagements spielen die Abschlüsse des Vertragsnaturschutzes (Pflegeverträge zwischen Behörden und Landwirten) und seine Einhaltung eine mitentscheidende Rolle. Schutzzweck Die Naturschutzverordnung listet die zu schützende Fauna und Flora und die erforderlichen Pflegemaßnahmen detailliert auf. Als Beispiel für den Charakter der rund 15-seitigen Verordnung ist im Folgenden nach der Einleitung ein Auszug aus dem § 3 (Schutzzweck) wiedergegeben, der zudem die Durchzugs- und Rastvögel auflistet, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Der anschließend dargestellte Absatz 2 beschreibt die Einbindung der Vorschrift in übergeordnete Maßnahmen exemplarisch am Beispiel der Bäche und Hochstaudenfluren. Unter dem § 3 Schutzzweck heißt es unter anderem: (1) Schutzzweck des Naturschutzgebietes, das einen für das Land Brandenburg charakteristischen Ausschnitt des Baruther Urstromtals umfasst, ist 1. die Erhaltung, Entwicklung und Wiederherstellung des Gebietes als Lebensraum wild lebender Pflanzengesellschaften, insbesondere nährstoffarmer artenreicher Feuchtwiesen, Glatthaferwiesen, Großseggen- und Röhrichtmooren, Sandtrockenrasen auf Binnendünen und Flechten-Kiefern-Wäldern, […] (2) Die Unterschutzstellung dient der Erhaltung und Entwicklung […] 1.b.) als Durchzugs-, Rast und Überwinterungsgebiet für im Gebiet regelmäßig auftretende Zugvogelarten beispielsweise Rohrdommel (Botaurus stellaris), Entenarten wie zum Beispiel Spießente (Anas acuta), Löffelente (Anas clypeata), Krickente (Anas crecca), Pfeifente (Anas penelope) und Knäkente (Anas querquedula), nordische Gänse wie zum Beispiel Blässgans (Anser albifrons) und Saatgans (Anser fabalis), Singschwan (Cygnus cygnus), Fischadler (Pandion haliaetus), Kranich (Grus grus), Limikolen wie zum Beispiel Doppelschnepfe (Gallinago media), Uferschnepfe (Limosa limosa) und Kampfläufer (Philomachus pugnax); 2. der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung „Belziger Bach“, „Baitzer Bach“, „Plane“ und „Plane Ergänzung“ (§ 2a Abs. 1 Nr. 8 des Brandenburgischen Naturschutzgesetzes) mit ihren Vorkommen von a. Flüssen der planaren Stufe mit Vegetation des Ranunculion fluitantis und des Callitricho-Batrachion sowie von feuchten Hochstaudenfluren als Biotope von gemeinschaftlichem Interesse („natürliche Lebensraumtypen“ im Sinne des Anhangs I der Richtlinie 92/43/EWG), […]. Zentraler Bestandteil der Verordnung sind neben den Maßnahmen zum Schutz des Durchströmungsmoores die Schutz- und Pflegemaßnahmen der Wiesen und die Förderung der Brutflächen und des Nahrungsangebotes für die Großtrappen und Wiesenbrüter. Die folgenden Kapitel gehen auf diese zentralen Aspekte ausführlich ein, während die übrige schützenswerte Fauna und Flora in abschließenden Übersichten beschrieben wird. Das Grünland Die einst flächendeckenden Bruchwälder nehmen heute nur noch einen minimalen Anteil der Gebietsfläche ein, der gesamte Waldanteil liegt bei 0,1 %. Neben den Wasserflächen bestimmt das Grünland mit 65 % Flächenanteil das Bild der Belziger Landschaftswiesen. Die umfangreichen Meliorationsmaßnahmen der 1970er Jahre hatten den Grünlandanteil zugunsten von Ackerland reduziert und das restliche Grünland war zudem zur Erhöhung der Grünmassenerträge weitgehend in grasreiches, krautarmes Saatgrasland überführt worden. Erst die seit 1991 möglichen gezielten Wasserregulierungen der Naturschutzstation Baitz, Grünlandumbrüche und bereits in diesen Jahren einsetzende Pflegemaßnahmen führten zur Erholung der großflächig verschwundenen Wiesenpflanzen und zur allmählichen Wandlung des artenarmen Grünlandes in Frisch-, Feucht- und Riedwiesen. Wiesentypen Ein Schwerpunkt der Naturschutzverordnung liegt in der Erhaltung und Entwicklung nährstoffarmer, artenreicher Feuchtwiesen, Glatthaferwiesen und von Sandtrockenrasenflächen auf den Binnendünen. Die folgenden Wiesenbeschreibungen beruhen zum Teil auf einer Bestandsaufnahme, die Ute Dopichay Ende der 1990er Jahre in den Belziger Landschaftswiesen durchgeführt hat. Zur Einordnung der Wiesen siehe auch die Pflanzensoziologischen Einheiten nach Oberdorfer und die Einteilungen des Extensivgrünlands. Honiggraswiesen (Holcetum lanati) Diese Wiese aus dem bis zu einem Meter hohen Wolligen Honiggras (Holcus lanatus) kommt dominant an verschiedenen wechselnassen bis wechselfeuchten Moor- bzw. Anmoorstandorten vor. Mit kleinflächigen Ausbreitungen bei zunehmender Tendenz ist das Honiggras auch auf allen anderen Wiesen vertreten. Rohrglanzgras-Bestände (Phalaris arundicanea-Bestände) Die Wiesen aus verschiedenen Arten aus der Gruppe der Röhrichtpflanzen gründen weitgehend in Ansaaten der 1970er Jahre. Auf nährstoffreichen und zeitweise überfluteten, sehr moorigen Flächen finden sich ausgedehnte Bestände, die auf lange überfluteten Flächen mit einer deutlichen Zunahme des Flutenden Schwaden (Glyceria fluitans) teils großräumig in Flutrasen übergehen. Wiesen-Fuchsschwanz-Bestände (Alopecurus pratensis-Bestände) Der Wiesen-Fuchsschwanz ist ein ausdauerndes Obergras aus der Familie der Süßgräser und kommt auf verschiedenen Wiesenarten der wechselnassen bis wechselfeuchten Moor- bzw. Anmoorstandorte vor. Ausgeprägtere Bestände gibt es auf den Honigwiesen. An einigen Standorten entwickelt sich das Gras derart dominant, dass es als eigenständige Form der Wiesen-Fuchsschwanz-Bestände bezeichnet wird. Rasen-Schmielen-Queckengrasland (Deschampsia cespitosa-Agropyron repens-Gesellschaft) Diese Wiesengesellschaft auf wechselnassen bis wechselfeuchten Moor- bzw. Anmoorstandorten setzt sich mit wechselnder Dominanz aus verschiedenen Schmielgräsern und der Pionierpflanze aller Böden, dem Süßgras Gemeine Quecke, zusammen. Wie bei allen Wiesen – es gibt keine Wiesen in „Reinkultur“ – ergänzen weitere Gräser diese im Untersuchungsgebiet mäßig wüchsige Pflanzengesellschaft. Rasenschmielenwiesen (Ranunculo-Deschampsietum) Die Rasenschmielenwiesen bestehen dominant aus Schmielgräsern und sind auf mäßig entwässerten eutrophen Überflutungsmooren, die meist im Frühjahr überstaut sind, zu Hause (Dopichay S. 68). Sie zählen wie alle Feuchtwiesen zu den gefährdeten und geschützten Biotopen in Brandenburg. Da sie vom Vieh meist verschmäht werden, ist ihr wirtschaftlicher Wert gering. Charakteristisch ist die im Sommer aus dichten Horsten der Rasenschmiele aufgebaute Untergrasschicht mit einer eher schütteren Obergrasschicht aus den Blütenständen. Wiesen-Fuchsschwanz oder die Scheinähren des Wiesen-Lieschgrases (Phleum pratense) ergänzen die Schmielen flächendeckend. Kriechhahnenfuß-Rispengrasland (Ranunculus repens-Poa pratensis-Gesellschaft) Diese Gesellschaft auf frischen bis mäßig-feuchten Standorten setzt sich wesentlich aus dem Wiesen-Rispengras (Poa pratensis) und dem bodennah wachsenden Kriechenden Hahnenfuß (Ranunculus repens) zusammen. Unter den insgesamt Blühaspekt-armen Wiesen sticht diese Wiese mit zwei bis drei Zentimeter großen und goldgelb glänzenden Blüten des Kriechhahnenfußes heraus und stellt eine der wenigen ausgedehnteren Frühjahrs-Blütenflächen in den Belziger Landschaftswiesen dar. Glatthaferwiesen-Fragmentgesellschaften (Arrhenatherion-Fragmentgesellschaften) Die Wiesen aus robustem Glatthafer (Arrhenatherum elatius) verzeichnen im gesamten Gebiet ausgedehnte Bestände auf frischen bis trockenen Mineralstandorten. In der Fredersdorfer Flur wird der Glatthafer teils weitläufig vom bis zu 1,50 Meter hohen Wiesen-Fuchsschwanz (Alopecurus pratensis) mit seinen kriechenden Ausläufern dominiert, so dass sie hier auch als Ausprägung von Alopecurus pratensis beschrieben werden. Für die Landwirtschaft bedeuten beide Gräser wertvolle Bestandteile im Futtergrasanbau und bilden daher willkommene Wiesengemeinschaften. Sandtrockenrasen Die kleinflächigen Sandtrockenrasen- oder auch Sand-Magerrasengesellschaften bleiben weitgehend auf die Dünenbereiche beschränkt und spielen als flächenbestimmender Faktor und landwirtschaftlich keine Rolle. Die schwachwüchsigen Bereiche aus verschiedenen Gräsern und niedrigwüchsigen Sandspezialisten haben allerdings als besonderes ökologisches Nischenbiotop große Bedeutung für Flora und Fauna. Weitere Wiesenflora und Randflora Blühaspekt auf den Landschaftswiesen Neben den bereits erwähnten Blühaspekten beleben die purpurroten Blütenstände des Blutweiderichs (Lythrum salicaria) insbesondere auf dem Rasen-Schmielen-Queckengrasland im Hochsommer großflächig das Bild. Eine hohe Blütenzahl und Blütenvielfalt („Blühaspekt“) erhöht das Aufkommen von Insekten und Spinnen und damit die Nahrungsgrundlage vieler Wiesenbrüter (vergleiche auch Blumenwiese). Weitere großflächige Blühaspekte liefern auf fast allen Belziger Landschaftswiesen im Frühjahr die Blüten der in Brandenburg gefährdeten Wiesen-Margerite (Leucanthemum vulgare) und im Hochsommer die Schafgarbe (Achillea millefolium). Wie auf fast allen Wiesen Europas locken auch hier die gelben Blüten des Löwenzahns (Taraxacum officinale) von April bis Oktober Insekten an. Durch das frühe Erscheinen der Blüten ist der Löwenzahn eine wichtige Bienenweide, die der Entwicklung der Bienenvölker im Frühjahr dient. Beim Weißklee (Trifolium repens) sind deutliche Zunahmen zu verzeichnen, aber auch die Blütenfelder des Rot- (Trifolium pratense) und Schwedenklees (Trifolium hybridum) dehnen sich aus – eine Ausdehnung, die Naturschützer und Landwirte gleichermaßen begrüßen, da die Zunahme dieser blütenreichen Leguminose nicht nur den Wiesenbrütern dient, sondern auch die Futterqualität der Wiese verbessert. Vereinzelt bilden die rosaroten Kronblätter der Kuckuckslichtnelke (Lychnis flos-cuculi) leuchtende Farbenmeere. Auch die nach dem Bundesnaturschutzgesetz besonders geschützten und im Gebiet wieder beobachteten fünfzähligen, weißen Blüten des Körnchen-Steinbrech (Saxifraga granulatar), ferner Heidenelken (Dianthus deltoides) und, wenn auch noch vereinzelt, Prachtnelken (Dianthus superbus) tragen wieder zum Blühaspekt und damit zur Biotopbereicherung bei. Uferzonen und Gehölze Insgesamt beheimaten die Wiesen, Weiden und Ackerbauflächen gemeinsam mit den Restbeständen des Waldes und den Dünenbereichen rund 245 Pflanzenarten, von denen 22 auf der Roten Liste gefährdeter Arten Brandenburgs stehen. Den größten Artenreichtum weisen die Ränder und Ufer der Gräben und Bäche auf. Hier finden sich noch kleine Flächen mit der Sumpfdotterblume (Caltha palustris). Die Naturschützer hoffen, dass die Bestände der in Brandenburg seltenen feuchtigkeitsliebenden Pflanze mit der Entwicklung einiger Rohrglanzgras-Bestände zu Flutrasen steigen. Weitere bemerkenswerte Bewohner der Uferzonen sind neben den Seggen der Wiesen-Goldstern (Gagea pratensis), Scharbockskraut (Ranunculus ficaria), sowie Hochstauden wie Wiesen-Kerbel (Anthriscus sylvestris), Kohldistel (Cirsium oleraceum), Sumpf-Kratzdistel (Cirsium palustre) oder sogar Wiesen-Alant (Inula britannica), Schwanenblume (Butomus umbellatus) oder der stark gefährdete Schlangen-Knöterich (Persicaria bistorta), der im Volksmund wegen seiner markanten Blütenform auch Zahnbürste heißt. Für die mesotrophen Standorte mit vernässten Böden streben die Naturschützer gemäß Naturschutzverordnung insgesamt eine Entwicklung zu typischen Pflanzengesellschaften wie Seggensümpfen und Pfeifengraswiesen (Molinion caeruleae) mit einer artenreichen Arthropodenfauna (Gliederfüßer wie Insekten, Krebse, Spinnen, Milben) an. In den Randbereichen sollen Flechten-Kiefern-Wälder (Cladonio-pinetum), an den Bachufern standortgerechte, gebietsheimische Gehölze wie Erlen und Weiden und an ausgewählten Standpunkten Kopfweiden und Strauchgehölze gefördert werden. Wiesen- und Landschaftspflege „Zur Erhaltung und Verbesserung der von artenarmen, wüchsigen Feuchtwiesen dominierten offenen Wiesenlandschaft muss eine extensive, räumlich und zeitlich versetzte, an unterschiedliche Standorte angepasste Bewirtschaftung gewährleistet sein.“ (Dopichay S. 64) Eine weitere standortbezogene Differenzierung der Maßnahmen im Grünland erfordern die speziellen Anforderungen des Schutzgebietes für die Großtrappen. Naturnaher Ackerbau: Feldermosaik Die Ackerflächen sind im Rückgriff auf die mittelalterliche Mehrfelderwirtschaft mit wechselnden Streifen Getreide, Erbsen, Lupinen, Raps, Klee und Kartoffeln angelegt. Das daraus entstehende Mosaik aus Rotations- und Dauerbrachen bietet den Großtrappen die ökologisch erforderlichen Brut- und Nahrungsflächen. Eine weitere Differenzierung der Maßnahmen erfolgt durch die drei Zonen mit unterschiedlichen Beschränkungen der Nutzung, die die Naturschutzverordnung vorsieht. Zur Sicherung erster Pflegemaßnahmen hatten das Land Brandenburg und der Förderverein Großtrappenschutz e.V. bereits in den 1990er Jahren rund 850 Hektar Wiesenfläche aufgekauft, die in das NSG eingingen. Die Flächen werden ausschließlich an landwirtschaftliche Betriebe übergeben, die sich an die Vorgaben des Naturschutzes halten (Vertragsnaturschutz) und eine extensive Landnutzung betreiben. Dazu gehören in den Kerngebieten die Vermeidung von Chemikalien und Düngemitteln, die Einhaltung der optimalen Wasserstände des Durchströmungsmoores, kein Grünlandumbruch und keine Nachsaat, kein Schleppen und Walzen der Wiesen von April bis September. Die Mähhäufigkeit und Schnitttechnik der Wiesen und Weiden erfolgt zu festgelegten Terminen unter Einsatz von elektronischen Wildrettern, deren hochfrequente Töne die Tiere zum Verlassen des Gebiets treiben. Zusätzliche mechanische Wildretter durchkämmen wie eine große Harke bei jedem Durchgang den nebenliegenden, nächsten Mahdbereich. Mahd und Zielkonflikte Bewirtschaftung und Mahd der Wiesen und Weiden sind unerlässlich, um den Artenreichtum zu erhalten. Unterbleibt ein artgerechter Schnitt, führt die Sukzession bei Feuchtwiesen zur Ausbildung von Hochstaudenfluren, später Gebüschen und zur Rückkehr zu den ehemaligen Bruchwäldern. Eine regelmäßige Mahd ist in den Belziger Landschaftswiesen ferner deshalb unerlässlich, um in vom Rohrglanzgras (Phalaris arundinacea) und Wiesen-Fuchsschwanz dominierten und damit gefährdeten Wiesenflächen den Aufwuchs zu verringern bzw. Mineralstandorte auszuhagern (Dopichay, S. 70). Ohne weiteren Schnitt nach der Beweidung wäre auch nicht die weitere Ausbreitung der Ackerkratzdistel (Cirsium arvense) zu verhindern, die bereits großflächig auftritt und in großen Mengen jede Wiese oder Mähweide unbrauchbar macht. Die Rinder fressen schmackhaftere Gräser und meiden die Hochstauden, was die Vermehrung des auch als „Ackerunkraut“ bezeichneten Korbblütlers nochmals befördert. Der Abbau des Artenreichtums durch dominanten Bewuchs dieser Pflanzen vermindert das Nahrungsangebot für die zu schützenden Wiesenbrüter. Auf der anderen Seite bieten gerade Pflanzen wie die bis zu 1,20 Meter hohe Ackerkratzdistel mit ihrer Zugänglichkeit für Insekten aller Art einen ganz besonders geeigneten Lebensraum und üben auch auf Spinnen und Tagfalter eine große Anziehungskraft aus. Auch das Rohrglanzgras stellt einen von Insekten und Spinnen bevorzugten Lebensraum dar und sollte bei Berücksichtigung ihrer Entwicklungszyklen von mehreren Jahren höchstens alle drei bis fünf Jahre gemäht werden. Die Pflegemaßnahmen in den Landschaftswiesen versuchen diesen Zielkonflikten mit einer passenden Mähfrequenz und einer Verlagerung der Hochstauden in die Randzonen gerecht zu werden. Für die Landwirtschaft machen allenfalls drei Schnitte pro Saison betriebswirtschaftlich Sinn, was auf der einen Seite den bei jeder – noch so vorsichtigen – Mahd gefährdeten Wiesenbrütern entgegenkommt, zur Erhaltung der Wiesen selbst jedoch die erforderliche Untergrenze darstellt. Der notwendige Einsatz des schweren landwirtschaftlichen Gerätes mit Treckern wiederum verdichtet die Böden in einer den Wiesen abträglichen Form. Schonende breitreifige, aber teure Motorfahrzeuge wären im Verhältnis zu den Heuerträgen unwirtschaftlich. Auf dieser Ebene müssen die Pflegemaßnahmen ökologische und wirtschaftliche Interessenkollisionen ausgleichen. Mit dem Mosaik aus Rotations- und Dauerbrachen, den zonalen Aufteilungen und den begleitenden Abschlüssen im Vertragsnaturschutz stellt sich der Naturschutz auf den Belziger Landschaftswiesen somit als Management von widerstreitenden Interessen auf unterschiedlichsten, sich teilweise überlagernden Ebenen dar, die durch die Einbindung in das Europäische Vogelschutzgebiet nochmals differenziert werden. Das Kerngebiet des Naturschutzgebietes allerdings steht unter einem einzigen, klaren Ziel: Schutz und Förderung der Großtrappe. Europäisches Vogelschutzgebiet Die Belziger Landschaftswiesen gehören heute als SPA = Special Protection Area zum Europäischen Vogelschutzgebiet Unteres Rhinluch, Dreetzer See, Havelländisches Luch und Belziger Landschaftswiesen im Schutzgebietsystem Natura 2000. Zählungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergaben insgesamt rund 160 Vogelarten, darunter 110 Wiesenbrüter. 30 dieser Vögel stehen auf der Roten Liste gefährdeter Arten Deutschlands. Ein erheblicher Teil des Gebietes dient dem besonderen Schutz der Großtrappe und ist ohne Führung nur in den Randbereichen zugänglich. Zur Beobachtung der Trappen und vieler weiterer seltener Vögel hat die Naturschutzbehörde einen Beobachtungsturm bei Freienthal wenige Meter westlich der Plane errichtet. Im Brücker Ortsteil Baitz befindet sich die Naturschutzstation der Wiesen, der die Vogelschutzwarte Baitz angegliedert ist. Die Station verfügt im Garten über Volièren zur Pflege verletzter Greifvögel und unterhält tief in den Landschaftswiesen eine nicht-öffentliche Beobachtungsstation (kein Beobachtungsturm) für Trappen. Ihre zentrale Aufgabe sieht die Vogelschutzwarte in der Entwicklung und Umsetzung des Artenschutzprogramms Großtrappe im Gebiet der Belziger Landschaftswiesen. (Meckelmann/Eschholz) Großtrappe Der Bestand der Großtrappe war bis zum Jahr 2003 auf rund 150 Exemplare bundesweit geschrumpft, davon rund 30 in den Belziger Landschaftswiesen, die um 1800 von Trappen aus den Steppen Osteuropas besiedelt worden waren. Hier hatte sich der Bestand so gut entwickelt, dass die Bauern mehrere Bittschriften verfassten, die dem Adel zur Jagd vorbehaltenen Großtrappen abschießen zu dürfen. Die Industrialisierung der Landwirtschaft und insbesondere die maschinelle Mahd führte zur drastischen Bestandsabnahme durch Tötung der brütenden Hennen auf dem Gelege und Zerstörung der Nester. Die intensiven Schutzmaßnahmen der Bruträume mit großflächig extensiver Landnutzung und angepassten Bewirtschaftungskonzepten haben in den drei Brandenburgisch/Sachsen-Anhaltischen Trappenschutzgebieten (neben den Landschaftswiesen Gebiete im Fiener Bruch und im Havelländischen Luch) zwischen 1955 und 2005 fast zu einer Verdoppelung des Bestandes von 55 auf 100 Exemplare geführt. In den Belziger Landschaftswiesen liegt die Zahl laut Auskunft von Norbert Eschholz, Leiter der staatlichen Vogelschutzwarte in Baitz, im März 2006 bei 37 Vögeln mit weiter steigender Tendenz. Diese Zahlen sind allerdings momentan nur unter Zuhilfenahme der künstlichen Bebrütung zu erreichen. Wachtelkönig Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kehrte mit dem Wachtelkönig (Crex crex; auch Wiesenralle) ein in einigen Staaten Mitteleuropas vom Aussterben bedrohter und weltweit bedrohter Vogel in die Belziger Landschaftswiesen zurück. Nachdem die maschinelle Mahd des Niederungsgebietes den Vogel völlig verdrängt hatte, findet er inzwischen seine überlebensnotwendigen dicht bewachsenen Deckungsinseln und ein ausreichendes Nahrungsangebot im Urstromtal wieder. Pflege- und Schutzmaßnahmen für diese sehr seltene Rallenart gehören seither zu den Prioritäten der Naturschutzstation Baitz. Weitere Vogelarten Eher zu Gesicht bekommt man in den Feuchtwiesen den Schnepfenvogel Bekassine (Gallinago gallinago). Weiter kommen vor: Große Brachvogel (Numenius arquata), Schilfrohrsänger (Acrocephalus schoenobaenus), Eisvögel (Alcedo attis), Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus), Flussregenpfeifer (Charadrius dubius), Grauammer (Emberiza calandra), Raubwürger (Lanius excubitor), Goldregenpfeifer (Pluvialis apricaria), Bruchwasserläufer (Tringa glareola), Waldwasserläufer (Tringa ochropus), Wiedehopf (Upupa epops) und Kiebitz (Vanellus vanellus), dessen Männchen beim Balzflug im Frühjahr akrobatische Flugmanöver mit seitlich kippenden Sturzflügen vollbringt. Es wirft sich laut rufend in der Luft hin und her und trudelt senkrecht zu Boden. Im Winterhalbjahr gesellen sich Watvögel und Tausende nordische Gänse auf der Rast hinzu, die zum Teil im oben wiedergegebenen Auszug der Naturschutzgebietsverordnung benannt sind. Ausgestorben sind von den ehemaligen Bewohnern der Belziger Landschaftswiesen Birkhuhn (Lyrurus tetrix), Sumpfohreule (Asio flammeus), Kornweihe (Circus cyaneus) und Rotschenkel (Tringa totanus). Dagegen konnten Dank eines Wiederansiedelungsprogramms für den in den 1970er Jahren ausgestorbenen Steinkauz (Athene noctua) neue Brutnachweise erbracht werden. Auch das metallisch-monotone „zi zi zi rideriderit“ der Grauammer (Emberiza calandra; Miliaria calandra) ist wieder öfter zu hören. Fauna der Gewässer, Säugetiere und Insekten Verbunden mit dem kontinental getönten Klima bringen die unterschiedlichen Biotope und Zonen der Belziger Landschaftswiesen – über die Vogelwelt hinaus – eine vielfältige Fauna hervor. Die folgende Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf das Vorkommen der nach den entsprechenden Richtlinien „besonders geschützten“ oder „streng geschützten“ Arten. Fische und Rundmäuler Aufgrund des nährstoffarmen Wassers mit hoher Fließgeschwindigkeit finden sich in den Bächen Arten, die für Fließgewässer im Flachland eher ungewöhnlich sind. Insgesamt sind 19 verschiedene Fischarten nachgewiesen, von denen 13 auf der Roten Liste Brandenburgs stehen. Zu den „streng geschützten“ Arten zählen der Gründling (Gobio gobio) aus der Familie der Karpfenfische, ferner die „fettige“ Bachschmerle (Noemacheilus barbatulus) mit ihrem hohen Nährwert („schmerl“ Mittelhochdeutsch = fettig) und der Neunstachlige Stichling (Pungitius pungitius) oder Zwergstichling, der hier seine bevorzugten Kleingewässer vorfindet. Heimisch in den Wiesengewässern sind ferner der Schlammpeitzger (Misgurnus fossilis) und der im fortgeschrittenen Alter räuberische Rapfen (Aspius aspius). Im Flüsschen Plane lebt mit der Bachforelle (Salmo trutta forma fario) ein weiterer räuberischer Süßwasserfisch. Wie die Forelle liebt auch das „stark gefährdete“ und einzige in Deutschland stationär lebende Rundmaul (Cyclostomata), das Bachneunauge (Lampetra planeri), klare Bäche. Die geschlüpften und noch augenlosen Larven („Querder“) vergraben sich drei bis vier Jahre im Sand und nur das ins Wasser ragende Maul ist in diesem Stadium wahrzunehmen. Krebse und Kröten Vereinzelt gräbt auch wieder der größte in europäischen Gewässern heimische Krebs in den Uferböschungen der Plane seine Wohnhöhlen. Der bis zu 20 cm große Edelkrebs oder Europäische Flusskrebs (Astacus astacus) erreicht ein Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Von den 50 bis 400 Eiern, die das Weibchen bis zu 26 Wochen unter dem eingeschlagenen Hinterleib trägt, entwickeln sich dank der Räuber und weiterer Feinde allenfalls 10–20 % zum Jungkrebs. Verschiedene Vertreter der Wirbellosen ergänzen die Bachfauna. Aus der Gattung der Echten Kröten kommt im Naturschutzgebiet die nach der Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) besonders geschützte Kreuzkröte (Bufo calamita), ein Froschlurch, vor. Der spezifische Biotopverbund der Belziger Landschaftswiesen mit kleinflächigen Binnendünen und Nassflächen kommt ferner den Lebensraumbedürfnissen der Knoblauchkröte (Pelobates fuscus), ebenfalls ein Froschlurch und „besonders geschützt“, entgegen. Die erwachsenen Kröten sind weitgehend bodenbewohnende Landtiere, die lediglich in der Laichzeit Feuchtbiotope benötigen. In den sandig-lehmigen Böden des Urstromtals graben die Tiere mittels ihrer Fersenhöcker-„Schaufeln“ an den Hinterfüßen bis zu 60 cm tiefe Höhlen aus. Säugetiere und Insekten Die Jagd auf den Rotfuchs (Vulpes vulpes) wurde nach Darstellung von Jochen Bellebaum aufgrund seiner Bedrohung für die Wiesenbrüter bereits in den 1990er Jahren mit hohen Abschussprämien gefördert. Dennoch sind die Bestände wie oben angeführt in den Landschaftswiesen immer noch so hoch, dass der Fuchs nach wie vor eine starke Gefährdung für die Trappen darstellt und im Naturschutzgebiet weiter bejagt wird. Auch der Marderhund (Nyctereutes procyonoides) wurde bei vereinzeltem Auftreten in den Landschaftswiesen bejagt. Unter den Schutzstatus „Streng geschützt“ fallen hingegen Mauswiesel (Mustela nivalis) und Iltis (Mustela putorius). Der gleichfalls streng geschützte Fischotter (Lutra lutra) findet sich noch sehr vereinzelt und die Ansiedlung des Bibers (Castor fiber) gehört zu einem der Entwicklungsziele der Naturschutzverordnung. Rehe (Capreolus capreolus) sowie Mäuse (Mus) und weitere Kleinsäuger ergänzen die Klasse der Mammalia. Von der übrigen artenreichen Fauna stechen in den Belziger Landschaftswiesen noch drei „streng geschützte“ Insekten besonders heraus, die Feldgrille (Gryllus campestris) und die beiden Libellen Gebänderte Prachtlibelle (Calopteryx splendens) und Gemeine Keiljungfer (Gomphus vulgatissimus). Die Großlibelle Keiljungfer gehört mit ihrer Flügelspannweite von 6 bis 7 Zentimetern zu den ersten Libellen des Frühjahrs und steckt an der Plane, am Belziger/Fredersdorfer sowie Baitzer Bach Reviere von 10 bis 20 Metern Länge ab. Naturereignis: Massenschlafplatz von Rohrweihen Mit der Einbindung in den Biotopverbund der Havel-Nuthe-Nieplitz-Bereiche, in das Europäische Vogelschutzgebiet, in die nordwestlich und östlich anschließenden Niederungsbereiche im Baruther Urstromtal und in den Naturpark Hoher Fläming bilden die Belziger Landschaftswiesen eine weiträumig verflochtene Naturlandschaft, die bereits heute vielversprechende Entwicklungen und Renaturierungen aufweist. Der projektierte Naturpark Baruther Urstromtal, der talaufwärts östlich von Luckenwalde entstehen soll, wird weiter dazu beitragen, dass bedeutsame Ereignisse wie im Sommer 1999 im Kultur- und Naturraum Fläming/Havelland zur Regel werden. Hier kam es erstmals in der jüngeren Naturgeschichte der Landschaftswiesen zu einem herausragenden Massenschlafplatz von Rohr- und Wiesenweihen. Laut einem Bericht von Torsten Ryslavy ergaben Zählungen 108 Rohr- (Circus aeruginosus) und 18 Wiesenweihen (Circus pygargus) – eine bemerkenswerte Größenordnung für die europaweit besonders geschützten und in Deutschland vom Aussterben bedrohten Greifvögel. Szenerie in der Nähe von Baitz, im Hintergrund links der Hohe Fläming Quellen Fachspezifische Aufsätze zu den Landschaftswiesen Jochen Bellebaum: Fuchs und Marderhund in Brandenburgs Feuchtgebieten – Ergebnisse aus den 1990er Jahren. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 11, Heft 2, 2002, S. 200–204. Ute Dopichay: Zustandsbeschreibung ehemaligen Intensivgrünlandes in den Belziger Landschaftswiesen mit Hinweisen zu Pflegemaßnahmen. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 8, Heft 2, 1999, S. 64–72. Norbert Eschholz: Großtrappen (Otis: TARDA L, 1758) in den Belziger Landschaftswiesen. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 5, Heft 1, 1996, S. 37–40. H. Meckelmann, Norbert Eschholz: Zehn Jahre Naturschutzstation Baitz. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 9, Heft 3, 2000, S. 114. Torsten Ryslavy: Herausragender Massenschlafplatz von Rohr- und Wiesenweihen im Europäischen Vogelschutzgebiet (SPA) Belziger Landschaftswiesen im Jahr 1999. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 9, Heft 4, 2000, S. 136–139. Bärbel Litzbarski: Das Europäische Vogelschutzgebiet (SPA) Belziger Landschaftswiesen. In: Naturschutz und Landschaftspflege in Brandenburg. Jg. 7, Heft 3, 1998, S. 182–184. (enthält eine Bestandstabelle) Weitere benutzte Literatur Jan Feustel: Zwischen Wassermühlen und Sumpfwäldern, Ein Reise- und Erlebnisführer in das Baruther Urstromtal. Hendrik Bäßler Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-930388-11-1, siehe unter anderem Seiten 163ff Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil 3: Havelland. 1. Auflage. 1873. (Zitat nach der Ausgabe Nymphenburger Verlagshandlung, München 1971, ISBN 3-485-00293-3, Zitat Mönche Lehnin S. 38) L. Lippstreu, N. Hermsdorf, A. Sonntag: Geologische Übersichtskarte des Landes Brandenburg 1 : 300.000. Potsdam 1997. (Erläuterungsteil auf der Rückseite) Carsten Rasmus, Bettina Klaehne: Erlebnisführer Naturparks in Brandenburg: Ausflüge zu Fuß und mit dem Rad durch die Naturparks, Biosphärenreservate und den Nationalpark Unteres Odertal. KlaRas-Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-933135-05-2, S. 50f. Paul Quade: Das Amt Belzig. In: Pestalozzi-Verein der Provinz Brandenburg (Hrsg.): Die Provinz Brandenburg in Wort und Bild. Verlag von Julius Klinkhardt, Berlin 1900, S. 437–444, Zitat S. 443. Stephan Warnatsch: Geschichte des Klosters Lehnin 1180–1542. (= Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser, Band 12.1). Lukas Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-931836-45-2, S. 245. (Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 1999) … (ebenso), Regestenverzeichnis. … Band 12.2 … ISBN 3-931836-46-0 Zitat: Eintrag Nr. 101, 1251, August 6 Quellen in Weblinks Verordnung über das Naturschutzgebiet „Belziger Landschaftswiesen“ vom 24. Mai 2005 mit Kartenskizze Naturpark Hoher Fläming Quelle für das Zitat von Mathias Freude zum Bestand der Großtrappen Förderverein Großtrappenschutz Förderverein Naturpark Baruther Urstromtal Sonstige Quellen Telefonische Auskünfte durch Norbert Eschholz, Leiter der staatlichen Vogelschutzwarte in Baitz, 29. März 2006. Nichtbenutzte weiterführende Literatur und Weblinks Literatur Johannes H. Schröder, A. Heinke (Hrsg.): Geowissenschaftliche Sammlungen in Berlin und Brandenburg – Einladungen zum Schauen. (= Führer zur Geologie von Berlin und Brandenburg. Nr. 8). Verlag Prog. J.H. Schröder TU Berlin, 2002, ISBN 3-928651-10-2. Odette Dumke: Ökologische Untersuchungen zum Vorkommen der Großtrappe (Otis Tarda L.) in den Belziger Landschaftswiesen. unveröffentlichte Diplom-Arbeit. Universität Dresden, Fakultät Bau-, Wasser-, Forstwesen, 1994. Weblinks 14. Juni 2005. Großtrappe auf: naturfoto-online.de Anmerkungen Region in Europa Brandenburgische Landschaft Naturschutzgebiet im Landkreis Potsdam-Mittelmark Schutzgebiet (Umwelt- und Naturschutz) in Europa EU-Vogelschutzgebiet in Brandenburg Binnendüne Geographie (Bad Belzig) Plane (Fluss) Wikipedia:Naturschutzgebiete
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https://de.wikipedia.org/wiki/Windpocken
Windpocken
Die Windpocken oder Varizellen (veraltet auch Varicellen) sind eine durch Tröpfcheninfektion übertragbare Infektionskrankheit, die durch das Varizella-Zoster-Virus ausgelöst wird. Andere Bezeichnungen für Windpocken sind Wasserpocken, Spitzblattern, Spitze Blattern, Wilde Blattern, vor allem in Österreich Feuchtblattern, Schafplattern bzw. Schafblattern. Der Name Windpocken beruht auf der Übertragung dieser Krankheit durch den „Wind“ (die Viren werden auch über einige Meter in der Luft übertragen). Die Windpocken sind zu unterscheiden von den Pocken (Variola), einer gefährlichen Infektionskrankheit, die von Viren der Gattung Orthopoxvirus verursacht wird. Die Windpocken betreffen überwiegend Kinder im Vorschulalter und führen bei der Mehrzahl der Infizierten anschließend zu einer lebenslangen Immunität, weshalb man sie auch zu den Kinderkrankheiten zählt. Symptome sind im Wesentlichen Fieber und ein charakteristischer, juckender Hautausschlag mit wasserklaren Bläschen. Es können Komplikationen in Form von Kleinhirn- oder Hirnentzündungen, einer Lungenentzündung oder bakteriellen Superinfektionen der Haut auftreten. Da es sich um eine Virusinfektion handelt, ist die Behandlung in der Regel symptomatisch. In besonderen Fällen – beispielsweise bei immunsupprimierten Patienten – kann ein Virostatikum eingesetzt werden. Nachdem die Krankheitszeichen abgeklungen sind, verbleiben Varizella-Viren in den Spinal- oder Hirnnervenganglien und können von hier aus in Form einer Gürtelrose (Herpes Zoster) wieder reaktiviert werden. Zur Prophylaxe gibt es eine Impfung, die seit Juli 2004 in Deutschland allgemein empfohlen ist. Seit August 2006 ist auch ein Mehrfachimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken verfügbar. Auch eine Postexpositionsprophylaxe mit Passiv-Impfung oder mit Virostatika ist möglich. Windpocken sind in Deutschland meldepflichtig. Häufigkeit Vor der allgemein empfohlenen Impfung waren Windpocken mit deutschlandweit 750.000 Fällen jährlich und Häufigkeitsgipfel im Kindesalter die häufigste impfpräventable Erkrankung. Mehr als 90 % aller Jugendlichen waren bis zum 14. Lebensjahr infiziert. Ein Herpes Zoster trat gewöhnlich jenseits des 40. Lebensjahres auf. Bei Kindern war Herpes Zoster wesentlich seltener: von 1000 Kindern erkrankte durchschnittlich lediglich eines nach 5 ± 2,5 Jahren an Herpes Zoster. Eine Krankheitshäufung besteht im Winter und Frühjahr. In Folge der COVID-19-Pandemie in Deutschland und der damit einhergehenden Hygienemaßnahmen lag die Zahl der in den Kalenderwochen 10 bis 32 registrierten Fälle im Jahr 2020 im Mittel rund 51 Prozent unter den Werten der Vorjahre. Erreger Der Erreger der Windpocken ist das Varizella-Zoster-Virus (VZV), das gemäß der Virus-Taxonomie auch als Humanes Herpesvirus 3 (HHV-3) bezeichnet wird. Einziges bekanntes Reservoir ist der Mensch. Dieses Virus ist ein behülltes, doppelsträngiges DNA-Virus (dsDNA) und gehört zur Familie der Herpesviridae, zur Unterfamilie Alphaherpesvirinae und zur Gattung Varicellovirus. Alle Viren dieser Familie umschließen ihre DNA mit einem ikosaedrischen Kapsid, einer aus Dreiecksflächen bestehenden Proteinhülle. Das Varizella-Zoster-Virus ist weltweit verbreitet und wird bereits in der Kindheit übertragen. Exemplarisch stieg bei Kindern in Schweden zwischen 9 und 12 Jahren in den letzten 30 Jahren die Prävalenz von Antikörpern gegen VZV von etwa 50 % Ende der 1960er Jahre bis auf 98 % 1997, was der zunehmend verbreiteten Impfung zugeschrieben wird. Bei der erwachsenen Bevölkerung in Mitteleuropa sind bei etwa 93 bis 96 % Antikörper nachweisbar. Die vom Erreger verursachte Windpocken-Erkrankung als Erstinfektion des VZV nimmt nur sehr selten einen tödlichen Verlauf; dies kann gelegentlich ohne Vorerkrankung bei Patienten mit intaktem Immunsystem vorkommen, häufiger jedoch bei Immundefizienten und Schwangeren. Dies zeigt auch, dass das VZV sehr stark an den Menschen als seinen einzigen Wirt angepasst ist und es daher als „wirtsspezifisch und teiladaptiert“ eingestuft werden kann. Es verbleibt nach einer Infektion stets lebenslang als DNA-Ring im Nukleoplasma der Nervenzellen der Spinal- oder Hirnnervenganglien. Übertragung Die hoch ansteckenden Viren werden teils über direkten Kontakt mit den Varizellen- oder Zosterbläschen übertragen. Die Tröpfcheninfektion, also direktes Einatmen von Ausatmungströpfchen (Exspirationströpfchen) infizierter Personen, ist ein bis zwei Tage vor Ausbruch des Exanthems möglich. Es ist möglich, dass das Varizella-Zoster-Virus mit der Luft übertragen wird („Wind“pocken). Da die Erreger an der Luft einige Meter weit „fliegen“ und überlebensfähig sind, ist eine Ansteckung über die Luft auch bei nicht direktem Kontakt möglich. Eine Übertragung durch herumliegende Kleidung oder Spielzeug ist in der Regel nicht zu befürchten. Eine Exposition ist sicher immer dann anzunehmen, wenn bei immunkompetenten Personen der Kontakt länger als eine Stunde gedauert hat, bei abwehrgeschwächten Personen ist von einer Mindestzeit von zehn Minuten auszugehen. Nach einer Virusexposition infizieren sich über 90 von 100 empfänglichen (zuvor seronegativen) Personen mit diesem Virus und erkranken auch anschließend, die Windpocken treten bei ihnen sichtbar auf. Windpocken sind bereits zwei Tage vor Auftreten des Hautausschlags ansteckend und bleiben dies fünf bis zehn Tage nach Bildung der ersten Bläschen bzw. bis das letzte Bläschen verkrustet ist. Die Meinung, dass die Ansteckungsfähigkeit bis zum Abfallen der letzten Kruste vorhanden sei, gilt als überholt. In dieser Zeit sollte die erkrankte Person nicht in Kontakt mit anderen kommen, vor allem nicht mit Risikopersonen wie Immuninkompetenten (Cortisonbehandlung, AIDS, Krebskranke, Neurodermitiskranke, ältere Menschen) oder auch Frauen, die sich in der 8. bis 21. Schwangerschaftswoche befinden, da bei den letztgenannten eine Gefährdung des ungeborenen Kindes und auch der Mutter gegeben ist. Eine Windpockenerkrankung der Mutter zwischen sieben Tagen vor und drei Tagen nach der Entbindung kann für sie tödlich verlaufen. (Siehe auch Windpocken in der Schwangerschaft) Ein Nestschutz bei Neugeborenen und Säuglingen immuner Mütter durch übertragene IgG-Antikörper besteht sicher drei Monate, danach nimmt die Empfänglichkeit bei den Kindern zu, ab dem sechsten Lebensmonat besteht kein Nestschutz mehr, ab dem neunten Monat kann eine Impfung durchgeführt werden. Krankheitsentstehung Frühere pathogenetische Konzepte mussten sich aufgrund der strengen Wirtsspezifität von VZV auf klinische Beobachtungen und Untersuchungen des Mäusepockenvirus als Tiermodell stützen. Es wurde angenommen, nach Eindringen über die Schleimhaut der oberen Luftwege erfolge zunächst eine erste Virusreplikation im lymphatischen Gewebe des Rachenraumes mit einer anschließenden monozytären Virämie. Erst nach einer zweiten Replikationsphase in den retikuloendothelialen Organen (Leber, Milz) gelangten die Erreger mit einer sekundären Virämie in die Haut. Die Infektion der sensiblen Nervenzellen, in deren Ganglien die Viren anschließend lebenslang überdauern, erfolge entweder von den Hautläsionen aus oder auch über den Blutweg. Durch dieses Konzept war die lange Inkubationszeit gut erklärt. Mittlerweile gibt es Untersuchungen an Mäusen mit schwerem Immundefekt, denen menschliche T-Zellen, Haut- und Nervengewebe transplantiert wurden. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Viren direkt nach der ersten Replikation in regionalen Lymphknoten des Rachens T-Zell-gebunden über die Blutbahn in die Haut gelangen. Die lange Zeit zwischen Infektion und Ausbruch des Hautausschlags wird damit erklärt, dass VZV zunächst bisher unbekannte angeborene, sehr wirksame Abwehrmechanismen überwinden müssen. Dazu gehört eine direkt in den Zellen der Oberhaut verankerte α-Interferon-Produktion. Klinische Erscheinungen Windpocken bei Kindern Nach einer Inkubationszeit von 10 bis 21 (meist 14 bis 17) Tagen kann es zum Auftreten von leichtem und kurzanhaltendem Fieber sowie Kopf- und Gliederschmerzen kommen. Tags darauf bilden sich im Bereich des Rumpfes und Gesichtes, typischerweise aber auch des behaarten Kopfes, erst später an den Gliedmaßen bis zu linsengroße, manchmal juckende rote Flecken, aus denen später Knötchen entstehen, in deren Zentrum sich innerhalb von Stunden bis maximal Tagen reiskorngroße Bläschen bilden. Diese sind häufig gedellt. Seltener können auch die Schleimhäute im Bereich des Mundes (hier vor allem am Gaumen als gelblich belegte Erosionen sichtbar), der Nase, der Augen, sowie die Haut der Genitalien und des Afters betroffen sein. Die Bläschen platzen schließlich, und es bildet sich eine hellbraune Kruste. Da die Läsionen nicht gleichzeitig entstehen, findet sich zu einem gegebenen Zeitpunkt eine vielgestaltige Ausprägung der Hauterscheinungen, so dass oft von einem Bild ähnlich einem „Sternenhimmel“ gesprochen wird, das eine Blickdiagnose ermöglicht. Der Krankheitsverlauf ist meist gutartig und dauert in der Regel drei bis fünf Tage an. Die Krusten fallen ohne Narbenbildung ab, sofern das Kind nicht kratzt und die Hautläsionen auf die Oberhaut begrenzt bleiben. Gewöhnlich kann der Mensch Windpocken nur einmal im Leben bekommen, er ist also, nachdem er die Krankheit einmal durchgemacht hat, immun. Es gibt jedoch Ausnahmen, nämlich dann, wenn das erste Auftreten der Windpocken sehr leicht und sehr früh in der Kindheit stattfand und sich somit nicht genügend Antikörper bilden konnten. Windpocken bei Erwachsenen Erstinfektion mit dem Varizella-Zoster-Virus im Erwachsenenalter (Varicellae adultorum, die ‚Windpocken der Erwachsenen‘) sind aufgrund der hohen Durchseuchung eher selten und nehmen meist einen schwereren Krankheitsverlauf als bei Kindern. Es sind Komplikationen mit Meningoenzephalitis, Lungen- (Pneumonie) und Leberentzündung (Hepatitis) möglich. So zeigen sich bei Erwachsenen meist deutlich mehr Effloreszenzen. Der gesamte Rumpf, der behaarte Kopf, das Gesicht, Beine, Arme und die Genitalien können befallen sein. Rund eine Woche lang treten immer wieder neue Pocken auf, bei manchen Erwachsenen bis zu vier Wochen. Sie erscheinen zuerst als rote Punkte, die sich dann mit Flüssigkeit füllen, dann eitern und entweder direkt verkrusten oder zuvor aufplatzen. Das Fieber kann auf über 40 Grad ansteigen und tritt meist schon vor den ersten roten Punkten gemeinsam mit allgemeinem Krankheitsgefühl auf. Bei Erwachsenen muss besonders auf Komplikationen geachtet werden, da hier Gehirnhautentzündung (Meningitis), Lungenentzündung oder Magen-Darm-Komplikationen auftreten können. Zur Abklärung einer Hirnhautentzündung sollte überprüft werden, ob das Kinn schmerzfrei auf die Brust gesenkt werden kann (Prüfung auf Meningismus). Treten Atembeschwerden oder Auswurf aus der Lunge auf, muss sofort eine Röntgenaufnahme des Brustkorbes zum Ausschluss einer Lungenentzündung gemacht werden. Starke Bauchschmerzen und ein geblähter Bauch weisen auf Komplikationen im Magen-Darm-Trakt hin. Um eine Immunisierung im Kindesalter zu erreichen, werden u. a. in den USA und dem Vereinigten Königreich von Impfgegnern so genannte pox parties (Pocken-Partys) abgehalten, um bei Kindern gezielt Infektionen mit Windpocken herbeizuführen (siehe auch: → Masernparty). Komplikationen Bei ca. 5,7 % der Windpockenerkrankungen ergeben sich mehr oder minder schwere Komplikationen. Aufgrund der bestehenden Impfprogramme ist die Hospitalisierungsrate dagegen mittlerweile niedrig: nur 2,5 bis 7 von 100.000 Einwohnern müssen in Deutschland jährlich wegen Varizellen in ein Krankenhaus aufgenommen werden. Die häufigsten Komplikationen sind bakterielle Superinfektionen meist durch Staphylokokken, wie eine Lungenentzündung (bei Erwachsenen 0,2 bis 0,3 %), eine kleinhirnbedingte Koordinationsstörung (Ataxie) oder eine bakterielle körperweite Infektion (Sepsis) ausgehend von der Haut (bei Kindern 2–3/10.000). Weitere schwere Komplikationen sind das Reye-Syndrom, eine Enzephalitis oder Meningitis – also eine Entzündung des Gehirns oder der Hirnhäute – sowie eine Leberentzündung (Hepatitis) oder Gelenksbeschwerden. Eine weitere seltene Windpocken-bedingte Komplikation betrifft die Veränderung von Blutgefäßen (Angiopathie), welche zu Schlaganfällen führen können. In einer Schweizer Untersuchung wurde eine Sterblichkeit von 1 auf 100.000 Erkrankungsfälle bei nicht geimpften Personen gefunden. Windpocken in der Schwangerschaft Da nur etwa 3–4 % aller Frauen im gebärfähigen Alter keine Antikörper gegen Varizella-Zoster-Virus aufweisen und somit empfänglich für die Erkrankung sind, treten Windpocken in der Schwangerschaft mit etwa 1–7 Fällen je 10.000 Schwangerschaften insgesamt selten auf. Aufgrund der möglichen schwerwiegenden Folgen sowohl für die Schwangere als auch das ungeborene Kind verdienen sie eine besondere Betrachtung. Dagegen stellt eine Gürtelrose während der Schwangerschaft kein erhöhtes Risiko für Mutter oder Kind dar, da einerseits keine Streuung der Viren über das Blut erfolgt und die Mutter andererseits Antikörper gegen die Erreger produziert, die auf das Ungeborene übertragen werden und es vor einer Infektion schützen. Windpocken bei der Schwangeren Eine erfolgreiche Schwangerschaft erfordert Veränderungen des Abwehrsystems, damit es den genetisch von der Mutter verschiedenen Fetus toleriert. Obwohl nur wenig über diese Anpassungsvorgänge des Immunsystems bekannt ist, gilt es als anerkannte Tatsache, dass während einer Schwangerschaft sowohl eine erhöhte Infektanfälligkeit besteht als auch erschwerte Verläufe von Infektionskrankheiten beobachtet werden. Windpockenerkrankungen führen bei Schwangeren etwa zehnmal häufiger zu einer Lungenentzündung als Komplikation als bei Nichtschwangeren. Gleichzeitig steigt die Sterblichkeit an einer solchen Varizellen-Pneumonie auf das etwa Dreifache von etwa 11 auf 35 %. Fetales Varizellen-Syndrom Eine Übertragung der Windpockenerreger von der erkrankten Mutter auf das Kind kann über den Mutterkuchen (diaplazentar) während der gesamten Schwangerschaft erfolgen. Die Art der Schädigung hängt dabei vom Zeitpunkt ab und reicht von der symptomlosen Infektion bis zur Fehlgeburt. Da nur in etwa einem Viertel der Windpockenerkrankungen in einer Schwangerschaft mit einer Übertragung gerechnet werden muss und von diesen wiederum nur ein Bruchteil von einem fetalen Varizellen-Syndrom betroffen sind, wird eine Embryo- oder Fetopathie lediglich mit einer Häufigkeit von etwa 1–2 % aller Windpockenerkrankungen in der Schwangerschaft gefunden. Eine Übersichtsarbeit listet insgesamt 112 Fälle seit der Erstbeschreibung 1947 auf. Als häufigstes Symptom werden Hautdefekte, die sich einem sogenannten Dermatom zuordnen lassen, in etwa drei Vierteln der Fälle, gefolgt von Schädigungen des Nervensystems (Gewebsschwund von Gehirn oder Rückenmark, Lähmungen, Krampfanfälle und andere) in knapp zwei Dritteln der betroffenen Kinder beobachtet. Etwa jeweils jedes zweite Neugeborene weist darüber hinaus Augenerkrankungen oder Fehlbildungen des Skelettsystems auf. Schädigungen innerer Organe oder der Muskulatur kommen vergleichsweise seltener vor. 25–30 % der Kinder versterben. Fast 80 % aller fetalen Varizellen-Syndrome traten nach mütterlicher Erkrankung zwischen der neunten und zwanzigsten Schwangerschaftswoche auf, wobei schon ab der 5. und bis zur 24. Schwangerschaftswoche ein grundsätzliches Risiko für diese Komplikation besteht. Konnatale Varizellen Vom fetalen Varizellen-Syndrom abzugrenzen ist eine Windpocken-Erkrankung des Neugeborenen, die kurz vor der Entbindung noch im Mutterleib über den Mutterkuchen übertragen wurde und nach der Geburt bis zum zwölften Lebenstag zur Erkrankung führt. Gefährdet sind Kinder, deren Mutter fünf Tage vor bis zwei Tage nach Entbindung erkennbar an Windpocken erkranken. Außerhalb dieses Zeitraums hat die Mutter schon so viele schützende Antikörper produziert und dem Neugeborenen mitgegeben, dass dieses nicht so schwerwiegend erkrankt. Entsprechend dem riskanten Zeitraum der mütterlichen Infektion haben besonders diejenigen Neugeborenen ein hohes Risiko für einen schwerwiegenden Verlauf ihrer Windpocken-Erkrankung, bei denen der Ausschlag zwischen dem sechsten und elften Lebenstag auftritt. In dieser Gruppe beträgt die Sterblichkeit ohne antivirale Therapie fast ein Viertel. Gürtelrose als Zweiterkrankung Etwa 20 % der Menschen, die eine Infektion mit Windpockenviren durchgemacht haben, erkranken in ihrem weiteren Leben mindestens einmal an einer Gürtelrose (Herpes Zoster). Die Ursache bilden nach der Erkrankung im Körper verbliebene Varicella-Zoster-Viren, die entlang sensibler Nervenfasern in die Spinalganglien wandern und dort latent verbleiben. Bei einem geschwächten Immunsystem, auch bedingt durch Stress, können nun diese Viren reaktiviert werden und eine Gürtelrose im Verbreitungsgebiet der betroffenen Nerven verursachen. Patienten mit Gürtelrose können Windpocken auf Ungeschützte übertragen. Therapie Die Behandlung der Windpocken beschränkt sich meist auf symptomatische Maßnahmen. Dazu gehört die Linderung eines bestehenden Juckreizes, indem kühle und feuchte Kompressen aufgelegt oder adstringierende Emulsionen aufgetragen werden. Die Fingernägel des Kindes können geschnitten werden, um die Gefahr der Entwicklung einer bakteriellen Superinfektion zu minimieren. Ein bestehendes Fieber darf mit Paracetamol oder Ibuprofen behandelt werden. Acetylsalicylsäure ist wegen der möglichen Auslösung eines Reye-Syndroms bei Kindern kontraindiziert. Aciclovir oder Vidarabin können als virushemmende, ursächliche Therapie die Symptome bei Kindern, die älter als zwei Jahre sind, minimieren helfen, sofern sie innerhalb 24 Stunden eingenommen werden. Bei einer bestehenden Immunschwäche ist eines dieser Medikamente immer angezeigt. In Studien konnte eine gegenüber Aciclovir 100 fach erhöhte Wirksamkeit des Wirkstoffs Brivudin nachgewiesen werden, das daher in kleineren Dosen und nur einmal täglich gegeben werden kann. Vorbeugung Expositionsprophylaxe In der häuslichen Umgebung sind keine besonderen Maßnahmen für Patienten und Kontaktpersonen nötig. Lediglich Risikopersonen sollen den Kontakt zu Erkrankten meiden. Im Krankenhaus ist hingegen eine strenge Isolierung von Patienten mit Windpocken einzuhalten. Außerdem dürfen an Varizellen Erkrankte keine Tätigkeiten in Gemeinschaftseinrichtungen ausführen (§ 34 (1) Infektionsschutzgesetz), bei denen sie in Kontakt mit den betreuten Personen kommen. Postexpositionsprophylaxe Nach einer Ansteckung mit Windpocken kann eine vorbeugende Behandlung (Postexpositionsprophylaxe) mit einem Antikörper-Präparat, das einen besonders hohen Anteil an spezifischen Antikörpern gegen Varizella-Zoster-Virus enthält (sogenanntes Varizellen-Zoster-Immunglobulin), den Ausbruch der Erkrankung verhindern, wenn es innerhalb der ersten 96 Stunden verabreicht wird. Dies wird für Schwangere ohne Impfung und ohne Windpocken in der Vorgeschichte, abwehrgeschwächte Patienten mit fehlender oder unbekannter Varizellenimmunität und Neugeborene, deren Mütter fünf Tage vor bis zwei Tage nach Entbindung an Windpocken erkranken, empfohlen. Impfung Eine Impfung ist verfügbar und gehört seit Juli 2004 zu den von der STIKO (Ständige Impfkommission) empfohlenen Impfungen. Impfstoff Der Impfstoff besteht aus abgeschwächten Varizella-Zoster-Viren, die sich im Geimpften vermehren. Die Impfung kann ab einem Alter von neun bzw. zwölf Monaten (je nach Impfstoffhersteller) gegeben werden. Kinder vor dem 13. Geburtstag erhalten eine Injektion. Bei Kindern ab dem 13. Geburtstag, Erwachsenen und Säuglingen, die eine erste Impfung vor Vollendung des zwölften Lebensmonats erhalten haben, ist eine zweite Injektion im Mindestabstand von sechs Wochen notwendig. Bei normaler Immunkompetenz wird ca. drei bis fünf Wochen nach der letzten Injektion eine Immunität erworben. Eine zweifache Impfung erhöht den Impfschutz von 72 auf über 90 %. Seit August 2006 ist ein Vierfachimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen (MMRV) in Deutschland zugelassen und allgemein verfügbar. Das Präparat ist für Kinder zwischen 9 Monaten und 12 Jahren zugelassen und muss zweimal geimpft werden. Die STIKO am RKI empfiehlt seit September 2011 bei der ersten Impfung gegen Varizellen nicht den Vierfachimpfstoff zu verwenden, sondern die Impfung gegen Windpocken getrennt von jener gegen Masern, Mumps, Röteln (MMR) vorzunehmen, weil sich in Vergleichsstudien herausgestellt hat, dass bei der ersten Impfung mit MMRV-Kombinationsimpfstoff 5–12 Tage nach der Impfung vermehrt Fieber auftrat im Vergleich zu der gleichzeitigen Impfung von MMR und Windpocken-Impfstoff an zwei verschiedenen Impforten. Die zweite Impfung gegen MMRV kann dagegen mit einem Kombinationsimpfstoff erfolgen, hier ergaben sich keine Unterschiede bei der Fieberentwicklung. Indikationen zur Impfung Die Impfung ist in Deutschland für Kinder im Alter von 11 bis 14 Monaten, oder frühestens vier Wochen nach MMR-Impfung empfohlen. Personen, die noch keine Windpocken durchgemacht haben, sollen im Alter zwischen 9 und 17 Jahren geimpft werden. Für empfängliche Personen besteht darüber hinaus eine Impfempfehlung für Frauen mit Kinderwunsch, Patienten mit schwerer Neurodermitis, Patienten mit Leukämie, Patienten vor geplanter, die Funktion des Immunsystems unterdrückender (immunsuppressiver) Therapie oder Organtransplantation, Personen mit Kontakt zu den oben genannten Patienten, Medizinisches Personal (besonders in der Kinderheilkunde, Onkologie, Frauenheilkunde/Geburtshilfe und Intensivmedizin) und Neuangestellte in Gemeinschaftseinrichtungen für das Vorschulalter. In Österreich wird eine Varizellen-Impfung seit 2005 für alle ungeimpften 9- bis 17-Jährigen ohne Windpocken-Erkrankung in der Vorgeschichte angeraten. In der Schweiz ist die Varizella-Zoster-Impfung für alle 11- bis 15-Jährigen ohne Windpocken-Anamnese empfohlen. Eine Nachimpfung wird für alle jungen Erwachsenen unter 40 Jahren, insbesondere bei Frauen mit Kinderwunsch, empfohlen, wenn diese noch keine Windpocken durchgemacht haben. Gegenanzeigen zur Impfung Wer an einer akuten, behandlungsbedürftigen Krankheit mit Fieber (über 38,5 °C) leidet, sollte nicht geimpft werden. Im Allgemeinen werden auch Personen mit geschwächtem Immunsystem nicht gegen Windpocken geimpft, allerdings sind Ausnahmen unter Umständen möglich und notwendig. Während einer Schwangerschaft wird in der Regel keine Impfung vorgenommen, da das Impfvirus auf das Kind im Mutterleib übertragen werden könnte. Aus dem gleichen Grund ist für die Dauer von mindestens drei Monaten nach der Impfung eine Schwangerschaft zu vermeiden. Sollte jedoch zufällig eine Schwangere geimpft worden sein, zum Beispiel weil die Schwangerschaft noch nicht festgestellt wurde, besteht kein Anlass zu einem Schwangerschaftsabbruch, weil in solchen Fällen bislang keine Schäden des ungeborenen Kindes nachgewiesen worden sind. Geschichte Lange Zeit wurden die Windpocken als eine Sonderform der Pocken angesehen. Erstmals im 16. Jahrhundert wurden sie von verschiedenen Autoren unter dem Begriff Cristalli oder Verole volante (fliegende Blattern) (vgl. französisch petite vérole volante) von diesen abgegrenzt. Der Ausdruck Windpocken wird unter anderem Daniel Sennert 1632 zugesprochen. Erst der englische Arzt William Heberden grenzte die Windpocken (englisch chickenpox) wieder klar von den Pocken ab, obwohl dies ein Streitpunkt unter Gelehrten bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an stellten Eduard Heinrich Henoch und Antoine Marfan die Gefahren der Erkrankung genauer dar. Der Hamburger Hautarzt Paul Gerson Unna beschrieb die feingeweblichen (histologischen) Veränderungen der pockenartigen Elemente 1894 exakt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde allmählich der Zusammenhang zwischen den Windpocken und der Gürtelrose erkannt und schließlich 1925 am Menschenexperiment nachgewiesen. Von 1952 an wurde Serum von Rekonvaleszenten zur Behandlung schwerer Verläufe eingesetzt noch bevor sich 1956 die Erkenntnis durchsetzte, dass insbesondere abwehrgeschwächte Menschen durch die Erkrankung gefährdet sind. 1947 gelang der elektronenmikroskopische Nachweis des verursachenden Virus. Meldepflicht und gesetzliche Verbote In Deutschland sind Windpocken (früher: „Varizellen“) seit dem 23. März 2013 eine meldepflichtige Krankheit nach Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Die namentliche Meldepflicht besteht bei Verdacht, Erkrankung und Tod. In Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Heimen oder Ferienlagern gilt nach Absatz 1 IfSG das Verbot des Aufenthaltes und Arbeitens bei Verdacht auf und Erkrankung an Windpocken. Das Verbot in Gemeinschaftseinrichtungen zu arbeiten oder sich aufzuhalten gilt nach § 34 Absatz 3 IfSG sinngemäß auch für Personen in Wohngemeinschaft mit Personen, bei denen laut eines ärztlichen Urteils eine Erkrankung an oder ein Verdacht auf Windpocken besteht. Weblinks Bilder von Windpocken auf dermis.net Ist eine Elimination der Varizellen durch eine allgemeine Impfung möglich? Epidemiologische und gesundheitsökonomische Daten als Basis für eine zukünftige Varizellenimpfstrategie in Deutschland In: Deutsches Ärzteblatt, 2002 Ist eine Elimination der Varizellen durch eine allgemeine Impfung möglich? Realitätsfern In: Deutsches Ärzteblatt, 2002 Starker Rückgang der Windpocken durch Impfung In: Deutsches Ärzteblatt, 2013 Einzelnachweise Virale Infektionskrankheit des Menschen Krankheitsbild in der Kinderheilkunde Meldepflichtige Krankheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasserschutz%20in%20Dresden
Hochwasserschutz in Dresden
Dresden liegt an der Elbe und an mehreren Gewässern, die im Osterzgebirge entspringen. Auf Grund der Nähe Dresdens zu den Gebirgen, in denen viel Wasser abregnen oder in großen Mengen als Schnee gespeichert werden kann, spielt Hochwasserschutz in Dresden historisch und gegenwärtig eine bedeutende Rolle. Als deutliche Schutzmaßnahmen in der Stadtentwicklung wurden entlang der Elbe mit den Elbwiesen ufernahe Bereiche von Bebauung freigelassen, Aufschüttungen entfernt und zwei Flutrinnen angelegt. Sowohl die historische Innenstadt als auch zahlreiche historische Dorfkerne entlang der Elbe liegen erhöht und bleiben deshalb vor den meisten Hochwassern bewahrt. Insbesondere durch das Elbhochwasser 2002 entstanden in Dresden jedoch große Schäden. Nach Jahrzehnten ohne starkes Hochwasser wurde dadurch das allgemeine Bewusstsein für die Gefährdung der Stadt wieder geweckt. Lage und Flussläufe Elbe Dresden liegt im Dresdner Elbtalkessel, einem teilweise verengten Durchbruchstal, größtenteils weitläufig ebenen Grabenbruch. Flussaufwärts verlässt die Elbe durch das enge und steile Tal im Elbsandsteingebirge ihr tschechisches Einzugsgebiet. Dort entwässert sie über Nebenflüsse wie Moldau, Orlice (Adler/Orlitz), Jizera (Iser) und Eger das Riesengebirge, das Böhmische Mittelgebirge und das Erzgebirge sowie den Böhmerwald und den Bayerischen Wald. Flussabwärts von Dresden befinden sich der Durchbruch durch das Spaargebirge und die Meißner Weinberge. Erst dahinter beginnt der flache und langsame Mittellauf der Elbe. Die Elbe durchfließt die Stadt in mehreren seichten, aber auch engen Kurven (Mäandern), die nach Westen hin enger werden. Kurz vor dem Stadtzentrum liegt eine auf etwa 4 km langgezogene, von Nordwest- nach Südwest-Richtung biegende Kurve, an deren Beginn der Flusslauf bis auf wenige Meter an den nördlichen Elbhang heranrückt. In der Innenstadt biegt die Elbe nach Nordwesten, um sich dann am so genannten Pieschener Winkel erneut stark nach Süden zu wenden. Später verlässt sie nach zwei weiteren starken Kurven die Stadt in nordwestlicher Richtung. Die gesamte Flusslänge in Dresden beträgt etwa 30 Kilometer. Der Elbtalkessel bot in der Stadtentwicklung Dresdens um den Fluss ausreichend Platz. Für eine teilweise Umflutung (vergleiche Elbe-Umflutkanal bei Magdeburg) der Innenstadt reichte zum einen der Raum nicht aus, zum anderen war der Anstieg im Hinterland der Uferbereiche zu stark. Weißeritz Die Weißeritz ist ein Abfluss des Osterzgebirges und entsteht unweit von Dresden durch den Zusammenfluss von Wilder Weißeritz und Roter Weißeritz in Freital. Die Gesamtlänge der (vereinigten) Weißeritz liegt damit bei 12 Kilometern. Beide Zuflüsse haben etwa gleich große Einzugsgebiete, die sich auf 323,9 km² summieren. Sie entspringen in 823 m bzw. 787 m Höhe etwa 30 Kilometer Luftlinie südöstlich von Dresden. Längster Zufluss der Weißeritz ist die Wilde Weißeritz mit 49 Kilometern Länge. Die (vereinigte) Weißeritz mündete ursprünglich unweit der Dresdner Innenstadt in die Elbe und trennte die westliche Vorstadt Friedrichstadt vom Stadtkern. Sie wurde 1893, beginnend im Stadtteil Plauen und durch Cotta verlaufend, nach Westen verlegt. Die Verlegung erfolgte eigentlich aus Gründen des Hochwasserschutzes, da der neue Verlauf in einer Flutmulde des Flusses liegt. Durch den Bau von Bahnanlagen auf dem ehemaligen Flussbett wurde die Verlegung nicht rückführbar. Weitere Gewässer Ebenfalls im Erzgebirge entspringt der Lockwitzbach, der ein 80 km² großes Gebiet entwässert und dessen Quelle in etwa 500 Metern Höhe liegt. Er mündet zwischen Kleinzschachwitz und Laubegast in die Elbe. Aus mittleren Lagen des Erzgebirges entstammen der Geber- und der Kaitzbach, die im Dresdner Stadtgebiet weitestgehend unterirdisch verlaufen. Die Prießnitz mündet von Norden her in die Elbe und entwässert die flachere Lage des Westlausitzer Hügel- und Berglands im Nordosten der Stadt. Hochwassergefahr Dresden ist aus zwei Richtungen hochwassergefährdet. Zum einen bedrohen starke Hochwasser der Elbe tief liegende Stadtteile, zum anderen können die Nebengewässer der Gewässerklasse I (nach Sächsischer Gewässerordnung), also vor allem die Weißeritz und der Lockwitzbach, auch höher liegende Stadtteile überschwemmen. Daneben kann örtlich Gefahr durch weitere Nebengewässer der Gewässerklasse II entstehen. Schäden an Bauwerken entstehen nicht nur durch Überschwemmung, sondern auch durch hochwasserbegleitende Erscheinungen wie Erhöhung und Verlagerung von Grundwasser. Hochwasser der Elbe lösen dabei sehr langanhaltende Veränderungen im Grundwasser aus. Elbe Hochwasser Die Elbe hat in Dresden einen mittleren Wasserstand von 200 cm. Die Hochwasseralarmstufen wurden ab Pegeln von 400 (bis Juli 2012: 350), 500, 600 und 700 cm festgelegt. Dieser Wasserstand wird an der Augustusbrücke gemessen. Der Durchfluss beträgt in Dresden bei 200 cm Pegel etwa 350 m³ pro Sekunde. Wasserstände zwischen vier und fünf Metern sind für die Stadt fast folgenlos. Übersteigt die Elbe fünf Meter, werden elbnahe Straßen und Wege von der Elbe überschwemmt und müssen gesperrt werden. In der Dresdner Innenstadt ist dies das Terrassenufer, an dem sich die Liegeplätze der Weißen Flotte befinden. Zwischen sechs und sieben Metern entsteht durch Grundwassererhöhung eine Gefährdung von elbnahen Gebieten. In der Regel beginnt bei solchen Höhen der Objektschutz an einzelnen Bauwerken. Wasserpegel oberhalb von sieben Metern gefährden dann erste Stadtteile wie Gohlis im Westen der Stadt sowie Laubegast und Pillnitz im Osten. Der 3200 Meter lange Deich von Niederwartha, am Dorfkern Gohlis vorbei bis Stetzsch, ist bis zu einer Wasserhöhe von etwa 7,40 m (Pegel Dresden) ausgelegt, da das Gebiet ab dieser Höhe als Überflutungspolder dient. Oberhalb von acht Metern verschärft sich die Lage in weiten Teilen der Stadt sprunghaft, weil die Elbe dann alte Elbarme nicht nur füllt, sondern vollständig durchfließt, und der Flutraum an vielen Stellen nicht mehr ausreicht. Der alte Elbarm im Dresdner Südosten umschließt die Stadtteile Laubegast und Kleinzschachwitz und reicht an die höheren Stadtteile Leuben, Dobritz und Seidnitz heran. Die Elbe füllt dann auch die Mündungen der Nebengewässer aus. Die Mündung des Lockwitzbachs verschiebt sich in diesem Fall um einige Kilometer an den südlichen Rand des Elbarms zwischen Niedersedlitz und Kleinzschachwitz. Westlich der Innenstadt durchfließt die Elbe dann mit den beiden Flutrinnen zwei fast parallele Verläufe, die durch den Hauptstrom auf halber Strecke verbunden werden. Die Flutrinnen entlasten durch die Fliehkraft des fließenden Wassers vor allem die enge Kurve bei Pieschen (Pieschener Winkel), an der es sonst zu massiven Ausuferungen kommen würde. Das Hochwasser im Jahr 2002 hatte einen maximalen Stand von 9,40 Metern und einen Durchfluss von mehr als 4.500 m³ pro Sekunde. Der extreme Wasserstand über neun Meter gefährdete auch Semperoper und Frauenkirche. Die Elbe überschwemmte dabei eine Fläche von etwa 24,8 km² im Stadtgebiet. Häufigkeit und Entstehung Die Elbe ist ein Fließgewässer des Regen-Schnee-Typs. Allgemein entstehen die Wassermassen, die Dresden passieren, an den Läufen der Elbe oder Moldau in Tschechien und in geringen Maßen in Deutschland. Hochwasser zwischen vier und fünf Metern sind in Dresden vor allem nach der Schneeschmelze sehr häufig. Insbesondere durch beschleunigtes Tauwetter (starker Temperatursprung und Regen – deshalb Regen-Schnee-Typ) nehmen diese dann bis sieben Metern in ihrer Häufigkeit stark ab. Das starke Tauwetterhochwasser im Frühjahr 2006 war das erste Frühjahrshochwasser seit 52 Jahren, das die Sieben-Meter-Marke in Dresden überspringen konnte. Das stärkste Winterhochwasser trat ebenfalls im März im Jahr 1845 auf. Problematisch wirken sich die Mittelgebirge im Osten Deutschlands und vor allem auf tschechischem Gebiet aus, die auf Grund der kontinentalen Lage sehr intensive Winter mit dauerhaftem Frost und Schneefall erleben können. Bei spätem Wechsel der Großwetterlage kann es dann, meist Mitte bis Ende März, zum starken Abschmelzen des Schnees in den Gebirgen kommen. Die Stärke eines Hochwassers bei Tauwetter hängt nicht nur von Wettereinflüssen ab, sondern auch von der Beschaffenheit des abgelagerten Schnees. Ist dieser zum Beispiel durch ein vorhergehendes Tauwetter mit Wasser gesättigt, aber wieder eingefroren, kann es zu einem wesentlich schnelleren Abschmelzen bei stärkerem Regen kommen. Sommerhochwasser nach Starkregenfällen sind an der Elbe sehr selten. Auch die Strömungsrichtung von feuchten Luftmassen spielt eine wichtige Rolle, da nicht alle Mittelgebirge die gleiche Kammausrichtung haben, an der sie abregnen. Hochwasserauslösend sind insbesondere von Süden einziehende Vb-Wetterlagen, die starken Steigungsregen im Erzgebirge, Böhmischen Mittelgebirge und Riesengebirge verursachen. Das Hochwasser 2002 wird mit einem Wiederkehrintervall als derartiges Ereignis mit 100 bis 200 Jahren für Dresden angegeben. Hochwasser wie das im August 2002 oder im Juni 2013 entstehen nicht allein durch starke Regenfälle, sondern erst durch eine bestimmte Reihenfolge des Abtauens bzw. Abregnens in Tschechien, da die Entstehungsgebiete im Einzugsbereich weit auseinander liegen und Flutwellen der Eger, der Elbe und der Moldau sich überlagern müssen. Umstritten sind auch die Auswirkungen der in Tschechien unweit der deutschen Grenze geplanten Staustufe Děčín. Registrierte Hochfluten In Dresden werden zumindest extreme Flutereignisse seit Jahrhunderten registriert. Im Folgenden sind die Fluten im meteorologischen Sommerjahresviertel fett dargestellt. Pegelstände hängen wesentlich vom Abfluss ab. Verändert wird dieser Zusammenhang durch die Strömungsgeschwindigkeit und durch das Durchflussprofil. Grundwasser Dresden liegt zu großen Teilen im Elbtalkessel, der als kurzer Grabenbruch im tektonischen Zusammenhang mit der Erzgebirgsanhebung entstand. Geprägt ist der Elbtalkessel von den grundwasserstauenden Gesteinsschichten aus Ton, Sandstein und Pläner (geschichtetes Kalk-Sand-Ton-Gestein). Darüber lagerte die Elbe Schotter- und teilweise Sandschichten ab. Ufernah folgen die Grundwasserstände in Dresden zeitnah den Hochfluten der Elbe. Am Dresdner Schloss treten die Spitzenstände im Grundwasser etwa zwei bis drei Tage nach Durchlaufen eines Hochwasserscheitels auf. An Stellen, die nicht von Infiltration oder Absickerung des Hochwassers betroffen sind, zeigt sich ein weniger starker Sprung der Grundwassertiefe und eine längere zeitliche Verzögerung. Nach dem Hochwasser 2002 blieben die Grundwasserstände in Dresden verbreitet (und im Gegensatz zur Elbe) dauerhaft über dem Mittelwasser. Im Jahr 2002 wirkten zudem die örtlich vorhergegangenen Überflutungen und Niederschläge auf den Zustand des Grundwassers während des Elbhochwassers ein. Dort, wo Weißeritz und Lockwitzbach wenige Tage vorher für zusätzliche Versickerung durch Überschwemmung sorgten, konnte der Anstieg des Grundwassers kaum gedämpft werden. Auch die Niederschläge beeinflussen das Dämpfungsverhalten des Grundwassers. So wirken Frühjahrshochwasser weniger stark auf das Grundwasser ein, da erfahrungsgemäß in Dresden erheblich kleinere Wassermassen abtauen als in den Gebirgslagen und das Verhalten des Grundwassers beeinflussen. Das Hochwasser im August 2002 löste an Orten, die weiter entfernt von der Elbe, aber noch in der Sohle des Elbtalkessels liegen, einen kontinuierlichen Grundwasseranstieg aus, der noch im März des Folgejahres nicht abgeschlossen war. Weißeritz Gefährdung Die Weißeritz gefährdet neben den ursprünglichen und neuen Mündungsbereichen auch andere Stadtteile, in denen das so nicht zu erwarten war. 2002 verließ sie ihr Bett in Löbtau an der Stelle, wo sie aus ihrem ursprünglichen Verlauf abzweigt. Dies geschah bei einem maximalen Durchfluss von 450 m³ pro Sekunde, etwa am Eintritt in das Stadtgebiet gemessen, was einer höheren Durchflussmenge entspricht, als bei Normalstand die Elbe in Dresden durchfließt. Die Weißeritz lief dabei zum einen nach Norden und überschwemmte die Friedrichstadt und die Wilsdruffer Vorstadt. In östlicher Richtung füllte sie die Seevorstadt bis zum Großen Garten und dabei vor allem den Hauptbahnhof. Aus diesem Gebiet, in dem ursprünglich mehrere Seen lagen, gab es aber keinen Abfluss in Richtung Elbe. Der ursprüngliche Grat innerhalb des Elbtalkessels, der das Tal der Weißeritz vom Tal des Kaitzbachs trennte, wurde durch den Bau der Eisenbahnstrecke in das Weißeritztal durchbrochen. Die Weißeritz überschwemmte 2002 eine Fläche von 5,67 km² in Dresden. In Dresden werden für die Weißeritz nur in der Nähe ihrer Mündung Pegel gemessen, was eher zu Beurteilung ihrer Mengeneinspeisung in die Elbe dient. Lässt sich die Weißeritz in ihrem festgelegten Flussverlauf halten, sind Hochwasser für die Stadt eher folgenlos. Weißeritzhochwasser verlaufen schnell und sind schwerer zu prognostizieren als die der Elbe. Häufigkeit und Entstehung Hochwasser der Weißeritz können wie 2002 durch Starkregen oder durch starkes Tauwetter im Osterzgebirge entstehen. In den letzten Jahren wurden in den oberen Tälern mehrfach Schneehöhen über 1,50 Meter verzeichnet. Unter der Bedingung von Dauerregen und warmen Luftmassen kann eine Gefährdung durch schnelles Abtauen entstehen. Auslöser für das Hochwasser 2002 waren Starkniederschläge von teilweise mehr als 300 Liter pro Quadratmeter in 24 Stunden im Einzugsbereich der beiden Flüsse. Ein mit dem Sommerhochwasser 2002 vergleichbares Ereignis trat um einiges schwächer 1897, das letzte Hochwasser an der Weißeritz 1958 auf. Das Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie schätzt das Wiederkehrintervall für derartige Ereignisse auf 500 Jahre. Auch hier wird gegenwärtig untersucht, ob sich solche Ereignisse häufen. Die Häufigkeit der meteorologischen Ausgangssituation des heftigen Dauerregens wurde auf weniger als einmal in 100 Jahren geschätzt. Die Vb-Wetterlage verursachte in den letzten Jahren das Oderhochwasser 1997 und löste 2005 auch das Hochwasser in den nördlichen Vor- und Zentralalpen aus. Allerdings werden so extreme Niederschläge (312 mm in 24 Stunden in Zinnwald-Georgenfeld) wie 2002 im Osterzgebirge nach wie vor als selten angesehen. Die Weißeritz kann in Dresden ohne Ausuferung im Allgemeinen 220 bis 420 m³ pro Sekunde Wasser abführen. Dort wird mit einem Ausufern infolge von Hochwasser alle 20 bis 50 Jahre gerechnet. An Engstellen beträgt die Kapazität im Flussbett allerdings nur 75 m³ pro Sekunde und ist damit erheblich kleiner. Weitere Gewässer Der Lockwitzbach im Südosten Dresdens überschwemmte 2002 Lockwitz und Teile von Niedersedlitz, Kleinzschachwitz, Leuben und Laubegast. Er flutete dabei ein System aus Entlastungsgräben und Teile eines Elbarms und hatte dabei am Zugang zum Dresdner Stadtgebiet einen Durchfluss von mehr als 45 m³ pro Sekunde. Derartige Ereignisse haben eine Häufung von etwa 200 Jahren; 1958 und 1995 entstanden zuletzt schwächere Hochwasser. Das Flussbett des Lockwitzbachs in Dresden fasst 25 bis 40, an Engstellen auch nur 15 m³ pro Sekunde. Geschätzt wird deshalb, dass im Mittel alle 20 bis 50 Jahre eine Ausuferung stattfindet. Der Lockwitzbach überschwemmte durch den Niedersedlitzer Flutgraben und weitere Entlastungsgräben feingegliedert eine Fläche von 2,313 km² in Dresden. Auch die Prießnitz gefährdet Dresden am Rand der Äußeren Neustadt. Kleinere Bäche wie der im Dresdner Westen fließende Weidigtbach, der zu DDR-Zeiten stark verbaut war, sind inzwischen wieder an vielen Stellen offengelegt oder gar naturnah gestaltet sowie um kleinere Rückhaltebecken ergänzt worden, um bei Starkregen und Hochwasser ein größeres Volumen aufnehmen zu können. Gefährdung der Infrastruktur Wichtige Bestandteile der Dresdner Infrastruktur liegen nicht im historischen, höher gelegenen Kern der Stadt, sondern in den vorgelagerten Vorstädten, die heute weitestgehend auch zur Innenstadt gehören. Vor allem Eisenbahnanlagen und Verkehrsknotenpunkte des ÖPNV befinden sich halbkreisförmig in der Seevorstadt, Wilsdruffer Vorstadt und in der Friedrichstadt. All diese Stadtteile sind durch Hochwasser der Weißeritz bedroht, aber eben auch die tragenden Elemente in der Infrastruktur. Im Jahr 2002 brach dadurch schon in den ersten 24 Stunden der Hochwasserkatastrophe der Straßenbahn-, Eisenbahn- und Straßenverkehr in der südlichen Altstadt zusammen. Besonders betroffene Punkte und Verkehrsknoten sind der Postplatz, die Könneritzstraße am Bahnhof Dresden Mitte und der Wiener Platz/Hauptbahnhof. Verkehrsknoten, die dann zentrale Aufgaben übernehmen können, sind der Pirnaische Platz und der Bahnhof Dresden-Neustadt. Besonders betroffen waren auch die Krankenhäuser der Stadt, die teilweise evakuiert werden mussten, wie zum Beispiel in der Friedrichstadt. In Dresden wurden an zahlreichen Stellen nicht Parkhäuser, sondern Tiefgaragen gebaut, die bei Überschwemmung komplett mit Wasser volllaufen. Am Wiener Platz befindet sich auch ein Straßentunnel, der 2002 zusammen mit der anschließenden Tiefgarage am Hauptbahnhof überflutet wurde. Durch Elbhochwasser wird die Infrastruktur insbesondere bei Sperrung von Brücken belastet. Abgesehen von Sperrungen des Terrassenufers sowie zwischen Blasewitz und Laubegast sind schwächere Hochwasser für das Straßen- und Straßenbahnnetz eher folgenlos. Infolge von starken Elbhochwassern entstehen aber durch Grundwasser Schäden am Unterbau von Straßen. Gefährdung von Wohngebieten Entlang der Elbe liegen viele Stadtteile mit unterschiedlichen Strukturen und Bevölkerungsdichten (Siehe dazu: Karte oben). Die Stadtteile weiter oben am Flusslauf sind mit 300 bis 4.500 Einwohnern pro Quadratkilometer bevölkert. In Innenstadtnähe steigt die Dichte auf bis zu 8.600 Einwohner pro Quadratkilometer an. In allen direkt an der Elbe liegenden Stadtteilen leben insgesamt etwa 155.000 Menschen. Vor allem im Südosten liegen die Stadtteile Zschieren (linkselbisch), Kleinzschachwitz (l), Pillnitz (rechtselbisch), Wachwitz (r), Laubegast (l) und Tolkewitz (l) mit dörflichem Ursprung und auch gegenwärtig noch lockerer Bebauung und Besiedlung. Die historischen Dorfkerne dieser Stadtteile liegen fast durchweg so hoch, dass sie auch beim Hochwasser 2002 nicht überschwemmt wurden. Gefährdung tritt insbesondere bei den südlichen Stadtteilen durch Umschließung auf, was die Versorgung mit Trinkwasser, Strom und Lebensmitteln erschwert und teilweise unmöglich macht. In der Regel kommt es deshalb beim Durchfluten des einschließenden Elbarms zur Evakuierung dieser Viertel. Später bebaute Gebiete in Laubegast und Kleinzschachwitz, die beide zu den besten Wohngegenden der Stadt gehören, liegen heute auch deutlich tiefer, teilweise direkt an den flach verlandeten Altarmen der Elbe. Sie werden so durch Grund- und Oberflächenwasser bedroht. Insbesondere nordwestliche Teile von Laubegast sind als Überschwemmungsgebiet gekennzeichnet. Durch den alten Elbarm werden auch Teile von Gruna im Falle eines 100-jährlichen Hochwassers überschwemmt. Weiter der Innenstadt zugewandt liegen die Stadtteile Blasewitz, Striesen, Johannstadt und Pirnaische Vorstadt, teilweise ebenfalls unmittelbar am linken Ufer der Elbe. Selbst bei starken Hochwassern kommt es in diesen Stadtteilen nur an sehr wenigen Stellen zu Überflutungen (zum Beispiel in Blasewitz), allerdings entsteht dann verbreitet Schaden durch hohes Grundwasser. Unterhalb der Dresdner Innenstadt ist insbesondere Pieschen (rechtselbisch) durch Hochwasser gefährdet, weil dort an einer starken Kurve der Elbe starke Hochwasser nicht durch feste Deichanlagen abgewehrt werden können. Im Falle eines 100-jährlichen Hochwassers wird an dieser Stelle davon ausgegangen, dass bei Ausuferung der Elbe weite Teile von Pieschen, Trachenberge und Mickten überflutet werden könnten. Kurz vor dem Verlassen des Dresdner Stadtgebiets passiert die Elbe noch den Ortsteil Gohlis, der zur Ortschaft Cossebaude gehört. Gohlis wird als eines der ersten Gebiete an der Elbe in Deutschland durch einen Deich (hier ein Teildeich zur kontrollierten Flutung eines Polders) geschützt. Dieser ist für Wasserhöhen bis etwa 7,40 Metern Elbpegel ausgelegt und hielt sogar 2006 dem 7,49 Meter hohen Hochwasser stand. Eine ausführliche Hintergrundbeschreibung zum Schutzcharakter befindet sich im Kapitel zur Geschichte des Hochwasserschutzes. Durch ihre Nebenflüsse entsteht (wie für die Infrastruktur auch) eine in vieler Hinsicht größere Gefahr für Wohngebiete als durch die Elbe selbst. Die Flüsse sind bei Hochwasser und Überflutung reißend und führen jede Menge Material und Geröll mit sich. Die Weißeritz erreicht das Dresdner Stadtgebiet bei 159 Metern über NN und fällt dann noch um etwa 55 Meter bis zur Mündung in die Elbe. Daraus resultierend überschwemmt sie die ufernahen Bereiche der Stadtteile Coschütz und Plauen mit hohen Fließgeschwindigkeiten. In der Gegenwart ist es in solchen Situationen nur noch mit Hubschraubern möglich, vor allem im engen Plauenschen Grund Menschen aus ihren Häusern zu evakuieren. Teilweise kam es dort zur totalen Zerstörung von Bauwerken. Im Jahr 2002 forderten die Hochwasser der Nebengewässer auch in Dresden Menschenleben. Der Fokus der Verbesserung des Hochwasserschutzes liegt in diesem Bereich vor allem auf der Verlängerung der Vorwarnzeiten. Die Überschwemmungen in der Friedrichstadt und Wilsdruffer Vorstadt im Westen der Innenstadt durch die Weißeritz unterscheiden sich im Fließverhalten kaum von Überschwemmungen durch die Elbe. Aber auch in diesen Stadtteilen reichte die Fließgeschwindigkeit noch aus, besonders an langen Straßenzügen ohne große Fließwiderstände, um Straßen und Gleisanlagen zu unterspülen. Geschichte des Hochwasserschutzes Bis zurück ins Jahr 1216, dem Jahr der ersten Erwähnung Dresdens als Stadt in einer Urkunde, sind Aufzeichnungen zu Elbhochwassern vorhanden. In Dresden wurden Dorfkerne an der Elbe bis auf wenige Ausnahmen entweder künstlich erhöht oder nur in höheren Lagen auf Umlaufbergen und Hängen angelegt. Als wichtiges Ereignis für den Hochwasserschutz in Dresden kann das Elbhochwasser im März 1845 betrachtet werden. Es betraf Dresden wie zahlreiche andere Städte an der Elbe verheerend, vor allem, weil es ein Frühjahrshochwasser mit Eisgang war. Dieses Hochwasser lieferte Erkenntnisse über das Abflussverhalten und über die Flächen, die von Hochfluten getroffen werden. Erstmals wurde ein solches Hochwasser kartografisch erfasst. Wenige Jahre später begann in Dresden das Stadtwachstum der Gründerzeit. Die in diesen Jahren getroffenen Entscheidungen zur Stadtentwicklung gelten als die prägenden Weichenstellungen bis in die Gegenwart. 1865 wurde die Breite der Elbe und ihrer Uferbereiche in Dresden festgelegt. Damit einhergehend wurde der Fluss vertieft, um auch so die Durchflusskapazität zu erhöhen und die Schiffbarkeit zu verbessern. Die Festlegung der Elbwiesen ging teilweise mit der Rücksetzung von Bauland und Bebauung einher und wurde unter zwei wichtigen Gesichtspunkten betrieben: Zum einen sollte die Wahrung der Sichtbeziehung zwischen Brühlscher Terrasse und Elbschlössern nebst dem Waldschlösschen den kulturellen Wert erhalten, auf der anderen Seite sollte ein Hochwasser wie 1845 die Stadt möglichst schadlos passieren. Für die Elbwiesen oberhalb der Mündung der Prießnitz wurde Baufreiheit festgelegt. 1869 legte das Sächsische Finanzministerium die zur Bebauung geeigneten Flächen fest. Zwischen Blasewitz und Innenstadt entstand die hochwasserfreie Uferstraße – das Käthe-Kollwitz-Ufer – als Bebauungsrahmen. In den 1870er Jahren wuchsen dann die Vorstädte und Vororte enorm, allen voran die Johannstadt. Diese bestand zur Jahrhundertwende aus geschlossener Bebauung. Blasewitz ging als Vorort mit wohlhabender Bevölkerung in Einzelbebauung auf. Die Nähe zur Elbe stand nicht mehr für weniger wertes und gefährdetes Bauland wie noch in den Dörfern, sondern für besonders teuren Boden und als Garant für Blickbeziehungen. Besonders der Bau der drei Elbschlösser am nördlichen Elbhang in der Mitte des 19. Jahrhunderts begünstigte die Bewertung der Bauflächen am gegenüberliegenden Ufer in Blasewitz und Striesen. Die Bebauung hätte ohne Regulierung der Bauflächen aller Voraussicht nach die Elbe kanalisiert. Nach einem erneuten Hochwasser 1890 wurden die Flutrinnen als Flutentlaster unterhalb der Innenstadt angelegt. Während die Flutrinne durch das Ostragehege ein unbebautes Gebiet betraf, das zudem als sehr hochwasseranfällig galt, entbrannte um die Flutrinnen zwischen Mickten und Kaditz ein längerer Streit mit den Grundbesitzern. Die Flutrinne im Ostragehege konnte 1904 zusammen mit dem Schlachthof und dem Alberthafen angelegt werden. Unmittelbar an der Marienbrücke beginnend, führt sie zu einer Entlastung der Elbe und verhindert durch die Verlangsamung in den folgenden Kurven deren Aufstauung in der Innenstadt. Im Herbst 1918 begann der Bau der Kaditzer Flutrinne, dem Enteignungsprozesse vorhergingen. Im Jahr 1904 wurde begonnen, die alte Augustusbrücke zu erneuern. Die neue Brücke war breiter und somit für den Straßenverkehr besser geeignet und erleichterte aufgrund ihrer weiteren Bögen den Schiffsverkehr. Damit einher ging auch eine Reduzierung der Staufläche und des Risikos von Eisverkeilung. Das Poldersystem um Gohlis und Stetzsch im Dresdner Westen entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts. Gohlis ist eines der Dörfer, das niedrig liegt, so dass es 1845 überflutet wurde. Beim Ausbau der Deiche im Dresdner Westen lehnte Gohlis selbst einen Deich ab, der es vor einem hundertjährlichen Hochwasser schützen konnte. Die regulierte Flutung bebauter Gebiete durch die Polder bei Hochfluten wurde gegenüber dem Risiko eines zerstörerischen Deichbruchs bevorzugt. Die Fläche ist weiterhin ein wichtiger Entlastungsraum für Radebeul auf der gegenüberliegenden Elbseite. Das Frühjahrshochwasser im Jahr 2006 zeigte, dass die Polder einem dauerhaften Wasserstand bis etwa 7,40 Meter am Pegel Dresden standhalten können. Bei Überschreitung dieser Höhe beginnt die Flutung der Gohliser Flur. Weiterhin soll der Teildeich Gohlis vor der Bedrohung durch Treibeis bei den häufigen Winterhochwassern schützen, da die Eisschollen in starken Strömungen enorme Schäden an Häusern verursachen. Auch bei Überflutung soll der Deich die Hauptströmung des Flusses an den bebauten Gebieten vorbeiführen. Die alten Elbarme im Dresdner Osten und auf den Flächen von Heidenau und Pirna wurden nicht eingedeicht. Diese Flächen stellen, wie sich zeigte, einen wichtigen Retentionsraum für die Dresdner Innenstadt dar, da sie die ersten Flächen nach Passage der Durchbruchstäler sind, in denen sich Hochwasserscheitel abstumpfen können. Hochwasserschutz Fluträume Dresden besitzt für die Elbe großflächigen Flutraum. Die Elbwiesen verlaufen durch die gesamte Stadt und boten an einigen Stellen selbst 2002 Wohngebieten Schutz, die sich in unmittelbarer Elbnähe befinden (zum Beispiel Striesen, Johannstadt und Blasewitz). Diese Wiesenlandschaft wird durch Haine und Hecken unterbrochen und ist zwischen wenigen Metern am Elbhang und einigen hundert Metern breit. Teilweise, wie etwa bei Laubegast, reichen auch außerhalb der Innenstadt Bauwerke bis ans Ufer. Zusätzlich zu den Elbwiesen gibt es zwei Flutmulden (in Dresden Flutrinnen genannt), die links- und rechtselbisch Mäander durchbrechen, also den Fluss im Hochwasserfall auch begradigen. Die linkselbische Flutrinne entstand innerhalb der Auenlandschaft des Ostrageheges im Zusammenhang mit dem Bau des Alberthafens. Diese Flutrinne umspült einen aufgeschütteten Umlaufberg, auf welchem sich der nach Plänen von Hans Erlwein errichtete neue Vieh- und Schlachthof befindet. Schon bei der Anlage des Schlachthofs wurde die Schlachthofbrücke über die Flutrinne errichtet. Inzwischen ist auf diesem Hügel auch die Messe angesiedelt. Die Flutrinne war lange Zeit allerdings nicht baufrei, da es auf Grund der dort gelegenen Eissporthalle ein Durchflusshindernis gab. Im Zuge eines Ersatzneubaus nach dem Hochwasser von 2002 wurde die Halle abgerissen, wodurch ein besseres Abflussverhalten an der Engstelle zwischen Altstadt und Neustadt erreicht wurde. Sie soll ab einem Elbpegel von 6,20 Metern an der Augustusbrücke durchflossen werden. Die rechtselbische Flutrinne zwischen Mickten und Kaditz, etwa vier Kilometer westlich der Innenstadt, wurde zwischen 1918 und 1922 angelegt. An dieser Stelle befand sich dabei schon ein erodierender Altarm der Elbe, der bei Hochwassern entstand (vergleiche Mäandererosion). Die Flutrinne führt dazu, dass sich bei Hochwasser der Stadtteil Übigau als eine Insel darstellt. Im Vergleich zur ersten ist diese Flutrinne tiefer, aber auch schmaler. Sie soll etwa ab einem Elbpegel von 5,50 Metern an der Augustusbrücke durchflossen werden. Im Südosten dient auch ein alter Elbarm als Flutraum. Dieser wurde aber in den letzten Jahren nicht frei von Gebäuden gehalten und wird auch nur bei sehr hohen Pegeln von der Elbe erreicht. Er umschließt die Stadtteile Zschieren, Kleinzschachwitz und Laubegast. Sowohl zwischen Kleinzschachwitz und Laubegast als auch zwischen Laubegast und Tolkewitz ist er mit der Elbe verbunden. Er wird schon teilweise überschwemmt, bevor er Wasser durchführen kann. Da zwischen Laubegast und Kleinzschachwitz der Lockwitzbach in die Elbe fließt, läuft Wasser der Elbe zuerst über diesen kurzen Arm in die Elbe zurück. Dieser östliche Teil wird nur durch Bergbau (Kiesabbau) und Landwirtschaft genutzt. Die nahen Ortsteile, darunter auch Sporbitz, liegen erhöht. Die Verbindungsstraßen von Kleinzschachwitz und Laubegast nach außen werden bei höchsten Hochwassern überflutet und die Stadtteile so abgeschnitten. Der Elbarm, in dem sich Wassermassen etwa ab sieben Metern Pegel in die Breite verlaufen, kann Flutspitzen abflachen. Er verlagert aber auch den Rand des Überschwemmungsgebietes in die Nähe von Stadtteilen im Hinterland wie Leuben, Dobritz oder Seidnitz. Gefahr entsteht für diese Stadtteile dann, wenn der Altarm auf voller Breite durchströmt wird. Er ist allerdings auch schon vor der vollständigen Durchströmung wirksam als Retentionsraum. Auf einer Karte, die die Ausbreitung des Hochwassers vom 18. März 1845 darstellt, ist erkennbar, dass die Fluren der Johannstadt und von Striesen weit über die Elbwiesen hinaus überflutet waren. Damals wurde dieses Gelände landwirtschaftlich genutzt oder war bewaldet. Bis zur Jahrhundertwende wurde dieser Flutraum im Zuge der Ausweitung von Johannstadt, Striesen und Blasewitz verbaut. Auch das Gebiet zwischen Mickten, Trachau und Pieschen wurde überschwemmt. Später wurde dieses Areal, das an einem alten Elbarm liegt, dicht bebaut, konnte aber 2002 durch einen Sandsackwall verteidigt werden. Deichsysteme In Dresden gibt es nur im geringen Maße Deiche, wie im Mittel- und Unterlauf der Elbe. Im Westen werden Gohlis und Teile von Cossebaude durch ein Deichsystem geschützt, welches bis etwa 7,40 Meter Fluthöhe Schutz bietet. Dabei handelt es sich nicht um einen voll ausgebauten Schutzdeich, sondern um ein Poldersystem, das bei hohen Fluten Entlastung durch Retention schaffen soll. Insbesondere die hohe Gefährdung ab acht Meter Elbpegel rührt daher, dass es keine Deiche gibt, die die Stadtteile vor allem im Osten bei Laubegast und Pillnitz schützen. Die alten Dorfkerne sind in diesen Teilen der Stadt aber auf höheren Lagen angelegt. Die einzige neuere Bebauung liegt zwischen den historischen Kernen und damit tiefer. Der erste Deich am deutschen Lauf der Elbe befindet sich in Übigau auf der Strecke zwischen Flügelwegbrücke und der Brücke der A 4. Häufig werden aber die Elbwiesen und Flutrinnen durch einen sehr flachen Deich, meist den Damm einer Straße oder eines Weges, abgeschlossen. Ein Beispiel dafür ist die Straße Käthe-Kollwitz-Ufer, die als Uferstraße die Johannstadt mit Blasewitz verbindet. Die Innenstadt kann durch ein flexibles Schutzwandsystem vor Hochwasser mit bis zu 9,24 m Dresdner Pegel geschützt werden, siehe Abschnitt „Ausbau im 21. Jahrhundert“. Hochwasserrückhalt Insbesondere im Umland wurden im letzten Jahrhundert Anlagen geschaffen, die Hochwasser der Erzgebirgsabflüsse auffangen, zurückhalten und regulieren sollen. Für die Elbe gibt es im deutschen Oberlauf keine Stau- oder Rückhalteanlagen. In der Tschechischen Republik gibt es vor allem an der Moldau und ihren Zuflüssen viele Stauseen und -stufen (→ Moldau-Kaskade), so zum Beispiel die 68 Kilometer lange Orlík-Talsperre und der Stausee Lipno. Moldau und Elbe besitzen in ihren tschechischen Läufen zahlreiche Staustufen, die mehr oder weniger als Hochwasserrückhalt dienen. Die Hochwasser der Nebengewässer des Erzgebirges können in mehreren Anlagen zurückgehalten werden. Für die Weißeritz gibt es dafür die Talsperre Malter (Rote Weißeritz), die Talsperre Klingenberg und die Talsperre Lehnmühle (Wilde Weißeritz). Nach dem Hochwasser 2002 wurde der Hochwasserstauraum noch einmal erhöht. Diese Anlagen dienen nicht nur dem Schutz Dresdens, sondern auch zum Schutz umliegender Gemeinden und Städte wie zum Beispiel Freital. Für den Lockwitzbach gibt es im Oberlauf vor Reinhardtsgrimma ein Rückhaltebecken. Für den Geberbach besteht südlich von Kauscha die Talsperre Kauscha, die sich zum Teil auch in Dresden befindet. Für den Kaitzbach wurden Flächen in der Nähe des Stadtteils Strehlen baufrei gehalten. Diese Flächen wurden 1999 zum Rückhaltebecken Hugo-Bürkner-Park mit 11.000 m³ Fassungsvermögen ausgebaut. Das Stauvolumen erwies sich beim Hochwasser 2002 als zu klein und so wurden das linke Becken Anfang 2006 um zwei Meter vertieft. Die Anlage fasst nun 20.000 m³ und wurde schon kurz nach der Erweiterung bei der Flut der Nebengewässer während des Hochwassers der Elbe im März 2006 vollständig eingestaut. Die Anlage schützt neben Strehlen auch die Südvorstadt und insbesondere den Großen Garten. Weitere Rückhaltebecken im Einzugsgebiet des Kaitzbachs sind in Planung. Objektschutz Einzelne Gebäude müssen separat gegen Hochwasser geschützt werden, wie im Westen der Innenstadt das Kongresszentrum und das Heinz-Steyer-Stadion. Das Stadion würde bereits bei etwa sieben Meter Fluthöhe voll laufen, während das Kongresszentrum direkt am Ufer bis über acht Meter durch eine aufgestellte Wand geschützt wird. Deutlich mehr Gebäude müssen auf Grund des steigenden Grundwasserspiegels gegen Auftrieb gesichert werden. Notwendig ist dies bei Neubauten, die einen druckfesten Keller besitzen. Verhindert wird der Auftrieb durch Wasserbecken, die im Gebäude befüllt werden. 2002 musste dieses Verfahren zum Beispiel beim Neubau des St. Benno-Gymnasiums in der Pirnaischen Vorstadt angewandt werden. Nach wie vor werden zahlreiche Straßen und Gebäude mit Sandsackwällen geschützt. Dies ist der Fall zwischen Synagoge (die erhöht liegt) und Brühlscher Terrasse zur Verteidigung des Bärenzwingers, in der Nähe der Yenidze und bei äußerst starken Hochwassern am Neustädter Ufer. Zuständigkeiten und Einsätze In den Hochwasserschutz sind verschiedene Institutionen, Ämter und Verwaltungen involviert. Diese sind zum Teil ständig aktiv oder werden erst im Fall eines Katastrophenzustands einberufen. Warnung und Gewässerverwaltung Die Kontrolle und Beobachtung der Flusspegel obliegt dem Hochwasserzentrum des Landesamts für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. Dieses Hochwasserzentrum dient der landesweiten Warnung vor Hochwassern. Es gibt dazu amtliche Warnungen heraus, die maßgeblich für das Handeln der Kommunen und Landkreise in den Hochwassergebieten sind. Über das Sirenenwarnsystem der Stadt Dresden können gesprochene Hochwasserwarnungen an die Bevölkerung standortspezifisch übermittelt werden. Von der Landestalsperrenverwaltung Sachsen werden die Deiche entlang der Elbe betreut. Nicht das Umweltamt der Stadt Dresden, sondern die Talsperrenverwaltung entscheidet über den Ausbau von Deichen in der Stadt. Einsatz Für die Steuerung der Talsperren und Rückhaltebecken ist die Landestalsperrenverwaltung verantwortlich. Im Fall von Hochwassern wird in Abstimmung mit dem Hochwasserzentrum Rückstauraum in den Talsperren geschaffen und, soweit möglich, Einfluss auf die Hochwasserspitzen genommen. Im Verlauf eines Hochwassers informiert das Hochwasserzentrum dabei auch über die noch zur Verfügung stehenden Stauräume. Hochwasserstauraum kann kurzfristig aufgebaut werden. Um diesen Stauraum, wie häufig verlangt, ebenfalls kurzfristig zu erweitern, müsste ein Grundablass erfolgen. Dieser ist im Rahmen der Vorwarnzeiten aber nicht realistisch bzw. würde die Durchflusskapazität der Gewässer unterhalb der Talsperren selbst überlasten und zur Ausuferung führen. Der Stadt Dresden obliegt als Kommune das Recht und die Pflicht zur Ausrufung des Katastrophenvoralarms bzw. -alarms. In Sachsen wird der Katastrophenalarm durch § 47 des Sächsischen Gesetzes über den Brandschutz, Rettungsdienst und Katastrophenschutz ausgelöst. Damit ruft die Stadt das Technische Hilfswerk und die Bundeswehr zur Amtshilfe. Weiterhin kann sie bei diesem Alarm Evakuierungen anordnen. Bei Extremereignissen an den Nebenflüssen, insbesondere an der Weißeritz, können Evakuierungen teilweise nur mit Hilfe der Search-and-Rescue-Einheiten der Bundesrepublik durchgeführt werden. Diese sind unabhängig vom Katastrophenalarm binnen weniger Minuten einsatzfähig. 2002 mussten zur Evakuierung der Krankenhäuser auch MedEvac-Flugzeuge der Bundeswehr eingesetzt werden. Die meisten Patienten wurden in umliegende Krankenhäuser und Kliniken transportiert. Die Stadt löst im Allgemeinen Katastrophenvoralarm aus, wenn die Gefahr besteht, dass die Elbe einen Pegel von sieben Metern erreicht. Mit Erreichen dieser höchsten Hochwasseralarmstufe wird der Katastrophenalarm für die Stadtteile an der Elbe ausgelöst. Bei Hochwassern der Nebengewässer löst die Stadt fast für das gesamte Stadtgebiet Katastrophenalarm aus oder grenzt den Alarm überhaupt nicht ein. Logistik und Transport Wichtiger Stützpunkt zur Versorgung von Dresden, aber auch des gesamten Ballungsraums im Oberen Elbtal ist der Flughafen Dresden. Er liegt auf einer Höhe von 230 Metern über Null nordwestlich der Innenstadt und ist damit hochwassersicher. Von diesem Flughafen aus können Patienten der Krankenhäuser evakuiert, aber auch schweres Gerät, zum Beispiel Schwimmpanzer, eingeflogen werden. Die Bundesautobahn 4, die die Elbe im Westen der Stadt überquert, kann bei Hochwasser geöffnet bleiben, wodurch die Stadt aus allen Richtungen erreichbar bleibt. Dokumentation Die Aufgabe der Dokumentation, insbesondere der Überschwemmungsgebiete und des Abflussverhaltens, übernimmt in Dresden das Umweltamt. Sowohl 2002 als auch beim Hochwasser 2006 wurden dabei mit Hilfe der Luftwaffe umfangreiche Luftbildaufnahmen angefertigt und ausgewertet. Zudem ruft die Stadt Einwohner zum Beispiel im Internet auf, die Ausdehnung der Überschwemmung beim Höchststand zu präzisieren. 2002 und 2006 wurden Karten so umfangreich bearbeitet und detailliert fertig gestellt. Die Gültigkeit von Informationen über Überschwemmungsgebiete und vor allem des Abflussverhaltens bei Extremereignissen ist durchaus eingeschränkt. Insbesondere durch neue Bebauung ändern sich Überschwemmungsgebiete enorm. Ein Beispiel dafür ist der Hauptbahnhof, dessen tiefer Kopfbahnhofsteil beim letzten Ereignis vor 2002 noch nicht existierte. Bebauung wirkt sich auch auf das Verhältnis von Durchflussmenge und Pegelhöhe aus. Vor allem bei Hochwassern im Abstand von zehn bis zwanzig Jahren spielt die Dokumentation eine wichtige Rolle. Auf der Basis solcher Überschwemmungskarten und den Erfahrungswerten lassen sich einfacher Entscheidungen treffen, an welchen Stellen Überschwemmungen durch mobile Wände oder Sandsackwälle effektiv abgewehrt werden können. Auch lässt sich auf Basis dokumentierter Erkenntnisse entscheiden, welche Gebiete und Objekte bei den prognostizierten Pegelständen verteidigt werden können. Auch das Baurecht ist von der Ausweisung von Überflutungsgebieten betroffen. In Gebieten, die 2002 überschwemmt wurden, werden gegenwärtig keine Baugenehmigungen mehr erteilt, während insbesondere zwischen 1990 und 2002 an einigen Stellen, zum Beispiel bei Laubegast, noch Bauwerke im verlandeten Altarm der Elbe errichtet wurden. Ausbau im 21. Jahrhundert Seit dem Hochwasser 2002 plant die Stadt den Schutz weiter Teile vor Oberflächenwasser bei sehr hohen Überschwemmungen. Vorgesehen ist ein System aus Schutzwänden aus Stahlbohlen, ähnlich wie es seit längerem in Prag eingesetzt wird. Dort schützt diese Maßnahme insbesondere die historische Innenstadt. Eine akute Gefährdung liegt diesbezüglich in der Innenstadt Dresdens nur für die tiefere Bebauung am Neumarkt und Theaterplatz vor; vor allem am Zwinger und an der Semperoper können Schäden entstehen. Diese Bereiche einschließlich der westlichen Vorstadt Friedrichstadt können seit 2011 durch feste und mobile Wände gegen Hochwasser bis 9,24 Meter gesichert werden. Der Pegelstand von 9,24 Meter (also 16 cm unter dem Höchststand vom 17. August 2002) wurde im Jahr 2004 als neue Höchstmarke für das HQ100-Ereignis der Elbe in Dresden festgelegt, mit einem Scheitelwert von 8,76 m am 6. Juni 2013 blieb das verheerende Hochwasser elf Jahre später noch deutlich unter dieser Marke. Sowohl bei Hochwassern der Elbe als auch bei Ereignissen an den Gewässern zweiter Klasse können aber auch Wasserstände auftreten, die extremer sind als die im Jahr 2002. Nach dem Hochwasser im Frühjahr 2006, das vor allem Gohlis bedrohte, wurde beschlossen, das dortige Poldersystem durch einen Schutzdeich zu ergänzen. Gohlis wäre damit auch vor Hochwassern über 7,40 Metern geschützt. Die flachen Deiche an der Elbe, die ursprünglich nur die Bodenerosion bei Hochwasser verhindern sollten, bleiben erhalten. Die Polderfläche (und damit der Flutraum) wird durch den Schutzdeich aber aller Voraussicht nach kleiner. Die Stadt Dresden fordert, am Lauf des Lockwitzbachs ein weiteres Rückhaltebecken zwischen Kreischa und Dresden zu bauen und hat diesen Ausbau des Hochwasserschutzes mit hoher Priorität bei der Landestalsperrenverwaltung einordnen lassen. Auch fordert die Stadt, einen weiteren Pegel auf Höhe der Lockwitztalbrücke an der Stadtgrenze einzurichten, da der Pegel Kreischa im Februar 2006 keine Gefahr für die Stadtteile entlang des Lockwitzbachs erwarten ließ, Gefahr aber örtlich durch Eisversatz bei mäßigem Hochwasser entstand. Da die infolge des 2002er Hochwassers vom Umweltamt vorgeschlagene elbseitige Ummauerung von Laubegast auf Ablehnung seitens einiger Bewohner des Stadtteils stieß, wurde zur Lösungsfindung ein „Beteiligungsprozess“ in dem Stadtteil initiiert. Dieser verlief so schleppend, dass Laubegast beim Elbhochwasser 2013 noch schutzlos war und somit ähnlich wie 2002 zu beträchtlichen Teilen überflutet wurde. Siehe auch Wiener Donauregulierung Elbe-Umflutkanal und Pretziener Wehr Hochwasser(schutz) in Würzburg Weblinks Allgemein Stadt Dresden: Hochwasser Themenstadtplan Dresden: Anzeige der Maßnahmen der öffentlichen Hochwasservorsorge Bezogen auf konkrete Hochwasser Einzelnachweise Geographie (Dresden) Hochwasserschutz (Deutschland) Stadtplanung (Dresden)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jaguar-Klasse
Jaguar-Klasse
Die Schnellboote der Jaguar-Klasse (Marinebezeichnung: Klasse 140/141) waren die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg neu entwickelten Kriegsschiffe der deutschen Bundesmarine. Sie wurden nach dem ersten in Dienst gestellten Boot Jaguar (S 1) benannt. Ihr Haupteinsatzgebiet war die Ostsee. Mit diesem Typ wurden die Erfahrungen des Schnellbootbaus aus dem Krieg fortentwickelt. Die Boote waren aus einem inneren Leichtmetallgerüst mit Holzbeplankung sehr leicht konstruiert. Der Antrieb durch vier Dieselmotoren verlieh ihnen Geschwindigkeiten von über 40 Knoten (etwa 80 km/h). Die Torpedoschnellboote zeichneten sich dabei durch gute Seegängigkeit und große Reichweite aus und hätten darum nicht nur zur Küstenverteidigung, sondern auch offensiv im freien Seeraum eingesetzt werden können. Allerdings konnten die Boote mit ihrer Besatzung von 39 Mann nur wenige Tage ununterbrochen auf See bleiben, da während Einsatzfahrten unter Gefechtsbedingungen praktisch keine Schlafpausen möglich waren. Außerdem war ihre Bewaffnung mit vier ungelenkten Torpedos schon bald nach der Indienststellung überholt. Von der Klasse 140 wurden 20 Boote gebaut, die von 1957 bis 1975 im 3. und 5. Schnellbootgeschwader im Dienst waren. Die Klasse 141 war bis auf die Motorisierung baugleich. Die zehn gebauten Boote dieser Klasse bildeten von 1958 bis 1976 das 2. Schnellbootgeschwader. Sie wurden zunächst als zweite Gruppe der Jaguar-Klasse angesehen, später aber auch als Seeadler-Klasse bezeichnet, ebenfalls benannt nach dem ersten Boot dieser Baureihe. Nach der Außerdienststellung gab die Bundesmarine die Boote der Klasse 140 überwiegend an die Türkei ab und ersetzte sie durch Boote der Tiger-Klasse (148). Die Boote der Klasse 141 wurden an Griechenland abgegeben und durch solche der Albatros-Klasse (143) ersetzt. Die letzten Boote wurden dort 2005 außer Dienst gestellt. Für den Export nach Indonesien und Saudi-Arabien wurden elf weitgehend baugleiche Boote gebaut. Geschichte Entwicklung Die Lürssen-Werft in Bremen-Vegesack konzipierte für die Bundesmarine die Jaguar-Klasse auf Grundlage der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und baute selbst 22 Einheiten. Weitere acht Boote wurden in Lizenz von der Kröger-Werft in Schacht-Audorf bei Rendsburg gebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Lürssen-Werft zunächst für den Bundesgrenzschutz Schnellboote nach den letzten Konstruktionsplänen des Krieges gebaut (spätere Bezeichnung Silbermöwe-Klasse (149)). Nach der Gründung der Bundeswehr dienten diese im Schnellbootlehrgeschwader (später 1. Schnellbootgeschwader) der Bundesmarine zur Ausbildung der Besatzungen und Erprobung von Motoren und Ausrüstung für die späteren Jaguar-Boote. Mit der Plejad-Klasse baute Lürssen ab Mitte der 1950er-Jahre für die schwedische Marine einen wesentlich vergrößerten Schnellboottyp mit einer der Jaguar-Klasse vergleichbaren Bewaffnung, aber einer noch den Kriegsbooten entsprechenden Motorisierung. Die von Lürssen schließlich als Typ 55 entwickelten Boote der Jaguar-Klasse stellten eine weitere Fortentwicklung der Schnellboote des Zweiten Weltkrieges dar. Ihre Verdrängung war fast doppelt so groß wie die der Kriegsboote und sie waren sowohl offensiv wie defensiv entsprechend schwerer bewaffnet. Obwohl sie nicht die den „Lürssen-Effekt“ erzeugenden verstellbaren Stauruder erhielten, die zu den hervorragenden Fahrleistungen der Kriegsboote beigetragen hatten, erreichten sie mit einem vierten Motor versehen sogar bessere Werte. Bei der Einführung wurde die Jaguar-Klasse zunächst offiziell nur unter der Klassennummer geführt. Sie wurden inoffiziell aber bald als „Raubtierklasse“ bezeichnet, bevor sich das für Schiffe übliche Verfahren auch für Boote durchsetzte, die Klasse nach der ersten in Dienst gestellten Einheit zu bezeichnen. Jaguar, nach dem die Klasse später benannt wurde, wird als der erste Nachkriegsneubau der Marine überhaupt geführt. Mit den Booten der Jaguar-Klasse beschaffte die Bundesmarine für ihren Wiederaufbau einen robusten Schiffstyp, der zwar einige Zeit gute Dienste leistete, jedoch waffentechnisch schon bei seiner Indienststellung veraltet war. Der Angriff gegen Kampfschiffe mit geradeaus laufenden Torpedos kurzer Reichweite war bereits zu dieser Zeit eine überholte Taktik. Ab 1960 wurden zudem in der sowjetischen Marine beginnend mit der Komar-Klasse Schnellboote mit Seezielflugkörpern eingeführt, einer Bewaffnung, die für den Kampf gegen größere Ziele dem Torpedo weit überlegen war. Insofern waren die relativ frühzeitige Außerdienststellung der noch in gutem Zustand befindlichen Boote der Jaguar-Klasse und ihr Ersatz durch Flugkörperschnellboote logische Konsequenzen. Außer für die Bundesmarine wurden elf Boote etwa entsprechend der Klasse 140 für den Export gebaut. Acht wurden an Indonesien geliefert, wovon die Hälfte Stahlrümpfe erhielt, und drei weitere Boote gingen an Saudi-Arabien. Anfang der 1960er-Jahre wurden auf Grundlage der Jaguar-Klasse auch Boote für die israelische Marine entwickelt. Aufgrund politischer Probleme realisierte schließlich 1967/68 die französische Werft Constructions Mécaniques de Normandie den Bau. Aus diesem Entwurf wurden in Frankreich die im Export sehr erfolgreichen La-Combattante-Klassen weiterentwickelt, die schließlich auch als Tiger-Klasse von der Bundesmarine angeschafft wurden. Die zwölf in Frankreich für Israel gebauten Boote waren knapp 2,5 m länger, hatten veränderte Decksaufbauten und wurden als Sa'ar-Klasse in Dienst gestellt. Anfang der 1970er-Jahre erfolgte durch Bewaffnung mit Gabriel-Seezielflugkörpern die Umrüstung zur Sa'ar-2-Klasse und später Sa'ar-3-Klasse. Als solche waren sie die ersten Flugkörperschnellboote der westlichen Welt. Verwendung bei der Bundesmarine Siehe dazu auch Hauptartikel Schnellbootflottille. Bei der Aufstellung der Geschwader bestand der Kern erfahrenen Personals aus Veteranen, die wieder in den Dienst der Marine getreten waren, sowie Personal der „Schnellbootgruppe Klose“ und des eingegliederten Seegrenzschutzes. Die Besatzungen wurden noch während des Baus von den Herstellern der Ausrüstung geschult. So wurde ein Teil des Maschinenpersonals zu Lehrgängen bei Daimler-Benz und Maybach geschickt und die Besatzungen machten auf den Werften Baubegleitung (oder Baubelehrung). Nach der Auslieferung führten diese Besatzungen dann auch die Abnahme und das Einlaufen der Maschinen innerhalb des Schiffserprobungskommandos (SEK) durch. Die Boote erhielten eine fortlaufende Nummer mit einem vorangestellten „S“ sowie Namen von Tierarten, die auf Schildern am Brückenaufbau geführt wurden, außerdem führten sie eine NATO-Kennnummer am Rumpf mit dem Buchstaben „P“ für „Patrol“ (Patrouillenfahrzeug) und einer vierstelligen Nummer (siehe dazu die Übersicht der Boote). Bis 1973 waren die Schnellboote im Unterschied zu anderen Marineeinheiten in sehr hellem Grau gestrichen. Die Schnellbootgeschwader waren (abgesehen von Minensuchgeschwadern) die ersten vollständig aufgestellten Kampfeinheiten der Marine, darum wurden sie sofort der NATO unterstellt, um in die internationalen Kommandostrukturen integriert zu werden und das Zusammenspiel der Stäbe zu üben. Dabei war der Druck, schnell Einheiten aufzubauen, so groß, dass die ersten Boote des 3. S-Geschwaders ohne Kanonen und Radar in Dienst gestellt wurden. Die Jaguar-Klasse-Schnellboote besuchten im Laufe der Zeit viele Häfen der benachbarten NATO-Staaten. Oft waren es die ersten Besuche der deutschen Streitkräfte im europäischen Ausland nach dem Krieg. Das 5. Schnellbootgeschwader wurde nach seiner Aufstellung zur NATO-Bereitschaft abgestellt und unternahm als solche weite Reisen zu NATO-Manövern, beispielsweise nach Nordnorwegen, in die Biskaya und ins Mittelmeer. Die Geschwader in der Ostsee stellten ständig mindestens ein Boot zur sogenannten „taktischen Nahaufklärung“ ab, das im Ostseeausgang auf See stand und etwaige Flottenbewegungen der Staaten des Warschauer Pakts beobachtete und beispielsweise sowjetische U-Boote – die hier nicht tauchen konnten – bei der Durchfahrt „beschattete“. Ein weiteres Boot lag in Bereitschaft, um etwa bei technischen Problemen als Ersatz dienen zu können. Vor allem in den ersten Jahren kam es wiederholt zu offiziell meist nicht gemeldeten Vorfällen mit Einheiten des Warschauer Pakts, wie provokativ nahes und schnelles Passieren bis hin zum Rammen, „versehentliche“ Beschießungen, Fluchthilfe aus DDR-Häfen und Ähnlichem. Die enge Zusammenarbeit und das dichte Zusammenleben aller Dienstgrade und Laufbahnen förderte ein besonderes Verhältnis innerhalb der Besatzungen und zum Waffensystem Schnellboot. Auch erhielten viele Offiziere der Bundesmarine auf Schnellbooten ihre erste Kommandoerfahrung, da die Boote mit relativ niedrigem Dienstgrad ein eigenes Kommando ermöglichten. Damit begründeten die Jaguar-Boote einen besonderen Ruf der Schnellboote in der Bundesmarine. Schon bald wurde von der Bundeswehr über Verbesserungen der Boote nachgedacht. Einzelne Boote waren praktisch ständig zur Erprobung neuer Systeme im Einsatz. Die Geschwader unterlagen dabei einer strengen Geheimhaltung. So wurde etwa Pelikan zur Erprobung neuer Radar- und Antiradarsysteme abgestellt und zeitweise mit einem überdimensionierten Feuerleitradar, wie es auf Zerstörern zum Einsatz kommt, ausgestattet. Damit waren die Trefferergebnisse der Flak hervorragend, jedoch wirkte das Boot toplastig. Geier erhielt zur Erprobung von ABC-Schutzanlagen vorübergehend einen völlig anderen Decksaufbau sowie einen Teleskopmast für das Radar. Zusammen mit Pelikan erhielt das Boot einen Kunststoffüberzug zur Verminderung der Radarrückstrahlung, der sich aber als nicht haltbar erwies. Kormoran führte Erprobungen neuer Torpedos durch, auch des später für die Folgeklassen eingeführten drahtgelenkten „DM 2 A1“. Dazu wurden zwei heckwärts gerichtete Torpedorohre montiert. Dommel hatte ausgiebige Motorentests durchzuführen, unter anderem eine 1000-Stunden-„Dauererprobung“. Geschwaderchronologie Die Nummerierung der Geschwader der Bundesmarine sagt nichts über den Zeitpunkt der Aufstellung aus; vielmehr sind traditionell Geschwader mit gerader Nummer in der Nordsee und solche mit ungerader Nummer in der Ostsee stationiert. So wurde das 3. Schnellbootgeschwader vor dem 2. aufgestellt. 1970 wurden allerdings alle Schnellboote in der Ostsee konzentriert, so dass die Zuordnung der Nummern und Standorte dann bei den Schnellbootgeschwadern nicht mehr zutraf. Im Folgenden wird nur der Zeitraum der einzelnen Schnellbootgeschwader umrissen, in dem dort Boote der Jaguar-Klasse im Einsatz waren. 3. Schnellbootgeschwader Das 3. Schnellbootgeschwader wurde am 1. Oktober 1957 in Flensburg-Mürwik (vgl. Marinestützpunktkommando Flensburg-Mürwik) unter Korvettenkapitän Haag aufgestellt. Als erstes Boot wurde 16 Tage später Jaguar (S 1) in Dienst gestellt. Bis zum 7. Juli 1959 folgten die weiteren neun Boote. Alle Boote erhielten Namen von Landraubtieren. Bereits im Oktober 1958 nahmen die bis dahin vorhandenen Boote am ersten Manöver teil. Es erfolgten Auslandsbesuche vor allem in Schweden (Visby), Frankreich, England, Norwegen, Dänemark. Zur Vorbereitung der Umstellung des Geschwaders auf Boote der Tiger-Klasse (148) wurden 1971 die vier besterhaltenen Boote (Wolf, Iltis, Tiger, Löwe) an das 5. Geschwader abgegeben, dafür kamen von dort die vier Boote (Reiher, Weihe, Pinguin, Kranich), die zuerst mit denen des 3. Schnellbootgeschwaders ausgemustert werden sollten. Die Besatzungen wurden dabei gewechselt, so dass diese in ihren jeweiligen Geschwadern verblieben. Von Ende 1972 bis Anfang 1974 erfolgte die Außerdienststellung der Jaguar-Klasse-Boote des 3. Schnellbootgeschwaders. 2. Schnellbootgeschwader Das 2. Schnellbootgeschwader wurde am 1. Juni 1958 unter Fregattenkapitän Meyering in Wilhelmshaven aufgestellt. Das erste Boot Seeadler (S 6) traf am 3. September 1958 in Wilhelmshaven ein. Bis November 1959 liefen die restlichen Boote zu. Alle Boote erhielten Namen von Vogelarten. Zum 1. November 1970 erfolgte die Verlegung in die Ostsee nach Olpenitz zum 5. Schnellbootgeschwader. Von April 1975 bis Dezember 1976 wurden die Boote der Seeadler-Klasse außer Dienst gestellt. Es erfolgte Ersatz durch Boote der Albatros-Klasse (143). 5. Schnellbootgeschwader Das 5. Schnellbootgeschwader wurde am 1. Oktober 1959 in Neustadt in Holstein unter Korvettenkapitän Klaus-Jürgen Thäter aufgestellt. Als erstes Boot wurde vier Wochen später Weihe (S 15) in Dienst gestellt. Im Februar 1961 kam Dommel (S 21) als letztes Boot zum Geschwader. Alle Boote des Geschwaders erhielten Namen von Vogelarten. Ende 1961 wurde das Geschwader der NATO unterstellt. Es folgten jährliche Teilnahmen an Manövern und diverse Auslandsreisen nach Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Norwegen, Schweden, Irland und Spanien (teils mehrfach). Am 1. Februar 1968 wurde das Geschwader nach Olpenitz verlegt. 1971 erfolgte ein Austausch von Booten mit dem 3. Geschwader (siehe 3. Schnellbootgeschwader). Von Mitte 1974 bis Ende 1975 wurden die Jaguar-Boote außer Dienst gestellt und durch Boote der Tiger-Klasse (148) ersetzt. Besondere Ereignisse Bei Fahrten mit hoher Geschwindigkeit in dichter Formation kam es immer wieder zu Kollisionen. Meistens entstanden dabei eher geringe Schäden an Bug und Heck der beteiligten Boote. So kollidierten 1959 Panther mit Wolf, wobei ersterer so schwer mittschiffs beschädigt wurde, dass drei Sektionen vollliefen und er zu sinken drohte 1961 Albatros mit Geier, im gleichen Jahr auch Kondor mit einem Zielschiff 1965 Geier erneut, diesmal mit einem zivilen Frachtschiff im Nord-Ostsee-Kanal 1966 auch Wolf abermals, diesmal mit Luchs 1969 Pinguin mit Alk 1970 Weihe mit Reiher 1974 Elster mit Dommel, so dass letztere vorzeitig außer Dienst gestellt wurde. 1964 brannte auf Kormoran der Maschinenraum aus. Am 25. April 1967 überführte Kondor begleitet von Seeadler und Sperber des 2. Schnellbootgeschwaders den Sarg des verstorbenen Bundeskanzlers Konrad Adenauer vom Staatsakt im Kölner Dom zur Beisetzung nach Königswinter/Rhöndorf. Patenschaften Im Laufe der Jahre wurden zwischen verschiedenen Schnellbooten und Orten in der ganzen Bundesrepublik Patenschaften geschlossen. Die Initiative dazu ging meist von einzelnen Personen aus, die eine persönliche Beziehung zu den Schnellbooten oder umgekehrt zu den Ortschaften hatten. In der Regel kam es zu Besuchen von Mannschaftsmitgliedern in den Patenstädten und Gegenbesuchen von Delegationen auf den Booten. Besuche der Boote selbst in den Patenstädten waren nicht möglich, weil es sich um Orte im Binnenland handelte. Die Patenschaften waren an die (inoffiziellen) Namen und nicht an die offiziellen Bootsnummern gebunden und wurden auf die Nachfolgeboote der Klassen 148 und 143 mit gleichem Namen übertragen. Sie endeten erst nach zum Teil über 40-jährigem Bestehen mit der Außerdienststellung der letzten Namensträger. Während der Dienstzeit der Jaguar-Klasse bei der Bundesmarine entstanden folgende Patenschaften: im 2. Schnellbootgeschwader Albatros: Remscheid Greif: Mannheim Kondor: Mönchengladbach Seeadler: Bocholt Sperber: Münster im 3. Schnellbootgeschwader Jaguar: Einselthum/Pfalz Leopard: Moers Löwe: Celle Luchs: Dirmstein Panther: Ludwigshafen-Oppau Tiger: Osterode/Harz im 5. Schnellbootgeschwader Dommel: Andernach Elster: Worms Kranich: Hiltrup (heute Stadtteil von Münster) Storch: Rüdesheim Weihe: Aschaffenburg Reiher: Trier Übersicht und Verbleib der Boote Nach der Außerdienststellung der Boote von 1972 bis 1976 lagen mehrere der Boote noch für einige Zeit im Marinearsenal auf. Dann wurden sie überwiegend an NATO-Partner abgegeben, wo sie zum Teil noch länger im Dienst waren als bei der Bundesmarine. Einige Boote wurden auch an Privatunternehmen verkauft und für zivile Nutzung umgebaut. Viele der Boote waren insgesamt über 30 Jahre, einzelne Boote sogar über 40 Jahre im Einsatz (Seeadler 46 Jahre) – angesichts der leichten Bauweise und der leistungsoptimierten Motoren eine sehr lange Lebensdauer. Ausgemusterte deutsche Schnellboote wurden wiederholt für Drogenschmuggel mit Südamerika verwendet, angeblich solche der Zobel-Klasse (142). Da von diesen Booten aber keine an zivile Käufer veräußert wurden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich dabei tatsächlich um umgebaute Jaguar-Boote handelte. Klasse 140 Nach der Außerdienststellung von 1972 bis 1975 wurden zehn Boote im Rahmen der NATO-Militärhilfe an die Türkei abgegeben. Sieben der Boote wurden dort als Firtina-Klasse in der Ersten Sturmboot-Flottille in Dienst gestellt. Drei Boote dienten nur noch als Ersatzteilträger. Die letzten beiden Boote stellte die Türkei 1993 außer Dienst. Acht Boote verkaufte die VEBEG direkt an Privatfirmen. Die meisten davon baute die Eberhard-Werft in Arnis für zivile Nutzung als Motoryachten um. Bei einigen Booten ist das endgültige Schicksal nicht bekannt. Ein weiteres Boot wurde als Zielschiff an Frankreich abgegeben und dort schließlich versenkt. Der Kranich war bis 2006 Teil der Ausstellung des Deutschen Schiffahrtsmuseums in Bremerhaven, dann wurde das dort vollkommen vernachlässigte Boot durch die VEBEG an ein dänisches Abwrackunternehmen verkauft. Zeiträume vorübergehender Außerdienststellung z. B. zur Instandsetzung nach Havarien bleiben in dieser und der folgenden Tabelle unberücksichtigt. Klasse 141 Die Boote wurden 1975 und 1976 außer Dienst gestellt und an Griechenland abgegeben. Dort wurden sieben Boote wieder in Dienst gestellt. Drei Einheiten dienten nur noch dem Materialersatz. Die letzten beiden Boote wurden im Jahr 2005 außer Dienst gestellt. Die anderen Boote wurden nach und nach als Ersatzteillieferanten für die noch aktiven Boote ausgeschlachtet und die Rümpfe an Abwrackunternehmen verkauft. Der Versuch einer privaten Initiative, das Typboot nach der Außerdienststellung zu musealen Zwecken zurückzukaufen, schlug wegen des starken Verfalls des Bootskörpers und der darum nicht ausreichenden Mittel für einen Rücktransport im Jahre 2006 fehl. Einsatzkonzept Auftrag Auftrag der bundesdeutschen Schnellbootgeschwader war die Überwachung und Verteidigung des Küstenvorfeldes in der Nord- und Ostsee bis zur norwegischen Küste. Im Kriegsfall hätten sie im Zusammenwirken mit anderen Marineeinheiten vor allem drei Aufgaben erfüllen sollen. Die Seestreitkräfte des Warschauer Pakts am Verlegen von Einheiten zwischen Baltischer Flotte (Ostsee) und Nordflotte (Atlantik) hindern (Zuständigkeitsbereich comnavbaltap). Den Seezugang zu den deutschen Häfen über die Nordsee vor allem für Verstärkung und Nachschub aus den USA sichern (Zuständigkeitsbereich comgernorsea). Die Küsten Deutschlands, Dänemarks und Norwegens gegen feindliche Landungsoperationen verteidigen. Gemäß dem NATO-Konzept der maritimen Vorneverteidigung hätten die Boote feindliche Kräfte schon auf dem Anmarsch im weiteren Küstenvorfeld angreifen sollen. Die Bedrohungslage vor allem durch die sowjetische baltische Flotte und die NATO-Planung für den Einsatz der Bundesmarine veränderten sich im Laufe der Zeit, so dass die drei oben genannten Ziele zu verschiedenen Zeiten unterschiedliches Gewicht erhielten und auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden sollten, grundsätzlich blieben sie jedoch bestehen. Anfänglich wurde dabei für die Ostsee noch das Ziel gesehen in der westlichen Ostsee die Seeherrschaft zu erringen. Bis mindestens zur Höhe Rügen sollte dies gelingen, zumindest zeitweise sogar bis etwa Bornholm, um eigene amphibische Operationen zu decken und den gegnerischen Schiffsverkehr hier weitgehend zu unterbinden, aber auch darüber hinaus sollte die Schifffahrt des Gegners gestört und damit dort Kräfte gebunden werden. Da in diesem Gebiet mit einer gegnerischen Luftüberlegenheit gerechnet wurde, sah man es als nicht möglich an mit größeren Einheiten wie Zerstörern vorzustoßen. Diese Aufgabe hätte vollständig von U-Booten und Schnellbooten übernommen werden müssen. Unterstützung von Nato-Partnern wurde in diesem Gebiet kaum erwartet. Darum erhielten die Boote eine für ihre Größe starke Flugabwehr-Bewaffnung. Da die Möglichkeit gesehen wurde, dass dieses Ziel nicht erreicht werden könnte und man in der Ostsee zurückgedrängt worden wäre, war die Minenlegekapazität der Boote dazu gedacht, in diesem Fall, im Zusammenwirken mit anderen Minenlegekräften, die eigenen Küsten und die Zufahrtswege intensiv durch Minensperren schützen zu können. Bereits in den 1960er-Jahren entstand aber ein so deutliches Übergewicht der baltischen Flotten des Warschauer Paktes, dass das Ziel einer Seeherrschaft zunehmend unrealistisch erschien und nur mehr die Sperrung der Ostseezugänge und Deckung der eigenen Küsten erreichbar schien. Den Schnellbooten der Jaguar-Klasse wurde nun auch als eine wesentliche Aufgabe das Bekämpfen der östlichen Flugkörperschnellboote zugewiesen, die als große Bedrohung der westlichen Seestreitkräfte erkannt wurden. Das Legen von Minensperren vor allem in der Gedser-Enge (→ Kadetrinne) blieb eine wichtige Zusatzaufgabe. Phasenweise sah die NATO wesentliche maritime Angriffsoperationen des Warschauer Paktes im Bereich der Ostsee auch gar nicht mehr als wahrscheinlich an und qualifizierte damit das Einsatzgebiet der Schnellboote zum unwesentlichen Nebenschauplatz ab. Ab Mitte der 1960er-Jahre bis zum Ersatz durch Flugkörperschnellboote wurde die Sicherstellung der vorgegebenen Aufgaben durch die Jaguar-Klasse Schnellboote und die zehn Boote der Zobel-Klasse zunehmend kritisch eingeschätzt. Im Bereich der Nordsee wurde die Notwendigkeit gesehen, die nördliche Nordsee als wichtigen Zufahrtsweg weitgehend selbstständig schützen zu können, da die norwegische Marine hierzu als zu schwach erachtet wurde. Hierfür waren vor allem hochseetaugliche Einheiten wie Zerstörer und Fregatten vorgesehen, aber Schnellboote sollten diese dabei unterstützen können. Angesichts ihrer technischen Unterlegenheit wurden die Schnellboote in der Ostsee zahlenmäßig verstärkt und dort zusammengeführt. Ab 1970 waren darum keine Schnellboote mehr in der Nordsee stationiert. Taktik Zum Torpedoangriff sollten sich die Boote ihren Zielen in dichter Formation mit Höchstgeschwindigkeit nähern, um auf dem gegnerischen Radar keine identifizierbaren Einzelsignaturen abzubilden. Erst kurz vor dem Ziel wäre die Formation geöffnet worden, um die ungelenkten Torpedos aus möglichst geringer Distanz (< 5500 m) auszustoßen. Dabei musste Funk- und Radarstille gehalten werden. Für Angriffe auf verteidigte Ziele wie etwa größere, schwer bewaffnete Kriegsschiffe war der Ansatz mehrerer Boote bis zu Geschwaderstärke (7–10 Boote) vorgesehen, die aus verschiedenen Richtungen Torpedofächer auf das Ziel abgeschossen hätten. Es oblag den Divisions- und Rottenführern, ihre Bootsgruppen synchron in Schussposition zu manövrieren. Schusskurse und Torpedoeinstellungen wurden im direkten Angriff mit Hilfe der Torpedozielsäule auf der Brücke errechnet. Ab 1964 wurde diese ergänzt durch die sogenannte „Torpedotaktische Rechenscheibe“, mit der jedes Boot die für seine Position in der Angriffsformation günstigste Verteilung in die möglichen Ausweichräume ermittelte. Die Angriffspläne wurden dabei so angelegt, dass das Ziel auch durch Ausweichmanöver nicht aus dem Bereich der Torpedolaufbahnen entkommen konnte. Das bedeutete, dass einige Boote bewusst daneben zielen mussten. Bei weniger stark bewaffneten Zielen wie etwa Landungsschiffen hätte ein Geschwader mehrere in der Nähe zueinander befindliche Ziele auf einmal angreifen können. Den Torpedos wurde je nach Ziel eine bestimmte Lauftiefe und falls nötig Kursänderungen eingestellt. Die fächerförmige Anordnung der Rohre bewirkte eine Verteilung der Torpedos und hätte so die Trefferwahrscheinlichkeit erhöht – auch bei eventuellen Ausweichmanövern der angegriffenen Schiffe. Da die Boote keine nennenswerte Panzerung hatten, mussten sie feindlichem Abwehrfeuer durch Überraschung, wechselnde Kurse und hohe Geschwindigkeit begegnen, um es dem Gegner zu erschweren, seine Geschütze zu richten. Die besten Angriffsbedingungen bot die Dunkelheit, wenn eine optische Zielerfassung durch den Gegner nicht möglich gewesen wäre. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges zeigten, dass bei Tageslichtangriffen auf geschützte Verbände mit hohen eigenen Verlusten zu rechnen gewesen wäre. Angesichts der sich entwickelnden Radartechnik und insbesondere radargesteuerter Feuerleitung bot allerdings auch die Dunkelheit kaum mehr Schutz. Führung Die Boote der Jaguar-Klasse waren in drei Geschwadern zu je zehn Booten zusammengefasst. Zu jedem Geschwader gehörten außerdem ein bis zwei Begleitschiffe (Tender) und der Geschwaderstab. Die Geschwaderkommandeure waren Disziplinarvorgesetzte auf der Ebene eines Bataillonskommandeurs, ihr vorgesehener Dienstgrad war Fregattenkapitän. Da fast immer einzelne Boote zur Erprobung abgestellt waren oder Werftaufenthalte hatten, verfügte im Einsatz ein Geschwader meist effektiv über acht oder neun Boote und gliederte sich in zwei Divisionen, die sich wiederum in Rotten zu je zwei Booten aufteilen konnten. Das Geschwader und die erste Division wurden vom Kommandeur geführt, die zweite Division durch den stellvertretenden Geschwaderkommandeur und einzelne Rotten durch den dienstältesten Kommandanten in der Rotte. In enger Verbandsfahrt konnten die Kommandanten dabei die Brücke kaum verlassen, um sich im Plottraum ein Lagebild zu verschaffen. Die Aufgabe der Lagebeurteilung und Einsatzplanung übernahm für das Geschwader der Kommandeur. Dabei wurde dieser vom Funk-, Radar- und Signalpersonal des jeweiligen Führerbootes unterstützt. Als Führungsmittel verfügten die Boote zunächst nur über ein Navigationsradar, ein Tast- und ein Sprechfunkgerät. Als Lagezentrale diente der so genannte Plottraum. Diese Ausstattung wurde im Laufe der Zeit um weitere UHF-Funkgeräte und einen halbautomatischen Nedinsko-Plotttisch zur Kursberechnung und Lagedarstellung ergänzt. Innerhalb eines Bootes erfolgte die Kommunikation über ein elektrisches Gegensprechsystem (BÜ-Netz), das zunächst unvollständig, dann auf alle Stationen ausgedehnt wurde. Die ab 1962 den Geschwadern zugeführten Tender der Rhein-Klasse (Klasse 401) spielten für den Einsatz der Boote eine bedeutende Rolle. Bei Manövern außerhalb der Stützpunkte war die Versorgung und Unterbringung der Mannschaften bis dahin ein erhebliches Problem. Die Tender waren aber nicht nur eine Versorgungsplattform, sondern sollten auch Lücken in der Bewaffnung der Boote zum Schutz des Verbandes am Versorgungspunkt ausgleichen. Zu diesem Zweck verfügten sie über zwei 100-mm-Geschütztürme, 40-mm-Flak und eine Sonaranlage zur U-Boot-Ortung. Zuerst war vorgesehen, die Geschwadertender auch als Führungsplattform mit in die Gefechtszonen vor zu ziehen, dies wurde jedoch schnell verworfen und Gefechtsübungen von einem Boot (Führerboot) aus geleitet. Trotzdem stellten die Tender mit ihren leistungsfähigeren Funkanlagen ein wichtiges Bindeglied zwischen der Marineführung im Flottenkommando und dem Geschwader in See dar. Besatzung Der taktische Einsatz wie die Technik der Boote stellte hohe Anforderungen an den Ausbildungsstand der Besatzung, die fast zur Hälfte aus Offizieren und Unteroffizieren bestand. Bis Anfang der 1960er-Jahre waren die Mannschaftsdienstgrade ebenfalls ausschließlich Zeitsoldaten und auch darüber hinaus blieb der Anteil längerdienender Mannschaftsdienstgrade auf Schnellbooten hoch. Als Kommandant war ein Kapitänleutnant vorgesehen, tatsächlich waren aber Offiziersdienstgrade vom Leutnant zur See bis zum Korvettenkapitän Kommandanten der Boote. Meistens war es ein Oberleutnant zu See. Die Kommandanten hatten die Disziplinargewalt eines Kompaniechefs. Die STAN-mäßige Besatzungsstärke hat sich im Laufe der Zeit nur geringfügig verändert. Die Besatzung bestand ursprünglich (hier am Beispiel der Indienststellungs-Besatzung von S 21 Dommel von 1961) aus: 3 Offiziere: Kommandant, 1. Wachoffizier (I WO), 2. Wachoffizier (II WO, oft Fähnriche zur Ausbildung) 2 Bootsmänner: Technik („Leitender“), Decksbootsmann („Schmadding“) 12 Maate: 4 × Motoren (T1–4), 2 × Deck, Elektrik, Brücke, Radar, Artillerie, Torpedos, Funker 21 Mannschaften: 4 × Motoren, 4 × Deck, 3 × Artillerie, 2 × Torpedo, 2 × Elektro, 2 × Brücke, Radar, Funker, Signal, Koch Später kam ein Schiffstechnischer Offizier (STO) hinzu, und der bisherige „Leitende“ im Bootsmannsrang wurde zum „Abschnittsleiter Motoren“; dafür fiel der II WO weg. Allerdings bestand ständig ein nicht zu behebender Mangel entsprechend ausgebildeter Offiziere, auch nach Einführung der Laufbahn der „Offiziere des Militärfachlichen Dienstes“. Darum konnte oft nicht mehr erreicht werden, als jeder Geschwaderdivision einen STO im Leutnantsrang zuzuweisen. Die weiteren Posten wurden durch hochrangige Bootsmänner besetzt. Insgesamt war der ab Ende der 1960er Jahre auftretende Mangel an qualifiziertem Personal auch anderer Bereiche auf Schnellbooten nur schlecht kompensierbar, da innerhalb eines Bootes kaum eine Vertretung fehlenden Personals möglich war. Unterbringung Die Unterbringung der Besatzung an Bord der Jaguar-Boote war eng, aber wohnlich, unter anderem mit Holzverkleidung versehen. Im Heimathafen sollten die Besatzungen nicht an Bord schlafen, bis zum Bezug des neuen Stützpunktes in Olpenitz 1970 war die Unterkunftssituation an Land aber oft nicht ausreichend. Auf den häufigen Manöverfahrten, Auslandsbesuchen und als Wachboot (siehe unten) standen der Besatzung insgesamt 39 Kojen zur Verfügung. Durch die den S-Bootgeschwadern ab 1962 beigegebenen Tender wurde der Betrieb und die Versorgung der Boote und Besatzungen im Einsatz, bei Manövern oder Auslandsaufenthalten verbessert, dort bestand dann auch die Möglichkeit, zu duschen. Im Vorschiff befanden sich der Plottraum mit sechs festen Kojen und vier Kojen zum Aufhängen (keine Hängematten) für Unteroffiziere, sowie ein Toilettenraum (etwa 2 m²) und zwei kleine Kammern mit je zwei Kojen für die Offiziere und Feldwebel. Die Kommandantenkammer war mit eigenem Waschbecken und Schreibtisch und einer Doppelkoje (Etage) ausgestattet. Das zweite Bett dort war für den Kommandeur des Geschwaders, wenn dieser auf einem der Boote mitfuhr. In der Steuerbord-Brückenkammer befanden sich noch eine Koje und kleine Spinde als Krankenrevier („Geschwader-Reiseschlunz“) und mögliche Schlafstätte für den bei Einsätzen auf einem Boot zusteigenden Geschwaderarzt oder Sanitäter. Im Bug befand sich eine Unterkunft für Mannschaften („Decksgasten“) mit zwölf Kojen („Heldenkeller“), zugänglich über ein Kugelschott von Deck aus. Auch die Unterkünfte im Heck waren nur über ein Kugelschott von Deck aus erreichbar. Dort befanden sich neben einem Raum mit sechs Kojen für die Mannschaften der Maschine („Heizer“), die Kombüse mit Elektroherd (in U-Bootgröße) und einem für damalige Zeiten großen Kühlschrank, ein Unteroffiziersschlafraum („Viermannskammer“) mit zwei Etagenkojen und ein weiterer kleiner Toilettenraum. Seedienst Die Schnellboote waren als sogenannte „Einwachenboote“ konzipiert, darum gab es anders als auf größeren Schiffen für den Betrieb keine wechselnden Schichten („Wachen“). Bei Einsatzfahrten unter Gefechtsbedingungen wurde fast die gesamte Besatzung benötigt und es bestand keine Möglichkeit einer längeren Ablösung vom Posten. Ruhepausen wurden intern nach Bedarf und Möglichkeit im Aufgabenbereich durchgeführt. Bei ununterbrochenem Einsatz von bis zu 72 Stunden war die psychische und körperliche Belastung damit oft an der Grenze des Zumutbaren. Der Kommandant blieb meistens vom Ablegen bis zum Anlegen auf der Brücke. Außerhalb von Verbands- oder Manöverfahrten unter Gefechtsbedingungen oder bei Überführungs- oder Kanalfahrten waren nicht alle Stationen (wie die Geschütze) besetzt und es konnte beispielsweise ein Maat die Maschinen allein bedienen. Für die frei werdenden Besatzungsmitglieder wurden Ruhepausen und damit längere Seeaufenthalte möglich. Dabei war während des Fahrbetriebes der vordere Mannschaftsraum als möglicher Kollisionsraum gesperrt (dieser Raum war bei Kollisionen besonders gefährdet) und die Besatzungsmitglieder mussten sich im Wesentlichen die hinteren zehn Kojen teilen. Der Tagesbetrieb am Liegeplatz verlief an Bord mit allen Mahlzeiten (Frühstück, Mittag und Abendessen), dazu donnerstags der Seemannssonntag. Im Seebetrieb kam zu den normalen Mahlzeiten noch der sogenannte „Mittelwächter“ um Mitternacht hinzu. Damit war der Koch (Smut) voll ausgelastet. Während der Fahrt wurde ihm eine Hilfskraft aus der Mannschaft zur Seite gestellt. Dafür gehörte der Smut bei Gefechtsübungen zur Torpedostation, außerdem war er der Bordsanitäter. Auf- und Abdecken wurde von den täglich wechselnden Backschaftern durchgeführt. Das Kartoffelschälen („Potackendrehen“) war ein „Alle-Manns-Manöver“, an dem sich sogar ab und zu (bei guter Laune) der Kommandant beteiligte. Gegessen wurde im hinteren Mannschaftsquartier und im Plottraum. Wachdienst Außerhalb der Einsatzfahrten wurden die Boote im Hafen nach den geltenden Wachbestimmungen gesichert. Die Wache an Bord der einzelnen Boote bestand analog zu den Regelungen anderer Truppenteile aus „Unteroffizier vom Dienst“ (UvD), „Matrose vom Dienst“ (MvD) und „Heizer vom Dienst“ (HvD) (später „Schiffssicherungsgast vom Dienst“ (SvD)). Sie war zuständig für den geregelten Ablauf der Bordroutine wie Wecken, Flaggenparade, Landgangsordnung und -überwachung, Ruhe im Schiff, Zustand der Mannschafts- und Betriebsräume. Der „UvD“ musste nachts eine Runde durch das Boot machen und dem „Offizier vom Wachdienst“ (OvWa) Meldung über den Zustand des Bootes machen. Lagen bis zu drei Boote zusammen, wurde von einem Boot zusätzlich als „Kleine Wache“ eine bewaffnete Bewachung im Außenbereich gestellt. Es setzte den Stander „Nato-Null“. Die Außenwache bestand aus einem wachhabenden „Maat der Wache“, einem „Posten Pier“, einem „Posten Seeseite“, sowie dem „OvWa“. Der Wachoffizier war unter anderem für den Ablauf der Wachroutine verantwortlich. Eine sogenannte „Große Wache“ musste ab vier Booten gestellt werden. Dann musste ein Boot mit der gesamten Besatzung an Bord zur Wache bestimmt werden. Das Wachboot befand sich im Alarmzustand zum schnellen Auslaufen bereit. Technik Die technischen Grunddaten sind in der Infobox am Anfang des Artikels dargestellt. Die angegebene Verdrängung stieg bei Einsatzbeladung bis auf 210 t bzw. 221 t. Der Tiefgang stieg entsprechend auf 2,34 m bei der Klasse 140 und wegen des höheren Grundgewichtes bei der Klasse 141 bis zu 2,39 m an. Wenn etwa Reservetorpedos oder Minen mitgeführt wurden, konnte dies noch überschritten werden. Dadurch wurde auch die Höchstgeschwindigkeit herabgesetzt. Die erreichbare Geschwindigkeit konnte natürlich auch durch Seegang begrenzt werden. Die angegebene Reichweite der Boote war ebenfalls beladungsabhängig, noch stärker jedoch von der gewählten Geschwindigkeit. So sank die Reichweite bei 39 kn auf etwa 500 sm, stieg dagegen bei nur 32 kn auf etwa 1000 sm. Die angegebenen Leistungsdaten der Motoren stellen die Maximalwerte dar, die im Dauerbetrieb nicht erreicht wurden. Als Dauerhöchstgeschwindigkeit wurden 39 kn bei einer Leistungsabgabe der Motoren von 10.000 PS angesetzt. Rumpf Die Schnellboote der Jaguar-Klasse waren wie fast alle deutschen Schnellboote durch Dieselmotoren angetriebene klassische Rundspantboote mit Spiegelheck. Sie waren in Kompositbauweise mit Holzbeplankung als Doppeldiagonalkraweel auf Leichtmetallspanten ausgeführt. Dabei wurden zwischen zwei Lagen Mahagoni von je 2,5 cm eine 0,7 cm starke Diagonallage Camballa verleimt (nach anderen Angaben waren die Mahagonischichten 3 und 2 cm stark). Dadurch waren die Boote leicht, verwindungsfest und weitgehend unempfindlich für Magnetminen. Zur Erhöhung der Sinksicherheit unterteilten zehn wasserdichte Querschotten die Boote. Die elf dadurch gebildeten Abteilungen waren von hinten nach vorne durchnummeriert. Die wenigen Aufbauten bestanden aus Leichtmetall, nur die Brücke und die Geschützstände waren mit 1 cm Stahlblech leicht gepanzert. Als so genannte Verdrängerboote hoben sie sich bei hoher Fahrtgeschwindigkeit nicht aus dem Wasser, im Gegensatz zu sogenannten Gleitbooten, die auf der Wasseroberfläche dahingleiten. Dies beschränkte zwar ihre Höchstgeschwindigkeit, machte die Boote aber verhältnismäßig unempfindlich gegen schwere See, so dass sie auch bis zu Seegang Stärke 6 voll einsetzbar waren. Der Rumpf war dabei so günstig gestaltet und die Antriebsanlage so ausgelegt, dass die klassischen Berechnungsformeln für die Rumpfgeschwindigkeit von Verdrängern außer Kraft gesetzt wurden und Geschwindigkeiten bis zur Kavitationsgrenze des Propellers, also bei diesen Booten je nach Beladung 40 bis 45 Knoten erlaubte. Auch wurden damit die Fahreigenschaften insgesamt verbessert. Ein Staukeil und die Abrisskante am Heck sowie der Strömungsvorlauf waren derart abgestimmt, dass das Eintauchen des Hecks und die Höhe der Heckwelle sowie der bei anderen Rumpfformen bekannte „Saugeffekt“ wirkungsvoll vermindert wurden. Zudem waren die Rumpfproportionen im Unterwasserschiff so gestaltet, dass zusammen mit der Anordnung der Wellen und der genannten Abflachung der Heckwelle nicht schon der Nachlauf der Bugwelle und der Vorlauf der Heckwelle einander beeinflussten. Die Holzkonstruktion erwies sich als sehr robust, war jedoch aufwändig im Unterhalt. Bei Eisgang war der Einsatz der Boote beschränkt, weil schon relativ dünnes Eis den Holzrumpf beschädigen konnte. Maschinenanlage Die Boote der Serien 140 und 141 unterschieden sich nur in der Motorisierung, wobei die verwendeten Motoren dabei zunächst gleiche Leistung von je 3000 PS hatten. Die vier schnelllaufenden aufgeladenen Viertakt-Dieselmotoren wurden mit Druckluft angelassen. Die Motoren wirkten bei der Klasse 140 über je ein angeflanschtes Untersetzungsgetriebe und eine Kupplung und bei der Klasse 141 über je eine Kupplung und ein Wendegetriebe auf die Wellen. Die Wellen drehten sich entgegengesetzt und waren jeweils um 2° von der Mittellinie abweichend ausgerichtet (die mittleren nach innen, die äußeren nach außen). Die dreiflügeligen festen Propeller hatten bei den meisten Booten einen Durchmesser von 1,15 m. Drei Boote hatten Propeller mit 1,12 m Durchmesser. Die Abgase wurden seitlich aus dem Rumpf abgeleitet. Bei hoher Fahrtstufe lagen die Auslässe unterhalb der Wasseroberfläche und reduzierten damit die Fahrgeräusche außerhalb der Boote wesentlich. Die Motoren zeigten in der Anlassphase eine erhebliche Abgas- und Rußentwicklung, so dass bei der Standprobe im Hafen zwischen die Boote mittels angeschlagener Schläuche Seewasser gesprüht wurde, um Rußablagerung zu verhindern und die Rümpfe der daneben liegenden Boote vor der Hitze der Abgase zu schützen. Die damit befassten Männer trugen manchmal Gasmasken, um die ölgeschwängerte Luft nicht ungeschützt einatmen zu müssen. In der sogenannten Erhaltungsstufe 5 wurden die Motoren ausgetauscht und zur Überholung an die Herstellerwerke verschickt. Dafür war oberhalb der Maschinenräume das Deck herausnehmbar konstruiert. Im Zuge einer solchen Wartung erfolgte auch der Austausch gegen leistungsstärkere Motoren auf den Booten der Klasse 141 (siehe Klasse 141). Klasse 140 („Mercedes-Boote“) Die Boote der Klasse 140 waren mit vier 20-Zylinder-V-Motoren des Typs Mercedes-Benz MB 518 B mit jeweils 3000 PS Leistung ausgestattet. Die Motorblöcke waren aus der seewasserbeständigen Leichtmetalllegierung Silumin gefertigt und hatten zur Gewichtsersparnis weitere spezielle Konstruktionsmerkmale. So waren die Zylinder aus Sonderstahl mit Zylinderboden und Vorkammer aus vollem Material herausgearbeitet. Die Ein- und Auslasskanäle und der Kühlmantel aus Stahlblech waren aufgeschweißt und auf einem im Kurbelgehäuse vorhandenen Zwischenboden abgestützt. Bei erforderlichen Reparaturen (z. B. Kolbenfressern) konnte der ganze beschriebene Block nach oben gezogen und der Kolben bis zur Kolbenschaftunterseite freigelegt werden. Das Trockengewicht je Motor betrug 4800 kg. Die Motoren waren damit zwar erheblich leichter, bereiteten jedoch in den ersten Jahren einige Probleme. Zunächst war ihr Schmierölverbrauch zu hoch. Die Maßnahmen, dies abzustellen, führten dann zu vermehrten mechanischen Problemen. Dies konnte durch verschiedene Maßnahmen weitgehend behoben werden, die Motoren blieben jedoch wartungsintensiver und störanfälliger als die der Klasse 141. Die Motoren besaßen mechanische Aufladegebläse und angeflanschte Untersetzungsgetriebe (1:1,72). Für die Rückwärtsfahrt wurden die Motoren gestoppt und umgesteuert, so dass sie dann in umgekehrter Drehrichtung liefen. Dies war jedoch nur bei Stillstand des Bootes bzw. langsamer Fahrt möglich. Klasse 141 („Maybach-Boote“) Die ersten acht Boote der Klasse 141 waren mit vier 16-Zylinder-V-Motoren MD 871/30 aus Grauguss von Maybach (später MTU) ausgerüstet. Jeder Motor hatte zwei Abgasturbolader und lieferte ebenfalls eine Leistung von 3000 PS. Das Trockengewicht je Motor betrug 6.690 kg, dadurch und durch für diese Motoren notwendige schwerere Nebenaggregate hatte die Klasse 141 ein etwa 12 t höheres Gesamtgewicht und erreichte damit zunächst eine etwa 3 kn niedrigere Höchstgeschwindigkeit. Die beiden letzten Boote wurden mit MD-872-Motoren mit je 3600 PS ausgerüstet (insgesamt 14.400 PS), womit die Höchstgeschwindigkeit der „Mercedes-Boote“ etwas übertroffen wurde. Ende der 1960er-Jahre wurden dann alle Boote auf die leistungsstärkeren Motoren umgerüstet. Damit wurde der Geschwindigkeitsnachteil mehr als ausgeglichen, allerdings auf Kosten eines höheren Kraftstoffverbrauchs und darum geringerer Reichweite. Die Maybachmotoren wurden zur Rückwärtsfahrt nicht umgesteuert, sondern hatten dazu ein Wendegetriebe. Auch hier war dieser Vorgang höchstens bei geringer Fahrt möglich. Hilfseinrichtungen Zur Stromerzeugung waren zwei Dreizylinder-Dieselgeneratoren mit je 96 PS (70 kW) an Bord. Diese erzeugten je 65 kVA Drehstrom in der als NATO-Standard definierten Spannung von 440 V bei 60 Hz. Über Trafos wurden für bestimmte Verbraucher auch 220 V, 115 V und 24 V erzeugt. Letztere auch zum Laden diverser Akkumulatoren etwa zum Anlassen der Hilfsmaschinen, für Beleuchtung, Positionslichter usw. Zur Erzeugung von Druckluft dienten zwei elektrisch angetriebene dreistufige Kompressoren. Die Boote benötigten Druckluft zum Anlassen der Motoren, zum Befüllen der Torpedos und für den Ausstoß der Torpedos aus den Rohren. Die Steuerung erfolgte über eine elektrische Ruderanlage auf zwei Spatenruder. Als Beiboot wurde ein Schlauchboot mit festem Boden und Außenbordmotor mitgeführt. Als Rettungsmittel standen neben persönlichen Schwimmwesten drei aufblasbare Rettungsflöße zur Verfügung. Bewaffnung Torpedos Die Hauptbewaffnung der Boote bestand aus vier Torpedorohren (ToRo M 1) britischer Produktion (Saunders-Roe) mit einem Kaliber von 533 mm. Diese waren 10° (vorn) und 15° (hinten) zur Fahrtrichtung angeordnet und stießen die Torpedos mittels Druckluft nach vorne aus. Die Schusskurse wurden mit Hilfe einer Torpedorichtsäule (Hagenuk MK 8) auf der Brücke und ab 1962 ergänzend mit der „Torpedotaktischen Rechenscheibe“ ermittelt. In jedem Rohr wurde normalerweise ein Torpedo mitgeführt, zusätzlich konnten auf den Ladebänken hinter den Rohren drei Reservetorpedos untergebracht werden. Achtern konnte nur ein zusätzlicher Torpedo mitgeführt werden, weil der Reservetorpedo auf dem drehbaren Gestell mit der Seilwinde zum Entladen der Rohre auflag. Es wurden aus Frankreich beschaffte Restbestände des deutschen G7a-Torpedos mit einer Reichweite von 6 km bei 44 kn sowie der britische Mark VIII mit einer Reichweite von 4,5 km bei 45,5 kn verwendet. Die Torpedos waren ungelenkt, das heißt, sie konnten nach dem Ausstoßen vom Boot nicht mehr beeinflusst werden und orteten auch nicht selbsttätig ihr Ziel. Sie hatten jedoch eine Tiefensteuerung und einen Steuermechanismus eingebaut, in dem einfache Kursänderungen voreingestellt wurden. Meistens wurde damit die schräge Aufstellung der Torpedorohre ausgeglichen, so dass beispielsweise der vordere Backbordtorpedo nach dem Eintauchen eine Kursänderung um 10° nach Steuerbord durchführte, um dann geradeaus in Fahrtrichtung des Bootes zu laufen. Scharfe Schüsse wurden in norwegischen Fjorden geübt. Artillerie Die beiden Bofors-Schnellfeuerkanonen 40 mm/L70 waren in offenen Ständen (Marineeinzellafette (MEL 58)) auf dem Vorderdeck und zwischen den Hecktorpedorohren aufgestellt. Sie sollten primär der Flugabwehr dienen, waren aber auch zur Seezielbekämpfung geeignet. Dafür hatten die Boote 3168 Schuss selbstzerlegende Flakmunition (DM 31) in zwei Munitionsbunkern an Bord. Der vordere Munitionsraum, der auch gleichzeitig Waffenkammer für sonstige Waffen war, befand sich in Abteilung VIII unterhalb des Brückenaufbaus, in Abteilung II befand sich die Munition für das achtere Geschütz. Bei ihrer Auslieferung konnten die Geschütze nur lokal gerichtet werden. Später wurde ein optronischer Artillerieleitstand (OGR 7 des italienischen Herstellers „Officine Galileo“) hinter dem Fahrstand nachgerüstet, mit dem die Geschütze synchronisiert gerichtet werden konnten. Dabei konnten auch Ergebnisse der Radarortung auf dieses Zielgerät übertragen werden. Als Artillerieoffizier war der 1. Wachoffizier (I WO) eingesetzt. Mit Hilfe von elektrischen Richtmotoren wurden die Waffen nach den Vorgaben des Artillerieleitstandes automatisch gerichtet und zentral abgefeuert. Die Geschützbedienung hatte lediglich nachzuladen. Jedes Geschütz konnte aber auch weiterhin vollständig unter lokaler Kontrolle bedient werden. Nachts waren die Geschütze praktisch nicht einsetzbar, weil die Boote kein Feuerleitradar hatten. Die Geschütze hatten für Fahrzeuge dieser Größe ein relativ starkes Kaliber, was den Booten eine Überlegenheit im Gefecht mit anderen leichten Kräften gegeben hätte. Vergleichbare Schnellboote des Warschauer Pakts in der Ostsee verfügten meist nur über Geschütze der Kaliber 15 mm bis 37 mm. Minen Minenlegen war eine Nebenaufgabe der Boote. Sie sollten dort eingesetzt werden, wo Minenleger und Minensuchboote, deren Hauptaufgabe die Verminung gefährdeter Küstenabschnitte gewesen wäre, aufgrund der Gefährdungslage nicht hätten eingesetzt werden können. Mit geringem Aufwand konnten die hinteren Torpedorohre entfernt und gegen zwei Schienen ausgetauscht werden, auf denen je nach Minentyp bis zu 36 Grundminen oder bis zu 34 Ankertauminen mitgeführt werden konnten. Bei voller Zuladung mit Ankertauminen war allerdings das hintere Geschütz nicht mehr einsetzbar. Als schnelle Kräfte mit guter Selbstverteidigung wären Verbände von Jaguar-Booten in der Lage gewesen, Lücken in Minensperren auch unter Feindbedrohung zu schließen. Wasserbomben Seitlich der hinteren Torpedorohre befanden sich je zwei Halterungen für Wasserbomben (eine Halterung ist auf oben stehendem Bild oberhalb des Kugelschotts an der Bordkante erkennbar). Da diese jedoch ohne jede Unterwasserortung (z. B. Sonar) abgeworfen werden mussten und dabei in den überwiegend flachen Gewässern des Einsatzgebietes oft Schäden an den Booten auftraten, waren die Schnellboote für den Einsatz von Wasserbomben nur eingeschränkt geeignet. Diese wurden in der Regel nicht mitgeführt. Handwaffen An Bord befanden sich zunächst nur mehrere Pistolen des Modells P1 (P38) und ein Karabiner K98 für den Wachdienst. Letzterer diente auch zum Zerstören treibender Minen. Bis Mitte der 1960er-Jahre wurde das K98 durch das Gewehr G3 ersetzt. Weiterhin kamen die Maschinenpistole MP2 und ein Maschinengewehr MG3 (zunächst noch in der Ausführung als MG42) sowie Handgranaten an Bord. Diese Waffen und die zugehörige Munition wurden in der vorderen „Mun-Kammer“ (Abt. VIII) aufbewahrt. Bis zur Außerdienststellung befanden sich dann folgende Handfeuerwaffen an Bord: 4 Pistolen P1 2 Maschinenpistolen Uzi; 4 G3 2 MG3 2 Signalpistolen Die Waffen sollten außer zum Wachdienst für die sogenannten „Enterrollen“, das heißt das Entern bzw. die Abwehr von Enterungen, an die Besatzung ausgegeben werden. Kommunikation und Sensorik Die Ausstattung mit Elektronik war sehr beschränkt. Die Boote erhielten neben optischen Mitteln zunächst nur ein Tast- und ein Sprechfunkgerät zur externen Kommunikation. Später kamen zwei weitere Funkgeräte sowie ein Funkpeilgerät zu Navigationszwecken hinzu. Bordintern war ein elektrisches Bordsprechsystem (BÜ-Netz) installiert. Auf jeder Gefechtsstation waren dafür Steckdosen vorhanden, über die sich die mit Kopfhörern mit Mikrofon oder speziellen Helmen ausgestatteten Verantwortlichen dieser Station in das System integrieren und so Anweisungen erhalten oder Meldungen abgeben konnten. Die Erstausstattung an Sensoren beschränkte sich auf ein DECCA-Navigationsradargerät. Das Radar war in seiner Auflösung und durch die geringe Höhe des Bootsmastes in seiner Reichweite beschränkt. Versuche, dies etwa durch Teleskopmaste zu verbessern, führten zu keinen befriedigenden Ergebnissen. Auch die Installation eines Feuerleitradars wurde nach Tests nicht weiterverfolgt. Nach und nach wurden ein Navigationsecholot, eine Torpedozielsäule, eine optische Richtsäule für die Artillerie, eine verbesserte Radaranlage von Kelvin-Huges und Radarwarnempfänger nachgerüstet, mit dem gegnerische Radargeräte geortet werden konnten. Literatur Zvonimir Freivogel: Die Schnellboote der Jaguar-Klasse. Düsseldorf 2008, ISBN 978-3-938494-08-0. Hendrik Killi: Die Schnellboote der Bundesmarine. Mittler & Sohn, Hamburg/Berlin/Bonn 1997, ISBN 978-3-8132-0528-2. Weblinks Einzelnachweise 140 Schnellbootklasse
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Parabuthus transvaalicus
Parabuthus transvaalicus, auch Südafrikanischer Dickschwanzskorpion genannt, ist einer der größten Skorpione der artenreichen Familie Buthidae und erreicht eine Körperlänge von 12 bis 16 Zentimetern (einschließlich Schwanz). Das Artepitheton transvaalicus bezieht sich auf sein Verbreitungsgebiet im südlichen Afrika. Etymologie Zoologischer Name Erstmals wurde Parabuthus transvaalicus 1899 von William Frederick Purcell als eine von heute 33 bekannten Arten der Gattung Parabuthus beschrieben. Purcell (1866–1919) war ein aus England stammender südafrikanischer Zoologe, der sich als Pionier in der Erforschung der Spinnentiere einen Namen machte. Er beschrieb zahlreiche Skorpion- und Spinnenarten – darunter auch Gattungen wie Harpactirella. Das Artepitheton leitete Purcell von der Bezeichnung Transvaal-Republik für das Gebiet der damaligen Südafrikanischen Republik und heutigen südafrikanischen Provinz Transvaal ab. In diesem Gebiet (Terra typica) wurde die Art offensichtlich auch erstmals durch Purcell aufgefunden. Deutscher Name Die deutsche Bezeichnung „Südafrikanischer Dickschwanzskorpion“ findet im allgemeinen Sprachgebrauch seltener Verwendung; bevorzugt wird der wissenschaftliche Name. Der Trivialname Dickschwanzskorpion (engl. fattail scorpion) wird vornehmlich für Arten der Gattung Androctonus verwendet, welche einheitlich einen dicken Hinterleib aufweisen. Er weist jedoch auch bei Parabuthus transvaalicus auf sein verhältnismäßig breites, fünfsegmentiges Metasoma (Schwanzpart) mit dem (für die Familie Buthidae) ungewöhnlich dicken Telson (mit großer Giftdrüse) hin. Dieser breite Körperbau tritt bei den Männchen aufgrund der geringeren Größe noch stärker in Erscheinung, da das Verhältnis zwischen Scherenhänden und Schwanz stärker variiert. Beschreibung Die Weibchen sind mit einer durchschnittlichen Größe von zehn bis zwölf Zentimetern kräftiger gebaut als die Männchen, die oft nur sieben bis zehn Zentimeter erreichen. Maximal erreicht Parabuthus transvaalicus eine Gesamtlänge von 16 Zentimetern und ist damit nach Parabuthus villosus die zweitgrößte Art der Gattung. Unabhängig vom Geschlecht ist der Skorpion einheitlich kastanienbraun bis schwarzgrau gefärbt. Im Schwanzbereich (Metasoma) befindet sich eine längere, rotbraun- bis schwarzfarbene Kammbehaarung, die rosa schimmernde Pluralhaut sowie eine starke Körnung auf der Oberfläche der Chitinpanzerung. Diese auffälligen Unebenheiten in einzelnen Schwanzsegmenten führen als Kiele in Reihen bis zum Telson hinauf. Schwanzbereich und Telson sind ungefähr gleich dick und schwarzgrau bis rotbraun gefärbt. Die am Mesosoma (Mittelbereich) ansetzenden Laufbeine und die am Prosoma (Vorderbereich) anliegenden Scherenhände (Pedipalpen) sind hingegen oftmals heller bernsteinbräunlich gefärbt. Neben dem Größenunterschied macht sich ein Sexualdimorphismus, wie bei allen Vertretern der Familie Buthidae, beim Männchen in längeren Kammorganen (Pecten) und Kammzähnen auf der Unterseite (Tastorgane) bemerkbar. Die Verbindungsstücke zwischen den Kammorganen, so genannte Basalglieder, sind hingegen kleiner beziehungsweise verkürzt. Beim Männchen wurden in der Regel 37 bis 42 Kammzähne gezählt; das Weibchen weist nur zwischen 33 und 36 auf. Zudem besitzen männliche Tiere meistens kürzere, dafür aber dickere, abgerundete Scherenhände. Eine Geschlechtsbestimmung von Parabuthus transvaalicus kann für gewöhnlich schon im zweiten Instar anhand einer Zählung der Kammzähne vorgenommen werden. Die vollständige Differenzierung der Geschlechter wird aber erst im adulten Stadium erreicht. Verbreitung Parabuthus transvaalicus hat sein Verbreitungszentrum im südlichen Afrika. Bisher ist sein Vorkommen in Südafrika, Botswana, Mosambik und Simbabwe nachgewiesen. Besonders häufig findet sich der Skorpion offenbar in Südafrika zwischen Kapstadt und Pretoria, in den ehemaligen Transvaalregionen (transvaalicus) sowie im Bereich des Kaplandes. Dort leben auch die verwandten Arten Parabuthus capensis und Parabuthus granulatus. Lebensraum Parabuthus transvaalicus lebt vorwiegend in subtropischen Trockenklimaten, insbesondere in Halbwüsten, Buschland und Steppenregionen, die eine schüttere Vegetation aufweisen. Seine Habitate unterliegen in der Regel einer starken Temperaturschwankung zwischen Tag und Nacht. Innerhalb seines Lebensraumes ist der Südafrikanische Dickschwanzskorpion relativ häufig unter verwitterndem Holz, Wurzeln oder Geröll anzutreffen. Die Lebensräume von Parabuthus transvaalicus machen aufgrund des Feuchtigkeitsmangels eine landwirtschaftliche Nutzung für gewöhnlich so gut wie unmöglich. Daher tritt der Skorpion auch meist nur in Gebieten mit geringer Besiedlung auf und kommt so nur selten in Kontakt mit Menschen. Nur in vereinzelten Fällen dringt die Art bis in bewohntes Gebiet und in Häuser vor. Lebensweise Parabuthus transvaalicus gehört zu den grabenden Skorpionarten und legt über Nacht längere Gänge im Sandboden an. Während der heißesten Tageszeit verbleibt er in solchen Höhlen oder unter Steinen im Schatten und ist somit, bei Vermeidung von Hitzestarre am Tag, nachtaktiv. Im Gegensatz zu den Männchen, welche erst bei abendlicher Dämmerung ihr Quartier verlassen, sind die Weibchen auch am Tag aktiv. Der Südafrikanische Dickschwanzskorpion ernährt sich von Insekten und kleineren Säugetieren, die er zuvor mit der Übertragung von Gift durch einen Stich paralysiert oder tötet. Im Falle von Nahrungsknappheit kommt es häufig zu Kannibalismus, wobei Weibchen oftmals die körperlich unterlegenen männlichen Tiere fressen. Bei Störung geht Parabuthus transvaalicus in die für Skorpione typische Drohhaltung über und zögert nicht zuzustechen. Bei Parabuthus transvaalicus handelt es sich um einen solitär lebenden Skorpion, der nur zur Paarung einen Geschlechtspartner sucht. Gegen Artgenossen verteidigt er sein Revier aggressiv, so dass nur bei einem ausreichenden Nahrungsangebot ein Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Tiere beobachten werden kann. Fortpflanzung und Entwicklung Paarungsverhalten Das Paarungsverhalten von Parabuthus transvaalicus gleicht dem von anderen Skorpionen und findet in Form eines Paarungstanzes statt. Das Männchen verlässt dazu sein Versteck und folgt der Pheromon-Duftspur eines Weibchens. Sobald das Männchen seine Partnerin gefunden hat, beginnt es am Metasoma und den Pedipalpen zu zittern und packt das Weibchen an den Scherenhänden. Der darauf folgende „Hochzeitstanz“, bei dem sich die Tiere vor, zurück und im Kreis bewegen, kann einige Minuten oder auch bis zu zwei Stunden dauern. Dabei sucht das Männchen mit den Kammorganen nach einem geeigneten Ablageplatz für die zirka 12 Millimeter große, bräunlich wirkende Spermatophore. Nachdem das Weibchen über den Ablageplatz geführt wurde und den Spermabehälter aufgenommen hat, erfolgt eine plötzliche Trennung der Partner. Der Verzehr des Männchens durch das Weibchen, wie es bei einigen Skorpionarten nach der Paarung üblich ist, ereignet sich bei dieser Art in der Regel nicht. Ein Individuum kann sich somit in seinem Leben mehrmals verpaaren. Entwicklung Nach einer Tragzeit von acht bis zwölf Monaten, in der die Mutter viel Nahrung benötigt, werden zwischen 20 und 100 Jungtiere lebend geboren (Viviparie). In natürlicher Umgebung ist die Anzahl der Geburten durch äußere Faktoren, wie Bedrohung oder Stress, auf durchschnittlich 32 Jungtiere reduziert. Bei Haltung im Terrarium entwickeln sich häufig zwischen 60 und 100 weiße Nymphen. Nachdem die Jungen auf den Rücken der Mutter geklettert sind, verbleiben sie drei bis vier Tage dort. Nach ihrer anschließenden, ersten Häutung vergehen weitere drei bis vier Tage auf dem Rücken des Weibchens, in denen der Chitinpanzer aushärtet. Nun sind sie in der Lage, auf Nahrungssuche zu gehen, wobei jedoch nur verhältnismäßig kleine Beutetiere erbeutet werden können. Bei Nahrungsknappheit kommt es sehr oft zu Kannibalismus unter den Jungtieren. Nach einem Jahr erfolgt die letzte Häutung und die Tiere erreichen die Geschlechtsreife. Dies kann sich, abhängig vom Nahrungsangebot und der Umgebungstemperatur, allerdings auch auf zwei Jahre herauszögern. Gift von Parabuthus transvaalicus Parabuthus transvaalicus zählt zu den giftigsten Skorpionen Afrikas, wobei die Gefährlichkeit seines Giftes nicht in der Stärke, sondern in der Menge liegt. Er kann aufgrund seiner außergewöhnlich großen Giftblase in kurzer Zeit sehr viel davon abgeben und auch schnell reproduzieren. So wurden bis zu 14 Milligramm Trockengewicht des Toxins bei einer Dosis gewonnen. Aufgrund der großen Quantität an Gift ist der Südafrikanische Dickschwanzskorpion als humanpathogene Art einerseits und stechfreudige sowie wehrhafte Art andererseits einzustufen, so dass ein vorsichtiger Umgang mit den Tieren gewährleistet sein muss. Parabuthus transvaalicus besitzt die Fähigkeit, die Zusammensetzung seines Giftes aktiv zu regulieren. Das so genannte Prevenom wird ausschließlich bei geringer Reizung, beispielsweise durch ein kleineres Beutetier, mit paralysierender Wirkung eingesetzt. Darin enthaltene Proteine wie Birtoxin, Dortoxin, Bestoxin und Altitoxin, die eine Herzmuskellähmung hervorrufen, liegen nur in geringer Konzentration vor. Auch während der Paarung wird ein solches, transparent aussehendes Sekundärgift eingesetzt, wobei das Männchen das Weibchen sticht, um es vermutlich ruhigzustellen. Als Verteidigung gegen größere Wirbeltiere wird das milchig-weiße, stärkere Gift injiziert. Dieses setzt sich vorwiegend aus Neurotoxinen, wie Acetylcholin oder Sympathomimetika, wie endogenen Katecholaminen, zusammen. Des Weiteren wurde eine für die Art spezifische Substanz namens Kurtoxin isoliert. Der Stich kann, auch beim Menschen, starke Schmerzen sowie eine kardiale und zentralnervöse Symptomatik nach sich ziehen. Bei einer subkutanen Verabreichung des Toxins an Mäuse beträgt die gemessene Letale Dosis (LD50-Wert) 4,25 Milligramm Gift pro Kilogramm Körpergewicht. Vor allem für Kinder und ältere Menschen, aber auch für Erwachsene ist das Gift unter Umständen sogar lebensbedrohlich. Die bisher bekannten Todesfälle wurden hauptsächlich durch ein Versagen der Atmung ausgelöst. Zudem ist der Skorpion in der Lage, sein Gift über einen Meter zu versprühen (engl. spitting scorpion), womit auch die Augen bedroht sind. Er kann es über sein muskulöses Telson und den Stachel förmlich nach außen spritzen. Sollte es zu Stichunfällen kommen, ist sofort ein Arzt bzw. eine Klinik aufzusuchen und dabei die Beschreibung oder der Name des Skorpions bereitzuhalten. Bei Schmerzen kann die Infiltration eines Lokalanästhetikums erfolgen. Patienten mit Atemstörungen müssen intubiert und beatmet werden, wonach sich weitere Maßnahmen je nach Symptomatik ergeben. Es gibt zwar bereits ein Antidot, dessen Wirkung ist jedoch umstritten und sollte nur mit Empfehlung eines Giftinformationszentrums gegeben werden. Ebenfalls sollte die Gabe von Morphin, Pethidin, Barbituraten, Calciumpräparaten, Kortikoiden und Atropin nach Angaben der Literatur vermieden werden. Systematik In der Gattung Parabuthus wurden bis heute neben dem Südafrikanischen Dickschwanzskorpion weitere 32 Arten sowie 17 Unterarten beschrieben. Für Parabuthus transvaalicus sind bisher keine Unterarten bekannt. Er zeigt jedoch eine auffallende, äußerliche Ähnlichkeit mit seiner Schwesterart Parabuthus villosus. Beide gemeinsam stehen nach heutigem Kenntnisstand Parabuthus schlechteri und Parabuthus raudus gegenüber. Die vier Arten zusammen werden dabei wiederum Parabuthus kraepelini gegenübergestellt. Auf geozoologischer Ebene lebt die Schwesterart Parabuthus villosus in näherer Umgebung zu Parabuthus transvaalicus. Sie ist aber, außer in Südafrika, auch in Namibia und Angola beheimatet. Eine exakte phylogenetische Einordnung von Parabuthus transvaalicus wird hier aufgezeigt. Quellenangaben Literatur Dave Gaban: Gaban's scorpion tales. On: Parabuthus transvaalicus (Purcell). Forum of the American Tarantula Society, 6 (5), 1997, S. 157–158. Dieter Mahsberg, Rüdiger Lippe, Stephan Kallas: Skorpione. Münster 1999. ISBN 3-931587-15-0 Eliahu Zlotkin, François Miranda, Hervé Rochat: Venoms of Buthinae. C, Chemistry and pharmacology of Buthinae scorpion venoms. 1976, S. 317–369. In: Sergio Bettini (Hrsg.): Arthropod Venoms. Handbuch der experimentellen Pharmakologie 48, Springer-Verlag: Berlin 1978. ISBN 978-3-642-45503-2 (Druck), ISBN 978-3-642-45501-8 (Online) Gerald Newlands: The venom-squirting ability of Parabuthus scorpions (Arachnida: Buthidae). South African Journal of Medical Sciences 39, 1974, S. 175–178. Giorgio Molisani: Parabuthus transvaalicus. In: Reptilia. Wüstenskorpione 53, 2005, S. 37–39. Giorgio Molisani: Haltung und Zucht von Parabuthus transvaalicus Purcell. 1899. In: Arachne 10 (6), 2005, S. 4–10. Lorenzo Prendini: Phylogeny of Parabuthus (Scorpiones, Buthidae) (PDF; 1,3 MB). Zoologica Scripta 30(1), 2001, S. 13–35. Lorenzo Prendini: The systematics of southern African Parabuthus (PDF; 3,5 MB). The Journal of Arachnology 32, 2004, S. 109–186. Manny Rubio: Scorpions – A complete pet owner's manual. Barrons, New York 2000, S. 2–95. ISBN 0764112244 Nils Johannes Bergman: Clinical description of Parabuthus transvaalicus scorpionism in Zimbabwe. In: Toxicon 35 (5), 1997, S. 759–771. William Frederick Purcell: New South African scorpions in the collection of the South African Museum. Annals of the South African Museum 1, 1899, S. 433–438. Weblinks Arten der Gattung Parabuthus Allgemeine Informationen (englisch) Bilder zu Parabuthus transvaalicus Buthidae (Familie) Buthidae
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weihrauchzeder
Weihrauchzeder
Die Weihrauchzeder, Kalifornische Weihrauchzeder oder Kalifornische Flusszeder (Calocedrus decurrens) bildet eine der vier Arten der Gattung der Weihrauchzedern (Calocedrus). Kennzeichen dieser Art sind die aus sechs Schuppen aufgebauten, länglichen, einjährigen Zapfen, die Thujen-ähnlichen Zweige und die orangefarbene, längsrissige Borke älterer Bäume. Die Weihrauchzeder fällt durch mächtige, säulenartige Stämme auf, im Freistand zudem durch schmale, bis zum Boden reichende dichte Kronen. Das natürliche Verbreitungsgebiet umfasst die US-amerikanischen Bundesstaaten Kalifornien und Oregon sowie den mexikanischen Bundesstaat Baja California. Die Weihrauchzeder ist in den Vereinigten Staaten Hauptlieferant für Holz, das zur Herstellung von Bleistiften verwendet wird. Beschreibung Erscheinungsbild Die Kalifornische Weihrauchzeder ist ein immergrüner Baum und erreicht Wuchshöhen von 60 und mehr Metern, als Maximum werden 69 Meter angegeben. In großen Höhenlagen bleiben die Bäume klein oder wachsen strauchartig. Es werden Stammdurchmesser von 3 bis 4,5 Metern erreicht, wobei die Stammbasis häufig durch Wurzelansätze verbreitert ist. Der Stamm älterer Bäume wird von einer etwa 15 Zentimeter dicken, fasrigen, orange- bis zimtfarbenen und tief längsgefurchten Borke bedeckt, die sich in dünnen Platten ablösen kann. Die Farbe ähnelt der des Riesenmammutbaums (Sequoiadendron giganteum), die Borke hat aber nicht dessen schwammartige Struktur. Die Äste im unteren Teil des Baums biegen sich bogenförmig herab, im oberen Teil der Krone stehen sie steil aufrecht. Die eher kurzen und kräftigen Äste der Kronenmitte stehen meist waagrecht, können jedoch abrupt nach oben abbiegen. Oft wachsen bei alten Bäumen dicke Äste parallel zum Stamm. Von den Hauptästen abgehende Äste sind im unteren Teil hängend und formen eine säulenförmige bis pyramidenförmige, später eine kuppelförmige oder offene Krone. Junge Weihrauchzedern haben einen breit dreieckigen Umriss und ähneln damit jungen Exemplaren des Riesenmammutbaums. Die belaubten Zweige wachsen dicht, waagrecht und nahe der Spitze aufrecht. Sie sind zum Ende hin abgeflacht und mit grünen Blättern bedeckt. Seitliche Zweige fallen nach zwei bis drei Jahren ab. Junge Triebe sind fächerförmig, ihre Rinde wird nach zwei Jahren rötlich. Blätter Wie andere Zypressengewächse bildet die Kalifornische Weihrauchzeder keine Winterknospen, die Sprossspitze wird stattdessen durch dicht anliegende Blätter geschützt. Die schuppenförmigen Blattorgane stehen kreuzgegenständig in vierzähligen Wirteln aus zwei seitlichen Kantenblättern und zwei frontalen Flächenblättern. Die Kantenblätter sind herablaufend, gekielt, linealisch-lanzettförmig und haben eine leicht gebogene Spitze. Sie überdecken teilweise die etwas kürzeren und breit spatelförmigen Flächenblätter. Die Spitzen der Kanten- und Flächenblätter liegen dabei immer auf gleicher Höhe, was als ein Kennzeichen der Art gilt. Die Blätter haben unterschiedliche Größen, sie sind etwa 2 Millimeter lang und 1,5 Millimeter breit an den äußersten Zweigen und 15 Millimeter lang und 3 Millimeter breit an jungen Trieben. Die Blätter sind ganzrandig und zeigen auf beiden Seiten Spaltöffnungen. Die Kantenblätter haben auf der Oberseite zwei schmale Spaltöffnungsstreifen und mehrere auf der Unterseite. Die Spaltöffnungen der Flächenblätter sind auf die Seiten beschränkt und in Rillen zwischen den Blättern verborgen. Drüsen sind nur schwach entwickelt, am deutlichsten an der Spitze der Flächenblätter. Die sichtbaren Oberflächen der Blätter sind meist hellgrün, selten dunkelgrün. Die Blätter bleiben zwei bis drei Jahre am Baum. Sie riechen beim Zerreiben aromatisch nach Terpentin. Zapfen und Samen Die Kalifornische Weihrauchzeder ist einhäusig getrenntgeschlechtig (monözisch), männliche und weibliche Zapfen wachsen sogar am selben Ast. Die männlichen Pollenzapfen sind länglich, 6 bis 8 Millimeter lang, 2 bis 3 Millimeter breit, anfangs hellgelb, später braun und stehen einzeln an den Enden kurzer, mehr oder weniger hängender Zweige. Sie besitzen 10 bis 14 kreuzgegenständig angeordnete, schildförmig-rundliche, spitzige Mikrosporophylle mit gezähntem Rand und je drei bis vier abaxiale Pollensäcken. Die Pollen werden im Winter abgegeben, durch den Wind verbreitet und können Heuschnupfen verursachen. Durch die große Zahl an männlichen Zapfen wirken die Bäume im Winter gelblich. Die weiblichen Blütenzapfen wachsen oft in großer Zahl ebenfalls einzeln und endständig an mehr oder weniger hängenden Zweigen. Sie sind eiförmig-länglich oder im geschlossenen Zustand länglich, manchmal nur 15 meist 20 bis 35 Millimeter lang, 8 bis 13 Millimeter breit, glatt oder gefurcht. Sie reifen nach einem Jahr, färben sich dann rotbraun und fallen bald ab. Einige Zapfen können jedoch auch nach der Abgabe der Samen bis zum nächsten Sommer am Baum bleiben. Die drei, selten vier Paar Deckschuppen wachsen kreuzgegenständig. Das erste, nahe der Basis stehende Paar entwickelt sich nicht vollständig, hat zurückgebogene Deckschuppen und bleibt unfruchtbar. Das mittlere, fruchtbare Paar steht waagrecht weit ab. Es ist etwas eingebogen, außen konvex, mit einer kleinen Kuppe nahe der Spitze und zwei angedrückten Samenanlagen an der Basis jeder Schuppe. Das äußere Paar ist unfruchtbar, gerade, seitlich abgeflacht mit zwei kleinen Samenanlagen und Kuppen auf den Deckschuppen. Die mittleren und äußeren Deckschuppen sind 18 bis 30 Millimeter lang und 8 bis 13 Millimeter breit, hellbraun und innen runzelig. Die Samen sind länglich, leicht abgeflacht, zur Spitze hin zugespitzt, 8 bis 12 Millimeter lang, 3 bis 4 Millimeter breit, hell weißlich-braun und mit zwei ungleichen Flügeln versehen. Der größere Flügel ist 18 bis 23 Millimeter lang, der kleinere bildet einen Streifen mit freier Spitze. Die Samen werden vom Wind verbreitet. Das Tausendkorngewicht beträgt im Mittel 30 Gramm und variiert von 16 bis 70 Gramm. Blütezeit ist im Januar, die Abgabe der Samen beginnt Ende August in tiefen Lagen und im Oktober in höheren Lagen. Sie dauert bis in den Winter an. Die Bäume sind nach etwa 25 Jahren mannbar, alle drei bis sechs Jahre wird eine größere Zahl an Zapfen gebildet. Wurzeln Das Wurzelsystem ist weitverzweigt, gut entwickelt und macht den Baum sturmfest und dürreresistent. Die Wurzeln bleiben jedoch im ersten Jahr mit etwa 30 Zentimetern kürzer als bei der Gelb-Kiefer (Pinus ponderosa) oder der Zucker-Kiefer (Pinus lambertiana), was einen Konkurrenznachteil während sommerlicher Trockenperioden darstellt, aber im zweiten und dritten Jahr wieder ausgeglichen wird. Das Wachstumsmaximum liegt im Frühjahr und ein weiteres Maximum im Herbst. Aufgrund der Trockenheit ist das Wurzelwachstum während des Sommers gering. Rasch wachsende Wurzeln verzweigen sich kaum, erst wenn das Längenwachstum abnimmt, entstehen zahlreiche Seitenwurzeln. Chromosomenzahl Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 22. Verbreitung und Standortansprüche Das natürliche Verbreitungsgebiet ist auf den pazifischen Westteil der Vereinigten Staaten und Mexikos beschränkt und erstreckt sich vom Mt. Hood in Oregon entlang der Kaskadenkette über die Siskiyou Mountains, der Sierra Nevada bis zur Sierra San Pedro Mártir im mexikanischen Bundesstaat Baja California. Hauptverbreitungsgebiet ist der zentrale Bereich der Sierra Nevada in Höhenlagen von 1000 bis 2000 Metern. Im Nordteil des Verbreitungsgebiets kommt die Baumart hauptsächlich in Höhenlagen zwischen 300 und 2000 Metern vor, im Südteil in Höhenlagen zwischen 900 und 3000 Metern. Das Verbreitungsgebiet reicht vom Nebelgürtel am Pazifik bis zum semiariden Osten von Oregon. Die Jahresniederschlagsmenge variiert zwischen 500 und 2000 Millimeter, die zum Teil als Schnee fallen. In extremen Jahren fällt die Niederschlagsmenge auf unter 400 Millimeter und auf Monatswerte unter 25 Millimeter. Trockene Sommer mit weniger als 25 Millimeter im Monat sind häufig. Extremtemperaturen sind −34 Grad Celsius und +48 Grad Celsius. Optimale Lagen in der Sierra Nevada haben eine mittlere August-Temperatur von etwa 21 Grad Celsius, durchschnittlich 158 frostfreie Tage und eine Vegetationsperiode von 180 Tagen im Jahr. Die Weihrauchzeder wächst auf neutralen bis stark sauren Böden, auf groben Sanden und schweren Tonen. Ausgangsgesteine sind unter anderen Diorit, Peridotit, Sandstein, Serpentin und Granit. Auf kalkreichen Böden ist sie selten. Staunasse Lagen werden gemieden. Die Kalifornische Weihrauchzeder wird in der Roten Liste der IUCN als nicht gefährdet () geführt. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass eine neuerliche Überprüfung der Gefährdung nötig ist. Ökologie Vergesellschaftung Die Kalifornische Weihrauchzeder tritt einzeln oder in kleinen Gruppen in von Nadelbäumen geprägten Mischwäldern auf, bildet jedoch keine Reinbestände. Dabei trägt sie in typischen Urwäldern selten mehr als zehn Prozent zum Bestandsvolumen bei. Im nördlichen Teil des Verbreitungsgebiets findet man sie typischerweise zusammen mit der Jeffreys Kiefer (Pinus jeffreyi), der Gelb-Kiefer (Pinus ponderosa), der Zucker-Kiefer (Pinus lambertiana), der Westlichen Weymouths-Kiefer (Pinus monticola), der Küsten-Tanne (Abies grandis), mit der Sierra-Form der Kolorado-Tanne (Abies concolor var. Iowiana), der Westamerikanischen Hemlocktanne (Tsuga heterophylla), dem Riesen-Lebensbaum (Thuja plicata), der Douglasie (Pseudotsuga menziesii) und der Oregon-Eiche (Quercus garryana). Im mittleren und südlichen Teil des Verbreitungsgebiets bildet sie Gemeinschaften mit Pracht-Tanne (Abies magnifica), Küsten-Kiefer (Pinus contorta), Coulter-Kiefer (Pinus coulteri), mit der Großzapfigen Douglasie (Pseudotsuga macrocarpa) und der Kalifornischen Schwarzeiche (Quercus kelloggii). Gebietsweise findet man sie auch zusammen mit dem Riesenmammutbaum (Sequoiadendron giganteum) und der Lawsons Scheinzypresse (Chamaecyparis lawsoniana). Daneben gedeihen als Sträucher die Bärentraube Arctostaphylos patula, Chrysolepis sempervirens und verschiedene Säckelblumen-Arten. Die Kalifornische Weihrauchzeder ist eine Halbschattenart, die auf feuchten Böden auch starke Beschattung verträgt. In der Sierra Nevada verdrängt sie zusammen mit der Kolorado-Tanne (Abies concolor) lichtbedürftigere Arten wie die Gelb-Kiefer (Pinus ponderosa) und die Zucker-Kiefer (Pinus lambertiana), die jedoch in Bestandslücken und auf Brandflächen wieder fußfassen. Wachstum Die Kalifornische Weihrauchzeder erreicht ein hohes Alter von 300 bis 500 Jahren, auch ältere Bäume mit einem Alter bis 1000 Jahre sind belegt. Sie zählt jedoch zu den eher langsam wachsenden Bäumen. In einem jungen Mischwald in der Sierra Nevada wurde ein durchschnittlicher jährlicher Durchmesserzuwachs von 81 Millimetern gemessen mit einem mittleren Höhenzuwachs von 30 Zentimetern. In einem Alter von 90 Jahren liegt der Durchmesserzuwachs bei 36 Millimetern und der Höhenzuwachs bei 20 Zentimetern. Die Kalifornische Weihrauchzeder bildet in Wäldern meist nur mittelhohe Bäume, wobei die erreichbare Wuchshöhe in Abhängigkeit vom Verbreitungsgebiet variiert. Unter schlechten Bedingungen übertreffen allein stehende Vertreter der Art alle anderen Bäume außer die Kolorado-Tanne (Abies concolor), unter günstigeren Bedingungen fällt sie im Wachstum hinter andere Arten zurück, und wird durch die Beschattung zusätzlich im Wachstum behindert. In den Kalifornischen Küstengebirgen liegt daher die durchschnittliche Wuchshöhe zwischen 18 und 24 Metern, im Gebiet der Sierra Nevada werden Höhen von oft über 40 Meter erreicht. Sie vermehrt sich unter natürlichen Bedingungen nicht vegetativ. Die Samen keimen epigäisch und erreichen im ersten Jahr 5 bis 10 Zentimeter Höhe. Es gibt meist zwei, seltener drei, nadelförmige Keimblätter, die 2,5 Zentimeter lang sind. Auf diesen folgen zuerst nadelförmige und später pfriemliche Primärnadeln. Die schuppenförmigen Folgeblätter entstehen erst ab dem ersten Jahr. Meist entwickeln sich junge Bäume sehr langsam, oft wird in den ersten drei bis fünf Jahren nur ein Höhenwachstum von 8 bis 15 Zentimeter erreicht. Ursachen dafür sind Lichtmangel, Verbiss und Raupenfraß. Der Frühjahrsaustrieb erfolgt nicht abrupt, sondern ist ein eher kontinuierlicher Wachstumsprozess, weshalb auch keine Jahresgrenzen an den Trieben sichtbar sind. Meist setzt das jährliche Dickenwachstum vor dem Höhenwachstum ein. Krankheitserreger, Parasiten und Schadwirkungen Der wichtigste Stammfäuleerreger ist der nur an der Weihrauchzeder vorkommende Weißporling Tyromyces amarus, andere Pilze können die im Holz vorhandenen Abwehrstoffe kaum überwinden. Bei Befall entstehen zahlreiche taschenförmige Faulstellen, welche die Stabilität des Stammes stark vermindern und damit die technische Verwertbarkeit ausschließen. In der Sierra Nevada sind über drei Viertel der Bäume von diesem Erreger befallen. Da starke Schäden erst bei Bäumen über 200 Jahren auftreten, sind jedoch die Auswirkungen auf Wirtschaftswälder mit deutlich kürzeren Umtriebszeiten gering. Weniger bedeutende Stammfäuleerreger sind der Kiefern-Braunporling Phaeolus schweinitzii und der Kiefern-Feuerschwamm Phellinus pini. Ausfälle verursachen auch Wurzelpathogene wie der Gemeine Wurzelschwamm (Heterobasidion annosum), der Porenschwamm Poria weirii und der Gemeine Hallimasch (Armillaria mellea). Der rindenbewohnende Rostpilz Gymnosporangium libocedri verursacht Triebanschwellungen und Hexenbesenbildung und bringt auch einzelne Zweige zum Absterben. Dabei handelt es sich um einen wirtswechselnden Pilz, der als Zwischenwirte Rosengewächse (Rosaceae) wie Weißdorn- (Crataegus) und Felsenbirnenarten (Amelanchier) nutzt. Weitere Erreger sind der Schwarze Schneeschimmel (Herbotrichia nigra) und der Rindennekrosen verursachende Seiridium cardinale, der Auslöser des Zypressensterbens. Weit verbreitet und auffallend ist der mistelähnlich wachsende Halbparasit Phoradendron juniperinum subsp. libocedri, der Anschwellungen und auch Kronenverlichtung durch Zweigverlust hervorruft. Obwohl er ein Alter von bis zu 400 Jahren erreichen kann, sind die verursachten Schäden gering. An der Weihrauchzeder leben eine große Zahl von Insekten, schaden können fast nur Borkenkäfer der Gattung Phloeosinus, welche bei Massenvermehrung auch gesunde Bäume angreifen. Raupen aus der Familie der Eulenfalter (Noctuidae) setzen vor allem jungen Bäumen zu. Bodenfeuer zerstört den Jungwuchs und ruft Stammwunden an älteren Bäumen hervor und damit Eingangspforten für Tyromyces amarus. Die Weihrauchzeder ist weitgehend unempfindlich gegen Hagelschlag und Ozon, wird jedoch stark durch Auftausalze geschädigt. Systematik Die Kalifornische Weihrauchzeder (Calocedrus decurrens) ist eine von vier Arten aus der Gattung der Weihrauchzedern (Calocedrus) in der Familie der Zypressengewächse (Cupressaceae). Dort wird die Gattung der Unterfamilie Cupressoideae zugeordnet. Die Art wurde von John Torrey 1853 in Smithsonian Contributions to Knowledge als Libocedrus decurrens (Basionym) erstbeschrieben und den Schuppenzedern (Libocedrus) zugerechnet. Carl Rudolf Florin stellte die Art 1956 in Taxon in die Gattung Calocedrus. Der Gattungsname Calocedrus leitet sich von griechisch kalos für „schön“ und lateinisch cedrus wahrscheinlich für den Stech-Wacholder (Juniperus oxycedrus) oder einer anderen Art mit duftendem Holz ab. Cedrus ist auch der Gattungsname der Zedern. Das Artepitheton decurrens stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „herablaufend“, es beschreibt damit die Form der Schuppenblätter. Es werden keine Unterarten oder Varietäten unterschieden. Die genetische Diversität zwischen unterschiedlichen Herkunftsgebieten und unterschiedlichen Populationen ist etwa gleich groß, trotz geringerem Höhenwachstums und geringeren Astlängen von Vertretern aus dem südlichen Verbreitungsgebiet. Die innerspezifische Differenzierung beschränkt sich auf gärtnerische Zuchtformen. Artbastarde der Weihrauchzeder sind nicht bekannt. Verwendung Holznutzung Das relativ leichte Holz hat einen rötlichbraunen, im Gegensatz zum Lebendholz gegen Fäulniserreger widerstandsfähigen Farbkern und einen schmalen, cremig-weißen bis gelblichen Splint. Die Jahresringe sind gut erkennbar, haben nur eine schmale Spätholzzone und verlaufen oft wellig. Tracheiden machen etwa 80 % des Holzgewebes aus. Sie haben Längen von 900 bis 3000 Mikrometer und im Spätholz eine Wandstärke von 4,8 bis 9,9 Mikrometer. Die Holzstrahlen sind 9 bis 16 Mikrometer breit und 40 bis 275 Mikrometer hoch. Harzkanäle fehlen. Das Holz ist leicht und sehr dauerhaft, hat eine gleichmäßige Textur und lässt sich leicht spalten, nageln und schrauben. Es riecht intensiv nach Weihrauch. Die wirtschaftliche Bedeutung ist jedoch verglichen zu anderen Arten gering, da die Weihrauchzeder in natürlichen Wäldern nur vereinzelt oder in kleinen Gruppen vorkommt. Außerdem wird das Holz häufig durch einen Stammfäule-Erreger entwertet. Die größte wirtschaftliche Bedeutung hat die Herstellung von Bleistiften, denn das Holz ist weich, geradfaserig und neigt nicht zum Splittern. Es lässt sich in jeder Richtung gut spitzen. Das Holz wird dabei durch Fällen einer geringen Zahl einzelner Bäume gewonnen. In den Vereinigten Staaten ist die Weihrauchzeder die Hauptquelle für das Holz von Bleistiften. Das trockene, verbaute Holz ist trotz des häufigen Befalls durch den Pilz Tyromyces amarus resistent gegen Fäule, auch bei Bodenkontakt und in feuchten Lagen. Es wird daher für Fenster, Zäune, Masten, Schindeln, Eisenbahnschwellen oder auch Gewächshaustische eingesetzt. Aufgrund des angenehmen Geruchs wird es im Innenausbau und zur Herstellung von Truhen verwendet. Weitere Verwendungsmöglichkeiten Im Widerspruch zu ihrem Namen und trotz der wohlriechenden Belaubung wird die Weihrauchzeder nicht als Räucherwerk verwendet. Sie wird jedoch als Zierpflanze in Parks und Gärten kultiviert, so in West- und Mitteleuropa. In Deutschland findet man sie beispielsweise im Botanischen Garten Bonn, im Botanischen Garten Frankfurt, im Botanischen Garten Freiburg und im Botanischen Garten Kiel. In Österreich steht eine Weihrauchzeder in Wien im Burggarten, einem kleinen Forst etwa 35-jähriger Bäume (Stand 2006) gibt es in Zelking-Matzleinsdorf. In der Schweiz gibt es ein Exemplar im Botanischen Garten Basel. Es gibt mehrere gärtnerische Zierformen, darunter die Sorten: 'Compacta' 'Nana' 'Glauca' mit blaugrünen Schuppenblättern 'Aureovariegata' mit goldgelben Zweigen 'Horizontalis' mit waagrecht abstehenden Ästen 'Columnaris' ein schlanksäulige Sorte, die gärtnerisch häufig verwendet wird. Anzucht, Vermehrung und Anbauversuche Die Zapfenernte erfolgt meist händisch, danach werden die Zapfen bei trockenem und warmen Wetter drei bis sieben Tage zum Trocknen ausgelegt, bis sich die Samen leicht vom geöffneten Zapfen lösen. Dabei erhält man aus einem Hektoliter an Zapfen etwa 3,75 Kilogramm Samen, die bei Kälte und Trockenheit etwa zwei Jahre gelagert werden können. Die Aussaat erfolgt meist im Herbst, wobei die Keimlinge vor Spätfrost geschützt werden müssen. Bei der Aussaat im Frühjahr müssen die Samen zuvor 30 bis 60 Tage lang kältebehandelt werden. Die mittlere Keimrate liegt sowohl in der Baumschule als auch im natürlichen Bestand bei etwa 20 bis 40 Prozent. Die Weihrauchzeder vermehrt sich unter natürlichen Bedingungen nicht vegetativ, Stecklinge können jedoch mit Wuchsstoff behandelt werden und wurzeln dann auch. Bei Anbauversuchen in Deutschland erreichten 50- bis 80-jährige Bäume eine Höhe von 16 bis 26 Metern und ertrugen Wintertemperaturen von −20 Grad Celsius. Freilandversuche im Bundesstaat New York im Nordosten der Vereinigten Staaten waren jedoch aufgrund von Kälteschäden weniger erfolgreich. Verwendung bei den Indianern Eine Reihe von Anwendungen bei den indigenen Völkern sind bekannt: Die Borke diente beispielsweise den Cahuilla als Material zum Bau ihrer Hütten, auch die ersten weißen Siedler verwendeten die Borke noch zur Errichtung von Hüttendächer. Die Klamath im heutigen Oregon verwendeten die Äste und Zweige für Dampfbäder und das Holz zur Herstellung von Körben. In Kalifornien wurden Abkochungen der Blätter von den Indianern gegen Magenbeschwerden und die Blätter selbst zur Geschmacksverbesserung von Gerichten aus Eicheln verwendet. Die Paiute verwendeten den Dampf, der beim Aufguss der Blätter entsteht, zum Inhalieren bei Erkältungskrankheiten und die Rinde zur Herstellung von Körben, die beim Sammeln von Schwarzbeeren verwendet wurden. Die Washoe stellten aus dem Holz Bögen her. Literatur Peter Schütt und Ulla Lang: Calocedrus decurrens. In: Robert F. Powers, William W. Oliver: Incense-Cedar. In: Andreas Roloff, Andreas Bärtels: Flora der Gehölze. Bestimmung, Eigenschaften und Verwendung. Mit einem Winterschlüssel von Bernd Schulz. 3., korrigierte Auflage. Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim) 2008, ISBN 978-3-8001-5614-6, S. 716. Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Nikol, Hamburg 2005, ISBN 3-937872-16-7, S. 118, 137, 201 (Nachdruck von 1996). Weblinks Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Einzelnachweise Zypressengewächse Baum Holzart
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Nationaltheatret
Das Nationaltheatret (deutsch „Nationaltheater“) wurde 1899 in Oslo eröffnet und ist das größte Sprechtheater Norwegens. Mit seinen Klassikerinszenierungen – vor allem der Stücke Henrik Ibsens – ist es international bekannt geworden. Besonders in den 1960er und 1970er Jahren und seit etwa 1990 hat das Nationaltheatret auch systematisch die Gegenwartsdramatik gefördert. Das vom Architekten Henrik Bull entworfene Theatergebäude steht seit 1983 unter Denkmalschutz. Name Ihren Namen bekam die neue Hauptbühne Oslos erst während der Bauphase in den 1890er Jahren. Seit der Einweihung des Gebäudes befindet sich unter dem Tympanon der Frontseite der Schriftzug Nationaltheater. Parallel dazu gelangte die bestimmte Form des Wortes (d. h. Nationaltheatret, auch National-Theatret) rasch in Umlauf. Nach der norwegischen Rechtschreibreform von 1917, die darauf abzielte, die Orthografie stärker der mündlichen Aussprache anzupassen, hätte das Haus eigentlich in Nasjonalteater bzw. Nasjonalteatret umgetauft werden müssen, analog zur benachbarten, schon seit 1842 existierenden Nasjonalgalleriet. Offenbar lag der Leitung des Theaters jedoch daran, für das damals erst 18 Jahre alte Haus die ehrwürdigere und Tradition verheißende Bezeichnung Nationaltheatret beizubehalten. Die zunächst wichtigste Aufgabe der Kulturinstitution, die darin bestanden hatte, die Bevölkerung mit der noch jungen, nach Selbständigkeit von Schweden drängenden Nation zu identifizieren, erhielt dadurch einen Anstrich von Feierlichkeit. Geschichte Das Christiania Theater Die Geschichte des Hauses geht auf das vom Architekten Christian Heinrich Grosch erbaute Christiania Theater zurück, das sich seit 1837 am Bankplassen befand und unmittelbar vor der Eröffnung des Nationaltheatret geschlossen wurde. Aufgrund der über 400 Jahre währenden politischen und kulturellen Abhängigkeit Norwegens von Dänemark (1380–1814) galt die norwegische Sprache zunächst noch als unfein und ungehobelt. Vereinzelte Versuche, Norwegisch als Bühnensprache zu etablieren, stießen auf breite Ablehnung der gebildeten Osloer Bürger, die sich von dem so bezeichneten „Rinnstein“-Idiom heftig distanzierten. Folglich waren in den ersten Jahrzehnten überwiegend dänische Schauspieler am Christiania Theater beschäftigt, die mehrheitlich dänische Dramen und Vaudevilles zur Aufführung brachten. Erst ab den 1860er Jahren, nachdem die Bühne eine Fusion mit dem Kristiania Norske Theater eingegangen war, hielt die norwegische Sprache allmählich Einzug auf der Bühne, und es wurden immer häufiger norwegische Stücke inszeniert. Der Trend vollzog sich parallel zur Genese eines neuen patriotischen Bewusstseins, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Wunsch nach voller Unabhängigkeit entstehen ließ und die Personalunion mit Schweden (1814–1905) zunehmend in Frage stellte. Eröffnung 1899 An diese Entwicklung schloss das Nationaltheatret konsequent an. Es wurde im September 1899 mit gleich drei Festvorstellungen eröffnet: am ersten Abend (1. September) wurden Auszüge aus zwei Komödien von Ludvig Holberg gespielt, am zweiten Abend (2. September) ging Henrik Ibsens Schauspiel Ein Volksfeind über die Bühne, am dritten Abend schließlich (3. September) stand Bjørnstjerne Bjørnsons Kreuzfahrer-Drama Sigurd Jorsalfar auf dem Programm. Zu den Höhepunkten dieses dritten Tages zählte, dass Edvard Grieg die Aufführungsfassung seiner bekannten Bühnenmusik zu Bjørnsons Stück selbst dirigierte. An allen drei Abenden waren Bjørnson und Ibsen persönlich anwesend, am ersten auch der schwedisch-norwegische König Oskar II. Das Nationaltheatret entstand auf private Initiative und wurde zunächst mit rein privaten Mitteln betrieben. Schon 1906, ein Jahr nach der inzwischen erfolgten Unabhängigkeit Norwegens von Schweden, erlebte es seine erste ökonomische Krise. Erst 1927 jedoch gewährte die Stadt Oslo der Bühne einen Zuschuss von relativ bescheidenen 123.000 Kronen. Der norwegische Staat beteiligte sich erstmals 1933 mit einer kleinen Summe an den Kosten, die seitdem jedoch kontinuierlich anstieg. In den 1970er Jahren deckten die Zuwendungen der öffentlichen Hand zeitweise 94 % des Etats ab. Diese Rekordhöhe wurde seitdem allerdings nie wieder erreicht. Die ersten Intendanten Der erste Intendant des Hauses war Bjørn Bjørnson, ein Sohn des Dramatikers Bjørnstjerne Bjørnson, der seine umfassende Theaterausbildung unter anderem am Burgtheater in Wien erhalten hatte. Für eine Art Goldenes Zeitalter der neuen Bühne sorgten seine Nachfolger: der norwegische Autor Vilhelm Krag und der Schauspieler und Regisseur Halfdan Christensen. Das Projekt der Nationenbildung trat vorübergehend in den Hintergrund, so dass ausländische Gegenwartsdramatik stärker Fuß zu fassen begann. Standen während des Ersten Weltkrieges noch überwiegend deutsche und französische Lustspiele auf dem Programm, wurde das Repertoire nach 1918 ernster. Stücke des lange vernachlässigten schwedischen Ibsen-Rivalen August Strindberg gelangten nun ebenso auf die Bühne wie sozialkritische Dramen von George Bernard Shaw oder Arthur Schnitzler. Die Zeit zwischen etwa 1908 und 1933 war nicht zuletzt von Darbietungen großer Schauspieler geprägt, die vereinzelt auch als Regisseure tätig waren. Namen wie Hauk Aabel, August Oddvar, Egil Eide, Ingolf Schanche oder Ragna Wettergreen sind noch heute jedem norwegischen Theaterliebhaber geläufig. Die bedeutendste Schauspielerin dieser Periode war jedoch ohne Zweifel Johanne Dybwad, nach der seit 1989 der Platz vor dem Theatergebäude benannt ist. Ihre Popularität war so groß, dass ihr alle Intendanten bedeutende Privilegien einräumten. Sie konnte zeitweise selbst bestimmen, welche Stücke inszeniert und welche Schauspieler eingesetzt wurden. 1908 besetzte sich die damals schon 41-jährige Diva als Hedvig in Ibsens Die Wildente – ungeachtet der Tatsache, dass die Rollenfigur in dem Stück gerade erst ihren 14. Geburtstag feiert. Das Nationaltheatret während der Besatzungszeit Am 9. April 1940 wurde das Theater nur wenige Stunden nach der Okkupation Norwegens durch deutsche Truppen vorübergehend in eine Kaserne für Hitlers Soldaten verwandelt. Später erzwang die Besatzungsmacht mehrfach Gastspiele deutscher Theater, die Wagner-Opern, Wiener Operetten und deutsche Klassiker aufführten. Der deutschfreundliche Schauspieler Gustav Berg-Jæger löste den Intendanten Axel Otto Normann ab. Im Mai 1941 verhörte die Gestapo sechs Schauspieler, die im Verdacht standen, Widerstandsaktionen vorzubereiten – mit dem Resultat, dass ihnen mit sofortiger Wirkung untersagt wurde, ihren Beruf weiter auszuüben. Daraufhin traten viele ihrer Kollegen, trotz massiver Drohungen des Reichskommissars Josef Terboven, in einen Streik, der kurz darauf auch die Bühnen in Bergen und Trondheim erfasste. Am 24. Mai 1941 wurden 13 Schauspieler des Nationaltheatret verhaftet und erst zwei Wochen später, nach etlichen Verhandlungen, wieder auf freien Fuß gesetzt. Nach der Sommerpause dieses Jahres nahmen die Schauspieler auf nachdrückliche Anordnung der Besatzungsmacht ihre Arbeit wieder auf. Im Oktober 1943 gerieten bei einer Sabotageaktion, die von der norwegischen Widerstandsbewegung koordiniert worden war, das Bühnenhaus, der Schnürboden und das Dach des Theaters in Brand. Das Nationaltheatret war daraufhin monatelang nicht bespielbar; die Proben und Vorstellungen mussten in das Gebäude von Det Nye Teater (Das Neue Theater) verlegt werden. Theaterbrand 1980 Ein weiterer verheerender Brand, der die Theaterleitung zu allerlei Improvisationen zwang, ereignete sich am 9. Oktober 1980. Das Feuer brach gegen 21 Uhr während einer Vorstellung der Komödie Der Eisvogel von William Douglas Home aus. Die grande dame des Theaters, die Schauspielerin Wenche Foss, teilte dem verdutzten Publikum von der Bühne herab mit, dass es das Theater auf direktem Weg zu verlassen habe. Auf der sogenannten Amfiscenen (Amphibühne) über dem Hauptsaal ging die Vorstellung des Abends unterdessen zunächst noch weiter; die Zuschauer und Schauspieler hatten den rasch ausgelösten Alarm zwar wahrgenommen, aber vermutet, dass in einem anderen Teil des Gebäudes eine Brandübung stattfinde. Mit roher Muskelkraft gelang es dem Inspizienten und einigen Bühnenarbeitern, den elektrisch nicht mehr zu bedienenden Eisernen Vorhang herunterzulassen, so dass die Flammen den Zuschauerraum der Hauptbühne nicht erreichen konnten. Niemand kam zu Schaden, das Bühnenhaus jedoch wurde komplett zerstört. Ein explodierter Scheinwerfer wurde später als Brandursache ausgemacht. Bis zur Wiedereröffnung des Theaters im August 1985, mit einer Produktion von Ibsens Peer Gynt, fanden die Vorstellungen in einem Zelt vor dem Theater oder auf kleineren Spielflächen im Haus statt. Profil Anfänge als Drei-Sparten-Theater In den ersten Jahren fungierte das Nationaltheatret nicht nur als Sprechtheater, sondern auch als Institution für Opern- und Operettenaufführungen. Die weltbekannte norwegische Sopranistin Kirsten Flagstad feierte hier 1913 ihre ersten Erfolge (als Nuri in Eugen d’Alberts Oper Tiefland). Vor allem in ökonomischen Notzeiten sorgten Inszenierungen z. B. von Franz Lehárs Die lustige Witwe für wichtige Einnahmen. Bis 1919 unterhielt das Theater ein eigenes Orchester, aus dem sich das heute noch existierende Oslo Filharmoniske Orkester entwickelte. Zwischen 1910 und 1922 war dem Theater darüber hinaus ein eigenes Ballettensemble angeschlossen. Erst im Lauf der zwanziger Jahre wurde aus dem klassischen Drei-Sparten-Haus (Schauspiel, Musik, Tanz) ein Sprechtheater. Holberg, Bjørnson, Ibsen Von Beginn an – und bis in die Gegenwart hinein – spielte das Werk der Autoren-Trias Holberg, Bjørnson und vor allem Ibsen eine große Rolle für das Repertoire des Nationaltheatret. Die Namen dieser oft so bezeichneten Säulen des Theaters prangen seit jeher an dessen Frontseite. Bjørnson Doppeldrama Über die Kraft I – II erlebte noch in der Eröffnungssaison seine norwegische Erstaufführung, ebenso wie zwei Jahre später sein Schauspiel Paul Lange und Tora Parsberg, das seit 1901 zum Kanon der Osloer Bühne gehört. Letzteres gilt auch für die Komödien Holbergs, die regelmäßig in den Spielplänen auftauchen. Sein wohl populärstes Werk, Jeppe vom Berge, wurde zwischen 1903 und 2003 auf höchst unterschiedliche Weise zehnmal inszeniert. Bereits im März 1900 produzierte das Theater Henrik Ibsens damals sehr umstrittenes Drama Gespenster, das nach jahrelangem Verbot zuvor erst zweimal in Norwegen aufgeführt worden war. In den ersten fünf Jahren nach der Eröffnung des Hauses hatte das Publikum nicht weniger als zwölf Ibsen-Premieren erleben dürfen; das Nationaltheatret schloss damit an die Tradition des Christiania Theater an, das nicht zuletzt durch nationale Erstaufführungen zahlreicher Dramen Ibsens bekannt geworden war. Noch während der Okkupationszeit galten Ibsen-Inszenierungen als Zankapfel. In einzelnen Fällen, z. B. anlässlich einer Produktion von Brand 1942, beriefen sich sowohl Funktionäre der Besatzungsmacht als auch Teile der Widerstandsbewegung auf den norwegischen Nationaldichter. Internationales Ibsen-Festival Da die Wirkung der Texte Ibsens bis in die Gegenwart anhält, entschloss sich der damalige Intendant Stein Winge im Jahr 1990, ein jährliches Internationales Ibsen-Festival am Nationaltheatret zu veranstalten. Interessante Ibsen-Produktionen aus vielen Ländern der Welt, so aus Dänemark, Schweden, Deutschland, Österreich, dem Baltikum, Frankreich, Großbritannien, den USA, ja selbst aus Burkina Faso, China, Iran oder Nepal wurden seitdem – jeweils zum Beginn der neuen Saison – nach Oslo eingeladen. Diesen Gastspielen werden regelmäßig mehrere Eigenproduktionen von Ibsen-Dramen gegenübergestellt. Seit 2002 findet das Festival in zweijährlichem Rhythmus statt. 2006, zum 100. Todestag Ibsens, waren 31 internationale Produktionen am Nationaltheatret sowie einigen kooperierenden Bühnen zu sehen. Begleitet werden die Festivals jeweils von internationalen Symposien zu Ibsens Dramatik. Weltweit dürfte sich keine andere Institution so sehr für das Werk des norwegischen Autors eingesetzt haben wie das Nationaltheatret; die Zahl entsprechender Aufführungen auf allen Bühnen des Hauses übersteigt inzwischen 3000. Gegenwartsdramatik Schon der erste Intendant Bjørn Bjørnson setzte sich sehr für die norwegische Gegenwartsdramatik seiner Zeit ein. So gelangten mehrere Stücke des damals renommierten Dramatikers Gunnar Heiberg zur Uraufführung am Nationaltheatret. Auch Schauspiele in der Minoritätensprache Nynorsk waren von Beginn an zu sehen, so etwa das überaus erfolgreiche Musiktheaterstück Fossegrimen von Sigurd Eldegard. Später jedoch erhielt die Nynorsk-Dramatik ihre Heimstatt am 1912 gegründeten Det Norske Teatret, auch wenn Nynorsk-Vorstellungen noch heute vereinzelt im Repertoire des Nationaltheatret zu finden sind. Eine besondere Nähe zum Zeitstück hatte der Intendant Arild Brinchmann, der die künstlerische Leitung der Bühne 1967 mit dem Anspruch übernahm, ein politisch radikales Theater zu präsentieren. In Form einer Gruppenarbeit und mit den ästhetischen Mitteln von Revue und Dokumentartheater entstand z. B. 1974 die Produktion Jenteloven (wörtlich: Das Mädchengesetz, in Anlehnung an Aksel Sandemoses Begriff Janteloven). Auf der Grundlage von Interviews wurde in dem Stück vor allem die Situation von Frauen am Arbeitsplatz beleuchtet. Arbeiten dieser Art trugen dem Intendanten heftige Kritik selbst von der staatlichen Aufsichtsbehörde ein. Brinchmanns Renommee als Theatermacher litt darunter jedoch kaum, zumal er dafür gesorgt hatte, das norwegische Publikum mit Dramatikern wie Samuel Beckett, Harold Pinter oder Peter Weiss vertraut zu machen. Daneben gelang es ihm, europaweit bekannte Regisseure wie Ingmar Bergman oder Hansgünther Heyme für einzelne Inszenierungen zu verpflichten. Das Theater hat seit Mitte der 1990er Jahre auch Anteil am internationalen Erfolg des norwegischen Dramatikers Jon Fosse, dessen Bühnenarbeiten weltweit rezipiert werden. Mehrere Fosse-Dramen, z. B. Das Kind (1996) und Traum im Herbst (1999), erlebten ihre Uraufführung am Nationaltheatret. Gleichzeitig standen Texte weiterer europäischer Gegenwartsdramatiker (z. B. von Sarah Kane, Michael Frayn, Robert Woelfl, Elfriede Jelinek oder Wassilij Sigarew) auf den Spielplänen. 2003 wurde erstmals das Samtidsfestivalen (Festival der Gegenwartsdramatik) ausgerichtet, das seitdem im alternierenden Rhythmus mit dem Internationalen Ibsen-Festival stattfindet. Gebäude und Bühnen Architektur Schon Ende der 1870er Jahre begannen die Planungen für einen Theaterneubau, der das Christiania Theater ersetzen sollte. Ein eigens ausgelobter Architekturwettbewerb brachte 14 Entwürfe zutage, von denen nach Ansicht der Jury zunächst keiner ganz zufriedenstellend war. Nach einigen Änderungen wurde der Vorschlag des damals erst 27-jährigen Architekten Henrik Bull, der sein Studium in Berlin absolviert hatte, angenommen. Der erste Spatenstich erfolgte im November 1891, doch wegen ständiger Finanzierungsprobleme und aufwendiger Fundamentierungsarbeiten in einem weitgehend sumpfigen Gelände wurde das neue Haus am Studenterlunden, unweit von Schloss, Storting und dem historischen Universitätsgelände an der Karl Johans gate, erst 1899 fertiggestellt. Bulls Entwurf orientierte sich an der damals gebräuchlichen deutschen Theaterarchitektur. Er kombinierte Elemente des Jugendstils, des Berliner Klassizismus jener Zeit und des Neorokoko miteinander und war auf ganzheitliche Wirkung angelegt. Das Interieur, z. B. die Einrichtung des Parketts und die Möblierung im Vestibül, sollte stilistisch mit dem Außeneindruck des Hauses harmonieren, wovon noch heute die erhalten gebliebene erste Stuhlreihe des Hauptsaales zeugt. An der Ausschmückung der Publikumsbereiche beteiligten sich neben Stuckateuren aus Deutschland und Italien zahlreiche bekannte norwegische Maler, z. B. Christian Krohg und dessen Sohn Per Krohg, Erik Werenskiold und Peder Severin Krøyer. Vor der Frontseite des Theaters befinden sich seit dessen Eröffnung zwei vom Bildhauer Stephan Sinding geschaffene Statuen der Dramatiker Bjørnstjerne Bjørnson und Henrik Ibsen. Sie stehen auf übereinandergeschichteten, kreisförmigen Fundamenten, die die Bevölkerung Oslos spöttisch als Käsesockel bezeichnet. An der Nordseite ist seit 1939 die Holberg-Statue des Bildhauers Dyre Vaa zu sehen. Neben Holberg stehen zwei seiner bekanntesten Bühnenfiguren: das aus der Commedia dell’arte entlehnte pfiffige Dienerpaar Henrik und Pernille. Letztere Figur ist Namenspatronin eines in unmittelbarer Nähe des Theaters gelegenen Freiluft-Restaurants, das traditionell ein Künstlertreffpunkt sowie der Mittelpunkt sogenannter Russfeiern ist. Hauptbühne Die von einem mächtigen Goldbogen umrahmte Hauptbühne von 1899, die nach diversen Umbauten und Modernisierungen noch heute genutzt wird, war als klassisches Guckkastentheater konzipiert. Ihr Orchestergraben bietet 45 Musikern Platz; schon seit 1917 ist sie drehbar. Ursprünglich war der Saal der Hauptbühne für 1268 Zuschauer ausgelegt; nach dem Bau der Amfiscenen in der Rundkuppel des Gebäudes finden noch 741 Besucher Platz in dem prachtvoll dekorierten Raum. Auf der Hauptbühne werden nationale wie internationale Klassiker, regelmäßig aber auch Kinder- und Jugendtheaterstücke, gespielt. Weitere Bühnen Als die Amfiscenen 1963 im dritten Stock des Hauses eröffnet wurde, war sie die erste norwegische Nebenbühne, die sich im Hauptgebäude eines Theaters befand. Nach Umbauten in den Jahren 1980 (im Anschluss an den Theaterbrand) sowie 1999 ist der Raum aufgrund einer flexiblen Bestuhlung sehr variabel nutzbar. Je nach Raumlösung fasst der kleine Saal bis zu 230 Besucher. Die Amfiscenen beheimatet Theaterliteratur aller Genres und wird gerne auch für Gastspiele zur Verfügung gestellt. 2004 zeigte dort z. B. das Ensemble Mabou Mines aus New York eine spektakuläre Adaption des Stückes Nora von Ibsen. 1983 wurde ein Teil der Werkstätten in den Osten Oslos verlegt. Seitdem fungiert der ehemalige Malersalen (Malersaal) des Theaters als weitere Spielfläche. Der intime Raum, für den maximal 60 Zuschauer pro Vorstellung vorgesehen sind, hat sich zu einem wichtigen Forum für die norwegische und internationale Gegenwartsdramatik entwickelt. Auch Lyrikabende oder Autorenpräsentationen finden hier gelegentlich statt. Eher sporadisch zum Einsatz kommt die Bakscenen (Hinterbühne), die nur dann bespielt werden kann, wenn sie nicht als Lagerstätte für Kulissen und Requisiten in Zusammenhang mit materialaufwendigen Inszenierungen auf der Hauptbühne benötigt wird. Torshovteatret Ebenfalls dem Nationaltheatret angeschlossen ist das 1977 gegründete Torshovteatret, das sich in einem 1928 erbauten ehemaligen Bibliotheksgebäude in der Vogts gate befindet. Es entsprach dem Zeitgeist jener siebziger Jahre, ein reines Stadtteiltheater in den östlichen, kulturell eher unterversorgten Bezirken Oslos zu etablieren. Mit einem dezidiert volkstümlichen, dabei aber politisch keineswegs indifferenten Programm sollte dem Institutionstheater ein neues Publikum jenseits des Bildungsbürgertums gewonnen werden. Den Schauspielern wiederum wurde ein größeres Mitbestimmungsrecht in allen Repertoirefragen zugestanden. Noch heute liegt die künstlerische Leitung in den Händen einer drei- bis vierköpfigen Schauspielergruppe, die über einen Zeitraum von zwei Jahren ein gemeinsames ästhetisches Konzept entwickelt und weitgehend selbständig über einen bestimmten Etat verfügt. Eröffnet wurde das Torshovteatret mit einem Drama über die Nöte alter Menschen im Wohlfahrtsstaat, das sich als Kassenschlager entpuppte und nicht weniger als 63-mal vor ausverkauften Rängen lief. Ein ähnlich großer Erfolg war die kurz darauf im Frühjahr 1978 produzierte Farce Bezahlt wird nicht! von Dario Fo. Seitdem haben die Vorstellungen auf der zirkusartigen, runden Bühne immer wieder zu künstlerischen und politischen Diskussionen provoziert. Gegenwart Ziele und Perspektiven Das Nationaltheatret hat sich das künstlerische Ziel gesetzt, ein führendes Theater in Europa zu werden und profiliert sich dabei nach wie vor unter anderem über das Ibsen-Festival und das Samtidsfestivalen. Darüber hinaus ist das Theater in den letzten Jahren punktuelle Kooperationen mit den Nationalbühnen Dänemarks und Schwedens (Det Kongelige Teater; Kungliga Dramatiska Teatern) eingegangen. Unter der Federführung der staatlichen norwegischen Entwicklungshilfe arbeitete das Nationaltheatret zwischen 2002 und 2006 mit dem Carrefour International de Théâtre de Ouagadougou in Burkina Faso zusammen. Dieses Engagement nahm seinen Anfang in multikulturellen Inszenierungen des Torshovteatret und führte zur Entwicklung von gemeinsamen Produktionen in Afrika (unter anderem von Ein Volksfeind, 2002), die anschließend nach Oslo eingeladen wurden. Der Schauspieler Issaka Sawadogo aus Ouagadougou war zeitweise festes Ensemblemitglied des Torshovteatret. Weitere Kooperationen in Westafrika sind geplant. Ensemble und Aufführungen Am Nationaltheatret sind knapp 90 Schauspieler engagiert, die zu den besten des Landes gezählt werden und Erfolge teilweise auch mit nationalen und internationalen Filmprojekten erzielt haben. Dieses Ensemble erarbeitete 2008 insgesamt 771 Aufführungen, die von 212.000 Zuschauern gesehen wurden, was einer Sitzauslastung von 78 Prozent entsprach. Öffentlich bezuschusst wurde das Theater 2008 – bei Karteneinnahmen von 49,2 Millionen Kronen (circa 5,7 Millionen Euro) – mit einem Betrag von 135 Millionen Kronen (circa 15,8 Millionen Euro). Mit privaten Firmen wie dem Finanzdienstleistungsunternehmen DnB NOR hat das Theater mehrjährige Sponsorenverträge abgeschlossen. Intendant des Nationaltheatret ist seit dem 1. Januar 2021 Kristian Seltun. Intendanten Literatur Martin Kolberg: Nationaltheatret i Oslo. - In: Manfred Brauneck / Gérard Schneilin (Hrsg.), Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg 1992 (3., vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe) ISBN 3-499-55465-8. Lise Lyche: Norges teaterhistorie. Tell, Asker 1991, ISBN 82-7522-006-8. Nils Johan Ringdal: Nationaltheatrets historie 1899–1999. Gyldendal, Oslo 2000, ISBN 82-05-26482-1. Anton Rønneberg: Nationaltheatret gjennom femti år. Gyldendal, Oslo 1949. Anton Rønneberg: Nationaltheatret 1949–1974. Gyldendal, Oslo 1974, ISBN 82-05-06253-6. Weblinks Website des Theaters Ibsenfestival 2008 Einzelnachweise Kultur (Oslo) Theater (Norwegen) Theatergebäude Kulturdenkmal in Oslo Nationaltheater Erbaut in den 1890er Jahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sechemchet-Pyramide
Sechemchet-Pyramide
Die Sechemchet-Pyramide (auch Djoserteti-Pyramide) ist die unvollendete Stufenpyramide des altägyptischen Königs (Pharaos) Djoserteti, der unter seinem Horusnamen Sechemchet in der Dritten Dynastie um 2700 bis 2695 v. Chr. regierte. Das Bauwerk befindet sich einige hundert Meter südwestlich der Stufenpyramide des Djoser in der Nekropole von Sakkara. Die heute nur noch acht Meter hohe Ruine wurde erst 1952 von dem ägyptischen Ägyptologen Zakaria Goneim entdeckt, der auch die offenbar noch unversehrte Grabkammer öffnete. Damit ist die Sechemchet-Pyramide die einzige bekannte Königspyramide, die nicht bereits im Altertum geplündert wurde. Der oberirdische Teil der Pyramidenruine ist für Besucher zugänglich, nicht jedoch der Unterbau mit der Grabkammer. Erforschung Der ägyptische Archäologe Zakaria Goneim begann 1951 mit der Untersuchung eines Komplexes, der sich südwestlich der Djoser-Pyramide als Rechteck im Wüstensand abzeichnete. Sein Mentor Jean-Philippe Lauer riet dazu, an den Ecken zu beginnen, um zunächst die Grundmaße zu bestimmen. Bei den Arbeiten wurde eine gewaltige Umfassungsmauer gefunden, die eine ähnliche Nischenarchitektur wie die der Djoser-Pyramide aufwies. Die Abmessungen betrugen 546 × 185 Meter. Im Zentrum des Komplexes fand Goneim schließlich 1952 die Überreste einer Stufenpyramide von 120 Metern Basislänge, die jedoch nicht über die erste Stufe, bestehend aus zwei Schichten, hinausgekommen war. Im Norden der Pyramide entdeckte Goneim dann den Zugang zum Unterbau. Im Zugangsbereich fanden sich zunächst Opfergaben und Papyri aus der 26. Dynastie, darunter aber eine Reihe von Objekten der Dritten Dynastie, wie etwa 700 Steingefäße und Schmuckgegenstände. Am 31. Mai 1954 durchbrachen die Forscher eine etwa drei Meter dicke Verschlussmauer vor der Grabkammer. In der nur grob ausgearbeiteten Kammer fand sich ein offenbar noch versiegelter Sarkophag, den Goneim erst in Gegenwart von staatlichen Repräsentanten und Journalisten öffnete. Doch der Sarkophag war leer, was auf Grund der zuvor geschürten Erwartungshaltung eines möglicherweise sensationellen Fundes zu Enttäuschung und zu Kritik an Goneim führte. Zudem wurde Goneim kurz darauf des Denkmalraubes und -schmuggels verdächtigt, da ein von ihm im Djoser-Komplex gefundenes wertvolles Gefäß verschwunden war. Die Beschuldigungen, verbunden mit den zuvor erlittenen öffentlichen Demütigungen, trieben Goneim schließlich 1959 in den Suizid, tragischerweise am selben Tag, an dem Lauer das vermeintlich gestohlene Gefäß falsch kategorisiert im Ägyptischen Museum in Kairo fand. Mit Goneims Tod war die Erforschung des Sechemchet-Komplexes für mehrere Jahre unterbrochen. Erst 1963, vier Jahre nach Goneims Tod, setzte Lauer die Ausgrabungen fort. 1967 entdeckte er das Südgrab mit dem darin bestatteten Leichnam eines zweijährigen Kindes. Mit Unterbrechungen grub Lauer bis 1973 am Sechemchet-Komplex, um die Pyramide und das Areal grundlegend zu erforschen. Eine vollständige Untersuchung des Areals steht bislang noch aus. Bauumstände Bau der Pyramide Sechemchet hatte ebenso wie sein Vorgänger die Nekropole von Sakkara als Bauplatz für sein Grabmal gewählt. Diese Nekropole war bereits mit einem Mastabafriedhof aus der Ersten Dynastie, mehreren Königsgräbern der Zweiten Dynastie, der Djoser-Pyramide sowie mit der großen Einfriedung Gisr el-Mudir (evtl. auch durch mehrere weitere Einfriedungen) stark bebaut, sodass auf der noch freien Stelle südwestlich des Djoser-Komplexes bis zu zehn Meter hohe Terrassen zur Einebnung angelegt werden mussten, um das starke Gefälle auszugleichen. In einer Baugraffiti-Inschrift auf der Umfassungsmauer ist der Name Imhoteps enthalten, der als Baumeister der Djoser-Pyramide gilt. Auch wenn seine Titel nicht lesbar sind und somit die Identifikation des Baumeisters Imhotep nicht eindeutig ist, wird im Allgemeinen angenommen, dass er auch die Verantwortung für den Bau der Sechemchet-Pyramide hatte. Somit kann sie in die unmittelbare zeitliche Nähe der Herrschaft des Djoser gesetzt werden. Abbruch der Bauarbeiten Mit dem vorzeitigen Tod des Königs wurden die Bauarbeiten weitgehend eingestellt und nur solche Einrichtungen noch fertiggestellt, die kultischen Zwecken dienten. Die Pyramide bestand damals nur aus der ersten Stufe und ähnelte so eher einer großen Mastaba mit quadratischem Grundriss, ähnlich wie es später auch bei der Raneferef-Pyramide war. Vermutlich wurde sie in diesem Zustand als Grabmal hergerichtet, auch wenn möglicherweise der Leichnam des Königs gar nicht für die Bestattung zur Verfügung stand. Der leere, versiegelte Sarkophag deutet auf eine symbolische Bestattung hin. Der Archäologe Hanns Stock geht davon aus, dass der nach dem Prinzip des Djoser-Komplexes gebaute Bereich nach dem Abbruch der Baumaßnahmen innerhalb der Umfassungsmauer komplett aufgefüllt und in eine gewaltige Mastaba umgewandelt wurde. Eine wenig anerkannte Theorie vertreten Vito Maragioglio und Celeste Rinaldi: Das Bauwerk sei niemals als Pyramide, sondern von Beginn an als quadratische Mastaba, ähnlich den frühen Bauphasen der Djoser-Pyramide, geplant gewesen. Lauer nimmt an, dass in der Ersten Zwischenzeit im Zuge der Plünderung vieler Pyramiden sowohl die sterblichen Überreste des Königs als auch die Grabausstattung entfernt wurden. Aber auch eine Plünderung kurz nach der Bestattung hielt I. E. S. Edwards für möglich. Die Pyramide Der Aufbau Die Pyramide des Sechemchet war von Beginn an mit einem quadratischen Grundriss als Stufenpyramide geplant. Bei Basismaßen von 120 × 120 Metern (230 Königsellen) hätte sie fertiggestellt sechs oder sieben Stufen, bestehend aus je zwei Steinschichten von 5 Ellen Dicke erhalten, was nach der Rekonstruktionen von Goneim und Lauer auf eine Endhöhe von etwa 70 Metern hindeutet. Das Mauerwerk – direkt auf den Felsgrund aufgesetzt – bestand wie bei der Djoser-Pyramide aus Kalksteinen kleineren Formats und war in Schichten aufgebaut. 14 dieser um 10 bis 15 Grad nach innen geneigten Schichten bildeten den Kern der ersten Stufe. Das Kernmauerwerk aus lokalem Kalkstein sollte eine Verkleidung aus feinem Kalkstein erhalten, jedoch scheint diese nicht angebracht worden zu sein, da keine Überreste gefunden wurden. Das Bauwerk hatte beim Tode des Herrschers erst eine Höhe von etwa acht Metern erreicht, da nur die erste Stufe des Aufbaus, bestehend aus zwei Schichten, fertiggestellt wurde. Somit hatte die Pyramide den Charakter einer riesigen, quadratischen Mastaba. Der Unterbau Die gesamte Substruktur ist unterirdisch aus dem Fels gehauen. Ein großer offener Schacht für die Grabkammer, wie bei der Djoser-Pyramide, wurde dort nicht angelegt. Der Eingang zum Unterbau befindet sich im Norden der Pyramide und wird durch eine zunächst offene, abfallende Passage gebildet, die komplett in den Felsuntergrund eingehauen ist. Nach etwa 31 Metern mündet ein senkrechter Schacht in die Passage. Dieser Schacht führt durch den Felsenuntergrund und das Mauerwerk der Pyramide und hätte bei Vollendung der Pyramide seine Öffnung in der zweiten Stufe. Er diente vermutlich der besseren Belüftung während der Bauarbeiten und könnte später mit einem Verschlussstein versehen worden sein. Ähnliche Schächte mit Verschlusssteinen befinden sich auch im Zugang der zeitgenössischen großen Mastaba K1 in Bait Challaf. An der Mündungsstelle des Schachts ist in etwa einem Meter Höhe an der Westwand eine kleine, 1,42 Meter breite Tür eingelassen. Sie führt zu einem 5,30 Meter langen, niedrigen Seitengang, der dann nach Norden abknickt und in einer gewaltigen Magazingalerie mündet, welche die Pyramide U-förmig umgibt. Goneim grub in dieser Galerie 120 kammförmig, abwechselnd nach links und rechts abzweigende Magazinkammern aus; Lauer fand bei Wiederaufnahme der Grabungen weitere 16, sodass heute 136 Kammern bekannt sind. Rechts und links vor dem Eingang zur Grabkammer zweigen Seitengalerien ab, welche die Kammer U-förmig umgeben. Die Anzahl der Kammern der Seitengalerien ist deutlich geringer als die der Djoser-Pyramide, was aber möglicherweise durch den frühen Bauabbruch bedingt war. Dekorationen waren in diesen Gängen nicht vorhanden. Die in 32 Metern Tiefe gelegene Grabkammer selbst, mit den Ausmaßen von 8,9 × 5,2 und einer Höhe von 4,5 Metern blieb unvollendet und ist nur roh behauen, ohne Innenverkleidung. Sie unterschied sich in der Ausführung deutlich von der Grabkammer der Djoser-Pyramide, die in einem senkrechten Schacht aus Rosengranitblöcken gemauert war. Von der südlichen Wand geht ein weiterer Gang aus, der blind endet. In der Mitte der Grabkammer befindet sich ein ungewöhnlicher Sarkophag aus einem einzelnen Block von fein bearbeitetem Alabaster. Alabaster war für diesen Zweck ein nur sehr selten verwendetes Material, das nur in zwei weiteren bekannten Fällen zur Fertigung eines Sarkophags verwendet wurde. Ungewöhnlich ist auch, dass er einen Schiebeverschluss auf der schmalen Seite besaß, der beim Fund noch mit Mörtel versiegelt war. Auf dem Sarkophag befanden sich Reste organischen Materials, die zunächst für die Überreste eines Blumengebindes gehalten wurden, sich aber später als zersetztes Holz und Rinde herausstellten, welche vermutlich Reste einer hölzernen Brechstange waren. Der Sarkophag war völlig leer, auch wurden in der Grabkammer keine Grabbeigaben gefunden. Der Pyramidenkomplex Der Pyramidenkomplex hatte, ebenso wie der Djoser-Komplex, eine nordsüdliche Ausrichtung, war aber mit elf Grad Abweichung nach Westen weniger genau orientiert. Der Komplex wurde offenbar in zwei Phasen gebaut. Zunächst waren Abmessungen von 262 × 185 Metern (500 × 348 Königsellen) geplant und die Umfassungsmauern weitgehend fertiggestellt. In einer zweiten Phase wurde dieser Komplex mit einer größeren Erweiterung im Norden und einer kleineren im Süden ergänzt, sodass die endgültige, nordsüdliche Länge 546 Meter (1040 Königsellen) betrug. Bei der Erweiterung wurde die ältere, nördliche Mauer verschüttet. Rainer Stadelmann vermutet, dass ursprünglich möglicherweise die großen Abmessungen geplant waren, aber in einer zweiten Phase verkleinert wurden. Die Einfassungsmauer Die Ausgrabungen der Nordmauer der ersten Phase zeigen deutliche Vereinfachungen der Mauertechnik im Vergleich zum Vorgängerbau des Djoser. Es wurden größere Kalksteinquader verwendet und der Zwischenraum wurde mit einfacherem Füllmauerwerk ausgemauert. Die Mauer wies eine Nischenstruktur, ähnlich der Mauer der Djoser-Pyramide, auf und war mit Turakalkstein verkleidet, der bei der ersten Nordmauer erhalten blieb, da diese bei der Erweiterung zugeschüttet worden war. Die Mauern waren etwa zehn Meter hoch. Die Erweiterungsmauern sind entweder nicht über die ersten Bauphasen hinausgekommen, oder aber die Turakalksteinverkleidung wurde vollständig geraubt. Wie beim Djoser-Komplex befinden sich mehrere Scheintore in der Mauer. Der tatsächliche Eingang zum Pyramidenkomplex wurde bisher noch nicht gefunden. Das Südgrab Auf der Südseite der Pyramide befinden sich, von der Mitte leicht nach Westen versetzt, die Überreste des Südgrabes, die Lauer 1963 entdeckte. Bemerkenswert ist, dass das Südgrab nicht mehr, wie bei Djoser, am südlichen Ende des Pyramidenbezirks lag, sondern näher an die Pyramide gerückt war. Dieser Bau blieb, wie die Hauptpyramide, ebenfalls unvollendet. Es sind lediglich das Fundament, der Unterbau und Teile eines mastabaartigen Aufbaus erhalten. Diese Mastaba war ostwestlich ausgerichtet und hatte Basismaße von 32 × 16 Metern (60 × 30 Königsellen). Reste einer Verkleidung konnten nicht gefunden werden. Am Ende des im Westen beginnenden und nur von einem senkrechten Schacht unterbrochenen Zugangskorridors des Unterbaus befindet sich eine Verbreiterung. Dort fanden die Ausgräber einen Holzsarkophag mit den sterblichen Überresten eines zweijährigen Kindes, das bislang nicht identifiziert werden konnte. Sicher ist, dass es sich dabei nicht um Sechemchet handelte, der sechs Jahre regiert hatte und auf Darstellungen als Jugendlicher abgebildet war. Weiterhin fanden sich dort Tierknochen, Steingefäße und Goldschmuck aus der Dritten Dynastie sowie Spuren einer Beraubung des Grabes. Kultbauten Wegen des unfertigen Zustands des Komplexes ist es schwierig, Aussagen darüber zu treffen, welche Kultbauten vorgesehen waren. Als gesichert kann gelten, dass im Pyramidenkomplex ein Totentempel geplant war. Dieser wäre vermutlich, wie bei der Djoser-Pyramide, im Norden des Baus errichtet worden, jedoch sind bislang keine Belege für einen Baubeginn dieses Tempels gefunden worden. Es ist naheliegend, dass auf dem großen Areal innerhalb der Einfassungsmauern, analog zur Situation im Djoser-Pyramidenkomplex, eine größere Anzahl von symbolischen Kultbauten, wie die Sed-Fest-Kapellen, oder die Nord- und Südhäuser vorgesehen waren, jedoch konnten bislang keinerlei Überreste von ihnen gefunden werden. Entweder waren diese Bauten zum Zeitpunkt der Aufgabe des Sechemchet-Komplexes noch nicht begonnen worden, oder sie waren damals schon überholt und wurden für den Kult nicht mehr benötigt. Offene Fragen Verschiedene Fragen bleiben bislang ungelöst. So ist beispielsweise keine Ursache für die Existenz des leeren und versiegelten Sarkophags bekannt. Auch wenn Spekulationen über den Verlust der Leiche des Königs durch einen Unfall oder einen Anschlag und eine Scheinbestattung zur Erklärung herangezogen werden, so gibt es dafür weder archäologische noch überlieferte Belege. Ebenso ist nicht sicher geklärt, ob die Pyramide tatsächlich unberaubt war. Literatur Allgemein Zakaria Goneim: Die verschollene Pyramide. Brockhaus, Wiesbaden 1955, . (Neuauflage: Books on Demand, Norderstedt 2006, ISBN 3-8334-6137-3) Jean-Philippe Lauer: Die Königsgräber von Memphis. Grabungen in Sakkara. Lübbe, Bergisch Gladbach 1988, ISBN 3-7857-0528-X. Mark Lehner: Geheimnis der Pyramiden. Econ, Düsseldorf 1997, ISBN 3-572-01039-X, S. 94–94. Frank Müller-Römer: Der Bau der Pyramiden im Alten Ägypten. Utz, München 2011, ISBN 978-3-8316-4069-0, S. 90/91 und S. 148/49. Rainer Stadelmann: Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 30). 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-1142-7, S. 71–75. Miroslav Verner: Die Pyramiden (= rororo-Sachbuch. Band 60890). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-60890-1, S. 165–174 Die Stufenpyramide des Sechemchet. Grabungspublikationen Mohammed Zakaria Goneim: Horus Sekhem-Khet, The Unfinished Step Pyramid at Sakkara I. In: Excavations at Sakara. Band 23, Kairo 1957. Jean-Philippe Lauer: Découverte du tombeau sud de l'Horus Sekhemkhet dans son complexe funéraire à Saqqarah. In: Revue de l'égyptologie (RdE) Band 20, 1968. Weblinks Alan Winston & Jimmy Dunn: King Sekhemkhet and his Pyramid at Saqqara Einzelnachweise Ägyptische Pyramide Erbaut im 27. Jahrhundert v. Chr. 3. Dynastie (Ägypten) Sakkara
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https://de.wikipedia.org/wiki/Diamantschildkr%C3%B6te
Diamantschildkröte
Die Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin) ist eine mittelgroße Wasserschildkröte aus der Familie der Neuwelt-Sumpfschildkröten, die in Nordamerika die Küstenregion von Cape Cod, Massachusetts, im Norden bis nach Corpus Christi, Texas, besiedelt. Anders als andere im Wasser lebende Schildkröten, die entweder ausschließlich in Süßwasser oder in Meereswasser vorkommen, ist diese Art an ein Leben in Salzmarschen sowie Flussmündungen und Mangrovensümpfen angepasst und toleriert einen schwankenden Salzgehalt des sie umgebenden Wassers. Die Diamantschildkröte bevorzugt Brackwasser, kommt jedoch auch in Süßwasser oder Meeresgewässern vor. Noch im 18. Jahrhundert war diese Schildkrötenart so zahlreich, dass sie in einigen Küstenregionen der USA ein preisgünstiges Grundnahrungsmittel war. Heute gelten einige der insgesamt sieben Unterarten als stark bedroht. Zu dem Bestandsrückgang haben neben der Fischerei unter anderem Habitatverluste sowie eine vermehrte Nachstellung durch zum Teil eingeführte Fressfeinde beigetragen. Erscheinungsbild Größe und sekundäre Geschlechtsmerkmale Diamantschildkröten sind mittelgroße Schildkröten; Panzerlänge und Körpergewicht variieren in Abhängigkeit vom Geschlecht und von der jeweiligen Unterart. Die durchschnittliche Länge des Brustpanzers beträgt bei männlichen Schildkröten bei Erreichen der Geschlechtsreife zehn Zentimeter. Sie wiegen dann etwa dreihundert Gramm. Bei der an der texanischen Küste lebenden Unterart der Texas-Diamantschildkröte beträgt die durchschnittliche Brustpanzerlänge der Männchen bei Erreichen der Geschlechtsreife dagegen 12,6 Zentimeter, die größten männlichen Individuen weisen Brustpanzerlängen von 15,3 Zentimeter auf. Die Weibchen der Diamantschildkröte werden deutlich größer und schwerer. Panzerlängen von 16 Zentimeter stellen bei ihnen den Durchschnitt dar. Sie wiegen dann etwa ein Kilogramm. Bei sehr großen Weibchen der Nördlichen Diamantschildkröte, wie man sie beispielsweise vor der Küste von Rhode Island gefunden hat, beträgt die Panzerlänge bis zu 22,5 Zentimeter. Ausgewachsene Weibchen haben größere Köpfe sowie einen kürzeren und schmäleren Schwanz als Männchen. Bei ausgestrecktem Schwanz liegt die Kloake bei Männchen deutlich außerhalb des vom Panzer geschützten Körperbereiches. Bei den Weibchen befindet sich die Ausscheidungsöffnung weiter vorne in der Schwanzwurzel, also näher am Panzerrand. Bei frisch geschlüpften und bei jungen Diamantschildkröten sind diese sekundären Geschlechtsunterschiede noch nicht ausgeprägt. Bei diesen ist die Bestimmung des Geschlechts durch äußere Merkmale nicht möglich. Der Panzer Zu den spezifischen Merkmalen der Diamantschildkröte gehört, dass sich die Hornschilde nicht überlappen. Auf den Rückenschilden befindet sich ein dunkles, meist ringförmiges Muster. Es wird durch die Ablagerung von Pigmenten während der Wachstumsphasen gebildet. Bei jungen Schildkröten kann auf diese Weise das Alter bestimmt werden. Der über den Panzer verlaufende Rückenkiel ist bei vielen Individuen glatt und kaum auffallend. Bei jungen Schildkröten sowie bei einigen Unterarten ist dieser Kiel kräftiger ausgeprägt und gelegentlich sogar etwas höckrig. Die Grundfarbe des Panzers ist sehr variabel und reicht von einem hellen Ockerton über Graugrün oder Olivgrün bis zu Rotbraun und fast schwarz. Der Brustpanzer ist deutlich heller als der Rückenpanzer. Seine Farbe reicht von einem hellen Weißgelb bis zu einem kräftigen Orange. Übrige Merkmale Die Hinterbeine der Diamantschildkröte sind deutlich größer und kräftiger als die Vorderbeine. Zwischen den langen und scharfen Krallen befinden sich Schwimmhäute. Die kräftige Schnauze ist meist von heller, fast weißer Farbe. Bei einigen Unterarten sind die Extremitäten sowie Hals und Kopf schwarz gepunktet, bei anderen Unterarten dagegen ohne irgendwelche Verfärbungen. Verbreitung und Unterarten Diamantschildkröten kommen von der Atlantikküste bei Cape Cod, Massachusetts über die Chesapeake Bay und die Florida Keys bis nach Corpus Christi, Texas, im Golf von Mexiko vor. Das Verbreitungsgebiet reicht damit von der gemäßigten Klimazone bis in die Subtropen. Die 320 Kilometer lange Chesapeake Bay mit ihrer buchtenreichen Küstenlinie gilt als der Verbreitungsschwerpunkt dieser Schildkrötenart. Besiedelt werden jeweils die von den Gezeiten beeinflussten Marschgebiete und Flussmündungen entlang dieses Küstenstreifens. Heute sind die Verbreitungsgebiete disjunkt. Einzelne Unterarten finden sich nur noch an wenigen Stellen. Untersuchungen weisen auf eine hohe Ortstreue der Diamantschildkröten hin. Bei seit den 1980er-Jahren laufenden Studien, bei denen die Schildkröten individuell markiert werden, findet man sie überwiegend in derselben Küstenbucht wieder. Nur ein sehr geringer Anteil der Population wird in größerer Distanz vom ersten Fundort wieder aufgegriffen. Eine solche Ortstreue bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass sich Diamantschildkröten auf natürlichem Wege wieder in den Küstenregionen ansiedeln, in denen zuvor ihre Population erloschen ist. Bei Diamantschildkröten werden derzeit sieben verschiedene Unterarten unterschieden. Genetische Untersuchungen lassen darauf schließen, dass die an den Küsten Floridas vorkommenden drei Unterarten alle sehr eng miteinander verwandt sind. Weitergehende Untersuchungen können dazu führen, dass zukünftig eine geringere Anzahl von Unterarten unterschieden werden wird. Die Nördliche Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin terrapin) stellt die Nominatform dieser Schildkrötenart dar. Ihr Verbreitungsgebiet reicht von Cape Cod in Massachusetts bis nach Cape Hatteras in North Carolina. Der Längskiel des Panzers ist glatt. Der Grundton des Rückenpanzers reicht von schwarz bis zu einem leichten Braun oder Oliv. Die Muster auf den einzelnen Hornschilden sind deutlich zu erkennen. Der Brustpanzer ist von gelber, oranger oder grünlich-grauer Farbe. Das Verbreitungsgebiet der Carolina-Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin centrata) reicht von Cape Hatteras bis zur Küste Nordfloridas. Bei dieser Schildkrötenart fehlen Höcker auf dem Längskiel. Die Texas-Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin littoralis) kommt von der Westküste Louisianas bis zur Westküste Texas vor. Der Längskiel weist in Richtung des Schwanzes leichte Höcker auf. Der Brustpanzer sowie die Kopfoberseite sind von heller Farbe. Die Pfauenaugen-Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin macrospilota) lebt an der Westküste Floridas. Bei ihr weist der Längskiel spitze Höcker auf. Die Hornschilde sind in ihrer jeweiligen Mitte von gelber bis oranger Farbe. Die Mississippi-Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin pileata) kommt von der Golfküste Floridas bis zur Westküste Louisianas vor. Auch bei dieser Unterart weist der Längskiel nur am Ende Höcker auf. Der Brustpanzer ist gelb. Die Oberseite von Kopf, Hals und Beinen ist dunkelbraun bis schwarz. Das Verbreitungsgebiet der Mangroven-Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin rhizophorarum) sind die Florida-Keys. Der Längskiel ist stark höckrig. Der Panzer hat eine längliche Form. Der Grundton des Rückenpanzers ist braun oder schwarz. Am Hals und den vorderen Extremitäten befinden sich keine Markierungen. Die Miami-Diamantschildkröte (Malaclemys terrapin tequesta) kommt an Floridas Ostküste vor. Im hinteren Bereich weist der Längskiel Höcker auf. Die Hornschilde sind in ihrem Zentrum hell. Lebensraum Der präferierte Lebensraum von Diamantschildkröten sind Salzmarschen sowie weite, von Gezeiten beeinflusste Flussmündungen und in Florida auch Mangrovengebiete. Salzmarschen bilden sich, wo Sandbänke, Halbinseln oder Inselketten der Küste vorgelagert sind. Der Wasserstand ist niedrig, das mit der Flut herangeführte Meerwasser überspült zweimal täglich diese Marschen. Nach heftigen Regenfällen kann die Salinität der Salzmarsch so stark absinken, dass sie mit 15 ppt nur noch halb so hoch ist wie die von Meereswasser. An heißen und sonnigen Tagen ist es dagegen möglich, dass während der Ebbe so viel Wasser verdunstet, dass die Salinität auf 60 ppt ansteigt und damit doppelt so hoch ist wie die von Meerwasser. Der Bewuchs der Salzmarschen besteht überwiegend aus salztoleranten Pflanzen aus der Gattung der Schlickgräser. Dazwischen befinden sich andere salztolerante Pflanzen aus den Gattungen Distichlis, Binsen, Iva, Queller, Strandflieder, Astern und Goldruten. Salzmarschen liegen häufig in der Nähe von Flussmündungen. Bedingt durch die Gezeiten schwanken auch in weitläufigen Flussmündungen sowohl der Wasserstand, die Temperatur als auch die Salinität des Wassers. Die Mangrovengebiete, die die Diamantschildkröte in Florida besiedelt, sind ähnlichen Schwankungen ausgesetzt. Diamantschildkröten haben sich an diesen schwankenden Salzgehalt angepasst und sich damit einen nahrungsreichen Lebensraum erschlossen, in dem keine andere Schildkrötenart und nur wenige andere Reptilien mit ihnen um Nahrung konkurrieren. Der Naturwissenschaftler Ronald Orenstein bezeichnet die Diamantschildkröte daher als Habitatspezialist. Da die Diamantschildkröte anders als Meeresschildkröten auf Süßwasser als Trinkwasser angewiesen ist, muss ihr Lebensraum allerdings einen ausreichenden und verhältnismäßig regelmäßigen Regenfall aufweisen. Untersuchungen in einer Salzmarsch in Connecticut zeigten, dass dort die Bestandsdichte von Diamantschildkröten nicht mit der Verfügbarkeit von Nahrung korrelierte. Andere Faktoren wie die Höhe der Flut und die Dichte des Pflanzenbewuchses scheinen einen wichtigeren Einfluss darauf zu haben, ob ein bestimmtes Gebiet einen idealen Lebensraum für die Diamantschildkröten darstellt. Eine andere Studie aus den 1980er-Jahren legt nahe, dass erst die Verfügbarkeit von geeigneten Nistgelegenheiten bestimmt, ob eine spezifische Region für die Besiedlung durch Diamantschildkröten geeignet ist. Nahrung Diamantschildkröten fressen Krabben der Gattungen Winkerkrabben, Callinectus und Carcinus, verschiedene Schneckenarten, Fische, Muscheln sowie Würmer, Insekten und Aas. Sie nehmen nur dann Nahrung auf, wenn sie sich im Wasser befinden. Diamantschildkröten sind daher vor allem dann auf Nahrungssuche, wenn die Flut die Marschen überspült. Die Verdauungsgeschwindigkeit ist insgesamt sehr langsam und temperaturabhängig. Panzer und Schalen ihrer Nahrung knacken Diamantschildkröten mit ihren kräftigen, aber zahnlosen Kiefern. Große Beute wird mit den Krallen der Vorderbeine auseinandergerissen. Fische werden nur gelegentlich gefressen, da deren Schwimmgeschwindigkeit in der Regel zu groß ist, als dass Diamantschildkröten sie erjagen können. Der Anteil von Fisch an der Gesamtnahrung steigt jedoch, wenn beispielsweise Fischarten wie Menidia menidia in großer Zahl beispielsweise zum Ablaichen in die Flussmündungen zurückkehren und durch den Laichakt so geschwächt sind, dass sie für die Schildkröten fangbar sind. Krabben sind eine Beute, die sich mit ihren Scheren den Nachstellversuchen der Schildkröten erwehren und den Schildkröten dabei ernsthafte Verletzungen zufügen können. Diamantschildkröten beißen daher häufig größeren Krabben nur eines der Hinterbeine ab. Vom Verbreitungsgebiet hängt es ab, welche Beute den größten Bestandteil des Nahrungsspektrums ausmacht. An der Küste von Virginia präferieren Diamantschildkröten die an Salzpflanzen lebende, hartschalige Schneckenart Nassarius obsoletus . An der Küste von North Carolina heimische Diamantschildkröten fraßen überwiegend die Schnecke Littorina irrorata. Einen weit geringeren Anteil an der Gesamtnahrung hatte die Schneckenart Melampus lineatus sowie Winkerkrabben. In der Chesapeake Bay fressen die Schildkröten Sandklaffmuscheln und mehrere Muschelarten aus der Gattung Tagelus, Macoma und Gemma. Der Kot von an der nordwestlichen Küste Floridas lebenden Schildkröten bestand zu 83 Prozent aus Überresten der Muschelart Mulina lateralis. Lebensweise Anpassungsmechanismen an ein Leben in Salz- und Brackwasser Diamantschildkröten sind durch spezifische Mechanismen in der Lage, die Salzkonzentration in ihrem Blut und anderen Körperflüssigkeiten auf einem Niveau zu halten, das etwa einem Drittel der Salinität von Meerwasser entspricht. Während bei anderen Neuwelt-Sumpfschildkröten bereits ein kurzfristiger Aufenthalt im Meerwasser mit einer Salinität von 30 bis 35 ppt zu einer osmotischen Dehydratisierung führen würde, erlauben diese Mechanismen der Diamantschildkröte, über mehrere Wochen in solchen Gewässern zu überleben. Diamantschildkröten weisen hinter dem Auge eine Salzdrüse auf, über die überschüssiges Salz ausgeschieden werden kann. Eine ähnliche Drüse findet sich auch bei Meeresschildkröten. Die stammesgeschichtliche Abstammung weist aber darauf hin, dass Meeresschildkröten und die Diamantschildkröte diese Drüse unabhängig voneinander entwickelten. Über diese Drüse scheidet die Diamantschildkröte auch deutlich weniger Salz aus, als dies für andere im Meerwasser lebende Reptilien typisch ist. Die Außenhaut der Diamantschildkröte weist sowohl eine geringe Salz- als auch Wasserdurchlässigkeit auf. Anders als die Meeresschildkröten ist die Diamantschildkröte darauf angewiesen, Süßwasser zu trinken. Sie ist in der Lage, Süßwasser sehr schnell aufzunehmen und dieses subkutan im Körper zu speichern. In Süßwasser lebende Diamantschildkröten weisen daher ein bis zu doppelt so hohes Körpergewicht auf wie vergleichbar große Diamantschildkröten, die sich länger in Meerwasser aufgehalten haben. Auch ihr Nahrungsverhalten unterscheidet sich in Abhängigkeit von der Salinität des sie umgebenden Wassers. Dabei fressen die Schildkröten umso mehr, je niedriger die Salinität ist und vermeiden damit, dass sie hohe Salzmengen zu sich nehmen. In Brack- oder Meereswasser lebende Diamantschildkröten trinken nach Regenfällen die dünne Schicht von Süßwasser ab, die sich dann auf der Wasseroberfläche befindet. Dieser Süßwasserfilm ist in der Regel dünner als zwei Millimeter. Um an das Wasser zu gelangen, beugen die an der Wasseroberfläche schwimmenden Schildkröten den Hals so, dass sich das Maul in einer Höhe mit dem Film befindet. Diamantschildkröten wurden auch schon dabei beobachtet, wie sie während eines Regens mit geöffnetem Maul Regentropfen aufnehmen oder auf dem Körper von Artgenossen befindliche Süßwassertropfen abtrinken. Anpassungen an Temperaturschwankungen Die Diamantschildkröte ist nicht in der Lage, ihre Körpertemperatur durch Stoffwechselaktivitäten zu halten. Ihre Körpertemperatur und damit ihr Aktivitätsspektrum sind im Wesentlichen von der Umgebungstemperatur bestimmt. Bei Wassertemperaturen unter 15 Grad stellen Diamantschildkröten die Nahrungsaufnahme ein und bei Wassertemperaturen unter 13 Grad beginnt bei ihnen die Winterruhe. Die Winterruhe der an der Küste von Cape Cod lebenden Diamantschildkröten währt von Oktober bis April und ist die längste, die von Diamantschildkröten eingehalten wird. Bei den an der südlichen Küste Floridas lebenden Diamantschildkröten kommt dagegen nach derzeitigem Wissensstand keine Winterruhe vor. Die detaillierte Funktionsweise der Winterruhe bei Diamantschildkröten ist noch nicht hinreichend untersucht. So weiß man beispielsweise nicht, ob die Winterruhe durch den Temperaturabfall oder die verringerte Verfügbarkeit von Nahrung ausgelöst wird und wie es die Schildkröten während ihrer langen Winterruhe vermeiden, durch einen Anstieg des Salzgehaltes im Blut und ihrer übrigen Körperflüssigkeit zu dehydratisieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Diamantschildkröten die Winterruhe überleben, scheint nicht davon beeinflusst zu sein, ob sie im Süß- oder Brackwasser überwintern. Diamantschildkröten überwintern in der Regel in Buchten, die den Gezeiten ausgesetzt sind. Bei einer Untersuchung der Überwinterungsplätze an der Küste von Cape May, New Jersey, fand man Schildkröten im Bodenschlamm an Stellen, die während der Ebbe zwischen 1,5 und 2,5 Meter unterhalb des Wasserspiegels lagen. Während die meisten Schildkröten einzeln überwinterten, fand man unterhalb von unterspülten Uferböschungen auch gemeinschaftlich überwinternde Tiere. Ein Teil der insgesamt 311 gefundenen Schildkröten hatte sich in der schlammigen Uferböschung zwischen 15 und 50 Zentimeter tief eingegraben. Während der Winterruhe ist der gesamte Stoffwechsel der Schildkröten stark verlangsamt, so dass sie über mehrere Monate ohne Nahrung auskommen können. Über die Kloake sind sie außerdem in der Lage, sich einen Teil des im Wasser enthaltenen Sauerstoffs zu erschließen. Neben der Winterruhe sind Diamantschildkröten auch in der Lage, in eine Trocken- oder Hitzestarre zu verfallen. Auch hierzu graben sich die Schildkröten im Sediment ein und überstehen damit längere Hitzeperioden mit geringem Niederschlag. Diese Form der Sommerruhe ist vor allem bei den an der Südspitze Floridas lebenden Diamantschildkröten zu beobachten. Außerhalb der Winterruhe erreichen Diamantschildkröten die für sie optimale Körpertemperatur durch Sonnenbäder. Sie begeben sich gelegentlich dazu an Land. Typischer sind jedoch Sonnenbäder, bei denen sie mit weit abgespreizten Vorder- und Hinterbeinen an der Wasseroberfläche treiben. Die Sonnenbäder tragen außerdem dazu bei, einen eventuellen Algen- oder Pilzwuchs auf dem Panzer zu reduzieren. Fortpflanzung Paarungsverhalten Über das Paarungsverhalten der Diamantschildkröten ist bis jetzt nur sehr wenig bekannt. Alle Erkenntnisse basieren auf wenigen Studien und der Beobachtung einer geringen Anzahl sich paarender Tiere. Hauptpaarungszeit ist das späte Frühjahr, auch wenn Diamantschildkröten später im Jahr während des Paarungsaktes beobachtet werden. Die Schildkröten sammeln sich während der Hauptpaarungszeit in bestimmten Buchten. Es ist bislang unbekannt, welche Faktoren diese Versammlungen auslösen. Paarungsbereite Weibchen treiben an der Wasseroberfläche. Sich nähernde Männchen beschnüffeln zunächst die Kloakenregion der Weibchen und besteigen dann das Weibchen. Die Paarung dauert nur eine bis zwei Minuten. Weibchen können Samen für mehrere Jahre speichern. Paaren sie sich mit mehreren Männchen, können die Eier eines Geleges unterschiedliche Väter haben. Aus Schildkrötenfarmen weiß man, dass weibliche Diamantschildkröten noch vier Jahre später befruchtete Eier legten, ohne dass sie mit einem Männchen Kontakt hatten. Das Gelege Weibchen können mehr als ein Gelege pro Jahr legen. Bei in Gefangenschaft gehaltenen Diamantschildkröten hat man bis zu fünf Gelege pro Jahr gezählt. In freier Natur scheinen zwei bis drei Gelege die normale Anzahl zu sein. Die Weibchen nutzen für die Eiablage sandige und von Pflanzenbewuchs weitgehend freie Stellen, die oberhalb der Flutmarken liegen. An Küstenabschnitten, an denen nur wenige Stellen für die Anlage von Gelegen geeignet sind, kann die Gelegedichte sehr hoch sein. An einem Brutort auf Rhode Island hat man 446 Gelege je Hektar gezählt. Die Weibchen kehren grundsätzlich jedes Jahr zu denselben Gelegestellen zurück. Befinden sich geeignete Gelegestellen weit von den Marschen entfernt, besteht für die Weibchen die Gefahr, auf dem Weg zu den Gelegestellen zu dehydrieren oder zu überhitzen. Gegenüber der Nachstellung durch Fressfeinde sind die Weibchen weitgehend geschützt, weil sie mit ihrer Panzerfärbung mit der Umgebung verschmelzen. Hat das Weibchen eine geeignete Stelle gefunden, benötigt sie etwa 30 Minuten, um die Nestgrube zu graben. Dabei wird zunächst mit Schnauze und den Vorderbeinen die gewählte Stelle geglättet. Mit den Hinterbeinen gräbt die Diamantschildkröte dann ein bis zu 24 Zentimeter tiefes Loch. Die eigentliche Gelegekammer, in der sich die Eier befinden, ist im Mittel 4,7 Zentimeter tief und 7,3 Zentimeter breit. Wie tief sich die Gelegekammer unterhalb der Erdoberfläche befindet, hat Einfluss auf die Schlupfrate. In zu flachen Nestern entwickeln sich die oberen Eier nicht, in zu tiefen schlüpfen keine Jungen aus den unteren Eiern. Die optimale Tiefe für ein Gelege scheint bei 18 Zentimetern zu liegen. Nach dem Legen bedeckt das Weibchen die Eier so mit dem ausgegrabenen Sand, dass die Stelle von der übrigen Umgebung nicht zu unterscheiden ist. Die Eier sind weißlich bis leicht rosafarben und oval. Ihre Schalen sind weich und dadurch wenig zerbrechlich. Die Schalen härten erst innerhalb der ersten 24 Stunden aus, sind jedoch immer etwas robuster als gleich große Vogeleier. Die Gelegegröße variiert in Abhängigkeit von der geographischen Verbreitung. Tendenziell legen Diamantschildkröten im Süden des Verbreitungsgebietes kleinere Gelege. In Florida beträgt die durchschnittliche Gelegegröße 6,7 Eier, während sie in der Chesapeake-Bay bei 12,3 Eiern liegt. Barbara Brennessel geht davon aus, dass es sich in den klimatisch günstigeren Regionen für die Schildkröten auszahlt, mehrere kleine Gelege zu legen. Im Norden ist dagegen das Zeitfenster, in dem ein Schildkrötengelege heranreifen kann, wesentlich kleiner und es daher für den Fortpflanzungserfolg der Schildkröten erfolgversprechender, wenige Gelege mit einer größeren Anzahl an Eiern anzulegen. Die durchschnittliche Bebrütungsdauer eines Geleges liegt zwischen sechzig bis neunzig Tagen. Die Dauer, bis der aus einem Ei eine junge Schildkröte schlüpft, hängt von der Umgebungstemperatur und -feuchtigkeit ab. Geschlechterverhältnis Das Geschlecht schlüpfender Diamantschildkröten wird durch die Umgebungstemperatur des Geleges bestimmt. Diese Temperaturabhängige Geschlechtsbestimmung ist für die meisten Schildkrötenarten charakteristisch. Unter Laborbedingungen schlüpften aus Gelegen, die bei einer Temperatur unter 28 Grad gehalten wurden, ausschließlich Männchen. Lag die Temperatur durchgängig über 30 Grad, schlüpften überwiegend weibliche Diamantschildkröten. In der freien Natur sind die Gelege stärkeren Temperaturschwankungen unterworfen. Welchen Temperaturschwankungen ein einzelnes Ei ausgesetzt ist, ist abhängig von seiner relativen Lage innerhalb des Geleges. Die an der Gelegeoberseite befindlichen Eier sind größeren Temperaturschwankungen ausgesetzt als die an der Unterseite. Das Geschlecht von frisch geschlüpften Schildkröten kann durch äußerliche Merkmale nicht festgestellt werden. Dazu sind entweder aufwendige Endoskopien notwendig oder die jungen Schildkröten müssen getötet und seziert werden. Aus diesem Grund ist bis jetzt nur sehr wenig über die Korrelation von Umgebungstemperatur des Geleges und Geschlechtsverhältnis bekannt. Auch das natürliche Verhältnis zwischen der Anzahl von Männchen und Weibchen lässt sich nur sehr schwer ermitteln. Wie einzelne Studien gezeigt haben, werden mit derselben Fangmethode in derselben Region jahreszeitlich abhängig unterschiedlich viele Männchen und Weibchen gefangen. Die Sterblichkeitsrate ist je nach Gebiet geschlechtsabhängig unterschiedlich hoch. Ausgewachsene Männchen ertrinken wegen ihrer geringeren Größe eher als Weibchen in Krabbenfallen. Andererseits werden wesentlich mehr Weibchen im Straßenverkehr überfahren. In Gebieten mit einem hohen anthropogenen Einfluss lässt sich daher über das natürliche Geschlechtsverhältnis ausgewachsener Tiere nichts mehr aussagen. Von Anfang des 20. Jahrhunderts unternommenen Versuchen, Diamantschildkröten kommerziell in Farmen zu züchten, weiß man jedoch, dass die höchste Reproduktionsrate mit einem Verhältnis von einem Männchen zu je fünf Weibchen erzielt werden konnte. Die jungen Schildkröten Junge Diamantschildkröten weisen ähnlich wie viele andere Schildkrötenarten am Schnauzenende einen Eizahn auf. Er besteht aus einer Keratinverdickung, die innerhalb weniger Wochen wieder verschwindet. Mit diesem Eizahn schneiden sie die Eihülle auf. Der Schlupfzeitpunkt eines Geleges ist im Herbst und kann sich über mehrere Tage erstrecken. Einige Jungtiere ziehen es sogar vor, die Nestgrube erst nach der Winterruhe zu verlassen. Ihre Überlebenschancen steigen dadurch nicht: Nach dem Schlupf der ersten Tiere steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Räuber das Gelege finden und die schlupfbereiten Schildkröten fressen. Junge Schildkröten, die das Nest verlassen, suchen in aller Regel sofort Deckung unter niedrig stehenden Pflanzen auf. Sie sind dann etwa so groß wie eine Ein-Euro-Münze und wiegen fünf Gramm. Über die ersten Lebensjahre der Diamantschildkröten ist nur sehr wenig bekannt. Tendenziell halten sich junge Diamantschildkröten aber in den küstennäher liegenden Teilen der Salzmarschen auf und nutzen flachere Wasserzonen als die erwachsenen Tiere. Junge Diamantschildkröten mit einem Körpergewicht unter 50 Gramm weisen im Vergleich zu adulten Schildkröten eine geringere Anpassungsfähigkeit an eine hohe Salinität des sie umgebenden Wassers auf. Studien legen nahe, dass sie sich vor Erreichen dieses Gewichtes am besten entwickeln, wenn der Salzgehalt bei 8 ppt liegt. In freier Natur erreichen sie dieses Körpergewicht meist nicht vor dem Abschluss des ersten Lebensjahres und mitunter erst im Alter von drei Jahren. Über das Heranwachsen der jungen Schildkröten ist allerdings bis jetzt wenig bekannt und es gibt eine Reihe von Hinweisen, die nahelegen, dass sich die Schildkröten während der Frühphase ihres Heranwachsens überwiegend an Land versteckt unter Salzpflanzen aufhalten. Erreichen der Geschlechtsreife Diamantschildkröten erreichen ihre Geschlechtsreife umso früher, je weiter sie in klimatisch begünstigten Regionen leben. Für das Erreichen der jeweiligen Geschlechtsreife ist dabei die erreichte Körpergröße ausschlaggebender als das Lebensalter. Da die jährliche Wachstumsphase der im Norden lebenden Diamantschildkröten temperaturbedingt kürzer ist als die der im Süden lebenden, sind sie in der Regel älter, wenn sie sich das erste Mal fortpflanzen. Weibchen der südlichen Diamantschildkröten pflanzen sich gelegentlich schon im vierten Lebensjahr fort, während die an der Küste von Cape Cod lebenden Weibchen knapp zehn Jahre alt sind, bevor sie das erste Mal Eier legen. Männchen der im Süden lebenden Diamantschildkröten können sich ab ihrem dritten Lebensjahr fortpflanzen, während im Norden die Männchen zwischen fünf und acht Jahre alt sind, bevor sie sich das erste Mal mit einem Weibchen paaren. Lebensalter Schildkröten sind für ihr langes Leben bekannt. Belegt ist, dass einzelne Individuen bestimmter Schildkrötenarten zwischen 160 und 200 Jahre alt wurden. Bei diesen Rekordinhabern handelt es sich jedoch ausschließlich um landlebende Schildkröten. Bei den im Wasser lebenden Schildkröten vermutet man, dass ihr maximales Lebensalter deutlich niedriger ist. Für die Diamantschildkröte liegen bis jetzt noch keine ausreichenden Daten vor, die einen Rückschluss auf ihr maximales Lebensalter erlauben. Mit einer Markierung von einzelnen Individuen hat man erst in den frühen 1980er-Jahren begonnen. Da einige Tiere zu diesem Zeitpunkt bereits geschlechtsreif waren und beim Wiederauffund zwanzig Jahre später nach wie vor keine physischen Einschränkungen aufweisen, schätzt man derzeit die Lebensspanne der Diamantschildkröte auf vierzig Jahre. Bestand Diamantschildkröten führen ein sehr verstecktes Leben, so dass Bestandszahlen nur schwer zu ermitteln sind. Die Einordnung, dass es sich bei der Diamantschildkröte mittlerweile um eine bedrohte Art handelt, resultiert aus zwei Indizien. Für eine Reihe von Regionen, in denen historisch ein Vorkommen von Diamantschildkröten belegt ist, fehlen aktuelle Beobachtungen von Diamantschildkröten. Es wird daher von einem zunehmenden lokalen Aussterben der Art ausgegangen. Das gilt beispielsweise für die Nauset-Marsch, Cape Cod, wo man die letzte Diamantschildkröte 1976 beobachtet hat, sowie für einige Buchten an der Atlantikküste Floridas, wo man die letzte Diamantschildkröte 1986 fand. Auf dem Kiawah Island, South Carolina, wurden mit derselben Fangmethode wie vormals an einigen Buchten an der Atlantikküste Floridas statt zweihundert nur noch fünfzig Individuen wiedergefangen. Als besorgniserregend gilt die Beobachtung, dass in einer Reihe von Regionen eine nicht ausreichende Anzahl jüngerer Weibchen nachwächst, so dass die Population allmählich überaltert. Wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass ganze Altersklassen in der Population fehlen. Das weist darauf hin, dass die Schlupfquoten deutlich gesunken sind oder sich die Überlebensrate der frisch geschlüpften Schildkröten verändert hat. Die IUCN hat die Art der Diamantschildkröte zuletzt 1996 in Hinblick auf ihre Bestandsgefährdung bewertet und sie als „near threatened“ – potenziell gefährdet – eingestuft. Diese Einstufung drückt aus, dass die Tierart nicht unmittelbar in ihrem Bestand gefährdet ist, dass sie jedoch beobachtet werden muss. Erhöhter Druck durch Fressfeinde Eine ausgewachsene Diamantschildkröte hat nur wenige Prädatoren, die ihr nachstellen. Bedroht sind vor allem die Gelege, frisch geschlüpfte und heranwachsende Schildkröten und die klein bleibenden Männchen. Waschbären sind in der Lage, ein frisch gelegtes Gelege in den ersten 24 Stunden anhand seines Geruches aufzuspüren. Zu den Gelegeplünderern zählen aber auch der Rotfuchs, die Amerikanerkrähe und die Fischkrähe, der Nordamerikanische Fischotter, Lachmöwen, die Westatlantische Reiterkrabbe sowie verschiedene Rattenarten. Waschbären haben außerdem gelernt, an Orten mit einer hohen Gelegedichte auf Verdacht nach Eiern zu graben. Frisch geschlüpfte Schildkröten werden von einer Reihe von Vögeln und Säugetieren gejagt und gefressen. Dass nur wenige der jungen Schildkröten die Schlupfphase überleben, ist bei einer ganzen Reihe von Schildkrötenarten zu beobachten. Auch bei anderen Schildkröten wird beobachtet, dass Fressfeinde sich auf die Schlupfzeiten einstellen. Zu den Schutzmechanismen, die junge Diamantschildkröten entwickelt haben, zählt, dass sie unmittelbar nach dem Schlupf Schutz im Pflanzenbewuchs der Salzmarschen suchen. Es besteht wissenschaftlicher Konsens, dass der Druck durch Fressfeinde auf die Diamantschildkröte zugenommen hat. Die Küstenregionen, in denen sie leben, grenzen regelmäßig an Gebiete an, die wegen ihres landschaftlichen Reizes und hohen Freizeitwertes zu begehrten menschlichen Wohnorten gehören. Die Siedlungsdichte hat hier während des letzten Jahrhunderts deutlich zugenommen. Eine Reihe von Fressfeinden der Diamantschildkröte sind Kulturfolger des Menschen. Die Bestandsdichte der in Nordamerika eingeführten Wanderratte, des Waschbären und einiger Marderarten ist durch die Siedlungsnähe des Menschen in den Brutgebieten der Diamantschildkröte angestiegen. Welch drastischen Einfluss dies auf den Schlupferfolg haben kann, zeigen zwei nebeneinanderliegende Strandabschnitte an der Küste von Long Island. Einer der beiden Strandabschnitte ist öffentlich zugänglich und zählt auch abends zu den beliebten Treffpunkten von Jugendlichen. Die Anwesenheit von Menschen hält die Schildkröten nicht davon ab, ihre Nester anzulegen und Eier abzulegen. Sie hält jedoch offenbar Prädatoren fern, die die frischen Gelege plündern. Im angrenzenden Strandabschnitt, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, werden dagegen eine sehr große Zahl von Gelegen unmittelbar nach der Ablage ausgeraubt. In beiden Abschnitten werden frisch geschlüpfte Diamantschildkröten jedoch in hohem Grade von Wanderratten gefressen. Ähnliche Erfahrungen hat man im Jamaica Bay Wildlife Refuge gemacht. Dieses kleine Reservat liegt in Queens unweit des John-F.-Kennedy-Airports in New York und besteht unter anderem aus einer Reihe kleinerer Inseln. Trotz der schlechten Wasserqualität werden dort jährlich etwa 2000 Gelege von Diamantschildkröten gezählt. Dieser Ort ist damit einer der größten bekannten Gelegeorte dieser Schildkrötenart. Seit den späten 1980er-Jahren haben sich im Reservat allerdings Waschbären angesiedelt. Mittlerweile werden 90 Prozent der Gelege durch Waschbären ausgeraubt. Vereinzelt töten die Waschbären sogar die eierlegenden Weibchen und fressen sie auf. Bestandseinflüsse durch den Menschen Vom Grundnahrungsmittel zur Delikatesse Vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert wurden Diamantschildkröten in hoher Zahl gefangen. Sie dienten anfänglich als preisgünstiges Grundnahrungsmittel, das in einigen südlichen Küstenstaaten der USA so häufig Sklaven vorgesetzt wurde, dass sie dagegen streikten. Ein ganzer Wagen beladen mit Diamantschildkröten konnte für einen Dollar gekauft werden. In North Carolina war bei der Netzfischerei der Beifang von Diamantschildkröten gelegentlich so hoch, dass Fischer ihre Netze nicht einbringen konnten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts avancierte die Diamantschildkröte parallel zu den zurückgehenden Fangquoten allmählich zur Delikatesse. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand der erste Gang eines Galadiners aus Schildkrötensuppe. Im Weißen Haus zählte Schildkrötensuppe während der Präsidentschaft von William Howard Taft zu den Gerichten, die zum Lunch bevorzugt serviert wurden. Dazu trank man Champagner. Diamantschildkröten wurden von der Ostküste der USA aus sogar nach Berlin und Paris exportiert. Anfang des 20. Jahrhunderts zahlte man für ein Dutzend großer Diamantschildkröten zwischen 96 und 125 US-Dollar. Das U.S. Bureau of Fisherie unternahm Versuche, Diamantschildkröten in Farmen zu züchten und heranzuziehen. Erst in den 1920er- und 1930er-Jahren kamen Diamantschildkröten als Delikatesse zunehmend aus der Mode. Barbara Brennessel macht dafür drei Faktoren verantwortlich. Während der Weltwirtschaftskrise konnten sich immer weniger Personen den Kauf dieser Delikatesse erlauben. Die Zubereitung einer Diamantschildkröte für eine Suppe oder Ragout ist arbeitsaufwendig und brutal. Einige Rezepte verlangen, dass die Diamantschildkröte lebend in ihrem Panzer geröstet wird. Da immer weniger Familien Dienstboten beschäftigten, denen man diese Arbeit übertragen konnte, wichen nach Ansicht von Brennessel Hausfrauen auf einfacher zuzubereitende Gerichte aus. Eine Rolle hat möglicherweise auch die Prohibition gespielt. Schildkrötengerichte werden gewöhnlich mit Madeira abgeschmeckt. Da besonders die großen Schildkröten nachgefragt wurden, wurden vor allem die für den Populationsbestand wichtigen geschlechtsreifen Weibchen gefangen. Der allmähliche Rückgang der Fangquoten während dieser Zeit ist ein sicheres Indiz dafür, dass die Fischerei einen wesentlichen negativen Einfluss auf die Bestandsentwicklung der Diamantschildkröten hatte. Untersuchungen an anderen Schildkrötenarten wie etwa der Macrochelys temmincki belegen gleichfalls, dass aufgrund der niedrigen Reproduktionsrate selbst geringe Fangquoten zu signifikanten Populationseinbrüchen führen. In der Chesapeake-Bay dürfen von dafür lizenzierten Fischern nach wie vor Schildkröten zum Verzehr gefangen werden. Die jährliche Fangquote wird auf 10.000 Tiere geschätzt. Nachgefragt werden Schildkröten als Nahrungsmittel vor allem durch ethnische Minderheiten wie etwa Chinesen. Der Einzelhandelspreis pro Schildkröte lag in den frühen 2000er-Jahren auf New Yorker Märkten bei etwa 20 US-Dollar. Bestandsverluste durch den Beifang bei der Krabbenfischerei Dort, wo an der nordamerikanischen Ostküste jedoch mit Fallen nach Blaukrabben (Callinectus sapidus) gefischt wird, ist die Beifangquote von Diamantschildkröten hoch. Die Bestandsbedrohung, die davon ausgeht, ist sehr viel größer als die der nach wie vor erlaubten kommerziellen Fischerei auf Diamantschildkröten. Eine mittlerweile mehr als 20 Jahre alte Studie schätzte den täglichen Beifang durch die 743 kommerziellen Krabbenfischer auf 2500 Diamantschildkröten. Als Luftatmer ersticken die Diamantschildkröten innerhalb weniger Stunden, wenn sie in diese Fallen gehen. Zu den eingeleiteten Schutzmaßnahmen zählen daher Krabbenfallen, die so konstruiert sind, dass Schildkröten nicht an die darin ausgelegten Köder gelangen können. Bestandsverluste durch Straßenverkehr Einen wesentlichen negativen Einfluss auf den Bestand der Diamantschildkröte hat der Straßenverkehr. Straßen, die die Küstengebiete touristisch erschließen, verlaufen häufig durch die Niststandorte der Diamantschildkröte. Auf dem Weg dorthin werden regelmäßig vor allem die für den Bestandserhalt wichtigen geschlechtsreifen und eiertragenden Weibchen überfahren. In einer eher ungewöhnlichen Maßnahme zum Erhalt der Diamantschildkröte werden in New Jersey seit 1997 diese überfahrenen Tiere vom Wetland Institute in Stone Harbor, New Jersey, und vom Richard Stockton College of New Jersey seziert, die unbeschädigt gebliebenen Eier entnommen und künstlich ausgebrütet. Künstliche Aufzucht als Schutzmaßnahme In den USA gibt es mehrere Initiativen, die sich zum Ziel gesetzt haben, den kommerziellen Handel mit Diamantschildkröten gesetzlich verbieten zu lassen. Darüber hinaus werden frisch gelegte Nestgruben geschützt, indem sie mit Drahtkörben umgeben werden, so dass Prädatoren die Gelege nicht mehr ausgraben können. Headstarting ist eine weitere, teils umstrittene Maßnahme, um die Bestandszahlen zu erhöhen. Dabei werden in der Regel Eier künstlich ausgebrütet und die jungen Schildkröten bei erhöhten Haltetemperaturen und regelmäßiger Fütterung durch den ersten Winter gebracht. Auf die sonst in freier Natur vorkommende Winterruhe wird verzichtet. Solche Diamantschildkröten haben am Ende ihres ersten Winters eine Größe erreicht, die denen von zwei- bis dreijährigen Schildkröten in freier Natur entspricht. Werden die Tiere dann ausgesetzt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Prädatoren zum Opfer fallen, sehr viel geringer. Die künstliche Aufzucht wird bei einer Reihe von Schildkrötenarten angewendet. Die Methode ist aus einer Reihe von Gründen umstritten. Noch ist nicht bewiesen, dass auf solche Art herangezogene Schildkröten sich einem Leben in freier Wildbahn anpassen. Es gilt auch als nicht hinreichend belegt, dass diese Schildkröten sich fortpflanzen, wenn sie die Geschlechtsreife erreicht haben. Bei der Diamantschildkröte sind die meisten Headstarting-Programme daher auf Gelege begrenzt, bei denen keine oder eine nur sehr geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die darin enthaltenen Eier zum Schlupf kommen. Systematik Die Diamantschildkröte gehört zu den Halsberger-Schildkröten, die sich während der Jurazeit vor 180 Millionen Jahren zu entwickeln begannen und mit 13 Familien heute noch vertreten sind. Die zu diesen Gruppen gehörenden Schildkröten können ihren Kopf in den Panzer zurückziehen. Die Halswirbel dieser Tiere sind zu diesem Zweck speziell geformt, damit sich das Rückgrat S-förmig krümmen kann. Die Familie, denen die Diamantschildkröten zugerechnet werden, ist die der Neuwelt-Sumpfschildkröten. Fossilienfunde an der Küste von South Carolina legen nahe, dass die Diamantschildkröte sich im Pleistozän entwickelte. Einige Details des Schädels und des Schildkrötenpanzers zeigen eine enge Verwandtschaft zu den nur im Süßwasser lebenden Höckerschildkröten an. Beiden Arten fehlen bei den Pterygoid-Teilen des Oberschädels die seitlichen Fortsätze hin zum Basioccipitale. Am Ende des Carapax ist zu erkennen, dass sich Furchenabdrücke der Postcentralschilder auf der Pygalplatte befinden. Die Diamantschildkröte entwickelte sich entweder aus der Gattung der Höckerschildkröten oder beide Gattungen stammen von einem gemeinsamen, ebenfalls an Süßwasser gebundenen Vorfahren ab. Die evolutionäre Entwicklung der salztoleranten Diamantschildkröte aus einer im Süßwasser lebenden Art erfolgte möglicherweise zunächst über eine Verhaltensanpassung, bei der die Schildkröten Salzwasser nur während des Fressens aufnahmen. Solch ein Verhalten findet man beispielsweise auch bei den in Süßwasser lebenden Schnappschildkröten, die so kurzfristig in Wasser mit einem erhöhten Salzgehalt überleben können. Dem folgte zunehmend eine allmähliche physiologische Anpassung, die zur Entwicklung von Drüsen führte, über die Salz ausgeschieden werden konnte. Diamantschildkröten erschlossen sich über diese Anpassungen einen an Nahrung reichen Lebensraum, den sie nur mit wenigen Fresskonkurrenten teilen mussten. Quellen Literatur D. Alderton: Turtles and Tortoises of the World. New York 1988, ISBN 0-8160-1733-6. Barbara Brennessel: Diamonds in the Marsh: A Natural History of the Diamondback Terrapin. University Press of New England, 2006, ISBN 1-58465-536-4. C. H. Ernst, J. E. Lovich, R. W. Barbour: Turtles of the United States and Canada. New York 2000, ISBN 1-56098-823-1. Ronald Orenstein: Turtles, Tortoises and Terrapins – Survivors in Armor. Firefly Books, Buffalo 2001, ISBN 1-55209-605-X. D. G. Senn: Eine Naturgeschichte der Schildkröten. Bottmingen/Schweiz 1992 H. Vetter: Turtles of the World – Schildkröten der Welt. Band 2: Nordamerika. Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-930612-57-7. Einzelnachweise Weblinks [ Diamantschildkröte auf der IUCN-Webseite] Neuwelt-Sumpfschildkröten
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https://de.wikipedia.org/wiki/Prieschka
Prieschka
Prieschka ist ein Ortsteil der Kurstadt Bad Liebenwerda im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster. Die gegenwärtig 300 Einwohner zählende Ortschaft geht auf eine slawische Siedlung zurück, die sich auf einer vom Wasser der Schwarzen Elster umgebenen Insel im heutigen Kernbereich des Dorfes befand. Das Dorf wurde urkundlich 1325 erstmals als Prischka erwähnt. Es gehörte zur Herrschaft Würdenhain, die 1442 auf Befehl des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen aufgelöst wurde. Um 1520 entstand an der Schwarzen Elster ein Mühlengut, aus dem 1698 das Prieschkaer Erb- und Freigut mit dem dazugehörigen Gutsbezirk hervorging. An der Dorfstraße wurde 1929 ein heute denkmalgeschützter Glockenturm aus roten Klinkern mit Hilfe von Spendengeldern zweier Brüder aus Leipzig zur Erinnerung an ihren Geburtsort Prieschka errichtet. Im Verlauf der Kreisgebietsreform in Brandenburg wurde der Ort am 6. Dezember 1993 nach Bad Liebenwerda eingemeindet. Nordöstlich der Ortslage erstreckt sich als Teil des Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft das etwa 80 Hektar umfassende Naturschutzgebiet Alte Röder bei Prieschka, das unter anderem der Erhaltung und Entwicklung des dort bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nachgewiesenen Elbebibers dient. Geografie Geografie und Naturraum Der Ort befindet sich linksseitig an der Einmündung der Großen Röder in die Schwarze Elster im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das wenige Kilometer östlich in der Niederung des Schradens zwischen Elsterwerda und Merzdorf mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt. Umgeben ist Prieschka vom etwa 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet Elsteraue, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist, wobei das Teilgebiet Elsteraue II Prieschka einschließt. Einer der Schutzzwecke des Landschaftsschutzgebietes ist die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich der Kurstadt Bad Liebenwerda, die etwa fünf Kilometer nördlich des Dorfes liegt. Als Teil des 484 Quadratkilometer umfassenden Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft erstreckt sich nordöstlich der Ortslage das etwa 80 Hektar große Naturschutzgebiet Alte Röder bei Prieschka. Sein Schutzzweck ist unter anderem die Erhaltung und Entwicklung dieses Gebietes als Lebensraum des Elbebibers und anderer existenzbedrohter Tierarten. Die 1981 unter Naturschutz gestellte Röderniederung beherbergt eines der beständigsten Vorkommen des vom Aussterben bedrohten Elbebibers. Bereits für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist dort das Vorkommen der seltenen Unterart des Europäischen Bibers bekannt; im Jahr 2002 betrug der Gesamtweltbestand 6000 Tiere. Klima Mit seinem humiden Klima liegt Prieschka in der kühl-gemäßigten Klimazone, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die nächsten Wetterstationen befinden sich in Richtung Nordosten in Doberlug-Kirchhain, westlich in Torgau und südlich in Oschatz. Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der etwa 20 Kilometer nordöstlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Der Unterschied zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli beträgt 18,4 °C. Geschichte Ortsname und erste urkundliche Erwähnung Eine erste urkundliche Erwähnung des Ortes erfolgte 1325 als Prischka. Weitere Formen des Ortsnamens waren: 1408 Prischka 1443 Brissigk 1463 Brißk 1484 Prischk 1486 Brissig 1540 Brischk 1550 Prischka 1577 Brischkaw 1675 Prischke, Pritschke, Prißke Die Namensformen von 1325 und 1408 sind durch spätere Abschriften überliefert. Sie zeigen Schreibgewohnheiten aus dem 16. Jahrhundert. Am wahrscheinlichsten ist eine Ableitung der Ortsnamen aus dem altsorbischen Brež(e)k (Ort am Ufer), vielleicht auch Brežky oder obersorbisch brjóh, niedersorbisch brjog (Rand, Ufer), polnisch brzeg und Brezky (kleine Birken, Birkenwäldchen). Frühgeschichte Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung in Prieschka stammen aus der mittleren Steinzeit. Auch aus der später folgenden Bronzezeit wurden auf der Feldflur des Ortes Siedlungsspuren gefunden. Außerdem befindet sich dort ein germanischer Friedhof aus der Zeit des 3. und 4. Jahrhunderts, von dem einige Gräber in den Jahren 1907 und 1928 sachgemäß freigelegt werden konnten. Die in Prieschka gefundenen Brandgrubengräber werden dem Stamm der Burgunden zugeschrieben. Bei den Funden handelt es sich neben Tongefäßen unter anderem um Lanzen- und Pfeilspitzen, Äxte, Messer sowie Schwerter, Sporen und Eimerhenkel. Sie gelangten zum größten Teil in das Berliner Staatsmuseum, das Hallenser Landesmuseum für Vorgeschichte und in das Bad Liebenwerdaer Kreismuseum. Von der Entstehung der Ortschaft bis zur Reformation Die Gründung des Ortes geht auf eine slawische Siedlung zurück, die sich inmitten eines Waldes auf einer vom Wasser der Schwarzen Elster umgebenen Insel befand. Das Dorf hatte eine typische Hufeisenform, die auch als Rundweiler bezeichnet wird. Prieschka gehörte ursprünglich zur Herrschaft Würdenhain. Kernstück der Herrschaft war der etwa 1700 Morgen umfassende Eichwald, auch Oppach genannt, der sich östlich von Prieschka befand. Nur Prieschka besaß damals schon eine kleine offene Flur für die dortige wendische Siedlung. 1442 wurde der Würdenhainer Schlossherr Hans Marschalk wegen Landfriedensbruch ins Gefängnis geworfen. Kurfürst Friedrich der Sanftmütige ließ sein Lehen einziehen und das Würdenhainer Schloss schleifen. Das Würdenhainer Herrschaftsgebiet wurde an die Herrschaft Mühlberg übertragen. Im folgenden Jahr kam das Gebiet durch Tausch- und Kaufgeschäfte an den böhmischen Adligen Hinko Birke von der Duba. Um 1484 war Prieschka Leibgedinge von Agnes von Bircke (geb. von Schleinitz). Ab 1520 gehörte Prieschka dem Amt Mühlberg an, dem das einstige Würdenhainer Herrschaftsgebiet angegliedert wurde und wohin fortan Steuern und Frondienste zu leisten waren. Im selben Jahr entstand dort am Flusslauf der Schwarzen Elster ein Mühlengut, aus dem später das Prieschkaer Rittergut hervorging. Für das Jahr 1550 ist belegt, dass es in Prieschka, wo zu dieser Zeit noch Sorbisch gesprochen wurde, dreizehn „besessene Mann“ gab. Vierzehn Jahre später kam es zu einem Aufruhr der Bauern aus Prieschka, Würdenhain, Haida und Reichenhain gegen den Mühlberger Amtsvogt Fuchs. Sie legten ihre Beschwerden in einem Schriftstück Die 10 Klageartikel der Dorfschaften Werdenhayn und Heide nieder und leiteten es über den Amtmann nach Dresden. Da sie aber dem Dienstweg nicht trauten, schickten sie eine zweite Ausfertigung direkt an den Kurfürsten „zu seinen selbstigen Händen“. Sie beschwerten sich unter anderem über die Beeinträchtigung der Fischerei und der Forstnutzungsrechte sowie über geschmälerten Lohn beim Schlossbau in Mühlberg. Da man das Vorgehen der Bauern als gefährlich und strafwürdig ansah, ordnete Dresden daraufhin zunächst Nachforschungen nach den „Rehdelsführern“ an. Der Würdenhainer Kretzschmann (Schankwirt) Hans Bräunig, der Wortführer der Bauern, wurde zunächst verhaftet. Er und einige andere beteiligte Bauern wurden später mit Gerichtsbußen belegt. Die Bewohner des Ortes waren nach Würdenhain eingepfarrt. Sie nahmen während der Reformation im Jahre 1541 den evangelischen Glauben an. Der auf dem Prieschkaer Mühlengut geborene katholische Pfarrer Thomas Bantzer weigerte sich allerdings, den lutherischen Glauben anzunehmen, errichtete auf dem Würdenhainer Pfarrgut ein Häuschen und entsagte seinem Amte. Zu Himmelfahrt 1541 wurde der erste lutherische Pfarrer in Würdenhain ordiniert. Die alten Bräuche und Sitten legte die einfache Bevölkerung allerdings nicht einfach ab und so wurde noch im Jahre 1578 aus dem Kirchspiel berichtet: „In Prieschka und Oschätzchen werden Lobetänze gehalten, dabei geschieht allerlei Leichtfertigkeit mit Verdrehen und sonst.“ Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Koalitionskriegen Im Jahre 1618 brach nach dem Prager Fenstersturz der Dreißigjährige Krieg aus. Er brachte für die gesamte Region viel Elend und Plünderungen durchziehender Truppen. Aber auch die Pest forderte während dieser Zeit Opfer. Als im Jahre 1626 in Prieschka diese hochgradig ansteckende Infektionskrankheit ausbrach, starben in der Ortschaft zwanzig Menschen und damit etwa die Hälfte der Prieschkaer Einwohner. Im Januar 1637 bezogen die Scharen des schwedischen Generals Johan Banér ihr Winterquartier bis zum Frühsommer in Torgau. Dabei durchstreiften sie das angrenzende Elbe-Elster-Gebiet, plünderten die Orte und setzten sie in Brand. Beim Einfall der Truppen in Prieschka gab es etwa zwanzig Tote und vier zerstörte Gehöfte. Im Jahr 1692 gelangte das Prieschkaer Mühlengut durch Vererbung in den Besitz des Obristwachtmeisters Andreas Gottfried von Kirchbach. Gleichzeitig erwarb er alle Ländereien der durch den Dreißigjährigen Krieg verwaisten Bauernhöfe. Im Jahre 1698 erhielt er die Ober- und Erbgerichte sowie die Schriftsässigkeit und es entstand das Erb- und Freigut mit dem dazugehörigen Gutsbezirk. Von Kirchbach vererbte das Gut 1724 seinem Vetter Hans Karl von Kirchbach. Im Jahr 1766 gelangte es in den Besitz von Heinrich Rudolf Vitzthum von Eckstädt, der es bis 1800 behielt. Zu dieser Zeit waren die Koalitionskriege nach der Französischen Revolution bereits im vollen Gange und gingen auch an Prieschka nicht spurlos vorüber. Die Region hatte insbesondere im Vorfeld der Völkerschlacht bei Leipzig im Herbst 1813 unter riesigen Truppenbewegungen zu leiden. Ende September nahmen die Korps der Generäle Dobschütz und Tauentzien mit 30.000 Mann in Liebenwerda für zehn Tage Quartier. Vom 28. bis 30. September 1813 lagerte das Korps von Gebhard Leberecht von Blücher mit ebenfalls 30.000 Mann im unweit entfernten Elsterwerda. Die Einwohner von Prieschka mussten zwischen den Jahren 1806 und 1807 mehrmals französische Truppen einquartieren. Eine Überlieferung besagt, dass ein französischer Reiter auf den Breitenwiesen, einem an der Schwarzen Elster gelegenen Flurstück zwischen Prieschka und Würdenhain, im Morast stecken geblieben und versunken sei. Vom Wiener Kongress bis zur Auflösung des Prieschkaer Gutsbezirks Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses 1815 gelangte Prieschka schließlich vom Königreich Sachsen zum Regierungsbezirk Merseburg der preußischen Provinz Sachsen und es entstand 1816 der Kreis Liebenwerda, in dem ein großer Teil des Amtes Mühlberg, das Amt Liebenwerda sowie Teile des Amtes Großenhain aufgingen. Im Jahr 1833 wurde der Oppach, der in der Gegenwart nahezu vollständig entwaldet ist, zwecks Separation vermessen. Die Rechte der anliegenden Dörfer (mit Ausnahme von Saathain) zur Nutzung dieses Gebietes wie Hutung, Graserei, Fischerei, Entnahme von Raff- und Leseholz, Lehm, Sand oder Kies wurden durch Übertragung großer Flächen abgefunden. Dabei entstanden auch die neuen Gemeindegrenzen, die zum Teil schnurgerade verliefen. Durch die Teilung der Forstreviere erwarb das Prieschkaer Rittergut die Flurstücke Oppach und Kliebing. Damit vergrößerte es sich erheblich. Die Waldgebiete reichten bis zu den Orten Würdenhain, Saathain und Reichenhain und grenzten an die Gemarkungen von Oschätzchen und Zobersdorf. Prieschka erhielt allein 276 Morgen, davon das Rittergut mit 59 Morgen. Wahrscheinlich erfolgten in dieser Zeit größere Abholzungen und die Urbarmachung für Äcker und Wiesen. Kurze Zeit später wurde 1849 die gutsherrliche Gerichtsbarkeit aufgehoben und im Jahr 1852 begannen nahe dem benachbarten Dorf Zeischa die ersten Bauarbeiten zur Regulierung der Schwarzen Elster, nachdem die preußische Provinzialregierung bereits seit 1817 versucht hatte, Pläne für dieses Vorhaben zu entwickeln. Der Fluss, der bis dahin aus zahlreichen Fließen bestand, erhielt bis 1861 sein heutiges Bett und wurde mit Dämmen eingedeicht. Die Große Röder, die vorher in Würdenhain mündete, wurde in das alte Elsterbett (Alte Röder) geleitet und mündete bis zum Ersten Weltkrieg etwa sechshundert Meter nordöstlich der Prieschkaer Ortslage am Gänsewinkel in den neuen Flusslauf der Schwarzen Elster. Etwa zur selben Zeit begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung der Region um Prieschka. Den Ort selbst, in dem die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle blieb, betraf diese Entwicklung nur indirekt. Das Dorf lag abseits wichtiger Eisenbahnstrecken und Straßen. Der Fischfang in den Flüssen Röder und Schwarze Elster war infolge der zunehmenden Verunreinigung durch die neu entstandenen Industriebetriebe, wie das Zellstoffwerk in Gröditz, weitgehend unmöglich geworden. Prieschkaer Einwohner fanden in den sich in der Folgezeit vergrößernden, verkehrsgünstig besser gelegenen Orten der Umgebung Arbeit. 1863 ließ der Rittergutsbesitzer und preußische Offizier Leutnant Rudolf Fischer eine Umwandlung des gesamten Gutes vornehmen. Er siedelte sich mit dem Gut, zu dem etwa 700 Morgen Land gehörten, nun etwa 500 Meter nördlich der Prieschkaer Ortslage an und ließ dort 1868 ein neues Herrenhaus errichten. Die alten an der Röder gelegenen Gebäude ließ er zum großen Teil abbrechen. Die Prieschkaer Kinder besuchten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Dorfschule in Würdenhain. Die noch aus dem Spätmittelalter stammenden Strukturen hatten sich teilweise auch wegen der immer noch bestehenden Kirchspielgrenzen bis dahin erhalten. Im Jahre 1898 wurden die Kinder des Dorfes in Würdenhain ausgeschult. Zunächst wurde das alte Herrenhaus des Rittergutes an der Mühle, das die Gemeinde erworben hatte, als Schulhaus genutzt. Vier Jahre später wurde die Prieschkaer Schule erbaut. Am 17. August 1902 fand die Schulweihe, verbunden mit einem Kinderfest, statt. Darüber erschien ein Bericht im Liebenwerdaer Kreisblatt. Im Jahr 1909 wurden dreihundert Morgen des siebenhundert Morgen umfassenden Rittergutes parzelliert; der Deutsche Privat-Beamten-Verein verkaufte die Anteile. Die restlichen vierhundert Morgen erwarb der bisherige Gutsinspektor Georg Steblein (1855–1909), der allerdings noch im Februar desselben Jahres verstarb. Nach seinem Tod erbte es seine Ehefrau. 1926 kam das Rittergut in den Besitz von Otto Klaue. Kurze Zeit später, im Jahr 1928, wurde der Prieschkaer Gutsbezirk aufgelöst. Sämtliche Geschäfte des Dorfes übernahm von da an der Gemeindevorsteher. Während des Ersten Weltkrieges wurde die Mündung der Großen Röder im Zuge ihrer Regulierung durch die Röderregulierungsgenossenschaft Saathain wieder nach Würdenhain verlegt. Da es der Alten Röder nun an Fließgeschwindigkeit fehlte, erhielt der Prieschkaer Mühlenbesitzer vom Regierungsbezirk eine Entschädigung von 30.000 Mark. Um den Mühlenbetrieb in Prieschka aufrechtzuerhalten, erfolgte der Einbau eines Ölmotors. Außerdem wurde die Mühle modernisiert. Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart Als am Ende des Zweiten Weltkrieges am 22. April 1945 die Rote Armee den Ort erreichte, starben bei Schießereien neun Einwohner und sieben Soldaten. Bereits im Herbst 1945 begann im Kreis Bad Liebenwerda die Bodenreform. Dabei erfolgte gemäß der Bodenreformverordnung (BRVO) die Enteignung und Aufteilung von privatem und staatlichem Großgrundbesitz über 100 Hektar mit allen Gebäuden, lebendem und totem Inventar sowie anderem landwirtschaftlichen Vermögen. Unter Einspruch des Rittergutsbesitzers Fritz Dotti wegen der relativ geringen Überschreitung der festgelegten Obergrenze teilte man im Kreis laut Protokoll der Kreisverwaltung am 11. Oktober 1945 zuerst die 116 Hektar umfassenden Flächen in Prieschka auf. Bis zum 1. März des folgenden Jahres waren im Kreis insgesamt 9580 Hektar enteignet und verteilt. In der im Oktober 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik gehörte Prieschka zunächst zum 1952 aufgelösten Land Sachsen-Anhalt. Nach der Gründung der Bezirke gehörte die Ortschaft bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 zum Bezirk Cottbus. Im Jahr 1961 erfolgte in Prieschka die Gründung der LPG Elstergrund, die 1964 in ein Volkseigenes Gut umgewandelt wurde. Außerdem nahm man Verbesserungen der Infrastruktur im Dorf vor. Das Feuerwehrhaus wurde von 1965 bis 1966 errichtet und ein Jahr darauf weihte man eine Konsum-Verkaufsstelle ein. Kurz vor der Wende begann in Prieschka der Bau einer zentralen Trinkwasserversorgung, dem 1993 der Straßenausbau und ein neues Abwasserkanalnetz folgten. Prieschka gehörte bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahre 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde in den Landkreis Elbe-Elster einging. Am selben Tag wurde die Gemeinde zusammen mit den Orten Dobra, Kosilenzien, Kröbeln, Lausitz, Maasdorf, Möglenz, Neuburxdorf, Oschätzchen, Thalberg, Theisa, Zeischa und Zobersdorf in die Stadt Bad Liebenwerda eingemeindet. Bevölkerungsentwicklung 1835 zählte das Dorf 33 Wohnhäuser mit 177 Einwohnern. Es wurden 31 Pferde, 238 Stück Rindvieh, 8 Ziegen und 65 Schweine gezählt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl Prieschkas durch den Zuzug von Vertriebenen im Jahre 1946 bis auf 533. Sie erreichte damit ihren Höchststand. Bis 2016 sank die Zahl auf 286. Politik Ortsteilvertretung Seit der Eingemeindung des Dorfes nach Bad Liebenwerda 1993 ist Prieschka ein Ortsteil der Kurstadt. Vertreten wird Prieschka nach der Hauptsatzung der Stadt durch den Ortsvorsteher und einen Ortsbeirat. Ortsvorsteher ist gegenwärtig Sandro Lindner, der Ortsbeirat ist Björn Küster und Janin Weser. Wappen und Siegel Der heutige Ortsteil Prieschka führt kein eigenes Wappen. Allerdings ist von Prieschka ein altes Dorfsiegel erhalten geblieben, das wie die meisten der wenigen bekannten Dorfsiegel des Altkreises Bad Liebenwerda vermutlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. In der Mitte des Siegels befindet sich eine Figur, die man als Frauengestalt oder Sämann deuten kann, welche in der rechten Hand einen Gegenstand hält. Über deren Haupt ist eine Wolke angedeutet. In der Umschrift des hochovalen Siegels befindet sich der Ortsname Prieschka. Kultur und Sehenswürdigkeiten Freizeit und Tourismus Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Prieschka mit den Sehenswürdigkeiten des Umlandes und dem Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft. Mit der Tour Brandenburg führt der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto 500 Kilometer durch die Zeit in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg. An der Elsterbrücke am Flusskilometer 64,5 befindet sich eine Bootsanlegestelle für den in jüngerer Zeit aufkommenden Gewässertourismus. Das Waldbad Zeischa, wo sich auch ein Campingplatz mit 137 Stellplätzen und Mietbungalows befindet, liegt etwa drei Kilometer nordöstlich der Prieschkaer Ortslage. Jährliche Höhepunkte des Ortes sind das Frühlingsfest in der Behindertenwohnstätte pro civitate, die Maibaum-Aufstellung und das Kinder- und Dorffest. Aktive Vereine sind der Feuerwehrverein Prieschka e. V. sowie der örtliche Jugendclub. Bauwerke In Prieschka befinden sich zwei Bauwerke, die in der Denkmalliste des Landkreises Elbe-Elster aufgenommen wurden, ein 1827 erbautes Fachwerkhaus in der Dorfstraße 62 und der Prieschkaer Glockenturm an der Einmündung der Würdenhain Straße in die Dorfstraße, der 1929 zum großen Teil von den im Prieschka geborenen Brüdern Georg und Julius Müller aus Leipzig gestiftet wurde. Sie spendeten 5000 Mark für die Anschaffung zweier Glocken und wurden daraufhin zu Ehrenbürgern der Gemeinde ernannt. Eine lange Geschichte hatte die Prieschkaer Mühle am Ortsausgang in Richtung Waldbad Zeischa. Bereits Anfang des 16. Jahrhunderts soll es an dieser Stelle ein Mühlengut an einem dort entlangführenden Lauf der Schwarzen Elster gegeben haben, das zunächst dem meißnischen Adelsgeschlecht von Schleinitz gehörte. Nachdem die Mühle zu DDR-Zeiten zur Herstellung von Mischfutter für die Rinder- und Schweinemast umgerüstet wurde, ruhte der Mühlenbetrieb seit der Reprivatisierung kurz nach der Wende. Im Jahre 2013 wurde sie schließlich abgerissen. Ein weiteres, das Prieschkaer Ortsbild prägendes Gebäude war die einstige Gaststätte Zum Elstergrund, die sich gegenüber dem 1902 errichteten roten Backsteinbau der ehemaligen Prieschkaer Schule befand. Bereits 1768 hatte der Landwirt Funke am selben Standort den Gasthof Zum goldenen Hirsch errichtet. Nachdem der Gasthof und weitere Gebäude des Schankgutes 1839 völlig niedergebrannt waren, erfolgte 1841 der Neubau und der Gasthof erhielt seinen heutigen Namen. An der linken Seite des Gasthauses wurde 1929 ein flaches Gebäude angebaut. Ab 1967 war die Gaststätte im Besitz der Konsumgenossenschaft, die dort auch eine Verkaufsstelle einrichtete. Der Gaststättenbetrieb wurde nach der Wende aufgegeben; das ungenutzte Gebäude wurde 2022 abgerissen. Das Eingangsportal des Prieschkaer Friedhofs in der Reichenhainer Straße wurde in Form eines Heldentors gestaltet. In den Säulen des am 7. Juni 1925 eingeweihten Kriegerdenkmals befinden sich Tafeln mit fünfzehn Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Dorfbewohner. Zum Gedenken der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen oder Vermissten befinden sich am Eingang der Trauerhalle links und rechts Tafeln mit insgesamt fünfzig Namen. Wirtschaft und Infrastruktur In Prieschka sind einige mittelständische Unternehmen ansässig, wie der Steinmetzbetrieb Bötig, der Elektroinstallateurbetrieb Schmidt oder die Osterhuber Agrar GmbH, die seit 1991 das Prieschkaer Gut bewirtschaftet. Seit 2004 befindet sich dort mit dem Haus Prieschka eine behindertengerechte Wohn- und Pflegestätte der Unternehmensgruppe pro civitate, die vierzig Personen Platz bietet. Im Ort befindet sich eine Tierarzt-Praxis für Groß- und Kleintiere. Die dem Dorf am nächsten gelegenen Gewerbegebiete befinden sich in Haida, Bad Liebenwerda und Elsterwerda. Im Ort zweigt die Landesstraße 593 von der Landesstraße 59 in Richtung Waldbad Zeischa und Bundesstraße 101 ab. Die nächstgelegenen Bahnhöfe sind Elsterwerda-Biehla und Bad Liebenwerda an der Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster und der Bahnhof Elsterwerda an den Bahnstrecken Berlin–Dresden und Riesa–Elsterwerda. In Prieschka erscheint als regionale Tageszeitung die Lausitzer Rundschau. Sie wird im Elbe-Elster-Kreis als Elbe-Elster-Rundschau herausgegeben und hat insgesamt eine Auflage von etwa 99.000 Exemplaren. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt erscheinen wöchentlich. Die Stadt Bad Liebenwerda gibt monatlich das Amtsblatt Der Stadtschreiber heraus; der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf. Des Weiteren erscheint seit 2016 sechsmal jährlich das örtliche Informationsblatt Der Hammer in Prieschka, welches die Einwohner über Neuigkeiten und Veranstaltungen im Ort informiert. Das Blatt entstand mit dem Hintergrund, dass es im Ort einst Tradition war, Informationen und Mitteilungen auf einem Holzbrett geheftet von Haushalt zu Haushalt zu verbreiten, in dem dieses von Haus zu Haus gereicht und der Hammer genannt wurde. Bildung Die Kinder des Ortsteils werden gegenwärtig in Bad Liebenwerda eingeschult. Das dortige Grundschulzentrum Robert Reiss mit dem Status einer Ganztagsschule entstand im August 2006 durch den Zusammenschluss der Grundschulen in Bad Liebenwerda, Neuburxdorf und Zobersdorf, wo bis zu diesem Zeitpunkt auch die Prieschkaer Kinder eingeschult wurden. Des Weiteren gibt es in Bad Liebenwerda eine Oberschule. Eine Förderschule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung befindet sich im benachbarten Ortsteil Oschätzchen. Die Kreisvolkshochschule Elbe-Elster bietet in ihrer Bad Liebenwerdaer Regionalstelle Kurse und andere Weiterbildungsmöglichkeiten an. Die Kreismusikschule Gebrüder Graun hat in der Stadt eine Außenstelle. Außerdem gibt es dort eine Stadtbibliothek, die neben den üblichen Ausleihmöglichkeiten von gegenwärtig etwa 20.300 Medien, Bibliotheksführungen, literarische Veranstaltungen und Schriftstellerlesungen anbietet. Ein Gymnasium sowie weitere Bildungseinrichtungen befinden sich in der etwa zehn Kilometer östlich von Prieschka gelegenen Stadt Elsterwerda. Persönlichkeiten Der kursächsische Kapellmeister und Komponist Friedrich Christoph Gestewitz wurde am 3. November 1753 in Prieschka geboren. Er starb am 1. August 1805 in Dresden. Literatur Rudolf Matthies: Chronik des Dorfes Würdenhain. Einzelnachweise Weblinks Homepage des Ortsteils Prieschka Der Hammer, Informationsblatt für Prieschka Ehemalige Gemeinde (Landkreis Elbe-Elster) Ort im Landkreis Elbe-Elster Ort an der Schwarzen Elster Geographie (Bad Liebenwerda) Ersterwähnung 1325 Gemeindeauflösung 1993
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20der%20deutschen%20Sozialdemokratie
Geschichte der deutschen Sozialdemokratie
Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie reicht bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. In dieser Zeit entstanden zunächst frühsozialistisch orientierte Exilorganisationen – vor allem in Frankreich, England und der Schweiz; und im Gefolge der bürgerlichen Märzrevolution 1848 mit der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung auch eine erste überregionale Organisation der Arbeiterbewegung in den Staaten des damaligen Deutschen Bundes, die sowohl die Entwicklung der Gewerkschaften als auch der sozialistischen Parteien im deutschen Sprachraum einleitete. Überblick Nach dem Ende der Reaktionsära, die der Revolution von 1848/49 folgte, begannen sich in den 1860er Jahren sozialdemokratische Parteien zu bilden, die die Tradition der gegenwärtigen SPD begründeten. Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet, zunächst angeführt von Ferdinand Lassalle. Daneben entstand ab Mitte/Ende der 1860er Jahre die Eisenacher Richtung, vor allem geprägt von August Bebel und Wilhelm Liebknecht (1866 Sächsische Volkspartei, 1869 Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP). Beide Richtungen hatten Konflikte in Bezug auf die Gewerkschaftsfrage und die Form des entstehenden deutschen Nationalstaates, schlossen sich jedoch 1875, vier Jahre nach der 1871 erfolgten Gründung des Deutschen Kaiserreichs, zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) zusammen. Das 1878 von Reichskanzler Otto von Bismarck initiierte „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz) kam einem Parteiverbot gleich, in dessen Folge die Arbeiterbewegung bis zum Ende der 1880er Jahre massiv behindert wurde. Nach der Aufhebung des Gesetzes wurde die SAP 1890 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannt. Unter diesem Namen entwickelte sie sich in den folgenden Jahren hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen und Wahlergebnisse zu einer Massenpartei. Nach der Reichstagswahl 1912 stellte die SPD vor der Zentrumspartei erstmals die stärkste Fraktion im Reichstag. Sie verblieb jedoch bis zur Oktoberreform von 1918 – also bis fast zum Ende des Ersten Weltkriegs – in der Opposition, da im Deutschen Kaiserreich die vom Monarchen (ab 1888 Wilhelm II.) ernannte Regierung keine Mehrheit im Parlament benötigte, weil sie nur dem Deutschen Kaiser gegenüber verantwortlich war. In der Sozialdemokratie gab es im Laufe der Jahre verschiedene Strömungen und Flügel, die auch zu Abspaltungen führten. Außer der Kommunistischen Partei (KPD) lösten sich alle durch Abspaltungen entstandenen Parteien nach einiger Zeit wieder auf, schlossen sich der KPD an oder kehrten in die SPD zurück. Zu Beginn der Parteigeschichte herrschten radikaldemokratische Strömungen unter dem Einfluss der Ideen von Ferdinand Lassalle vor. Vor allem wirkte dessen genossenschaftliche Orientierung, die später einer stärker gewerkschaftsnahen Ausrichtung untergeordnet wurde. Auf längere Sicht setzte sich der Marxismus durch. Die Wandlung begann spätestens Ende der 1890er Jahre mit der innerparteilichen Revisionismus­debatte, in der an Reformen orientierte Umsetzungsversuche der marxistischen Inhalte Bedeutung bekamen. Der in den ersten Jahrzehnten dominierende revolutionär ausgerichtete Parteiflügel geriet nach dem Tod August Bebels 1913 in eine Minderheitsposition. Marx’ Analyse der sozialen und ökonomischen Gesellschaftsbedingungen sowie ihrer geschichtlichen Entwicklung, und die daraus gefolgerten revolutionären Handlungskonzepte haben die Sozialdemokratie bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ideologisch geprägt. Während des Ersten Weltkrieges bildeten die Gegner der kriegsbilligenden Burgfriedenspolitik um Hugo Haase und Georg Ledebour ab Ende 1915 in der SPD-Reichstagsfraktion die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG). Drei Monate später wurden sie im März 1916 aus der SPD ausgeschlossen und gründeten 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Nach dieser Abspaltung firmierte die verbliebene SPD in den folgenden vier bis fünf Jahren auch unter dem Namen Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD). Aus dem linksrevolutionären Flügel der USPD, dem Spartakusbund, ging nach der Novemberrevolution auf Initiative von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg u. a. im Januar 1919 die KPD hervor, der sich 1920 auch die linke Mehrheit der USPD anschloss (vgl. VKPD). Der größte Teil der verbliebenen USPD wandte sich 1922 wieder der SPD zu. Als kleine Splitterpartei gab es die USPD bis 1931. Die SPD war während der Weimarer Republik eine der Parteien, die die neue Staatsform einer pluralistischen Demokratie trugen. Sie stellte zwischen 1919 und 1925 mit Friedrich Ebert den ersten demokratisch gewählten Reichspräsidenten. In den ersten zwei Jahren der Republik und dann wieder von 1928 bis 1930 war sie in wechselnden Koalitionen mit den Reichskanzlern Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Gustav Bauer und Hermann Müller die führende Regierungspartei im Reich. Zwischen 1921 und 1923 war sie in anderen Konstellationen mit Kabinettsangehörigen (Ministern) an vier weiteren Reichsregierungen beteiligt. In der Endphase der Republik befand sich die Partei weitgehend in der Defensive; nicht zuletzt, weil sie kein umsetzungsfähiges Konzept gegenüber den Präsidialkabinetten seit Heinrich Brüning entwickeln konnte, und auch innerparteilich im Umgang mit den erstarkten politischen Extremen zerstritten war. In dieser Phase wurde sie auch verstärkt von der KPD angegriffen, die sie als „sozialfaschistisch“ und „Verräter der Arbeiterklasse“ bezeichneten. 1931 kam es mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei erneut zu einer Abspaltung am linken Rand. Mit zunehmender Dauer der Weltwirtschaftskrise hatte die SPD den radikal linken und rechten Flügelparteien und ihren populistisch orientierten Lösungsversprechen keine mehrheitsfähigen Konzepte entgegenzusetzen. Nach dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur war die SPD die einzige Partei im Reichstag, die das Ermächtigungsgesetz ablehnte, nachdem die KPD durch die Reichstagsbrandverordnung bereits verboten war. In der Folge wurde auch die SPD verboten und die Gewerkschaften zerschlagen. Zahlreiche Mitglieder gingen ins Exil; andere, die im Land geblieben waren, sahen sich zu weiten Teilen der Verfolgung ausgesetzt, wurden zeitweilig inhaftiert oder langjährig in Konzentrationslagern festgehalten, wo nicht wenige Sozialdemokraten auch ermordet wurden. Führende ins Ausland geflohene Sozialdemokraten bildeten 1933 mit der SOPADE in Prag vor allem aufgrund der Veröffentlichung ihrer Deutschland-Berichte die bis zum Zweiten Weltkrieg wichtigste Exilorganisation der SPD. Sie wich infolge der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ 1939 zunächst nach Paris und 1940 nach Lissabon aus, wo sie sich faktisch auflöste. In der Nachfolge der SOPADE etablierten sich im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkriegs die German Labour Delegation in den USA sowie die Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien als bedeutende Exilorganisationen der deutschen Sozialdemokratie während der NS-Diktatur. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die SPD ideologisch und organisatorisch weitgehend nach dem Vorbild der Weimarer Zeit in den vier Besatzungszonen reorganisiert. Während es im Büro der Westzonen zu einer Neuorganisation unter Kurt Schumacher kam, wurde 1946 in der sowjetisch besetzten Zone auf teils repressiven Druck der KPdSU-Führung und einflussreicher KPD-Funktionäre die Vereinigung von SPD und KPD in der neu gegründeten SED betrieben. Die Stalinisierung der folgenden Jahre beseitigte die Reste sozialdemokratischer Organisationen und Politik, die in der nachfolgenden DDR nahezu bedeutungslos wurden. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 lehnte die SPD unter der Führung von Kurt Schumacher einen Zusammenschluss mit der KPD strikt ab. Innenpolitisch war die als „progressiv“ bzw. tendenziell „links“ geltende SPD in der westdeutschen Bundesrepublik von 1949 bis 1966 hinter dem eher „konservativ“ bzw. gemäßigt „rechts“ ausgerichteten Parteienbündnis von CDU und CSU als zweitstärkste parteipolitische Kraft die einflussreichste Oppositionsfraktion im Bundestag, dem höchsten bundesrepublikanischen Parlament. Mit dem Godesberger Programm von 1959 wandte sich die SPD weitgehend vom Marxismus ab. Sie definierte sich damit nicht mehr als Klassenpartei, sondern als Volkspartei. Dieser Wandel, der eine inhaltliche Zäsur implizierte, ermöglichte 1966 zunächst den Eintritt in die CDU-geführte erste große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, und ab 1969 die erste auf Bundesebene vereinbarte sozial-liberale Koalition in der deutschen Nachkriegsgeschichte – nun unter SPD-Führung – mit Willy Brandt als Regierungschef. In der Folgezeit haben vor allem dessen Ostpolitik, jedoch teilweise auch in der eigenen Partei innenpolitisch umstrittene Maßnahmen wie beispielsweise der Radikalenerlass nachwirkende politische Veränderungen eingeleitet. Unter Helmut Schmidt, Brandts Nachfolger im Kanzleramt, wurde der politische Spielraum schmaler. Die Partei geriet aufgrund innen- und außenpolitischer Krisen zunehmend unter Druck. Von konservativer Seite wurde angesichts des Linksterrorismus der RAF (vgl. Deutscher Herbst) ein rigoroseres Vorgehen im Bereich der Inneren Sicherheit gefordert. Vom linken Flügel der Partei wurden – verstärkt durch im Gefolge der Studentenbewegung am Ende der 1960er Jahre aufgekommene Neue Soziale Bewegungen – die Energiepolitik und vor allem die Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluss heftig kritisiert. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 begann eine von innerparteilichen Krisen geprägte Oppositionszeit. Nach der deutschen Wiedervereinigung von 1989/90 erfüllten sich die Hoffnungen der SPD, an alte Wahlerfolge zu Zeiten der Weimarer Republik in den neuen Bundesländern anzuknüpfen, vorerst nicht. Dort konnte sich die aus der vormaligen DDR-Staatspartei SED hervorgegangene PDS als bedeutende konkurrierende Kraft gegenüber der SPD – wenn auch geschwächt – behaupten, trotz starker Einbrüche kurz nach der Wende, nachdem sich die PDS von der Linie der SED distanziert und deren vormalige Führungsspitze aus der erneuerten Partei ausgeschlossen hatte. Im Jahr 1998 endete mit dem Beginn einer rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder als Bundeskanzler nach 16 Jahren die zweite Oppositionsperiode der SPD in der Geschichte der Bundesrepublik. Schröders Hinwendung zu einer tendenziell wirtschaftsliberalen Politik im Verbund mit der britischen Labour-Regierung unter Tony Blair (vgl.: Schröder-Blair-Papier), insbesondere die Agenda 2010, stieß bei den Wählern und eigenen Anhängern auf immer weniger Zustimmung – eine Tendenz, die im Januar 2005 zur Abspaltung eines Teils des gewerkschaftsnahen linken Flügels in der WASG führte. Die von der Regierung selbst eingeleiteten Neuwahlen hatten im Herbst 2005 erneut eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD zum Ergebnis. Bei der Bundestagswahl 2009 wurde deutlich, dass sich der Trend der Wählerabwanderung fortgesetzt hatte. Die SPD erhielt mit 23 % – damit einem erdrutschartigen Verlust von 11 Prozentpunkten gegenüber der Wahl vier Jahre zuvor – ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis auf Bundesebene seit Bestehen der Bundesrepublik und musste nach 11 Jahren Regierung bzw. Regierungsbeteiligung wieder auf die Oppositionsbank wechseln. Ein bedeutender Teil ihrer vormaligen Wähler war zur erstarkten Partei Die Linke (die 2007 als Ergebnis des Zusammenschlusses der WASG mit der PDS neu konstituiert worden war) oder ins Lager der Nichtwähler abgewandert. Entstehung der sozialdemokratischen Parteien Erste Ansätze im Vormärz und der Revolution von 1848/49 Die sozialdemokratische Bewegung in Deutschland hat bis in den Vormärz und die Revolution von 1848/49 zurückreichende Wurzeln. Ideologisch spielte zunächst der französische Frühsozialismus eines Charles Fourier, Auguste Blanqui oder Henri de Saint-Simon eine wichtige Rolle. Hinzu kamen Ideen der aufkommenden radikaldemokratischen Strömungen der vormärzlichen Opposition. Erste organisatorische Ansätze waren die Auslandsvereine deutscher Handwerker und politischer Emigranten. Dazu zählen der 1832 in Paris gegründete Deutsche Volksverein, der 1834 in Bund der Geächteten umbenannt wurde, und der im gleichen Jahr in Bern gegründete Geheimbund des Jungen Deutschland. Vom Bund der Geächteten spaltete sich, beeinflusst von Wilhelm Weitling, 1836 der Bund der Gerechten ab, dessen Schwerpunkt sich allerdings in den 1840er Jahren immer mehr nach London verschob. Unter dem Einfluss von Karl Marx und Friedrich Engels benannte er sich in Bund der Kommunisten um. Für ihn schrieben Marx und Engels 1848 das Kommunistische Manifest. Während der Revolution löste sich der Bund vorübergehend auf, nach seiner Neugründung kam es zu ideologischen Konflikten und zu Spaltungen. Nach dem Kölner Kommunistenprozess hörte er auf zu bestehen. In Deutschland selbst hatte sich während der Revolution unter maßgeblicher Beteiligung von Stephan Born mit der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung eine erste überregional verbreitete Organisation gebildet, die bereits viele Merkmale einer modernen Partei aufwies und daneben auch gewerkschaftlich aktiv war. Nach der Revolution fiel die Arbeiterverbrüderung der Reaktionspolitik im Deutschen Bund zum Opfer. Soziale Basis Die organisierte politische Arbeiterbewegung seit den 1860er Jahren knüpfte personell vielfach an die Traditionen von 1848/49 an. Sie war überwiegend städtisch geprägt. Ihr Kern waren nicht ungelernte Fabrikarbeiter, sondern gelernte Handwerker, Arbeiter mit Handwerksausbildung und zunehmend Facharbeiter. Wichtig waren Branchen wie die Tabakarbeiter oder Buchdrucker, in denen handwerkliche Arbeitsabläufe eine beträchtliche Rolle spielten. Ungelernte Arbeiter in neuen Massenberufen wie dem Bergbau oder der Eisen- und Stahlindustrie waren dagegen nur vergleichsweise schwach vertreten. Von großer Bedeutung war nicht zuletzt die Verbindung der Arbeiter mit Teilen der städtischen antifeudalen und radikaldemokratischen Intellektuellen. Von Anfang an war die Sozialdemokratie zudem eine überwiegend in protestantischen Regionen erfolgreiche Bewegung. Im katholischen Deutschland sorgte insbesondere der Kulturkampf für die Entstehung eines auch die Arbeiter einschließenden Milieus. Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein seit 1863 Ein Wiederbeginn des politischen Lebens nicht nur in Preußen wurde ab 1858 mit der sogenannten Neuen Ära, d. h. der liberalen Wende in der preußischen Innenpolitik, möglich. Es entstanden, häufig gefördert von liberal oder demokratisch gesinnten Bürgern, Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine. Dabei wurde bald deutlich, dass ein Teil der Mitglieder auch soziale und politische Interessen vertreten wollte. Als sich zeigte, dass dies im Rahmen des liberalen Deutschen Nationalvereins nicht möglich war, wandte sich 1863 ein in Leipzig entstandenes Central-Comitee zur Berufung eines allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses an den Autor Ferdinand Lassalle. Unter dessen maßgeblicher Leitung entstand am 23. Mai 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) als erste Deutsche Arbeiterpartei. Dem Verein gelang es zwar, in einigen Gebieten eine nennenswerte Zahl von Anhängern zu gewinnen, aber entgegen den Erwartungen Lassalles entwickelte er sich nicht zu einer Massenbewegung. Nach dem frühen Tod des Gründers spaltete sich die Organisation. Erst unter der Führung von Johann Baptist von Schweitzer kam es ab 1867 zu einer Konsolidierung. Die Eisenacher Richtung Nach der Gründung des ADAV wurde unter maßgeblicher Leitung des Nationalvereins zur Bindung der Arbeitervereine an das bürgerliche Lager der Vereinstag Deutscher Arbeitervereine (VDAV) gegründet. Allerdings gelang es nicht, die Politisierung eines Teils der Mitglieder zu verhindern. Außerdem begann mit der Gründung gewerkschaftlicher Organisationen die wirtschaftliche Interessenvertretung an Gewicht zu gewinnen. Innerhalb des Vereinstags gewannen Wilhelm Liebknecht und August Bebel an Einfluss. Unter dem Vorsitz von Bebel beschloss die Generalversammlung des Vereinstages 1868 den Anschluss an die Internationale Arbeiterassoziation (kurz: Internationale, in der späteren Historiografie auch als Erste Internationale bezeichnet). Die weiterhin liberal gesinnten Vereine spalteten sich daraufhin ab. Ebenfalls unter maßgeblicher Beteiligung von Bebel und Liebknecht war 1866 die Sächsische Volkspartei gegründet worden. Diese zielte ursprünglich auf ein Bündnis aus bürgerlichen Demokraten und Arbeitern ab. Nachdem der Erfolg im Bürgertum weitgehend ausblieb, dominierten auch dort immer stärker die Arbeiter. Am 8. August 1869 schlossen sich der Vereinstag Deutscher Arbeitervereine, die Sächsische Volkspartei und vom ADAV abgespaltene Gruppen in Eisenach zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) zusammen. Programmatische Grundlage der neuen Partei war das Eisenacher Programm. Dieses Programm übernahm mit nur wenigen kleinen Änderungen die Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation. Daneben nahm es aber auch Konzepte der Lassalleanhänger auf. So wurde die Wahlrechtsfrage in den Vordergrund gestellt und die Forderung nach Arbeiterassoziationen übernommen. Ziel der Partei war die Errichtung eines freien Volksstaates. Zur Abschaffung der Klassenherrschaft setzte sie auf die Überwindung der auf dem Lohnsystem beruhenden Produktionsweise durch genossenschaftliche Arbeit. Außerdem bekannte sie sich zum internationalistischen Standpunkt der Internationalen Arbeiterassoziation. Von der Konkurrenz zur Vereinigung ADAV und SDAP bekämpften sich in den folgenden Jahren und waren etwa in der deutschen Frage unterschiedlicher Meinung. Während der ADAV kleindeutsch ausgerichtet war, stand die SDAP auf Seiten der Großdeutschen. Auch ideologisch gab es Unterschiede. Das auf Lassalle zurückgehende eherne Lohngesetz führte beim ADAV zu einem ausgeprägten Etatismus und einer gewerkschaftskritischen Haltung. Dagegen stand die SDAP dem Gewerkschaftsgedanken positiv gegenüber, lehnte aber eine Zusammenarbeit mit dem bestehenden Staat ab. Die Gegensätze verloren nach der vollzogenen Reichsgründung 1871 an Bedeutung. Gleichzeitig sorgten die antisozialdemokratischen Maßnahmen des Staates in der Ära Tessendorf für ein Zusammenrücken beider Parteien. Dies führte schließlich auf dem Vereinigungsparteitag, der vom 22. bis 27. Mai 1875 in Gotha stattfand, zum Zusammenschluss zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands von 1875 Programmatik In dem vor der Vereinigung ausgehandelte Gothaer Programm finden sich Programmbestandteile beider Vorgängerorganisationen wieder. So stammte die Formulierung „Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft“ von Vertretern der SDAP, während die Forderung nach Einrichtung sozialistischer Produktivgenossenschaften auf Gedankengut Lassalles zurückging. Ein Großteil der Nahziele entstammte dem Eisenacher Programm. Dagegen war die Abqualifizierung der Gegner als reaktionäre Masse und die Forderung nach einem Zerbrechen des ehernen Lohngesetzes wiederum Gedankengut des ADAV. Das Bekenntnis, mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft zu erstreben, ging auch auf die drohenden und teilweise schon eingesetzten staatlichen Repressionsmaßnahmen zurück. Die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz 1878–1890 Spätestens seit dem offenen Bekenntnis von Bebel und Liebknecht zur revolutionären Commune, die während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 in Paris ausgerufen worden war, galten die Sozialdemokraten als Staatsfeinde. Ihre führenden Repräsentanten, aber auch einfache Mitglieder waren verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Bebel und Liebknecht etwa wurden 1872 in einem Hochverratsprozess zu jeweils zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Allerdings führten diese Maßnahmen nicht zu einer Schwächung der sozialdemokratischen Bewegung. Bei den Reichstagswahlen von 1877 kam die vereinigte Partei auf über 9 % der Stimmen. Zwei von Einzeltätern ausgeführte Attentate auf Kaiser Wilhelm I. im Mai und Juni des Jahres 1878 waren für Bismarck der Anlass für eine nunmehr aggressivere antisozialdemokratische Politik. Die regierungsnahe Presse tat alles, um die Attentäter in die Nähe der Sozialdemokraten zu rücken. Nachdem der erste Versuch, ein Ausnahmegesetz auf den Weg zu bringen, am Widerstand der Mehrheit im Reichstag gescheitert war, führten das zweite Attentat, bei dem der Monarch schwer verletzt wurde, und die darauf folgende Auflösung des Parlaments zur Bereitschaft auch der meisten Nationalliberalen, dem Sozialistengesetz zuzustimmen. Das Gesetz ermöglichte das Verbot von Vereinen, Versammlungen, von Druckschriften und Geldsammlungen. Zuwiderhandlungen konnten mit Geld- oder Gefängnisstrafen belegt werden. Auch konnten Aufenthaltsverbote ausgesprochen oder über bestimmte Gebiete der kleine Belagerungszustand verhängt werden. Allerdings war das Gesetz befristet und musste daher vom Parlament immer wieder bestätigt werden. Eine erste Bestätigung folgte 1881. In der Folge wurde das Gesetz mehrfach verlängert. Die Sozialistische Arbeiterpartei wurde für zwölf Jahre faktisch in die Illegalität gedrängt. Neben anderen sozialdemokratischen Publikationen wurde das offizielle Parteiorgan, der Vorwärts ebenso verboten wie öffentliche Auftritte oder Versammlungen der Partei. Das Gesetz richtete sich nicht nur gegen die SAPD selbst, auch weitere Arbeiterorganisationen wie die Gewerkschaften wurden aufgelöst. Einzig die Mitglieder der Länderparlamente und der Reichstagsfraktion der SAPD behielten ihre Mandate bzw. konnten sich als Einzelkandidaten in den Wahlkreisen weiterhin zu Wahlen aufstellen lassen. Viele Parteimitglieder sahen sich zur Emigration gezwungen oder wurden aus ihren Wohnorten ausgewiesen. Allerdings sah sich die Partei im Zuge der antisozialdemokratischen Repressionsmaßnahmen veranlasst, sich nach und nach ihres linken, sozialrevolutionären und tendenziell anarchistischen Flügels zu entledigen. So wurden 1880 deren wichtigste Vertreter – Johann Most und Wilhelm Hasselmann – die zeitweilig auch der Reichstagsfraktion der SAPD angehört hatten (Most von 1874 bis 1877, Hasselmann bis 1880), aus der Partei ausgeschlossen. Da in Deutschland keine Parteitage mehr möglich waren, fanden geheime Konferenzen der SAPD im angrenzenden Ausland statt. Dies geschah etwa im August 1880 auf Schloss Wyden im Kanton Zürich. Dort beschloss die Partei das Wort „gesetzlich“ aus dem Parteiprogramm zu streichen, da dieses nunmehr sinnlos sei. Die Partei strebe nunmehr mit allen Mitteln nach ihren Zielen. Ein ähnlicher Kongress fand 1883 in Kopenhagen statt. Ein spektakulärer Höhepunkt der antisozialdemokratischen Maßnahmen war der zwischen dem 26. Juli und 4. August 1886 vor dem Landgericht von Freiberg in Sachsen stattfindende Geheimbundprozess. Angeklagt wurden führende Parteimitglieder, denen die Staatsanwaltschaft vorwarf, an einer geheimen Verbindung beteiligt gewesen zu sein. Als solche betrachtete sie die Kongresse von Wyden und Kopenhagen. Ignaz Auer, August Bebel, Karl Frohme, Carl Ulrich, Louis Viereck sowie Georg von Vollmar wurden zu jeweils neun Monaten; eine Reihe weiterer Angeklagter zu jeweils sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Diesem Prozess folgen mehrere andere Gerichtsverfahren gegen Teilnehmer der beiden Kongresse. Allein in Frankfurt wurden 35 Angeklagte zu bis zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. In Magdeburg waren es 1887 51 Verurteilte. Grenzen des Gesetzes Dem Staat gelang es mit der Ausnahmegesetzgebung letztlich nicht, die sozialdemokratische Bewegung dauerhaft zu schwächen. Vielmehr hielten die Parteimitglieder auf informeller Ebene und in Tarnvereinen Kontakt miteinander. Die Beerdigungen prominenter Parteimitglieder wurden regelmäßig Anlass zu Massenversammlungen, die nach außen die Weiterexistenz der Bewegung deutlich machten. So nahmen 1879 an der Beerdigung von August Geib in Hamburg 30.000 Arbeiter teil. Die Rote Feldpost, geleitet von Joseph Belli und Julius Motteler, schmuggelte Agitationsschriften und vor allem die seit 1879 in Zürich erscheinende Zeitung Sozialdemokrat ins Reich ein, deren verantwortlicher Redakteur Georg von Vollmar war. Mitarbeiter waren unter anderem Karl Kautsky und Eduard Bernstein. Die Handhabung des Sozialistengesetzes war in den einzelnen Bundesstaaten und im Zeitverlauf unterschiedlich. Während in Süddeutschland die mildere Praxis ab 1883 die Herausgabe der theoretischen Zeitschrift Die Neue Zeit ermöglichte, wurde in Preußen die seit 1881 auch dort milder gewordene Verfolgungspraxis ab 1886 wieder deutlich verschärft. Besonders die Ergebnisse der Reichstagswahlen zeigten die begrenzte Wirkung des Sozialistengesetzes. Auch die neuen Sozialversicherungen, die auch das Ziel hatten, die Arbeiter für den Staat zu gewinnen, waren in dieser Hinsicht nur wenig erfolgreich. Zwar ging der Stimmenanteil der SAP bei den Reichstagswahlen von 1881 auf 6,1 % zurück, aber bereits bei den Reichstagswahlen von 1884 stieg er wieder auf über 9 % an. Der Erfolg hatte auch eine deutliche Zunahme der Fraktionsmitglieder zur Folge. In den nächsten Jahren zeigte sich erstmals ein Eigengewicht der Fraktion. Mitglieder der Führungsgruppe der Partei wie Bebel, Friedrich Engels und Bernstein warnten vor „parlamentarischen Illusionen“ und es gelang, den Einfluss der Fraktion, die in einigen Fragen gegenüber anderen Parteien größere Kompromissbereitschaft gezeigt hatte, wieder zu begrenzen. Ein Grund war auch, dass die Partei bei der Reichstagswahl von 1887 zwar leicht auf über 10 % zulegen konnte, aber, da sie in einigen Stichwahlen verloren hatte, weniger Abgeordnete stellte. Auf einem erneuten Auslandskongress im Oktober 1887 in St. Gallen gelang es August Bebel endgültig, seine Führungsrolle in Partei und Reichstagsfraktion durchzusetzen, die er bis zu seinem Tod behaupten sollte. Auf internationaler Ebene kam es auf einem Internationalen Arbeiterkongress zwischen dem 14. und 20. Juli 1889 in Paris zur Gründung der II. Internationale, und trotz der Verfolgungen galt die SAP als einflussreichste sozialistische Partei. In Deutschland ließ die Unterstützung für das Sozialistengesetz immer deutlicher nach, und als die Regierung gegen Ende des Jahres 1889 ein neues, nunmehr zeitlich unbegrenztes Gesetz vorlegte, wurde die Vorlage vom Reichstag mit klarer Mehrheit am 25. Januar 1890 abgelehnt. Noch vor dem endgültigen Auslaufen des Ausnahmegesetzes kam die SAP bei der Reichstagswahl von 1890 auf fast 20 % der Stimmen und war damit die nach Zahl der Wähler stärkste Partei. Allerdings sorgte die Wahlkreiseinteilung dafür, dass sich dies nicht vollständig in der Zahl der Mandate niederschlug. Als am 1. Oktober 1890 das Sozialistengesetz endgültig auslief, hatten die Behörden während seiner Geltungsdauer 155 periodische und 1200 nicht-periodische Druckschriften verboten, 900 Ausweisungen ausgesprochen und 1500 Personen zu insgesamt 1000 Jahren Gefängnis verurteilt. Aufstieg zur Massenpartei Soziale Basis Das Ende der 1880er Jahre bedeutete nicht nur organisatorisch einen Wendepunkt. In diese Zeit fiel auch ein Generationenwechsel. Wichtiger als die alten Handwerkerarbeiter wurden nunmehr die fachlich gut qualifizierten aufstiegsorientierten Lohnarbeiter in der Industrie als Massenbasis der Bewegung. Allerdings wiesen die politisch Aktiven weiterhin zumeist noch einen handwerklichen Hintergrund auf. Die Aktivmitglieder kamen nicht selten aus dem Bauhandwerk im weitesten Sinn. Wichtig blieben die Buchdrucker. Diese soziale Basis hatte zur Folge, dass bürgerliche Werte in der sozialdemokratischen Bewegung keine geringe Rolle spielten. Leitbilder waren Disziplin, Bildungsbeflissenheit, Orientierung an der bürgerlichen Familie und der entsprechenden Sexualität, Fortschrittsgläubigkeit und Wachstumsorientierung. Jürgen Kocka spricht von einem Brückenkopf der Bürgerlichkeit im Unterschichtenbereich. Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass die antibürgerliche Ideologie nicht nur bloße Rhetorik war. Die sozialistische Arbeiterbewegung wurzelte in Lebens- und Erfahrungsmilieus, die den Verbürgerlichungsambitionen enge Grenzen setzte. Parteiorganisation Nach dem Außerkrafttreten des Sozialistengesetzes im Herbst 1890 änderte die Partei auf dem Parteitag in Halle ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Außerdem wurde ein neues Organisationsstatut beschlossen. Die Partei wurde aus vereinsrechtlichen Gründen auf einem Vertrauensmännersystem aufgebaut. Die organisatorische Basis bildeten meist Arbeiterwahlvereine auf der Ebene der Wahlkreise. Wenn ein Wahlkreis sich über mehrere Kommunen erstreckte, konnten darunter Ortsvereine gegründet werden. Diese Vereine schlossen sich zu Bezirken und Organisationen auf der Ebene der Mitgliedsstaaten des deutschen Reiches zusammen. Oberstes Organ der Partei war der Parteitag, der auch den teilweise besoldeten Vorstand aus zwölf Personen wählte. Der Vorstand wurde auf dem jährlichen Parteitag jeweils neu gewählt. In der Praxis wurden die Mitglieder allerdings meist in ihrem Amt bestätigt. Zusammen mit der Kontrollkommission bildete der Vorstand die Parteileitung. Sowohl Vorstand wie Reichstagsfraktion hatten Weisungen der Parteitage auszuführen und hatten Rechenschaft abzulegen. Sitz der Partei war Berlin. Organ der Partei wurde das Berliner Volksblatt, dass kurze Zeit später den Titel Vorwärts – Berliner Volkszeitung. Centralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erhielt. Neben verschiedenen anderen Beschlüssen wurde der 1. Mai zum dauernden Feiertag der Arbeiter erklärt und der Parteitag beauftragte den Vorstand, ein neues Parteiprogramm zu erarbeiten. Als einzige Frau nahm Karl Marx’ Tochter Eleanor Marx, die englische Delegierte, am Parteitag teil. Zwar gab es aus vereinsrechtlichen Gründen in den 1890er Jahren noch keine festen Parteimitgliedschaften oder -beiträge. Die Partei blieb zunächst finanziell auf den Verkauf von Zeitschriften und anderen Druckwerken angewiesen. Aber die Bindung der Anhänger an ihre Partei war erheblich. Nach dem neuen Organisationsstatut von 1905 wurde die SPD im Gegensatz zu den meisten anderen deutschen Parteien zu einer regelrechten Mitgliederpartei. Ein ausgeprägtes Parteileben aus regelmäßigen Versammlungen sowie einem ritualisierten sozialistischen Festkalender band die Mitglieder an die Partei. Ihre Zahl ist etwa seit 1906 genauer bekannt. Hatte die Partei zu diesem Zeitpunkt etwa 384.000 Mitglieder, wuchs ihre Zahl bis 1914 auf über eine Million an. Das Anwachsen der Mitgliederzahlen führte etwa seit 1903 zum Ausbau des hauptamtlichen Parteiapparats. An dieser Entwicklung gab es schon früh Kritik. Aber angesichts der großen Mitgliederzahl war der Apparat eher klein. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lässt sich nicht von einer „verkalkten Bürokratie“ sprechen, waren die besoldeten Funktionäre doch durchschnittlich etwa fünfunddreißig Jahre alt. Wie auch die Beschäftigung als Redakteur in einer Parteizeitung war die Stellung als Parteisekretär für besonders aktive Mitglieder, die in der freien Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst keine Beschäftigung mehr fanden, oft die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für eine gewisse Professionalisierung der Funktionäre sorgte seit 1906 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges die Reichsparteischule. Entstehen eines sozialdemokratischen Milieus Nach dem Auslaufen des Sozialistengesetzes begannen sich auch die der Partei nahestehenden freien Gewerkschaften zu reorganisieren. Mit der Generalkommission unter dem Vorsitz von Carl Legien entstand 1890 eine Dachorganisation. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg in den folgenden Jahrzehnten deutlich schneller als die der Parteimitglieder, was den Funktionären der Gewerkschaften erhebliches politisches Gewicht verlieh. Betrug die Zahl der Mitglieder in den freien Gewerkschaften 1890 etwa 300.000, waren es 1913 2,5 Millionen. Damit waren die freien Gewerkschaften die mit Abstand stärkste Richtungsgewerkschaft des Kaiserreichs. Neben Partei und Gewerkschaften bildete ein sozialistisches Genossenschafts- und Konsumvereinswesen (Centralverband Deutscher Konsumvereine) die dritte Säule der sozialistischen Arbeiterbewegung. Im Jahr 1911 gab es über 1100 lokale Konsumgenossenschaften mit zusammen 1,3 Millionen Mitgliedern. Daneben entwickelte sich ein weitgespanntes sozialdemokratisches Vereinswesen angefangen von den Arbeiterbildungsvereinen, über Arbeitergesangvereine, Vereine von Arbeiterturnern, -radfahrern bis hin zu Freidenker- und Feuerbestattungsvereinen. Insgesamt entstand ein von der Wiege bis zur Bahre reichendes Organisationswesen. Die Forschung spricht seit einigen Jahren in diesem Zusammenhang von einem sozialdemokratischen Milieu. Die Ursprünge reichten zwar bis in die Entstehungsphase der sozialdemokratischen Bewegung zurück, es erfuhr nunmehr aber seine charakteristische Ausprägung. Die Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen 1893 bis 1912 Der Aufschwung der Sozialdemokratie spiegelte sich nicht zuletzt in den Ergebnissen der Wahlen. Bei den Reichstagswahlen von 1893, 1898 und 1903 konnte die Partei ihren Stimmenanteil steigern. Lag sie 1893 noch bei 23,3 %, waren es 1903 über 31 %. Die besonderen Umstände der Reichstagswahl von 1907 (die Hottentottenwahlen) mit ihren nationalistischen Untertönen und der Bildung des Bülow-Blocks führten zu leichten Verlusten bei den Stimmenanteilen. Einen tiefen Einbruch musste die Partei wegen der Stichwahlabkommen der bürgerlichen Parteien bei den Reichstagsmandaten hinnehmen. Die Zahl der Fraktionsmitglieder halbierte sich fast von 81 auf 43. Dieser Einbruch erwies sich jedoch als vorübergehend; 1912 erreichte die SPD fast 35 % der Stimmen und stellte 110 Reichstagsmitglieder. Allerdings verteilten sich diese Erfolge nicht gleichmäßig über das Reich. Der Wahlerfolg hing zum einen von der Sozialstruktur ab, in Groß- und Industriestädten war der Erfolg der Partei um ein Vielfaches größer als auf dem Land. Ein anderer wesentlicher Faktor war die Konfessionsstruktur. Die SPD war unabhängig von der persönlichen Haltung der Wähler stark vor allem in überwiegend protestantischen Bereichen. In katholischen Regionen fiel es ihr schwer, Fuß zu fassen. Im stark industrialisierten Rheinland, im Ruhrgebiet, im Saarrevier und in Oberschlesien blieben viele Arbeiter in das katholische Milieu integriert und wählten die Zentrumspartei. Auch im protestantischen Teil Deutschlands gab es im Übrigen weiterhin eine beachtliche Zahl von Arbeiterwählern, die für eine der bürgerlichen Parteien stimmten. Innere und programmatische Entwicklung Zwar wurde die SPD im Laufe der Zeit zu einem nicht zu unterschätzenden sozialen und politischen Faktor. Ihre Integration in die bestehende staatliche und gesellschaftliche Ordnung blieb aber beschränkt. Auch nach dem Auslaufen des Sozialistengesetzes hielten der Staat und die ihn tragenden Gruppen an der Ablehnung der Sozialdemokraten fest. Zeitweise waren wie 1894 mit der Umsturzvorlage oder 1899 mit der Zuchthausvorlage neue Ausnahmegesetze geplant. Bis auf die Lex Arons scheiterten diese zwar an der Reichstagsmehrheit, bestärkten aber ebenso wie die Gründung des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie (1904) die Sozialdemokraten in ihrer Fundamentalopposition. Erfurter Programm Im Inneren der Partei setzte sich der Marxismus während des Sozialistengesetzes als herrschende Ideologie gegenüber anderen Politikvorstellungen, etwa denen Lassalles, durch. Den offiziellen Kurs der SPD formulierte 1891 das auf dem Parteitag in Erfurt verabschiedete Erfurter Programm. Karl Kautsky hat dabei vor allem den grundsätzlichen Teil geprägt, während Eduard Bernstein für den praktischen Teil zuständig war. Dieser letzte Teil mit den Forderungen nach einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung und sozialen Reformen war zwar deutlicher als in den Vorgängerprogrammen formuliert, unterschied sich aber nicht grundsätzlich von diesen. Dagegen war der erste Teil, der skizzenhaft auch eine knappe Gesellschaftsanalyse enthielt, klarer als früher marxistisch orientiert. Das Programm gipfelte in Formulierung: „Die Jungen“ und der Reformismusstreit Die Durchsetzung des Marxismus bedeutete keineswegs ein Ende des inneren Pluralismus oder der Auseinandersetzungen über den richtigen Kurs. Ohne den Druck der Verfolgung einerseits und das Wachsen der Mitgliederzahlen andererseits bildeten sich innerhalb der Partei unterschiedliche Strömungen heraus. Dabei wurde die Parteiführung grundsätzlich von zwei Seiten kritisiert. In den frühen 1890er Jahren kam die linke Opposition von den so genannten „Jungen“. Diese kritisierten etwa das Verhalten der Parteiführung zum 1. Mai 1890 nicht zu Arbeitsniederlegungen zur Durchsetzung des Achtstundentages aufgerufen zu haben. Andere Kritik richtete sich gegen die noch immer starke Stellung der Reichstagsfraktion und die Reformisten. Weil sich ihre Ziele innerhalb der SPD nicht durchsetzen ließen, spaltete sich ein Teil der Jungen ab und gründete den Verein unabhängiger Sozialisten, der sich bald unter dem Einfluss von Gustav Landauer anarchistischen Tendenzen zuwandte. Auf der anderen Seite des innerparteilichen Spektrums standen die reformistischen Kräfte insbesondere aus Süddeutschland. So hat Georg von Vollmar bereits 1891 Reformpolitik auf der Grundlage der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung und die Zusammenarbeit mit allen progressiven Kräften gefordert. „Dem guten Willen die offene Hand, dem Schlechten die Faust.“ Bereits in den frühen 1890er Jahren stimmte die bayerische Landtagsfraktion dem anstehenden Haushaltsentwurf zu und die Reformisten drängten auf ein Agrarprogramm, um die Wählerbasis zu verbreitern. Beides stieß während des so genannten Reformismusstreits in der Gesamtpartei auf heftigen Widerstand. Letztlich setzte sich dabei Karl Kautsky mit seiner strikt marxistischen Haltung durch. Eine Folge der Entscheidung war, dass sich das Wählerpotential der Partei immer mehr auf die Industriearbeiterschaft verengte. Die Agitation in ländlichen Regionen wurde dagegen vernachlässigt. Der Revisionismusstreit Teilweise an die ältere Diskussion anknüpfend, teilweise auf eigenen theoretischen Überlegungen fußend, fachte Eduard Bernstein in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre den Revisionismusstreit in der Partei an. Ein zentraler Ausgangspunkt war die These, dass die wirtschaftliche und politische Entwicklung keineswegs automatisch auf den Zusammenbruch des Systems hinauslaufen würden. Auch der einfachen Reduktion der Gesellschaft auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit stand Bernstein angesichts der sozialen Differenzierung skeptisch gegenüber. Stattdessen strebte auch er ein Bündnis mit den progressiven Kräften des Bürgertums an. „Ihr Einfluss würde ein viel größerer sein als er heute ist, wenn die Sozialdemokratie den Mut fände, sich von der Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei.“ Ignaz Auer sprach in vielen Teilen für die Parteiführung insgesamt, wenn er den Charakter einer sozialdemokratischen Reformpartei anerkannte, aber mit Blick auf die Einheit der Partei davor warnte, die für die Identität der Parteimitglieder wichtigen ideologischen Zukunftshoffnungen zu zerstören. „Mein lieber Ede, das was du verlangst, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.“ Die entschiedene Gegenposition zu Bernstein formulierte Rosa Luxemburg. Sie verteidigte dabei nicht den heimlichen Revisionismus der Parteiführung, sondern verlangte eine Revision der Parteilinie in Richtung eines revolutionären Aktivismus. Reformarbeit im bestehenden System lehnte sie ab, da dies das Überleben des bürgerlichen Systems nur verlängern würde. Gegen diese linke Position wehrten sich insbesondere die Funktionäre der erstarkten Gewerkschaftsbewegung. Carl Legien äußerte 1899 „gerade wir gewerkschaftlich organisierten Arbeiter wünschen nicht, dass es zum so genannten Kladderadatsch kommt. (…) Wir wünschen den Zustand der ruhigen Entwicklung.“ Wichtiger als theoretische Überlegungen waren für diese Gruppe der weitere Ausbau der Organisation. Sowohl die revolutionäre wie die reformistische Perspektive waren in sich durchaus schlüssig, entsprachen aber nicht der politischen Wirklichkeit im Kaiserreich. Gegen einen möglichen gewaltsamen Umsturzversuch stand ein wohlorganisierter Staat, der notfalls auf die Armee zurückgreifen konnte. Auf der anderen Seite stand Bündnissen mit anderen Parteien die tief verwurzelte antisozialdemokratische Haltung in weiten Teilen des Bürgertums gegenüber. Das Ende der letztlich fruchtlosen Debatte erfolgte auf dem Parteitag von 1903, als dieser unter Einschluss der Revisionisten beschloss, die „bisherige bewährte und siegesgekrönte auf dem Klassenkampf beruhende Taktik.“ fortzusetzen. Massenstreikdebatte und Mannheimer Abkommen Ausgelöst insbesondere vom Streik der Bergleute im Ruhrbergbau und der russischen Revolution im Jahr 1905 kam es zu Auseinandersetzungen darüber, ob ein Generalstreik, wie er bereits in anderen europäischen Ländern zur Durchsetzung von politischen Forderungen angewandt worden war, auch in Deutschland etwa beim Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht übernommen werden sollte. Als Kontrahenten standen sich in der Massenstreikdebatte die freien Gewerkschaften beziehungsweise der Gewerkschaftsflügel in der SPD auf der einen Seite und eine bemerkenswerte Koalition aus Parteivorstand, Revisionisten und Linken gegenüber. Die Gewerkschaften lehnten politische Streiks vollständig ab. Der Gewerkschaftskongress von 1905 beschloss mit breitester Mehrheit: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongress für indiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“ Dagegen verabschiedete der Parteitag der SPD im selben Jahr einen Antrag, in dem der Massenstreik einerseits als wirksames Kampfmittel gewertet wurde, um mögliche politische Angriffe auf die Arbeiterklasse abzuwehren. Andererseits sei er ein offensives Mittel zur Befreiung der Arbeiterklasse. Um den Bruch zwischen Gewerkschaften und Partei zu vermeiden suchten beide Seiten nach einem Kompromiss. Auf dem Mannheimer Parteitag von 1906 wurde beschlossen, dass ein Massenstreik ohne Unterstützung der Gewerkschaften keine Aussicht auf Erfolg haben könnte. Dies bedeutete letztlich das Ende des politischen Massenstreikkonzepts für Deutschland. Im so genannten Mannheimer Abkommen wurde zudem die Rolle von Gewerkschaften und Partei neu definiert. Das mittlerweile erlangte organisatorische Gewicht der Gewerkschaften zwang die SPD, die alte Vorstellung von den Gewerkschaften als Rekrutenschule für die Partei zu revidieren und ihnen einen gleichberechtigten Status zuzuerkennen. „Um bei Aktionen, die die Interessen der Gewerkschaften und Partei gleichermaßen berühren, ein einheitliches Vorgehen herbeizuführen, sollen die Zentralleitungen der beiden Organisationen sich zu verständigen suchen.“ Die Frage des Massenstreiks war 1907 auch Thema des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart. Während der Franzose Jean Jaurès sich dafür aussprach, zeigten die deutschen Vertreter sich ablehnend. Auf lokaler Ebene führte die Enttäuschung über das Ergebnis der Debatte zum Entstehen der Bremer Linksradikalen. Die Sozialdemokratie vor Beginn des Ersten Weltkrieges In den letzten Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges kam es auf dem Parteitag von 1910 noch einmal zu einem Konflikt zwischen süddeutschen Reformern und der Parteimehrheit über die Zustimmung zu den Länderhaushalten. Allerdings begann auch in der Reichspartei allmählich der Widerstand gegen die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien zu bröckeln. Trotz innerparteilicher Kritik kam es vor den Reichstagswahlen von 1912 zu Stichwahlabkommen mit den Linksliberalen, was in hohem Maß zum großen Wahlerfolg der SPD beitrug. Innerhalb der SPD stieß diese Politik beim linken Flügel auf entschiedene Ablehnung. Außerhalb der Partei verstärkten die konservativen Kräfte noch einmal ihre antisozialdemokratischen Bemühungen etwa in Form des Kartells der schaffenden Stände. Der Druck auch des Obrigkeitsstaates verhinderte letztlich eine positive Eingliederung in den bestehenden Staat und verstärkte die negative Integration in ein abgesondertes sozialdemokratisches Milieu. In der Partei selbst kam es nach dem Tode von August Bebel, der die sozialdemokratische Bewegung seit den 1860er Jahren geprägt hatte, zu einem Generationenwechsel. Die neue Parteispitze bildeten Hugo Haase (ab 1911) und Friedrich Ebert (ab 1913). Beide wurden weder zu den Revisionisten noch zum linken Flügel gerechnet, sondern repräsentierten die zentristische Vorstandslinie, wenngleich es zwischen ihnen auch deutliche Unterschiede gab. Von Beiden erhoffte sich die Partei die Fortsetzung des Kurses zwischen dem reformistischen und dem revolutionären Flügel. Erster Weltkrieg, Spaltung und Revolutionszeit Entscheidung für die Kriegskredite Als sich die politische Lage in der Julikrise 1914 nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers zuspitzte, rief die SPD zu Friedensdemonstrationen auf, ohne dass dies irgendwelche Auswirkungen auf die Ereignisse gehabt hätte. Die Haltung der führenden Parteimitglieder zu einem möglichen Krieg war unterschiedlich. Für die radikale Linke um Rosa Luxemburg war er eine unvermeidliche Konsequenz der imperialistischen Gegensätze und eine aktive Friedenspolitik daher illusorisch. Es gab insgesamt nur wenige überzeugte Pazifisten in der Parteiführung. Diese kamen wie Kautsky, Bernstein, Haase oder Kurt Eisner aus unterschiedlichen innerparteilichen Lagern. Ein Großteil der SPD-Führung ließ sich von der Reichsleitung überzeugen, dass Deutschland sich in einem Verteidigungskrieg gegen das zaristische Russland und dessen Verbündete befinde. Zentraler Prüfstein für die Haltung der Partei zum Krieg war die Bewilligung der Kriegskredite durch die Reichstagsfraktion. Schon vor der Abstimmung hatte sich der rechte Flügel nicht zuletzt unter dem Eindruck, dass die freien Gewerkschaften bereits dem wirtschaftlichen Burgfrieden zugestimmt hatten, für die Annahme entschieden. Um die Einheit der Partei nicht zu gefährden, stimmten auch die eher linken Abgeordneten den Krediten zu, allerdings heftig kritisiert von den Revolutionären Obleuten der Gewerkschaft. In einer Erklärung vom 4. August 1914 hieß es: „Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute entschieden, sondern über die Frage, der für die Verteidigung des Landes notwendigen Mittel.“ Von den rechten Fraktionsmitgliedern hinzugefügt wurde der Satz: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich.“ Auf der äußersten Rechten der SPD wurden von der so genannten Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe sogar so etwas wie eine sozialdemokratische Variante der bürgerlichen Kriegszielforderungen erhoben. Parteispaltung Allerdings wuchs in Teilen der Partei bald die Einsicht, dass die These vom Verteidigungskrieg falsch war. Als im Dezember 1914 neue Kriegskredite nötig wurden, stimmte Karl Liebknecht offen gegen die Fraktionsmehrheit. In der Folge schloss sich dem auch Otto Rühle an. Beide wurden daraufhin aus der Fraktion ausgeschlossen. Die innerparteilichen Spannungen wuchsen, als Bernstein, Haase und Kautsky 1915 ein Manifest unter dem Titel Das Gebot der Stunde veröffentlichten, das angesichts der Annexionspläne von Wirtschaft, Regierung und Teilen der bürgerlichen Gesellschaft ein Ende der Kriegsunterstützung forderte. Daraufhin begannen Politiker vom eher rechten Flügel wie Eduard David offen über einen Ausschluss der Kritiker nachzudenken. Im Dezember 1915 stimmten dann nur noch 66 für und 44 gegen neue Kredite. Im März 1916 wurden die Kriegsgegner, darunter der Parteivorsitzende Haase, schließlich aus der Fraktion ausgeschlossen. Diese schlossen sich zur Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft zusammen, beabsichtigten in ihrer Mehrheit aber keine Parteispaltung. Eine Reichskonferenz mit Delegierten beider Seiten im September sollte noch einmal Einigungsmöglichkeiten ausloten. Dort stellte die Opposition etwa 40 % der Delegierten. Allerdings scheiterte dies an der kompromisslosen Haltung der Mehrheit. Hinzu kam, dass mit der russischen Februarrevolution von 1917 ein für die Sozialdemokratie maßgeblicher vorgeschobener Kriegsgrund entfallen war. Im April 1917 kam es daher in Gotha zur Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) mit Hugo Haase als Vorsitzendem. Ihr schlossen sich auch Kautsky und Bernstein an, die beiden ehemaligen Kontrahenten des Revisionismusstreits. Bereits 1916 war der linksrevolutionäre Spartakusbund unter Federführung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als Gruppe Internationale gegründet worden. Auch der Parteihistoriker Franz Mehring schloss sich ihr an. Der Spartakusbund selbst wurde Teil der USPD. Er bildete in der Partei den linken Flügel, betrieb aber weiterhin eine eigenständige Politik. Die Gründung fand in einem aufgeheizten Umfeld statt. So kam es im April 1917 gerade in den USPD-Hochburgen in Berlin und Leipzig zu politisch motivierten Streiks gegen den Krieg und den Hunger. Sie machten aber auch deutlich, dass die Position der MSPD immer mehr an Unterstützung in der sozialdemokratischen Wählerschaft verloren hatte. Diese sah sich daher letztlich zu einer Korrektur ihrer Haltung gezwungen. Zwar hielt sie am Prinzip der Landesverteidigung fest, plädierte aber auch für einen raschen Friedensschluss. Nicht zuletzt aus Angst vor einer Revolution im eigenen Land wurde im Reichstag im Juli 1917 mit den Stimmen der MSPD, des Zentrums und der Linksliberalen eine Friedensresolution beschlossen. Im Vorfeld entstand ein Interfraktioneller Ausschuss der drei Parteien, der die Keimzelle der späteren Weimarer Koalition bildete. Im Januar 1918 kam es zu Protesten und Streiks von zahlreichen Arbeitern gegen den harten Friedensvertrag von Brest-Litowsk, den das revolutionäre Russland unter Lenin abschließen musste. Damit verbunden waren auch innenpolitische Forderungen nach Frieden und Reformen. Vertreter beider sozialdemokratischen Parteien traten in die Streikleitung ein. Dazu gehörten auf Seiten der MSPD Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Braun, auf Seiten der USPD Haase, Wilhelm Dittmann und Georg Ledebour. Es ging ihnen darum, die Bewegung wieder unter Kontrolle zu bringen und eine mögliche Radikalisierung zu verhindern. Die Sozialdemokratie in der Novemberrevolution 1918 Im Oktober 1918 trat die MSPD mit ihren Vertretern Gustav Bauer und Philipp Scheidemann in die neu gebildete Reichsregierung Max von Baden ein, die mit den Oktoberreformen Ansätze einer Parlamentarisierung durchführte. Die USPD wandte sich zwar scharf gegen die Unterstützung einer kaiserlichen Regierung, setzte aber auch nicht auf einen revolutionären Wandel, sondern plädierte für die Wahl einer Nationalversammlung. Alle Überlegungen wurden von der sich von Kiel aus über das ganze Reich ausbreitenden Novemberrevolution zunächst hinfällig gemacht. Anfangs waren die fast überall entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte die Träger der Bewegung. Die radikale Linke (Spartakusbund und andere) hatte in diesen Organisationen nur einen begrenzten Einfluss. Ein Großteil der Mitglieder stand den Sozialdemokraten (beider Richtungen) und den Gewerkschaften nahe. Das Ziel der Räte war überwiegend nicht die Errichtung einer Räteherrschaft nach dem russischen Vorbild, vielmehr ging es ihnen um die Beendigung des Krieges, die Sicherung der Versorgungslage, die Entmachtung der Militärherrschaft und eine Demokratisierung des Staates. Am 9. November 1918 hat Max von Baden zur Einhegung der Bewegung die Abdankung von Wilhelm II. durchgesetzt und formal gegen die Verfassung Friedrich Ebert mit dem Amt des Reichskanzlers beauftragt. Philipp Scheidemann proklamierte gegen den Willen Eberts, der noch immer versuchte, einem strikten Legalitätskurs zu verfolgen, die Republik: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!“ Fast zeitgleich rief Karl Liebknecht die sozialistische Republik aus. Die MSPD und die USPD bildeten am 10. November den Rat der Volksbeauftragten. Beteiligt waren Ebert, Scheidemann und Otto Landsberg für die MSPD und Haase, Dittmann und Emil Barth für die USPD. Um die USPD für die Regierungsbeteiligung zu gewinnen, musste die MSPD ausdrücklich die revolutionären Grundlagen des politischen Neubeginns anerkennen. Der Rat der Volksbeauftragten verkündete, dass die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte liege und diese möglichst bald zu einer Vollversammlung zusammenkommen sollten. Allerdings wandte sich die MSPD entschieden gegen jede Form der Räteherrschaft und warnte vor einer Bolschewisierung. Die Partei bekämpfte daher die entschiedene Linke, obwohl deren tatsächlicher Rückhalt begrenzt war. Vor dem Hintergrund einer befürchteten weiteren Radikalisierung und der Furcht vor dem Zusammenbruch der staatlichen Organisation verzichtete die MSPD auf die Durchsetzung von weitergehenden Reformschritten in der ersten Revolutionsphase. Stattdessen kam es zu Absprachen zwischen der Obersten Heeresleitung unter General Wilhelm Groener und Friedrich Ebert (Ebert-Groener-Pakt). Auch im Regierungsapparat blieben selbst erklärte Gegner der Revolution auf ihrem Posten. Der Kompromiss mit den alten Gewalten führte dazu, dass diese sich behaupten konnten. Nach der Konsolidierung der Verhältnisse war später eine Demokratisierung und Republikanisierung insbesondere des Militärs kaum noch möglich. Die angekündigte Versammlung der Arbeiterräte fand als so genannter Reichsrätekongress Mitte Dezember 1918 statt. Die Mehrheit der Delegierten von fast 60 % stand der MSPD nahe. Trotz einiger weiterreichender Beschlüsse wie der Sozialisierung der Industrie unterstützte die Versammlung im Kern die Politik Eberts und legte gegen den Willen der USPD, die eine Nationalversammlung möglichst spät einberufen wollte, um bis dahin nach revolutionärem Recht noch Fakten schaffen zu können, den Wahltermin auf den 19. Januar 1919 fest. Für den radikalen Flügel der USPD, der sich an der Oktoberrevolution orientierte, war dies nicht akzeptabel. Nicht zuletzt aus diesem Grund spaltete sich zum Jahreswechsel 1918/19 die KPD als eigenständige Partei von der USPD ab. Über die Kompetenzen des vom Reichsrätekongress beschlossenen Zentralrats gab es heftige Konflikte zwischen USPD und MSPD. Die Koalition scheiterte endgültig an der Frage nach dem Einsatz von Militär Weihnachten 1918. Nach dem Austritt der USPD aus der Regierung trat unter anderem Gustav Noske (MSPD) in das Gremium ein. Während des so genannten Spartakusaufstandes im Januar 1919 übernahm Noske den Auftrag zur Niederschlagung des Aufstandes mit den Worten: „Einer muss den Bluthund machen.“ Obwohl zu diesem Zeitpunkt durchaus republikanische Schutztruppen vorhanden waren, griff er auf Freikorps zurück. Diese schlugen den Aufstand blutig nieder, und ihre Offiziere, die der extremen Rechten nahestanden, befahlen – wahrscheinlich unter Duldung Noskes und weiterer – darüber hinaus die Ermordung zahlreicher Politiker und Anhänger der KPD. Unter diesen waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Bei der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung erfüllten sich die Hoffnungen der Sozialdemokraten auf eine absolute Mehrheit und damit einen großen politischen Entscheidungsspielraum nicht. Die MSPD kam auf 37,9 % und die USPD auf 7,6 %. Zusammen waren dies 45,5 %. Anstelle der erhofften Arbeiterregierung bildeten MSPD, die katholische Zentrumspartei und die linksliberale DDP die so genannte Weimarer Koalition. Die Sozialdemokratie und die politische Radikalisierung 1919/1920 Die Weimarer Nationalversammlung wählte am 11. Februar 1919 den bisherigen Reichskanzler Friedrich Ebert zum vorläufigen Reichspräsidenten. Damit war erstmals ein Sozialdemokrat deutsches Staatsoberhaupt. Das Amt behielt Ebert bis zu seinem Tod im Jahr 1925. Die Position des Kanzlers übernahm Phillipp Scheidemann. Den Vorsitz der SPD übernahmen Otto Wels und Hermann Müller. Nicht zuletzt das gewaltsame Vorgehen gegen die linke Opposition Ende 1918 und Anfang 1919 führte zu einer Radikalisierung der Arbeiter- und Soldatenräte. Im Frühjahr 1919 kam es vor allem im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland zu Streikbewegungen, bei denen neben der Durchsetzung von Lohnforderungen die angekündigte Sozialisierung der Wirtschaft eingefordert wurde. In einigen Ländern (Bayern, Bremen) entstanden Räterepubliken, die von der mehrheitssozialdemokratisch geführten Regierung schließlich mit regulärem Militär und Freikorps aufgelöst wurden. Eine Folge des Linksrucks in der Arbeiterbevölkerung war, dass die USPD Zustrom nicht nur von enttäuschten Mitgliedern der MSPD, sondern auch von vielen bislang unorganisierten Arbeitern erhielt. Die Mitgliederzahl wuchs von 300.000 im März bis auf 700.000 im November 1919. Allerdings überdeckte dieser Erfolg die inneren Spannungen zwischen ihrem linken und rechten Flügel. Die MSPD stand in der Regierung vor der Frage der Annahme des Versailler Vertrages. Strikt dagegen war etwa Reichskanzler Scheidemann, der sich mit dieser Haltung nicht durchsetzen konnte und daher zurücktrat. Letztlich sah sich die Mehrheit der Reichstagsfraktion aus Mangel an Alternativen zur Zustimmung gezwungen. Die politische Rechte nutzte diese Entscheidung in den folgenden Jahren propagandistisch aus und diffamierte die SPD als „Novemberverbrecher“. Nachfolger Scheidemanns als Regierungschef wurde Gustav Bauer (21. Juni 1919 bis 27. März 1920). Im März 1920 wurde der Bestand der Republik durch den Kapp-Putsch zum ersten Mal von rechts bedroht. Die Putschisten scheiterten jedoch am Generalstreik der Gewerkschaften. Die zeitweise von den Gewerkschaften erneuerte Hoffnung auf eine Arbeiterregierung erfüllte sich freilich nicht. Im Ruhrgebiet setzten teils linkssozialistisch, teilweise kommunistisch orientierte Arbeiter den Ausstand fort, der sich zum so genannten Ruhraufstand entwickelte. Mit Hilfe von Truppen, die kurz zuvor noch auf Seiten von Kapp gestanden hatten, ließ die neue Regierung unter Hermann Müller den Aufstand gewaltsam brechen. Der Kapp-Putsch und die Reichstagswahlen vom Juni 1920 bilden in mehrfacher Hinsicht eine tiefe Zäsur. Die revolutionäre Anfangsphase der Republik war damit zu Ende. Bei der Reichstagswahl verlor die MSPD deutlich (21,7 %), während die USPD (18,8 %) fast gleichauf lag. Dies bestätigte noch einmal den Linksschwenk im sozialdemokratischen Lager. Da im bürgerlichen Lager ein deutlicher Rechtsschwenk zu verzeichnen war, hatte die Weimarer Koalition ihre Mehrheit verloren, die SPD wurde Oppositionspartei. Zur Zäsur für die sozialdemokratische Bewegung wurde das Jahr 1920 auch, weil die Mehrheit der USPD auf ihrem Parteitag den Übertritt zur Kommunistischen Internationale und den Zusammenschluss mit der KPD beschloss. Erst seither war diese eine Massenpartei. Der Rest der USPD blieb zunächst unabhängig; sie wurde in den folgenden Jahren zwischen MSPD und KPD zerrieben. Die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik In den Jahren nach dem Ende der sozialdemokratischen politischen Dominanz hat sich die SPD im Reich nur bis 1924 an Koalitionsregierungen unter der Führung anderer Parteien beteiligt. Erst 1928 stellte sie bis 1930 mit Hermann Müller noch einmal den Reichskanzler. In der Endphase der Republik war sie wieder in der Opposition. Ausbau und Grenzen des sozialistischen Milieus Für die anhaltende Bedeutung der Vorkriegsstrukturen spricht, dass die Zahl und Reichweite der sozialistischen Nebenorganisationen nach dem Ersten Weltkrieg noch deutlich zunahm. Dabei waren in ihnen vielfach lange Zeit noch Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam vertreten. Allerdings existiert in der Forschung die These, dass die Bindewirkung dieser Organisationen angesichts von konkurrierenden Freizeitangeboten wie Kino, Radio oder Massensportveranstaltungen nachgelassen habe. Zahlreiche Organisationen wurden erst nach 1919 gegründet. Dazu gehörten die Arbeiterwohlfahrt, die Jusos, die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ), die Kinderfreunde, der Arbeiter-Radio-Bund Deutschlands, aber auch Organisationen für Lehrer, Juristen, Gewerbetreibende, Vegetarier und zahlreiche andere Gruppierungen. Die alten Organisationen expandierten deutlich. Der Arbeiter-Turn- und Sportbund wuchs von 120.000 auf 570.000 Mitglieder an. Der proletarische Freidenkerverband stieg von 6500 auf 600.000 Mitglieder an. Geografisch erreichte das Vereinswesen nun auch Orte, in denen es vor dem Krieg noch nicht vertreten war. Allerdings gab es weiter große Unterschiede zwischen Stadt und Land oder katholischen und protestantischen Regionen. Auch zeitlich verlief die Entwicklung unregelmäßig. Durch die Hyperinflation gerieten die Organisationen in eine tiefe Krise, sie konnten sich aber meist bis 1926 wieder erholen und wuchsen in den folgenden Jahren stark an, ehe mit der Weltwirtschaftskrise ein weiterer Einbruch erfolgte. In unterschiedlicher Weise wirkte sich gerade am Ende der Republik auch die Konkurrenz von SPD und KPD auf die Organisationen aus. Bei aller äußerlichen Ähnlichkeit blieb die Abgrenzung gegenüber den bürgerlichen Vereinen groß. Das sozialistische und marxistische Weltbild blieb stark ausgeprägt. Insgesamt gab es Ansätze zu einem Aufweichen des sozialistischen Milieus, aber diese Tendenzen blieben begrenzt. Auch während der Republik sorgten neben den Vereinen die sozialdemokratischen Familien und Nachbarschaften für eine Reproduktion des Milieus. Allerdings gab es dabei erhebliche Bindungsunterschiede, was sich auch in den Fluktuationen des Vereinslebens widerspiegelt. Zudem gab es zahlenmäßig eher unbedeutende Strömungen, die dem klassischen Arbeitermilieu eher fernstanden, aber für die spätere Entwicklung von Bedeutung waren. Dazu zählte etwa der religiöse Sozialismus, dessen Anhänger sich teilweise im Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands organisierten. Politik in den Kommunen und in den Ländern Politik spielte sich in der Weimarer Republik nicht nur auf Reichsebene ab. Im kommunalen Bereich konnten Sozialdemokraten nach dem Ende des Dreiklassenwahlrechts in Preußen und vergleichbaren Einschränkungen in anderen Ländern politische Verantwortung übernehmen. Je nach Wählerstruktur war die politische Bedeutung in den Ländern unterschiedlich. In Preußen als dem mit Abstand größten Land konnte die SPD unter Ministerpräsident Otto Braun ihre politische Vormachtstellung bis in die Endphase der Republik hinein behaupten. Zwischen 1919 und 1932 stellte die SPD mit kurzen Unterbrechungen die Regierung und prägte sie als Führungskraft. Politiker wie Carl Severing bauten den einstigen Obrigkeitsstaat mit republikanischen Reformen in Polizei und Verwaltung zum demokratischen Bollwerk Preußen gegen die extreme Rechte und Linke aus. Wenngleich die Reformen des von den Zeitgenossen als System Braun-Severing bezeichneten Kurses deutlich Grenzen aufwiesen, hatten sie Preußen stark verändert. Mit dem so genannten Preußenschlag 1932 endete die sozialdemokratische Vormachtstellung auch in diesem Land. Ein weiteres Beispiel für die teilweise starke Kraft der SPD in den Ländern ist Sachsen, wo die SPD durchgehend die stärkste Fraktion stellte und nie unter die 30-%-Marke fiel. Im Unterschied dazu war sie zum Beispiel in Württemberg zwar oft stärkste oder zweitstärkste Kraft, jedoch seit 1923 nicht mehr an der Regierung beteiligt. Im benachbarten Baden gelang der SPD die Regierungsbeteiligung in einer Weimarer Koalition von 1918 bis 1930 und darüber hinaus mit Zentrum und DVP bis 1932. Im Volksstaat Hessen regierte die SPD an der Spitze einer Weimarer Koalition von 1918 bis 1933. In Bayern dagegen dauerte die Regierung der SPD in verschiedenen Koalitionen lediglich von November 1918 bis März 1920. Die Entwicklung bis zu den Krisenjahren 1923/24 Bereits 1921 kehrte die SPD in einer Koalitionsregierung unter dem Zentrumskanzler Joseph Wirth in die Regierungsverantwortung zurück. Auf ihrem Görlitzer Parteitag im selben Jahr verabschiedete die SPD ein neues Programm. Das Görlitzer Programm bekannte sich ausdrücklich zur Weimarer Republik. „Sie betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform, jeden Angriff auf sie als ein Attentat auf das Lebensrecht des Volkes.“ Ideologisch enthielt das Programm zwar noch einige marxistische Elemente – es hielt etwa am Klassenkampfbegriff fest –, aber es war deutlich revisionistischer als das Erfurter Programm. Von Bedeutung ist es im Rückblick, weil die Partei nicht mehr nur die Industriearbeiterschaft in den Blick nahm, sondern sich in Art einer Volkspartei als Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land begriff. Die Hoffnung auf Gewinnung neuer Wählerschichten war nicht ganz realitätsfern, konnte die Sozialdemokratie doch unmittelbar nach Kriegsende nicht wenige Landarbeiter im Osten Deutschlands, aber auch kleine und mittlere Beamte und Angestellte anziehen. Auf mittlere Sicht konnte sie diese Gruppen nur in geringem Maß binden, und die SPD blieb im Kern eine klassische Arbeiterpartei. Dies hing auch damit zusammen, dass der volksparteilich-revisionistische Kurs in der Partei schon bald nicht mehr mehrheitsfähig war. Der Grund dafür war, dass die Mehrheit der Rest-USPD 1922 zur SPD zurückkehrte, deren linken Flügel sie damit deutlich stärkte. Die Wiedervereinigung bedeutete eine beachtliche Stärkung der Partei. Sie hatte nunmehr 1,2 Millionen Mitglieder und verfügte über 36 % der Reichstagsmandate. Die Hoffnung auf eine ruhige politische Entwicklung nach dem Ende der Revolutionsjahre erfüllte sich nicht. Die politischen Morde von rechts an Matthias Erzberger und 1922 an Walther Rathenau führten zum Zusammenrücken der demokratischen Parteien, ehe der Staat 1923 erneut in eine tiefe Existenzkrise geriet. Über alle Parteigrenzen hinweg führte die Ruhrbesetzung zu heftigen Protesten. Die Kosten des von der Regierung verkündeten passiven Widerstandes waren aber auch der letzte Auslöser für eine hyperinflationäre Entwicklung bis hin zum fast völligen Wertverlust der deutschen Währung. Nach einer kurzen Zeit in der Opposition kehrte die SPD unter Reichskanzler Gustav Stresemann in die Regierung zurück, weil ihre Führung der Meinung war, dass die Überwindung der Krise nur auf Basis eines breiten Bündnisses möglich sei. Das unterschiedliche Verhalten der Regierung, auf der einen Seite die Reichsexekution gegen die sozialdemokratisch-kommunistische Koalitionsregierung in Sachsen und auf der anderen Seite die Hinnahme des antirepublikanischen Regimes in Bayern, führten zum Austritt der SPD aus der Reichsregierung. Die Gefährdung der Republik von rechts führte Anfang 1924 zur Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold als Organisation zum Schutz der Republik. Obwohl offiziell überparteilich, stand die große Mehrzahl der Mitglieder der SPD nahe. Die Stabilisierungspolitik, teilweise mit Zustimmung der SPD, wurde durch ein massives Absenken der Reallöhne und die Abschaffung zentraler Errungenschaften der Revolution wie etwa der Einschränkung des Achtstundentags oder das Ende der institutionalisierten Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Arbeitgebern in der Zentralarbeitsgemeinschaft erkauft. Der SPD als der Staatspartei der ersten Weimarer Jahre wurde für die soziale Not während und nach der Inflation von den Wählern (nicht wirklich zu Recht) ein hohes Maß an Verantwortung zugewiesen. Die Arbeiterwähler gingen dabei vielfach zur KPD über. Kamen beide sozialdemokratischen Parteien 1920 noch auf über 40 % der Wähler, waren es bei der ersten Reichstagswahl des Jahres 1924 nur noch 20,5 %. Dagegen nahm der Anteil der KPD von 2,1 % 1920 auf 12,6 % deutlich zu. Wie abhängig der Wählerwille von der jeweils aktuellen Lage war, zeigt der Ausgang der Wahlen im Dezember 1924, als die KPD Verluste vorwiegend zu Gunsten der SPD hinnehmen musste. Zusammengenommen verlor das Lager der Arbeiterparteien (USPD, MSPD, KPD) von 1919 (45,5 %) bis Dezember 1924 (34,9 %) insgesamt beträchtlich an Rückhalt. Die Sozialdemokratie in der Mittelphase der Republik Für die Bildung einer Regierung wurde die Partei nicht mehr benötigt, und so dominierten in den folgenden Jahren die bürgerlichen Parteien zusammen mit dem Zentrum die Politik. Bezeichnend für den Wandel des politischen Klimas war die nach dem Tod Friedrich Eberts notwendig gewordene Reichspräsidentenwahl. Der erste Wahlgang brachte einen Stimmenanteil von 29 % für den SPD-Kandidaten Otto Braun. Allerdings wurde im zweiten Wahlgang nicht der von der SPD unterstützte Kandidat Wilhelm Marx, sondern Paul von Hindenburg – ein Repräsentant des Kaiserreichs – gewählt. Der Verlust der Regierungsverantwortung im Reich, aber auch die Eingliederung der ehemaligen USPD-Mitglieder führten dazu, dass sich in der Partei wieder stärker die Traditionen einer Solidargemeinschaft der Industriearbeiter durchsetzten. Dies spiegelt das Heidelberger Programm von 1925 deutlich wider, das sich in weiten Teilen wieder an das Erfurter Programm und die marxistischen Positionen der Vorkriegszeit anlehnte. Dort heißt es: „Die Umwandlung der kapitalistischen Produktion in sozialistische für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion wird bewirken, daß die Entfaltung und Steigerung der Produktivkräfte zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger Vervollkommnung wird. Dann erst wird die Gesellschaft aus der Unterwerfung unter blinde Wirtschaftsmacht und aus allgemeiner Zerrissenheit zu freier Selbstverwaltung in harmonischer Solidarität emporsteigen.“ Im Bereich der internationalen Politik forderte die Partei die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa und eine europäische Wirtschaftseinheit. Der Rückzug auf die Zielgruppe der Industriearbeiterschaft hatte nicht nur ideologische Gründe. Vielmehr war dies auch eine Reaktion darauf, dass es der Partei nicht gelungen war, die unmittelbar nach der Novemberrevolution gewonnenen Landarbeiter, Angestellten und Beamten dauerhaft zu binden. Die Gründung der Alten Sozialdemokratischen Partei Sachsens (ASPS, später ASPD) im März 1926 durch 23 aus der Partei ausgeschlossene, zum rechten Parteiflügel zählende sächsische Landtagsabgeordnete führte außerhalb Sachsens zu keiner Schwächung der SPD. Wenn auch der Anstoß zum Volksentscheid über das Fürstenvermögen im Jahr 1926 von der KPD ausging, zeigte sich auch die SPD kampagnenfähig. Für die politische Linke war diese Bewegung ein großer Erfolg. Die 14,5 Millionen Ja-Stimmen waren 4 Millionen mehr, als SPD und KPD bei der letzten Reichstagswahl erzielt hatten. Eindrücklich bestätigt wurde die Erholung der SPD bei der Reichstagswahl von 1928, als die SPD erheblich dazugewann und auf fast 30 % der Stimmen kam. Dabei gelang es ihr, in einem nennenswerten Maße in das Lager katholischer Arbeiter einzudringen, die bisher meist für das Zentrum gestimmt hatten. Aus den Wahlen ging das Kabinett Müller II unter Reichskanzler Hermann Müller hervor. Diese große Koalition war von Beginn an von potentiellen Bruchstellen durchzogen. Große sozial- und wirtschaftspolitische Gegensätze bestanden etwa zwischen der Arbeiterpartei SPD und der stark von industriellen Interessen geprägten DVP. Problematisch war auch das Verhältnis zum Zentrum, das sich nach den Wahlen stärker nach rechts orientierte. Auch innerhalb der SPD gab es nicht wenige, die eine erneute Regierungsbeteiligung ablehnten und vor den nötigen Kompromissentscheidungen warnten. Der Konflikt um das Panzerschiff A wurde zur Zerreißprobe. Hatte die SPD im Wahlkampf noch gegen dieses Projekt gekämpft, sah sich der sozialdemokratische Regierungsflügel nunmehr aus verschiedensten Gründen zur Zustimmung genötigt, was innerhalb der Partei zu erheblichen Protesten führte. Erste Spannungen zwischen den Koalitionspartnern brachen mit der großen Aussperrung im Ruhreisenstreit auf. Von links wurde die SPD von der KPD, die sich zu dieser Zeit in ihrer so genannten ultralinken Phase befand, als Sozialfaschisten diffamiert, und die Kommunisten verstärkten in den Gewerkschaften und dem sozialistischen Vereinswesen die Abspaltung und Gründung eigener Organisationen. Bestärkt wurde die KPD durch das gewaltsame Zerschlagen einer verbotenen Mai-Demonstration (Blutmai) auf Befehl des sozialdemokratischen Berliner Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel im Jahr 1929. Im März 1930 zerbrach das Kabinett am Streit zwischen SPD und DVP an unterschiedlichen Haltungen zur Arbeitslosenversicherung. Die SPD in der Defensive seit 1930 Das Ende der Regierung Müller bedeutete auch das Ende des parlamentarischen Regierungssystems. Bereits der Nachfolger Heinrich Brüning stützte sich letztlich auf die Autorität des Reichspräsidenten und den Artikel 48 der Reichsverfassung. Wirtschaftlich geprägt wurde das Ende der Republik von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die anders als bei früheren Konjunkturschwankungen wie 1925/26 nicht nach einigen Monaten überwunden werden konnte, sondern über Jahre die Wirtschaft in eine Krise stürzte. Dies führte zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosen und zu einer weit verbreiteten sozialen Not. Dennoch wurde die Deflationspolitik Brünings, die mit massiven Sparmaßnahmen verbunden war, von der SPD im Kern mitgetragen, wenngleich sie auf eine gerechtere Verteilung der Lasten drängte. Die Auflösung des Reichstags und die Neuwahlen von 1930 schwächten die gemäßigten Parteien und stärkten die Radikalen, die Sozialdemokraten verloren über 15 % ihrer Stimmen. Die NSDAP, die bisher nicht viel mehr als eine Splitterpartei gewesen war, konnte sich mit über 18 % der Stimmen als zweitstärkste politische Kraft etablieren. In den folgenden Jahren geriet die SPD immer stärker in die Defensive. Sie entschied sich für eine langfristige Tolerierung des Präsidialkabinetts Brüning („konstruktive Opposition“), um nach dem Schock von 1930 weitere vorgezogene Neuwahlen zu verhindern. Die Partei hoffte dadurch einer Annäherung der NSDAP an Brüning oder einem Regieren jenseits der Verfassung vorzubeugen. Diese Kompromisspolitik war bei den eigenen Anhängern, aber auch bei potentiellen Wählern nicht attraktiv. Angesichts der sozialen Not gingen vor allem jüngere Arbeiterwähler zur KPD oder in einem gewissen Umfang auch zur NSDAP über. Immerhin versuchte die SPD zusammen mit den freien Gewerkschaften und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold seit 1931 der SA und dem Roten Frontkämpferbund der KPD mit der Eisernen Front eine republikanisch orientierte Schutzformation entgegenzusetzen. So eindrucksvoll deren Massenaufmärsche auch waren, übte die Organisation kaum Einfluss auf die Entwicklung aus. Innere Kritik und neue Organisationen Für viele Mitglieder, aber auch in weiten Teilen der linken Öffentlichkeit stieß die Politik der Parteiführung auf scharfe Kritik. Daneben gab es auch Forderungen nach einer Einheitsfront von SPD und KPD und nach Überwindung der Spaltung der marxistischen Arbeiterbewegung. Bereits die Politik der großen Koalition war auf heftige Kritik des linken Flügels der Partei gestoßen. Diese Tendenzen verstärkten sich vor dem Hintergrund der Tolerierungspolitik weiter. Schließlich wurden die linken Protagonisten Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld aus der Partei ausgeschlossen. Zusammen mit anderen Kritikern wurde 1931 die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP; teilweise auch SAPD genannt) gegründet, in der auch die bis dahin noch als Kleinpartei existierende USPD unter deren letztem Vorsitzenden Theodor Liebknecht aufging. Das Ziel der SAP war es, eine einheitliche revolutionäre Organisation auf nationaler und internationaler Grundlage zu schaffen. Die neue Partei grenzte sich deutlich von der SPD sowie der KPD ab. Die Partei hatte einige Schwerpunkte, etwa in Leipzig, Dresden oder Breslau. Zuspruch erfuhr sie auch von linken Intellektuellen wie Albert Einstein oder Lion Feuchtwanger. Erfolgreich war sie in Teilen der sozialistischen Jugendbewegung. So kam Herbert Frahm (der spätere Willy Brandt) aus diesem Umfeld. Eine gewisse Anziehungskraft übte die Partei auf Mitglieder linker Splittergruppen wie die USPD und KPO aus. Allerdings gelang es ihr weder den linken Flügel der SPD insgesamt für sich zu gewinnen, noch unter den Wählern einen nennenswerten Einfluss zu gewinnen. Bei den Reichstagswahlen vom Juli 1932 kam sie nur auf 0,2 % der Stimmen. Innerhalb der SPD wurde der Kurs der Partei auch von der so genannten Neuen Rechten kritisiert, zu der eine ganze Reihe später einflussreicher jüngerer Funktionäre und Abgeordneten (Carlo Mierendorff, Julius Leber, Theodor Haubach, Kurt Schumacher) zählten. Diese forderten, dass die Partei auch außerhalb der parlamentarischen Bühne wieder zu einem Machtfaktor werden solle. Sie sollte vor allem nicht nur defensiv Stellung nehmen, sondern offensiv eine sozialistische Vision für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verbreiten. Die Parteiführung sah darin nur einen Angriff auf die altbewährte Ideologie und Taktik sowie jugendlichen Übermut. Am Kurs der Partei änderte die innere Kritik kaum etwas. Die Sozialdemokratie am Ende der Republik Wie weit die Tolerierungspolitik ging, zeigt die Reichspräsidentenwahl von 1932. Von Anfang an verzichtete die SPD auf einen eigenen Kandidaten und sprach sich aus Furcht vor einem Reichspräsidenten Adolf Hitler für die Wiederwahl des eher antirepublikanischen Paul von Hindenburg aus. Nach dessen Wiederwahl wurde der extrem konservative Franz von Papen zum Reichskanzler ernannt, von dem keine Rückkehr zum parlamentarischen System zu erwarten war. Vielmehr sorgte er dafür, dass die SPD eine ihrer letzten einflussreichen politischen Positionen einbüßte. 1930 stellten DNVP und KPD einen gemeinsamen Misstrauensantrag im preußischen Parlament, 1931 versuchte der Stahlhelm mit Unterstützung von NSDAP, DNVP, DVP und KPD ein Volksbegehren zur Absetzung der Regierung in Preußen durchzubringen. Bei den Landtagswahlen vom 24. April 1932 hatte die preußische Regierungskoalition um Otto Braun ihre parlamentarische Mehrheit verloren und war seither nur noch geschäftsführend im Amt. Diese Situation nutzte von Papen am 20. Juli 1932 beim so genannten Preußenschlag aus. Die Regierung wurde abgesetzt, und von Papen ernannte sich selbst zum Staatskommissar in Preußen. Ein möglicher Generalstreik wie 1920 beim Kapp-Putsch kam wegen der Arbeitslosigkeit nicht in Frage. Während in Teilen der Eisernen Front die Bereitschaft groß war, gegen den Preußenschlag notfalls auch mit Gewalt vorzugehen, verzichtete die Parteiführung auf diesen Schritt. Neben der anhaltenden sozialen Not führte die Enttäuschung über das unentschlossene Verhalten der Parteiführung dazu, dass die SPD in den beiden Reichstagswahlen von 1932 weiter an Gewicht verlor. Bei der Juliwahl lag sie mit etwas mehr als 21 % mit deutlichem Abstand hinter der NSDAP. Bei der Novemberwahl hatte die NSDAP zwar verloren. Aber die SPD musste erneut leichte Verluste hinnehmen, die vor allem der KPD zugutekamen. Diese lag mit fast 17 % nur knapp hinter der SPD. In den folgenden letzten Monaten der Republik hielt die SPD unbeirrt an ihrem Legalitätskurs fest. Auch nach dem Antritt der Regierung Hitler am 30. Januar 1933 wurde dieser weiter unterschätzt, und die Parteiführung baute weiterhin auf die eigene Organisationskraft. Dass die neue Regierung sich keineswegs an die Verfassung halten wollte, zeigte sich nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933, in deren Folge wichtige Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden. Bereits die Reichstagswahlen vom März 1933 waren nicht mehr völlig frei. Trotz Einschüchterung und einiger Verluste konnten aber die SPD wie auch das Zentrum ihre Kernwählerschaft behaupten. Die Koalition aus NSDAP und DNVP verfügte zwar über eine parlamentarische Mehrheit, für das Ziel der Regierung, die parlamentarische Demokratie auf formal legalem Wege abzuschaffen, brauchte sie jedoch im Reichstag eine Zweidrittelmehrheit. Aus verschiedenen Gründen gelang es, die Reste der bürgerlichen Parteien und das Zentrum zur Zustimmung für ein Ermächtigungsgesetz (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich) zu bewegen. In der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 stimmte nur die SPD dagegen - alle kommunistischen (und ein Teil der SPD-) Abgeordneten waren entweder bereits verhaftet oder wurden an der Teilnahme gehindert, sodass sie als „verboten“ bzw. „ohne Begründung abwesend“ nicht mitgezählt wurden. Die ablehnenden Worte des Fraktionsführers Otto Wels gelten auch heute noch als einer der Höhepunkte der deutschen Parlamentsgeschichte: Emigration und Verfolgung während des Nationalsozialismus Ein Großteil des Vorstandes emigrierte ins Ausland. Ein Teil der Führungsmitglieder, der auf eine moderate Verfolgungspraxis wie zu Zeiten des Sozialistengesetzes hoffte, blieb zurück und versuchte, mit Konzessionen an das Regime den Fortbestand der Partei zu sichern. Dazu gehörte etwa der demonstrative Austritt von Otto Wels aus dem Büro der Sozialistischen Arbeiter-Internationale am 30. März 1933. Noch weiter gingen die freien Gewerkschaften, die sich nun ausdrücklich von der SPD distanzierten und am nationalsozialistischen Tag der nationalen Arbeit am 1. Mai 1933 teilnahmen. Nur einen Tag später wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt und die Gewerkschaften aufgelöst. Auch der sozialdemokratischen Rumpffraktion wurde ihre Zustimmung zur nationalsozialistischen Friedensresolution am 17. Mai 1933 nicht gedankt. Stattdessen wurde am 22. Juni ein Betätigungsverbot erlassen. In den darauffolgenden Tagen folgte die Selbstauflösung aller anderen Parteien (zuletzt des Zentrums am 5. Juli) und am 14. Juli dann das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien, mit dem die Existenz einer einzigen Partei, der NSDAP, gesetzlich festgeschrieben und jegliches Wirken für andere Parteien unter Strafe gestellt wurde, wobei bei den Sozialdemokraten, wie schon bei den Kommunisten, durch das Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens auch ein Vermögenseinzug gesetzlich verankert wurde. Am selben Tag wurde mit dem Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit die Grundlage für Ausbürgerungen der ins Ausland Geflüchteten geschaffen. Zuvor waren am 7. Juli durch die Verordnung zur Sicherung der Staatsführung des Reichsinnenministers Frick sämtliche SPD-Abgeordnetenmandate im Reichstag, in den Landtagen und den Gemeindeparlamenten aufgehoben worden. Zahlreiche führende und einfache Mitglieder der Partei waren schon vorher verhaftet worden. Nicht wenige starben in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern. Die Masse der Mitglieder versuchte innerhalb des sozialdemokratischen Milieus, etwa im Vereinswesen getarnt als Gesangsverein, die Verbindung untereinander aufrechtzuerhalten. An Widerstandsaktionen beteiligte sich die Masse der Mitglieder, auch aus Rücksicht auf die Familien, nicht. Zu den wenigen gehörten die sich aus Strukturen des Reichsbanners rekrutierenden Gruppen um Theodor Haubach und Karl Heinrich in Berlin oder um Walter Schmedemann in Hamburg. Die organisatorische Basis sozialdemokratischer Widerstandsgruppen bildeten häufig nicht SPD-Organisationen, sondern Schufo- oder Jungbannergruppen des Reichsbanners oder SAJ-Gruppen, in welchen sich aktivistisch orientierte, häufig jüngere SPD-Mitglieder sammelten. Einen im Vergleich mit ihrer geringen Bedeutung während der Republik großen Anteil am Widerstand hatten einige linkssozialistische Gruppen. Dazu zählten neben der SAP die sich überwiegend aus in kritischer Distanz zur SoPaDe stehenden SPD- oder SAJ-Mitgliedern rekrutierenden Organisationen Neu Beginnen, Revolutionäre Sozialisten Deutschlands, Sozialistische Front und Roter Stoßtrupp und nicht zuletzt der (wie die SAP außerhalb der SPD stehende) Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK). Der letztgenannte verstand sich nicht als marxistisch, sondern knüpfte an den Philosophen Leonard Nelson an. Von anhaltender Bedeutung war, dass überdurchschnittlich viele Mitglieder dieser Gruppen wie beispielsweise Willy Brandt, Fritz Erler, Willi Eichler oder Erwin Schoettle nach dem Krieg Einfluss in der SPD gewannen. Die ins Ausland geflüchtete Parteiführung der SPD nannte die Exilorganisation SoPaDe. Sie veröffentlichte mit den Deutschland-Berichten der Sopade relativ verlässliche Berichte aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Politisch distanzierte sich die SoPaDe vom Legalitätskurs, wie ihn zuletzt die Rumpffraktion gezeigt hatte, und rückte insgesamt stärker nach links, wie dies etwa im maßgeblich von Rudolf Hilferding verfassten Prager Manifest deutlich wurde. Stärker als zuvor setzte sie auf eine Vereinigung mit den linkssozialistischen Splittergruppen, nicht aber mit der KPD. Erst als die Komintern ihren Sozialfaschismusvorwurf 1935 fallen gelassen hatte, war eine Zusammenarbeit von der KPD über die kleinen Gruppen bis hin zur SPD denkbar geworden. Dennoch blieb das Misstrauen groß. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die deutsche Wehrmacht floh die Exilpartei nach Paris und von dort aus kaum zwei Jahre später nach London. Dort schlossen sich 1941 in der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien die SoPaDe, die SAP, der ISK und die Gruppe Neu Beginnen in einem Dachverband zusammen. Dies war ein zentraler Schritt zur Überwindung der Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung. Auch in anderen Ländern versuchten sich die sozialdemokratischen Exilanten zu organisieren. In den USA entstand etwa die German Labour Delegation, die dazu beitrug, nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Armee hunderte Sozialdemokraten vor der Verhaftung zu bewahren. Einzelne SPD-Mitglieder wie Julius Leber, Adolf Reichwein oder Wilhelm Leuschner waren an den Planungen, die zum Aufstandsversuch am 20. Juli 1944 führten, beteiligt oder gehörten dem Kreisauer Kreis an. Nach dessen Ende kam es noch einmal zu einer umfassenden Verhaftungswelle zahlreicher ehemaliger Sozialdemokraten und anderer Oppositioneller in der so genannten Aktion Gitter. Die SPD während der Besatzungszeit 1945–1949 Unmittelbar nach Kriegsende, zum Teil kurz nach der Befreiung der einzelnen Orte, begann aus lokalen Initiativen der Wiederaufbau der SPD. Diese erhob dabei den Anspruch, dass die Sozialdemokratie als einzige Partei vom Nationalsozialismus und vom Scheitern der Weimarer Republik unbelastet sei und ihr daher die führende Rolle beim Aufbau eines nachfaschistischen Deutschlands zukommen müsse. Organisatorisch ging der Wiederaufbau rasch vonstatten. Bereits gegen Ende des Jahres 1946 war die SPD in den Westzonen und Berlin mit etwa 700.000 Mitgliedern größer als 1931 in demselben Gebiet. An der Basis war die Entwicklung der Partei zunächst eine Mischung aus alten Elementen und neuen Entwicklungen. In den meisten Fällen wurde die Entwicklung von Funktionären aus der Weimarer Zeit getragen. Allerdings zeigte das Scheitern der Rekonstruktion des sozialdemokratischen Vereinswesens, dass das alte sozialdemokratische Milieu nachhaltig geschwächt worden war. Zunächst unabhängig voneinander entstanden zwei Organisationszentren, die auf überregionaler Ebene begannen, die Partei wieder aufzubauen. Bereits am 15. Juni 1945 hatte sich in Berlin um Otto Grotewohl, unterstützt etwa von Gustav Dahrendorf oder Max Fechner, ein Zentralausschuss gebildet, der den Anspruch erhob, für die Partei im ganzen Land zu sprechen. Von Hannover aus bemühte sich das Büro Dr. Schumacher des charismatischen Kurt Schumacher um den Wiederaufbau der Partei vor allem in den drei westlichen Besatzungszonen (später Trizone). Der SPD in den Westzonen schlossen sich relativ bald die Mitglieder der SAP und des ISK an, die zu einem Großteil aus dem Exil zurückkehrten. Aus dem Umkreis der ehemaligen Linkssozialisten stießen später so einflussreiche Personen wie Fritz Erler, Willy Brandt und Heinz Kühn, von den ethischen Sozialisten Willi Eichler oder frühere Kommunisten wie Herbert Wehner zur SPD. Hinzu kamen Persönlichkeiten mit einem demokratisch-bürgerlichen Hintergrund wie Carlo Schmid, Karl Schiller oder Heinrich Albertz. Zentral für die zukünftige Entwicklung wurde die Wennigser Konferenz vom 5. bis 8. Oktober 1945. Dort setzte Schumacher durch, dass der Zentralausschuss nur für die Sowjetische Besatzungszone zuständig sein solle und er als Beauftragter für die Westzonen eingesetzt wurde. Ein Hauptgrund dafür war, dass Schumacher dem starken Einfluss der sowjetischen Besatzungsbehörden auf den Zentralausschuss misstraute. Gewissermaßen legitimiert wurde diese Lösung durch den Exilvorstand (Sopade) in London um Erich Ollenhauer. Unter den Mitgliedern von KPD und SPD gab es einen starken Drang zur Überwindung der Spaltung der marxistisch ausgerichteten Arbeiterbewegung. Auch Schumacher wollte zwar die Einheit, lehnte aber ein Zusammengehen mit der KPD, von der er sagte, sie sei keine deutsche Klassen-, sondern eine fremde, von der Sowjetunion dirigierte Staatspartei, kategorisch ab. Daher lehnte die Westpartei einen von Otto Grotewohl geforderten gemeinsamen Parteitag zur Beratung einer Vereinigung ab. Die Wiedererrichtung der Partei im nationalen Rahmen sei erst möglich, nachdem eine gesamtdeutsche Regierung gebildet worden sei, so Schumacher. Eine Befragung der Mitglieder zu dieser Frage fand lediglich in Berlin und nach Intervention der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) letztlich nur in den Westsektoren statt. Danach lehnten 82 % der Parteimitglieder einen sofortigen Zusammenschluss ab, aber immerhin 62 % befürworteten ein Bündnis beider Parteien. Für das Gebiet des sowjetischen Sektors von Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone kam es im Berliner Admiralspalast am 21. April 1946 zur Vereinigung von SPD und KPD zur SED. Auf Grund des Druckes, der im Vorfeld dabei auf die SPD ausgeübt worden war, hat sich dafür in Westdeutschland der Begriff der Zwangsvereinigung durchgesetzt. Dies hat im Nachhinein die Richtigkeit einer strikten Abgrenzungspolitik von Schumacher bestätigt und seine Politik legitimiert. Vom 9. bis 11. Mai 1946 trat in Hannover im Gebäude der Hanomag ein Parteitag der westdeutschen Sozialdemokraten zusammen, der als Reaktion auf die Gründung der SED eine auf die Westzonen beschränkte Partei unter dem alten Namen SPD gründete. Schumacher wurde dabei mit 244 von 245 Stimmen zum Vorsitzenden gewählt. Damit war die Gründungsphase der SPD in der Nachkriegszeit abgeschlossen. Die ersten Landtagswahlen verliefen für die SPD enttäuschend. Die beiden neuen Sammlungsparteien CDU und CSU überholten die Sozialdemokraten durchschnittlich mit über 37 % zu 35 %, und die KPD konnte mit über 9 % noch ein nennenswertes Wählerpotential binden. Gleichwohl waren die Ergebnisse durchschnittlich deutlich besser als bei der Reichstagswahl von 1928. Dennoch konnte die SPD auch vor diesem Hintergrund ihr Ziel einer Sozialisierung der Wirtschaft nicht durchsetzen. Anfangs war die SPD mit dem marxistischen Ökonomen Viktor Agartz in der Bizone zwar für die Wirtschaftspolitik verantwortlich; im 1947 errichteten Wirtschaftsrat der Westzonen setzte sich allerdings Ludwig Erhard durch. Bei der Gestaltung des Grundgesetzes spielten sozialdemokratische Politiker, insbesondere Carlo Schmid und Walter Menzel, jedoch eine prägende Rolle. Sozialdemokraten in der DDR Nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD wurden innerhalb der SED die sozialdemokratischen Einflüsse immer stärker in den Hintergrund gedrängt. Kritiker wurden aus der Partei ausgeschlossen oder verhaftet. Viele fielen den von Josef Stalin und Walter Ulbricht angeordneten Säuberungen zum Opfer. Eine Sondersituation herrschte auf Grund des für ganz Berlin geltenden Rechtes im Ostteil von Berlin. Dort existierte die SPD als legale Partei mit acht Kreisorganisationen, wenn auch faktisch ohne Gestaltungsmöglichkeiten, weiter. Nach dem Mauerbau 1961 wurde der Landesverband aufgelöst und die Mitglieder von ihren Pflichten der Partei gegenüber entbunden. Zum Schluss waren immerhin noch 5000 Einwohner des Ostsektors Mitglied der SPD. Insgesamt veranlassten die Verfolgungen viele Anhänger der Partei, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Viele flohen aber auch nach West-Berlin oder nach Westdeutschland. Etwa 6000 waren zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt und in ehemalige KZs eingesperrt worden, in denen sie schon während der Hitlerzeit gesessen hatten. Daneben gab es aber auch solche, die ganz ähnlich wie vor 1945 versuchten, ihre alten Kontakte aufrechtzuerhalten. Dabei spielte auch die Hoffnung eine Rolle, auf diesem Weg sozialdemokratische Positionen innerhalb der SED durchsetzen zu können. Damit war es allerdings mit dem Umbau der SED zu einer Partei neuen Typs weitgehend vorbei. Die SPD im Westen versuchte seit 1946 durch ein Ostsekretariat in Berlin und ein Ostbüro auf Bundesebene den Flüchtlingen zu helfen, Kontakte in die DDR aufrechtzuerhalten und Informationen zu sammeln. Nach dem Mauerbau verlor das Ostbüro an Bedeutung und wurde 1966 aufgelöst. In der DDR wurden die meisten wegen ihrer Zugehörigkeit zur SPD Inhaftierten in der Mitte der 1950er Jahre entlassen. Die personellen Kontinuitäten zwischen der Nachkriegssozialdemokratie und der Neugründung von 1989 waren gering. Die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik Die Stagnation in den 1950er Jahren Bei den ersten Bundestagswahlen 1949 der Bundesrepublik Deutschland lag die SPD mit 29,2 % knapp hinter der CDU/CSU unter der Führung Konrad Adenauers. Da die Union eine Koalition mit der FDP und der Deutschen Partei (DP) einging, wurde die SPD zur Oppositionspartei. Die Lage der SPD war in der jungen Bundesrepublik in vieler Hinsicht problematisch. Die Partei verlor allein zwischen 1948 und 1954 etwa 300.000 Mitglieder. Vor allem viele jüngere verließen die Partei enttäuscht wieder. Die Folge war eine tendenzielle Überalterung der SPD. Bei den Wahlen der 1950er Jahre zeigte sich, dass es der Partei nicht gelungen war, ihr Wählerreservoir auszuweiten. Sie blieb weitgehend eine Arbeiterpartei, aber auch ein Einbruch in die katholische Arbeiterschaft gelang zunächst kaum. Damit einher gingen finanzielle Probleme. Die SPD, in der die marxistischen Tendenzen nach 1945 ein starkes Gewicht hatten, stand der sozialen Marktwirtschaft zunächst äußerst kritisch gegenüber. Ihre Forderung nach Sozialisierung war aber mit dem beginnenden Wohlstand der Wirtschaftswunderjahre kaum noch mehrheitsfähig. Im Gegensatz zu Adenauers Politik der Westbindung stellte die SPD das Ziel der Wiedervereinigung über eine zu enge Anlehnung an die USA und Westeuropa. SPD-Konzeptionen zur Deutschlandpolitik aus dieser Zeit halten eine politische Neutralität Deutschlands für möglich und sprechen sich strikt gegen eine Wiederbewaffnung des Landes aus. Eine solche Politik zwischen Ost und West war für viele Wähler angesichts des Kalten Krieges nur wenig attraktiv. Dies zeigte sich bei der Bundestagswahl 1953. Erich Ollenhauer, der nach dem Tod von Kurt Schumacher Parteivorsitzender geworden war, trat als Kanzlerkandidat gegen Konrad Adenauer an. Während CDU/CSU auf 45,2 % kamen, konnte die SPD nur 28,8 % erzielen. Dies bedeutete eine klare Zustimmung der Wähler zu Adenauers Politik der westlichen Integration und eines Wirtschaftsaufschwungs auf marktwirtschaftlicher Grundlage gegen die Forderung nach nationaler Einheit. Dennoch begannen bereits in den frühen 1950er Jahren Veränderungen. Immer mehr gewannen in der Parteispitze ehemalige Parteirebellen und Mitglieder der kleinen sozialistischen Parteien an Einfluss. Das Dortmunder Aktionsprogramm von 1952 enthielt eine allmähliche Abwendung von der Selbstdefinition als Arbeiterpartei und eine Hinwendung zum Konzept der Volkspartei. Auch wirtschaftspolitisch bedeutete die Formel „Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig“ eine allmähliche Umorientierung. Die Niederlage bei der Bundestagswahl von 1953 hatte auch zur Folge, dass die SPD im Parlament ihre Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen verloren hatte. Damit verlor die Partei vor allem gegen die geplante Wiederbewaffnung ihre schärfste parlamentarische Waffe. Stattdessen kam es im Januar 1954 in der Frankfurter Paulskirche zur Gründung eines außerparlamentarischen Bündnisses aus SPD, DGB und der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) von Gustav Heinemann. Hinzu kamen kritische christliche Gruppen und Intellektuelle. Zwar schlug sich das Engagement in der Paulskirchenbewegung kaum in einem Zuwachs der Wählerstimmen etwa bei Landtagswahlen nieder, aber bei kritischen Minderheiten wuchs das Vertrauen zur SPD an. Über die Paulskirchenbewegung fanden etwa Heinemann, aber auch Johannes Rau oder Erhard Eppler zur Sozialdemokratie. Im Jahr 1956 waren die Chancen der SPD für einen Regierungswechsel so günstig wie nie zuvor. In Nordrhein-Westfalen ging die FDP erstmals ein Regierungsbündnis mit der SPD ein, und auf Bundesebene signalisierten Umfrageergebnisse einen Vorsprung vor der CDU. Der Ungarnaufstand und die Rentenreform von 1957 führten zu einem Meinungsumschwung. Erstmals in der deutschen Geschichte kam mit der CDU/CSU eine Partei mit 50,2 % auf die absolute Mehrheit der Stimmen, während der geringe Zuwachs der SPD auf 31,8 % auf das Verbot der KPD und den Wahlverzicht der GVP zurückging. Die Wende von Bad Godesberg 1959 Die Niederlage von 1957 war einer der Hauptauslöser für einen fundamentalen Politikwechsel der SPD. Zwar blieb Erich Ollenhauer weiterhin Oppositionsführer, aber Stellvertreter wurden mit Herbert Wehner, Fritz Erler und Carlo Schmid Persönlichkeiten, die nicht aus dem sozialdemokratischen Apparat der Weimarer Republik kamen. Eine stärkere Beachtung in der Öffentlichkeit fand die Partei, als sie sich an der Kampagne gegen die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen beteiligte (Kampf dem Atomtod). Dies kumulierte 1959 in dem von Herbert Wehner maßgeblich geprägten Deutschlandplan, der den Wiedervereinigungsgedanken und die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa verband. Für die programmatische Erneuerung der Partei waren die Erfahrungen, die sie mit der Zusammenarbeit mit kirchlichen Gruppen und bürgerlichen Intellektuellen während der Kampagne gegen die Atombewaffnung gemacht hatte, wichtig für eine volksparteiliche Umorientierung. Der Entwurf zu einem neuen Programm, der erstmals 1958 dem Parteitag zur Beratung vorlag, war insofern kein totaler Bruch, als es an das Dortmunder Aktionsprogramm anknüpfen konnte. Stark prägten den Entwurf Willi Eichler und Waldemar von Knoeringen, die aus den kleineren sozialistischen Parteien der Weimarer Republik kamen. Ein stärker marxistisch geprägter Gegenentwurf dazu kam von Wolfgang Abendroth. Entschieden wurde über das neue Programm auf dem Godesberger Parteitag im November 1959. Dieser nahm den Entwurf des Parteivorstandes, das Godesberger Programm, mit 324 gegen 16 Stimmen an. Außenpolitisch nahm es die Forderung nach einer atomwaffenfreien Zone wieder auf, bekannte sich aber auch zu einer Verteidigungsarmee. Anders als noch im Entwurf wurde die marxistische Vergangenheit der Partei vollständig außer Acht gelassen. Stattdessen wurde postuliert, dass die sozialistische Tradition in der christlichen Ethik, dem Humanismus und der klassischen Philosophie wurzele. Als Grundwerte der Partei wurden Freiheit, Gleichheit und Solidarität festgeschrieben. Als Ziel einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung knüpfte das Programm an die gemischtwirtschaftliche Formulierung des Dortmunder Aktionsprogramms an. Ordnungspolitisch kam die neue Position der SPD in der Formel Wettbewerb so weit wie möglich, Planung so weit wie nötig zum Ausdruck. In den folgenden Jahren verschoben sich die außenpolitischen Positionen weiter, als deutlich wurde, dass der Gegensatz zwischen Ost und West nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hatte, wie Willy Brandts außenpolitischer Berater Egon Bahr es formulierte. Damit verbunden war die Ansicht, dass die Bundesrepublik auf unabsehbare Zeit mit der Mauer leben müsse. Realistisches Ziel könne vor diesem Hintergrund nur sein, die Mauer durch Verhandlungen mit der anderen Seite durchlässiger zu machen. Bahr prägte vor diesem Hintergrund das Schlagwort vom „Wandel durch Annäherung“. Ein erster Schritt war in Berlin das Passierscheinabkommen im Jahr 1963. Bei der Bundestagswahl von 1965 zahlte sich der politische Wandel der SPD allerdings kaum aus. Zwar erreichte die Partei mit 39,3 % das beste Ergebnis ihrer Geschichte, aber die CDU unter dem neuen, noch immer populären Bundeskanzler Ludwig Erhard konnte mit 47 % ihre führende Position behaupten. Auf dem Weg zur Volkspartei Zur Strategie der SPD nach Godesberg gehörte eine deutliche Annäherung an die bürgerlichen Parteien und eine Entideologisierung. So trennte sich die Partei 1960/61 vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der sich daraufhin autonome Handlungsfelder suchte. Allerdings vergrößerte dies durchaus die Wahlchancen und schadete kaum der Hinwendung von Intellektuellen zur Partei, die als medial wirksame Multiplikatoren wichtig wurden. Seit der Bundestagswahl 1961 sprachen sich etwa Martin Walser, Hans Werner Richter und insbesondere Günter Grass für die SPD aus. Letzterer organisierte 1968 die Sozialdemokratische Wählerinitiative, für die sich zahlreiche Intellektuelle einsetzten. Nicht unwichtig war die Integration von bekannten gesinnungsethischen Protestanten. Daneben sahen trotz des Godesberger Programmes demokratische Linke wie Peter von Oertzen noch Handlungsspielräume in der SPD. Godesberg war programmatisch zwar ein wichtiger Schritt in Richtung Volkspartei, aber kaum weniger wichtig war, dass sich die SPD auf regionaler und lokaler Ebene in der politischen Verantwortung bewährte und sich als Alternative zur CDU/CSU erwies. In Hessen befand sich die SPD seit 1946 sowohl in den Großstädten als auch im ländlichen Raum im Aufstieg. Eine wichtige Rolle als Landesvater spielte dort Georg-August Zinn. Eine ähnliche Rolle spielte in Niedersachsen Hinrich Wilhelm Kopf. In Bayern scheiterte die SPD an der Volksnähe der CSU. Fast umgekehrt war die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen. Auch dort begann eine stärkere Sozialdemokratisierung bereits nach 1945. Aber erst der Übergang der KPD-Wähler zur SPD verstärkte Mitte der 1950er Jahre den Trend. In der Folge eroberten die Sozialdemokraten zunächst Kommunen. Ebenso wichtig war ihre enge Verflechtung mit den Gewerkschaften. Kommunalpolitiker und Betriebsratsmitglieder konnten sich erfolgreich als Anwälte der kleinen Leute präsentieren. Später gelang es Politikern wie Heinz Kühn und Johannes Rau, die SPD als linke Volkspartei mit einer starken Arbeitnehmerorientierung zu repräsentieren. Entscheidend wurde der Einbruch in das katholische Arbeitermilieu, nachdem es der CDU nicht gelungen war, die beginnende Krise von Eisen und Stahl in den Griff zu bekommen. Die Folge war, dass der SPD in Nordrhein-Westfalen 1966 mit 49,5 % der Stimmen ein überwältigender Wahlsieg gelang. Im Grunde wurde das Revier erst jetzt zu einer Hochburg der Sozialdemokratie. Große Koalition 1966–1969 Nach der Bundestagswahl von 1965 ging die CDU/CSU zunächst eine Koalition mit der FDP ein. Die Regierung zerbrach, als die FDP ihre vier Bundesminister wegen Unstimmigkeiten in der Wirtschaftspolitik am 27. Oktober 1966 aus der Regierung abzog. Kurt Georg Kiesinger, der Ludwig Erhard als Kanzler ablöste, bildete nach dem Scheitern von Verhandlungen mit der FDP eine große Koalition mit der SPD. Ein mögliches Bündnis der Sozialdemokraten mit der FDP erschien angesichts der starken rechtsliberalen Strömung zu risikoreich. Das Bündnis mit der CDU stieß in der Partei anfangs auf heftige Kritik. In der neuen Regierung profilierten sich Willy Brandt als Außenminister, Gustav Heinemann als Bundesjustizminister und Karl Schiller als Wirtschaftsminister in zentralen Politikbereichen. Insbesondere Schiller sorgte mit der keynesianischen Globalsteuerung der Wirtschaft und der propagierten konzertierten Aktion von Gewerkschaften und Unternehmern für einen weiteren Zustrom von Wählern aus den Mittelschichten zur SPD. Herbert Wehner als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen war gleichzeitig auf Seiten der SPD der eigentliche Architekt der Großen Koalition. Angesichts einer wirtschaftlichen Rezession, die unter anderem dazu führte, dass die Bundesanstalt für Arbeit anstelle der Vollbeschäftigung etwa 2 % Arbeitslose zählte, versuchten die Politiker der Großen Koalition, die alle noch das Ende von Weimar miterlebt hatten, gegenzusteuern. Zentral zur wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung sahen sie daher das Gesetz zur Konjunktursteuerung von 1967 und die Notstandsgesetze vom Mai 1968 an. Daneben kam in vielen Politikfeldern wie in der Verkehrs- und Bildungspolitik ein technokratisches Denken zum Durchbruch. Während sich ein beachtlicher Teil der Bevölkerung von der Regierung eine Überwindung der Krise versprach, führte das Bündnis der beiden großen Parteien auch zu einer Stärkung der rechten und linken Kräfte. Auf der Rechten gelang es der NPD, in insgesamt sieben Landtage einzuziehen, die während der Zeit der Großen Koalition gewählt wurden. Auf der Linken hinterließ die Regierungsbeteiligung der SPD ein Vakuum. Stattdessen begann sich mit der außerparlamentarischen Opposition, nicht zuletzt getragen vom SDS, eine zunächst radikaldemokratische und linkssozialistische Bewegung zu formieren. Vor allem in den Jahren 1967 und 1968, also in der Zeit der 68er-Bewegung, kam es im Zuge der studentischen Proteste unter anderem gegen die Notstandsgesetzgebung zu massiven Protesten gegen die Regierung der Großen Koalition. Dem schlossen sich große Teile der intellektuellen Elite der Bundesrepublik an. So äußerten sich unter anderem Theodor W. Adorno und Heinrich Böll besorgt über die Machtfülle der Großen Koalition und die Notstandsgesetze. Allerdings kam es auf der Linken nicht zur Bildung einer starken linken Protestpartei. Stattdessen kam es zur Zersplitterung in zahlreiche Kleinstparteien, überwiegend orientiert an antiautoritären Idealen. Auch innerhalb der SPD selbst formierte sich Widerstand. Erstmals wich der Bundeskongress der Jungsozialisten 1967 von seiner bisherigen unbedingten parteitreuen Linie ab. Auf dem SPD-Bundesparteitag von 1968 stimmten zwar 173 Delegierte für die Fortsetzung der Regierung, immerhin 129 jedoch dagegen. Der Führung der SPD gelang es in der Folge durchaus, sich aus den Fesseln der Großen Koalition zu lösen. Zu einem deutlichen Zeichen, dass auch andere Bündnisse möglich waren, wurde die Wahl zum Bundespräsidenten im Jahr 1969. SPD und FDP wählten gemeinsam Gustav Heinemann ins Amt. Regierung Brandt seit 1969 – Reformhoffnungen und die Neue Ostpolitik Im Vorfeld der Bundestagswahl von 1969 verfolgte die SPD eine Doppelstrategie. Während Karl Schillers wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik auf Wähler aus den Mittelschichten abzielte, versuchte Willy Brandt die jüngeren Wähler einzubinden, indem er appellierte, ihr Aufbegehren gegen das Establishment ernst zu nehmen. Mit dem Slogan „Wir schaffen das moderne Deutschland“ kam die SPD auf 42,7 %. Die CDU war zwar mit 46,1 % noch stärkste Partei, kam aber nicht wie vielfach erwartet auf die absolute Mehrheit, da sie einen Teil ihrer potentiellen Wähler an die NPD verloren hatte, die auf 4,3 % kam. Dieses Ergebnis reichte für die SPD knapp aus, um mit der FDP eine Koalition zu bilden. Willy Brandt wurde so zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler gewählt. Das Außen- (Walter Scheel) und das Innenministerium (Hans-Dietrich Genscher) gingen an die FDP. Die erste Regierungserklärung von Willy Brandt war innenpolitisch von der Ankündigung einer umfassenden Reformpolitik geprägt. „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Außenpolitisch stand die Westintegration nicht mehr in Zweifel. Ergänzt werden sollte diese durch eine Aussöhnung mit den östlichen Staaten und insgesamt eine aktive Ostpolitik (damals betont als Neue Ostpolitik). In den Ostverträgen – zunächst dem Moskauer Vertrag und dann dem Warschauer Vertrag – wurden die bestehenden Grenzen gegen erheblichen Widerstand von Vertriebenenverbänden und der CDU/CSU anerkannt. Symbolisiert wurde dies durch den Kniefall Willy Brandts am Warschauer Ghetto-Ehrenmal. Es folgte 1971 der Abschluss des Viermächtevertrages über Berlin. Im Gegensatz zur Außenpolitik blieben die Erfolge der Regierung Brandt in der Innenpolitik eher bescheiden. Erfolge waren vor allem in der Bildungspolitik zu verzeichnen. In der Rechts- und Familienpolitik kam es zu einer gewissen Abschwächung des § 175 (homosexuelle Handlungen). Gegen den Koalitionspartner ließen sich allerdings keine nennenswerten Veränderungen in der Vermögensverteilung im Sinne eines demokratischen Sozialismus durchsetzen. Für viele jüngere Linke war zudem die strikte Abgrenzung nach links etwa durch den Radikalenerlass vom Januar 1972 enttäuschend. Vor allem die Kritik an der Ostpolitik führte dazu, dass einige Abgeordnete zur CDU/CSU wechselten. Dadurch verlor die Koalition ihre Mehrheit. Der Versuch der Opposition, am 27. April 1972 mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums Willy Brandt durch Rainer Barzel abzulösen, misslang überraschend. Heute ist bekannt, dass zwei Bundestagsmitglieder der Union durch die Staatssicherheit der DDR bestochen worden waren. Bei der folgenden Neuwahl errang die SPD im November 1972 mit einem hauptsächlich innenpolitischen Reformprogramm den höchsten Stimmenanteil ihrer Geschichte und wurde erstmals stärkste Bundestagsfraktion; sie konnte die Koalition mit der FDP fortsetzen. Dem zweiten Kabinett Brandt fehlte allerdings die Kraft, die im Wahlkampf versprochenen Reformen auch umzusetzen. Dies zeigte sich bereits bei der Kabinettsbildung, bei der Brandt von eher „rechten“ Sozialdemokraten wie Schmidt und von Wehner übervorteilt wurde und wichtige Mitarbeiter wie Ehmke und Ahlers nicht halten konnte; die konservativen Kräfte überwogen auch in der FDP. Der Konsens des Wahlkampfs machte Flügelkämpfen in der SPD Platz. Hinzu kamen externe Faktoren wie die erste Ölkrise und der Streik der ÖTV (unter ihrem Vorsitzenden Heinz Kluncker) im Frühjahr 1974, der von der Presse als Autoritätsverlust der Regierung gedeutet wurde. Vor diesem Hintergrund bildete die Guillaume-Affäre nur noch den Anlass für das Ende der Regierung Brandt. Während dieser Parteivorsitzender blieb, wurde Helmut Schmidt Bundeskanzler (→ Kabinett Schmidt I). Mitglieder- und Parteistruktur – Ende der Arbeiterpartei „Genosse Trend“ zeigte sich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre nicht nur in den Wahlergebnissen, sondern auch in der Mitgliederentwicklung. Vor allem in den Jahren 1969 bis 1974 nahm die Zahl der Parteimitglieder um 40.000 zu. In den 1970er Jahren überstieg die Zahl der Mitglieder die Millionengrenze. Vor allem relativ junge Personen wurden von der Partei angezogen. Im Jahr 1978, als der Mitgliederbestand systematisch ausgewertet wurde, lag der Anteil der 16- bis 24-jährigen bei einem Drittel. Daneben hatte sich durch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung, aber auch die gestiegene Attraktivität der Partei für Personen aus den Mittelschichten die soziale Zusammensetzung stark verändert. Im Jahr 1952 lag der Arbeiteranteil noch bei 45 %. Bis 1978 verringerte sich dieser auf 27,4 %. Dagegen stieg der Anteil der Angestellten von 17 auf 23,4 % und der der Beamten von 5 auf 9,4 %. Der Anteil der weiblichen Mitglieder lag 1977 bei 21,65 %. Noch stärker als bei der Gesamtmitgliedschaft verschob sich die Struktur der Funktionsträger. Ende der 1970er Jahre lag der Anteil der Arbeiter unter 10 %, der Angehörigen des öffentlichen Dienstes im weitesten Sinne dagegen bei 50 bis 75 %. Dies hatte Folgen für die organisatorische Struktur der Partei selbst. Die Jusos agierten in weiter Hinsicht autonom. Frauen organisierten sich seit 1972 in der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF). Bezeichnend ist, dass in der alten Arbeiterpartei mit der Arbeitsgemeinschaft für Arbeit (AfA) seit 1973 eine spezielle Organisation für die klassische Klientel nötig wurde, die in den folgenden Jahren den rechten Flügel der Partei stärken sollte. Der Vorsitzende Willy Brandt, der bis 1987 die Partei führen sollte, hat diese Heterogenität nicht bekämpft, sondern er sah sich als Moderator der verschiedenen Strömungen. Bei Helmut Schmidt und Herbert Wehner stieß dieser diskursive Führungsstil auf heftige Kritik, sie witterten Führungsschwäche und eine allmähliche Erosion von innen. Karsten Rudolph charakterisiert Willy Brandt dagegen als „Vorsitzenden des Ausgleichs, […] der aber doch in inhaltlichen Fragen deutlich Stellung beziehen konnte“. Tatsächlich wurde Brandt zur Identifikationsfigur jenseits aller Strömungen und Konflikte und behielt diese Position bis in die Mitte der 1980er Jahre bei. Politischer Pragmatismus unter Helmut Schmidt 1974–1982 Schmidt setzte den Kurs der Entspannung gegenüber dem Warschauer Pakt fort, näherte Deutschland aber auch wieder stärker den USA an. 1975 nahm er, die Ölkrise vor Augen, am ersten G6-Gipfel teil, welchen er zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing ins Leben gerufen hatte. Innerhalb der Partei erlebte die Ideologisierung ihren Höhepunkt. Verschiedene Flügel stritten um die Meinungsführerschaft vor allem im Zusammenhang mit dem Quasiprogramm Orientierungsrahmen '85. Dieses Papier zur mittelfristigen Strategie war insgesamt ein Kompromiss zwischen dem rechten und linken Flügel. Mit seinem Bekenntnis zur gesellschaftsverändernden Zielsetzung der Sozialdemokratie, der Bezeichnung der Bundesrepublik als Klassenstaat sowie der Forderung nach staatlichen Eingriffen in wirtschaftliche Prozesse war es deutlich linker als das Godesberger Programm. Allerdings konnte der Orientierungsrahmen wegen des Bündnisses mit der FDP kaum in praktische Politik umgesetzt werden. Besonders weit ging die Ideologisierung bei den Jusos. Hatte die Jugendorganisation noch zu Beginn der 1970er Jahre auch gesamtparteilich inhaltliche Impulse geben können, begann nunmehr ähnlich wie bei der APO ein Fraktionierungsprozess. Zunehmend führten die ideologischen Grabenkämpfe zu einer starken Selbstisolierung. Damit ließ der Zustrom neuer Mitglieder nach. Auch insgesamt stagnierten in der Partei wieder die Mitgliederzahlen. Bereits seit der Mitte der 1970er Jahre deutete sich in der Bundesrepublik insgesamt eine Trendwende nach rechts an. Hans Filbinger (CDU) gewann die Landtagswahl in Baden-Württemberg mit großer Mehrheit mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“. Obwohl Helmut Schmidt bei den Wählern vor der Bundestagswahl von 1976 in den meisten Politikfeldern als kompetenter galt als Helmut Kohl, fiel die SPD auf 42,6 % ab, während die mit dem Slogan Freiheit statt Sozialismus auftretende CDU/CSU mit 48,6 % der Stimmen nur knapp die absolute Mehrheit verfehlte. Die SPD hatte sich fast gänzlich auf das staatsmännische Ansehen von Helmut Schmidt gestützt. Damit konnte sie zwar ihre Anhängerschaft bei Angestellten und kleinen Beamten halten, aber die Partei hatte 1976 stark bei den Arbeitern verloren und begann auch im linken Spektrum zunehmend an Ansehen zu verlieren, vor allem zu Gunsten der Umweltbewegung, aus der 1980 die Partei „Die Grünen“ hervorging. In der folgenden Legislaturperiode erschien der sozialliberalen Koalition auch wegen der ökonomischen Wachstumsschwäche die Umsetzung von inneren Reformen noch schwieriger als zuvor. Vor allem während des „Deutschen Herbstes“ 1977 dominierte in der Innenpolitik der Terrorismus der RAF und vergleichbarer Gruppen. Helmut Schmidt und die Regierung setzten auf eine Politik der Stärke und Unnachgiebigkeit. Nicht zuletzt die Antiterrorgesetze verstärkten den Bruch zwischen den linksintellektuellen Kreisen und der SPD noch. Allerdings begannen in der SPD seit dem Ende der 1970er Jahre ökologische Ideen an Zugkraft zu gewinnen. Ein Antrag auf den Atomausstieg wurde auf dem Bundesparteitag 1979 nur knapp abgelehnt. Bei der Wahl 1980 konnte sich Schmidt gegen CDU/CSU-Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß durchsetzen. Gegen Ende von Schmidts Kanzlerschaft wuchs auch die Kritik, besonders über den NATO-Doppelbeschluss. Im Herbst 1982 zerbrach die Koalition mit der FDP, weil letztere unter dem Eindruck einer wirtschaftlichen Krise und drastisch steigender Arbeitslosenzahlen einen anderen wirtschaftspolitischen Kurs eingeschlagen hatte, der im sogenannten Lambsdorff-Papier vom 9. September 1982 seinen Niederschlag fand. In der Folge kam es zu einem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum gegen Schmidt und schließlich im März 1983 zu Neuwahlen, aus der die Koalition aus CDU/CSU und FDP als Sieger hervorging. Opposition in den 1980er Jahren Nach der Bundestagswahl 1983 ging die SPD für die folgenden sechzehn Jahre in die Opposition. Geprägt war diese Zeit zunächst von innerer Zerstrittenheit und dem Versuch, sich inhaltlich an neue Entwicklungen anzupassen. Bei der Bundestagswahl kam der Kanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel nur auf einen Stimmenanteil von 38,2 %. Damit war die Partei so schwach wie seit 1961 nicht mehr. Vor allem mittelständische Wähler rückten von der SPD ab, weil sie kein Vertrauen mehr in die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Kompetenz der Partei hatten. Das gemeinsame Papier von SPD und SED und der Ausstieg aus der Finanzierung der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter wurde als Zeichen verstanden, deutschlandpolitisch vorsichtig vom Ziel der Wiedervereinigung abzurücken. Das Ergebnis der Bundestagswahl von 1987 unter dem Kanzlerkandidaten Johannes Rau fiel mit 37 % noch etwas schlechter aus. Dabei spielten Verluste zu Gunsten der Grünen ebenso eine Rolle wie der Eindruck, die Partei strebe eine große Koalition an. Ein Einschnitt war dieses Jahr auch, weil Willy Brandt den Vorsitz zunächst zu Gunsten von Hans-Jochen Vogel aufgab. Die ständigen Wechsel an der Spitze der Partei prägten das Bild der folgenden Jahre. In den folgenden zwanzig Jahren hatte die SPD insgesamt 9 Vorsitzende, während die CDU in 57 Jahren nur 7 hatte. Politischen Einfluss behielt die Partei in den Ländern und konnte dort ihre Position teilweise auch ausbauen. Nicht zuletzt kamen von dieser Seite auch neue politische Impulse. In Nordrhein-Westfalen und im Saarland konnte die SPD unter Johannes Rau und Oskar Lafontaine lange allein regieren. Auch in Schleswig-Holstein holte die SPD mit Björn Engholm zwei Mal die absolute Mehrheit. In Hessen kam es 1985 erstmals, damals noch auf Grund einer Schwächung der Partei bei den Landtagswahlen, zu einer rot-grünen Koalition. Später wurde dieses Bündnis aber auch zu einem Modell für einen Machtwechsel in andern Ländern. Dies gilt für Niedersachsen mit Gerhard Schröder, Berlin und später noch einmal in Hessen. Weniger erfolgreich war die Partei beim Bestreben, die Macht in den Rathäusern zu behaupten oder zurückzugewinnen. Thematisch standen zunächst weiterhin die Friedens-, die Frauen- und die Ökologiepolitik im Vordergrund. Teilweise gegen den Widerstand eines eher traditionell arbeitnehmerorientierten Flügels konnten sich diese Politikbereiche in der Partei durchsetzen. So wurde 1988 die Quotenregelung beschlossen, um den Anteil weiblicher Funktionsträger zu erhöhen. Daneben wurden die Arbeitslosigkeit und die neue Armut zu wichtigen Themen auch in der SPD. Neuanfang in der DDR und Wiedervereinigung 1989/90 Ab 1984 begann die SPD ein neues Grundsatzprogramm zu entwickeln, weil das Godesberger Programm viele neue Themenfelder nicht mehr abdeckte. Der von Erhard Eppler geprägte so genannte Irseer Entwurf von 1986 stieß auf erhebliche Kritik. Unter dem Vorsitz von Oskar Lafontaine wurde ein neuer Entwurf erarbeitet, dessen Hauptanliegen die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft war. Im Gegensatz zu Godesberg wurden die marxistischen Wurzeln berücksichtigt und Karl Marx zumindest erwähnt. Beschlossen wurde das Berliner Programm im Dezember 1989. Allerdings haben der deutsche Einigungsprozess sowie der Zusammenbruch des östlichen Bündnissystems und der Sowjetunion dazu geführt, dass weite Teile des Programms von der Wirklichkeit rasch überholt wurden. Am 7. Oktober 1989 wurde in Schwante bei Berlin die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) insbesondere auf Initiative von Markus Meckel und Martin Gutzeit gegründet. Damit griff sie das bisherige Machtmonopol der SED direkt an. Der Gründungstag – der vierzigste Jahrestag der DDR-Gründung – war ebenfalls eine deutliche Provokation. Im Januar 1990 benannte sich die Partei in SPD in der DDR um, und Ende Februar wurde ein Wahl- und Grundsatzprogramm beschlossen. Früher als andere oppositionelle Bewegungen erkannte die Partei im Grundsatz den Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl zur deutschen Einheit an. Die Hoffnung, an die alten sozialdemokratischen Hochburgen in Mitteldeutschland anknüpfen zu können, erfüllte sich nicht. Bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 erhielt sie entgegen den Prognosen nur 21,7 % der Stimmen. Ein Problem war von Anfang an die geringe Mitgliederbasis. Nicht zuletzt um nicht hinter die von westdeutschen Parteien unterstützten ehemaligen Blockparteien zurückzufallen, schlossen sich die bundesdeutsche SPD und die Partei in der DDR auf dem Vereinigungsparteitag am 26./27. September 1990 zusammen. Strukturelle Probleme und Wiederaufstieg Unter anderem wegen des Popularitätsanstiegs von Helmut Kohl als „Kanzler der Einheit“ und einer uneinheitlichen Linie in Bezug auf die deutsche Einheit unterlag die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine bei der Bundestagswahl 1990 deutlich. So hatten sich unter anderem Willy Brandt und Johannes Rau für eine schnelle Wiedervereinigung ausgesprochen, wohingegen sich der Kanzlerkandidat Lafontaine zurückhaltend äußerte und die Einheit innerhalb eines gesamteuropäischen Vereinigungsprozesses herstellen wollte. Insbesondere Lafontaines Ablehnung einer sofortigen Währungsunion und seine skeptischen wirtschaftlichen Prognosen und Einschätzungen zur Notwendigkeit von Steuererhöhungen fanden beim Wähler keinen Anklang. Die Skepsis gegenüber dem Nationalstaatsgedanken teilte Lafontaine mit zahlreichen meist jüngeren Anhängern und Wählern der Partei. Allerdings hatte er dessen noch immer große gesamtgesellschaftliche Bedeutung wohl unterschätzt. Die Niederlage verstärkte noch einmal die inneren Schwierigkeiten der SPD. Während die Partei von 1976 bis 1987 jedes Jahr durchschnittlich 10.000 oder ein Prozent ihrer Mitglieder verlor, beschleunigte sich der jährliche Rückgang in den Jahren 1990–93 auf rund 27.000 oder drei Prozent der Mitglieder. Damit näherte sie sich mehr oder weniger stetig der zusammengefassten Größe der beiden Unionsparteien an. Immer deutlicher wahrgenommen wurde die seit langem begonnene innere Differenzierung und nur schwach ausgeprägte Geschlossenheit. Peter Lösche und Franz Walter brachten dies mit ihrer Charakterisierung der SPD als „lose verkoppelte Anarchie“ unterschiedlichster Gruppen, Interessen und Strömungen auf den Punkt. Der zwischenzeitliche Kanzlerkandidat und Parteivorsitzende, der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm, musste vorzeitig von seinen Ämtern zurücktreten, da er in die Schubladenaffäre verstrickt war. Infolgedessen wurde das erste Mal eine Urabstimmung über den Parteivorsitz unter den Mitgliedern durchgeführt, die Rudolf Scharping deutlich vor Gerhard Schröder gewann. Auch 1994 schaffte es Kanzlerkandidat Rudolf Scharping, der zusammen mit Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine als sogenannte Troika antrat, trotz deutlicher Stimmengewinne nicht, Helmut Kohl abzulösen; wohl auch, weil die CDU/CSU-FDP Koalition durch die kurzfristig verbesserte wirtschaftliche Lage gestärkt wurde. Scharpings Leistungen als Vorsitzender wurden von der Partei zunehmend als erfolglos angesehen. Auf dem Mannheimer Parteitag wurde am 15. November 1995 Oskar Lafontaine nach einer virtuosen Rede nominiert und tags darauf per Kampfkandidatur zum Vorsitzenden gewählt. Er setzte unter anderem eine Neuorientierung des wirtschafts- und sozialpolitischen Profils der Partei durch. Nach einer Phase der wirtschaftlichen Erholung stieg ab 1995 die Arbeitslosigkeit wieder deutlich an, was sich in mehreren Landtagswahlgewinnen der SPD manifestierte. Sie stellte nunmehr die Mehrheit im Bundesrat, wo Oskar Lafontaine als Oppositionsführer auftrat, und konnte wichtige innenpolitische Reformvorhaben der CDU-FDP-Regierung blockieren oder eigene Vorstellungen durchsetzen. So ging die SPD schließlich deutlich gestärkt in den Bundestagswahlkampf 1998. Die Neue Mitte von Gerhard Schröder seit 1998 Erst bei der Bundestagswahl 1998 gelang der SPD mit dem damaligen Ministerpräsidenten Niedersachsens, Gerhard Schröder, als Kanzlerkandidat die Rückkehr an die Regierung, diesmal in einer rot-grünen Koalition mit Bündnis 90/Die Grünen. Gerhard Schröder wurde mit 7 Stimmen mehr, als beide Koalitionsparteien zusammen Abgeordnete hatten, zum Bundeskanzler gewählt. Im Wahlkampf versuchte die SPD vor allem die sogenannte Neue Mitte anzusprechen, womit die Gruppe der Wechselwähler der politischen Mitte gemeint ist. In den ersten Jahren der Koalition wurden unter anderem zwei umfassende Steuerreformen – die ökologische Steuerreform und die Reform des Einkommensteuerrechts (erhebliche Senkung der Steuerbelastung) – sowie der Atomausstieg beschlossen. Politisch umstritten war 1999 die Beteiligung der Bundesrepublik am Kosovokrieg. Oskar Lafontaine, damals Bundesfinanzminister und Parteivorsitzender der SPD, trat überraschend von beiden Ämtern zurück, unter anderem weil ein erheblicher wirtschaftspolitischer Dissens zwischen ihm und Schröder entstanden war. Später kritisierte er das militärische Engagement der NATO auf dem Balkan. 1999 wurde auch der Umzug der Parteizentrale vom Bonner Erich-Ollenhauer-Haus in das neue Berliner Willy-Brandt-Haus abgeschlossen. Bei der Bundestagswahl 2002 konnte sich Bundeskanzler Schröder gegen den bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) durchsetzen. Die Koalition gewann mit nur noch 1,2 Prozentpunkten Vorsprung gegenüber der Union und der FDP, die SPD stellte auf Grund von Überhangmandaten knapp die stärkste Bundestagsfraktion. Nach verlorenen Landtagswahlen verzeichnete die SPD bei der Europawahl am 13. Juni 2004 mit 21,5 % das bis dahin niedrigste Ergebnis in einer bundesweiten Wahl seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Stammwähler fühlten sich durch die Politik der Agenda 2010 verprellt und blieben der Wahl fern. Viele andere nahmen den Kurs der SPD, der nicht nur in anderen Parteien, sondern auch in der Mitgliederschaft der SPD selbst auf Kritik stieß, als zerstritten wahr. Der seit Anfang der 1980er anhaltende Mitgliederschwund beschleunigte sich. Am 25. Mai 2005 trat der ehemalige Parteivorsitzende Oskar Lafontaine wegen der nach seiner Auffassung mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie nicht zu vereinbarenden Regierungspolitik (Agenda 2010, Auslandseinsätze der Bundeswehr) aus der SPD aus. Er wurde wenige Wochen später Mitglied der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), nachdem diese ein Linksbündnis mit der PDS für die Bundestagswahl im Herbst 2005 eingegangen war. Die WASG ihrerseits, eine Abspaltung der SPD, hatte sich schon mehrere Monate zuvor als eigene Partei konstituiert. Eine vorzeitige Bundestagswahl war vom Bundeskanzler und der SPD-Parteispitze nach der Niederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen angekündigt worden. Ein weiterer Grund für den Beschluss für Neuwahlen war, dass bei sich fortsetzenden Wahlniederlagen der SPD im Bundesrat eine 2/3-Mehrheit für die Unionsparteien und die FDP drohte. Die Ziele der SPD für die Wahlen am 18. September 2005 waren unter anderem die Weiterführung der Reformen unter Berücksichtigung sozialer Aspekte und der Verbleib in der Regierung sowie die Weiterführung der rot-grünen Koalition. Zweite große Koalition 2005–2009 Nachdem SPD und CDU/CSU bei der herbeigeführten Bundestagswahl erneut ungefähr gleichauf waren, einigten sich die drei Parteien nach langen Sondierungsgesprächen auf eine große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Im Vorfeld der Wahlen waren auch andere Koalitionen im Gespräch, so beispielsweise eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP sowie die sogenannte Jamaika-Koalition zwischen CDU, FDP und den Grünen. Nach den Wahlen wurden die Dreier-Koalitionen aber recht schnell verworfen und eine große Koalition gebildet. Nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages wurde Angela Merkel von 397 Abgeordneten zur ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik gewählt. Sie schlug daraufhin acht Minister der SPD vor, darunter den bis November 2007 amtierenden Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering, die mit den sieben anderen Bundesministern der Union und der Bundeskanzlerin Merkel das Kabinett Merkel I bildeten. Nach seinem Rücktritt übernahm Olaf Scholz das Amt des Arbeits- und Sozialministers und Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Position des Vizekanzlers. Kurz nach der Wahl, im November 2005, hatte der Parteivorstand die Parteilinke Andrea Nahles anstatt des von Franz Müntefering bevorzugten Kajo Wasserhövel zur SPD-Generalsekretärin machen wollen. Daher trat Müntefering als Parteivorsitzender zurück, sein Amt übernahm der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck. Dieser trat bereits am 10. April 2006 aus gesundheitlichen Gründen vom Vorsitz zurück. Sein Nachfolger wurde der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, der kurz zuvor in seinem Land für die SPD die absolute Mehrheit erzielt hatte. Aufgrund innerparteilicher Intrigen im Vorfeld der Ernennung des Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2009 erfolgte am 7. September 2008 im Rahmen einer Klausurtagung der SPD am Schwielowsee der Rücktritt Becks. Anschließend wurde der Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier zunächst kommissarischer Parteivorsitzender, ehe am 18. Oktober 2008 Franz Müntefering auf einem Sonderparteitag zum Vorsitzenden gewählt wurde. Letzterer hatte das Amt schon von 2004 bis 2005 inne. In den Jahren der großen Koalition setzte sich die Mitglieder- und Wählererosion der SPD fort. Im Juli 2008 löste die CDU, obwohl in Bayern nicht vertreten, die SPD als größte bzw. mitgliederstärkste deutsche Partei ab. Das verhältnismäßig gute Wahlergebnis der Sozialdemokraten vom September 2005 hatte die Serie von Wahlniederlagen und den sich andeutenden Bedeutungsschwund der Partei lediglich unterbrochen. Die neue Partei Die Linke, die als Linkspartei.PDS für die SPD schon 2005 zur Belastung geworden war und sich 2007 nach dem offiziellen Zusammenschluss von Linkspartei.PDS und WASG auch formal unter dem neuen Namen konstituierte, nimmt einen großen Teil des früheren Wählerpotenzials der SPD ein. Die SPD-Führung lehnte zwar eine Koalition mit der Linkspartei auf Bundesebene ab; die Frage der Kooperation und Auseinandersetzung mit dieser Partei – vor allem in den Ländern – entwickelte sich aber spätestens 2008 zu einem bis in die Gegenwart anhaltenden Problem für die SPD, zumal Die Linke auch zunehmend in den Landtagen der westlichen (alten) Bundesländer Fuß fassen konnte (so zwischen 2007 und 2009 in Bremen, Niedersachsen, Hamburg, Hessen, Saarland und Schleswig-Holstein). Im Saarland rückte Die Linke bei der dortigen Landtagswahl Ende August 2009 mit einem Ergebnis von 21,3 % auf ca. drei Prozentpunkte an die SPD (24,5 %) heran und bewirkte dort ein parlamentarisches Parteienverhältnis, wie man es bis dahin nur aus den neuen Bundesländern kannte. Im Anschluss an die Bundestagswahl 2009 endete die zweite große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik; sie wurde abgelöst durch eine neu aufgestellte (schwarz-gelbe) CDU/CSU-FDP-Koalition unter der erneuten Kanzlerschaft Angela Merkels. Anders als 1969 die CDU/CSU-Fraktion musste diesmal die SPD auf die Oppositionsbank wechseln. Mit 23 % der Wählerstimmen und damit dem schlechtesten Wahlergebnis der SPD auf Bundesebene seit dem Bestehen der Bundesrepublik hatte sich der bereits in den Vorjahren abgezeichnete Trend der Abwanderung der mit der von Kritikern der SPD als neoliberal bewerteten Politik unzufriedenen vormaligen SPD-Klientel fortgesetzt. Der erdrutschartige Verlust von 11 % gegenüber der Bundestagswahl 2005 kam vor allem durch Wahlenthaltung ehemaliger SPD-Wähler zustande. Darüber hinaus verlor die SPD zahlreiche Wähler an Die Linke, etwas weniger an die Unionsparteien und Bündnis 90/Die Grünen sowie die anderen Parteien zusammengenommen. Nach einer Analyse von Infratest dimap wurden die SPD-Stammwähler insbesondere durch die Agenda 2010 und die Rente mit 67 verunsichert. Seit 2009 Zur weiteren Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie seit 2009 siehe Unterabschnitte des Parteiartikels: Vorsitzende der SPD und ihrer Vorgängerparteien Sozialdemokratische Staatsoberhäupter Siehe auch Liste prominenter Mitglieder der SPD Literatur Wolfgang Abendroth: Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie. Zweckentfremdung einer politischen Partei durch Anpassungstendenz von Institutionen an vorgegebener Machtverhältnisse. Stimme Verlag, Mainz 1964 (=antworten 9). Bernt Engelmann: Vorwärts und nicht vergessen. Vom verfolgten Geheimbund zur Kanzlerpartei: Wege und Irrwege der deutschen Sozialdemokratie. München 1984, ISBN 3-442-08953-0. Helga Grebing: Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart) 2. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Simon%20Petrus
Simon Petrus
Simon Petrus (* in Galiläa; † um 64–67, möglicherweise in Rom) war nach dem Neuen Testament einer der ersten Juden, die Jesus Christus in seine Nachfolge berief. Er wird dort als Sprecher der Jünger bzw. Apostel, erster Bekenner, aber auch Verleugner Jesu Christi, Augenzeuge des Auferstandenen und einer der Leiter („Säulen“) der Jerusalemer Urgemeinde dargestellt. Hinzu kommen sehr viel spätere Notizen in Apostelakten und bei diversen Kirchenvätern, wonach Petrus erster Bischof von Antiochien sowie Gründer und Haupt der Gemeinde von Rom gewesen sei und dort das Martyrium erlitten habe. Simons Historizität wird aufgrund übereinstimmender Angaben in den frühesten Textbestandteilen der Evangelien und archäologischer Funde angenommen. Das Neue Testament überliefert jedoch nur wenige als zuverlässig betrachtete biografische Details über ihn. Spätere Notizen werden als weitgehend legendarisch angesehen. Ein Aufenthalt Petri in Rom wird in der Bibel nicht erwähnt. Die römisch-katholische Kirche führt den Primatsanspruch des Papsttums über die Gesamtkirche auf die Tradition zurück, Petrus sei der erste Bischof von Rom gewesen und Christus habe Petrus und dieser den folgenden Bischöfen von Rom einen Vorrang als Leiter, Lehrer und Richter aller Christen gegeben. Die Päpste werden daher auch als „Nachfolger Petri“ bezeichnet. Die übrigen Kirchen lehnen diesen Anspruch ab. Historisch gab es im 1. Jahrhundert noch keinen Monepiskopat, das heißt, die christliche Gemeinde wurde nicht von einem einzelnen römischen Bischof geleitet. Dennoch gilt Petrus auch für die altorientalischen, orthodoxen, altkatholischen sowie die anglikanischen Kirchen als erster Bischof von Rom und als Heiliger. Die evangelischen Kirchen erinnern mit einem Gedenktag an ihn. Quellenlage Alle Quellen zu Simon Petrus stammen aus der christlichen Überlieferung. Mögliche biografische Informationen finden sich vor allem in den Evangelien, den Paulusbriefen, weiteren Apostelbriefen und der Apostelgeschichte des Lukas. Diese Quellen berichten im Kontext ihrer missionarischen und theologischen Verkündigungsabsichten von Petrus. Sie werden von der historisch-kritischen Bibelwissenschaft quellenkritisch untersucht. Zusätzliche Angaben zu Simon Petrus finden sich vor allem im Ersten Clemensbrief, bei den Kirchenvätern Irenäus und Eusebius wie auch bei Tertullian. Diese Quellen stammen aus dem 2. bis 4. Jahrhundert und verdanken ihre Entstehung, Verbreitung und Überlieferung nicht zuletzt den kirchenpolitischen Interessen der Autoren und Tradenten, die in der Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen innerhalb des frühen Christentums den Bibelkanon, das monarchische Bischofsamt und die Idee der apostolischen Sukzession entwickelten. Sie betonen zum einen die Bedeutung Petri für die Vorrangstellung Roms vor den übrigen Patriarchaten und stellen ihn zum anderen als Beispiel für einen „sündigen Heiligen“ dar, dessen Verleugnung und anschließende Reue und Bekehrung zeige, dass allen Menschen das Heil offensteht. Apostelakten zu Simon Petrus werden in der Regel als Legenden beurteilt, die weitgehend ahistorische Erzählungen beinhalten. Archäologische Zeugnisse für eine Petrusverehrung in Rom stammen aus dem 1. Jahrhundert. Ob sie seinen Aufenthalt und sein Begräbnis dort belegen, ist stark umstritten. Angaben im Neuen Testament Name Alle Evangelien kennen den Jünger unter dem Namen Simon; Jesus redet ihn bis auf eine Ausnahme immer so an. Es handelt sich um die griechische Form des biblischen Namens Simeon (hebräisch Schim’on), dem Tanach zufolge einer der Söhne Jakobs und Stammvater eines der zwölf Stämme Israels. Patriarchennamen waren unter palästinischen Juden dieser Zeit besonders beliebt und wurden häufig auch in der griechischen Übersetzung verwendet. Da auch Simons Bruder Andreas einen griechischen Namen trägt, scheint diese Namensform die ursprünglichere zu sein. und nennen ihn Symeon, eine Gräzisierung der hebräischen Namensform. In nennt Jesus seinen Jünger mit Vatersnamen Simon Barjona („Simon, Sohn des Jona“). Zu möglichen politischen Konnotationen dieser Anrede und zu der Frage, ob der Vater der beiden Apostel Jona oder, wie es an anderer Stelle im Neuen Testament heißt, Johannes (hebräisch Jochanan) geheißen haben kann, gibt es verschiedene Theorien (siehe unten, Abschnitt „Herkunft und Berufung“). Paulus von Tarsus nennt den Apostel meist Kephas (Κηφᾶς), eine gräzisierte Form des auch in den Evangelien überlieferten Beinamens Kefa (Kēp’, in hebräischen Buchstaben כיפא), ein aramäisches Wort, das als Eigenname kaum belegt ist und eigentlich „Stein“ bedeutet. übersetzt den Namen zweimal ins Griechische zu Πέτρος (Pétros), was ebenfalls „Stein“ bedeutet und mit dem griechischen Wort für „Fels“ (πέτρα) verwandt ist. Im Hebräischen hat das Wort kēp (כֵּף) ebenfalls die Grundbedeutung „Fels“ oder „Stein“. Sowohl das semitische als auch das griechische Wort bezeichnen einen gewöhnlichen Naturstein (Wurfstein, Bruchstein, Kieselstein), im Hebräischen auch einen Felsen (zum Beispiel ), im Aramäischen kann (seltener) ebenfalls ein Felsen, Felsbrocken oder eine Felsenspitze gemeint sein. Jesus selbst soll Simon den Beinamen Kefa verliehen haben; wo und wann, überliefern die Evangelien unterschiedlich. Einige Exegeten nahmen an, Simon habe den Beinamen erst als Apostel der Urgemeinde angenommen, und dies sei nachträglich auf Jesus zurückgeführt worden (vgl. Joh 1,42). Die meisten Forscher (darunter Peter Dschulnigg, Joachim Gnilka, Martin Hengel, John P. Meier, Rudolf Pesch) gehen jedoch davon aus, dass Simon diesen Beinamen bereits im ersten Jüngerkreis trug, da Kephas in einigen der ältesten NT-Schriften als eigentlicher Name oder von Anfang an verwendeter Beiname (; Mt 4,18; 10,2) des Apostels erwähnt ist. Auch wird zumeist angenommen, dass ihm der Beiname tatsächlich von Jesus gegeben wurde. John P. Meier weist darauf hin, dass die Evangelien eine Nennung des Namens Petrus oder Kephas im Munde Jesu an vielen Stellen auffällig vermeiden; er hält es für denkbar, dass dieser Name für den Gebrauch im Verhältnis unter den Jüngern, aber nicht im Verhältnis zu Jesus bestimmt war. Vermutet wurde auch, der ursprüngliche Sinn des Namens erschließe sich aus der angenommenen Wortbedeutung „Edelstein“ im Aramäischen, was die besondere Rolle Simons als Wortführer der Erstberufenen hervorheben könnte. Die Sinnverschiebung zu „Fels“ als Fundament der Kirche sei dann als nachösterliche Umdeutung zu verstehen. Die im Anschluss an Rudolf Pesch vermutete Übersetzung von kefa als „Schmuckstein“ oder „Edelstein“ zur (auszeichnenden) Benennung einer Person ist vom Aramäischen her jedoch nicht hinreichend zu belegen, da der Gebrauch der aramäischen Wurzel kp als Personenname nicht nachgewiesen ist und überhaupt kaum Beispiele einer Verwendung des Wortes in der Bedeutung „Edelstein“ bekannt sind, in denen dieses Verständnis nicht durch Zusammensetzungen, attributive Zusätze (etwa „guter Stein“ im Sinne von „edel“ oder „wertvoll“) oder einen eindeutigen Kontext nahegelegt würde. Der protestantische Heidelberger Judaist und Talmud-Übersetzer Reinhold Mayer (1926–2016) vermutete, der Namensgebung durch Jesus liege neben dem Gedanken an den Grundstein des Jerusalemer Tempels eine ironische Anspielung auf den ungewöhnlichen Namen des zu seiner Zeit amtierenden Hohenpriesters Kajaphas (קיפא) zugrunde. Die in griechischer Umschrift verschieden vokalisierten Namen Kaiphas und Kephas unterscheiden sich in hebräischer Schrift nur in den anlautenden Konsonanten (Koph bei Qajfa statt Kaph bei Kefa), die sehr ähnlich klingen. Damit wohne dem Namen ein (möglicherweise durchaus ernst gemeinter) Anspruch auf die Ablösung des Hohenpriesters durch den Führer der Zwölfergruppe um Jesus inne, der selbst im Rahmen seines Messianismus den Königstitel für sich beanspruchte. Der erst durch die Jerusalemer Inschriftenfunde von 1990, mit denen der Name des Hohepriesters erstmals in hebräischen Schriftzeichen belegbar wurde, ins Bewusstsein der Forschung getretene „verblüffende Gleichklang des Beinamens des Simon mit dem des höchsten Amtsinhabers am Jerusalemer Tempel“ wirft auch für den katholischen Exegeten Martin Ebner ein neues Licht auf den viel umrätselten Beinamen des Simon Petrus. Falls Absicht dahinterstecke, hätte „Jesus mit dieser delikaten Spitznamenwahl eine symbolische Enteignung vorgenommen“. Ähnlich wie Jesus Christus wurde auch Simon Petrus spätestens mit der lateinischen Bibelübersetzung Vulgata (um 385) zum Eigennamen. Herkunft und Berufung Simon stammte wie Jesus aus Galiläa und war nach Aussage des Markusevangeliums an seiner Sprache als Galiläer erkennbar (Mk 14,70 par.). Er gehörte zu den ersten Jüngern, die Jesus in seine Nachfolge berief. Die Überlieferungen beschäftigen sich praktisch nur mit der Zeit nach dieser Berufung; Angaben über Alter und Geburt des Simon sowie über die Herkunft und den sozialen Status seiner Familie gibt es keine. Nach hieß Simons Vater Johannes. In spricht Jesus ihn als Simon Barjona an, aramäisch „Sohn des Jona“. Jona dürfte hier als Kurzform von Johannes aufzufassen sein. Als Adjektiv bedeutet barjona allerdings auch „impulsiv“ oder „unbeherrscht“. Darin sahen manche Ausleger Hinweise auf eine mögliche frühere Zugehörigkeit Simons zu den Zeloten, da im späteren Talmud jüdische Freiheitskämpfer als barjonim (Plural) bezeichnet wurden. Simon hatte einen Bruder namens Andreas, der wohl jünger als Simon war, da alle Apostellisten diesen zuerst nennen. Beide waren Fischer am See Genezareth. Nach Mk 1,16 traf Jesus sie am Seeufer beim Auswerfen ihrer Fischernetze und forderte sie auf, ihm nachzufolgen. Daraufhin hätten sie die Netze verlassen und seien ihm gefolgt. Bei der Berufung der übrigen zehn habe Jesus Simon dann den Beinamen „Petrus“ gegeben . Simon war verheiratet; den Namen seiner Frau erfährt man nicht. Er wohnte zusammen mit ihr, ihrer Mutter und seinem Bruder Andreas in einem eigenen Haus in Kafarnaum (Mk 1,21.29 f.; Lk 4,38; Mt 8,14). Auf dessen Überresten könnten Urchristen eine ihrer ersten Pilgerstätten errichtet haben. Dies vermuten einige Archäologen, da unter einer byzantinischen achteckigen Kirche aus dem 5. Jahrhundert Mauerreste aus dem 1. Jahrhundert ausgegraben wurden. Der einzige klare Hinweis auf ein Petrushaus, das früh als Hauskirche genutzt worden sein könnte, sind allerdings Kalkinschriften, die Jesus mit Hoheitstiteln sowie Petrus nennen und Spuren kultischer Zusammenkünfte zeigen. Sie stammen frühestens aus dem 3. Jahrhundert. Nach Mk 1,31 heilte Jesus Simons Schwiegermutter, worauf diese die Jünger bewirtete. Zwar forderte Jesus den Simon wie auch die übrigen Jünger aus seinem engsten Nachfolgerkreis grundsätzlich auf, ihre Familien zu verlassen (Mk 10,28 f.). Eine Ablehnung der Ehe als solche findet sich in den Evangelien jedoch nicht. Die auffälligste Besonderheit der Lehren Jesu über die Ehe bestand darin, dass er die Ehescheidung verbot (Mt 5,32). Petrus lebte nach dem Zeugnis des Paulus wie auch andere Apostel und Verwandte Jesu um das Jahr 39 mit seiner Ehefrau zusammen und nahm sie auf Reisen mit (1 Kor 9,5). Einige Frauen aus Galiläa sollen auch bereits während des öffentlichen Wirkens Jesu mit ihm und seinen Anhängern umhergezogen sein (Mk 15,41; Lk 8,2). Nach Lk 5,1–11 wurde Simon zum „Menschenfischer“ berufen, nachdem Jesus seine Antrittspredigt in der Synagoge von Kafarnaum gehalten und Simons Schwiegermutter geheilt hatte. Die Berufung folgt einem unerwartet großen Fischfang, nach dem Simon bekennt: „Herr, gehe von mir fort! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Hier nennt Lukas ihn erstmals Petrus, dann auch bei der Auswahl der Zwölf (Lk 6,14). Er erklärt den Beinamen ebenso wenig wie Markus. Nach Apg 10,14.28 beachtete Simon zunächst die jüdischen Speisevorschriften und verkehrte nicht mit Nichtjuden. Auch nach Mt 4,18 wird Simon ab seiner Berufung beiläufig „Petrus“ genannt. Matthäus stellt den Beinamen erst heraus, nachdem Simon Jesus als den Messias bekannt hatte und dieser ihm daraufhin zusagte, er werde seine Kirche auf „diesen Felsen“ bauen (Mt 16,16 ff.). Nach Joh 1,44 kamen Petrus und sein Bruder aus Bethsaida. Ob hier der Geburts- oder nur ein früherer Wohnort gemeint ist, bleibt offen. Andreas soll als Jünger Johannes des Täufers Jesus zuerst getroffen, ihn als Messias erkannt und dann seinen Bruder Simon zu ihm geführt haben. Jesus habe diesem sofort, als er ihn sah, den Beinamen „Kephas“ verliehen (Joh 1,35–42). Nach allen Evangelien war Simon Petrus im Jüngerkreis eine Führungsfigur. Er steht in allen Apostellisten des NT an erster Stelle; auch dort, wo er mit Jakobus dem Älteren und Johannes zusammen genannt wird. Er gehörte demnach zu den drei Jüngern aus dem engsten Kreis der Jesusnachfolger, die Jesus besonders nahestanden. Sie gelten nach Mk 9,2–13 (Verklärung des Herrn) als die Einzigen unter den Zwölfen, denen die Göttlichkeit und indirekt auch die künftige Auferstehung Jesu bereits vor dessen Tod offenbart wurde. Sie begleiteten Jesus zudem in seinen letzten Stunden im Garten Getsemani (Mk 14,33). Christusbekenner Nach beantwortet Petrus Jesu Frage an seine Jünger, für wen sie ihn halten, mit dem Glaubensbekenntnis: „Du bist der Christus!“ Dieser Titel erscheint hier das erste und einzige Mal im Munde eines der Apostel, gefolgt vom Schweigegebot Jesu an sie alle, niemandem etwas über ihn zu sagen (V. 30). Petrus spricht hier also stellvertretend für alle Erstberufenen. Doch gleich darauf, nachdem Jesus den Jüngern erstmals seinen vorherbestimmten Leidensweg ankündigte, „nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen“ (V. 32). Er habe also versucht, Jesus von diesem Weg ans Kreuz abzubringen. Daraufhin habe Jesus ihn schroff zurechtgewiesen (V. 33): „Satan“ bedeutet im Hebräischen „Gegner“ oder „Widersacher“. Petrus wird hier mit dem Versucher Jesu in der Wüste verglichen, der den Sohn Gottes ebenfalls von seinem Leidensweg abhalten wollte (Mt 4,1–11); er wird auch an anderen Stellen des NT in die Nähe des Satans gerückt (Lk 22,31). In der matthäischen Variante (Mt 16,16) antwortet Simon: Damit wiederholt er hier das Bekenntnis aller Jünger zur Gottessohnschaft Jesu, das diese nach Jesu Stillung des Sturms ablegen (Mt 14,33). Wie bei Markus folgt auch hier kein weiteres Christusbekenntnis der Jünger, sondern später Jesu eigene Bejahung der Messiasfrage im Verhör durch den Sanhedrin (Mk 14,62; Mt 26,63). Empfänger der Felsenzusage Nach beantwortete Jesus Simons Christusbekenntnis mit einer besonderen Zusage: Dieser Vers ist im NT einmalig. Umstritten ist bis heute unter anderem, ob es sich um ein echtes Jesuswort handelt, wann und warum es entstanden ist, woher die einzelnen Ausdrücke stammen und was sie hier bedeuten. Das in der altgriechischen Literatur selten anzutreffende Wort petros bezeichnete wie das aramäische kefa in der Regel einen einzelnen Naturstein, runden Kiesel oder Brocken, nicht dagegen einen als Baugrund geeigneten Fels; petra hingegen bedeutet Felsen (als einzelner Felsen oder als Felsgrund, unter Umständen kann auch der in eine Mauer eingefügte, behauene Steinblock bezeichnet sein). Unter den Sprüchen von der Nachfolge findet sich in das Gleichnis von dem Mann, der sein Haus „auf den Felsen“ (epi tän pétran) gebaut hat, was üblicherweise generisch mit „auf Fels gebaut“ wiedergegeben wird. An dieses Jesuswort könnte auch Mt 16,18 angelehnt sein, falls es sich um eine nachträgliche Bildung handelt. Der Ausdruck „Stein“ lässt jüdische Metaphern anklingen: So war der „heilige Stein“ im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels in der biblischen Zionstradition zugleich Eingang zur Himmelswelt, Verschlussstein gegen die Sintflut und die Totenwelt (zum Beispiel Jes 28,14–22). Jedoch wurde dieser Stein nicht „Felsen“ genannt und nie als Baufundament dargestellt. Evangelikale Ausleger, die eine Grundlegung des Petrusamtes im Felsenwort ablehnen, vertreten daher häufig die Meinung, in Mt 16,18 beziehe sich nur der Name Petros („Stein“) auf Simon Petrus selbst, während sich das Wort petra („Felsen“) auf Christus beziehe, der selbst das Fundament seiner Kirche ist. Diese Ausleger untermauern ihr Verständnis mit Verweis auf andere Bibelstellen, in denen sich Jesus mit einem Eckstein (kephalé gōnías, „Haupt der Ecke“ nach ) oder Baustein (lithos) vergleicht ( par) oder als solcher bezeichnet wird (1Petr 2,4). Von der Syntax der Aussage in Mt 16,18 her ist diese Deutung allerdings nicht nachvollziehbar, da der Ausdruck „dieser Felsen“ im zweiten Teilsatz eindeutig auf den zuvor genannten Petros bezogen ist und nicht auf den Sprecher (Jesus) selbst. Der semantisch nicht bruchlose Übergang vom Eigennamen Petros (übersetzt „Stein“) zu petra („Felsen“) und dessen Bezeichnung als Baugrund stellt sich vielmehr als Wortspiel dar, das die nahe Verwandtschaft der beiden Wörter thematisiert, ohne den Bezug zu der angesprochenen Person aufzugeben. Ob dieses Wortspiel bzw. eine doppelsinnige Verwendung des Begriffs kefa auch im Aramäischen möglich ist, was die Voraussetzung dafür wäre, um das Wort für ursprünglich jesuanisch zu halten, ist strittig. Ekklesia (wörtlich „die Herausgerufene“, von dem griechischen Verb kalein, „rufen“) bezeichnete im profanen Griechisch die einberufene Versammlung von Bürgern. In der Septuaginta wird der hebräische Begriff kahal mit ekklesia ins Griechische übersetzt, was in der Zusammensetzung mit Gott (Kyrios) das erwählte Gottesvolk Israel meint, wobei das Motiv der Sammlung Israels („Rückrufung“ aus dem Exil) begrifflich durchscheint. Im Kontext von Mt 16,14 f. ist der Ausdruck auf den Zwölferkreis bezogen, die erstberufenen zwölf Jünger Jesu, die in den Evangelien die Nachkommen der Zwölf Stämme Israels repräsentieren, das heißt das endzeitlich versammelte Israel als Ganzes. In den frühen Briefen des NT wird das Wort zunächst als Bezeichnung der einzelnen Christengemeinde verwendet, wiewohl in ein weiteres Verständnis bereits bei Paulus anzuklingen scheint. Ausdrücklich als Bezeichnung für die Gesamtheit der Christen (Universalkirche) wird der Ausdruck erst in den vermutlich später entstandenen deuteropaulinischen Briefen (, ) benutzt. Der Ausdruck „meine ekklesia“ ist nur an dieser Stelle als Ausspruch Jesu überliefert. Dies ist ein Hauptargument gegen die Echtheit des Logions, denn es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass der historische Jesus eine Bezeichnung zur Charakterisierung seiner Gefolgschaft verwendet haben könnte, die sich im Griechischen mit ekklesia wiedergeben ließe. Zudem erscheint der Vers redaktionsgeschichtlich als Einschub in die Vorlage Mk 8,27–30. Der Ekklesia-Begriff verweist nach Karl Ludwig Schmidt ursprünglich auf eine Sondergemeinschaft innerhalb des Gottesvolks, die sich (ähnlich wie die Qumran-Gemeinschaft) als „Auserwählte“ in dem erwarteten Endgericht (Mk 13,20 ff.) bzw. Ausgesonderte („Heilige“, vgl. Apg 9,13.32.41 u. a.) begriffen haben könnte, zugleich aber Teil des Judentums blieb und die Toragebote und den Tempelkult nicht aufgab. Demnach wäre eine Entstehung im judenchristlichen Umfeld denkbar. „Tore des Hades“ war im Hellenismus eine feste Redewendung für den Ort, an den Gestorbene gelangten. Hinter jedem Sterblichen („Fleisch und Blut“) schlossen sie sich unwiderruflich (Jes 38,10). Für Hans Conzelmann stammt der Vers aus einer von Petrus gegründeten Gemeinde in Syrien oder Kleinasien, die Jesus das Wort nach Petri Tod in den Mund gelegt habe. Denn hier würden die „Pforten der Unterwelt“ der Auferstehung der Christusbekenner und Fortdauer ihrer Gemeinschaft über den Tod des Einzelnen hinaus gegenübergestellt. Ulrich Luz deutet „meine ekklesia“ als das gesamte Christentum, da Jesus nur eine Gemeinde bauen könne und die Zusage an das verbreitete biblische Bild vom Hausbau des Gottesvolks anschließe (Mt 7,21). Der Vers sei ein griechisches Wortspiel, kein ins Griechische übersetzter aramäischer Satz. Der frühe Beiname Simons, Kefa, den Jesus ihm gegeben haben könnte, werde hier im Rückblick auf sein schon abgeschlossenes Wirken als Apostel gedeutet. Da auch andere NT-Stellen (Eph 2,20; Offb 21,14) von Aposteln als Baufundament der Kirche sprechen, sei der Vers wahrscheinlich nachösterlich in einer griechischsprechenden Gemeinde entstanden. Die Zusage Jesu, dass die ekklesia nicht „überwältigt“ werde, versteht Luz im Anschluss an Karl Barth als eine vergleichende Aussage: Die Tore der Unterwelt, Inbegriff des Totenreichs, das kein Sterblicher von sich aus wieder verlassen kann, sind diesem Logion zufolge nicht stärker als die auf den Felsen gebaute Kirche. Dieser wird Bestand bis zum Weltende verheißen, da Jesus ihr seine Gegenwart auch in der Zukunft (nach Tod und Auferstehung) verspricht (Mt 28,20). Christusverleugner Dem Christusbekenntnis des Petrus und seiner Zurechtweisung folgt Jesu Jüngerbelehrung : Diese Einladung zur Kreuzesnachfolge ist Hintergrund für das spätere Versagen des Petrus im Verlauf der Passion Jesu, als er, um sein Leben zu retten, nicht sich, sondern Jesus verleugnet (Mk 14,66–72). Der Widerspruch zwischen Reden und Handeln zeigte sich bei Petrus schon in Galiläa: Einerseits vertraute er dem Ruf Jesu in die Nachfolge („Komm her!“), andererseits schwand sein Glaube beim ersten Gegenwind, so dass nur Jesus ihn vor dem Versinken im Meer retten konnte (Mt 14,29 ff.). Laut Joh 13,6–9 wollte er sich nicht die Füße von Jesus waschen lassen. Diese Handlung war damals ein typischer Sklavendienst: Petrus wehrte sich also dagegen, sich von Jesus als seinem Herrn wie von einem Sklaven bedienen zu lassen. Die Fußwaschung war jedoch symbolische Anteilgabe am Heil und mit dem Auftrag Jesu an alle Jünger verbunden, einander ebenso zu dienen. Jesus kündigte Petrus auf dem Weg zum Ölberg (nach Lk beim letzten Mahl Jesu) an, er werde ihn noch in derselben Nacht dreimal verleugnen. Dies wies er wie alle übrigen Jünger weit von sich ( par.): Doch kurz darauf schlief er ein, als Jesus in Getsemani den Beistand der Jünger besonders nötig brauchte und erbat (Mt 26,40.43 f.). Dann soll er nach Joh 18,10 mit Waffengewalt Jesu Verhaftung zu verhindern versucht haben: Er wird hier mit jenem namenlosen Jünger identifiziert, der einem Soldaten der Tempelwache laut Mk 14,47 ein Ohr abhieb. Sein Versagen gipfelt in der Verleugnung Jesu, während dieser sich vor dem Hohen Rat als Messias und kommender Menschensohn bekannte und sein Todesurteil empfing (Mk 14,62). Als das Krähen eines Hahnes im Morgengrauen Petrus an Jesu Vorhersage erinnerte, habe er zu weinen begonnen (Mk 14,66–72). Petrus fehlte demnach die Kraft, seinem Glauben gemäß zu handeln, als es darauf ankam. Erst nach Pfingsten trat er laut Apg 5,29 vor dem Hohen Rat als todesmutiger Bekenner auf, der die Sendung des Heiligen Geistes als Missionar und Leiter der Urgemeinde vorbildlich erfüllte. Paulus dagegen berichtet, dass Petrus aus Furcht vor den Judenchristen um Jakobus die Tischgemeinschaft mit Heiden aufgab und vor einigen Juden Gesetzestreue „heuchelte“, statt nach der „Wahrheit des Evangeliums“ zu wandeln (Gal 2,11–14). Einige Exegeten schließen daraus auf seinen ambivalenten Charakter. Andere sehen Petrus als Beispiel für das Verhalten aller Jünger, die Jesus angesichts seines bevorstehenden Todes verließen (Mk 14,50). Er steht im NT für das dichte Beieinander von Glauben und Unglauben, Zeugendienst und schuldhaft verweigerter Kreuzesnachfolge in der ganzen Kirche. Zeuge des Auferstandenen Petrus ist im Neuen Testament einer der Ersten, dem der auferstandene Jesus begegnet. In einer Liste, die er möglicherweise aus der Jerusalemer Urgemeinde übernommen hat, nennt Paulus den Kephas im Ersten Korintherbrief als den ersten Osterzeugen überhaupt (1 Kor 15,5 PA): Auch das Lukasevangelium überliefert einen Bekenntnissatz, der vielleicht aus der frühesten Osterüberlieferung der Urchristen stammt und Simon als den maßgeblichen Zeugen benennt : Im lukanischen Erzählkontext sprechen diesen Satz die in Jerusalem versammelten Jünger, bevor der Auferstandene auch ihnen erscheint. Das Markusevangelium nennt Petrus neben den anderen Jüngern als Adressaten einer angekündigten Jesuserscheinung in Galiläa . Dem Johannesevangelium zufolge sah nicht Petrus, sondern Maria Magdalena den Auferstandenen zuerst. In Joh 20,1–10 entdeckt sie zunächst das leere Grab und berichtet Petrus und dem Lieblingsjünger davon. Daraufhin laufen die beiden Männer um die Wette zum Grab, doch obwohl der Lieblingsjünger schneller ist und als Erster ankommt, betritt er die Grabkammer zunächst nicht, sondern lässt Petrus den Vortritt. Im leeren Grab sehen die Jünger die Leinenbinden und das aufgewickelte Schweißtuch des Gekreuzigten . Danach gehen sie wieder „nach Hause“. Diese Episode („Wettlauf zum Grab“) wird meist als Reflex auf die zur Abfassungszeit der Geschichte bereits virulenten Auseinandersetzungen um die Hierarchie der Auferstehungszeugen und den Vorrang des Petrus gedeutet, der im Johannesevangelium formal anerkannt, aber durch die Darstellung Maria Magdalenas als Erstzeugin und des Lieblingsjüngers als desjenigen, der das Gesehene als Erster begreift und zum Glauben gelangt, subtil in Frage gestellt wird. Anschließend erzählt Joh 20,11–18 von der Erscheinung vor Maria Magdalena, bei der es sich um die einzige narrativ ausgestaltete neutestamentliche Christophanie vor einer Einzelperson handelt. Laut Joh 20,19–23 erschien der Auferstandene den versammelten Jüngern erst am Abend desselben Tages. Der sogenannte „unechte“ (da nachträglich angefügte) Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) versucht, die verschiedenen Erscheinungsberichte in eine harmonische Abfolge zu bringen. Der Text folgt Joh 20 und nennt Maria von Magdala als erste Augenzeugin des Auferstandenen. Aus den Unterschieden in den Ostertexten der Evangelien schließen NT-Historiker, dass die Erscheinungen Jesu (Christophanien) und die Entdeckung seines leeren Grabes ursprünglich unabhängig voneinander überlieferte Erzählungen waren, die dann auf verschiedene Weise kombiniert wurden. Das (vermutlich ebenfalls spät hinzugefügte) Schlusskapitel des Johannesevangeliums (Joh 21) berichtet, Jesus sei dem Petrus und sechs weiteren Jüngern aus dem Zwölferkreis in Galiläa nochmals erschienen. Analog zu seiner Berufungsgeschichte, als Petrus nach einem wunderbaren Fischzug in die Nachfolge Jesu berufen wurde , wird er auch diesmal durch einen übergroßen Fischfang gewahr, dass der Mann am Ufer der auferstandene Jesus ist. So wie er Jesus dreimal verleugnet hatte, fragt ihn dieser nun dreimal: „Liebst du mich?“, was er jedes Mal bejaht. Daraufhin erhält Petrus dreimal den Befehl: „Weide meine Schafe!“ und den erneuten Ruf „Folge mir nach“ . Diese späte Erscheinungsgeschichte und den mit ihr verbundenen Dialog zwischen Petrus und dem Auferstandenen deuten Exegeten als Hinweis darauf, dass die Verleugnung Jesu durch Petrus noch viele Jahrzehnte nach seinem Tod bei den Lesern Anstoß erregte und theologisch verarbeitet werden musste. Missionar der Urgemeinde Fast alle Nachrichten vom nachösterlichen Wirken des Petrus stammen aus der Apostelgeschichte des Lukas. Nach Apg 1,2 ff. im Anschluss an Lk 24 entstand die Jerusalemer Urgemeinde durch die Erscheinung des auferstandenen Jesus Christus vor den versammelten elf Jüngern in Jerusalem und das Wirken des Heiligen Geistes im Pfingstwunder. Nach Apg 1,4.13 hielten sich die Jünger in Jerusalem versteckt, bis sie nach Apg 2,1 ff. der Heilige Geist überkam. Darauf folgt erste öffentliche Predigt Petri in Jerusalem. Sie legt Jesu Erscheinen als Gottes vorherbestimmte Erfüllung der Geistverheißung in Israels Heilsgeschichte aus und gipfelt in der Aussage : Daraufhin sollen sich am selben Tag 3000 Menschen zum neuen Glauben bekannt haben. Diese erste Gemeinde der Christen soll nach Apg 2,5 Angehörige verschiedener Völker und Sprachen umfasst haben. Petrus geriet jedoch bald in Konflikt mit den Jerusalemer Behörden und musste sich vor dem Hohen Rat verantworten (Apg 4,8 ff.; 5,29). Dabei soll er seinen Glauben diesmal nicht verleugnet, sondern freimütig bekannt haben; begründet mit dem Satz : Diese Formulierung ist eine der Wurzeln der in der Kirchengeschichte häufig verwendeten Phrase Non possumus. Petrus wird zunächst als ein Vertreter der Israelmission geschildert, die der universalen Völkermission vorausging (Gal 2,8; Mt 10,5; vgl. Lk 24,47). Nach der Hinrichtung des Stephanus und Verfolgung seiner Anhänger in der Urgemeinde missionierten Petrus und andere Apostel auch außerhalb Jerusalems. Laut Apg 8,14–25 kam er dabei auch nach Samaria, um bereits Neugetauften den Heiligen Geist zu spenden. Dies unterstreicht seine Autorität über die Urgemeinde hinaus. Von Petrus werden auch Spontanheilungen und Totenerweckungen analog zu den Heilungswundern Jesu berichtet, etwa in Lydda und Joppe (Apg 9,32–43). Dies betont die Kontinuität zwischen dem Heilwirken Jesu und dem der Urchristen, das zu ihrem Auftrag gehörte (Mk 16,15–20; Mt 10,8). Als Jude, der die Auferstehung Jesu als Erfüllung jüdischer Verheißungen verkündete, hielt Petrus nach Apg 10,13 f. an den religiösen Speise- und Reinheitsgeboten fest. Doch in einem Traum soll er Gottes Auftrag zur Tischgemeinschaft mit dem Hauptmann Kornelius, einem „gottesfürchtigen“ Römer, erhalten haben. Somit begann Petrus nach lukanischer Darstellung die urchristliche Heidenmission. Sie löste Konflikte mit anderen Judenchristen aus, die von Nichtjuden das Einhalten jüdischer Gebote verlangten. Nach Apg 10,47 und 11,17 f. verteidigte Petrus die Taufe der Nichtjuden und seine Tischgemeinschaft mit ihnen damit, dass auch sie zuvor den Heiligen Geist empfangen hätten. Dies sollen seine Jerusalemer Kritiker dann anerkannt haben. Nachdem Pontius Pilatus als Statthalter Judäas abgesetzt worden war (36), verfolgte der jüdische König Herodes Agrippa I. (41–44) die Jerusalemer Urgemeinde und ließ einen ihrer Apostel, Jakobus den Älteren, enthaupten. Anschließend ließ er nach Darstellung der Apostelgeschichte auch Petrus verhaften und in einer Gefängniszelle angekettet zwischen zwei Bewachern festhalten. Nachts soll er durch einen Engel auf wunderbare Weise von den Fesseln befreit und aus dem Gefängnis herausgeführt worden sein, worauf er Jerusalem verließ und seine Mission außerhalb der Stadt fortsetzte (Apg 12,1–19). Paulus besuchte die Urgemeinde nach Gal 2 erstmals um 36 und traf dort zunächst nur mit Petrus zusammen. Beim zweiten Besuch (um 48) habe er Petrus, den Herrenbruder Jakobus und Johannes als „Säulen“ (Leiter oder Älteste) der Urgemeinde angetroffen (Gal 2,9). Eine solche Zusammenkunft schildert auch die Apostelgeschichte anlässlich des sogenannten Apostelkonzils, auf dem die Heidenmission des Paulus anerkannt worden sei. Petrus trat dabei nach Apg 15,7–11 als Fürsprecher des Paulus auf, wodurch der Einklang zwischen den beiden Missionaren in dieser Frage betont wird. Paulus berichtet im Galaterbrief jedoch von einem Konflikt mit Petrus bei einem weiteren Treffen in Antiochia am Orontes (Gal 2,11–14): Petrus habe dort als Vertreter der Urgemeinde zunächst die Tischgemeinschaft mit den neugetauften Nichtjuden geübt, also ihre Taufe anerkannt (vgl. Apg 9,32). Dann aber hätten aus Jerusalem eingetroffene Anhänger des Jakobus dies kritisiert (vgl. Apg 11,3). Daraufhin sei Petrus vor ihnen zurückgewichen und habe die Tischgemeinschaft mit den Nichtjuden beendet. Dafür habe er, Paulus, ihn öffentlich gerügt und an den zuvor erreichten Konsens erinnert, Heidenchristen die Einhaltung der Speise- und Reinheitsvorschriften zu erlassen. Paulus zeichnet damit ein anderes Bild von Petrus als Lukas. Für ihn war er ein Vertreter des „Evangeliums an die Juden“, der Nichtjuden nach der Taufe nicht als gleichwertige Gemeindeglieder akzeptiert. Dies sehen einige Exegeten als Hinweis auf Spannungen, die auch nach dem Apostelkonzil fortbestanden und die Lukas zu beschönigen versucht. Notizen zum Ende Zum Wirken des Petrus nach dem Apostelkonzil macht das Neue Testament keine Angaben. Fest steht nach dem Zeugnis des Galaterbriefes nur, dass er sich bald danach in der aus Juden und Heiden bestehenden Gemeinde Antiochias aufhielt und dort bei dem von Paulus geschilderten Zusammenstoß eine stärkere Stellung als dieser besaß. Die von Paulus erwähnte „Kephas-Partei“ in Korinth (1 Kor 1,12) zeigt, dass sein Einfluss über Syrien hinausreichte. Bei Paulus’ letztem Besuch in Jerusalem, der mit seiner Gefangennahme und anschließenden Abschiebung nach Rom endete, war Petrus nicht mehr dort. Das Neue Testament beschreibt weder eine Romreise des Petrus noch seinen Tod. Zwar sagt Jesus in der synoptischen Tradition (unter anderem Mk 10,39; 13,9–13) allen Jüngern Verfolgung und Tod voraus; gerade auch Petrus erklärt seine Bereitschaft dazu (Lk 22,33; Joh 13,37). Aber nur deutet sein besonderes Ende an: Joachim Gnilka deutet das „Gürten“ als ein Fesseln der ausgestreckten Hände und das Führen – wörtlich „Schleppen“ – an den unerwünschten Ort als Gang des an ein Querholz Gefesselten zur Kreuzigung. Auch Jesu Kreuzestod werde im Evangelium nach Johannes als Verherrlichung gedeutet, so dass die Ankündigung (Joh 13,36) und mehrfache Aufforderung Petri zur Nachfolge (Joh 21,19.22) sich auf ein gleichartiges Martyrium beziehe. Wo dieses stattfand, sagt das Neue Testament nicht. Udo Schnelle hält die Passage im Nachtragskapitel 21 des Evangeliums für eine Korrektur der Herausgeber, um die das Johannesevangelium im Übrigen prägende Vorrangstellung des „Lieblingsjüngers“ gegenüber Petrus zu relativieren, was den stetig wachsenden Einfluss der Petrus-Gestalt in der christlichen Tradition dokumentiere: „Wahrscheinlich mussten die johanneischen Traditionen unter die Autorität des Petrus gestellt werden, um weiter als legitime Interpretation des Christusgeschehens zu gelten.“ Paulus weist im Römerbrief (um 56–60) auf Verfolgungen der dortigen Christen hin (Röm 12) und grüßt einige von ihnen namentlich; der Name Petrus fehlt allerdings. Die Apostelgeschichte, die zwar keine lückenlose Chronologie enthält, den Übergang von der Judenmission der Jerusalemer Apostel zur Heidenmission des Paulus aber ausführlich darstellt, berichtet zuletzt über dessen ungehinderte Missionstätigkeit in Rom (Apg 28,17–31). Nach Ansicht vieler Neutestamentler hätte der Verfasser der Apostelgeschichte eine Anwesenheit des Petrus in Rom sicherlich vermerkt, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre. Petrus zugeschriebene Schriften Petrusbriefe Das Neue Testament enthält zwei Gemeindebriefe, die Petrus als Verfasser nennen. Der 1. Petrusbrief, den der Apostel dem Briefschluss zufolge einem „Silvanus“ diktiert haben soll (1 Petr 5,12), enthält Ermutigungen für „Christen“, die sich in einer akuten, offenbar aber noch lokal begrenzten Verfolgungssituation befinden, und schließt mit einem „Gruß aus Babylon“ (1 Petr 5,13). Er galt deshalb schon im 3. Jahrhundert als in Rom verfasst, da „Babylon“ in jüdischer wie auch christlicher Literatur als Tarnname für „Rom“ im Sinne einer Chiffre für eine besonders verdorbene, sündige Weltstadt vorkommt (etwa in Offb 14,8; 16,19; 17,5.9 und anderswo). Ob dies allerdings bereits im Entstehungskontext gemeint gewesen sein kann, ist unter Philologen strittig, da Ortsangaben des Absenders im antiken Briefformular am Briefschluss unüblich waren und „Babylon“ im gegebenen Kontext auch als allegorischer Verweis auf die gemeinsame irdische Verfolgungssituation aufgefasst werden kann. Der Brief wird in der Überblicksliteratur mehrheitlich auf die Zeit um 90 datiert, nicht selten unter Hinweis auf eine mögliche Verfolgung unter Kaiser Domitian (81–96); auch Graham Stanton nimmt deshalb die Jahre kurz nach dem Regierungsantritt Domitians als Abfassungszeit an. Ausmaß und Historizität dieser Verfolgung werden allerdings schon seit den 1970er Jahren zunehmend angezweifelt. Dietrich-Alex Koch vermutet daher die Zeit der ersten gesetzlich geregelten Christenverfolgungen unter Kaiser Trajan als Briefsituation (nach 100 bis ca. 115); Marlis Gielen hält im Gefolge von Koch die Amtszeit des Plinius als Statthalter Trajans in Kleinasien 112/113 für den terminus post quem und vermutet als Entstehungskontext des Briefes die Reisen des Kaisers Hadrian nach Kleinasien um 130. Udo Schnelle hält dagegen eine Entstehung des Schreibens in der Spätphase der Regierungszeit Domitians weiterhin für plausibel und macht sie an den zunehmend judenfeindlichen Maßnahmen des Herrschers fest, von denen „auch vereinzelt Judenchristen betroffen“ gewesen sein könnten. Ausleger, die eine Abfassung durch den Apostel Petrus selbst annehmen, datieren den Brief auf die Zeit um oder auch vor 60. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kam die – vereinzelt noch heute vertretene – biblizistische Interpretation auf, Petrus habe sich wirklich in Babylon aufgehalten, als er den Brief schrieb. Allerdings war die mesopotamische Stadt im ersten Jahrhundert schon länger zerstört. Anderweitige Hinweise auf eine Missionsreise des Petrus in die jüdischen Siedlungsgebiete des (in jüdischer Tradition auch „Babylonien“ genannten) Partherreichs gibt es nicht. Die im Grußvers 5,13 erwähnte „Miterwählte“ wird zuweilen mit der Ehefrau des Apostels gleichgesetzt, und der vom Verfasser als „mein Sohn“ bezeichnete (mit dem Evangelisten Markus identifizierte) Markus als deren leiblicher Nachkomme betrachtet. Eine unmittelbare biografische Auswertung der Angaben im Briefschluss des 1. Petrusbriefes für das Leben des Apostels Petrus gilt jedoch bibelwissenschaftlich als unergiebig, da die „Miterwählte“ auch die Gemeinde bezeichnen kann und „Babylon“ und „mein Sohn“ genauso gut in übertragener Bedeutung gebraucht sein können. Möglicherweise drangen die Namen Markus und Silvanus/Silas auch aus der paulinischen in die petrinische Überlieferung ein. Der 2. Petrusbrief ist als „Testament“ des Petrus kurz vor seinem Tod (2 Petr 1,13–15) gestaltet und bestätigt ausdrücklich die Lehren des Paulus (2 Petr 3,15). Er wird aufgrund seiner vermuteten Abhängigkeit vom Judasbrief, dessen Text fast vollständig übernommen ist, frühestens zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Apostels datiert, in der Regel aber nicht vor 110. Hinweise auf den Entstehungsort gibt der 2. Petrusbrief nicht. Die Aufnahme des Briefes in den Kanon des Neuen Testaments war wegen der ungewissen Autorschaft des Petrus lange ungeklärt und noch zu Zeiten des Kirchenhistorikers Eusebius von Caesarea nicht allgemein anerkannt. Markusevangelium Papias von Hierapolis (wohl um 130) führte das Markusevangelium auf einen Johannes Markus zurück, der im Neuen Testament zuerst in Jerusalem (Apg 12), dann im Umkreis von Barnabas und Paulus (Apg 15; Kol 4,10; 2 Tim 4,11; Phlm 1,24) genannt wird. Nur in 1 Petr 5,13 erscheint ein Markus als Begleiter des Petrus. Möglicherweise hat die Papiastradition hier ihren Ausgangspunkt. Papias zufolge diente Markus dem Petrus in Rom als Dolmetscher und schrieb nach den Berichten und Lehrreden des Apostels sein Evangelium auf, so dass Petrus dessen eigentliche Quelle sei. Auch bei Clemens von Alexandria († um 215) findet sich eine ähnliche Angabe. Als historisch glaubwürdig ist die Papiastradition zu Markus-Petrus nach herrschender Meinung nicht einzustufen, zumal sich keine spezifisch „petrinische“ Theologie im Markusevangelium wiederfindet. Bedeutende Gelehrte wie Martin Hengel, der 2008 erneut für die historische Zuverlässigkeit der Papiasüberlieferungen plädierte, halten dementgegen an einer petrinischen Prägung des Evangeliums fest. Die Berichte des Papias und Clemens wurden durch den Kirchenhistoriker Eusebius von Caesarea in seiner Kirchengeschichte im 4. Jahrhundert nach Christus überliefert und von anderen frühchristlichen Autoren wie dem Kirchenvater Hieronymus aufgegriffen. Auf diese Weise ging die Vorstellung vom Markusevangelium als einer durch Petrus autorisierten Überlieferung in die hagiographische Tradition des Christentums ein. Apokryphen Hinzu kommen einige Petrus zugeschriebene oder über ihn erzählende Apokryphen, die die Alte Kirche nicht in den neutestamentlichen Kanon aufnahm: das Kerygma Petri (nur bruchstückhaft bekannt) das Petrusevangelium die Offenbarung des Petrus die Petrusakten die Pseudo-Klementinen. Sie enthalten eine Grundschrift aus dem 2. Jahrhundert, die als Kerygmata Petrou bezeichnet wird. Die ersten vier dieser Schriften lehnten Eusebius von Cäsarea und das Decretum Gelasianum als häretisch und nichtkanonisch ab. Dennoch waren sie vor allem im östlichen Mittelmeerraum beliebt und regten dort weitere legendarische und apokryphe Petrusschriften an. Dazu gehörten: die Taten des Paulus und Petrus (auch: Pseudo-Marcellus-Akten) die Taten des Petrus und Andreas eine syrische Lehre des Simon Kepha in Rom eine syrische Geschichte des Heiligen Petrus und Paulus eine altslawische Vita Petri ein lateinisches Martyrium beati Petri apostoli a Lino conscriptum ein Auszug aus dem lateinischen Josephus (De excidio urbis Hierosolymitanae) und weitere Martyrienlegenden über Petrus, die meist auf den Petrusakten aufbauten und bis ins Mittelalter hinein ergänzt wurden. Unter den koptischen Handschriften aus Nag Hammadi wurden zudem aufgefunden: die Taten des Petrus und der zwölf Apostel ein Brief des Petrus an Philippus eine weitere Apokalypse des Petrus. Die in diesen Schriften enthaltenen Angaben über Petrus gelten meist als ahistorische, legendarische Motive, die sich weithin an vorliegenden neutestamentliche Petrustexten orientierten und diese fiktiv ausmalten oder ihnen bewusst widersprachen. Möglicher Aufenthalt von Petrus in Rom Die Textgrundlage der Petrus-Verehrung beschränkte sich aber nicht auf die Bibel. So wird dessen Bischofsamt und überhaupt sein Aufenthalt in Rom nicht im Neuen Testament, sondern erst in späteren hagiographischen Texten wie den sogenannten Petrus- und Paulusakten explizit genannt, in denen neben der Enthauptung des Paulus auch die Kreuzigung Petri geschildert wird. Martyrium in Rom Der Erste Clemensbrief, der nach überwiegender Ansicht zwischen 90 und 100 während der Regentschaft Kaiser Domitians in Rom entstand, stellt in Kapitel 5 und 6 das vorbildliche Leiden des Petrus und Paulus heraus, dem viele Christen gefolgt seien: Das deutet einen gewaltsamen Tod des Petrus an, ohne die genauen Umstände oder gar Rom als Ort zu nennen. „Zeugnis ablegen“ und dann „zur Herrlichkeit gelangen“ waren typische Motive judenchristlicher Märtyrertheologie. Die Notiz erscheint als Rückblick des Gemeindeleiters Clemens von Rom und wird meist auf die auf Rom begrenzte Verfolgung unter Nero im Jahr 64 bezogen, die zu einer Zeit stattfand, als es noch keine gesamtstaatlichen Christenverfolgungen im Römischen Reich gab. Der katholische Neutestamentler Joachim Gnilka deutet die im Briefkontext folgenden Angaben über eine „große Menge Auserwählter“, darunter Frauen, und deren „grausame und abscheuliche Misshandlungen“ als Detailkenntnisse, die von Augenzeugen stammen müssen, und schließt daraus auf eine lokale Überlieferung von der neronischen Verfolgung. Diese stellte sich nach Tacitus (Annales 15, 38–44) als spontanes Manöver dar, um den Volkszorn nach dem Großen Brand in Rom auf eine als Sündenbock geeignete Gruppierung umzulenken. Christen wurden dabei den Schilderungen zufolge wohl kaum förmlich verurteilt und gekreuzigt, sondern ohne Gerichtsverfahren den Raubtieren vorgeworfen, bei lebendigem Leib verbrannt oder ertränkt. Erst danach soll Nero nach Sulpicius Severus Gesetze gegen die Christen in Rom erlassen und ihren Glauben verboten haben. Da Clemens als Motiv „Eifersucht und Neid“ nennt und Petrus’ Schicksal mit dem des Paulus parallelisiert, der als römischer Bürger rechtmäßig an den Kaiser appelliert hatte und ein Einzelverfahren erhielt, nehmen manche Forscher statt einer Kreuzigung während der neronischen Verfolgung eine spätere Hinrichtung des Petrus um 67 an. Als älteste Quelle für einen Aufenthalt von Petrus in Rom verwies Eusebius von Caesarea auf die nicht direkt überlieferte Aussage des Bischofs Dionysios von Korinth (um 165–175) über Petrus und Paulus: Er überliefert auch die erstmals in den apokryphen Petrusakten im 2. Jahrhundert überlieferte Legende, dass Petrus auf eigenen Wunsch mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sei. Erster Bischof Die späteren Patriarchate von Alexandrien, Antiochien und Rom, später auch Jerusalem und Konstantinopel, führten ihre Gründung direkt oder indirekt auf Petrus zurück und beanspruchten ihn als ersten Bischof ihrer Gemeinde, um ihren Rang im Konkurrenzkampf der Patriarchate um die kirchliche Führung zu erhöhen. Das Neue Testament stützt keinen dieser Bischofsansprüche ausdrücklich, stellt Petrus aber als einen der Führer der Jerusalemer Gemeinde und maßgebende Gestalt für die Christen von Antiochia dar. Irenäus von Lyon (um 135–202) berichtet, die Apostel hätten die Kirche in der ganzen Welt „gegründet und festgesetzt“. Um diese Zeit wurde die schon bestehende Tradition eines Romaufenthalts von Petrus erweitert zu der Ansicht, er habe die Gemeinde in Rom als Bischof gegründet und geleitet. Dies dürfte ahistorisch sein, weil Petrus noch in Jerusalem wirkte, als Paulus nach Apg 18,1 in Korinth Christen aus Rom traf (um 50). Demnach bestand dort bereits eine von keinem der beiden gegründete christliche Gemeinde. Um 405 fasste Hieronymus (348–420) alle damals umlaufenden Apostellegenden in seiner Schrift Über berühmte Männer zusammen: darunter Romaufenthalt, Bischofsamt und gleichzeitigen Märtyrertod von Petrus und Paulus unter Nero, bei Petrus als Kreuzigung mit dem Kopf zur Erde. Er behauptete eine 25-jährige römische Amtszeit des Petrus vom Amtsantritt des Kaisers Claudius (40) bis zum Ende der Kaiserzeit Neros (68) und widersprach damit den Angaben des Neuen Testaments, wonach Petrus mindestens bis zum Apostelkonzil (um 48) einer der Leiter der Jerusalemer Urgemeinde war (Apg 15,7) und danach in Antiochia wirkte (Gal 2,11–14). Seine Konstruktion sollte bereits Führungsansprüche des römischen Bischofs stützen. Eusebius zitiert in seiner Kirchengeschichte (II. 1) Clemens von Alexandria (150–215): Demnach sollen die drei „Säulen“ der Urgemeinde Jakobus den Gerechten schon früh zum alleinigen Leiter der Urgemeinde ernannt haben. Nach Hieronymus soll schon Hegesippus (90–180) darum gewusst haben. Diese Amtsübergabe ermöglichte das Wirken Petri in Antiochia und macht auch eine Romreise denkbar. Andererseits legt die Nachwahl des Matthias (Apg 1,26) nahe, dass der Zwölferkreis anfangs als gemeinsames Leitungsorgan erhalten bleiben sollte. Jakobus trat später nach Apg 21,15 ff. mit den „Ältesten“ zusammen als Leiter der Urgemeinde auf. Das Testimonium Flavianum überliefert, dass er im Jahr 62 vom Hohen Rat gesteinigt wurde. Seine Enkel sollen nach Zitaten Hegesipps bei Eusebius unter Kaiser Domitian verhaftet und verhört worden sein. Das monarchische Bischofsamt entstand nach 100; die damals geschriebenen Ignatiusbriefe kennen es noch nicht. Es setzte sich parallel zur Kanonbildung bis 400 allmählich durch und prägte die orthodoxe und später katholische Staatskirche. Es reagierte auf das Wachstum des Christentums und übernahm römische Verwaltungsstrukturen. Petrusgrab Etwa seit dem letzten Drittel des 2. Jahrhunderts wird eine bestimmte Stelle auf dem vatikanischen Hügel als Petrusgrab verehrt. Kaiser Konstantin der Große ließ von 315 bis 349 darüber die Petersbasilika bauen, die 1507 abgerissen und durch den Bau des Petersdoms ersetzt wurde. Dabei wurde der Hauptaltar über dem angenommenen Petrusgrab platziert. Reste des antiken Grabmonuments sind heute hinter dem Christusmosaik der Palliennische in der Confessio unter dem Papstaltar verborgen. Das früheste mögliche Zeugnis von Grabstätten des Petrus und Paulus in Rom sah Eusebius in einem Zitat des römischen Presbyters Gaius (Kirchengeschichte II. 25,5–7): Der griechische Ausdruck Tropaion bezeichnete allerdings meist ein Denkmal oder Siegesmal. Gaius kannte offenbar eine solche bauliche Struktur, die eventuell die angenommenen Hinrichtungsorte beider Apostel markierte, deren Märtyrertod als Sieg gedeutet wurde. Erst Eusebius deutete das Zitat 100 Jahre später als Hinweis auf Grabstätten. Pius XII. gab die Grotten unter dem Altar des Petersdoms 1940 bis 1949 erstmals für archäologische Grabungen frei. Sie ergaben, dass dort zwei parallele Grabreihen in West-Ost-Richtung am Hang eines Hügels lagen. Sie wurden beim Baubeginn der ersten Petrusbasilika zugeschüttet – ein Vorgang, den nur der römische Kaiser selbst befehlen konnte –, und die Aufschüttung wurde mit Mauern abgestützt: Dieser Aufwand sollte offenbar den Grundriss der Basilika mit einem bestimmten Punkt der Nekropole zur Deckung bringen. Unter ihrem Altar fanden sich Reste eines kleinen Säulenmonuments mit einem Vordach und einer kleinen Nische in der Wand dahinter in einem größeren Grabhof, der auf etwa 160–180 datiert wurde. Das Grabungsteam gab diese Funde 1951 als Entdeckung des Petrusgrabes bekannt, stieß damit unter Archäologen aber wegen mangelhafter Dokumentation und methodischer Fehler beim Graben auf Ablehnung. Daraufhin erlaubte der Vatikan von 1953 bis 1958 und nochmals 1965 weitere Grabungen, deren Ergebnisse breiter als zuvor dokumentiert und diskutiert wurden, aber auch keine Gewissheit über das Grab Petri brachten. Man fand unter dem Säulenmonument ein schlichtes Erdgrab aus dem späten 1. Jahrhundert ohne Knochen. Nur dicht um das leere Grab angeordnete Erdgräber von Christen enthielten Knochen von Personen verschiedenen Alters und Geschlechts. Die Anordnung gilt einigen Ausgräbern als Hinweis auf eine Verehrung dieser Stelle als Petrusgrab bereits um 150. Vermutet wurde, dass die Nische seit etwa 140 einen runden Gedenkstein – cippus genannt – enthielt, der den Ort des Petrusmartyriums markieren sollte und das von Gaius erwähnte Tropaion war. Die Archäologin Margherita Guarducci deutete Inschriften in einer aus dem 3. Jahrhundert stammenden Mauer hinter dem Säulenmonument, darunter die Buchstabenfolge PETR… EN I, als Bezeichnung der in der Wand deponierten Petrusreliquien, fand damit aber kaum wissenschaftliche Zustimmung. An anderen Ausgrabungsorten in Rom fanden sich ähnliche Graffiti, die dort ein Gedenken von Christen an Petrus und Paulus als Märtyrer belegen. Die Kopfreliquien der Apostel Petrus und Paulus wurden im frühen Mittelalter in der Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateranpalast aufbewahrt, bevor sie 1367 durch Urban V. in die Lateranbasilika überführt wurden, wo sie sich bis heute im Ziborium über dem Hauptaltar befinden. Grundsatzdebatte Seit etwa 1850 zweifelten Kirchenhistoriker den historischen Wahrheitsgehalt altkirchlicher Petrusnotizen zunehmend an. Karl Heussi bestritt 1955 den historischen Wert sämtlicher Notizen, die einen Romaufenthalt und ein Bischofsamt des Petrus nahelegen, stieß aber bei dem ebenfalls protestantischen Kollegen Kurt Aland auf Widerspruch. Uta Ranke-Heinemann griff Heussis Kritik 1994 auf. Dagegen hielt Joachim Gnilka eine Leitungsfunktion des Petrus in der Christengemeinde in Rom und seinen Tod unter Nero für möglich, ohne zugleich ein (für diese Zeit anachronistisches) Bischofsamt oder eine Bischofsnachfolge anzuerkennen. Der Altphilologe Otto Zwierlein versuchte 2009 erneut, sämtliche literarischen Anhaltspunkte für den Romaufenthalt des Petrus wegen des Fehlens schlüssiger archäologischer und literarischer Zeugnisse als historisch unzuverlässig zu erweisen, und betrachtet die gesamte altkirchliche Überlieferung dazu als ein Ergebnis späterer Auseinandersetzungen mit Häretikern. Widersprochen wurde dieser Auffassung auf zwei von Forschern aus dem Umfeld der Görres-Gesellschaft 2010 eigens dazu ausgerichteten Tagungen in Rom und Freiburg im Breisgau. Ein im Jahr 2011 erschienener, im Ton ungewöhnlich polemischer Tagungsband von Stefan Heid, dem neuen Leiter des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft, und anderen Wissenschaftlern, die an einer historisch oder sogar biblisch fundierten Tradition des petrinischen Romaufenthalts festhalten möchten, vermochte inhaltlich nicht einhellig zu überzeugen. Die Kritikpunkte, die im Wesentlichen auf der grundsätzlichen Infragestellung des philologisch-kritischen Ansatzes zugunsten einer optimistischen Voreinschätzung traditioneller Überlieferungen beruhen, wies Zwierlein in einer 2013 veröffentlichten Replik erneut zurück. Letztlich blieb die von Außenstehenden als reizvoll erlebte und in einem ebenfalls von Heid herausgegebenen Sammelband, in dem auch Zwierlein zu Wort kam, einmündende Diskussion ohne eindeutiges Ergebnis: Während Zwierlein seine Kernthese, wonach die Überlieferung zum Petrusaufenthalt in Rom in den frühen Zeugnissen nicht greifbar ist und ihre Entstehung erst nach der Mitte des 2. Jahrhunderts angesetzt werden kann, als voll bestätigt ansah, konnte er sich mit Einzelüberlegungen wie etwa seiner sehr späten Datierung des 1. Clemensbriefs nicht durchsetzen. Ernst Dassmann stellte abschließend ein Patt zwischen Gegnern und Befürwortern der Historizität der römischen Petrustradition fest, bei dem es auch nach dieser Debatte geblieben ist: Man kann eine Anwesenheit des Petrus in Rom und sein Martyrium in der Stadt nicht ausschließen, aber auch nicht zwingend plausibel machen oder belegen. Bedeutung Innerhalb des Christentums Entwicklung des Petrusprimats Nach römisch-katholischer Auffassung ist Petrus der Stellvertreter Christi und als erster Bischof von Rom Leiter aller Ortsbischöfe (episcopus episcoporum). Er besetze also ein einzigartiges, durch Christus verliehenes Führungsamt über alle übrigen Ortskirchen, das auch ein Richteramt und ein autoritatives Lehramt einschließe. Er habe diese Vollmacht allen seinen Nachfolgern weitergegeben, so dass jeder römische Bischof rechtmäßiger Vorsteher (Papst) der „universalen Kirche“ sei. Diese Auffassung beruft sich primär auf das „Felsenwort“ (Mt 16,18) und das „Schlüsselwort“ (Mt 16,19), in Bezug auf das Lehramt auch auf („stärke deine Brüder“) und („weide meine Lämmer“). Christus verwende beim „Schlüsselwort“ absichtlich die Wortwahl aus der Amtseinsetzung Eljakims . So werde Petrus als Vater der Kirche („wird zum Vater“, vgl. Heiliger Vater) mit entsprechender Autorität eingesetzt. Das „Felsenwort“ sichere Petrus dabei – im Vergleich zu Eljakim – eine ungleich größere Beständigkeit seines Amtes zu. Tertullian verstand Mt 16,18 um 220 als erster als Einsetzung in ein Bischofsamt, betonte aber, Jesus habe dieses nur Petrus persönlich gegeben, nicht allen Bischöfen oder dem Bischof Roms. Cyprian von Karthago (Über die Einheit der Kirche 4; vgl. 59. Brief) deutete den Vers um 250 als Einsetzung des Petrus zum Leiter der Kirche. Jeder Bischof, nicht nur der Roms, folge ihm in diesem Amt. Solche juristischen Deutungen blieben für Jahrhunderte seltene Ausnahmen. Origenes und Ambrosius bezogen „dieser Felsen“ auf die angeredete Person und deuteten „Tore des Hades“ als Metapher für „Tod“. So werde Simon hier verheißen, dass er nicht vor Jesu Wiederkunft sterben werde. Dieser Deutung widersprach Hieronymus. Er bezog den Vers auf das Glaubensbekenntnis Petri, das die Kirche auch nach seinem Tod gegenüber feindlichen Mächten und Bedrängnissen, etwa Häresien, bis zu Jesu Wiederkunft vor dem Untergang schütze. Auch Johannes Chrysostomos (54. Homilie zu Matthäus, um 407) vertrat diese Deutung: Auch Augustinus von Hippo deutete die Zusage typologisch als Vorbildfunktion für alle Gläubigen, nicht als Vollmacht für ein erbliches Führungsamt. Calixt I. erhob als erster römischer Bischof einen gesamtkirchlichen Führungsanspruch in einzelnen Streitfragen wie dem Osterdatum, ohne diesen mit dem Felsenwort zu begründen. Den Petrusprimat vertrat um 400 erstmals der römische Bischof Damasus I., nachdem kirchliche Bezirksaufsichtsämter (Metropolitanverfassung) entstanden waren. Die vollständige Primatsidee, die auch die „Schlüsselgewalt“ (das höchste Richteramt im Christentum) und Lehrautorität umfasste, vertrat als erster Leo I. (440–461). Petrus war für ihn nicht nur princeps apostulorum (Apostelführer), sondern auch vicarius (Stellvertreter Christi) für die gesamte Kirche. Dies galt für ihn ebenso dem successor Petri, also allen folgenden römischen Bischöfen, die die Petrusprivilegien nach antikem Erbrecht so erbten, als seien sie mit dem Erblasser identisch. Dieser Anspruch setzte sich auch nach dieser theoretischen Entfaltung nur langsam im mittelalterlichen Christentum durch. Historisch gesehen ist der Petrusprimat aus der Idee der apostolischen Sukzession hervorgegangen, die nicht mit spezifischen Bibelstellen, sondern mit kirchenhistorischen Gegebenheiten und altkirchlichen Bischofslisten wie der von Irenäus von Lyon (um 300) begründet wurde. Während das Erste Vatikanische Konzil 1869–1870 den Petrusprimat noch um das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes ergänzte, hat das Zweite Vatikanische Konzil diesen Führungsanspruch zwar bestätigt, aber durch die Idee der Bischofskollegialität relativiert. So stellte der Codex Iuris Canonici 1983 fest: Reformatorische Auslegung Die aus der Reformation hervorgegangenen evangelischen und anglikanischen Kirchen lehnen wie die orthodoxe Kirche die Lehre eines „Petrusamtes“ und damit den Führungsanspruch des Papstes und seiner Kirche ab. Martin Luther widersprach dem Doppelanspruch des Papsttums auf ein höchstes kirchliches Richter- und Lehramt erstmals 1519 exegetisch und theologisch in einer eigenen Schrift. 1520 wies er die römisch-katholische Auslegung von Mt 16,18 f. mit Bezug auf und erneut zurück: In und  f. habe Christus das Amt der Schlüssel (Beichte) allen Jüngern zugesprochen und damit Mt 16,18 f. selbst so ausgelegt, Die Schlüsselzusage begründe weder eine Sondervollmacht Petri noch eine Regierungsmacht der Apostel, sondern umfasse nur das Bußsakrament (Beichte). Sie schenke allen gläubigen Sündern Christi Trost und Gnade, die sie einander weitergeben sollten. Auch  ff. („Weide meine Lämmer!“) begründe keine Herrschaft in der Christenheit, sondern beauftrage und ermutige mit Petrus alle Prediger, gegen alle Widerstände nur Christus allein zu verkünden. Dem müsse sich auch der Papst beugen. Mit seiner Anmaßung, das Petrusamt als Regierungs- und Lehramt zu deuten, stelle er sich über Gottes Wort, um es als Machtmittel zu missbrauchen. Menschen zu Ketzern zu erklären, nur weil sie dem Papst nicht gehorchten, sei gegen die Heilige Schrift gerichtet. Paulus selbst betone in : „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Petrus ist auch nach evangelischem Verständnis ein besonderer Jünger Jesu, aber nur als Ur- und Vorbild aller gläubigen Menschen, die trotz ihres Bekenntnisses zu Christus immer wieder versagen und trotz ihres Versagens von Gottes Zusage der gegenwärtigen Vergebung und zukünftigen Erlösung erhalten. Auch der Glaube ist nach evangelischem Verständnis keine Eigenleistung des Petrus, sondern reines Gnadengeschenk der stellvertretenden Fürbitte Jesu, des Gekreuzigten (ff): Dieses Gebet Jesu sei, so eine verbreitete evangelische Exegese, mit der Versöhnung des auferstandenen Jesus mit seinen Jüngern und der dadurch bewirkten Neukonstituierung des Jüngerkreises nach Ostern in Erfüllung gegangen. Die Kirche basiere daher nicht auf einer historischen Amtsnachfolge einzelner Petrusnachfolger. Sondern alle, die wie Petrus zu Jüngern Jesu werden, seien seine Nachfolger und damit Teil der Gemeinschaft, die Christus berufen habe, seine Zeugen zu sein. Gott sei in Christus allen Menschen gleich nahe, so dass außer Christus keine weiteren Mittler nötig und möglich seien. Dieses „Priestertum aller Gläubigen“ verbot für Luther jeden Rückfall in das seit dem stellvertretenden Sühnopfer des Gekreuzigten überwundene hierarchisch-sakrale, aus dem Tempelkult des Judentums stammende Amtsverständnis. Besonders das Matthäusevangelium lasse keinen Zweifel daran, dass die christliche Gemeinde nur auf dem Glaubensgehorsam aller ihrer Mitglieder erbaut sein könne. Denn dort wird die Bergpredigt Jesu mit dem Zuspruch eröffnet : Sie endet mit dem Anspruch : Demgemäß habe Petrus auch keine eigene Erstvision, sondern mit allen Jüngern gemeinsam den Auftrag des Auferstandenen erhalten, alle Getauften aus den Völkern das Befolgen der Gebote Jesu zu lehren: Die damit verbundene Zusage der Geistesgegenwart Christi sei der eigentliche „Fels“, auf dem die Kirche gebaut sei ( f.). Das Wirken des Heiligen Geistes lasse sich nicht erneut in menschliche Formen und Rituale zwängen und „festnageln“. So betont Manfred Kock für die Evangelische Kirche in Deutschland: Gedenktage Der Gedenktag von Petrus und Paulus ist der 29. Juni, und zwar für alle bedeutenden christlichen Kirchen wie die evangelischen, die anglikanischen, die römisch-katholische, die orthodoxen, die armenische oder die koptische. Petrus und Paulus zu Ehren ist in der orthodoxen Kirche ein leichtes Fasten, das sogenannte Apostelfasten, das eine Woche nach dem Pfingstfest beginnt und bis zu diesem Tag dauert, üblich. Ein weiterer Gedenktag gilt dem oben erwähnten Christusbekenntnis des Petrus. Dieser Tag wird von verschiedenen christlichen Kirchen am 18. Januar begangen. Ebenfalls am 18. Januar wurde seit dem 6./7. Jahrhundert im heutigen Frankreich Kathedra Petri gefeiert, bis Papst Johannes XXIII. es im Jahr 1960 mit dem Kathedra-Petri-Fest am 22. Februar zusammenlegte. Kathedra Petri, auch Petri Stuhlfeier genannt, erinnert an die Berufung des Simon Petrus als Apostelfürst (vgl. Mt. ). Ebenfalls auf einer biblischen Episode basiert das Fest St. Peter in Ketten. Es erinnert an die wundersame Befreiung des Simon Petrus aus dem Gefängnis, in welches er nach Absetzung von Pontius Pilatus geworfen worden war (siehe ). Patronanzen, Schutzheiliger und Anrufung Petrus ist einer der wichtigsten katholischen Heiligen und gilt als Schutzpatron der Päpste und der Städte Rom, Trier, Regensburg, Worms, Bremen und Posen. Weltweit sind wie der Petersdom im Vatikan zahlreiche Orte (St. Peter) und Kirchen (Peterskirche) nach Petrus benannt. Des Weiteren wurde nach ihm, dem Namenspatron des damaligen Zaren Peter I., die neu gegründete Stadt Sankt Petersburg benannt. Petrus ist auch Schutzheiliger der Berufe Metzger, Glaser, Schreiner, Schlosser, Schmied, Gießer, Uhrmacher, Töpfer, Maurer, Ziegelbrenner, Steinhauer, Netzweber, Tuchweber, Walker, Fischer, Fischhändler, Schiffer. Außerdem schützt er die Reuigen, Büßenden, Beichtenden, Jungfrauen und Schiffbrüchigen. Katholische Gläubige rufen Petrus als Heiligen an gegen: Besessenheit, Fallsucht, Tollwut, Fieber, Schlangenbiss, Fußleiden und Diebstahl. Petrus in Volksglauben und Brauchtum Allgemein verbreitet ist, Petrus als den Türsteher des Himmels anzunehmen, das bezieht sich auf den biblischen Spruch der , die auch sein Heiligenattribut bilden: Mit seinen Schlüsseln wird er als Himmelpförtner vorgestellt, der die anklopfenden Seelen der Verstorbenen abweist oder einlässt. Im Volksglauben wird er auch für das Wetter, insbesondere das Regenwetter verantwortlich gemacht. Ikonographie und Heiligenattribute Petrus wird gewöhnlich als alter Mann mit lockigem Haar und Bart (Erzvater) mit den Attributen Schlüssel, Schiff, Buch, Hahn oder umgedrehtem Kreuz dargestellt. Besonders der oder die Schlüssel Petri sind sein Hauptattribut; sie erscheinen häufig als heraldisches Symbol im Papstwappen, dem Wappen der Vatikanstadt wie auch zahlreicher kirchlicher Institutionen mit Petruspatrozinium (zum Beispiel Erzbistum Bremen, Bistum Minden, Bistum Osnabrück, Erzstift Riga, Kloster Petershausen bei Konstanz, Kloster St. Peter auf dem Schwarzwald) oder aus ihnen hervorgegangener Städte, Gemeinden oder Bundesländer (zum Beispiel Bremen und Regensburg). Das Wappen der Stadt Trier zeigt ihn ebenfalls (Blasonierung): „In Rot der stehende, nimbierte und golden gekleidete St. Petrus mit einem aufrechten, abgewendeten goldenen Schlüssel in der Rechten und einem roten Buch in der Linken.“ Das Gesicht wird auch auf dem Wappen von Trzebnica (Trebnitz) abgebildet. In der Kirchenkunst wird Petrus oft als Papst dargestellt, der die dreifache Tiara auf seinem Haupt trägt, einen Kreuzstab in der einen Hand und ein aufgeschlagenes Evangelium mit der anderen Hand hält. Nicht ungewöhnlich ist die Darstellung mit zwei Schlüssel für Binden und Lösen auf Erden und im Himmel . Ungewöhnlich ist das Bild des Petrus mit dem Fischernetz im Gewände des Westportals der Liebfrauenkirche in Trier. Die 1991/92 geschaffene Statue ist ein Werk des Bildhauers Theo Heiermann. Außerhalb des Christentums Im haitianischen Voodoo wird Simon Petrus synkretistisch mit der Figur des Loa Legba gleichgesetzt, einem beliebten Loa, der als „Schlüssel zur spirituellen Welt“ (daher die Identifikation) verehrt und häufig als Papa Legba bezeichnet wird. Petrus in der Kunst Die bedeutendsten Petrusdarstellungen der Renaissance, die den gotischen Typus aufgreifen, stammen wohl von Raffael, etwa links in der oberen Zone der Disputa (Fresko, 1509, Stanza della Segnatura, Palazzo Vaticano) und gleich zwei Mal in Raffaels Verklärung Christi (Transfiguration, 1516–1518, Pinacoteca Vaticana) in der Mitte unter dem Verklärten und breit im linken Eck der unteren Zone sitzend, hier aber nicht mit den Himmelsschlüsseln, sondern mit dem Buch des Lebens in der Hand. Auch die apokryphe Offenbarung des Petrus spielt in den Vorzeichnungen zu dem kürzlich von Gregor Bernhart-Königstein als Weltgericht erkannten letzten Gemälde Raffaels eine bedeutende Rolle. Bekannte Abbildung: Das Abendmahl von Leonardo da Vinci In der Musikgeschichte gibt es einige Werke, die sich auf Simon Petrus beziehen oder in denen er als Figur vorkommt. Hierzu gehört die Messevertonung Missa Tu es Petrus von Giovanni Pierluigi da Palestrina, die auf der auch von Palestrina stammenden Motette Tu es Petrus basiert. Ebenfalls aus der Spätrenaissance stammt die Madrigal-Sammlung Lagrime di San Pietro von Orlando di Lasso. In den Oratorien Le Reniement de Saint Pierre von Marc-Antoine Charpentier und I Penitenti al Sepolcro del Redentore von Jan Dismas Zelenka sowie in der Kantate Il pianto di San Pietro von Giovanni Battista Sammartini hat die Figur Petrus tragende Rollen. Zudem kommt Petrus in Passionsvertonungen vor. Die Petruslegenden fanden ihre literarische Verarbeitung etwa im Roman Quo Vadis von 1895 sowie dessen gleichnamiger Verfilmung von 1951. Literatur Grundwissen Peter Dschulnigg: Simon Petrus / Petros (des Johannes; Kephas). In: Josef Hainz u. a. (Hrsg.): Personenlexikon zum Neuen Testament. Patmos, Düsseldorf 2004, ISBN 3-491-70378-6, S. 281–285. Petrus im NT und Frühchristentum Oscar Cullmann: Petrus. 3. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn%20Innsbruck
Straßenbahn Innsbruck
Die Straßenbahn Innsbruck verfügt über fünf Linien auf einem meterspurigen Netz mit einer Länge von 19,5 Kilometern. Der elektrische Betrieb wurde 1905 aufgenommen. Die Stubaitalbahn nutzt das Netz der Straßenbahn von ihrem ehemaligen Endbahnhof bis zum Hauptbahnhof. Betreiber der Straßenbahn Innsbruck ist die Innsbrucker Verkehrsbetriebe und Stubaitalbahn GmbH. Geschichte Die Innsbrucker Lokalbahnen – Wegbereiter der städtischen Straßenbahn (1891–1904) Die Localbahn Innsbruck–Hall in Tirol (1891–1899) Mit der Südbahn von Kufstein zum Brenner erreichte 1858 die erste Eisenbahn Innsbruck. Sie verband schon damals die Städte Innsbruck und Hall in Tirol, jedoch nur wenige Male täglich. Deshalb tauchten schon bald Projekte auf, die beiden Städte anderweitig mit einer Lokalbahn zu verbinden. Doch bis es soweit sein sollte, vergingen noch knapp 40 Jahre. Anders als bei vielen anderen Straßenbahnbetrieben zog die Stadt Innsbruck die Errichtung einer Dampfstraßenbahn dem Bau einer Pferdebahn vor. Am 18. September 1889 erhielten Louis Hirsch, August Riedinger, Anton Prantl und Hermann Ritter von Schwind eine Konzession zum Bau und Betrieb einer „mit Dampf oder anderer Motorkraft zu betreibenden Localbahn“ von Innsbruck nach Hall in Tirol, die den unteren Stadtplatz in Hall mit dem Südbahnhof (dem heutigen Hauptbahnhof) in Innsbruck verbinden sollte. Darüber hinaus war noch eine Stichstrecke zum Bergisel geplant. Die Remisenanlagen hätten im Stadtteil Saggen gebaut werden sollen, doch aufgrund des schnellen Wachstums der Stadt war dort der benötigte Platz nicht mehr vorhanden. Darum wurde der Plan, die Strecke zum Südbahnhof zu führen, aufgegeben. Stattdessen wurde der Bergisel als Endbahnhof gewählt, da dort noch genügend Platz für Remisen zur Verfügung stand. Die eingleisig ausgeführte, 12,1 km lange Strecke konnte trotz Widerstand seitens der Stadtbevölkerung nach zwei Jahren Bauzeit am 1. Juni 1891 eröffnet werden. Die Bahn führte vom Bergiselbahnhof durch das Dorf Wilten bis in die Innsbrucker Innenstadt, den Inn entlang und durch den Saggen weiter zur Kettenbrücke, wo sie auf einer eigenen Brücke den Inn querte. Von dort folgte die Trasse der Haller Straße bis Hall. Die Betriebsführung oblag der 1893 gegründeten Actien-Gesellschaft Localbahn Innsbruck–Hall in Tirol (L.B.I.H.i.T.). Für den Betrieb wurden vier Dampflokomotiven, neun Personenwagen und zwei Güterwagen beschafft. Innerhalb von zwei Jahren wurde der Fuhrpark mit zwei bauartgleichen Lokomotiven und 19 bauartgleichen Wagen ergänzt. Die Fahrzeuge erhielten die Betriebsnummern 1–6 (Lokomotiven) und 1–23 (Personenwagen, davon fünf offene Sommerwagen). Anfangs verkehrten die Züge im Stundentakt. Im Jahr 1900 wurde der Halbstundentakt eingeführt, weshalb zwei weitere Lokomotiven (Betriebsnummern 7–8) und sechs Personenwaggons (Betriebsnummern 24–29) angeschafft werden mussten. Neben den Remisen am Bergiselbahnhof gab es noch einen zweiständigen Lokschuppen in Hall, in dem der täglich letzte Zug nach Hall übernachtete. Die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn (1900–1903) Da um die Jahrhundertwende im Innsbrucker Mittelgebirge der Sommertourismus aufzublühen begann, sollte dieses mit einer Bahn an die Stadt angebunden werden. Besonders die Orte Lans, Sistrans, Igls, Vill und Aldrans zogen die Fremden an. Daher wurde auch hier schon früh eine Bahn geplant. Am 15. Jänner 1900 erhielt die Stadt Innsbruck schließlich eine Konzession zum Bau einer dampfbetriebenen Lokalbahn auf das Plateau des Mittelgebirges. Die eingleisig ausgeführte, 8,4 km lange Bahn konnte bereits am 27. Juni desselben Jahres eröffnet werden. Diese Lokalbahn, die Innsbrucker Mittelgebirgsbahn (I.M.B.), nahm ihren Ausgang ebenfalls beim Bergisel und verband Innsbruck mit den Orten Aldrans, Lans, Sistrans und Igls. Aufgrund von Steigungen bis zu 46 Promille mussten leistungsstarke Dampflokomotiven beschafft werden: Es wurden drei Dreikuppler-Dampflokomotiven (1–3) und zwölf Personenwagen (101–112) erworben. Die Beiwagen waren baugleich mit den geschlossenen Wagen der Lokalbahn nach Hall, während die Lokomotiven größer und stärker waren. Die Betriebsführung oblag der L.B.I.H.i.T. Die Stubaitalbahn (1904) In der kleinen Ortschaft Fulpmes, am Eingang des Stubaitals gelegen, gab es einige Kleineisen verarbeitende Betriebe. Darum musste eine bessere Verkehrsanbindung an das Stubaital hergestellt werden. Da 1903 das Sillkraftwerk bei Innsbruck eröffnet wurde, stand genügend Leistung für eine elektrisch betriebene Bahnstrecke zur Verfügung. Auch gab es bereits erste Planungen einer Straßenbahn in Innsbruck. Also wurde die Errichtung einer Lokalbahn beschlossen, die vom Südbahnhof zum Bergisel und in weiterer Folge die Brennerstraße entlang durch die Dörfer Natters, Mutters, Kreith und Telfes nach Fulpmes führen sollte. Damit wäre der Südbahnhof an das Straßenbahnnetz angeschlossen und der Grundstein für die städtische Straßenbahn gelegt worden, andererseits wäre Fulpmes verkehrstechnisch erschlossen worden. Da die AEG Union die Technologie der Wechselstrommotoren erproben wollte und sich dafür an dem Bau der Bahn finanziell beteiligen wollte, fiel die Wahl des Stromsystems auf Einphasen-Wechselstrom bei 42,5 Hertz. Die Lokalbahnzüge sollten auf der Überlandstrecke zwischen dem Stubaitalbahnhof am Fuße des Bergisels bis nach Fulpmes mit 2500 Volt verkehren und auf der Strecke vom Südbahnhof bis zum Stubaitalbahnhof gleich wie die Straßenbahn mit 600 Volt fahren. Es wurde die Aktiengesellschaft Stubaital Bahn (A.G.St.B) gegründet. 1903 wurde mit dem Bau des Überlandabschnittes begonnen und am 31. Juli 1904 konnte sie eröffnet werden. Der Betrieb oblag der L.B.I.H.i.T. Allerdings erwies sich das Stromsystem als unausgereift, weswegen es zu zahlreichen Störungen im Betrieb kam. Deswegen wurde für die Stadt eine Betriebsspannung von 500 Volt Gleichspannung gewählt, was die Attraktivität der Stubaitalbahn etwas senkte, da nun der Anschluss an den Südbahnhof fehlte. Zwar gab es in den folgenden Jahren immer wieder Pläne, die Bahn auf einer eigenen Trasse zum Südbahnhof zu führen, doch scheiterten diese dann an der schlechten finanziellen Lage des Unternehmens. Ausbau der Lokalbahn und Errichtung der Stadtbahn (1905–1914) Die Stadtbahn und die Saggenlinie (1905–1908) Am 15. Juli 1905 eröffnete die L.B.I.H.i.T. schließlich die erste Straßenbahnlinie in Innsbruck, welche mit 500 Volt Gleichspannung betrieben wurde. Die als „Stadtbahn“ bezeichnete Linie war eingleisig ausgeführt und 2,3 Kilometer lang. Sie führte vom Südbahnhof beginnend bis zum Staatsbahnhof (dem heutigen Westbahnhof). Eine Stichstrecke führte vom Staatsbahnhof aus über eine Eisenbrücke über die Arlbergbahn zum Bergiselbahnhof. Die Betriebszeiten waren am Anfang noch auf den Zeitraum zwischen 7 und 20 Uhr beschränkt. Noch vor Eröffnung der Stadtbahn wurde bereits an einer Erweiterung gearbeitet. Der im Aufbau begriffene Stadtteil Saggen sollte an die Stadtbahn angeschlossen werden. Hierfür wurde die 1,7 Kilometer lange „Saggenlinie“ geplant, die am 18. November 1905 eröffnet wurde. Die Strecke zweigte in der Museumstraße von der Stadtbahn ab, folgte dem Südbahn-Viadukt entlang bis zur Bundesbahndirektion und führte von dort weiter zur Adolf-Pichler-Straße (heutige Conradstraße). Ab der Eröffnung der Saggenlinie wurde der Südbahnhof nicht mehr direkt angefahren. Die Triebwagen fuhren vom Staatsbahnhof direkt in den Saggen. Ein Triebwagen, der zwischen Museumstraße und Südbahnhof pendelte, bildete dann den Anschluss an diesen. Für den Betrieb der Linien wurden für die Stadtbahn sieben und zur Eröffnung der Saggenlinie drei weitere zweiachsige Elektrotriebwagen bei der Grazer Waggonfabrik angeschafft, die mit den Betriebsnummern 36–42 beziehungsweise 43–45 in den Bestand aufgenommen wurden. Da die Fahrgastzahlen rapide anstiegen, wurden einige Beiwagen der L.B.I.H.i.T. zur Verstärkung der Stadtbahn herangezogen. So konnte ein Zug mit bis zu drei Beiwagen verstärkt werden. Da die Localbahn ihre Beiwagen selbst dringend benötigte, mussten bereits 1906 vier Beiwagen beschafft werden, die mit den Betriebsnummern 61–64 in den Bestand aufgenommen wurden. Außerdem wurden zwei der wenig benötigten Sommerbeiwagen der Localbahn für den elektrischen Betrieb auf der Stadtbahn adaptiert und bekamen somit eine elektrische Beleuchtung, eine Solenoidbremse, elektrische Heizungen und Steckgitter bei den Plattformen. Im September 1906 wurde die Hungerburgbahn eröffnet; die Saggenlinie hätte bis zur Talstation der Bahn verlängert werden sollen, dieser Plan scheiterte allerdings zunächst, da die Straße dorthin noch nicht fertiggestellt war. Außerdem wollte der Stadtsenat nicht zwei Gleise in derselben Straße haben, da bereits die Lokalbahn dort durchfuhr. In Hinblick auf einen weiteren Ausbau der Straßenbahn nach Amras bemühte sich die Localbahngesellschaft um eine Konzession für eine Strecke von der Andreas-Hofer-Straße durch die Maximilianstraße zum Südbahnhof. 1908 wurde hier eine neue Linie eröffnet und mit der Linie, die zwischen Museumstraße und Südbahnhof pendelte, zusammengelegt. Bereits 1907 wurden zwei weitere Triebwagen (Betriebsnummern 46+47) bestellt, die baugleich mit denen der Stadtbahn waren, um diese Linie bedienen zu können. Die Elektrifizierung der Localbahn nach Hall (1909–1911) 1909 war es schließlich so weit, die Elektrifizierungsarbeiten auf der Localbahn nach Hall begannen. Gleichzeitig wurde die Streckenführung der Bahn im Saggen geändert, so dass die Localbahn nicht mehr durch die Falkstraße fuhr, sondern durch die Kaiserjägerstraße zum Rennweg. Dies ermöglichte auch die Verlängerung der Saggenlinie bis zur Talstation der Hungerburgbahn. Auch wurde ein weiteres Gleis von der Andreas-Hofer-Straße aus, durch die Franz-Fischer-Straße zum Wiltener Platzl gelegt, um die Bahnschranken in der Leopoldstraße umgehen zu können. Zusätzlich wurde eine neue Linie eröffnet, die zwischen den Lokalbahnzügen die Strecke der Lokalbahn in der Stadt bedienen sollte. Diese Linie verkehrte zwischen dem Staatsbahnhof und dem Gasthof Dollinger bei der Kettenbrücke. Mit der Eröffnung dieser Linie wurden auch Liniennummern für die einzelnen Linien vergeben. Die Saggenlinie bekam die Nummer 1, die neu eröffnete Linie die Nummer 2, die Linie, die den Südbahnhof bediente, bekam die Nummer 3, und die Lokalbahn nach Hall bekam die Nummer 4. Für die Elektrifizierung der Linie 4, oder wie sie im Volksmund nun zunehmend genannt wurde, der „Haller“, wurden acht vierachsige Triebwagen bei der Grazer Waggonfabrik bestellt, die statt der Dampflokomotiven die Betriebsnummern 1–8 bekamen. Für die Linie 2 wurden nochmals sechs Stadttriebwagen bestellt, die die Betriebsnummern 48–54 bekamen und über stärkere, sogenannte Schnellläufermotoren verfügten. Anfang des Jahres 1910 wurden die Elektrifizierungsarbeiten auf der Linie 4 abgeschlossen. Der letzte Dampfzug verkehrte am 6. Jänner 1910, fortan erfolgte der Betrieb mit 1000 Volt Gleichspannung. Die 29 Beiwagen der Dampfstraßenbahn wurden für den elektrischen Betrieb umgerüstet. Auf der Linie 1 waren auf Grund der stetig steigenden Fahrgastzahlen oft Dreiwagenzüge anzutreffen. Die Erschließung Pradls (1911–1914) 1911 wurde eine Detailplanung der Verlängerung der Linie 3 nach Amras in Auftrag gegeben. Von der Museumstraße aus, sollte sie über die Gaswerkbrücke, durch die Defregger- und Pradler Straße, entlang der Amraserstraße bis Amras geführt werden. Allerdings waren die Straßen bis dahin noch nicht rechtzeitig fertiggestellt, so dass vorerst nur die Strecke bis Pradl gebaut werden konnte. Obwohl die neu gebaute Gaswerkbrücke für den Betrieb einer Straßenbahn extra stark dimensioniert wurde, stellte sich heraus, dass bei der Planung die Anforderungen unterschätzt worden waren, weswegen diese nur von leeren Triebwagen passiert werden konnte. Deswegen wurde ein Pendelverkehr zwischen der Gaswerkbrücke und der Endstation in Pradl auf der einen Seite und Gaswerkbrücke Landesgericht (Maximilianstraße) auf der anderen Seite eingerichtet. Die Brücke musste zu Fuß überquert werden. Für den Betrieb der Linie 3 wurden nochmals vier weitere Stadttriebwagen mit den Betriebsnummern 32–35 gekauft. Dies sollte für die nächsten 50 Jahre die letzte größere Lieferung an Neufahrzeugen für Innsbruck bleiben. Im Jahr 1911 wurde ein neues Nummerierungsschema für die Fahrzeuge eingeführt. Die Triebwagen behielten ihre bisherigen Betriebsnummern. Die Beiwagen wurden von 101 beginnend nummeriert, wobei die Igler Beiwagen ihre Nummer behielten, daran anschließend die Haller Beiwagen und zuletzt die Stadtbeiwagen die Nummern bekamen. Die Güterwagen mussten alle umnummeriert werden. Sie bekamen Nummern im 200er Bereich. Die Fahrzeuge der Stubaitalbahn behielten ihre Nummern. 1912 verfügte die L.B.I.H.i.T. über vier eingleisige Linien, für den Betrieb standen 31 Triebwagen, 33 Beiwagen, sechs Güterwagen und eine Schneekehre zur Verfügung. Die I.M.B. verfügte über drei Dampflokomotiven, zwölf Beiwagen und fünf Güterwagen, die A.G.St.B. über vier Triebwagen, sechs Beiwagen und 17 Güterwagen. 1913 wurde eine neue Brücke über die Sill neben der Gaswerkbrücke geplant, so dass die Linie 3 ohne Unterbrechung bis nach Pradl fahren konnte. Die Brücke wurde 1914 fertiggestellt. Auch wurden 1914 bereits erste Streckenabschnitte in der Stadt für den zweigleisigen Betrieb ausgebaut. Die Weltkriege und die Zwischenkriegszeit (1914–1945) Der Erste Weltkrieg (1914–1918) Obwohl in den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs die Beförderungszahlen rasant anstiegen, hatte L.B.I.H.i.T. mit Ersatzteil- und Personalmangel sowie zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. So wurden 1914 dermaßen viele Bedienstete der Lokalbahn eingezogen, dass der Betrieb auf den Linien 2 und 3 für zwei Monate eingestellt werden musste. Ab 1915 wurde sogar erstmals weibliches Fahrpersonal eingesetzt. Auch wurde in diesem Jahr ein Stutzgleis am Südbahnhof gebaut, so dass Verwundete in die Lokalbahn umgeladen werden und dann zur Krankenverteilanstalt in Amras (heute Conradkaserne) – wohin 1916 auch die Linie 3 verlängert wurde – gebracht werden konnten. Auch wurden dieses Jahr zwei großräumige Beiwagen von der Lokalbahn Lana–Meran gekauft. Die zunehmenden Fahrgastzahlen und das abnehmend geschulte Personal führten zu ständigen Improvisationen, da Ersatzteile knapp wurden. 1918 kaufte die L.B.I.H.i.T. vier Dampfloks der Genfer Straßenbahn, um die elektrischen Triebwagen für den innerstädtischen Verwundetentransport frei zu bekommen. Allerdings wurden sie bis auf einige Probefahrten nach Hall nie eingesetzt, da der Krieg davor beendet war. Die Zwischenkriegszeit (1919–1938) 1919 wurde trotz finanzieller Engpässe bereits wieder an den Ausbau der Straßenbahn gedacht. So wurde die Linie 3 bis zum Pradler Friedhof verlängert und in der Stadt wurden einige Streckenteile zweigleisig ausgebaut. Ende 1920 musste die Linie 2 wegen Ersatzteilmangels eingestellt werden. Ab 1921 verkehrte die Linie 3 nicht mehr bis zum Friedhof, sondern nur noch zur alten Endhaltestelle beim Lindenhof in Pradl. Die L.B.I.H.i.T. eröffnete am 27. Juni 1923 die als Nummer 0 bezeichnete Innenstadtrundlinie, da die Stadtregierung eine dauerhafte Anbindung des Hauptbahnhofes an die Innenstadt forderte. Da diese Linie sich jedoch nicht bewährte, wurde sie bereits zwei Monate darauf aufgelassen und nach anderen Alternativen gesucht. Am 1. Mai 1924 wurde die Linie 0 erneut bedient, da keine Einigung auf ein sinnvolles Projekt erzielt werden konnte. Aber bereits kurz darauf wurde die Linie wieder eingestellt. In diesem Jahr wurde die noch heute bestehende Saggenschleife eröffnet, so dass die Linie 1 an der Endhaltestelle nicht mehr umsetzen musste, sondern durchfahren konnte. Mitte 1925 wurde der Betrieb auf der Linie 0 wieder aufgenommen, allerdings diesmal mit der Liniennummer 5. 1926 ging die Linie 2 wieder für ein halbes Jahr in Betrieb, bevor sie wegen mangelnder Frequentierung erneut eingestellt wurde. Auch wurde in diesem Jahr die Endstation der Linie 3 vom Landesgericht zum Wiltener Platzl verlegt. In den folgenden Jahren wurde die Linie 5 je nach Bedarf bedient. Da die I.M.B. 1927 große finanzielle Probleme hatte, überlegte die Stadt, die Lokalbahn einzustellen, worauf die L.B.I.H.i.T. die Lokalbahn aufkaufte. Ein Jahr später rüstete die L.B.I.H.i.T. zwei 1917 von der Lokalbahn Meran – Lana („Meraner“ genannt) übernommene Beiwagen für den Einsatz auf der I.M.B. aus. 1929 wurde auch die Endhaltestelle der Linie 4 vom Bergisel zum Wiltener Platzl verlegt. 1930 wurde in Innsbruck der Rechtsverkehr eingeführt, was zahlreiche teure Anpassungen der Gleise nötig machte. Um im Sommer 1930 und 1931 die Linie 5 nicht mehr bedienen zu müssen und den Bahnhof trotzdem bedienen zu können, wurde die Linie 1 zweigeteilt. Vom Bergisel aus fuhren die Triebwagen mit der Linienbezeichnung 1B Richtung Bahnhof. Dort hatte der Triebwagen einen kurzen Aufenthalt und wechselte das Liniensignal auf 1H. Dann fuhr er durch den Saggen und wieder zurück zum Bahnhof, um von dort als 1B Richtung Bergisel weiterzufahren. Die wegen der Weltwirtschaftskrise ausgebliebenen Touristen sorgten 1932 für die Abschaffung der Verstärkungslinien 1B und 1H. Auf der Linie 5 verkehrten auch nur mehr sporadisch Züge. Da es schon länger Pläne gab, die Mittelgebirgsbahn zu elektrifizieren, wurde 1933 ein Triebwagen der Haller mit vier Motoren ausgerüstet und auf der Bergstrecke der Stubaitalbahn bis Mutters erprobt. Für die Probefahrt wurde von Innsbruck aus Gleichstrom eingespeist. Da die Probefahrt zur vollen Zufriedenheit verlief, wurde mit den Vorbereitungen zur Elektrifizierung der I.M.B. begonnen. 1935 wurde ein weiterer Triebwagen mit vier neuen, stärkeren Motoren ausgerüstet. Am 18. Juni wurde schließlich auf der I.M.B. der elektrische Betrieb mit 1000 Volt Gleichspannung aufgenommen und sie wurde mit der Liniennummer 6 in das städtische Nummerierungsschema eingereiht. Für den elektrischen Betrieb wurden die Igler Beiwagen mit einer elektrischen Beleuchtung und Heizung ausgerüstet. Im Gegensatz zu den Haller Beiwagen bekamen sie auch noch eine Solenoidbremse. Die beiden ehemaligen Meraner Beiwagen wurden nach der Elektrifizierung nicht mehr für den Betrieb auf der Bergstrecke herangezogen. Der Zweite Weltkrieg (1939–1945) Der Neubau der Mühlauer Brücke wurde in der nationalsozialistischen Zeit fertiggestellt, der Rennweg dadurch zu einer wichtigen Ein- und Ausfallstraße. Deswegen wurden 1939 die Schienen der Lokalbahn nach Hall dort abgetragen. Die Linie 4 benutzte von da an die Schienen der Linie 1 um zur Mühlauer Brücke zu gelangen. 1940 wurde ein weiterer Triebwagen der Haller mit vier stärkeren Motoren für den Betrieb nach Igls ausgerüstet. Die so freigewordenen Motoren wurden in zwei andere Triebwagen eingebaut, so dass nun gesamt fünf viermotorige Fahrzeuge zur Verfügung standen. Die abgetragenen Schienen vom Rennweg wurden für den zweigleisigen Ausbau der Linie 3 und deren Verlängerung 1941 bis zur Rudolf-Greinz-Straße verwendet, wo eine Wendeschleife angelegt wurde. Auch wurden in diesem Jahr die Innsbrucker Verkehrsbetriebe unter Einbeziehung der L.B.I.H.i.T. und einiger lokaler Busunternehmen gegründet. Während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer starken Zunahme der Beförderungszahlen. In den Jahren 1941 und 1942 verdoppelten sich die Fahrgastzahlen auf 14,5 Millionen. Die geplante Neuanschaffung von Fahrzeugen konnte nicht durchgeführt werden, da die Firmen Rüstungsaufträgen höhere Priorität einräumten. Es wurden allerdings noch einige Ersatzteile geliefert, so dass zwei zweimotorige Triebwagen der Lokalbahn nach Hall mit je zwei stärkeren Motoren ausgerüstet werden konnten. 1944 wurde ein ursprünglich für die Belgrader Straßenbahn gedachtes Fahrzeug kriegsbedingt nach Innsbruck geliefert. Der von Breda aus Mailand hergestellte Großraumtriebwagen wurde als Nummer 60 in den Bestand eingereiht und war aufgrund seiner modernen Ausstattung bei Fahrern und Fahrgästen sehr beliebt. Während des Kriegs wurde die Strecke der Linie 6 mehrmals durch Fliegerbomben schwer beschädigt. Auch der Fuhrpark der Straßenbahn litt gegen Kriegsende stark an Ersatzteilmangel, ein Stadttriebwagen wurde zu einem Beiwagen umgebaut. Der Großteil der Fahrzeuge blieb jedoch von Bombentreffern verschont. Der Wiederaufbau (1945–1960) Nach dem Krieg wurden die zerstörten Streckenabschnitte nach und nach wieder aufgebaut, sodass bereits Ende August 1945 alle Strecken wieder befahrbar waren. Der Fuhrpark konnte allerdings nur notdürftig wieder einsatzfähig gemacht werden. 1947 schenkte Winterthur – die Partnerstadt von Hall – Hall einen Triebwagen. Diese gab den Wagen an die IVB weiter. 1949 sollten neue Triebwagen beschafft werden, wozu es aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel nicht kam. 1950 wurden sieben Triebwagen der Basler Verkehrs-Betriebe gekauft, um den überstrapazierten Fuhrpark etwas zu entlasten. Da anfangs sogar das Geld für Farbe knapp war, fuhren sie die ersten zwei Jahre weiterhin in der grünen Basler Lackierung durch Innsbruck. 1952 bekamen die IVB nochmals zwei Triebwagen und drei Beiwagen aus Basel. 1953 wurden mehrere Trieb- und Beiwagen der rechtsufrigen Thunerseebahn gekauft. Allerdings erwiesen sich diese nicht als für den Betrieb auf der Linie 4 tauglich, so dass die Beiwagen zur Stubaitalbahn kamen und die Triebwagen nur als Rangierfahrzeuge benutzt wurden. 1955 konnten nochmals vier Triebwagen von den Verkehrsbetrieben Zürich beschafft werden. Die neuen Fahrzeuge ersetzten nach und nach die Stadttriebwagen. Dabei wurden die hinzugekommenen Fahrzeuge modernisiert, erhielten Compactkupplungen und zum Teil Schienenbremsen. Auch wurden die Stadtbeiwagen und ehemaligen Meraner Beiwagen mit den neuen Fahrzeugen zusammen eingesetzt. 1956 wurde die Konzertbrücke fertig gestellt, weswegen der eiserne Viadukt über die Arlbergbahn abgetragen werden konnte. Da es nun auch zu keiner Bahnkreuzung mehr in der Leopoldstraße kam, wurde die Strecke durch die Franz-Fischer-Straße überflüssig und abgetragen. Der Rückbau (1960–1975) In den 1960er Jahren setzten die IVB die Modernisierung des Fahrzeugparks fort. 1960 wurden sechs von Lohner in Duewag-Lizenz gebaute Großraumwagen in Betrieb genommen und fortan als Nummer 61–66 bezeichnet. Um eine Wendemöglichkeit für Einrichtungswagen beim Bergisel zu ermöglichen, wurde im Juni 1960 ein Gleisdreieck errichtet. Im Oktober desselben Jahres wurde das Gleisdreieck durch eine Kehrschleife ersetzt. Die nun nicht mehr benötigte Verbindung zwischen Bergiselbahnhof und Wiltener Platzl durch die Leopoldstraße wurde abgetragen, und die Linie 4 verkehrte nun über den Hauptbahnhof als Endhaltestelle. 1964 wurde die Strecke in der Leopoldstraße zum Wiltener Platzl gänzlich abgetragen, und die Linie 3 verkehrte auch über den Hauptbahnhof. 1965 kam es zum letzten Mal für die nächsten 30 Jahre zum Ausbau des Straßenbahnnetzes. Die Linie 3 wurde bis zur heutigen Endhaltestelle in Amras verlängert. Durch die Anschaffung von sieben Gelenkwagen – als Nummer 71–77 eingereiht – in den Jahren 1966 und 1967 konnten die letzten Stadtbahnwagen ausgemustert werden. In Hinblick auf die zweiten Olympischen Spiele in Innsbruck 1976 wurde die Linie 4 als Straßenbahn in Frage gestellt. Die Reichenauer Brücke (seit 1980: Grenobler Brücke) sollte erneuert und die Haller Straße vierspurig ausgebaut werden, was auch einen größeren Umbau der Gleisanlagen der Haller zur Folge gehabt hätte. Deshalb wurde beschlossen, die Lokalbahn ab sofort als Buslinie weiter zu führen. Am 6. Juni 1974 verkehrte der letzte Zug auf der Linie 4. Die Linie 4 wurde am 7. Juni auf Busbetrieb umgestellt. Die Haller Linie war bis zu ihrer Einstellung mit den originalen, 1909 gebauten Triebwagen und den für den elektrischen Betrieb adaptierten Dampfstraßenbahn-Beiwagen betrieben worden. Die Triebwagen 1, 5, 7 und 8 wurden ausgemustert, die drei anderen Triebfahrzeuge 2, 3 und 4 wurden endgültig der Linie 6 zugeteilt. Triebwagen 6 war bereits davor abgestellt worden, da man eines der Drehgestelle als Ersatzteil für Triebwagen 3 benötigte. Die Modernisierung (1976–1983) Im Jahr 1976 stand die Straßenbahn nach der Präsentation des Generalverkehrsplans 1976 kurz vor der Einstellung. Wegen der hohen Kosten für die Anpassung sämtlicher Gleisanlagen an die neu geplanten Linienführungen erwog die Stadtverwaltung, die Straßenbahn durch Gelenkbusse zu ersetzen. Die Linie 6 und die Stubaitalbahn sollten wegen des Ausbaus der Autobahn eingestellt werden, da die ursprüngliche Trasse genau durch die Betriebshöfe geführt werden sollte. Letztendlich entschied sich die Stadtverwaltung für die Finanzierung der Baumaßnahmen für die Linienänderungen und somit für den Erhalt der Straßenbahn. Die Adaptierungen wurden im Sommer 1976 vorgenommen. Ab dem 14. Oktober 1976 verkehrten die Linien folgendermaßen: Linie 1: Bergisel – Hungerburgbahn Linie 3: Amras – Innenstadt – Amras Linie 3/1: Bergisel – Amras (HVZ-Verstärker in der Früh) Linie 6: Igls – Bergisel Da die alten Remisen am Bergiselbahnhof nicht mehr zeitgemäß waren und in der Nähe des Bergisels ein Pressezentrum für die Olympischen Spiele errichtet werden sollte, wurde beschlossen, das Pressezentrum so auszulegen, dass nachher die Innsbrucker Verkehrsbetriebe dahinein übersiedeln konnten. 1977 wurden die neuen Räumlichkeiten von den IVB in Besitz genommen und ein Teil des alten Bergiselbahnhofs abgebrochen. Auch wurden 1976 acht gebrauchte Zweirichtungstriebwagen von der Hagener Straßenbahn gekauft. Vorerst auf der Linie 1 eingesetzt, wurden sie in den nächsten Jahren für den Einsatz auf der Linie 6 umgebaut. Nach dem Kauf der ehemaligen Hagener wurden 1977 die letzten Holzkastenwagen auf den Stadtlinien abgestellt. Lediglich die ex-Züricher Triebwagen 21 und 19 sowie der ehemalige Meraner Beiwagen 147 blieben als Schienenschleifwagen bzw. als Weihnachtswagengarnitur im Bestand. Bereits 1980 wurde ein neues Verkehrskonzept beschlossen, demgemäß die Straßenbahn wieder ausgebaut werden sollte. Eine Linie sollte in das Olympische Dorf und eine in die Reichenau gebaut werden. Auch sollte die Linie 4 auf einer anderen zeitgemäßeren Trasse wieder aufgebaut werden. Für dieses Verkehrskonzept wurden sechs- und achtachsige Gelenkstriebwagen aus Bielefeld gekauft sowie eine neue große Straßenbahnhalle im neuen Betriebshof gebaut. 1981 hatten schließlich auch die alten Holzkastentriebwagen auf der Igler ausgedient, und die Iglerbahn wurde von nun an mit ehemaligen Hagener Triebwagen bedient. Auch wurde nun der letzte Teil des alten Betriebsbahnhofs abgerissen. Es wurde beschlossen, die Stubaitalbahn, deren Fuhrpark seit Anbeginn nie eine Erneuerung erfuhr, auf Gleichstrom umzustellen und mit ehemaligen Hagener Triebwagen zu betreiben. 1983 war es schließlich so weit, dass die Alte Stubaitalbahn zum letzten Mal fuhr. Nach einigen Tagen Umstellarbeiten konnte der Gleichstrombetrieb aufgenommen werden. Die Züge der Stubaitalbahn endeten von da an nicht mehr am Stubaitalbahnhof, sondern am Hauptbahnhof. Zu diesem Zeitpunkt gründeten sich auch die Tiroler MuseumsBahnen, welche in den Hallen und Remisen des alten Stubaitalbahnhofs ihre Unterkunft fanden. 1984 wollten die IVB weitere ehemalige Hagener Triebwagen aus Belgrad rückkaufen, um die Linie 6 bis zur Hungerburgbahn verlängern zu können. Da dieser Versuch aber fehlschlug, wurde die Linie 1985 auf Einrichtungstriebwagen umgestellt. Hierfür wurden die ehemaligen Bielefelder Triebwagen benutzt. Auch wurden die Haltestellen für den Einrichtungsbetrieb adaptiert (Bahnsteige auf beiden Seiten) und der Rechtsverkehr wurde eingeführt. Aufgrund der geringen Fahrgastanzahl wurde die Linie 6 somit auch die erste schaffnerlos fahrende Linie in Innsbruck. Die Triebwagen der Linie 6 waren in den Umlauf der Linie 1 eingebunden, und jede halbe Stunde fuhr ein Triebwagen als Linie 6 betafelt bei der Hungerburgbahn-Talstation los, während der von Igls kommende Wagen sich wieder als Linie 1 in deren Umlauf bis zur Hungerburg eingliederte. Die Moderne (1983–1999) 1986 wurde das neue Verkehrskonzept gekippt und die Stadtregierung beschloss, anstatt der Straßenbahn in den Osten Innsbrucks zwei Oberleitungsbuslinien einzurichten. Einige schon bestellte und bezahlte Straßenbahnen wurden daraufhin verschrottet. Auch wurden die kurzen Lohner ausgemustert. Anfang der 1990er Jahre hätten neue Fahrzeuge für die Stubaitalbahn beschafft werden sollen. Allerdings erwies sich das als zu teuer, weswegen die ehemaligen Hagener Triebwagen eine Erneuerung bei Bombardier erhielten, um an das Verkehrsaufkommen und die aktuelle Gesetzeslage angepasst zu werden. 1995 wurden das erste Mal seit langem in Innsbruck wieder neue Schienen verlegt. Das zweite Gleis in der Museumstraße wurde wieder eingebaut, und eine Schleife über den Marktplatz wurde neu eröffnet. 1996 stand die Linie 6 wieder vor der Einstellung. Aufgrund einer Unterschriftenaktion in der Bevölkerung konnten allerdings finanzielle Mittel für die Linie bereitgestellt werden. Als Anreiz für die Linie verkehrten von nun an auch täglich zwei Nostalgiezüge mit den alten Igler Triebwagen. Ende der 1990er Jahre kam wieder die Diskussion über die Einstellung der Straßenbahn in Innsbruck auf. Die Aufrechterhaltung dreier Systeme (Bus, Bahn, Oberleitungsbus) galt auf Dauer als zu kostspielig. Deswegen wurde angedacht, entweder den Oberleitungsbus oder die Straßenbahn stillzulegen. Letztendlich konnte sich die Straßenbahn durchsetzen und ein neues Regionalbahnkonzept wurde beschlossen. Ausbau im Rahmen von Straßenbahnkonzept und Regionalbahnkonzept (1999–2018) Seit dem Gemeinderatsbeschluss 1999, die Straßenbahn weiter auszubauen und nicht einzustellen, werden laufend Bauarbeiten und Erneuerungen durchgeführt. Dies bedingt im Sommer oft Schienenersatzverkehr, da es zahlreicher Gleisarbeiten bedarf, weil die neuen Wagen breiter sind und einen höheren Verschleiß haben. Erstmals seit 1911 wird damit wieder in großem Umfang am Ausbau der Straßenbahn gearbeitet. Teile des Betriebshofes sind ebenso erneuert und an moderne Standards angepasst worden. Das Straßenbahnkonzept wurde von der Stadt Innsbruck am 18. September 2001 beschlossen, das um Stadtbahnstrecken in Vororte erweiterte Regionalbahnkonzept am 17. November 2004. 2004 wurde der Umbau des Hauptbahnhofsvorplatzes beendet, wobei bereits die Weichen für die Stubaitalbahn-Direktanbindung und die Gleise für die Regionalbahn im Bereich des Hauptbahnhofs gelegt wurden. Auch wurden neue Arbeitswagen (ein Arbeitstriebwagen und zwei Güterloren) angeschafft, um die annähernd 100 Jahre alten Haller Triebwagen 2 und 3 zu entlasten. 2005 wurden die Gleise in der Andreas-Hofer-Straße und der Anichstraße für die neuen Straßenbahnwagen angepasst, da die neuen Wagen um 20 cm breiter (gesamt 2,4 m) sind als die alten (2,2 m). Auch wurden die ersten Haltestellen für die neuen Niederflurfahrzeuge angepasst, so dass die Fahrgäste erstmals ohne Niveauunterschied einsteigen können. Ende 2005 wurden 22 neue Straßenbahngarnituren bei Bombardier bestellt. 2006 wurden weitere Haltestellenadaptionen und Kanalschachtsanierungen wegen des höheren Achsdrucks der neuen Wagen durchgeführt. Anfang 2007 wurde der O-Bus-Betrieb in Innsbruck aufgrund des anstehenden Umbaus der Linie O zur Straßenbahn eingestellt. 2007 wurden in Vorbereitung auf die Neufahrzeuge fast alle Weichen mit Funkweichensteuerung ausgerüstet, vorher wurden sie über Oberleitungskontakte geschaltet. Die meisten restlichen Haltestellen im Stadtnetz wurden 2007 auch für die Niederflurwagen angepasst. Einführung der Niederflurstraßenbahn Am 17. Oktober 2007 wurde der erste Niederflurstraßenbahnwagen geliefert. Im November 2007 wurde eines der ältesten, ständig befahrenen Gleisstücke in Innsbruck in der nördlichen Maria-Theresien-Straße stillgelegt. Ende 2007 wurde der Straßenbahn- und Regionalbahn-Ausbau von Stadt und Land in seiner endgültigen Form beschlossen, Anfang Jänner 2008 durchgeführt. Anfang Juli 2008 wurde das erste Altfahrzeug aus Innsbruck, Triebwagen 53, nach Bielefeld abtransportiert. Elf weitere Fahrzeuge wurden 2008/2009 zum Straßenbahnbetrieb nach Arad gebracht und vier Stadtfahrzeuge sowie fünf ehemalige Hagener wurden nach Lodz überführt, womit noch vier Duewag-Gelenktriebwagen vorerst in Innsbruck erhalten blieben. Am 11. März 2008 wurde der erste neu gelieferte Niederflurtriebwagen für Innsbruck zugelassen, um schließlich am 27. März 2008 den planmäßigen Betrieb auf der Linie 1 aufzunehmen. Die Linie STB wird seit Frühjahr 2008 im 30-Minuten-Intervall bis Kreith verdichtet und durch Lichtsignalanlagen an allen größeren Bahnübergängen beschleunigt. Bis Fulpmes wird nur noch alle 60 Minuten gefahren. Seit Juli 2009 sind alle Altwagen endgültig abgestellt, auf allen Linien fahren nur noch Niederflurwagen. Zur gleichen Zeit wurde die Spannung auf allen Linien auf 900 Volt erhöht. Hierfür wurde auf den Linien 1, 3 und 6 ein Tausch der Transformatoren in den Unterwerken nötig. Weiter wurde die Straßenbahnoberleitung in der Innenstadt mit Teilen der ehemaligen O-Bus-Oberleitung parallel verbunden und parallel geschaltet, um einen höheren Leiterquerschnitt zu erhalten. 2010 wurden das „Herzstück“ der Straßenbahn in Angriff genommen und die Gleise im Kreuzungsbereich der Brunecker Straße mit der Museumstraße und der Ingenieur-Etzel-Straße getauscht. Außerdem erhielt die Brunecker Straße wieder ein zweites Gleis. Auch wurden ab Mitte 2010 bereits Maßnahmen in der Anichstraße und entlang der Universitätsbrücke unternommen, um die Kanäle für den Ausbau zu verstärken. Da durch die Spannungserhöhung auf 900 V das Rückspeisen des Bremsstroms in das Fahrleitungsnetz nur noch bedingt funktioniert, wurde Anfang September 2010 der Triebwagen 301 vom Hersteller versuchsweise mit Doppelschichtkondensatoren ausgerüstet. Diese nehmen den Bremsstrom auf und versorgen den Motor beim Anfahren des Wagens wieder mit Strom. Hierdurch soll es zu einer Stromersparnis kommen. Ausbau der Linie 3 und neue Linie Technik – Olympisches Dorf Mit der Errichtung der ersten Neubaustrecke Richtung Hötting West hätte im Juli 2008 begonnen werden sollen. Der Baustart wurde jedoch immer wieder verschoben. Die Bestellung zehn weiterer Bombardier-Straßenbahnen für die Linie O wurde Anfang Jänner 2008 durchgeführt. Seit Anfang 2010 wurde schließlich die erste Ausbaustufe der Straßenbahn in Angriff genommen. Hierfür wurden die Gleise der Kreuzung in der Brunecker Straße getauscht und nach fast 50 Jahren wieder das zweite Gleis in der Brunecker Straße verlegt. Der Ausbau des ersten neuen Streckenstücks für die Verlängerung der Straßenbahn begann 2011. Von der Abzweigung Bürgerstraße aus wurden in der Anichstraße und der Blasius-Hueber-Straße bis auf die nördliche Seite der Universitätsbrücke die Gleise verlegt. Damit befinden sich seit 1974 das erste Mal wieder auf der Nordseite des Inns Straßenbahnschienen. Da die Klinikkreuzung nicht vollständig gesperrt werden durfte und vor der Klinik ein spezielles Masse-Feder-System für eine niedrige Schallentwicklung eingebaut werden musste, brauchte der Ausbau hier besonders lange. Es wurden auch bereits die beiden Weichen für die Abzweigung in den Innrain in Richtung Marktplatz auf der Klinikkreuzung verlegt. 2012 wurden im Abschnitt zwischen der Universitätsbrücke bis westlich der Mittenwaldbahn-Unterquerung die Gleise verlegt. Beim westlichen Ende befindet sich eine Wendeanlage, damit konnte der Betrieb bis zum fünften Gymnasium bereits Ende 2012 aufgenommen werden. Die Strecke wurde am 14. Dezember 2012 feierlich eröffnet. Bis zur Fertigstellung der kompletten Strecke zwischen Technik und O-Dorf bedient die Linie 3 den Westast der neuen Linie, damit man hier nicht eine eigene Linie auf dem Rumpfabschnitt einführen muss. Parallel zum Ausbau nach Westen wurde die Endstation der Linie 3 von der Amraserstraße in die Philippine-Welser-Straße verlegt und die Linie somit auch im Osten um rund 300 m verlängert. Gleichzeitig hat der Gemeinderat beschlossen, dass die IVB zehn weitere Straßenbahngarnituren für die Linie O und 12 Garnituren für die Regionalbahn bestellen sollen. 2013 wurde der Ausbau der Straßenbahn Richtung Westen fortgesetzt. Auf dem alten Radweg entlang der Kranebitter Allee ist die ÖV-Trasse bis zum Fischerhäuslweg errichtet worden. Um den nötigen Platz hierfür zu gewinnen, wurde die Hauptfahrbahn des Individualverkehrs zwei Meter in Richtung Norden verlegt, wobei einige Grundstücke enteignet werden mussten. Die für diesen Streckenabschnitt nötigen Kanalbauarbeiten wurden bereits teilweise 2012 begonnen und wurden parallel zur Errichtung der Bahnstrecke bis Dezember 2013 abgeschlossen. Da die Trasse nicht wie ursprünglich geplant im Süden der Kranebitter Allee zwischen Fischerhäuslweg und Technikerstraße verlaufen soll, wurden entgegen der ursprünglichen Planungen in diesem Baulos die Gleise nur bis knapp vor den Fischerhäuslweg und nicht bis zum Vögelebichl gelegt. Auch wurde 2013 mit dem Ausbau der Straßenbahn Richtung Osten begonnen. Hierfür wurde bereits 2012 die Gaswerkbrücke erneuert, da die Straßenbahn nun in Randlage über die Brücke führen wird und das Tragwerk dafür nicht ausgelegt war. Die Erneuerungen des Tragwerks konnten 2013 abgeschlossen werden. Zusätzlich wurde noch das Streckenstück zwischen der jetzigen Haltestelle Sillpark und der Defreggerstraße umgebaut. Am Leipziger Platz wurde im September 2013 ein dreigleisiger Bahnhof in Betrieb genommen, in dem in Zukunft die Linie 3 und die Straßenbahn zum Olympischen Dorf auseinander- bzw. zusammengeführt werden. Dieser wurde an der Nordseite des Leipziger Platzes angelegt, womit der Individualverkehr die Straßenbahngleise in die Defreggerstraße nicht mehr queren muss. Die Strecke der Linie 3 soll später dann direkt über die Amraser Straße ab Leipziger Platz geführt werden, womit das Gleis in der Pradler Straße rückgebaut werden wird. Die Gaswerkbrücke wird, wie oben erwähnt, auf der Nordseite in Randlage befahren, und erst danach schwenkt die Straßenbahn in die alte Mittellage zurück. Bei dem Umbau wurde auch die Haltestelle Sillpark modernisiert und für 60 m lange Doppeltraktionen ertüchtigt. 2014 wurde der eigene Gleiskörper zwischen der Endstation Höttinger Au/West und Vögelebichl fertiggestellt, sowie die Kanalarbeiten in der Technikerstraße und Defreggerstraße bereits begonnen, welche 2015 fertiggestellt wurden. Im gleichen Jahr wurden die Gleise in der Defreggerstraße zwischen Pradler Straße und Langstraße verlegt sowie in der Technikerstraße zwischen Kranebitter Allee und Viktor-Franz-Hess-Straße. Auch wurden die Gleise in der Luis-Zuegg-Straße Richtung Peerhofsiedlung verlegt. Die neue Landesstraße zwischen dem Flughafen und der alten Kranebitter Allee konnte fertiggestellt werden, sodass mit den Bauarbeiten auf der alten Kranebitter Allee für den Gleiskörper begonnen werden konnte. Weiters wurden Kanalbauarbeiten in der Pembaurstraße, Langstraße und Reichenauer Straße durchgeführt. Am 16. Dezember 2015 wurden 20 neue Garnituren für die Straßenbahnerweiterung bei Bombardier bestellt, mit einer Option auf weitere 10 Bahnen. Im Juni 2016 wurde schließlich das Gleisstück am Innrain das erste Mal befahren. Bis Ende des Jahres wurde die Ausbaustrecke im Westen durchgehend bis in die Peerhofsiedlung fertiggestellt, so dass im November die erste Probefahrt erfolgen konnte. Einige Meter Gleis von der Abzweigung in die Technikerstraße wurden bereits verlegt, sodass die Kreuzung mit der Viktor-Franz-Hess-Straße für den Verkehr für die weiteren Bauarbeiten nicht mehr beeinträchtigt wird. Im Osten wurde die Strecke zwischen der Kreuzung Defreggerstraße/Pradler Straße über die Lang- und Pembaurstraße bis zur Reichenauer Straße fertig gestellt. In der Reichenauer Straße fanden unterdessen vorbereitende Kanalbauarbeiten statt. Mit dem Bau der Straßenbahnbrücke parallel zur Grenobler Brücke wurde Ende Oktober angefangen, um das Niedrigwasser des Inns zu nützen. Unterdessen wurde in der Duilestraße damit begonnen, ein altes Lagerhaus abzureißen, und die neue Straßenbahnhalle dort zu errichten. Anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Straßenbahn Innsbruck veranstalteten die Innsbrucker Verkehrsbetriebe zusammen mit den Tiroler MuseumsBahnen einen Tag der offenen Tür, bei der rund 2000 Fahrgäste mit historischen Garnituren transportiert werden konnten. Nach einer siebenjährigen Pause fuhr an den Adventwochenenden auch wieder die Christkindlbahn, diesmal im Auftrag der Stadt Innsbruck. Nachdem bereits 2016 vorbereitend in der Reichenauer Straße Kanalsanierungsarbeiten durchgeführt worden sind, wurden die Gleise von der Pembaurstraße bis zur Radetzkystraße verlegt, sowie die Endhaltestelle in der Josef-Kerschbaumer-Straße, und die Gleise von dieser bis in die Schützenstraße. Die Niedrigwasserperiode des Inns im Winter 2016/2017 für den Bau der neuen Straßenbahnbrücke über den Inn entlang der Grenobler Brücke genutzt, so dass im Sommer 2017 die Brücke für den Fußgänger- und Radverkehr im unteren Teil der Brücke freigegeben werden konnte. Mit dem Bau der neue Straßenbahnhalle in der Duilestraße wurde Anfang Februar begonnen, und offiziell wurde sie mit der Weihnachtsfeier der Verkehrsbetriebe im Dezember 2017 in Betrieb genommen. Der Gleisanschlusses der Halle wurde von Mitte April bis Ende September gebaut. Mit dem Fahrplanwechsel am 10. Dezember 2017 wurde die Linie 3 bis zur Technik West/Peerhofsiedlung verlängert. Ursprünglich sollte ein weiterer Linienast nach Allerheiligen errichtet werden, aber aufgrund von erwarteten betrieblichen Schwierigkeiten wurde Ende 2012 der Ast nach Allerheiligen zurückgestellt. Die letzte Bauetappe des Straßenbahnausbaus begann mit dem Stilllegen des Streckenstücks der Linie 3 durch die Pradler Straße am 5. März 2018. Am 23. März wurde die Strecke vom Leipziger Platz durch die Amraserstraße eröffnet. Gleichzeitig begannen die Kanalbauerarbeiten in der westlichen Defreggerstraße, um anschließend das letzte Verbindungsstück zur neuen Strecke einfügen zu können. Bis Ende 2018 konnten die Bauarbeiten am Ostast abgeschlossen werden. Um mit der Eröffnung der Strecke den Fahrplanwechsel durchführen zu können, fand dies am 26. Jänner 2019 statt. Die Eröffnung des neuen Streckenastes war am Tag zuvor. Für Gleissanierungen wurden die Linien 1 und 3 auf Schienenersatzverkehr umgestellt. So konnten trotz eines Lieferverzug bei den neuen Fahrzeugen (statt 20 wurden erst 6 geliefert) die Linie 2 und 5 mit Schienenfahrzeugen betrieben werden. Bis zur Fertigstellung der Linie 5 soll diese in den provisorischen Endhaltestellen bei der Technik und in der Schützenstraße wenden. Ausbau bis Rum im Rahmen des Regionalbahnkonzept (2018–2023) Das Regionalbahnkonzept sieht vor, dass die Linie 5 zwischen Rum und Völs verkehrt und das Straßenbahnnetz an die dortigen S-Bahnhöfe der ÖBB anbindet. Mit Beendigung der Bauarbeiten der Straßenbahnlinie 2 wurden die Planungen für den Bau der Straßenbahnlinie 5 aufgenommen. Ein Großteil dieser Trasse verläuft nicht mehr auf Innsbrucker Stadtgebiet. Die Planung in Rum sieht vor, die Bahn von der provisorischen Endhaltestelle der Linie 5 entlang der Schützenstraße bis zur Haller Straße zu führen, dort die Straße zu queren und beim Bahnhof Rum die Endhaltestelle zu erreichen. Die Bauarbeiten zur Verlängerung der Linie 5 wurden 2019 aufgenommen. In der Serlesstraße wurden die Leitungen und Kanäle saniert bzw. verlegt. Mitte 2020 wurde damit begonnen, die Haller Straße im Bereich der zukünftigen Endhaltestelle in Richtung Süden zu verschieben, um neben dem Bahnhof Rum Platz für die Gleisanlagen zu schaffen. Die Bauarbeiten wurden im Herbst 2022 abgeschlossen. Ab Jänner 2023 fanden Schulungsfahrten statt. Am 4. März 2023 wurde die Strecke im Zuge des Fahrplanwechsels in Betrieb genommen. Ein Sonderzug mit geladenen Ehrengästen eröffnete an diesem Tag die Linie symbolisch bei der temporären Endhaltestelle bei der Josef-Kerschbaumer-Straße. Ausbau bis Völs im Rahmen des Regionalbahnkonzept (bis 2030) Richtung Völs soll die Bahn erst zweigleisig von ihrer jetzigen Endhaltestelle bei der Technik, durch die noch zu errichtende Siedlung unterhalb von Kranebitten bis zur Bundesstraße geführt werden. Mit Stand 2018 ist die Querung der Bundesstraße noch nicht endgültig beschlossen. Südöstlich der Bundesstraße soll die Bahn eingleisig mit Ausweichen in den Haltestellen bis zum Bahnhof Völs geführt werden. Die Trassenführung wurde mehrfach umgeplant. Aktuell (Stand Jänner 2023) gibt es kein offiziell kommuniziertes Fertigstellungsdatum. Mit der Eröffnung wird 2030 gerechnet. Gegenwärtige Entwicklungen und Planungen Eine erhoffte Erweiterung von Rum nach Hall in Tirol (auf der Trasse der ehemaligen Linie 4) wird nicht realisiert werden. Angedacht ist eine Neubaustrecke der Linie 3 in Hötting von der Layrstraße über Fischnalerstraße und Mitterweg bis zu den Universitätssportanlagen. Die Strecken zwischen Layrstraße und Einkaufszentrum West wird dann von der Linie 3 nicht mehr bedient. Als tangentialer Netzlückenschluss zwischen den Linien 1 und 3 ist eine Neubaustrecke entlang der Wiesengasse südlich des Tivoli Stadions angedacht. Linien Bestehende Linien Im folgenden Abschnitt werden die bestehenden Straßenbahnlinien beschrieben, siehe auch den Liniennetzplan der IVB. Linienübersicht Linie 1 – Bergisel bis Mühlauer Brücke Die Linie 1 (früher Stadtbahn oder Saggenlinie) ist die älteste Linie der Innsbrucker Straßenbahn. Sie wurde im Jahr 1905 bereits elektrifiziert eröffnet und von der Lokalbahn Innsbruck – Hall in Tirol betrieben. Die Linie verkehrt montags bis samstags im 10-Minuten-Takt sowie in den Tagesrandzeiten und an Sonn- und Feiertagen im 15-Minuten-Takt, dann mit drei Kursen bei einer Umlaufzeit von 45 Minuten. Streckenführung Zur Eröffnung der Stadtbahn führte die Strecke ausgehend von der Haltestelle Südbahnhof (heute Hauptbahnhof), wo auch ein Gleis zum Umsetzen war, durch die Bahnstraße (heute Brunecker Straße), durch die Museumstraße bis zur Ausweiche vor dem Museum. Weiter ging es durch den Burggraben in die Maria-Theresien-Straße, wo eine dreigleisige Ausweiche war, da hier auch mit der Lokalbahn nach Hall gekreuzt wurde. Durch die Anichstraße und Bürgerstraße ging es am Landesgericht vorbei in die Andreas-Hofer-Straße. Kurz vor der Haltestelle Staatsbahnhof (heute Westbahnhof), die auch die Endhaltestelle im Süden der Andreas-Hofer-Straße war, befand sich nochmals eine Betriebsausweiche. Die Saggenlinie zweigte bei der Kreuzung Bahnstraße/Museumstraße in die Viaduktstraße (heute Ing.-Etzel-Straße) ab. Dieser folgte sie bis zur Klaudiastraße (heute Claudiastraße), in die sie einbog. Über den Klaudiaplatz (heute Claudiaplatz) erreichte sie die Endhaltestelle in der Adolf-Pichler-Straße (heute Conradstraße), wo sich ebenfalls ein Gleis zum Umsetzen befand. Eine Ausweiche befand sich in der Haltestelle Kapuzinergasse. Auch wurde im selben Jahr die Stadtbahn um eine Verbindungsbahn vom Staatsbahnhof zum Bergiselbahnhof gebaut. Beginnend vom Bergisel, folgte die Bahn der Pastorstraße, von wo das Verbindungsgleis zur Stubaitalbahn und das Verladegleis zum Staatsbahnhof abzweigten. Dann querte die Straßenbahn die Arlbergbahn auf einem Stahlviadukt, bevor sie der Egger-Lienz-Straße folgend in die Andreas-Hofer-Straße mündete. Diese Linienführung wurde bis auf einige kleinere Änderungen bis heute beibehalten. So wurde die Abzweigung zum Hauptbahnhof bereits 1905 aufgegeben und die Bahn fuhr vom Bergiselbahnhof beziehungsweise Staatsbahnhof durch bis zum Saggen. 1909 wurde die Strecke von der Conradstraße aus in die Falkstraße verlängert. 1914 wurden die Museumstraße, Ing.-Etzel-Straße und Anichstraße zweigleisig ausgebaut, 1919 die Andreas-Hofer-Straße und Bürgerstraße ebenso. 1924 wurde die Claudiastraße zweigleisig ausgebaut sowie eine Schleife im Saggen gebaut, so dass die Bahn nun von der Falkstraße aus durch die Erzherzog-Eugen-Straße und Kaiser-Franz-Josef-Straße zum Claudiaplatz zurück gelangte. 1930 mit der Einführung des Rechtsverkehrs wurde diese Schleife in Gegenrichtung befahren. 1930/1931 wurde im Sommer kurz die Linie 1 in die Linien 1H (Saggen – Bahnhof) und 1B (Bahnhof – Bergisel) unterteilt, welche den Bahnhof bedienten. 1953 wurde das eiserne Viadukt über die Westbahn abgebaut, da ab 1956 die Straßenbahn über die neu gebaute Konzertbrücke führte. 1976 wurde die Linie das erste Mal grob verlegt. Das Gleis für die westwärts fahrenden Bahnen wurde aus der Museumstraße entfernt. Deswegen musste nun auch von der Linie 1 der Innenstadtring befahren werden. Vom Bergisel in den Saggen fahrend blieb die Linienführung unverändert. Vom Saggen kommend, bog die Bahn in die Brunecker Straße ab, fuhr über den Hauptbahnhof, durch die Salurner Straße und Maria-Theresien-Straße zur Anichstraße, um von dort ihrer alten Linienführung zu folgen. 1995 wurde wieder ein zweites Gleis in die Museumstraße gelegt sowie zwei Gleise über den Marktgraben und den Marktplatz in die Bürgerstraße. Die Linienführung änderte sich dadurch in beide Richtungen wie folgt: Die Bahn biegt nicht mehr aus der Bürgerstraße in die Anichstraße ab, sondern führt weiter durch die Bürgerstraße bis zum Marktplatz. Durch den Marktgraben führt die Strecke über den Burggraben in die Museumstraße, von wo sie in die die Ing.-Etzel-Straße abbiegt. Linie 2 – Josef-Kerschbaumer-Straße bis Peerhofsiedlung Die heutige Linie 2 hat mit der Linie 2 von 1909 (siehe unten) nichts mehr gemein (einzig der von 1938 bis 1995 nicht vorhandene Streckenabschnitt durch den Marktgraben wurde gemeinsam genutzt). Sie wurde im Zuge des Regionalbahnkonzepts in den 2000er Jahren geplant, zu großen Teilen neu gebaut und im Jänner 2019 eröffnet. Sie verkehrt im 10-Minuten-Takt. Verstärkt wird die Linie 2 auf großen Streckenteilen zwischen Technik und Schützenstraße von der Linie 5, welche einen teilweise alternierenden 5-Minuten-Takt herstellt. Streckenführung Die Strecke führt ausgehend von der Endhaltestelle am DDr.-Alois-Lugger-Platz durch die Josef-Kerschbaumer-Straße zur Schützenstraße, wo sich die Strecke mit der der Linie 5 vereinigt. Von hier folgt die Bahn der Schützenstraße bis zur Reichenauer Brücke. Über diese wird die Reichenauer Straße erreicht. Durch die Reichenauer Straße führt die Gleistrasse über die Pembauerstraße, Langstraße und Defreggerstraße zum Leipziger Platz, wo sie auf die Linie 3 trifft. Durch die Amraserstraße wird die Museumsstraße erreicht, über welche die Bahn in die Innenstadt gelangt und Anschluss zur Linie 1 hat. Über Burggraben und Marktgraben wird der Marktplatz-Terminal erreicht, wo die Linie 2 von der Linie 1 abzweigt und dem Innrain zur Unibrücke folgt. Über die Unibrücke und die Höttinger Au, wird die Wendestelle Höttinger Au/West erreicht, welche die temporäre Endstation während des Ausbaus dargestellt hat. Über die Kranebitter Allee und Technikerstraße wird die Haltestelle Technik erreicht. Hier zweigt der Ast der Linie 5 Richtung Technik West durch die Fortführung der Technikerstraße ab, welcher zeitweise auch von der Linie 2 zu dieser Endhaltestelle mit verwendet wurde. Die Endhaltestelle Peerhofsiedlung erreicht die Bahn über die Viktor-Franz-Hess-Straße und Peerhofstraße. Neben der Höttinger Au/West befinden sich beim Hochhaus Schützenstraße, dem Leipziger Platz, dem Sillpark und bei der Radetzkystraße Wendestellen. Linie 3 – Amras bis Anichstraße (Rathausgalerien) Der Grundstein für diese Linie wurde bereits 1908 gelegt, als die Verbindung Landesgericht – Südbahnhof gebaut wurde. 1911 wurde die Linie 3 schließlich eröffnet, um eine Verbindung zum Stadtteil Pradl herzustellen. Ihre Endhaltestelle wurde immer wieder verlegt und so ist die Linie schrittweise bis nach Amras verlängert worden. Im November 2007 wurde das Gleis durch die nördliche Maria-Theresien-Straße stillgelegt und die Linie 3 fährt nun über den Marktplatz. Am 26. Oktober 2012 wurde die Linie schließlich wieder um ca. 300 m in Richtung Amraser Dorferkern verlängert. Am 14. Dezember 2012 wurde die Verlängerung der Linie 3 im Westen bis zum Gymnasium in der Au eröffnet. Die Linie 3 hat eine minimale Taktung von zehn Minuten. An Sonn- und Feiertagen sowie in den Tagesrandzeiten verkehrt die Linie im 15-Minuten-Takt bei einer Umlaufzeit von 45 Minuten und einem Bedarf von drei Fahrzeugen. Streckenführung Um den Bahnhof besser an die Stadtbahn anzuschließen, wurde 1908 vom Südbahnhof aus durch die Salurner Straße und Maximilianstraße ein Gleis gelegt, wobei die Ausweiche am Bahnhof abgebaut wurde und dafür eine neue Ausweiche in der Haltestelle Adamgasse errichtet wurde. Vor dem Landesgericht fuhr die Bahn auf der Nordseite der Straße, während sie dann auf die Südseite der Maximilianstraße wechselte, um den Postkutschen vor der Hauptpost Platz zu machen. 1911 beschloss man schließlich, die Bahn bis Amras zu verlängern. Von der Bahnstraße aus unterquerte sie den Südbahnviadukt, folgte der Rhombergpassage über die Gaswerkbrücke zum Leipziger Platz. Durch die Defreggerstraße und Pradler Straße führte die Strecke zur Endstation vor dem Lindenhof, wo sich auch ein Gleis zum Umsetzen befand. Aufgrund einer fehlenden Straße konnte noch nicht weiter gebaut werden als bis nach Pradl. Ab 1914 fuhr die Straßenbahn nicht mehr über die Gaswerkbrücke, da diese zu schwach dimensioniert war, sondern über eine Straßenbahnbrücke nördlich der Gaswerkbrücke. 1916 wurde die Strecke vom Lindenhof durch die Pradler Straße provisorisch bis zur Krankenverteilungsanstalt (heute Conradkaserne) verlängert, 1919 sogar bis zum Pradler Friedhof. Die italienischen Besatzer genehmigten zwar die Benutzung der bereits vorhandenen Strecke, verboten aber, dass in der Krankenverteilsanstalt zu- oder abgestiegen wurde. Allerdings wurde die Lindengasse 1921 wieder die reguläre Endstation und die restliche Trasse zum Friedhof wurde abgetragen. 1926 wurde bei der Triumphpforte eine neue Weiche eingebaut, so dass man von der Salurner Straße in die Leopoldstraße abbiegen konnte, die bereits seit 1914 zweigleisig ausgebaut war. So verlegte man die Endhaltestelle der Linie 3 vom Landesgericht zum Wiltener Platzl. 1941 wurde die Linie 3 in Amras zweigleisig ausgebaut und bis zur Rudolf-Greinz-Straße verlängert, wo eine Kehrschleife gebaut wurde. Am 31. Dezember 1964 wurde die Strecke in der Leopoldgasse aufgelassen. Deswegen führte die Linie 3 ab 1. Jänner 1965 von Pradl aus kommend durch die Museumstraße über den Burggraben in die Maria-Theresien-Straße und von dort weiter durch die Salurner Straße zum Hauptbahnhof, von dem sie durch die Brunecker Straße weiter zurück nach Pradl führte. Mitte 1965 wurde die Verlängerung der Strecke bis Amras gebaut, wo sich auch heute noch die Endstation befindet. Mit dem Abtragen des westwärts führenden Gleises in der Museumstraße 1976 befuhr die Linie 3 die Schleife über den Bahnhof in entgegengesetzter Richtung. Diesen Streckenverlauf behielt die Linie bis heute bei. Nur während des Neubaus des Hauptbahnhofs zwischen 2002 und 2004 wurde die Linie 3 von Amras aus kommend durch die Museumstraße (in die in der Zwischenzeit wieder ein westwärts führendes Gleis gelegt wurde) über den Burggraben, Marktgraben und Marktplatz in die Bürgerstraße geführt, um von dort durch die Anichstraße zurück in die Maria-Theresien-Straße zu kommen, von wo aus sie dem normalen Linienverlauf wieder folgte. Seit dem 5. November 2007 führt die Linie nicht mehr durch die nördliche Maria-Theresien-Straße, sie biegt vorher in die Anichstraße ab und führt dann durch die Bürgerstraße zum Marktplatz und fährt durch den Marktgraben, von wo sie ihrer angestammten Linienführung folgt. Das Gleis in der nördlichen Maria-Theresien-Straße wurde stillgelegt. Die Weichen wurden verschraubt und die Oberleitung wurde abgebaut. Mitte November 2007 wurden die Gleise bis zum Ende der Fußball-Europameisterschaft 2008 einasphaltiert, während der Großveranstaltung wollte man keine Baustellen in der Innenstadt haben. Danach wurden die Gleise im Zuge der Straßenneugestaltung endgültig entfernt. Ab Mitte 2008 wurde mit dem Bau einer Verlängerung der Linie 3 von der Anichstraße um etwa 5 Streckenkilometer ins nordwestliche Hötting begonnen. Bis zur Fertigstellung einer neuen Straßenbahnlinie, die die Buslinie O ersetzen soll, wird die Linie 3 deren westlichen Teil bedienen, wobei sie nach Fertigstellung des ersten Bauabschnitts und auch wieder nach Inbetriebnahme der Gesamtstrecke bereits an der Haltestelle „Höttinger Au“ in der Nähe des Bahnhofs Hötting enden wird. Eine spätere Verlängerung ins südwestliche Hötting als Ersatz des Westastes der Buslinie R ist angedacht, aber noch nicht politisch beschlossen. Im Sommer 2012 wurde die Wendeschleife in Amras abgebaut und die Endhaltestelle unter Verlängerung der Strecke in die Philippine-Welser-Straße verlegt, wo die Linie in einer Stumpfendhaltestelle endet. Die Verlängerung ging am 26. Oktober 2012 in Betrieb. Am 14. Dezember 2012 wurde die Verlängerung der Linie 3 in die Höttinger Au offiziell eröffnet. Seit dem 15. Dezember 2012 führt die Linie 3 planmäßig über die Anichstraße, Universitätsbrücke und Höttinger Au zur Kranebitter Allee, wo sie bei der Unterquerung der Mittenwaldbahn wendet und den gleichen Weg zurück nimmt. Statt wie bisher wird die Linie 3 nicht mehr von der Anichstraße kommend über die Bürgerstraße, Marktplatz und Museumsstraße zurück nach Amras geführt, sondern über die Maria-Theresien-Straße, Salurnerstraße und den Hauptbahnhof, womit die Schleifenführung durch die Innenstadt entfällt. Seit 10. Dezember 2017 endet die Linie 3 nicht mehr in der Höttinger Au, sondern bedient die beiden zukünftigen Haltestellen der Linie 2 Peerhofsiedlung und Technik West. Die Strecke führt von der Höttinger Au, südlich der Kranebitter Allee bis Fischerhäuslweg, wo der Bahnkörper auf die ehemalige Bundesstraße nördlich der neuen Kranebitter Allee wechselt. Durch die Technikerstraße wird die Viktor-Franz-Hess-Straße erreicht. Ein Linienast folgt der Technikerstraße bis Technik West, während der andere durch die Viktor-Franz-Hess-Straße, Karl-Innerebner-Straße und Peerhofstraße in die Peerhofsiedlung führt. Im Abendverkehr wendet jede zweite Bahn gegen den Uhrzeigersinn über den Innenstadtring Museumstraße–Bürgerstraße–Anichstraße–Hauptbahnhof, da die Linie O bis Ende 2018 teilweise im Parallelverkehr geführt wird. Am 23. März 2018 wurde das Streckenstück zwischen Leipziger Platz und Roseggerstraße durch die Amraserstraße eröffnet, womit das „Scharfe Eck“ nach 107 Jahren der Vergangenheit angehört. Die Strecke der Linie 3 verkürzt sich damit um circa 150 Meter. Die Haltestellen Defreggerstraße und Roseggerstraße wurden aufgelassen, dafür wurde beim Sonnpark eine neue Haltestelle eröffnet. Mit der Eröffnung der Linien 2 und 5 wurde die Verlängerung der Linie 3 bis in den Westen zurückgenommen. Seitdem fährt sie nur noch bis in die Innenstadt, gleich wie zwischen Oktober und Dezember 2012. Linie 5 – Rum Bahnhof bis Technik-West Die heutige Linie 5 hat mit der Linie 5 von 1930 (siehe unten) nichts mehr gemein, außer dem Streckenstück über den Hauptbahnhof und die Salurnerstraße. Sie wurde im Zuge des Regionalbahnkonzepts in den 2000er Jahren geplant, zu großen Teilen neu gebaut und am 26. Jänner 2019 eröffnet. Bei der Einführungen der Linie 5 waren die Endstationen Provisorien, da geplant ist, die Linie vom Bahnhof Völs bis zum Bahnhof Rum zu führen. Die Linie verkehrt an Schultagen im 10-Minuten-Takt, in den Ferien und samstags im 15-Minuten-Takt, und an Sonn- und Feiertagen im 30-Minuten-Takt. Streckenführung Die Strecke quert vom Bahnhof Rum aus die Haller-Straße. Von dort biegt sie in die Serles-Straße ein und folgt dieser bis zur Gemeindegrenze Rum-Innsbruck. Weiters folgt sie dann dem Straßenverlauf in der Schützenstraße bis auf die Linie 2 bei der Josef-Kerschbaumer-Straße stößt und deren Verlauf nun folgt. Bei der Kreuzung Schützenstraße mit der Josef-Kerschbaumer-Straße befindet sich auch die ehemalige provisorische Endhaltestelle der Linie 5. Dem Verlauf der Linie 2 folgend (siehe dort), wird der Sillpark erreicht. Unter dem Viadukt hindurch und durch die Brunecker-Straße, führt die Linie zum Hauptbahnhof. Vom Hauptbahnhof ausgehend fährt die Bahn weiter durch die Salurnerstraße, Maria-Theresien-Straße und Anichstraße zur Uni-Brücke, wo sie wieder in die Linie 2 mündet, deren Verlauf bis zur Technik folgt und von dort bis zur provisorischen Endhaltestelle bei der Technik-West verkehrt. Zusätzlich zu den Wendemöglichkeiten entlang der Linie 2, befindet sich westlich der Haltestelle Anichstraße noch eine Parallelweiche. Bei der Technik werden die beiden Richtungsgleise in Richtung Völs als Wendestelle verwendet, wobei über eine Weiche das stadteinwärtige Gleis der Linie 2 erreicht wird. Linie 6 – Bergisel bis Igls Die Linie 6 (Innsbrucker Mittelgebirgsbahn) ist 1900 von der Stadt Innsbruck gebaut worden. Die Betriebsführung oblag der L.B.I.H.i.T. 1936 wurde die mit Dampf betriebene Strecke elektrifiziert. In den 1920er Jahren übernahm die Localbahn Innsbruck – Hall in Tirol die Gesellschaft. Von der Endhaltestelle der Linie 1 Bergisel ausgehend schlängelt sich die Linie durch die Wälder oberhalb von Innsbruck bis auf das Mittelgebirgsplateau und weiter bis zum Innsbrucker Stadtteil Igls. Linie STB – Hauptbahnhof bis Fulpmes Die Stubaitalbahn wurde 1904 als Lokalbahn von der gleichnamigen Aktiengesellschaft (A.G.S.t.B.) gebaut. Die Betriebsführung oblag der L.B.I.H.i.T. Sie wurde von Anfang an bis 1983 mit Einphasen-Wechselstrom betrieben und war somit die erste mit diesem Stromsystem betriebene Bahn weltweit. 1983 wurde die Bahn auf Gleichstrom umgestellt und benutzt seitdem die Strecken der Linien 1 und 3 in der Stadt, um die neue Endhaltestelle beim Hauptbahnhof zu erreichen. Die I.V.B. und die Stubaitalbahn A.G. fusionierten 1997 zur Innsbrucker Verkehrsbetriebe und Stubaitalbahn GmbH, womit die Stubtaitalbahn endgültig ein fester Bestandteil der Verkehrsbetriebe wurde. Vom Stubaitalbahnhof am Fuße des Bergisel ausgehend schlängelt sich die Bahn auf das Plateau des westlichen Mittelgebirges, von wo aus sie zum Hauptort des Stubaitals – Fulpmes – führt. Im Gegensatz zur Linie 6, die heutzutage den Status einer Überlandstraßenbahn hat, wird die Stubaitalbahn nach wie vor als Nebenbahn geführt. Gebaut, um in erster Linie den Gütertransport zur Kleineisenindustrie in Fulpmes zu übernehmen, dient die Bahn heute nur noch der Personenbeförderung, und das hier auch zu einem großen Teil zu touristischen Zwecken. Ehemalige Linien Linie 2 – Staatsbahnhof bis Mühlau |} Die Lokalbahn nach Hall wurde 1909 bis 1910 in zwei Teilabschnitten elektrifiziert. Der erste Abschnitt betraf den innerstädtischen Teil vom Bergiselbahnhof über die Leopoldstraße, Maria-Theresien-Straße und Marktgraben, den Inn entlang bis zum Gasthof Dollinger in Mühlau. Dieser Bereich wurde auch mit 500 V Gleichspannung betrieben, während die Überlandstrecke mit 1000 V Gleichspannung betrieben wurde. Da im innerstädtischen Bereich auch die Besiedelung wesentlich dichter war, wollte man vom Wiltener Platzl bis zum Gasthof Dollinger einen 7½-Minuten-Takt einrichten. Mit Stadttriebwägen wurde deswegen die Linie 2 zwischen den Zügen der Localbahn – die im 30-Minuten-Takt verkehrten – eingeführt. Am 5. November 1909 wurde die Linie 2 eröffnet. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs musste die Linie 2 allerdings aufgrund von Personalmangel am 1. August 1914 vorübergehend eingestellt werden. Sie wurde zwar bald wieder eröffnet, musste aber wegen des Ersatzteil- und des daraus resultierenden Triebwagenmangels 1917 wieder eingestellt werden. 1919 wurde die Linie wieder eröffnet, um nur ein Jahr später wieder eingestellt zu werden, da zu wenig Fahrgäste das Angebot nutzten. Auf Drängen des Besitzers von Schloss Büchsenhausen, der Aktionär der Localbahn war, wurde am 1. März 1926 die Linie wieder eröffnet. Allerdings fuhr der Triebwagen immer hinter dem Zug der Lokalbahn her, weswegen er nie besonders ausgelastet war. Deswegen wurde die Linie am 5. Mai bereits wieder eingestellt, dieses Mal aber endgültig. Streckenführung Die Endstation der Linie 2 befand sich beim Staatsbahnhof, wo sich auch die Endhaltestelle der Linie 1 befand. Durch die Andreas-Hofer-Straße und Franz-Fischer-Straße erreichte die Bahn dann das Wiltener Platzl, von wo aus die Linie 2 die Gleise der L.B.I.H.i.T. mitbenutzte. Durch die Leopoldstraße und Maria-Theresien-Straße wurde der Marktgraben erreicht, von wo aus die Linie über das Herzog-Otto-Ufer und den Rennweg in die Karl-Kapferer-Straße und Siebererstraße fuhr. Durch die Falkstraße und über die Lokalbahnbrücke über den Inn erreichte die Linie schlussendlich den Gasthof Dollinger. Nach der Errichtung der Saggenschleife 1924 führte die Linie 2 aus der Falkstraße in die Kaiserjägerstraße abbiegend und weiter über den Rennweg zur Mühlauer Brücke hin. Linie 4 – Innsbruck bis Hall i. T. Die Localbahn Innsbruck–Hall i. Tirol war der Grundstein für die Straßenbahn in Innsbruck. Sie wurde 1891 eröffnet und führte damals von Wilten aus, durch Innsbruck, Mühlau, Arzl, Rum und Thaur nach Hall in Tirol. Betrieben wurde sie von der gleichnamigen Gesellschaft, die später auch das Innsbrucker Straßenbahnnetz betrieb. 1941 gingen aus dieser Gesellschaft sowie einigen Busunternehmern die Innsbrucker Verkehrsbetriebe hervor. Am 8. Juni 1974 wurde die Gleistrasse beginnend ab der Mühlauer Brücke aufgelassen, und die Linie wird seitdem im Schienenersatzverkehr auf leicht geänderter Strecke betrieben. Linie 0 / Linie 5 – Innenstadtring |} Sowohl die Lokalbahn nach Hall wie auch die innerstädtischen Straßenbahnlinien schlossen den Hauptbahnhof Anfang der 1920er Jahre nur sehr schlecht an die Innenstadt an. Darum forderte die Stadt, dass eine dauerhafte Straßenbahnverbindung zwischen der Maria-Theresien-Straße und dem Hauptbahnhof eröffnet werden solle. Deswegen eröffnete die L.B.I.H.i.T. 1923 die Rundlinie 0 (Null). Allerdings wurde die Linie bereits am 15. August wegen zu geringer Nachfrage wieder eingestellt. Es wurde nach einer Lösung gesucht, den Bahnhof überhaupt mit einer neuen Linie anzuschließen, die auch die noch nicht angeschlossenen Stadtteile erschließen solle. Allerdings kam man hier zu keiner Einigung, so dass am 1. Mai 1924 die Linie 0 wieder eröffnet wurde, aber nur über die Sommersaison bedient blieb. Im darauf folgenden Jahr wurde die Linie 0 als Linie 5 zwischen 29. Mai und 20. September sowie während der Herbstmesse bedient. In den folgenden Jahren wurde die Linie 5 je nach Bedarf geführt. Um den Bahnhof ganzjährig anzuschließen, beschloss man 1929, die Linie 5 als Rundlinie von Anfang Mai bis Ende Oktober zu betreiben und während der Wintermonate nur zwischen dem Hauptbahnhof und der Maria-Theresien-Straße einen Pendelverkehr einzurichten. Im August des gleichen Jahres wurde die Linie sogar bis zum Westbahnhof verlängert. Ab September verkehrte die Linie allerdings wieder normal. Mitte September war der Betrieb auf der Strecke zwischen Hauptbahnhof und Museumstraße beschränkt. In den Jahren 1930 und 1931 wurde die Linie 5 im Sommer nicht geführt, sondern stattdessen die Linien 1H und 1B (siehe Linie 1). Danach blieb die Linie 5 eingestellt. Streckenführung Ausgehend vom Hauptbahnhof fuhren die Triebwagen der Linie 0 durch die Salurner Straße, an der Triumphpforte vorbei durch die Maximilianstraße zum Landesgericht. Dort bogen sie in die Bürgerstraße ein, von wo aus sie über die Anichstraße in die Maria-Theresien-Straße gelangten. Von dort weiter führte die Linie am Burggraben entlang in die Museumstraße und von dort durch die Brunecker Straße zurück zum Hauptbahnhof. Im August 1929 wurde die Linie 5 bis zum Westbahnhof verlängert. Dazu bog sie beim Landesgericht, in die Andreas-Hofer-Straße ab und folgte dieser bis an deren Ende, wo sich der Westbahnhof befindet. Von dort fuhr sie die Andreas-Hofer-Straße zurück, um in die Bürgerstraße zu gelangen, von wo aus sie dem gewohnten Linienverlauf weiter folgte. Fuhrpark Für den Betrieb der Strecke stehen 32 Linienfahrzeuge zur Verfügung. Des Weiteren besitzt die Innsbrucker Straßenbahn 7 Arbeitsfahrzeuge (inkl. Zweiwegefahrzeug) und 38 Nostalgiefahrzeuge (inklusive der Fahrzeuge der Tiroler MuseumsBahnen und nicht betriebsfähig hinterstellten und ausgemusterten Fahrzeugen). Die Stubaitalbahn stellt eine gewisse Ausnahme dar, da sie auf der Überlandstrecke eine Eisenbahn und keine Straßenbahn ist, sie benützt jedoch das Innsbrucker Straßenbahnnetz mit, um zum Hauptbahnhof zu gelangen. Deswegen unterscheiden sich die auf der Stubaitalbahn eingesetzten Fahrzeuge geringfügig von den reinen Stadtgarnituren. Die Fahrzeuge, die hauptsächlich auf der Mittelgebirgsbahn fahren, sind an die Bedürfnisse der Überlandstrecke adaptiert (z. B. Presslufthorn statt normaler Hupe). Nicht verwirklichte Projekte 1908 überlegten die Dörfer Mühlau, Arzl, Rum, Thaur und Absam, ob sie nicht ebenfalls eine Lokalbahn von St. Nikolaus aus über die Dörfer nach Hall bauen sollten. Da die L.B.I.H.i.T. hier eine Konkurrenz zu ihrer Lokalbahn sah, bemühte sie sich um eine Vorkonzession, die sie auch erhielt, womit das Projekt nie verwirklicht wurde. Die L.B.I.H.i.T. erhielt 1909 die Bewilligung für Vorarbeiten einer Bahn, die Maria Hilf und St. Nikolaus bedienen sollte, ausgehend von der Haltestelle Innbrücke. 1914 gab es den Plan, ein Stichgleis bis vor das Landestheater zu bauen, ausgehend von der Strecke am Rennweg, um am Abend den Theatergästen den Weg bis in die Museumstraße zu ersparen. Auch überlegte man damals, den Innrain und den Mentlberg besser an das Straßenbahnnetz anzuschließen. Die Linie sollte vom Südbahnhof, durch die Landhausstraße (heutige Meraner Straße), weiter durch die Maria-Theresien-Straße und durch die Anichstraße, über die Höttinger- und Völser Straße (heute Innrain), bis zum Peterbrünnlschranken führen. Anfang der 1980er Jahre wollte die Innsbrucker Stadtregierung die 1974 eingestellte Lokalbahn nach Hall wiederaufbauen sowie das Straßenbahnnetz um eine Linie ins Olympische Dorf beziehungsweise in die Reichenau erweitern. Allerdings wurde 1986 dieses Projekt gekippt, woraufhin die Linien vorerst mit Oberleitungsbussen betrieben wurden. Für die Stubaitalbahn gab es immer wieder Pläne, sie direkt vom Hauptbahnhof bis zum Stubaitalbahnhof zu führen, um den Fahrgästen aus der Stadt das Umsteigen zu ersparen, bzw. später, um ihnen den Umweg durch das Zentrum zu ersparen. So war bereits 1929 geplant, die Bahn entlang der Trasse der Bundesbahn zu führen. Allerdings wurde dies durch den Börsencrash vereitelt. Als Anfang der 1950er Jahre die Bundesbahn verlegt werden sollte, hätte die Stubaitalbahn auf der alten Bahntrasse zum Hauptbahnhof geführt werden sollen. Allerdings sanken bis 1956 die Fahrgastzahlen dermaßen, dass auf dieses Projekt verzichtet wurde. Im Zuge des Regionalbahnausbaus Anfang der 2000er Jahre sollte die Bahn erneut direkt der Konzertkurve entlang zum Hauptbahnhof geführt werden. Beim Umbau des Hauptbahnhofs wurden sogar die nötigen Weichen eingebaut. Allerdings wurde dieses Projekt aufgrund der Widerstände der Anrainer vorerst zurückgestellt. Im Zuge des Regionalbahnprojektes und in Hinsicht auf die Fußball-Europameisterschaft 2008 hätte auch die Linie 1 vom Bergiselbahnhof aus zum Tivolistadion verlängert werden sollen. Allerdings wurde dieses Projekt noch vor der Vertragsunterzeichnung wieder fallengelassen. Fahrgastzahlen Nach der Eröffnung wurde die Straßenbahn in Innsbruck recht schnell von der Bevölkerung angenommen. So mussten bereits nach einem Jahr neue Fahrzeuge bestellt werden, um dem Transportaufkommen gerecht zu werden und im ersten Jahr wurden Fahrzeuge von der L.B.I.H.i.T. geliehen. Dieser Trend hielt bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs an. Sanken am Anfang des Ersten Weltkriegs die Fahrgastzahlen aufgrund des Personalmangels, stiegen sie bald darauf schon wieder, da Frauen das Personal stellten und in der von Rohstoffknappheit geprägten Zeit die öffentlichen Verkehrsmittel das günstigste Transportmittel darstellten. Des Weiteren mussten auch die Verwundetentransporte mit der Bahn durchgeführt werden. Auch nach dem Weltkrieg war die Bahn noch das wichtigste Verkehrsmittel Innsbrucks. Erst Mitte der 1920er Jahre bauten die Busunternehmen ihre Linien stark aus. Dadurch verloren auch die Lokal- und Straßenbahnen Fahrgäste. So war die I.M.B. bereits 1927 das erste Mal von der Einstellung bedroht und wurde von der Stadt an die L.B.I.H.i.T. verkauft. Mitte der 1930er Jahre sanken die Fahrgastzahlen aufgrund der nahe zurückliegenden Weltwirtschaftskrise und der Tausend-Mark-Sperre enorm ab. Erst nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 stiegen die Fahrgastzahlen wieder rapide an. Innsbruck war ein beliebtes Erholungsgebiet, und die Ortschaften um Innsbruck waren bekannte Kurorte (beispielsweise der Luftkurort Igls und das Solbad Hall). 1940 wurden neue Fahrzeuge für die Straßenbahn bestellt, die aber wegen der Materialknappheit nicht geliefert werden konnten. Trotzdem ist in den ersten Kriegsjahren ein rapider Anstieg der Fahrgastzahlen zu verzeichnen. Gegen Ende des Krieges machten sich die Bombenangriffe auf Innsbruck und der Ersatzteilmangel bemerkbar, so dass der Personenverkehr nur noch vermindert aufrechterhalten werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Fahrgastzahlen vorerst niedrig, da der motorisierte Individualverkehr immer mehr an Bedeutung gewann; auch war der Fuhrpark in Innsbruck nicht besonders einladend, da die meisten Fahrzeuge mittlerweile 50 bis 70 Jahre alt waren. Erst die Modernisierung der Straßenbahn ab 1976 führte zu einem Umdenken in Innsbruck, so dass die Fahrgastzahlen wieder stiegen. Anfang der 1990er Jahre sanken die Fahrgastzahlen der Straßenbahn beständig, da in Innsbruck viele Ziele mit dem Pkw zu erreichen sind und die dadurch entstehenden Verkehrsbehinderungen die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs senken. Mit einem neuen Verkehrskonzept Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre konnten zwar die Fahrgastzahlen der Verkehrsbetriebe wieder gesteigert werden, aber durch zahlreiche Parallelführungen von Bus und Bahn sanken die Fahrgastzahlen der Straßenbahn weiter, da sich die Linienführungen der Straßenbahn seit Bestehen kaum geändert hatten, womit sie oft langsamer zum Ziel führen als die parallelen Buslinien bzw. in heute bevölkerungsschwache Gebiete fahren. Tarife Auf allen Linien der Innsbrucker Straßenbahn gilt ein streckenunabhängiger Einheitstarif. Dieser beträgt im Vorverkauf 2,80 Euro. Ermäßigte Fahrscheine (Kinder, Jugendliche, Pensionisten) kosten 1,70 Euro. Beim Kauf über die IVB-App gilt das Ticket für beliebig viele Fahrten innerhalb von 90 Minuten. Weiters werden Achtfahrten-, 24-Stunden-, Wochen-, Monats- und Jahrestickets angeboten. Der Ticketverkauf in Fahrzeugen der IVB wurde während der COVID-19-Pandemie eingestellt und nachher nicht wiederaufgenommen. Ausgenommen davon ist die Stubaitalbahn, die ab Sonnenburgerhof die Tarifzone der Stadt verlässt. Bis dorthin können allerdings Fahrscheine für die Innenstadt benutzt werden. Obwohl die Linie 6 die Kernzone (das heißt die innerstädtische Innsbrucker Tarifzone) verlässt, gilt auf der gesamten Linie der Kernzonen-Tarif, da die Endhaltestelle wieder im (verwaltungspolitischen) Stadtgebiet liegt. Einzelnachweise Literatur W. Duschek, W. Pramstaller u. a.: Local- und Straßenbahnen im alten Tirol. Eigenverlag Tiroler MuseumsBahnen, Innsbruck 2008, . Innsbrucker Verkehrsbetriebe AG (Hrsg.), Bernhard Mazegger, Eduard Ehringer: 100 Jahre Straßenbahnen in Innsbruck 1891 – 1991; 50 Jahre Innsbrucker Verkehrsbetriebe 1941 – 1991. Eigenverlag IVB, Innsbruck 1991. Wolfgang Kaiser: Straßenbahnen in Österreich. Geramond Verlag, Landsberg 2004, ISBN 3-7654-7198-4. Walter Kreutz: Straßenbahnen, Busse und Seilbahnen von Innsbruck. Haymon-Verlag, Innsbruck 2011, ISBN 978-3-85218-649-8. Walter Kreutz, W. Pramstaller, W. Duschek: 100 Jahre Elektrische in Innsbruck. Eigenverlag Tiroler MuseumsBahnen, Innsbruck 2005. Walter Kreutz: Straßenbahnen, Busse und Seilbahnen von Innsbruck. 2. Auflage. Steiger-Verlag, Innsbruck 1991, ISBN 3-85423-008-7. Walter Krobot, Josef Otto Slezak, Hans Sternhart: Schmalspurig durch Österreich. 4. Auflage. Verlag Josef Otto Slezak, Wien 1991, ISBN 3-85416-095-X. Weblinks Innsbrucker Verkehrsbetriebe Tiroler MuseumsBahnen Liste der erhaltenen Fahrzeuge ÖPNV in Österreich – Netzpläne der Innsbrucker Straßenbahn Weitere Netzpläne der Innsbrucker Straßenbahn, Planungsdetails für Regionalbahn Kundmachung, Innsbrucker Nachrichten (vom 15. Juli 1905) Aus Stadt und Land – Die Elektrische, Innsbrucker Nachrichten (vom 17. Juli 1905) Bilder der Straßenbahn in Innsbruck Innsbruck Innsbruck
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https://de.wikipedia.org/wiki/Toter%20Uhu
Toter Uhu
Toter Uhu (französisch: ) ist der Titel eines Gemäldes des französischen Malers Édouard Manet. Das 97 × 64 cm große, in Öl auf Leinwand gemalte Bild zeigt einen toten, kopfüber an einer Bretterwand hängenden Uhu als Jagdtrophäe. Das zu einer Serie von vier nahezu gleich großen Stillleben gehörende Werk entstand 1881 während eines Kuraufenthaltes in Versailles, als Manet bereits von schwerer Krankheit gezeichnet war. Vorbilder für diese den Tod symbolisierende Jagdtrophäe finden sich in der französischen Stilllebenmalerei des 18. Jahrhunderts und bei niederländischen Malern des 17. Jahrhunderts. Toter Uhu ist eines der wenigen Jagdstillleben im Gesamtwerk des Künstlers. Das Gemälde gehört zur Sammlung der Stiftung Sammlung E. G. Bührle in Zürich. Bildbeschreibung Das Motiv des 97 × 64 cm großen Gemäldes ist ein kopfüber an einer Bretterwand hängender Uhu. Zwischen den Füßen des toten Tieres ist ein Nagel erkennbar, an dem sich die zusammengeknoteten Enden eines kleinen Strickes befinden. Mit diesem Strick wurden vermutlich die Beine zusammengebunden und das Tier an den Nagel gehängt. Die nach unten hängende Jagdtrophäe ist nach links gedreht, sodass der Bildbetrachter fast ausschließlich die rechte Seite des Tieres sieht. So ist nur das rechte Auge des Uhus erkennbar und der rechte Flügel verdeckt weitestgehend den linken. Obwohl Manets Darstellung der Jagdtrophäe in diesem Gemälde „extrem malerisch-«impressionistisch»“ ist, zeigt er deutlich die unterschiedliche Befiederung der einzelnen Körperpartien. So setzt sich die Befiederung des Kopfes, des Rumpfes, der Beine und der Schwingen durch Form, Farbe, Muster und Pinselstrich jeweils voneinander ab. Der tote Vogel ist nicht exakt in der Bildmitte positioniert, sondern nimmt die oberen drei Fünftel des Bildes ein. Die unteren zwei Fünftel des Bildes bleiben der ausschließlichen Darstellung der Holzmaserung vorbehalten. Links vom Vogel ist die Maserung der Bretterwand ebenfalls deutlich zu erkennen, während der Bereich rechts vom Körper teilweise von den Schwingen des Tieres verdeckt wird und dahinter eine Art Schattenwirkung gemalt ist. Durch diesen angedeuteten Schatten ist eine Lichtquelle jenseits des linken oberen Bildrandes zu vermuten. Sowohl durch die Positionierung des Uhus im oberen Bildbereich, als auch durch das Hochformat des Gemäldes, wird der Eindruck des Aufhängens des Tieres noch verstärkt. Durch das Fehlen jeglicher räumlicher Umgebung ist das Bild motivisch der seit Jacopo de’ Barbari bei Stillleben beliebten Trompe-l’œil-Malerei zuzuordnen. In der unteren rechten Bildecke befindet sich die Signatur „Manet“. Der Maler verwandte im Gemälde für die Darstellung des Tieres wie auch für die des Holzes fast ausschließlich Brauntöne und Schwarz. Während der Uhu überwiegend in kurzen Pinselstrichen und Farbtupfern angelegt ist, werden die waagerecht verlaufenden Holzbretter durch einen langgezogenen Pinselduktus wiedergegeben, dessen wellenartige Bewegung die Holzmaserung unterstreicht. Manets lebhafte Malweise steht hierbei im Gegensatz zum Sujet eines toten Tieres. Die Kunsthistorikerin Ina Conzen beschreibt Manets Malweise wie folgt: „Als moderne Variante eines Jagdstilllebens mutet das Motiv … nüchtern und sachlich an, bar jeder Rhetorik. Als Malerei wirkt die sinnliche Ausreizung der stofflichen Qualitäten der Dinge – die fedrig-heftige Charakterisierung der geschundenen Kreatur und die betonte Maserung der Bretterwand – sprechend auf direkte Weise.“ Hintergrund Édouard Manet litt seit Ende der 1870er-Jahre an den Folgen einer Syphilis-Erkrankung. In den Jahren bis zu seinem Tod 1883 beeinträchtigten ihn vor allem Lähmungserscheinungen in seinem linken Bein, wodurch er nicht nur Probleme beim Gehen hatte, sondern ihm auch längeres Stehen unmöglich wurde. Zur Linderung dieser Symptome hielt sich Manet seit 1879 jährlich mehrere Monate zu Kuraufenthalten in der Umgebung von Paris auf. Hierzu mietete er sich in den Jahren 1879 und 1880 ein Haus in Bellevue und 1882 in Rueil. Die Monate von Ende Juni bis Oktober 1881 verbrachte er in einem Haus in der Avenue de Villeneuve–l’Étang Nr. 20 in Versailles. In dieser Zeit ist auch das Gemälde Toter Uhu entstanden. In einem Brief an den Dichter Stéphane Mallarmé vom 30. Juli 1881 notierte Manet: „Ich habe kein Modell und namentlich keine Phantasie.“ und weiter „Ich bin nicht zufrieden mit meiner Gesundheit seit ich in Versailles bin.“ Am 23. September 1881 schrieb er an die Malerin Eva Gonzalès über den Versaillesaufenthalt: „Wie Sie, hatten wir leider schreckliches Wetter zu ertragen. Ich glaube, es regnet hier schon seit gut anderthalb Monaten. So mußte ich, der ich hierher kam, um in dem von Lenôtre entworfenen Park Studien zu machen, mich damit begnügen, einfach meinen Garten, der der scheußlichste aller Gärten ist, zu malen. Einige Stilleben, und das ist alles, was ich mitbringen werde.“ Da Manet das Stehen erhebliche Schmerzen verursachte, konzentrierte er sich während des Versaillesaufenthaltes auf kleinformatige Bilder, die er im Sitzen ausführen konnte. So entstanden in Versailles das Gemälde Die Gartenbank und die Ölskizze Stier auf der Wiese, sowie eine Serie von vier nahezu gleich großen Stillleben. Neben Toter Uhu gehörten Der Hase, Ackerwinde und Kapuzinerkresse sowie Gartenwinkel zu dieser Bilderfolge. Im Gemälde Der Hase blieb die linke Bildhälfte unvollendet und die beiden Gartenmotive dieser Serie sind nur skizzenhaft gemalt. Lediglich Toter Uhu wurde von Manet signiert und gilt somit als vollendetes Werk. Französische oder niederländische Vorbilder Obwohl ein direktes Vorbild für das Gemälde Toter Uhu nicht belegt ist, liegen einige Möglichkeiten der Inspiration nahe. So ist bekannt, dass Manet schon als Kind regelmäßig mit seinem Onkel Edmond Fournier den Louvre besuchte. Das Studium der dortigen Gemäldegalerie setzte er während seiner Ausbildung fort und auch in späteren Jahren holte er sich hier wiederholt Anregungen. Die im Louvre ausgestellte französische Stilllebenmalerei war Manet daher bestens bekannt. Bereits 1866 hatte Manet im Bild Das Kaninchen direkten Bezug auf Jean Siméon Chardins um 1727 entstandenes Gemälde Kaninchen mit Jagdzubehör genommen. Die Darstellung von Vögeln als Jagdtrophäen finden sich in der französischen Malerei neben Chardin auch bei Jean-Baptiste Oudry und François Desportes. Chardins An einer Wand aufgehängte Stockente mit Bitterorange und Oudrys Stillleben mit drei toten Vögeln, Johannisbeeren, Kirschen und Insekten sind Beispiele für französische Vorbilder, an denen sich Manet beim toten Uhu orientiert haben könnte. Kunsthistoriker ziehen als Vorbilder für den toten Uhu neben den französischen vor allem niederländische Werke in Betracht. Manet, der mit einer gebürtigen Niederländerin verheiratet war, hatte mehrfach die Heimat seiner Frau besucht und bei diesen Gelegenheiten auch die dortigen Museen besichtigt. Zu den möglichen niederländischen Vorbildern für den toten Uhu zählt das Gemälde Totes Rebhuhn von Jan Baptist Weenix, welches sich im Mauritshuis in Den Haag befindet. Der ehemalige Generaldirektor der Berliner Staatlichen Museen, Leopold Reidemeister, sah die „überzeugendste Quelle“ für den toten Uhu hingegen in dem Bild Toter Hahn von Melchior de Hondecoeter. Dieses Bild befand sich jedoch 1872, während Manets letzter Reise in die Niederlande, noch in Privatbesitz und wurde erst 1877 vom Brüsseler Königlichen Museum der Schönen Künste angekauft, sodass nicht belegt ist, ob Manet dieses Gemälde tatsächlich gekannt hat. Stilllebenmalerei bei Manet Manets Stillleben wurden – anders als seine häufig umstrittenen Figurenkompositionen – bereits zu seinen Lebzeiten hoch geschätzt. So erwarb der Kunstkritiker Ernest Chesenau bereits 1863 ein Blumenstillleben des Künstlers, obwohl er im selben Jahr Manets Das Frühstück im Grünen in einem Artikel verriss. Odilon Redon riet 1868 in der Zeitung La Gironde dem Maler gar, sich ganz auf die Stilllebenmalerei zu beschränken. Von den 430 Gemälden Manets im Werkverzeichnis von Rouart/Wildenstein zählen mehr als achtzig Bilder zur Stilllebenmalerei. Dieses Fünftel des Gesamtwerkes entstand während Manets gesamter Laufbahn als Maler. Zudem fügte er Figurenkompositionen und Porträts Stillleben bei. Bekannte Beispiele hierfür sind Manets Hauptwerke Der spanische Sänger, Das Frühstück im Grünen, Das Frühstück im Atelier, Porträt des Théodor Duret oder Bar in den Folies-Bergère. Bei den eigentlichen Stillleben konzentrierte sich Manet in den 1860er Jahren zunächst auf die Darstellung von unterschiedlichen Arten von Obst oder Fisch, welche er nach Vorbild niederländischer Maler des 17. Jahrhunderts auf einem Tisch arrangierte. Ebenfalls aus den 1860er Jahren stammen einige Blumenstillleben, die ausschließlich Pfingstrosen zeigen. Diese befinden sich entweder in einer Vase oder, als einzelne Zweige drapiert, ebenfalls auf einem Tisch. Neben einem Stillleben mit Sombrero und Gitarre fällt aus diesem Muster das weiter oben beschriebene Stillleben mit Kaninchen nach dem Vorbild von Chardin heraus. Neben einigen wenigen Stillleben, die auf das Jahr 1876 datiert sind und die bereits genannten Motive der 1860er Jahre wiederholen, wandte sich Manet verstärkt erst wieder 1880 der Stilllebenmalerei zu. Neben den bekannten Gemälden Der Schinken und das Spargelbündel entstanden zunächst einige Bilder mit Obstmotiven, bevor sich Manet in seinem letzten Lebensjahr zunehmend auf Blumenstillleben spezialisierte. Neben dem Stillleben mit Kaninchen aus dem Jahr 1866 stellen die beiden 1881 in Versailles entstandenen Jagdstillleben Toter Uhu und Der Hase somit in Manets Gesamtwerk eine Ausnahme dar. Manets Serienbilder Manet beschäftigte sich erstmals 1879 mit dem Thema Serienbilder. Im April des Jahres unterbreitete er dem Präfekten des Départements Seine (Préfet de la Seine) den Vorschlag, das neue Rathaus der Stadt Paris mit sechs Stadtszenen auszuschmücken. Geplant waren die Motive die Markthallen, die Eisenbahnen, der Hafen, das unterirdische Paris, die Pferderennen und die Gärten. Manet erhielt jedoch keine Antwort von der Stadtverwaltung und das Projekt kam nicht zur Ausführung. Im selben Jahr wie die Bilder aus Versailles entstanden zwei Gemälde einer geplanten Jahreszeitenfolge. Hierbei sollten die einzelnen Jahreszeiten von jeweils einer Frau verkörpert werden. Für das fertiggestellte Bild Frühling posierte Manets Freundin Jeanne Demarsy, während für den ebenfalls vollendeten Herbst Méry Laurent Modell stand. Die Motive Sommer und Winter sind von Manet nicht begonnen worden und es ist unbekannt, wer hierfür als Modell vorgesehen war. Die Serie der vier Stillleben aus Versailles wurde im Nachlassinventar des Künstlers vom 18. Juni 1883 mit zwei weiteren Werken Manets als „sechs dekorative Tafeln“ zusammengefasst. Bei den beiden weiteren Bildern handelt es sich um die Gemälde Blumenvase aus dem Jahr 1877 und Die Gießkanne aus dem Jahr 1880. Diese Bilder haben zwar nahezu gleiche Abmessungen wie die Bilderserie aus Versailles, stehen mit letzterer aber in keinem erkennbaren Zusammenhang. Die Kunsthistorikerin Ina Conzen hat auf die gegensätzlichen Ansätze bei Claude Monet und Édouard Manet in Bezug auf die Serienbilder hingewiesen: „Das gleiche Motiv immer wieder unter wechselnden Lichtverhältnissen zu erfassen kann .. für Manet nicht sinnvoll sein.“ Anders als Monet, der in seinen Serienbilder dasselbe Motiv in vielfachen Wiederholungen variierte, ging es Manet in seinen Serien um die Darstellung unterschiedlicher Motive, die in ihrer Gesamtheit ein Thema behandelten. Bei den Stillleben aus Versailles kombinierte Manet zwei florale Sujets mit zwei Tierdarstellungen. Dabei stellen die den Tod symbolisierenden Jagdtrophäen einen Kontrast zu den blühenden und für das Leben stehenden Gartenbildern dar. Ob diese Leben und Tod thematisierenden Bilder für eine bestimmte Raumdekoration vorgesehen waren, ist nicht bekannt. Todesthematik in Manets Werk Manet hat sich vor der Entstehung des toten Uhus in seinen Bildern nur selten direkt mit dem Thema Tod auseinandergesetzt. Das Gemälde Toter Torero von 1864 war zunächst Teil einer größeren Komposition, die im Pariser Salon jedoch keine Anerkennung fand. Manet übernahm, in der nun auf den Torero reduzierten Fassung, Bezug auf eine Komposition aus dem 17. Jahrhundert, welche zu Lebzeiten Manets Diego Velázquez zugeschrieben wurde, den Manet zeitlebens bewunderte. Im selben Jahr entstand das Bild Toter Christus mit zwei Engeln, mit dem Manet ebenfalls den Erfolg im Salon suchte. Auch dieses Bild geht auf traditionelle Vorbilder zurück. Das dritte Bild der 1860er Jahre, in denen Manet sich direkt mit der Todesthematik beschäftigte, war Die Erschießung Maximilians von Mexiko von 1867, von der mehrere Fassungen existieren. Das ebenfalls für den Salon geplante Bild stellt die moderne Adaption von Francisco de Goyas El Tres de Mayo dar. Die drei genannten Werken standen in der Tradition der Malerei und zielten auf ein großes Publikum ab, ohne etwas von Manets Innenleben zu verraten. Anders verhält es sich mit dem zwischen 1867 und 1870 entstandenen Werk Das Begräbnis, in dem Manet vermutlich die Bestattungsprozession seines Freundes Charles Baudelaire zeigt. Hieran schließen sich verschiedene grafische Arbeiten des Jahres 1871 an, die Szenen aus der Zeit der Pariser Kommune darstellen. Etwa zehn Jahre später entstand das Bild Der Selbstmörder, welches möglicherweise auf Baudelaires Gedicht La Corde zurückzuführen ist. Das Bild zeigt einen in Abendgarderobe gekleidet Mann, der mit einer Pistole in der Hand erschossen auf dem Bett liegt. Es ist nicht bekannt, ob Manet, angesichts seines sich massiv verschlechternden Gesundheitszustandes während seiner letzten Lebensjahre, den Suizid für sich selbst in Betracht zog. Sowohl in Manets Briefen als auch in den Aussagen seiner Zeitgenossen wird deutlich, dass Manet zum Ende seines Lebens erheblichen Stimmungsschwankungen unterlag. Zum einen resignierte er darüber, dass der allmählich einsetzende Erfolg im Salon für ihn nun zu spät käme, zum anderen machte er immer wieder Pläne für neue Projekte. Das Gemälde Toter Uhu steht wie viele von Manets Stillleben auch für Vergänglichkeit. Anders als bei den Blumenbildern wird in diesem Bild der Bezug zum Tod deutlich. Dem steht jedoch die lebhafte Malweise des Bildes gegenüber. Provenienz Das Gemälde Toter Uhu befand sich nach dem Tod von Manet am 30. April 1883 im Atelier des Künstlers und erhielt die Nr. 83 im Nachlassinventar. Bei der testamentarisch verfügten Auktion seiner Werke am 4. und 5. Februar 1884 im Pariser Auktionshaus Hôtel Drouot ersteigerte der Sammler de la Narde für 380 Francs das Bild. Später befand es sich in der Sammlung L.–H. Devillez und in einer namentlich nicht bekannten weiteren Sammlung in Brüssel. Am 27. November 1948 wurde das Gemälde dann auf einer Auktion der Brüsseler Galerie Giroux angeboten (Katalog Nr. 39). Über die Kunsthändler Seligmann in Paris und Christoph Bernoulli in Basel gelangte das Bild schließlich auf den Schweizer Kunstmarkt. Bernoulli verkaufte es 1955 für 100.000 Schweizer Franken an Emil Georg Bührle. Nach dem Tod des Sammlers im Folgejahr verblieb das Bild zunächst im Besitz der Familie. Diese überführte das Gemälde Toter Uhu und sieben weitere Werke Manets zusammen mit einem Großteil der Sammlung des Verstorbenen in die Stiftung Sammlung E. G. Bührle, welche seit 1960 als Museum zugänglich ist. Literatur Edouard Manet: Briefe. Deutsche Übersetzung von Hans Graber, Benno Schwabe Verlag, Basel 1933. Hans Jucker, Theodor Müller, Eduard Hüttinger: Sammlung Emil G. Bührle. Kunsthaus Zürich, Zürich 1958. A. und T. Brachert, Klutzen, Reidemeister, Vey, Vignau-Wilberg, Zehmisch: Stiftung Sammlung Emil G. Bührle. Artemis, München und Zürich 1973. ISBN 3-7608-0325-3 Denis Rouart, Daniel Wildenstein: Edouard Manet: Catalogue raisonné. Bibliothèque des Arts, Paris und Lausanne 1975. Peter Hughes, Penny Stempel: Französische Kunst aus dem Davies Vermächtnis. National Museum of Wales, Cardiff 1982, ISBN 0-7200-0237-0 Françoise Cachin, Charles S. Moffett, Juliet Wilson-Bareau: Manet 1832–1833. Éditions de la Réunion des musées nationaux, Paris 1983, ISBN 2-7118-0230-2 Bührle, Dumas, Duparc, Hahnloser-Ingold, Moffett, Prather, Deton Smith, Stevens, Tomlinson: Meisterwerke der Sammlung Emil G. Bührle, Zürich. Artemis, München und Zürich 1990, ISBN 3-7608-1029-2 George Mauner: Manet – the still life paintings. Harry N. Abrams, New York 2000, ISBN 0-8109-4391-3 Ina Conzen: Edouard Manet und die Impressionisten. Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, ISBN 3-7757-1201-1 Maria Teresa Benedetti: Manet. Skira, Mailand 2005, ISBN 88-7624-472-7 Lukas Gloor, Sylvie Wuhrmann: Chefs-d’ouvre de la collection Bührle. La Bibliothèque des arts, Lausanne 2017, ISBN 978-2-88453-207-5. Weblinks Edouard Manet: Toter Uhu (dort Der Uhu) in der Stiftung Sammlung E. G. Bührle Einzelnachweise Gemälde von Édouard Manet Uhu Kultur (Jagd) Stillleben Gemälde (19. Jahrhundert)
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Rotfigurige Vasenmalerei
Die Rotfigurige Vasenmalerei (auch Rotfigurige Keramik, Rotfiguriger Stil) ist einer der bedeutendsten Stile der figürlichen griechischen Vasenmalerei. Sie wurde um 530 v. Chr. in Athen entwickelt und war bis zum Ende des 3. vorchristlichen Jahrhunderts in Gebrauch. Sie löste im Verlauf weniger Jahrzehnte die zuvor vorherrschende Schwarzfigurige Vasenmalerei ab. Ihren modernen Namen erhielt sie aufgrund der figürlichen Darstellungen in roter Farbe auf schwarzem Grund, die sie gegenüber der älteren Gestaltungsweise des schwarzfigurigen Stils mit schwarzen Figuren vor rotem Hintergrund absetzt. Bedeutendste Produktionsgebiete waren neben Attika unteritalisch-griechische Werkstätten. Außerdem wurde der rotfigurige Stil in anderen Gebieten Griechenlands übernommen. Eine bedeutende Produktionsstätte außerhalb des griechischen Kulturraums war Etrurien. Attische Vasen rotfigurigen Stils wurden nach ganz Griechenland und auch darüber hinaus exportiert und beherrschten für lange Zeit den Markt für Feinkeramik. Nur wenige Produktionsstätten konnten sich mit der Innovationskraft, der Qualität und auch der Produktionskapazität Athens messen. Allein von den in Athen produzierten rotfigurigen Vasen sind heute noch weit über 40.000 Exemplare ganz oder in Fragmenten erhalten. Auch aus der zweiten bedeutenden Produktionsstätte, Unteritalien, sind über 20.000 Vasen und Fragmente überliefert. Seit den Studien von John D. Beazley und Arthur D. Trendall, beginnend im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, ist die Erforschung dieser Kunstgattung weit fortgeschritten. Viele Vasen können bestimmten Künstlern oder Künstlergruppen zugeordnet werden. Die Bilderwelten der Vasen sind für Untersuchungen zur Kulturgeschichte, zu Alltagsleben, Ikonografie und Mythologie der griechischen Antike unentbehrlich. Technik Die rotfigurige Technik war – vereinfacht gesagt – die Umkehrung der schwarzfigurigen. Die Umrisszeichnungen der Figuren und anderer Teile des Bildes wurden auf die noch ungebrannten, nach einiger Zeit des Trocknens lederharten, fast spröde gewordenen Vasenkörper aufgetragen. Der normale ungebrannte Ton hatte während dieses Produktionsschritts beispielsweise in Attika einen orangeroten Farbton. Die Umrisse wurden entweder mit einem stumpfen Instrument, das leichte Furchen hinterließ, oder mit Holzkohle, die beim späteren Brand verschwand, nachgezeichnet. Anschließend wurden die Konturen mit Pinsel und Glanzton nachgezogen. Manchmal ist dank der Furchen der Vorzeichnungen noch erkennbar, wenn der Künstler sich während des Zeichnens entschloss, die Darstellung etwas zu verändern. Für wichtige Konturen wurde eine leicht erhabene Relieflinie aus aufgetragenem Tonschlicker genutzt, für weniger wichtige Linien und Binnenzeichnungen reichte verdünnter Glanzton. Auch andere Farben wie Weiß oder Rot wurden nun für Details aufgetragen. Zum Auftragen der Relieflinie wurde wahrscheinlich ein Pinsel aus Borsten verwendet. Der kräftige Auftrag als Relieflinie war nötig, da der recht flüssige Glanzton sonst einen zu matten Effekt erzeugt hätte. Nach einer ersten Entwicklungsphase wurden beide Möglichkeiten eingesetzt, um Abstufungen und Details besser darstellen zu können. Der Raum zwischen den Figuren wurde zuletzt mit einem mattgrauen Glanzton abgedeckt. Anschließend wurden die Vasen im Dreiphasenbrand gebrannt. Hierbei erhielt der Glanzton seine charakteristische schwarze bis schwarzbraune Farbe. Die neue Technik hatte den Vorteil, dass nun die Binnenzeichnungen weitaus besser ausgearbeitet werden konnten. Im schwarzfigurigen Stil mussten sie aus dem Farbauftrag herausgeritzt werden, was zwangsläufig weniger genau war als der direkte Auftrag von Zierlinien. Die rotfigurigen Darstellungen waren bewegter und lebensnäher als der schwarzfigurige Silhouetten-Stil. Sie hoben sich außerdem kontrastreicher vom schwarzen Hintergrund ab. Es war nun möglich, Menschen nicht nur im Profil zu zeigen, sondern auch von vorn, von hinten oder in Dreiviertelansichten. Die rotfigurige Technik erlaubte also auch die Vermittlung von Tiefe und Raum. Doch hatte sie auch Nachteile. Die im schwarzfigurigen Stil übliche Unterscheidung der Geschlechter durch Abdecken der weiblichen Haut mit weißer Farbe war nun nicht mehr möglich. Ebenso wurde es schwieriger, die Geschlechter anhand der Gewänder oder Frisuren zu unterscheiden, was unter anderem an der Tendenz lag, viele Helden und Götter jugendlich, also bartlos, darzustellen. Hinzu kamen vor allem in der Anfangszeit des Stils Fehlberechnungen bei der Figurendicke. In der schwarzfigurigen Vasenmalerei gehörten die Umrisslinien zu den freistehenden Figuren. Da die Umrisszeichnungen nun aber in der Farbe des schwarzen Hintergrundes ausgeführt wurden, musste man die Umrisse zum Hintergrund, mit dem sie am Ende verschmolzen, zählen. Deshalb gab es zunächst oft recht dünne Figuren. Ein weiteres Problem war, dass beim schwarzen Hintergrund die Darstellung einer Raumtiefe nicht möglich war. Somit wurde bei der rotfigurigen Vasenmalerei fast nie der Versuch einer perspektivischen Darstellung unternommen. Doch überwogen die Vorteile. Vor allem an Details wie Muskeln oder anderen anatomischen Augenfälligkeiten lässt sich die Entwicklung exemplarisch verfolgen. Attika Im 7. Jahrhundert v. Chr. wurde in Korinth die Schwarzfigurige Vasenmalerei entwickelt, die zur vorherrschenden Gestaltungsweise im griechischen Siedlungsgebiet werden sollte und sogar darüber hinaus Verbreitung fand. Zwar beherrschte Korinth diesen Markt, doch bildeten sich regionale Produktionszentren und Märkte heraus. In Athen wurde zunächst der korinthische Stil kopiert. Im Laufe der Zeit löste Athen Korinth in der marktbeherrschenden Stellung ab. Die attischen Künstler führten die Technik zu einer bis dahin nicht gekannten Höhe und schöpften im zweiten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. ihre Möglichkeiten voll aus. Um 530 v. Chr. wirkte mit dem attischen Maler Exekias der wohl bedeutendste Vertreter des schwarzfigurigen Stils. Auch durch das 5. Jahrhundert v. Chr. hindurch waren die im neuen roten Farbstil produzierten Feinkeramiken aus Attika die dominierenden Produkte in dieser Wirtschaftssparte. Attische Töpferwaren wurden in den gesamten großgriechischen Raum, ja selbst nach Etrurien und ins keltische Mitteleuropa exportiert. Die Vorliebe für diese Töpferwaren führte dazu, dass vor allem in Unteritalien und in Etrurien von der attischen Vasenmalerei beeinflusste Werkstätten und „Schulen“ entstanden, die jedoch ausschließlich für den regionalen Markt produzierten. Anfänge Um 530 v. Chr. wurden erstmals Vasen im rotfigurigen Stil produziert. Als Erfinder dieser Technik gilt gemeinhin der Andokides-Maler. Er und andere sehr frühe Vertreter des neuen Stils, wie beispielsweise Psiax, bemalten Vasen zunächst in beiden Stilen, indem sie die Bildfelder der einen Seite in schwarzfiguriger, die der anderen Seite in rotfiguriger Technik ausführten. Derartige Gefäße, etwa die Bauchamphora des Andokides-Malers in München, werden Bilinguen genannt. Zwar waren im Vergleich zum schwarzfigurigen Stil schon große Fortschritte zu erkennen, doch noch immer wirkten die Figuren steif und es gab selten Überschneidungen der Bildinhalte. Viele Techniken des alten Stils wurden noch für ihre Herstellung verwendet. So finden sich nicht selten Ritzlinien oder der zusätzliche Auftrag roter Farbe (added red), mit der größere Farbflächen koloriert wurden. Pionierzeit Den Schritt hin zur Ausreizung der Möglichkeiten der rotfigurigen Malerei machten die Künstler der sogenannten Pioniergruppe. Ihre Wirkungszeit wird etwa in die Jahre zwischen 520 und 500 v. Chr. datiert. Bedeutende Vertreter waren Euphronios, Euthymides und Phintias. Diese von der Forschung erschlossene und definierte Gruppe experimentierte mit den verschiedenen Möglichkeiten des Stils. So erschienen die dargestellten Figuren in neuen Körperhaltungen mit Rücken- und Frontalansichten, es gab Experimente mit perspektivischen Verkürzungen und die Kompositionen wurden insgesamt dynamischer. Als technische Neuerung führte wohl Euphronios die Relieflinie ein. Zudem wurden neue Gefäßformen entwickelt, was dadurch begünstigt wurde, dass viele Maler der Pioniergruppe auch als Töpfer arbeiteten. Neu waren etwa der Psykter und die Pelike. Außerdem wurden großformatige Kratere und Amphoren bevorzugt. Obwohl die Gruppe keinen echten Zusammenhalt hatte, gab es sehr wohl Verbindungen zwischen den einzelnen Malern, die sich offensichtlich beeinflussten, sich in einer Art freundschaftlichen Wettstreits befanden und sich gegenseitig anspornten. So prahlte Euthymides in einer Inschrift „wie [es] Euphronios niemals [gekonnt hätte]“. Überhaupt ist es ein Zeichen der Pioniergruppe, dass sie sehr schreibfreudig war. Kennzeichnungen der dargestellten mythologischen Figuren und Kalos-Inschriften waren eher die Regel als die Ausnahme. Neben den Gefäßmalern arbeiteten auch einige bedeutende Schalenmaler mit dem neuen Stil. Zu ihnen gehörten Oltos und Epiktetos. Sie verzierten viele ihrer Werke bilinge, nutzten die rotfigurige Technik dann meist für die Innenseite der Schalen. Spätarchaik Die auf die Pioniere folgende Generation von Künstlern der Spätarchaik (etwa 500 bis 470 v. Chr.) führten den neuen Stil zur Blüte. Die auch zu dieser Zeit noch produzierten schwarzfigurigen Vasen erreichten keine vergleichbare Qualität mehr und wurden nahezu völlig verdrängt. Einige der bedeutendsten Vasenmaler wirkten in dieser Zeit. Zu nennen sind bei den Gefäßmalern etwa der Berliner Maler und der Kleophrades-Maler, unter den Schalenmalern ragten Onesimos, Duris, Makron und der Brygos-Maler heraus. Nicht nur die Qualität wurde immer besser, auch die Produktion verdoppelte sich in dieser Zeit. Athen wurde zum beherrschenden Produzenten von Feinkeramik in der Mittelmeerwelt, nahezu alle regionalen Produktionen außerhalb Attikas traten in seinen Schatten. Kennzeichnend für den Erfolg der attischen Vasen war die nun perfekt beherrschte perspektivische Verkürzung, was die dargestellten Figuren in ihren Körperhaltungen und Handlungen weitaus natürlicher erscheinen ließ. Außerdem setzte eine massive Verringerung des Dargestellten ein. Ornamentale Verzierungen traten stark in den Hintergrund, die Anzahl der dargestellten Figuren wurde deutlich reduziert, ebenso die dargestellten anatomischen Details. Im Gegenzug wurden viele neue Themen in die Vasenmalerei eingeführt. Besonderer Beliebtheit erfreute sich nun der Sagenkreis um Theseus. Neue oder veränderte Gefäßformen wurden von den Malern gern angenommen, darunter etwa die Nolanische Amphora, Lekythen, Schalen des Typus B, Askoi und Dinoi. Es ist zudem eine steigende Spezialisierung von Gefäß- und Vasenmalern festzustellen. Früh- und Hochklassik Das besondere Merkmal frühklassischer Figuren war, dass sie nicht selten untersetzter waren als bei früheren Malern und nicht mehr so dynamisch wirkten. Dadurch wirkten die Bilder häufig ernsthaft, manchmal gar pathetisch. Die Faltenwürfe der Gewänder waren hingegen nicht mehr so linear und wirkten nun plastischer. Zudem änderte sich die Art der Darstellung nachhaltig. Zum einen wurde nun häufig nicht mehr der Moment eines bestimmten Ereignisses gezeigt, sondern die unmittelbar davor liegende Situation und damit der Weg zu einer Begebenheit. Zum anderen begannen nun auch andere neue Errungenschaften der athenischen Demokratie ihre Wirkung zu zeigen. So sind Einflüsse der Tragödie und auch der Wandmalerei feststellbar. Da die griechische Wandmalerei fast vollständig verloren ist, sind die Reflexe in der Vasenmalerei ein – wenn auch bescheidenes – Hilfsmittel bei der Erforschung dieser Kunstgattung. Auch beeinflusste beispielsweise der neu geschaffene Parthenon und seine Skulpturenausstattung die Vasenmaler hochklassischer Zeit. Das schlug sich besonders in der Darstellung der Gewänder nieder. Der Fall des Stoffes wirkte nun natürlicher und die Faltenwiedergabe wurde vermehrt, was zu einer größeren Darstellungstiefe führte. Bildkompositionen wurden nochmals vereinfacht. Die Künstler legten besonderen Wert auf Symmetrie, Harmonie und Ausgeglichenheit. Die nun wieder schlankeren Figuren strahlten oft eine in sich versunkene, göttergleiche Ruhe aus. Bedeutende Künstler der Früh- und Hochklassik von etwa 480 bis 425 v. Chr. sind der Providence-Maler, Hermonax und der Achilleus-Maler, die die Tradition des Berliner Malers fortsetzten. Auch der Phiale-Maler, der als Schüler des Achilleus-Malers gilt, gehört zu den wichtigen Künstlern. Außerdem entstanden neue Werkstatttraditionen. Besonders bedeutend waren dabei die sogenannten „Manieristen“, deren hervorragender Vertreter der Pan-Maler war. Eine weitere Werkstatttradition begann mit dem Niobiden-Maler und wurde von Polygnotos, dem Kleophon-Maler und dem Dinos-Maler fortgesetzt. Die Bedeutung der Schalen nahm ab, wenngleich sie beispielsweise in der Werkstatt des Penthesilea-Malers noch in großen Mengen produziert wurden. Spätklassik Während der Spätklassik entstanden ab dem letzten Viertel des 5. Jahrhunderts v. Chr. zwei gegensätzliche Strömungen. Zum einen entwickelte sich eine am „Reichen Stil“ der Skulptur orientierte Richtung, zum anderen wurden die Entwicklungen aus der Hochklassik beibehalten. Wichtigster Vertreter des Reichen Stils war der Meidias-Maler. Charakteristische Merkmale sind durchscheinende Gewänder und eine große Anzahl von Gewandfalten. Zudem werden vermehrt Schmuck und andere Objekte dargestellt. Besonders auffällig ist die Verwendung von weiteren Farben, meist Weiß oder Gold, welche im Relief wiedergegebene Accessoires hervorheben. Damit wurde erstmals versucht, eine dreidimensionale Darstellung auf Vasen zu schaffen. Im Laufe der Zeit setzte zudem eine „Verweichlichung“ ein. Der männliche Körper, der bislang vor allem durch die Darstellung von Muskeln definiert wurde, verlor dieses auffällige Darstellungsmerkmal. Die dargestellten Szenen widmeten sich nun auch seltener mythologischen Themen als zuvor. Bilder aus der privaten Welt gewannen an Bedeutung. Vor allem Darstellungen aus der Lebenswelt von Frauen sind häufig zu finden. Bei mythologischen Szenen dominieren Bilder mit Dionysos und Aphrodite. Warum dieser Wandel in der Darstellungsweise bei einem Teil der Künstler einsetzte, ist nicht genau bekannt. Einerseits wird ein Zusammenhang mit den Schrecken des Peloponnesischen Krieges vermutet, andererseits wird es mit dem Verlust der vorherrschenden Stellung Athens auf dem mediterranen Töpfermarkt zu erklären versucht, was letztlich auch eine Kriegsfolge gewesen wäre. Nun hätten neue Märkte, etwa in Spanien, erschlossen werden müssen, wo die Kundschaft andere Wünsche und Bedürfnisse hatte. Diesen Theorien widerspricht, dass der alte Stil von manchen Künstlern beibehalten wurde. Andere Künstler, wie der Eretria-Maler, versuchten beide Stile zu verbinden. Die besten Arbeiten der Spätklassik finden sich auf kleinformatigen Vasentypen wie Bauchlekythen, Pyxiden und Oinochoen. Ebenfalls beliebt waren die Lekanis, der Glockenkrater und die Hydria. Um 370 v. Chr. endet die Produktion üblicher rotfiguriger Keramik. Sowohl der Reiche als auch der Schlichte Stil existierten bis dahin weiter. Der wichtigste Vertreter des Reichen Stils war zu dieser Zeit der Meleager-Maler, der des Schlichten Stils der letzte bedeutende Schalenmaler, der Jena-Maler. Kertscher Vasen Die letzten Jahrzehnte rotfiguriger Vasenmalerei in Athen wurden von den Kertscher Vasen geprägt. Der von ihnen vertretene Stil, der etwa 370 bis 330 v. Chr. bestimmend war, bildete eine Verbindung des Reichen und des Schlichten Stils, wobei der Reiche Stil einen größeren Einfluss hatte. Typisch für die Kertscher Vasen waren überladene Bildkompositionen mit großen, statuenhaften Figuren. Neben den bislang gängigen zusätzlichen Farben kommen nun auch Blau, Grün und andere hinzu. Um Volumen und Schatten zu zeigen, wird verdünnter, verlaufender Glanzton aufgetragen. Manchmal werden ganze Figuren appliziert, das heißt als kleine figürliche Reliefs dem Vasenkörper aufgesetzt. Die Anzahl der verschiedenen Gefäßformen geht stark zurück. Übliche Bildträger waren jetzt Peliken, Kelchkratere, Bauchlekythen, Skyphoi, Hydrien und Oinochoen. Dargestellt wurden in besonders großer Zahl Szenen aus dem Leben der Frauen. Bei mythologischen Bildern herrschte weiterhin Dionysos vor, außerdem Ariadne und Herakles bei den Heroen. Bedeutendster Künstler ist der Marsyas-Maler. Spätestens um 320 v. Chr. wurden die letzten Vasen mit figürlichen Darstellungen in Athen geschaffen. Danach wurden noch einige Zeit Vasen in dieser Technik hergestellt, die jedoch unfigürlich dekoriert wurden. Letzte fassbare Vertreter sind die Maler der bezeichnenderweise YZ genannten Gruppe. Künstler und Werke Das Töpferviertel Athens war der Kerameikos. Hier gab es diverse kleinere und wohl auch größere Werkstätten. 1852 fand man dort bei Bauarbeiten in der Hermesstraße die Werkstatt des Jenaer Malers. Die dort gefundenen Artefakte befinden sich heute in der Universitätssammlung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Besitzer der Werkstätten waren nach heutiger Erkenntnis die Töpfer. Von etwa 40 attischen Vasenmalern ist aus Beischriften der Name bekannt. Zum Namen gehörte im Allgemeinen der Zusatz (égrapsen, hat gemalt). Dem gegenüber stand die Signatur der Töpfer, (epoíesen, hat gemacht) die sich mehr als doppelt so oft, nämlich etwa 100-mal fand. Waren die Signaturen schon seit etwa 580 v. Chr. bekannt, steigerte sich ihre Verwendung bis zu einem Höhepunkt während der Pionierzeit. Doch mit einer veränderten, negativeren Einstellung zum Handwerk nahm im Laufe der Zeit, spätestens seit der Klassik, auch die Anzahl der belegten Signaturen wieder ab. Insgesamt sind solche Signaturen jedoch recht selten und da sie häufig auf besonders guten Stücken gefunden wurden, lässt sich daraus sicher der Stolz der Töpfer und Vasenmaler erkennen. Der Status der Maler bleibt im Vergleich mit den Töpfern manchmal unklar. Da beispielsweise Euphronios und andere Maler später selbst als Töpfer arbeiteten, ist anzunehmen, dass zumindest ein beträchtlicher Teil keine Sklaven waren. Doch deuten manche Namen darauf hin, dass unter den Vasenmalern auch ehemalige Sklaven oder Periöken waren. Zudem sind manche der bekannten Eigennamen nicht eindeutig zu interpretieren. So gibt es mehrere Vasenmaler, die als Polygnotos signiert haben. Wahrscheinlich handelt es sich hier um Versuche, vom Namen des großen Monumentalmalers zu profitieren. Ebenso könnte es sich im Falle anderer Maler mit berühmten Namen, wie Aristophanes, verhalten. Die Karrieren von Vasenmalern sind heute zum Teil recht gut dokumentiert. Neben Malern, die nur relativ kurz arbeiteten, ein bis zwei Jahrzehnte, gab es auch Maler, deren Schaffenszeit sich weitaus länger verfolgen lässt. Zu diesen lange wirkenden Künstlern gehören beispielsweise Duris, Makron, Hermonax oder der Achilleus-Maler. Da mehrfach der Wechsel vom Maler zum Töpfer zu beobachten ist, und des Öfteren unklar ist, ob manche Töpfer auch als Maler und umgekehrt gearbeitet haben, geht man davon aus, dass sich eine Karriere vom Gehilfen, denen beispielsweise die Bemalung der Vasen oblag, bis hin zum Töpfer möglich war. Mit der Einführung der rotfigurigen Malerei veränderte sich das Arbeitsbild der Töpfer und Vasenmaler offenbar jedoch erst zu dieser Arbeitsteilung. Noch während der schwarzfigurigen Periode sind viele attische Töpfermaler bekannt, etwa Exekias, Nearchos oder möglicherweise auch Amasis. Durch die gestiegene Exportnachfrage wurden Umstrukturierungen im Produktionsprozess nötig, Arbeitsteilung wurde üblich und eine nicht immer eindeutige Trennung zwischen Töpfer und Vasenmaler wurde vollzogen. Wie schon erwähnt oblag das Bemalen der Gefäße wohl vor allem den jüngeren Gehilfen. Nun lassen sich dadurch einige Hinweise auf die Möglichkeiten der Handwerksgruppen schließen. So scheint es, als hätten im Allgemeinen mehrere Maler in einer Töpferwerkstatt gearbeitet, weil sich häufig zu ähnlicher Zeit bemalte Werke verschiedener Vasenmaler eines Töpfers finden. So arbeiteten beispielsweise für Euphronios unter anderem Onesimos, Duris, der Antiphon-Maler, der Triptolemos-Maler und der Pistoxenos-Maler. Andererseits konnten auch die Maler zwischen den Werkstätten wechseln. So arbeitete der Schalenmaler Oltos für mindestens sechs verschiedene Töpfer. Auch wenn Vasenmaler aus heutiger Sicht oft als Künstler angesehen werden und die Vasen dementsprechend als Kunstwerke, entspricht dies nicht der antiken Sichtweise. Vasenmaler waren ebenso wie Töpfer Handwerker, ihre Produkte Handelsgut. Die Handwerker mussten ein angemessenes Bildungsniveau besessen haben, da vielfach auch andere In- und Beischriften zu finden sind. Zum einen handelt es sich um die schon erwähnten Kalos-Inschriften (auch Lieblingsinschriften genannt), zum anderen um Beschriftungen des Dargestellten. Doch konnte wohl nicht jeder Vasenmaler schreiben, wie manche Beispiele sinnlos aneinander gereihter Buchstaben zeigen. Doch ist zu beobachten, dass sich die Schreibkundigkeit seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. stetig verbessert. Ob Töpfer und auch Vasenmaler zur attischen Elite gezählt haben, konnte bislang nicht befriedigend geklärt werden: Stellten die Maler bei Szenen aus dem Symposion, einem Vergnügen der Oberschicht, folglich selbst Erlebtes dar, sehnten sie sich nur nach der Teilnahme oder befriedigten sie schlicht einen Warenbedarf? Ein Großteil der produzierten Vasen wie Psykter, Kratere, Kalpis und Stamnos, aber auch Kylixes und Kanthares waren zumindest für diesen Zweck, das Symposion, bestimmt. Aufwändig bemalte Vasen waren ein gutes, aber nicht das beste Tafelgeschirr, das ein Grieche besitzen konnte. Höher im Ansehen als solche Vasen stand metallenes Geschirr, vor allem natürlich aus Edelmetall. Dennoch waren solche Vasen keine ganz billigen Produkte. Vor allem große Exemplare waren kostbar. So kosteten große bemalte Gefäße um 500 v. Chr. etwa eine Drachme, was dem damaligen Tageslohn eines Steinmetzen entsprach. Andererseits können die keramischen Gefäße auch als Versuch interpretiert werden, Metallgeschirr zu imitieren. Es ist anzunehmen, dass die unteren sozialen Schichten eher einfachere, umfangreich durch Ausgrabungen nachgewiesene Gebrauchskeramiken nutzten. Noch weiter verbreitet war wahrscheinlich Geschirr aus vergänglichen Materialien wie Holz. Trotzdem zeugen zahlreiche Siedlungsfunde rotfiguriger Keramik, wenn auch nicht höchster Qualität, davon, dass diese Gefäße im Alltag genutzt wurden. Ein Großteil der Produktion war allerdings den Kult- und Grabgefäßen vorbehalten. In jedem Fall ist anzunehmen, dass die Herstellung hochwertiger Töpferwaren ein durchaus einträgliches Geschäft war. So wurden beispielsweise Reste eines kostspieligen Weihgeschenkes des Malers Euphronios auf der Akropolis von Athen gefunden. Unzweifelhaft ist, dass der Export der Keramik einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Wohlstand der Stadt Athen hatte. So verwundert es auch nicht, dass viele Werkstätten ihre Produktion auf den Export ausgerichtet hatten und beispielsweise Gefäßformen herstellten, die in den Abnehmerregionen gefragt waren. Der Niedergang der Vasenmalerei setzt nicht zuletzt in der Zeit ein, als die Etrusker, wohl die Hauptabnehmer attischer Keramik, im 4. Jahrhundert v. Chr. unter immer größeren Druck durch süditalische Griechen und die Römer kamen. Vor allem seit der Niederlage der Etrusker gegen die Griechen 474 v. Chr. importierten diese viel weniger griechische Keramik und produzierten vermehrt selbst. Danach exportierten attische Händler vor allem innerhalb der griechischen Welt. Hauptgrund für den Niedergang war jedoch der für Athen immer schlechtere Verlauf des Peloponnesischen Krieges, der in der verheerenden Niederlage der Athener im Jahr 404 v. Chr. gipfelte. Von nun an kontrollierte Sparta den Handel mit Italien, ohne die wirtschaftliche Kraft zu besitzen, ihn auszufüllen. Attische Töpfer mussten sich ein neues Absatzgebiet suchen und fanden es am Schwarzen Meer, in Spanien und in Südfrankreich. Diese Vasen sind meist von geringerer Qualität und wurden vor allem wegen ihres „exotischen Flairs“ gekauft. Doch erholten sich Athen und auch die Töpferindustrie nie mehr ganz von der Niederlage und es zog schon im Verlauf des Krieges einige Töpfer und Vasenmaler nach Unteritalien, wo die wirtschaftliche Basis besser war. Bezeichnend für die Ausrichtung der attischen Vasenproduktion auf den Export ist der nahezu vollständige Verzicht auf die bildliche Darstellung von Theaterszenen. Denn Käufer aus anderen Kulturkreisen, etwa Etrusker oder später Abnehmer im heutigen Spanien, hätten die Darstellungen nicht verstanden oder sie nicht interessant gefunden. In der nicht auf den Export ausgerichteten unteritalischen Vasenmalerei hingegen sind Vasen mit Bildern aus dem Theaterbereich keine Seltenheit. Ein weiterer Grund für das Produktionsende figürlich dekorierter Vasen war eine Veränderung des Geschmacks, die mit dem beginnenden Hellenismus einsetzte. Unteritalien Die unteritalische rotfigurige Vasenmalerei entstammt einem Produktionsgebiet, das aus moderner Sicht als einziges unter künstlerischen Aspekten mit den attischen Produktionen mithalten konnte. Nach den attischen Vasen sind die unteritalischen, zu denen auch die sizilischen gehören, die am besten erforschten. Im Gegensatz zu ihren attischen Pendants wurden sie überwiegend für den regionalen Markt produziert. Nur wenige Stücke fanden sich außerhalb Unteritaliens, dessen Küstenregion zu dieser Zeit von griechischen Städten kontrolliert wurde, die während der griechischen Kolonisation gegründet wurden. Die ersten Werkstätten entstanden in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., gegründet wurden sie von attischen Keramikern. Schnell wurden auch einheimische Handwerker ausgebildet und die thematische und formale Abhängigkeit von den attischen Vasen wurde bald überwunden. Gegen Ende des Jahrhunderts bildeten sich in Apulien die sogenannten ornate- und plain-styles heraus. Vor allem der ornate-style wurde von den anderen festländischen Schulen übernommen, jedoch wurde es dort nie ganz zur apulischen Kunstfertigkeit gebracht. Heute sind etwa 21.000 unteritalische Vasen und Fragmente bekannt. Davon wurden etwa 11.000 der apulischen, 4000 der kampanischen, 2000 der paestanischen, 1500 der lukanischen und etwa 1000 Stücke den sizilischen Werkstätten zugewiesen. Apulien Die Apulische Vasenmalerei gilt als die führende Gattung der unteritalischen Vasenmalerei. Ein wichtiges Produktionszentrum lag in Tarent. Die rotfigurigen Vasen wurden in Apulien in einem Zeitraum von etwa 430 bis 300 v. Chr. hergestellt. In der apulischen Vasenmalerei wird zwischen dem plain- und dem ornate-style unterschieden. Die Unterscheidung liegt vor allem darin begründet, dass beim plain-style, abgesehen von Glocken- und Kolonettenkrateren, kleinere Gefäße bemalt wurden. Auf diesen wurden selten mehr als vier Figuren gezeigt. Schwerpunkt bei der Darstellung waren mythologische Themen, Frauenköpfe, Krieger in Kampf- und bei Abschiedsszenen sowie Thiasos-Bilder aus dem dionysischen Bereich. Auf der Rückseite wurden häufig „Manteljünglinge“ dargestellt. Wichtigstes Merkmal dieser einfach dekorierten und komponierten Vasen ist der weitestgehende Verzicht auf Zusatzfarben. Bedeutende Vertreter waren der Sisyphos-Maler und der Tarporley-Maler. Nach der Mitte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts ist eine Annäherung an den ornate-style zu beobachten. Wichtigster Künstler war zu dieser Zeit der Varrese-Maler. Beim ornate-style legten die Künstler meist Wert auf großformatige Vasen wie Volutenkratere, Amphoren, Loutrophoren und Hydrien. Die größere Gefäßoberfläche wurde dazu genutzt, bis zu 20 Figuren in zum Teil mehreren Registern auf dem Vasenkörper darzustellen. Zusätzliche Farben, vor allem Rottöne, Goldgelb und Weiß, wurden reichlich eingesetzt. Seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurden vor allem in den Halszonen und an den Seiten der Vasen üppige Pflanzen- oder Ornamentdekorationen aufgebracht. Zur gleichen Zeit wurden auch perspektivische Ansichten, vor allem von Gebäuden wie den „Unterweltspalästen“ (Naïskos), dargestellt. Seit etwa 360 v. Chr. wurden solche Bauwerke häufig in Szenen wiedergegeben, die mit dem Totenkult in Verbindung standen (Naïskosvasen). Wichtigste Vertreter dieses Stils sind der Iliupersis-Maler, der Dareios-Maler und der Baltimore-Maler. Beliebt waren vor allem mythologische Szenen: Götterversammlungen, Amazonomachien, der trojanische Sagenkreis, Herakles und Bellerophon. Zudem wurden immer wieder Mythen dargestellt, die man sonst nur selten auf Vasen sieht. Manche Vasen sind die einzige Quelle für die Ikonografie derartiger Mythen. Ein in der attischen Malerei seltenes Sujet sind die Theaterdarstellungen. Vor allem Possenszenen, etwa auf sogenannten Phlyakenvasen, sind nicht selten zu finden. Alltags- und Sportdarstellungen spielten hingegen nur in der Anfangszeit eine Rolle, nach 370 v. Chr. verschwinden sie aus dem Repertoire. Viele der Unterschiede zur attischen Vasenmalerei lassen sich nicht zuletzt auf den Umstand zurückführen, dass die apulischen Gefäße in zunehmendem Maß speziell für ihre Verwendung am und im Grab gearbeitet wurden. Die apulische Malerei beeinflusste die anderen Keramikzentren Unteritaliens maßgeblich. Es wird angenommen, dass sich einige apulische Künstler in anderen unteritalischen Städten niedergelassen hatten und dort ihr Können einbrachten. Neben den rotfigurigen Vasen wurden in Apulien auch schwarzgefirnisste Gefäße mit aufgemaltem Dekor (Gnathiavasen) und polychrome Vasen (Canosiner Vasen) produziert. Kampanien Auch in Kampanien wurden im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. rotfigurige Vasen geschaffen. Auf dem hellbraunen Ton Kampaniens wurde ein Überzug aufgebracht, der nach dem Brennen einen rosafarbenen bis roten Farbton annimmt. Kampanische Vasenmaler bevorzugten eher kleinere Gefäßtypen, hinzu kamen Hydrien und Glockenkratere. Als Leitform Kampaniens gilt die Bügelhenkelamphora. Viele Gefäßformen, die für die apulische Keramik typisch waren, fehlten, so Voluten- und Kolonettenkratere, Lutrophoren, Rhyta und Nestoriden; Peliken sind selten. Das motivische Repertoire ist begrenzt. Gezeigt werden Jünglings- und Frauengestalten, Thiasos-Szenen, Vogel- und Tierbilder, vor allem auch einheimische Krieger und Frauen. Auf den Rückseiten befinden sich häufig Manteljünglinge. Mythologische Szenen und Darstellungen, die mit dem Grabkult in Zusammenhang stehen, spielen eine untergeordnete Rolle. Naiskos-Szenen, ornamentale Elemente sowie Polychromie werden erst ab etwa 340 v. Chr. unter apulischem Einfluss aufgegriffen. Vor der Einwanderung sizilischer Keramiker im zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts v. Chr., die mehrere Werkstätten in Kampanien etablierten, ist dort nur die Werkstatt der Owl-Pillar-Gruppe aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. bekannt. Die Kampanische Vasenmalerei wird in drei Hauptgruppen gegliedert: Die erste Gruppe wird repräsentiert durch die Werkstatt des Kassandra-Malers aus Capua, der noch unter dem Einfluss sizilischer Maler stand. Ihm folgen die Werkstätten des Parrish-Malers und die Werkstatt um den Laghetto-Maler und den Caivano-Maler. Kennzeichnend sind die Vorliebe für Satyrfiguren mit Thyrsos, Darstellungen von Köpfen – meist unter den Henkeln von Hydrien –, Zinnbordüren an den Gewändern und die häufige Verwendung weißer, roter und gelber Zusatzfarbe. Der Laghetto- und der Caivano-Maler scheinen später nach Paestum ausgewandert zu sein. Die AV-Gruppe hatte ihre Werkstatt ebenfalls in Capua. Besonders wichtig ist hier der Whiteface-Frignano-Maler, der einer der ersten Maler der Gruppe war. Typisch ist für ihn die Verwendung weißer Zusatzfarbe zur Kennzeichnung der weiblichen Gesichter. Besonders in dieser Gruppe wurden heimische Szenen, Frauen und Krieger gezeigt. Mehrfigurige Szenen sind selten, meist wird jeweils nur eine Figur auf der Vorder- und Rückseite gezeigt, manchmal lediglich der Kopf. Die Gewänder sind meist flüchtig gezeichnet. In Cumae arbeitete nach 350 v. Chr. der CA-Maler sowie dessen Mitarbeiter und Nachfolger. Der CA-Maler gilt als herausragender Vertreter dieser Gruppe, womöglich der gesamten kampanischen Vasenmalerei. Ab 330 v. Chr. ist ein starker Einfluss der apulischen Vasenmalerei augenscheinlich. Am häufigsten dargestellte Motive sind Naiskos- und Grabszenen, dionysische Szenen und Symposiendarstellungen. Typisch ist zudem die Darstellung von geschmückten Frauenköpfen. Der CA-Maler arbeitete polychrom, verwendete aber manchmal sehr viel Deckweiß bei Architektur- und Frauendarstellungen. Seine Nachfolger konnten seine Qualität nur bedingt halten und so setzte schnell ein Niedergang ein, der um 300 v. Chr. auch im Ende der kampanischen Vasenmalerei mündete. Lukanien Die Lukanische Vasenmalerei begann um das Jahr 430 v. Chr. mit den Arbeiten des Pisticci-Malers. Er wirkte wohl in Pisticci, wo ein Teil seiner Werke gefunden wurde. Er stand noch stark in attischer Tradition. Seine Nachfolger, der Amykos-Maler oder der Kyklops-Maler, hatten ihre Werkstatt in Metapont. Sie bemalten als erste den neuen Vasentyp Nestoris. Häufig werden mythische Szenen und Bilder aus dem Theaterleben gezeigt. So zeigte der nach den Cheophoroi des Aischylos’ benannte Cheophoroi-Maler auf mehreren seiner Vasen Szenen aus dieser Tragödie. Zu dieser Zeit wird auch der Einfluss der apulischen Vasenmalerei spürbar. Vor allem die Polychromie und ornamentale Pflanzendekors werden nun Standard. Wichtige Vertreter in dieser Zeit waren der Dolon-Maler und der Brooklyn-Budapest-Maler. Zur Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. ist eine massive Abnahme der Qualität und der thematischen Vielfalt in den Darstellungen zu beobachten. Letzter bedeutender Vasenmaler Lukaniens war der vom apulischen Lykurgos-Maler beeinflusste Primato-Maler. Nach ihm endet die lukanische Vasenmalerei nach einem kurzen rapiden Niedergang zu Beginn des letzten Viertels des 4. Jahrhunderts v. Chr. Paestum Die Paestanische Vasenmalerei entstand als letzter unteritalischer Stil. Sie wurde um das Jahr 360 v. Chr. von sizilischen Einwohnern begründet. Die erste Werkstatt wurde von Asteas und Python geführt. Es sind die beiden einzigen durch Inschriften namentlich bekannten Vasenmaler Unteritaliens. Es wurden vor allem Glockenkratere, Halsamphoren, Hydrien, Lebetes Gamikoi, Lekaniden, Lekythen und Kannen bemalt, seltener Verwendung fanden Peliken, Kelch- und Volutenkratere. Besonders charakteristisch sind Verzierungen wie Seitenpalmetten, eine als „Asteas-Blüte“ bezeichnete Ranke mit Blütenkelch und Dolde, Zinnenmuster auf den Gewändern und lockiges, angelegtes und über den Rücken hängendes Haupthaar. Ebenfalls typisch sind Figuren, die sich vorbeugen und sich auf Pflanzen oder Steine stützen. Zusatzfarben werden häufig verwendet, besonders Weiß, Gold, Schwarz, Purpur und verschiedene Rottöne. Die dargestellten Themen sind oft im dionysischen Bereich angesiedelt: Thiasos- und Symposienszenen, Satyrn und Mänaden, Papposilenen und Phlyakenszenen. Zahlreich sind auch weitere mythische Motive vertreten, vor allem Herakles, das Parisurteil, Orestes, Elektra, unter den Göttern Aphrodite und Eroten, Apollon, Athene und Hermes. Es gibt in der paestanischen Malerei nur selten Alltagsbilder, dafür Darstellungen von Tieren. Asteas und Python beeinflussten die Vasenmalerei der Stadt nachhaltig. Dies ist an den Arbeiten ihrer Nachfolger, etwa des wohl aus Apulien eingewanderten Aphrodite-Malers, erkennbar. Um 330 v. Chr. entstand eine zweite Werkstatt, die sich zunächst an den Arbeiten der ersten orientierte. Doch ließen dort Qualität und Motivreichtum der Arbeiten schnell nach. Zeitgleich ist auch der Einfluss des kampanischen Caivano-Malers erkennbar. Lineare Gewandkonturen und konturlose Frauenfiguren waren die Folge. Um 300 v. Chr. kam die paestanische Vasenmalerei zum Erliegen. Sizilien Die Produktion sizilischer Vasen begann vor dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. in den Städten Himera und Syrakus. Die Werkstätten orientierten sich in ihren Arbeiten stilistisch, thematisch, ornamental und bei den Vasenformen stark an den attischen Vorbildern. Vor allem der Einfluss des attisch-spätklassischen Meidias-Malers ist erkennbar. Im zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts v. Chr. begründeten aus Sizilien nach Kampanien und Paestum ausgewanderte Keramiker die dortigen Produktionsstätten und nur in Syrakus blieb eine begrenzte Vasenproduktion bestehen. Die typische sizilische Vasenmalerei entstand erst um 340 v. Chr. Es lassen sich drei Werkstattgruppen unterscheiden. Eine erste, Lentini-Manfria-Gruppe genannte, war in Syrakus und Gela aktiv, eine zweite Gruppe am Ätna (Centuripe-Gattung) und die dritte Gruppe auf Lipari. Besonders typisch für die sizilische Vasenmalerei ist die Verwendung von Zusatzfarben, ganz besonders von Weiß. Vor allem in der Anfangsphase werden großflächige Gefäße wie Kelchkratere und Hydrien bemalt, jedoch sind kleinere Gefäße wie Flaschen, Lekanen, Lekythen, und skyphoide Pyxiden typisch. Gezeigt werden vor allem Szenen aus der Frauenwelt, Eroten, Frauenköpfe und Phlyakenszenen. Mythische Inhalte sind selten. Wie in allen anderen Gegenden markiert etwa das Jahr 300 v. Chr. das Ende der sizilischen Vasenmalerei. Andere griechische Gebiete Neben der attischen und der unteritalischen rotfigurigen Vasenmalerei konnten sich, anders als beim schwarzfigurigen Stil, kaum bedeutende regionale Traditionen, Werkstätten oder gar „Schulen“ entwickeln. In Griechenland entstanden dennoch Werkstätten in Böotien, der Chalkidike, in Elis, Eretria, Korinth und Lakonien. Böotien Die Böotische Vasenmalerei im rotfigurigen Stil hatte ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des 5. und den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts v. Chr. Die Töpfer versuchten durch einen rötlichen Überzug attische Vasen zu imitieren. Das war nötig, da der Ton Böotiens heller, etwa ledergelb, war. Der verwendete Firnis ist braunschwarz. Die Inschriften wurden meist eingeritzt. Den Figuren fehlt die plastische Tiefe der attischen Vorbilder. Zudem gibt es keine echte Entwicklung in der böotischen Malerei, es waren schlicht Versuche, die attischen Darstellungsformen zu kopieren. Wichtigste Künstler waren der Maler des Paris-Urteils, der sich vor allem an Polygnotos und dem Lykaon-Maler orientierte, der Maler der Athener Argosschale, der an den Schuwalow-Maler und den Marlay-Maler erinnert, sowie der Maler des großen Athener Kantharos. Letzterer steht dem attischen Dinos-Maler so nahe, dass er möglicherweise von diesem ausgebildet wurde. Korinth Die rotfigurige Vasenmalerei Korinths wurde 1885 von Adolf Furtwängler erkannt. Die Vasen wurden aus einem Ton hergestellt, der feiner als der Attikas und blassgelblich war. Der matte Firnis glänzt nicht und haftet nur schlecht auf dem Tonuntergrund, weshalb oftmals ein weiterer rötlicher Tonüberzug aufgetragen wurde, auf dem die Farbe besser hielt. In geringem Maße wurden diese Vasen wohl auch außerhalb Korinths gehandelt. Man fand korinthisch-rotfigurige Vasen auch in Argos, Mykene, Olympia und Perachora. Die Produktion setzte etwa um 430 v. Chr. ein und endete etwa zur Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. Die ersten Bilder wirken noch sehr schlicht, weil die Maler die Technik noch nicht gut genug beherrschten. So gab es Probleme bei der Darstellung anatomischer Details und von Gesichtern in Dreiviertel-Ansicht. Etwa ab 400 v. Chr. beherrschten die korinthischen Maler die Technik auf einem guten Niveau. Anders als ihre attischen Kollegen benutzten sie nie goldene Zusatzfarbe, Deckfarben oder Bildkompositionen mit mehreren Standebenen. Signaturen fanden sich bislang nicht. Derzeit kann man etwa die Hälfte der gefundenen Vasen und Fragmente sechs Künstlern zuweisen. Die drei wichtigsten Maler sind der Peliken-Maler, der Hermes-Maler und der Skizzen-Maler. Es werden Symposien und dionysische Bilder sowie Athleten gezeigt. Mythische Darstellungen und Bilder aus dem häuslichen Bereich sind sehr selten. Unklar ist, warum es etwa 100 Jahre von der Erfindung der rotfigurigen Vasenmalerei bis zu deren Produktionsbeginn in Korinth brauchte. Der Import aus Attika stoppte trotz des Peloponnesischen Krieges nicht. Möglicherweise wurde die Produktion notwendig, da es zu vereinzelten dem Krieg geschuldeten Lieferproblemen kam. Bestimmte Vasen- und Bildformen wurden jedoch im religiösen und sepulkralen Rahmen benötigt und mussten somit jederzeit verfügbar sein. Etrurien In Etrurien, einem der Hauptabnehmer der attischen Vasen, entwickelten sich hingegen eigene Schulen und Werkstätten, die nicht nur für den lokalen Markt produzierten. Allerdings erfolgte eine nachahmende Übernahme des rotfigurigen Stils erst um 490 v. Chr. und somit fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Entwicklung. Diese frühen Produkte werden auf Grund ihrer Maltechnik als pseudo-rotfigurige etruskische Keramik bezeichnet. Erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurde auch die echte rotfigurige Technik in Etrurien eingeführt. Für beide Stilrichtungen konnten zahlreiche Maler, Werkstätten und Produktionszentren nachgewiesen werden. Die Produkte wurden nicht nur für den lokalen Markt produziert, sondern nach Malta, Karthago, Rom und an die ligurische Küste verkauft. Pseudo-rotfigurige Vasenmalerei Bei frühen Gefäßen dieses Stils wurde die rotfigurige Maltechnik nur imitiert. Wie bei manchen frühen attischen Vasen wurde auch hier der gesamte Gefäßkörper mit schwarzem Glanzton überzogen und die Figuren nachträglich mit rot oxidierenden oder weißen Erdfarben aufgemalt. Im Gegensatz zur gleichzeitigen attischen Vasenmalerei wurde der rotfigurige Effekt also nicht durch Aussparen des Malgrundes erzielt. Die Binnenzeichnungen wurden dann wie in der schwarzfigurigen Vasenmalerei durch Einritzungen ersetzt und nicht zusätzlich aufgemalt. Bedeutende Vertreter dieser Malweise waren der Praxias-Maler und andere Meister seiner Werkstatt, die in Vulci stand. Trotz offensichtlich guter Kenntnisse der griechischen Mythologie und Ikonografie – die jedoch nicht immer exakt umgesetzt wurden –, gibt es keine Hinweise, dass die Werkstattmeister aus Athen eingewandert waren. Nur beim Praxias-Maler lassen bei vier seiner Vasen aufgemalte Inschriften in griechischer Sprache Vermutungen zu einer Herkunft aus Griechenland anstellen. Der pseudo-rotfigurige Stil war in Etrurien keine Erscheinung der Frühzeit, wie etwa in Athen. Besonders im 4. Jahrhundert v. Chr. spezialisierten sich einzelne Werkstätten auf diese Technik, obwohl zur gleichen Zeit die echte rotfigurige Vasenmalerei in etruskischen Werkstätten verbreitet war. Zu nennen sind die Werkstätten der Sokra- und der Phantom-Gruppe. Die etwas ältere Sokra-Gruppe bevorzugte Schalen, deren Innenbilder Darstellungen mythischer Themen der Griechen, aber auch etruskische Inhalte boten. Motive der Phantom-Gruppe stellten meist Mantelfiguren in Kombination mit Pflanzen- und Palmettenkompositionen dar. Die zugehörigen Werkstätten beider Gruppen werden in Caere, Falerii und Tarquinia vermutet. Die Phantom-Gruppe produzierte ihre Waren bis ins frühe 3. Jahrhundert v. Chr. Der sich wandelnde Geschmack der Käuferschichten bringt wie für die rotfigurige Vasenmalerei generell auch für diesen Stil das Ende. Rotfigurige Vasenmalerei Erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurde die echte rotfigurige Maltechnik mit ausgesparten tongrundigen Figuren in Etrurien eingeführt. In Vulci und Falerii entstanden die ersten Werkstätten, die in dieser Technik auch für das Umland produzierten. Attische Meister standen wahrscheinlich hinter den ersten Werkstattgründungen, doch lässt sich auch unteritalischer Einfluss auf den frühen Gefäßen nachweisen. Bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. beherrschten diese Werkstätten den etruskischen Markt. Meist mythologische Szenen wurden auf groß- bis mittelformatigen Gefäßen wie Krateren und Kannen dargestellt. Im Verlauf des Jahrhunderts begann die faliskische Produktion jene aus Vulci an Umfang zu übertreffen. In Chiusi und Orvieto entstanden neue Zentren der Produktion. Vor allem Chiusi mit seinen Trinkschalen der Tondo-Gruppe, die meist dionysische Themen in der Innenschale darstellten, gewann an Bedeutung. In der zweiten Hälfte verlagerte sich die Produktion nach Volterra. Vor allem Stangenhenkelkratere, sogenannte Keleben, wurden hergestellt und anfangs aufwändig bemalt. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. verschwanden die mythologischen Themen aus dem Repertoire etruskischer Vasenmaler. An ihre Stelle traten Frauenköpfe oder figürliche Darstellungen von höchsten zwei Personen. Ornamente und florale Motive breiteten sich stattdessen auf den Gefäßkörpern aus. Nur ausnahmsweise kehren noch große Kompositionen wieder, etwa die Amazonomachie auf einem Krater des Den-Haag-Funnel-Gruppe-Malers. Die zunächst noch umfangreiche Produktion faliskischer Gefäße verlor ihre Bedeutung an das neu entstandene Produktionszentrum von Caere. Wahrscheinlich von faliskischen Meistern gegründet und ohne eigenständige Tradition, wurde Caere zum dominierenden Hersteller rotfiguriger Vasen Etruriens. Einfach bemalte Oinochoen, Lekythen, Trinkschalen etwa der Torcop-Gruppe und kleine Teller der Genucilia-Gruppe gehörten zum Standardrepertoire ihrer Produktion. Mit der Produktionsumstellung auf Schwarzfirnisvasen am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr., die dem Geschmack der Zeit eher entsprachen, ging auch in Etrurien die rotfigurige Vasenmalerei zu Ende. Erforschung und Rezeption Bis in die heutige Zeit sind weit über 65.000 rotfigurige Vasen und Vasenfragmente bekannt geworden, jährlich kommen hunderte hinzu, eine unbekannte Anzahl von Vasen ist bis heute unpubliziert. Schon im Mittelalter fingen Menschen an, sich mit antiken Vasen und griechischer Vasenmalerei zu befassen. Ristoro d’Arezzo widmete in seiner Weltbeschreibung den antiken Vasen das Kapitel Capitolo de le vasa antiche. Besonders die Tonvasen empfand er in Form, Farbe und Zeichnung als vollkommen. Doch galt die Betrachtung zunächst den Vasen allgemein oder noch eher den Steinvasen. In der Renaissance entstanden erste Sammlungen mit antiken Vasen, zu denen auch bemalte Gefäße gehörten. Es sind sogar Importe griechischer Vasen nach Italien bekannt. Doch standen bemalte Vasen noch bis zum Ende des Barock im Schatten anderer Kunstgattungen wie vor allem der Plastik. Eine Ausnahme aus der Zeit vor dem Klassizismus bildete ein im Auftrag von Nicolas-Claude Fabri de Peiresc geschaffenes Buch mit Aquarellen von Bildvasen. Peiresc besaß, wie auch einige andere Sammler, selbst Tonvasen. Seit dem Klassizismus wurden auch keramische Gefäße vermehrt gesammelt. So besaßen etwa William Hamilton oder Giuseppe Valletta Vasensammlungen. Hamilton besaß im Laufe seines Lebens sogar zwei Sammlungen antiker Vasen. Die erste wurde zum Grundstock der Vasensammlung des British Museum, die zweite Sammlung ließ er von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und dessen Schülern publizieren. In Italien gefundene Vasen waren selbst für kleinere Geldbeutel erschwinglich und daher konnten auch Privatleute bemerkenswerte Sammlungen zusammentragen. Vasen waren ein beliebtes Mitbringsel junger europäischer Reisender von ihrer Grand Tour. Auch Johann Wolfgang von Goethe berichtete in seiner Italienischen Reise vom 9. März 1787 von der Versuchung, antike Vasen zu kaufen. Wer sich keine Originale leisten konnte, hatte die Möglichkeit, Kopien oder Stiche zu erwerben. Es entstanden sogar Manufakturen, die antike Vasen imitierten. Am bekanntesten ist hier die Wedgwoodware, die jedoch mit der Herstellungsweise griechischer Vasen nichts mehr gemein hatte und antike Motive höchstens als thematische Schablone benutzte. Seit den 1760er Jahren widmete sich auch die archäologische Forschung vermehrt der Vasenmalerei. Sie wurde als Quelle für alle Bereiche des antiken Lebens geschätzt, vor allem auch für ikonografische und mythologische Studien. Die Vasenmalerei wurde nun als Ersatz für die fast vollständig verlorene griechische Monumentalmalerei genommen. Etwa zu dieser Zeit ließ sich die lange verbreitete Ansicht, bei den bemalten Vasen würde es sich um etruskische Arbeiten handeln, nicht mehr halten. Dennoch erhielt die antikisierende Vasenmode der Zeit die Bezeichnung all’etrusque. England und Frankreich versuchten sich sowohl bei der Forschung als auch bei der Imitation der Vasen zu überflügeln. Mit Johann Heinrich Müntz und Johann Joachim Winckelmann beschäftigten sich Vertreter des „ästhetischen Schrifttums“ mit der Vasenmalerei. Gerade Winckelmann schätzte den „Umrißlinienstil“. Verschiedene Vasenornamente wurden in England in sogenannten Musterbüchern (pattern books) gesammelt und verbreitet. Vasenbilder hatten sogar Einfluss auf die Entwicklung der modernen Malerei. Der lineare Stil beeinflusste Künstler wie Edward Burne-Jones, Gustave Moreau oder Gustav Klimt. Ferdinand Georg Waldmüller malte um 1840 ein Bild mit dem Titel Stilleben mit Silbergefäßen und rotfigurigem Glockenkrater. Auch Henri Matisse schuf ein ähnliches Bild (Intérieur au vase étrusque). Der ästhetische Einfluss reicht bis in die heutige Zeit. So ist die Coca-Cola-Flasche in ihrer bekannten geschwungenen Form auch durch die griechische Vasenmalerei beeinflusst. Die wissenschaftliche Erforschung der Vasen setzte besonders seit dem 19. Jahrhundert ein. Seit dieser Zeit wurde auch immer häufiger vermutet, dass die Vasen nicht etruskischen, sondern griechischen Ursprungs seien. Vor allem ein von Edward Dodwell 1819 gemachter Fund einer Panathenäischen Preisamphora in Athen nährte diese Vermutung. Der Erste, der den Nachweis führte, war Gustav Kramer in seinem Werk Styl und Herkunft der bemalten griechischen Tongefäße (1837). Jedoch dauerte es noch einige Jahre, bis sich diese Erkenntnis wirklich durchsetzen konnte. Eduard Gerhard veröffentlichte in den Annali dell’Instituto di Corrispondenza Archeologica den Aufsatz Rapporto Volcente, in dem er sich als erster Forscher der systematischen Erforschung der Vasen widmete. Hierzu untersuchte er 1830 die in Tarquinia gefundenen Vasen und verglich sie beispielsweise mit Vasen, die in Attika oder Ägina gefunden wurden. Während seiner Studien konnte Gerhard 31 Maler- und Töpfersignaturen unterscheiden. Bis dahin kannte man nur den Töpfer Taleides. Der nächste Schritt in der Forschung waren die wissenschaftlichen Katalogisierungen der großen musealen Vasensammlungen. 1854 publizierte Otto Jahn die Vasen der Münchener Antikensammlung, zuvor wurden schon Kataloge der Vatikanischen Museen (1842) und des British Museum (1851) veröffentlicht. Von besonderem Einfluss war die Beschreibung der Vasensammlung im Antiquarium der Antikensammlung Berlin, die 1885 von Adolf Furtwängler besorgt wurde. Furtwängler ordnete die Gefäße erstmals nach Kunstlandschaften, Technik, Stil, Formen und nach Malstil und hatte damit nachhaltigen Einfluss auf die weitere Erforschung griechischer Vasen. Paul Hartwig versuchte 1893 im Buch Meisterschalen verschiedene Maler anhand von Lieblingsinschriften, Signaturen und Stilanalysen zu unterscheiden. Besondere Verdienste um die Datierung erwarb sich Ernst Langlotz mit seinem 1920 veröffentlichten Werk Zur Zeitbestimmung der strengrotfigurigen Malerei und der gleichzeitigen Plastik. Hier führte er bis heute angewandte Datierungsformen nach stilistischen Eigenheiten, datierbaren Monumenten und Fundkomplexen sowie Kalos-Namen ein. Edmond Pottier, Konservator im Louvre, initiierte 1919 das Corpus Vasorum Antiquorum. In dieser Reihe werden alle großen Sammlungen weltweit publiziert. Bis heute sind mehr als 300 Bände der Reihe erschienen. Um die wissenschaftliche Erforschung der attischen Vasenmalerei hat sich ganz besonders John D. Beazley verdient gemacht. Ab etwa 1910 begann er sich mit den Vasen zu beschäftigen und griff dazu auf die vom Kunsthistoriker Giovanni Morelli für die Untersuchung von Gemälden entwickelte und von Bernard Berensons verfeinerte Methode zurück. Er ging davon aus, dass jeder Maler individuelle Kunstwerke schafft, die auch immer unverkennbar zuzuordnen sind. Dabei wurden bestimmte Details, etwa Gesichter, Finger, Arme, Beine, Knie, Faltenwürfe der Kleider und Ähnliches herangezogen. Beazley untersuchte 65.000 Vasen und Fragmente, von denen 20.000 schwarzfigurig waren. 17.000 konnte er im Laufe seiner knapp sechs Jahrzehnte dauernden Studien namentlich bekannten oder über ein System von Notnamen erschlossenen Malern zuweisen, er fasste sie in Maler-Gruppen oder Werkstätten, Umkreise und Stilverwandtschaften zusammen. Er unterschied mehr als 1500 Töpfer und Maler. Kein anderer Archäologe hatte je einen solch prägenden Einfluss auf die Erforschung eines archäologischen Teilgebietes wie Beazley, dessen Analysen noch heute zu weiten Teilen Bestand haben. 1925 und 1942 veröffentlichte er seine Ergebnisse zur rotfigurige Malerei ein erstes Mal. Doch endeten seine Forschungen hier noch vor dem 4. Jahrhundert v. Chr. Diesem Jahrhundert widmete er sich erst bei der Neubearbeitung seines Werkes, die 1963 veröffentlicht wurde. Hier flossen beispielsweise auch Teile der Forschungsergebnisse von Karl Schefold ein, der sich um die Erforschung der Kertscher Vasen verdient gemacht hatte. Nach Beazley und in der von ihm begründeten Tradition beschäftigten sich Forscher wie John Boardman oder auch Erika Simon und Dietrich von Bothmer mit den rotfigurigen attischen Vasen. In der jüngeren Vergangenheit sind die methodischen Grundlagen dieser Form der Stilanalyse und der darauf fußenden Zuweisungen allerdings wiederholt als zirkulär kritisiert worden. Für die Erforschung der unteritalischen Vasenmalerei erreicht Arthur Dale Trendall einen ähnlich hohen Stellenwert wie Beazley für die attische. Alle auf Beazley folgenden Wissenschaftler stehen in dessen Tradition und nutzen die von ihm eingeführten Methoden. Allein wegen der immer wieder zutage kommenden Neufunde aus archäologischen Grabungen, Raubgrabungen oder auch aus unbekannten Privatsammlungen, geht die Erforschung der Vasenmalerei stetig voran. Literatur John D. Beazley: Attic red-figure vase-painters. 3 Bände. 2nd edition. Clarendon Press, Oxford 1963. John Boardman: Rotfigurige Vasen aus Athen. Ein Handbuch. Die archaische Zeit (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Bd. 4). von Zabern, Mainz 1981, ISBN 3-8053-0234-7 (4. Auflage. ebenda 1994). John Boardman: Rotfigurige Vasen aus Athen. Ein Handbuch. Die klassische Zeit (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Bd. 48). von Zabern, Mainz 1991, ISBN 3-8053-1262-8. (2. Auflage. ebenda 1996) Friederike Fless: Rotfigurige Keramik als Handelsware. Erwerb und Gebrauch attischer Vasen im mediterranen und pontischen Raum während des 4. Jhs. v. Chr. (= Internationale Archäologie. Bd. 71). Leidorf, Rahden 2002 (Internationale Archäologie, Bd. 71) ISBN 3-89646-343-8 (Köln, Universität, Habilitations-Schrift, 1999). Luca Giuliani: Tragik, Trauer und Trost. Bildervasen für eine apulische Totenfeier. Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Berlin 1995, . Thomas Mannack: Griechische Vasenmalerei. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-8062-1743-2 (auch: Theiss, Stuttgart 2002 ISBN 3-8062-1743-2). Christoph Reusser: Vasen für Etrurien: Verbreitung und Funktionen attischer Keramik im Etrurien des 6. und 5. Jahrhunderts vor Christus. Zürich 2002. ISBN 3-905083-17-5 Ingeborg Scheibler: Griechische Töpferkunst. Herstellung, Handel und Gebrauch der antiken Tongefäße. 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39307-1. Erika Simon: Die griechischen Vasen. Aufnahmen von Max Hirmer und Albert Hirmer. 2., durchgesehene Auflage. Hirmer, München 1981, ISBN 3-7774-3310-1. Arthur Dale Trendall: Rotfigurige Vasen aus Unteritalien und Sizilien. Ein Handbuch (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Bd. 47). von Zabern, Mainz 1991, ISBN 3-8053-1111-7. Weblinks Anmerkungen Antike Vasenmalerei (Stil)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nordiberische%20Kreuzotter
Nordiberische Kreuzotter
Die Spanische oder Nordiberische Kreuzotter (Vipera seoanei), auch bekannt als Séoanes Viper oder Iberienotter, ist eine kleine bis mittelgroße Giftschlange aus der Familie der Vipern (Viperidae), die nur im äußersten Norden der Iberischen Halbinsel vorkommt. Sie wurde bei ihrer Erstbeschreibung als Unterart der Kreuzotter (V. berus) angesehen, stellt heute jedoch eine anerkannte Art dar. Merkmale Maße und Gewicht Die Nordiberische Kreuzotter erreicht eine Gesamtlänge von durchschnittlich 45 bis 55 cm, die Maximallänge liegt bei 60 bis wahrscheinlich etwa 75 cm. Die bislang längsten Individuen waren ein 12 bis 13 Jahre altes Männchen mit 58,5 cm sowie ein 66 cm langes Weibchen aus Asturien und ein 59 cm langes Männchen aus Galicien. Aus Portugal sind dagegen bislang keine Schlangen mit Längen über 50 cm bekannt. Der Schwanz ist verhältnismäßig kurz und nimmt etwa 10 bis 15 % der Gesamtlänge ein. Der Körperbau ist wie bei den meisten Arten der Vipern kräftig, dabei ist diese Art etwas schlanker als die Aspisviper (V. aspis). Das durchschnittliche Gewicht liegt bei etwa 90 Gramm, trächtige Weibchen werden deutlich schwerer. Ein deutlicher Sexualdimorphismus ist bei der Art nicht ausgebildet, nur der Schwanz ist bei den Männchen mit etwa 13,8 % der Kopf-Rumpf-Länge gegenüber etwa 11,3 % bei den Weibchen deutlich länger. Dementsprechend haben Männchen sechs bis sieben zusätzliche Schwanzwirbel. Färbung Die Grundfärbung variiert von einem hellen Beige bis Kastanienbraun. Über den Rücken zieht sich meistens vom Kopf bis zum Schwanz ein auch für die Kreuzotter (V. berus) typisches Wellenband. Parallel dazu befindet sich an den Flanken jeweils eine Reihe kleinerer dunkler Flecken. Auf dem Kopf befinden sich zwei bis drei dunkle Querbinden, im Nacken eine dunkle V-Zeichnung. Häufig zieht sich eine dunkle Schläfenbinde von den Augen zum Hals. Die Art ist in ihrer Färbung jedoch sehr variabel und neben dieser Normalfärbung können auch Individuen mit einer Längsstreifung oder vollständig braune bis schwarze Tiere vorkommen. Entsprechend dieser Variationsbreite unterscheidet man vier Färbungsmuster: das klassische bzw. typische Färbungsmuster mit einer hellgrauen bis beigefarbenen Grundfärbung und einem Längsband alternierender Flecken auf dem Rücken, die zu einem Zickzackband verschmolzen sein können. das bilineata-Muster einer meist dunklen Grundfärbung und zwei dorsolateral verlaufenden Längsbändern als Rückenzeichnung. das cantabrica-Muster mit einer meist grauen Grundfärbung und einem schmalen Zickzackmuster oder zwei schwachen Längsbändern als Rückenzeichnung. das uniforme Farbmuster ohne Rückenzeichnung und einer grauen Grundfärbung. In dieses Muster werden auch vollständig schwarze (Melanismus) oder braune Tiere eingeordnet. Etwa 31 % der Hochlandschlangen des kantabrischen Gebirges und sogar bis zu 85 % der in Portugal lebenden Tiere sind melanistisch. Beschuppung Die Körperschuppen weisen einen deutlichen Kiel auf, der in seiner Ultrastruktur feine Längslinien aufweist, die durch bogenförmige Querlinien überdeckt werden. Um die Körpermitte besitzt die Schlange 21 Rückenschuppenreihen, in sehr seltenen Fällen nur 19. Die Bauchseite ist einfarbig dunkelgrau bis schwarz gefärbt und zeigt 129 bis 150 Ventralia, denen sich ein ungeteiltes Analschild und 32 bis 42 Subcaudalia anschließen. Der deutlich vom Körper abgesetzte Kopf hat eine dreieckig abgerundete Form, die Schnauze ist vorn leicht aufgebogen. Der Kopf ist meistens mit vielen kleinen und gekielten Schuppen bedeckt, es können allerdings auch ein großes Stirnschild (Frontale) und Scheitelschilde (Parietale) vorhanden sein. Die Pupille der großen Augen ist senkrecht geschlitzt und die Iris ist im oberen Bereich heller gefärbt. Zwischen dem Augenrand und den Oberlippenschildern befindet sich eine Reihe von Unteraugenschilden (Subocularia), häufig ist eine weitere Reihe von Schuppen um das Auge angelegt. Im Regelfall hat die Schlange neun, seltener acht oder zehn Oberlippenschilde (Supralabialia). Karyotyp Der Karyotyp der Nordiberischen Kreuzotter entspricht mit 18 Chromosomenpaaren (2n = 36), wovon 8 sehr groß sind (Makrochromosomen), dem der meisten untersuchten Vipernarten. Als Ausnahmen hiervon sind bislang nur die Aspisviper und die Europäische Hornotter (V. ammodytes) mit 21 Chromosomenpaaren (2n = 42) und 11 Makrochromosomensets bekannt. Trotz der unterschiedlichen Chromosomensätze kann es in Gefangenschaft zu Hybriden zwischen der Nordiberischen Kreuzotter und der Aspisviper kommen. Diese besitzen einen Gesamtchromosomensatz von 39 Chromosomen, wobei es sich um die normalen 18 Chromosomenpaare und zusätzliche drei unverpaarte Chromosomen der Aspisviper handelt. Verbreitung und Lebensraum Geographische Verbreitung Das Verbreitungsgebiet der Nordiberischen Kreuzotter ist auf die nördliche Iberische Halbinsel beschränkt und zieht sich vom äußersten Südwesten Frankreichs im französisch-spanischen Grenzbereich in den Pyrenäen über das spanische Baskenland und Nordspanien bis in den äußersten Norden Portugals im Bereich des Minho im Distrikt Viana do Castelo. Dabei umfasst das spanische Verbreitungsgebiet fast ganz Galicien sowie die nördlichen Bereiche der Provinzen Kantabrien, Léon, Palencia, Burgos, Álava und Navarra sowie den äußersten Westen der Provinz Zamora. In Portugal sind nur drei Populationen in Paredes de Coura, Castro Laboreiro und Soajo sowie Tourém, Montalegre und Larouco bekannt. Regional unterschiedlich ist sie in Höhen bis zu 1200 m NN in Portugal und bis maximal etwa 1900 m in den Küstengebirgen Kantabriens anzutreffen. In Portugal und den benachbarten spanischen Verbreitungsgebieten finden sich die Schlangen dabei nur in höheren Berglagen, was neben den klimatischen Faktoren auf die Bewirtschaftung und die damit einhergehende Zerstörung der ursprünglichen Vegetation der Niederungen zurückgeführt wird. Die Unterart V. s. cantabria kommt nur in den Höhenlagen Kantabriens, die Nominatform V. s. seoanei im gesamten restlichen Verbreitungsgebiet vor. Dabei ist sie in weiten Teilen ihres Verbreitungsgebietes die einzige Art der Vipern. Im oberen Ebrotal im nördlichen Burgos sowie im Baskenland überschneiden sich die Verbreitungsgebiete der Nordiberischen Kreuzotter leicht mit denen der Aspisviper (V. aspis) und in Nordportugal mit denen der Stülpnasenotter (V. latastei). Diese Überschneidungen sind allerdings nur geographisch – die Lebensraumansprüche an Feuchtigkeit und Temperatur der drei Arten unterscheiden sich so stark, dass sie nie gemeinsam im gleichen Habitat zu finden sind. Die Kreuzotter kommt dagegen im Verbreitungsgebiet der Nordiberischen Kreuzotter nicht vor, ihre südlichsten Vorkommen liegen in Frankreich im Bereich des Département Lozère. Lebensraum Als Lebensraum bevorzugt die Schlange vor allem warme und feuchte Habitate mit hohen Niederschlagsmengen. Klimatisch zeichnet sich der Lebensraum der Nordiberischen Kreuzotter durch atlantische und subtropische Einflüsse aus, wodurch es zu sehr milden Wintern und relativ warmen Sommern ohne Trockenzeiten kommt. Die Niederschlagsmengen sind während des gesamten Jahres sehr hoch. Vor allem in den Höhenlagen sind die Wintertemperaturen deutlich niedriger als in den Niederungen. Trockene Gebiete innerhalb ihres Verbreitungsgebietes, wie sie etwa in großen Teilen von Léon vorkommen, meiden die Tiere. Der Boden der Lebensräume ist im Regelfall steinig und mit reichlich Bodenvegetation bestanden, außerdem werden feuchte Lebensräume wie Flussufer oder Feuchtwiesen bevorzugt. So sind vor allem offene Laubwälder mit Stieleichen- oder Pyrenäeneichenbeständen (Quercus robur und Q. pyrenaica) und Wald- und Wiesenränder typische Habitate dieser Art. Dabei ist diese Schlange mehr als andere Vipern an dichten Unterwuchs gebunden und lebt vor allem in Beständen von Adlerfarnen, Ginster und Heidekraut. Die Habitate müssen Möglichkeiten zum Sonnenbaden bieten, entsprechend werden vor allem in Berglagen fast ausschließlich Südhänge besiedelt. Felsige Gebiete werden dagegen im Vergleich zu anderen Vipernarten nur sehr selten genutzt. Lebensweise Aktivität und Sozialverhalten Die Nordiberische Kreuzotter ist abhängig von den Temperaturen überwiegend tag- und dämmerungsaktiv. Vor allem im Sommer ist die Aktivität morgens und abends am höchsten, während in der Tagesmitte eine inaktive Phase besteht. An besonders heißen Tagen mit Temperaturen über 30 °C kann die Aktivität auch vollständig in die Nacht verlagert sein. Die benötigten Temperaturen beginnen bei über 12 °C, während die optimale Körpertemperatur um 30 °C liegt. Diese erreichen die Schlangen durch ausgiebiges Sonnenbaden an exponierten Stellen. Während des Sonnens können viele Individuen gemeinsam beobachtet werden, die nebeneinander und teilweise sogar übereinander an den dafür geeigneten Plätzen liegen. Während der Wintermonate hält die Art eine Winterruhe, die abhängig von den Temperaturen und damit häufig auch von der Höhenlage drei bis vier Monate in der Zeit vom Ende Oktober bis zum März andauert. Eine Aktivität während dieser Winterruhe ist sehr selten. Adulte Männchen werden nach der Überwinterung früher angetroffen als Weibchen. Wie die meisten Schlangen sind auch Nordiberische Kreuzottern Einzelgänger, die Sozialkontakte beschränken sich entsprechend auf zufällige Begegnungen sowie die gemeinsame Nutzung der sonnenexponierten Plätze. Während der Paarungszeiten im März bis April nehmen die Begegnungen zu, dabei kommt es neben Sexualkontakten auch zu Kommentkämpfen der Männchen. Ernährung Wie die meisten anderen Vipern ist die Nordiberische Kreuzotter ein Lauerjäger und nicht auf bestimmte Beutetiere spezialisiert. Sie jagt vor allem Mäuse und andere Kleinsäuger, Eidechsen sowie Frösche, die sie durch einen Giftbiss tötet und dann vollständig verschluckt. Da in den Mageninhalten der Schlangen auch neugeborene Kleinsäuger oder nestjunge Vögel gefunden wurden, wird sie auf ihrer Nahrungssuche auch gelegentlich aktiv stöbern. Ausgewachsene Kreuzottern fressen pro Jahr durchschnittlich drei bis sieben Beutetiere. Dabei wurde für nicht reproduktive Weibchen die höchste Beutefrequenz mit bis zu 13 Beutetieren pro Jahr ermittelt, gefolgt von ausgewachsenen Männchen und Jungschlangen. Reproduktive Weibchen fressen dagegen sehr viel seltener und erbeuten nur etwa drei bis sechs Beutetiere im Jahr. Fastenperioden bestehen bei den Männchen während der Paarungszeit und bei den Weibchen während der Trächtigkeit. Der Anteil verschiedener Beutetiere konnte auf der Basis von Magenuntersuchungen von Tieren aus Galicien und Kantabrien bestimmt werden. Demnach besteht der größte Teil der Nahrung aus Nagetieren, vor allem Wühlmäusen (Gattungen Microtus und Pitymys) mit einem Anteil von 30 bis über 40 % und Waldmäusen mit etwa 10 %. Spitzmäuse folgen mit regional zwischen 4 und 15 %. Eidechsen wie die Iberische Gebirgseidechse (Iberolacerta monticola), die Waldeidechse (Zootoca vivipara) sowie Mauereidechsen (Gattung Podarcis) und die Blindschleiche (Anguis fragilis) variieren jeweils anteilig zwischen drei und fünf Prozent, Schwanzlurche wie der Feuersalamander (Salamandra salamandra) und der Goldstreifen-Salamander (Chioglossa lusitanica) liegen ebenfalls bei etwa 3 %, Echte Frösche (Gattung Rana) bei etwa 6 %. Vögel konnten nur bei Individuen aus Kantabrien gefunden werden und stellen hier etwa 5 % der Beutetiere. Über den Biomassevergleich wird die Dominanz der Säuger im Nahrungsspektrum noch deutlicher: Etwa 90 % der Gesamtmasse stellten Kleinsäuger, nur rund 10 % alle restlichen Beutetiere. Jungschlangen ernähren sich vor allem von kleinen Eidechsen und Fröschen, die frisch metamorphosiert sind. Nach etwa zwei Jahren und mit einer Körperlänge von 35 bis 40 Zentimetern erbeuten sie dann auch erste Spitzmäuse und andere Kleinsäuger. Fortpflanzung und Entwicklung Die Paarung erfolgt nach der Winterruhe im Frühjahr von Ende März bis Anfang Mai, die Frühjahrshäutung der Männchen erfolgt anders als bei der Kreuzotter und anderen Arten der Untergattung Pelias erst nach der Verpaarung. Während der Paarungszeit finden Kommentkämpfe der konkurrierenden Männchen statt, wobei die Kontrahenten den Vorderkörper aufrichten und versuchen, den Gegner zu Boden zu drücken. Da diese Kämpfe allerdings bei jeder Begegnung von Männchen und meist in Abwesenheit der Weibchen stattfinden, ist die Verpaarungschance auch für das unterlegene Männchen nicht gemindert. Vor der eigentlichen Paarung streicht das Männchen manchmal stundenlang mit dem Kopf über den Körper des Weibchens und legt sich dann auf selbiges. Danach versucht es, den Schwanz mit dem eigenen zu umgreifen und die Kloaken aufeinander zu platzieren. Mit der Einführung eines der paarigen Hemipenes beginnt die Kopulation, die bis zu zwei Stunden andauern kann. Die Ovulation der Weibchen und damit die Befruchtung der Eizellen beginnt erst nach der Endphase der Paarungszeit im Mai bis Juni. Etwa drei Monate nach der Befruchtung kommen die Jungschlangen zur Welt. Die Weibchen bringen dabei zwei bis zehn lebende Jungtiere zur Welt, sind also ovovivipar, wobei größere Weibchen meistens mehr Junge bekommen. Im Durchschnitt sind die neugeborenen Schlangen etwa 15 bis 18 Zentimeter lang und wiegen 4,4 bis 6,0 Gramm, der gesamte Wurf wiegt damit durchschnittlich etwa 35 Gramm, was der Hälfte des Körpergewichts eines durchschnittlichen Weibchens entspricht. Im Regelfall tragen die weiblichen Kreuzottern etwa alle zwei Jahre neuen Nachwuchs aus (biannueller Fortpflanzungszyklus), wobei sich der Anteil biannueller Weibchen mit der geographischen Breite und der Höhe aufgrund der niedrigeren Temperaturen erhöht. Die Jungschlangen wachsen vergleichsweise schnell. Nach vier oder fünf Jahren haben sie eine Gesamtlänge von 32 bis 38 Zentimeter erreicht. In dieser Zeit werden die Schlangen geschlechtsreif, wodurch sich auch die Wachstumsrate verringert. Nach acht Jahren sind die Tiere durchschnittlich etwa 42 Zentimeter, nach zehn Jahren 44 Zentimeter lang; als maximale Lebenserwartung werden etwa 13 Jahre angenommen. Fressfeinde Als Fressfeinde der Nordiberischen Kreuzotter kommen eine Reihe von Greifvögeln und Raubtieren innerhalb ihres Verbreitungsgebietes in Frage. Als Hauptprädator kann hierbei die Hauskatze angesehen werden, zudem wurden Überreste der Schlange in Kotproben des Rotfuchses (Vulpes vulpes) festgestellt. Als weitere Fressfeinde sind der Mäusebussard (Buteo buteo) und für Galicien zudem der Fischotter (Lutra lutra) sowie die Europäische Ginsterkatze (Genetta genetta) nachgewiesen. Systematik Die Erstbeschreibung der Nordiberischen Kreuzotter erfolgte durch Fernand Lataste als Unterart der Kreuzotter (Vipera berus seoanei). Lataste ehrte mit dem wissenschaftlichen Namen den spanischen Naturforscher Victor López Seoane (1832–1900). Als eigene Art Pelia seoanei wurde die Nordiberische Kreuzotter erstmals 1927 von Reuss beschrieben. Die Einstufung im Artrang, allerdings innerhalb der Gattung Vipera (= V. seoanei), wurde 1976 durch Hubert Saint Girons und Raymond Duguy bestätigt. Die Abgrenzung gegenüber der Kreuzotter erfolgt vor allem über die Beschuppung (Pholidose), insbesondere über die Beschilderung der Kopfoberseite. So sind die bei der Nordiberischen Kreuzotter weitgehend aufgelösten Schilde der Kopfoberseite bei der Kreuzotter fast vollständig vorhanden. Ein weiterer markanter Unterschied, der die Nordiberische Kreuzotter von allen nahe verwandten Arten abgrenzt, ist die späte Häutung der Männchen, die erst nach der Verpaarung erfolgt. Auch Unterschiede auf molekularer Ebene sowie in der Giftzusammensetzung begründen die Artunterscheidung. Franzisco Braña und Santago Bas beschrieben 1983 die beiden heute anerkannten Unterarten V. s. seoanei und V. s. cantabrica. Die Nordiberische Kreuzotter wird systematisch in die Gattung Vipera und dort häufig gemeinsam mit der Kreuzotter (V. berus) und einigen weiteren Arten in die Untergattung Pelias eingeordnet. Mit der Aspisviper (V. aspis) besteht entsprechend kein näheres Verwandtschaftsverhältnis, obwohl Mischlinge beider Arten dokumentiert sind. Über einen Vergleich der mitochondrialen DNA im Jahr 2000 konnte die nahe Verwandtschaft mit der Kreuzotter bestätigt werden. Hier stellten beide Arten Schwesterarten dar, die nächsten Verwandten waren nach der Analyse Dinniks Kaukasusotter (V. dinniki) sowie die Europäische Hornotter (V. ammodytes). Die Analyse umfasste allerdings nicht alle Arten der Gattung Vipera, sodass sich keine phylogenetischen Schlüsse für die gesamte Gattung ableiten lassen. Svetlana Kalyabina et al. stellten 2002 eine Verwandtschaftsanalyse auf der Basis von mitochondrialer DNA vor, nach der die Kreuzotter gemeinsam mit der Waldsteppenotter (V. nikolskii) und Barans Viper (V. barani) eine monophyletische Gruppe bildet, deren Schwesterart die Nordiberische Kreuzotter ist. Schlangengift Das Gift der Nordiberischen Kreuzotter ähnelt in Wirkung und Zusammensetzung dem Gift der Aspisviper, wird allerdings als weniger wirksam als dieses und das der Kreuzotter eingeschätzt. Obwohl die Zusammensetzung des Giftes zwischen den verschiedenen Populationen nur gering variiert, sind die Unterschiede der Toxizität relativ stark. So werden Schlangen im Bereich des Baskenlandes sowie in den Küstengebieten Kantabriens mit einer Letalen Dosis LD50 bei Ratten mit etwa 20 Gramm Lebendgewicht von 23,1 bis 23,6 mg Schlangengift als gering toxisch eingestuft, während bei Populationen der Unterart V. s. cantabrica im kantabrischen Hochland bereits 6,9 bis 9,9 mg des Giftes als LD50-Wert festgestellt wurden. In den übrigen Gebieten ist die Giftwirkung zwischen diesen beiden Extremen anzunehmen. Als Symptome des Bisses bildet sich wie bei den anderen europäischen Vipern rund um die Bissstelle eine umfassende Schwellung und die enthaltenen Nervengifte (Neurotoxinen) können zu Atemnot und Herzbeschwerden führen. Der überwiegende Anteil des Viperngiftes wirkt hämotoxisch, es zerstört also vor allem Zellen des Blutes und die sie umgebenden Gewebe durch verschiedene Proteasen. Dadurch kommt es im Bereich der Schwellung zu bläulichen Verfärbungen durch Blutaustritt in das Bindegewebe. Eine Behandlung im Krankenhaus mit einem unspezifisch bei allen europäischen Vipernarten wirkenden Antiserum ist meistens angebracht. Angaben über die Häufigkeit von Bissverletzungen durch diese Art liegen kaum vor. So wurden zwischen 1965 und 1980 nur 23 Vergiftungen durch die Nordiberische Kreuzotter gemeldet, neuere Zahlen sind unbekannt. Gefährdung und Schutz Trotz ihres begrenzten Verbreitungsgebietes wird die Nordiberische Kreuzotter von der Weltnaturschutzunion (IUCN) als „nicht gefährdet“ (Least Concern) eingeschätzt. Diese Einschätzung entspricht der Einordnung in Spanien, wo die Schlange als ungefährdet betrachtet wird. In Portugal gilt die Nordiberische Kreuzotter aufgrund der sehr kleinräumigen und fragmentierten Verbreitung sowie des weiteren Lebensraumrückgangs jedoch als bedroht. In Südfrankreich ist die Verbreitung ebenfalls auf isolierte Populationen begrenzt und die Schlange wurde dort lokal durch Habitatzerstörung im Zuge der Verstädterung ausgerottet. Angaben zu Populationsentwicklungen der Art sind nicht bekannt; ein starker Rückgang, der auf eine größere Gefährdung hinweist, wird allerdings nicht verzeichnet. Als Hauptgefährdungsursachen sind Straßen anzunehmen, wo die Tiere relativ häufig überfahren werden, sowie die zunehmende Zerstörung von geeigneten Lebensräumen durch intensive Landwirtschaft und Zerstörung von Waldrändern und Rückzugsmöglichkeiten. Auch die großflächige Anpflanzung von nicht heimischen Hölzern wie Eukalyptus- und Kiefernwäldern sowie die Brandrodung werden als Gefährdungsursachen angegeben. Gesetzlicher Schutzstatus (Auswahl) Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL): Anhang IV (streng zu schützende Art; ausgenommen sind die spanischen Vorkommen) Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG): streng geschützt Wie alle europäischen Schlangenarten ist sie im Anhang II der Berner Konvention (Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume) verzeichnet und genießt dadurch innerhalb der Europäischen Union strengen Schutz. Die Tiere dürfen weder getötet noch gefangen werden; Halter dieser Schlangenart müssen entsprechende Herkunfts- und Nachzuchtsbestätigungen vorlegen. Belege Literatur José C. Brito, Hubert Saint Girons: Vipera (Pelias) seoanei Lataste, 1879 – Séoanes Viper, Spanische Kreuzotter. In: Ulrich Joger, Nicolai Stümpel: Schlangen (Serpentes) III Viperidae. in der Reihe Handbuch der Reptilien und Amphibien Europas Band 3/IIB. Aula-Verlag, Wiebelsheim 2005; Seiten 355–374. ISBN 3-89104-617-0 David Mallow, David Ludwig, Göran Nilson: True Vipers. Natural History and Toxicology of Old World Vipers. Krieger Publishing Company, Malabar (Florida) 2003; Seiten 261–263. ISBN 0-89464-877-2 Ulrich Gruber: Die Schlangen Europas und rund ums Mittelmeer. Franckh’sche Verlagsbuchhandlung Stuttgart 1989; Seiten 215–216. ISBN 3-440-05753-4 Zitierte Belege Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil den unter Literatur angegebenen Quellen, darüber hinaus werden folgende Quellen zitiert: Weblinks Fotos der Nordiberischen Kreuzotter auf www.herp.it Echte Ottern
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bayern-Klasse
Bayern-Klasse
Die Bayern-Klasse war eine auf vier Einheiten ausgelegte Klasse von Großlinienschiffen, die während des Ersten Weltkrieges als letzte dieses Schiffstyps für die Kaiserliche Marine gebaut wurden. Sie war eine Weiterentwicklung der König-Klasse, jedoch ging die Kaiserliche Marine bei der Hauptbewaffnung der Bayern-Klasse vom Kaliber 30,5 cm auf 38 cm über. Von den nach deutschen Ländern benannten, 180 m langen und 32.200 t schweren Schiffen wurden lediglich die Bayern und die als Flottenflaggschiff vorgesehene Baden fertiggestellt und 1916 in Dienst gestellt. Der durch Arbeitskräftemangel und geringe Priorität verzögerte Bau der Sachsen und Württemberg musste bei Kriegsende eingestellt werden. Die Bayern sank am 21. Juni 1919 in Scapa Flow, die Baden ging als britisches Zielschiff am 16. August 1921 unter und liegt nun an der tiefsten Stelle im Ärmelkanal nahe Cherbourg. Geschichte Entwurf Die Entwicklung der fünften Klasse von Großlinienschiffen der Kaiserlichen Marine begann im Jahr 1910. Zu diesem Zeitpunkt konnten die ersten Erfahrungen mit den gerade in Dienst genommenen Schiffen der Nassau-Klasse gesammelt werden. Die neue Klasse sollte vier Einheiten umfassen. Davon waren gemäß der im Flottengesetz festgeschriebenen Planung drei als Ersatz für die alten Linienschiffe Wörth (Brandenburg-Klasse), Kaiser Friedrich III. und Kaiser Wilhelm II. (Kaiser Friedrich-Klasse), das vierte Schiff als Ergänzungsbau konzipiert. Bei den Planungen stellte die schwere Artillerie die größte Herausforderung dar. Bereits seit 1907 hatte sich das Reichsmarineamt mit der möglichen Nutzung von Drillingstürmen befasst. Andere Marinen stellten zu dieser Zeit ebenfalls ähnliche Überlegungen an. Erstmals eingesetzt wurden Drillingstürme auf dem 1910 vom Stapel gelaufenen italienischen Großkampfschiff Dante Alighieri, dessen Pläne ebenfalls ab 1907 erstellt wurden. Auch die österreichisch-ungarischen Schlachtschiffe der Tegetthoff-Klasse erhielten vier Drillingstürme. Für diese Geschützturm-Variante sprach, dass der Decksaufbau – der gepanzerte Bereich zwischen dem vordersten und dem achterlichsten Turm – kürzer ausfallen konnte, wodurch sich Panzerung und damit Gewicht sparen ließ. Es war außerdem möglich, die gesamte schwere Artillerie vor und hinter den Aufbauten in der Mittschiffslinie unterzubringen. Dies brachte bei gleicher Rohrzahl günstigere Bestreichungswinkel für alle Geschütze mit sich, als das bei den vier vorangegangenen deutschen Großlinienschiffsklassen möglich war. Das mittlere Rohr eines Drillingsturmes war jedoch durch die beengten Platzverhältnisse schwierig mit Munition zu versorgen, was die Ladezeit herauf- und damit die Feuergeschwindigkeit des Turms herabsetzte. Außerdem wären, bedingt durch den größeren Durchmesser eines Drillingsturms, deutlich größere Decksdurchbrüche nötig gewesen, was der Festigkeit des Schiffskörpers abträglich gewesen wäre. Beim Ausfall eines Drillingsturms hätte das Schiff zudem mehr an Gefechtswert verloren als bei einem Zwillingsturm gleichen Kalibers. Diese Nachteile konnten aus deutscher Sicht von den Vorteilen nicht überwogen werden, weshalb die Kaiserliche Marine letztlich an den Zwillingstürmen festhielt. Der zweite schwerwiegende Aspekt bei der Hauptbewaffnung war deren Kaliber. Während die Nassau-Klasse noch mit 28-cm-Geschützen bewaffnet war, war man bei der noch im Bau befindlichen Helgoland-Klasse zu einem Kaliber von 30,5 cm übergegangen. Auf die deutsche Kalibersteigerung reagierte die britische Royal Navy, indem sie die 1909 begonnene Orion-Klasse mit 34,3-cm-Geschützen ausstattete. Die zuvor gebauten britischen Dreadnoughts hatten ebenfalls das Kaliber 30,5 cm erhalten. Die 34,3-cm-Geschosse erwiesen sich jedoch als nur geringfügig durchschlagskräftiger als die deutschen 30,5-cm-Granaten. Daher erhielten auch die deutschen Kaiser- und König-Klassen noch 30,5-cm-Geschütze. Im Zuge der Entwicklung der neuen Großlinienschiffklasse untersuchte 1910 das Waffendepartement unter Konteradmiral Gerhard Gerdes erneut eine mögliche Kalibersteigerung. Dies war dem immer besser werdenden Panzerschutz der Großkampfschiffe geschuldet. Zunächst zog man dabei ein Kaliber von 33,7 cm, 34 cm und auch 35,5 cm in Betracht. Alfred von Tirpitz gab im August 1911 die Untersuchung von 35 cm, 38 cm und sogar 40 cm als Kaliber der schweren Artillerie in Auftrag. Kaiser Wilhelm II. legte schließlich am 6. Januar 1912 die Armierung der neuen Schiffsklasse mit 38-cm-Geschützen fest. Mit diesem großen Kalibersprung setzte sich das Deutsche Reich international erstmals an die Spitze der Entwicklung. Die Royal Navy gab kurze Zeit später mit der – weitaus schneller fertiggestellten – Queen Elizabeth-Klasse vergleichbar bewaffnete Schlachtschiffe in Bau. Bau Nachdem die Konstruktionspläne für die neue Klasse erstellt waren, vergab die Kaiserliche Marine am 1. und 3. April 1913 die Bauaufträge für den Ersatz Wörth (später Baden) sowie den Neubau T (später Bayern). Die beiden anderen Schiffe folgten im November 1913 und am 12. August 1914 nach einem geringfügig geänderten Entwurf, der rund 2 Meter länger und 300 Tonnen schwerer ausfiel und für die Ersatz Kaiser Friedrich III. (die spätere Sachsen) einen gemischten Dampf-/Dieselantrieb vorsah. Sämtliche Bauaufträge gingen an private Werften. Als Baukosten waren 49 bis 50 Millionen Mark pro Schiff vorgesehen. Am 20. Dezember 1913 begann die Danziger Werft F. Schichau mit dem Bau der Ersatz Wörth. Typschiff der Klasse wurde jedoch der rund einen Monat später begonnene Neubau T, der am 18. Februar 1915 als Bayern vom Stapel lief und der Klasse damit ihren Namen gab. Der Bau der Schiffe litt unter dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Waren die Verzögerungen bei der Fertigstellung der Bayern noch gering, nahmen sie bei der Baden bereits ein größeres Maß an. Die beiden letzten Schiffe der Klasse liefen zwar noch vom Stapel, ihr Weiterbau wurde aber nur sporadisch betrieben und letztlich ganz eingestellt. Die Gründe dafür waren vielfältig. So trat durch die Einberufungen während des Krieges ein zunehmender Arbeitskräftemangel ein, und die Materialversorgung gestaltete sich schwierig. Die Reparatur vorhandener Einheiten und der Neubau von U-Booten und kleineren Kriegsschiffen hatten zudem Vorrang vor der Fertigstellung der schweren Schiffe. Schiffe der Klasse Einsatz Die Schiffe der Bayern-Klasse waren für den Einsatz in der Hochseeflotte gedacht. Die strategische Planung der Kaiserlichen Marine war auf einen Kampf gegen feindliche Schiffe in der südlichen Nordsee, also relativ nah an den deutschen Stützpunkten, ausgelegt. Während des Ersten Weltkrieges kam es jedoch nur zu wenigen Kämpfen zwischen deutschen und britischen Verbänden in der Nordsee, an denen keines der beiden in Dienst gekommenen Schiffe der Bayern-Klasse beteiligt war. Die Bayern hatte aufgrund ihrer ausgedehnten Probefahrtzeit nicht an der Skagerrakschlacht teilnehmen können und diente mit anderen Schiffen während des Unternehmens Albion als Rückendeckung gegen mögliche Angriffe schwerer russischer Einheiten, besonders denen der Gangut-Klasse. Während dieses Einsatzes erhielt sie einen schweren Minentreffer im Vorschiff, das aufgrund des eingedrungenen Wassers bis zum vorderen Geschützturm wegsackte. Die Baden war bereits bei ihrem Bau als Flottenflaggschiff vorgesehen und mit den dafür notwendigen zusätzlichen Räumen für den Flottenchef und seinen Stab ausgestattet. Im März 1917 löste sie die Friedrich der Große als Flottenflaggschiff ab. Als solches diente die Baden bis Kriegsende, ohne bei den Vorstößen in Gefechtsberührung zu geraten. Am 18. August 1918 schifften sich Kaiser Wilhelm II. und der Großherzog von Baden auf der Baden ein, um im Verband mit der Hindenburg, der Karlsruhe und mehreren Torpedobooten die Befestigungen Helgolands zu inspizieren. Verbleib Die Bedingungen des Waffenstillstandes sahen eine Auslieferung der modernen Schiffe der Hochseeflotte vor. Auf der Liste der zu internierenden Schiffe erschien unter anderem der nicht fertiggestellte Schlachtkreuzer Mackensen, die Baden hingegen fehlte. Das Flottenflaggschiff war übersehen worden. Der Fehler wurde nach kurzer Zeit bemerkt, und die Baden lief Anfang Januar 1919 ebenfalls nach Scapa Flow. Dort wurden im Juni sowohl die Bayern als auch die Baden, ebenso wie der Rest des Internierungsverbandes, für die Selbstversenkung vorbereitet. Dies geschah heimlich, um die kampfunfähigen Schiffe im Fall eines Scheiterns der Friedensverhandlungen nicht in die Hände der Royal Navy fallen zu lassen. Während die Versenkung der Bayern gelang, konnte die Baden von britischen Hilfsschiffen auf Grund gesetzt und wieder schwimmfähig gemacht werden. Das Schiff ging letztlich als Zielschiff bei Schießversuchen der Royal Navy unter. Technik Die Schiffe der Bayern-Klasse besaßen einen aus Stahl gefertigten und mit Quer- und Längsspanten versehenen Rumpf. Dieser war durch Schotten in 17 wasserdichte Abteilungen gegliedert. Der Schiffsboden war auf 88 % der Rumpflänge als Doppelboden ausgeführt. Bayern und Baden wiesen eine Konstruktionsverdrängung von 28.530 t auf. In einsatzbereitem Zustand verdrängten beide Schiffe 32.200 t. Die Gesamtlänge des Rumpfes betrug 180,0 m, wobei die Wasserlinie bei Konstruktionsverdrängung auf 179,4 m berechnet war. An ihrer breitesten Stelle maßen die Schiffe 30,0 m. Der maximale Tiefgang belief sich auf 9,39 m vorn und 9,31 m achtern. Die nach modifizierten Plänen gebauten Sachsen und Württemberg wichen von diesen Maßen nur geringfügig ab. Die auf den Schiffen vorhandene elektrische Ausrüstung wurde mit einer Spannung von 220 V betrieben. Für die Stromversorgung befanden sich acht Generatoren an Bord. Diese wurden von Dieselmotoren angetrieben und leisteten 2400 kW. Die für die Sachsen gebauten Generatormotoren wurden, da das Schiff unvollendet blieb, letztlich als Antriebsmotoren auf SM U 151, SM U 156, SM U 157 und Bremen verwendet. Antriebsanlage Für die Schiffe der Bayern-Klasse waren unterschiedliche Antriebskonzepte vorgesehen. Während Bayern, Baden und Württemberg einen reinen Dampfturbinenantrieb erhalten sollten, war für die Sachsen ein kombinierter Dampf-/Dieselantrieb geplant. Tatsächlich eingebaut wurde die Antriebsanlage jedoch nur auf den beiden fertiggestellten Schiffen. Die Bayern und die Baden erhielten jeweils 14 Wasserrohrkessel der Bauart Marine-Schulz. Von diesen waren elf kohle- und drei ölgefeuert. Jeder kohlegefeuerte Kessel wurde über zwei Feuerungen, die ölgefeuerten Kessel mit je einem Brenner geheizt. Die Kessel verfügten über eine Heizfläche von insgesamt 7660 m² und erzeugten einen Dampfdruck von 16 atü. Die Zahl der kohlegefeuerten Kessel sollte bei der Württemberg auf neun, bei der Sachsen wegen des kombinierten Dampf-/Dieselantriebes auf sechs reduziert werden, während die Zahl der Öl-Kessel gleich blieb. Untergebracht waren die Kessel in neun Kesselräumen, von denen jeweils drei nebeneinander lagen. Die Maschinenanlage bestand aus drei Sätzen Dampfturbinen unterschiedlicher Hersteller. Auf der Bayern wurden bei Turbinia Co. in Berlin hergestellte Brown-Curtis-Dampfturbinen eingebaut. Diese Bauart sollte auch auf der Sachsen zum Einsatz kommen, hier jedoch nur zwei Sätze für die äußeren Wellen. Die Baden erhielt bei Schichau gefertigte Parsons-Turbinen. Für die Württemberg waren AEG-Vulcan-Turbinen vorgesehen, die ebenfalls direkt von der Bauwerft geliefert werden sollten. Die auf sechs Maschinenräume verteilten Turbinensätze trieben drei dreiflügelige Schrauben mit jeweils 3,87 m Durchmesser an. Die Leistung der Antriebsanlage sollte nach den Konstruktionsberechnungen bei den beiden ersten Schiffen bei 35.000 PS liegen und bei der Württemberg auf 48.000 PS, bei der Sachsen auf 54.000 PS gesteigert werden. Tatsächlich waren die Maschinen der beiden fertiggestellten Einheiten in der Lage, rund 56.000 PS zu leisten. Trotz dieser Mehrleistung erreichte jedoch nur die Bayern die vorgesehene Höchstgeschwindigkeit von 22,0 kn, während die Baden nur 21,0 kn laufen konnte. Der mitgeführte Brennstoffvorrat von 3400 t Kohle und 620 t Öl ermöglichte den Schiffen eine Reichweite von 5000 sm bei 12 kn Fahrt. Bei Höchstfahrt war eine Dampfstrecke von knapp 2400 sm möglich. Der Brennstoffvorrat sollte auf der Württemberg 3100 t Kohle und 900 t Öl, auf der Sachsen 2700 t Kohle und 1300 t Öl betragen. Der für die Sachsen vorgesehene Schiffsdieselmotor sollte von der MAN geliefert werden und 12.000 PS leisten. Der Dieselantrieb brachte mehrere Vorteile mit sich: Der Dieselmotor konnte seine Höchstleistung innerhalb weniger Minuten entwickeln, während die Dampfkessel mehrere Stunden zum Anheizen benötigten. Außerdem erhöhte der geringere Treibstoffverbrauch die Reichweite des Schiffs. Zusätzlich konnten sowohl Platz als auch Personal eingespart werden. Die Entwicklungsarbeiten für diesen Motor begannen 1910 im Nürnberger Werk der MAN. Geplant war ein sechszylindriger, doppeltwirkender Zweitaktmotor, der zunächst auf der Prinzregent Luitpold für einen Langzeittest eingebaut werden sollte. Die Entwicklung dieses Motors wurde, mit einigen unfall- und kriegsbedingten Unterbrechungen, bis 1917 fortgeführt. Ende März 1917 stand der Prototyp zur Abnahme bereit. Der Einbau auf der Prinzregent Luitpold sollte aufgrund der dafür nötigen langen Umbauzeit erst nach Kriegsende erfolgen, unterblieb jedoch letztlich ebenso wie der Bau des Exemplars für die Sachsen. Bewaffnung Die Hauptbewaffnung der Bayern-Klasse bildeten acht 38-cm-Geschütze. Die Schnellladekanonen (Sk) wiesen eine Rohrlänge von 17,1 m auf, was 45 Kaliberlängen entsprach. Bei einer Erhöhung von 16° konnten die Geschütze bis zu 20,4 km weit schießen. Die maximal mögliche Rohrerhöhung wurde später auf 20° gesteigert, wodurch sich die Reichweite der schweren Artillerie auf 23,2 km erhöhte. Die Geschosse, von denen insgesamt 720 Stück an Bord mitgeführt wurden, wogen jeweils 750 kg und verließen das Geschütz mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 800 m/s. Die nötige Treibladung wog 277 kg und war unterteilt in eine Vorkartusche und eine Hauptkartusche – letztere bestand aus Messing und dichtete den Verbrennungsraum gegenüber dem Keil-Verschluss des Geschützes ab. Noch auf 20 km Entfernung konnten die Granaten bis zu 336 mm Panzerstahl durchschlagen. Das Nachladen der Geschütze dauerte etwa 23 Sekunden, verglichen mit den 36 Sekunden, welches die zeitgenössische britische BL 15 inch Mk I naval gun benötigte. Je zwei dieser Kanonen waren in einem Zwillingsturm zusammengefasst. Alle vier Geschütztürme befanden sich in der Mittschiffslinie. Jeweils zwei waren vor und hinter den Aufbauten aufgestellt. Die inneren Türme B und C waren überhöht angeordnet und konnten über die äußeren Türme hinweg schießen. Die auf der Drehscheibenlafette C/13 montierten Türme besaßen ein elektrisches Schwenkwerk (Schwenkgeschwindigkeit 3 Grad/Sekunde) und waren kugelgelagert. Ihr Gesamtgewicht belief sich auf rund 865 t, wobei allein 155 t auf jedes Geschützrohr entfielen. Die Mittelartillerie bestand aus sechzehn 15-cm-L/45-Sk. Jeweils acht dieser mit einer Mittelpivotlafette C/06 ausgestatteten Geschütze befanden sich in Kasematten an beiden Seiten der Schiffe. Die Geschützrohre waren 7,1 m lang und 5020 kg schwer. Ihre Reichweite betrug 19,6 km bei 30° Rohrerhöhung. Die 46 kg schweren Geschosse verließen das Rohr mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 890 m/s. Jedes Geschütz konnte bis zu sieben Schuss pro Minute abgeben. Für die Mittelartillerie befanden sich insgesamt 2560 Schuss Munition an Bord der Schiffe. Die ursprüngliche Planung sah ebenfalls den Einbau von acht 8,8-cm-L/45-Flugabwehrkanonen vor. Tatsächlich eingebaut wurden jedoch nur zwei bis vier dieser Geschütze. Dies geschah erst 1917. Die Flak konnten bis zu zehn 9,5 kg schwere Geschosse pro Minute verschießen. Bei einer Rohrerhöhung von 45° und einer Mündungsgeschwindigkeit von 890 m/s lag die Reichweite bei 11,8 km. Die Bewaffnung wurde durch fünf Torpedorohre mit 60 cm Durchmesser vervollständigt. Diese waren unter Wasser angebracht. Ein Rohr war im Bug montiert, je zwei befanden sich in den Seiten. Die Schiffe führten einen Vorrat von 20 Torpedos H8 mit. Nach dem schweren Minentreffer der Bayern wurden die seitlichen Torpedorohre auf beiden in Dienst befindlichen Schiffen ausgebaut und der vordere Torpedobreitseitraum unterteilt. Für die Feuerleitung erhielten die Schiffe Basisgeräte mit 8 m Basislinie für die optische Entfernungsmessung. Die Basisgeräte befanden sich im vorderen Teil der Geschütztürme, ihre Objektive ragten seitlich aus den schrägen Turmwänden heraus. Die Baden verfügte zusätzlich über einen Richtungsweiser, der mit einer Kreiselkompassanlage die Seitenrichtung der Geschütze stabilisierte. Darüber hinaus befanden sich in jedem Geschützturm jeweils zwei Höhen- und Seitenrichtvisiere. Panzerung Die seitliche Panzerung der Bayern-Klasse bestand aus dem schweren Gürtel-, dem Zitadell- und dem leichteren Kasemattpanzer. Der Gürtelpanzer war im Bereich der Zitadelle, vom vorderen bis zum achteren Geschützturm, 350 mm stark, verjüngte sich aber unter der Wasserlinie auf 170 mm. Am Heck der Schiffe hatte der Gürtelpanzer eine Stärke von 120 bis 200 mm, zum Bug hin nahm er auf bis zu 30 mm ab. Durch den relativ geringen Schutz des Vorschiffs konnte dieses bei Treffern leicht überflutet werden. Da nur wenige Pumpen an Bord vorhanden waren, konnte eingedrungenes Wasser nur schwer gelenzt werden. Die Baden erhielt eine stärkere Pumpenanlage, die bis zu 5.400 tn.l. Wasser in der Stunde lenzen konnte. Die auf dem Gürtelpanzer aufgesetzte Zitadellpanzerung maß durchgehend 250 mm. Die Kasematten und die Blenden der Mittelartillerie waren mit 170 mm geschützt. Zusätzlich befand sich zwischen den einzelnen Kasematten sowie an deren dem Schiffsinneren zugewandten Ende ein Splitterschott mit 20 mm Stärke, um bei Treffern in eine Kasematte die seitlich angrenzenden Räume zu schützen. Die innerhalb der Zitadelle befindlichen Panzerquerschotten wiesen eine Stärke von 170 bis 350 mm auf. Die in einem Abstand von rund 4 m von der Außenhaut verlaufenden Torpedolängsschotten waren mit einer Panzerung von 50 mm versehen. Sie reichten von rund 1 m über dem Panzerdeck bis zum Doppelboden der Schiffe. Nach oben hin folgte bis zum Batteriedeck ein längs verlaufendes, 30 mm starkes Splitterschott. Den horizontalen Schutz übernahmen drei leichte Panzerdecks. Das Oberdeck war über den Kasematten mit 30 bis 40 mm, das Batteriedeck im Bereich dieser mit 20 mm, außerhalb mit 30 mm gepanzert. Das eigentliche Panzerdeck war innerhalb der Zitadelle 30 mm stark, ebenso die im Winkel von 21° geneigten Böschungen, die das Panzerdeck mit dem unteren Teil des Gürtelpanzers verbanden. Vor der Zitadelle war das Panzerdeck durchgehend 60 mm, achtern davon 60 bis 120 mm stark. Die Geschütztürme erhielten an ihrer Vorderseite eine 350 mm starke Panzerung. Die Rückfront war mit 290 mm, die Seiten mit 250 mm gesichert. Die Turmdecken wiesen eine Panzerung von 100 bis 130 mm auf, die an den seitlichen Schrägen auf 200 mm zunahm. Der Boden der Türme erhielt einen 70 mm starken Panzerschutz. Der vordere Kommandoturm wies eine vertikale Panzerung von 60 bis 400 mm und eine horizontale von 50 bis 170 mm auf. Der in das Schiffsinnere führende Schacht unter dem Kommandoturm war mit 70 bis 200 mm gesichert. Der zwischen dem achteren Schornstein und Turm C befindliche achtere Leitstand verfügte über ein 170 mm starke vertikale Panzerung. Seine Decke war mit 80 mm, der Boden mit 50 mm gepanzert. Der Schacht unter dem Leitstand wies Panzerplatten mit 80 bis 170 mm Stärke auf. Das Panzermaterial wurde von der Essener Firma Krupp gefertigt. Sein Gesamtgewicht lag bei 11.610 t pro Schiff, was rund 40 % der Konstruktionsverdrängung ausmachte. Bei der Besichtigung der Baden durch britische Offiziere äußerten diese sich positiv zur Panzerung und dem Unterwasserschutz des Schiffs, das „in der Lage gewesen sein muß, sehr schweres Geschützfeuer und ernste Unterwasserangriffe auszuhalten.“ Besatzung Die Besatzung der Bayern-Klasse umfasste insgesamt 1171 Mann Sollstärke. Davon waren 42 Offiziere sowie 1129 Unteroffiziere und Mannschaften. Für den Dienst als Flaggschiff war auf der Baden zusätzlich Raum für einen Stab aus 14 Offizieren und 86 Mannschaften vorhanden. In einem Bericht über die Baden, welcher nach ihrer Hebung in der Zeitschrift Schiffbau erschien, werden die Offizierskammern und ein Großteil der Schiffsräume in ihrer Größe als „auf das äußerste Maß beschränkt“ beschrieben. Die Offiziers- und Deckoffiziersmessen werden hingegen als „geräumig und schön ausgestattet“ geschildert. Vergleich mit zeitgenössischen Schiffsklassen Die folgende Liste enthält einen Vergleich mit Schlachtschiffsklassen der Kriegsgegner Deutschlands, die sich ebenfalls ca. zwischen 1914 und 1916 im Bau befanden. Die Queen Elizabeth-Klasse konnte bereits ein Jahr vor der Bayern in Dienst gestellt werden, während kein Schiff der Borodino-Klasse fertiggestellt wurde. Bewertung der Bayern-Klasse Die Großlinienschiffe der Klasse werden in ihren Eigenschaften in der Fachliteratur überwiegend sehr positiv gewertet: Siegfried Breyer bezeichnet den Entwurf als exemplarisch für die Tatsache, dass „das Schlachtschiff als Schiffstyp seine Vollkommenheit erreicht hatte“ und die weitere Entwicklung der folgenden beiden Jahrzehnte nur noch „Einzelheiten, aber nicht mehr die Gestaltung des Schiffstyps selbst“ verbessert hätte. Erich Gröner schreibt den Einheiten der Bayern-Klasse Eigenschaften als „sehr gute, ruhige Seeschiffe“ zu, die gute Manövrier- und Dreheigenschaften besessen hätten. Jedoch seien die Schiffe „stark luvgierig“ gewesen. Gary Staff beschreibt die Schiffe als Träger eines und . Literatur Weblinks Einzelnachweise Militärschiffsklasse (Kaiserliche Marine) Schlachtschiff-Klasse
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Dachsteingebirge
Das Dachsteingebirge (auch Dachsteinmassiv, Dachsteingruppe oder nur Dachstein) ist ein Teil der Nördlichen Ostalpen. Es liegt in drei österreichischen Bundesländern: im Osten und Süden in der Steiermark, im Westen in Salzburg und in der Mitte und im Norden in Oberösterreich. Die höchste Erhebung ist mit der Hohe Dachstein, der zugleich höchster Berg von Oberösterreich und der Steiermark ist. Das stark verkarstete Gebirge besteht vorwiegend aus Dachsteinkalk, ist geologisch vollumfänglich den Nördlichen Kalkalpen zugehörig und teilweise vergletschert. Im Dachsteingebirge liegt die östlichste und gleichzeitig flächenmäßig größte Gletschergruppe der Nördlichen Kalkalpen. Das Gebiet entwässert größtenteils unterirdisch und ist von mehreren großen Höhlen durchzogen, darunter die drittlängste Höhle Österreichs, die Hirlatzhöhle mit über 112 Kilometern Länge. Das weitgehend naturnahe Gebiet mit seiner stark gegliederten Höhenzonierung bietet Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten und steht größtenteils unter Naturschutz. Durch Schutzhütten, ein großes Wegenetz und mehrere Wintersportgebiete ist das Dachsteingebirge für den Tourismus erschlossen. Die Besiedlungsgeschichte des Dachsteingebirges und des Inneren Salzkammerguts ist vom prähistorischen Salzbergbau in Hallstatt geprägt und reicht bis 5000 v. Chr. zurück. Der Großteil des Dachsteingebirges ist zusammen mit dem Inneren Salzkammergut Teil des UNESCO-Welterbes Kulturlandschaft Hallstatt–Dachstein/Salzkammergut. Geographie Das Dachsteingebirge hat eine maximale Ausdehnung zwischen Lungötz im Lammertal im Westen und der Einmündung des Grimmingbachs in die Enns im Osten von 52 und von Nord nach Süd von 23 Kilometern; es umfasst eine Gesamtfläche von 772 km². Das Gebirge ist eines der größten geschlossenen Karstareale Österreichs. Die Grenzziehung folgt der Landschaftsgliederung der Steiermark sowie der Alpenvereinseinteilung der Ostalpen. Obwohl der Sarstein im Norden als auch der Grimming im Osten durch tiefe Durchbruchstäler vom Hauptmassiv getrennt sind, gehören sie zum Dachsteingebirge. Das kann sich vom alltäglichen Sprachgebrauch unterscheiden, in dem beide Bergstöcke nicht zum Dachstein gezählt werden. Die Begrenzung verläuft von Gosauzwang bei Hallstatt dem Gosaubach entlang nach Gosau und über den Pass Gschütt nach Rußbach am Paß Gschütt, weiter dem Rußbach entlang bis zu dessen Einmündung in die Lammer. Das Lammertal bildet die Westgrenze bis Lungötz. Von dort verläuft die Grenze über den Marcheggsattel nach Filzmoos. Die Südgrenze ergibt sich aus der Linie Filzmoos – Ramsau am Dachstein – Weißenbach an der Enns, der Enns entlang bis zur Einmündung des Grimmingbachs. Von dort verläuft die Ostgrenze dem Grimmingbach entlang bis nach Bad Mitterndorf. Die Nordgrenze führt von Bad Mitterndorf zur Kainischtraun und folgt dem Flussverlauf bis nach Bad Aussee. Über den Pötschenpass zum Hallstätter See wird die Grenze geschlossen. Verwaltungsmäßig ist das Gebiet auf die Bezirke Gmunden, Hallein, St. Johann im Pongau und Liezen aufgeteilt. Verkehr Im Norden verläuft vom Nordufer des Hallstättersees über Bad Mitterndorf bis nach Trautenfels die Salzkammergutstraße, die dort in die Ennstal-Straße mündet und bis nach Altenmarkt im Pongau führt, wo sich ein Anschluss an die Tauern Autobahn befindet. Die Salzkammergutbahn verläuft weitgehend parallel zur Salzkammergutstraße und mündet bei Stainach-Irdning in die Ennstalbahn, die ebenfalls bis Altenmarkt im Pongau führt. Die Pass Gschütt Straße und die Lammertal Straße erschließen das Gebiet im Westen. Am Westufer des Hallstätter Sees verläuft die Hallstätterseestraße L547. Sie führt durch das Tal der Koppentraun über den Koppenpass und verbindet das Innere Salzkammergut mit dem Ausseerland und wird auf steirischer Seite als Koppenstraße L701 bezeichnet. Mehrere Mautstraßen führen im Süden vom Tal auf das Dachsteingebirge, von Gröbming die Stoderzinken Alpenstraße bis auf 1800 m Höhe, von Ramsau am Dachstein die Dachsteinstraße zur Talstation der Dachstein-Südwandbahn auf 1700 m und von Filzmoos die Mautstraße Hofalm auf die Oberhofalm. Das Gebiet ist durch drei Luftseilbahnen erschlossen. Die Dachstein Krippenstein-Seilbahn in Obertraun führt in drei Teilstrecken von Norden auf das Dachsteinplateau. Die Dachstein-Südwandbahn in Ramsau am Dachstein überwindet von Süden ohne eine einzige Stütze 1000 m und endet am Hunerkogel () am Dachsteinplateau. Die Gosaukammbahn erschließt das Gebiet des Gosaukamms touristisch. Gliederung und Gipfel Das Dachsteingebirge wird in ein zentrales Massiv (Hauptmassiv und Dachsteinplateau) und mehrere Randgruppen unterteilt. Der Gosaukamm im Nordwesten wird durch die Linie Filzmoos – Hinterwinkel – Reißgangscharte – Hinterer Gosausee vom zentralen Teil getrennt. Im Norden befindet sich der Plassenstock mit dem Plassen, der durch die Linie Gosaubach – Plankensteinalm – Echerntal bei Hallstatt abgegrenzt ist. Der Grenzverlauf Koppenwinkellacke – Landfriedalm – Ödensee trennt das Koppengebirge im Nordosten vom Plateau ab. Das Durchbruchstal der Koppentraun trennt den Sarstein vom Hauptmassiv. Das Kemetgebirge im Südosten bildet ebenfalls eine eigenständige Randgruppe. Im äußersten Osten trennt das Durchbruchstal des Salzabachs den Grimming vom Kemetgebirge. Im Süden schließt das Scheichenspitzmassiv mit der namensgebenden Scheichenspitze an. Im Südwesten wird der Rötelstein (Rettenstein) mit seinen Vorbergen ebenfalls als Randgruppe abgetrennt. Gipfel des Dachsteingebirge (Auswahl): Topographie Typisch für das Dachsteingebirge ist das große Kalkkarst-Plateau mit Hochgebirgs- und auch Mittelgebirgscharakter. Das Gebirge steigt im Westen steil vom Vorderen Gosausee von etwa zum Gipfel des Großen Donnerkogels () auf und setzt sich im Gosaukamm nach Südost gratartig fort. Die Abstürze sind sehr steil, felsig und haben in der Großen Bischofsmütze ihren höchsten Punkt. Ab der Reißgangscharte weitet sich das Gebirge zu einem großen Plateau, das sich durchwegs über befindet. Am Südrand des Plateaus befinden sich die drei höchsten Erhebungen des Dachsteingebirges: Hoher Dachstein , Torstein und Mitterspitz Die hier senkrecht abfallenden Südwände erreichen 1000 Meter Höhe. Die Gipfel werden nach Osten niedriger und erreichen im Eselstein noch einmal Nach Norden schließt die Hochfläche „Am Stein“ an, die sich bis zum rund 8 km entfernten Hohen Krippenstein ausdehnt und steil nach Norden ins Trauntal abfällt. Vom Eselstein ostwärts fällt das Gebirge markant ab und unterschreitet beim Ahornsee bereits Den östlichen Ausläufer bildet das kammartige Kemetgebirge, das den höchsten Punkt im Kammspitz hat, bevor es zum Salza-Stausee abfällt. Den östlichen Endpunkt bildet der Grimming Am gesamten Plateau ist eine alpine Karren- und Dolinenlandschaft ausgebildet. Vergletscherung Im Dachsteingebirge befindet sich die östlichste und tiefstgelegene Gletschergruppe der Alpen sowie die größte der Nördlichen Kalkalpen. Die Gletscher sind keine Überreste des eiszeitlichen Traungletschers, denn im wärmsten Abschnitt des Holozäns, dem Atlantikum, war das Dachsteingebirge sehr wahrscheinlich komplett eisfrei. Die heutige Vergletscherung baute sich danach wieder erneut auf. Die drei größten Gletscher sind Hallstätter Gletscher, Großer Gosaugletscher und Schladminger Gletscher. Die sehr kleinen Gletscher Schneelochgletscher, Kleiner Gosaugletscher und Nördlicher Torsteingletscher zeigen noch eine aktive Fließbewegung und Spaltenbildung, die eine Bezeichnung als Gletscher rechtfertigen. Seit dem Hochstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts unterliegen die Dachsteingletscher mit Ausnahme kurzer Vorstoßperioden um 1920 und um die Mitte der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts einem kontinuierlichen Rückgang. So sind der Südliche Torsteingletscher und der Edelgrießgletscher aufgrund der fehlenden Aktivität als Firnfelder oder Toteis zu bezeichnen. Gut erhaltene Moränenreste des Gletschervorstoßes von 1850 finden sich südlich der Eisseen und bei der Adamekhütte. Gewässer Der Großteil des Dachsteingebirges entwässert nach Norden über die Traun. Im Ödensee entspringt mit der Ödensee Traun ein wichtiger Zufluss der Traun im Oberlauf. Das westliche Gebiet vom Pass Gschütt bis zum Marcheggsattel entwässert in die Salzach. Das Gebiet vom Marcheggsattel bis zum Grimmingbach entwässert nach Süden in die Enns. Am Nordfuß des Gebirges liegen der Hallstätter See, die Gosauseen und der Ödensee. In den Hochlagen befinden sich mehrere abflusslose Trogseen wie der Ahornsee, der Grafenbergsee und etliche kleinste Bergseen wie die Hirzkarseelein. Die Eisseen bilden die Gletscherendseen des sich zurückziehenden Hallstätter Gletschers. Geologie Tektonik Tektonisch besteht das Dachsteingebirge aus einer mächtigen Falte der Dachsteindecke, wobei im Süden die Deckenstirn zutage tritt und gegen Norden treppenförmig zu den Voralpen hin bis unter das Niveau des Hallstätter Sees abfällt. Die Dachsteindecke wird der juvavischen Deckeneinheit (Juvavikum) zugerechnet und erreicht eine Mächtigkeit bis zu 2500 m. Westlich von Hallstatt liegen, inmitten von Gesteinen der Dachsteindecke, die komplex aufgebauten Plassen-Schollen, die mitsamt ihrer Haselgebirgsbasis der Dachsteindecke auflagern. Lithostratigraphie Lithostratigraphisch bestehen die Gesteine des Dachsteingebirges überwiegend aus mesozoischen Kalken und Dolomiten der Trias, die vor rund 240 bis 200 Millionen Jahren abgelagert wurden. Salzführendes Haselgebirge (Perm) tritt besonders im Salzkammergut auf, wo sich auch der Hallstätter Salzberg befindet. Die Werfen-Formation (Skythium) bildet die Basis des Gebirges. Sie tritt im Gebiet vom Lammertal bis zum Brandriedl zutage. Die Gutenstein-Formation (Anis) befindet sich südlich des Rauchecks sowie rund um den Plassen. Am Südfuß des Solingerkogels erreicht sie eine Mächtigkeit von mehr als 200 m. Hallstätter Kalke (Anis bis unteres Karn) bilden mehrere Kogel im Salzberg-Hochtal. Sie sind für ihren außerordentlichen Fossilienreichtum, insbesondere Ammoniten, bekannt. Wettersteindolomit und -kalk (Ladin) bilden die unteren Wandpartien der Südabstürze des zentralen Massivs sowie die höchsten Gipfel im Scheichenspitzmassiv ostwärts bis zum Kemetgebirge. Wettersteindolomit- und kalk erreichen eine Mächtigkeit von bis zu 1000 m. Der Hauptdolomit (Nor) bildet den Sockel des Zinken. Der Dachsteinkalk (Nor bis Rhaet) bildet die Hauptmasse der Dachsteindecke und erreicht eine Mächtigkeit von bis zu 1500 m. Gebankter Dachsteinkalk ist das Charaktergestein des Dachsteingebirges und baut alle Wände und Hochflächen des zentralen Massivs auf. Sarstein und Grimming bestehen ebenfalls aus Dachsteinkalk. Der Dachstein-Riffkalk bildet den Gosaukamm sowie das Gebiet vom Vorderen Gosausee bis zum Schwarzkogel. Kalke aus dem Jura spielen im Dachsteingebirge eine untergeordnete Rolle. Stellenweise liegt rötlicher, fossilreicher Hierlatzkalk (Unterjura) dem Dachsteinkalk auf. Der Plassenkalk (Kimmeridgium) bildet die Gipfelkuppen des Plassen und des Rötelsteins. Kreidezeitliche (Maastrichtium - Santonium) Ablagerungen befinden sich mit der Gosau-Gruppe im Gosautal und östlichen Lammertal. Bevor sich das Dachsteingebirge im Miozän zum Hochgebirge hob, war es von einer vermutlich kilometermächtigen Schüttung aus Augensteinschotter bedeckt. Diese aus Quarz-Geröllen bestehenden Ablagerungen sind Verwitterungsreste, die aus den Zentralalpen stammen. Durch die Kippung des Massivs nach Norden und die erosive Kraft der Gletscher wurden diese Schotter in die Molassezone verschwemmt. Nur in geschützten Dolinen und Höhlen konnten sich Augensteine erhalten. Typlokalität dieser Ablagerungen ist die Augensteindl-Grube etwa 1 km südsüdöstlich der Gjaidalm. Ehemalige Vergletscherung Das Dachsteingebirge war während der Eiszeiten immer vergletschert, wobei das Plateau als Nährgebiet für ausgedehnte Eisströme diente. Der mächtige Traungletscher, der vom Dachstein kommend durch das Trauntal nach Norden floss, drang weit ins Alpenvorland vor. Am Höhepunkt der jeweiligen Vereisung erfüllten große Eismassen die Täler und reichten immer wieder bis auf rund Nur noch die höchsten Gipfel ragten als Nunatakker aus den Eisströmen heraus. An den Flanken schürfte das Eis Kare und Trogtäler aus. In den Tälern entstanden übertiefte Becken, die heute von Seen und deren Ablagerung ausgefüllt werden. Dies sind etwa die Zungenbecken des Hallstätter Sees und des Hinteren Gosausees. Während der Eiszeiten war das enge Koppental von großen Eismassen verstopft und konnte nicht vom Traungletscher durchflossen und zu einem U-förmigen Trogtal überformt werden. Es behielt daher seinen ursprünglichen, durch Flusserosion entstandenen V-förmigen Querschnitt. Im Spätglazial, vor etwa 16.000 Jahren, erfolgte ein letzter kräftiger Gletschervorstoß. Dabei entstand der Moränenwall, der den Vorderen Gosausee abdämmt. Hydrogeologie Die tiefgründig verkarsteten Kalke entwässern größtenteils unterirdisch. So befinden sich in den Hochlagen keine größeren oberflächlichen Abflüsse. Der Großteil des Regen- und Schmelzwassers versickert in den Spalten und Dolinen des Kalkgesteins und sammelt sich in ausgedehnten Höhlensystemen. Die Kalke werden von Grundwasser stauenden Werfener Schichten und Haselgebirge unterlagert. Diese tonig-mergligen Ablagerungsgesteine und das Einfallen der Dachsteindecke nach Norden erzwingen zahlreiche Quellaustritte am Nordfuß des Dachsteingebirges, insbesondere vom Echerntal bis zur Koppenwinkelalm. Wie diverse Tracerversuche zeigten, entwässert der Großteil des Gebietes zu diesen Quellen. Die ergiebigste ist die Großquelle Waldbachursprung mit einer durchschnittlichen Schüttungsmenge von 3.100 l/s. Weitere wichtige Quellen sind der Hirschbrunn am Hallstätter See, die Koppenbrüllerhöhle und der Ödensee. Die Tracerversuche zeigten auch, dass erste Spuren der Markierungsstoffe die Quellen bereits nach Stunden oder wenigen Tagen erreichten. Höhlen Der gut verkarstungsfähige Dachsteinkalk bietet im Zusammenwirken mit dem übrigen Trennflächengefüge besonders günstige Voraussetzungen für die Höhlenbildung. Mit Stand 2002 sind in der Untergruppe 1540 (Dachstein) des Österreichischen Höhlenverzeichnisses über 600 Höhlen verzeichnet. Mit vermessenen 112.929 m ist die Hirlatzhöhle (Kat.Nr. 1546/7) die längste Höhle im Gebiet und die drittlängste Höhle Österreichs. Von besonderer Bedeutung sind die Dachstein-Mammuthöhle (Kat.Nr. 1547/9), die Dachstein-Rieseneishöhle (Kat.Nr. 1547/17) auf der Schönbergalm und die Koppenbrüllerhöhle (Kat.Nr. 1549/1), die als Schauhöhlen für den Tourismus erschlossen sind. Vor etwa 10 Millionen Jahren begann eine Periode, in der die mittleren und östlichen Kalkalpen starker Hebung bis zum heutigen Hochgebirge ausgesetzt waren. Die Hebung erfolgte nicht kontinuierlich, wie sich aus den Höhlensystemen ableiten lässt. Im Dachsteingebirge existiert eine deutliche Höhenzonierung der Höhlengänge, die sich in drei Niveaus einteilen lässt, die mit der Lage des damaligen Karstwasserspiegels zusammenhängen. Das Ruinenhöhlen-Niveau im Bereich der Dachstein-Hochfläche ist im frühen Oligozän entstanden, das darunter liegende Riesenhöhlen-Niveau mit Hirlatzhöhle, Dachstein-Mammuthöhle und -Rieseneishöhle im Obermiozän. Das plio- bis pleistozäne Quellhöhlenniveau mit der nahe gelegenen Koppenbrüllerhöhle zeigt den heutigen Karstwasserspiegel an. Die horizontalen Höhlen-Gangsysteme bildeten sich zu Zeiten tektonischer Ruhe, weil sie lange Zeit zur Bildung beanspruchen. Dazwischen lagen Zeiten rascher Hebung, in denen vor allem vertikal Höhlenstrecken entstanden. Die meisten Höhleneingänge liegen in einer Höhenlage von und 1949 wurde auf der Schönbergalm der Verband Österreichischer Höhlenforscher gegründet. Paläontologie Im Hallstätter Kalk hatten die Ammoniten eine Blütezeit und für die Paläontologen gehört der Bereich um das Salzberg-Hochtal zu den weltweit interessantesten Ammonitenfundstellen der Triaszeit. Im Jahr 1849 wurde von Franz von Hauer, zu Ehren seines Gönners Klemens Wenzel Lothar von Metternich, die Art Pinacoceras metternichi beschrieben. Diese Arbeit wird als der Beginn der paläontologischen Forschung in Österreich angesehen. Die mehrbändige Monographie Das Gebirge um Hallstatt von Edmund Mojsisovics von Mojsvár gilt als das größte Werk über die Paläontologie der Ostalpen und beschreibt die einzigartige Artenvielfalt der Ammoniten im Hallstätter Kalk. Typische Fossilien im gebankten Dachsteinkalk sind die sogenannten Megalodonten, eine als Dachstein-Bivalven bezeichnete Gruppe von Riesenmuscheln, die mit mehreren Gattungen wie Neomegalodus und Conchodus vertreten ist. Im Volksmund werden sie als Kuhtritte bezeichnet, da die beiden Schalen im Allgemeinen noch beisammen liegen und somit an der Gesteinsoberfläche einen hufartigen oder herzförmigen Querschnitt zeigen. Eine bekannte Fossilfundstätte befindet sich nahe dem Torstein-Eck, wo der Linzer-Weg direkt über eine rund ein Meter breite, stellenweise unterbrochene, aber insgesamt etwa 100 m lange Megalodontenbank hinwegführt. Bei dieser Fossilienanhäufung, die bei Einheimischen Gosauer Fischzug genannt wird, handelt es sich um Brandungsmaterial, da die Schalenhälften getrennt und häufig zertrümmert sind. Die Gesteine der Gosau-Gruppe sind ebenfalls stark fossilienführend. Vor allem Taxa von Ammoniten, Gastropoda (Schnecken) und Muscheln treten auf. 1971 wurde beim Anlegen einer Forststraße am Finstergrabenwandl im Gemeindegebiet von Gosau ein sehr großes Exemplar des Ammoniten Parapuzosia seppenradensis aus der Hochmoos-Formation (Santonium) geborgen. Mit etwa 95 cm Durchmesser und 180 kg Gewicht handelt es sich um den zweitgrößten je in Österreich gefundenen Ammoniten. Der Fund kann im Naturhistorischen Museum in Wien besichtigt werden. Seit 1979 ziert der Riesenammonit das Gosauer Gemeindewappen. Böden Ausgehend vom dominierenden Dachsteinkalk konnten sich in den Hochlagen meist nur Rendzinaböden entwickeln. Das Alter der meisten Böden beträgt maximal 15.000 Jahre, da in den Eiszeiten ältere Böden abgetragen wurden. Ältere Paläoböden wie Rotlehmböden finden sich am Dachsteinplateau nur in geschützten Geländemulden. Die größten Flächen nehmen mullartige Rendzinen ein. Diese mineral- und humusreichen Böden kommen vor allem in Hanglagen der montanen Stufe unter krautarmen Misch- und Nadelwäldern auf fast allen Kalk- und Dolomitgesteinen vor. In Unterhangbereichen kommt es unter klimatisch günstigen Bedingungen zu stärkerer Mullbildung und es entwickeln sich Mullrendsinen bzw. Braune Rendzinen. Auf diesen tiefgründigen und fruchtbaren Böden gedeihen Misch- und Laubwälder bzw. Wiesen und Weiden der tief- bis mittelmontanen Stufe. Echte Kalkbraunerden oder Kalksteinbraunlehme kommen nur vereinzelt in ausgeprägten Gunstlagen wie im Kogelgassenwald beim Hinteren Gosausee vor. Ebenfalls kleinflächig und nur in Muldenlagen sind frische, lehmige Pseudogleye anzutreffen, auf denen Fichten- oder Tannenwälder wachsen bzw. Almweiden liegen. Klima Die Wetterwarte der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik am Hohen Krippenstein () stellt exakte Daten für das Dachsteingebirge zur Verfügung. Die Klimadaten zeigen eine für die Gebirge der Nördlichen Kalkalpen typische Temperatur- und Niederschlagsverteilung: kühle und niederschlagsreiche Sommer und niederschlagsarme Winter. Die Jahresniederschläge bewegen sich in einer Größenordnung von 1200 bis über 2500 mm, wobei die Niederschläge von West nach Ost ab- und mit zunehmender Meereshöhe deutlich zunehmen. Maximalwerte werden im Bereich des Hohen Dachsteins () erreicht. In freien höher gelegenen Bereichen dominieren West- und Nordwestwinde, die häufig mit Niederschlag einhergehen. Bedingt durch den oftmaligen Wolkenstau am Nordrand fällt im Bereich des Hohen Dachsteins überdurchschnittlich viel Niederschlag. Die Zeitdauer der winterlichen Schneebedeckung liegt auf 1500 m Höhe bei etwa 180 Tagen, über 2500 m Höhe bei 300 Tagen. Das durchschnittliche Schneehöhenmaximum eines Winters beträgt am Krippenstein 407 cm. Durch die Höhendifferenz von über 2000 Metern ergeben sich markante Temperaturunterschiede zwischen den Tallagen und den Gipfelregionen des Dachsteingebirges. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt in Tieflagen 5,9 °C in Bad Mitterndorf () und 0,9 °C am Krippenstein. Große Bedeutung kommt den Inversionswetterlagen in den Talbereichen wie etwa im Trauntal, Ennstal und selbst in den Hohlformen des ausgedehnten Plateaus des Dachsteingebirges zu. Aus diesem Grunde herrschen im Herbst oberhalb der Inversionsnebeldecken oft vergleichsweise milde Temperaturen vor. In der kalten Jahreszeit übt die Inversionsschicht in umgekehrter Weise eine mildernde Wirkung auf die Temperaturen der Tallagen aus. Flora und Vegetation Aufgrund der großen Höhenunterschiede von der Tallage bis in die Gipfelregionen bildet sich in jeder Höhenstufe eine besondere Vegetation. Die montane Stufe entspricht dem Bereich der Fichten-Tannen-Buchen-Wälder als Klimaxvegetation, der sich vom Talboden bis auf etwa erstreckt. Ab etwa sind die Wälder durch zunehmende Verlichtung und mosaikartige Zusammensetzung gekennzeichnet: Fichten-Lärchen-Mischbestände, Bergkiefergebüsche, Hochstaudenfluren und Rasen wechseln ab und sind mit steigender Höhe zunehmend von alpiner Vegetation durchsetzt. Einzelne Zirbengruppen (Pinus cembra) gedeihen noch bis etwa , wo sich auch die Waldgrenze befindet. Der für ostalpine Kalkgebirge typische Krummholzgürtel der Bergkiefer (Pinus mugo) steigt bis etwa , löst sich mit steigender Höhe zunehmend auf und wird von Zwergstrauchheiden und alpinen Rasen durchzogen. In der oberalpinen Stufe dominieren fragmentierte Polsterseggenrasen. Zu den am höchsten steigenden Pflanzenarten zählen Gegenblättriger Steinbrech (Saxifraga oppositifolia) und Einblütiges Hornkraut (Cerastium uniflorum), die bis zum Gipfel des Hohen Dachsteins gedeihen. Die zur Staunässe neigenden Böden der Gosau-Gruppe und die teilweise darüber lagernden Moränen schaffen gute Voraussetzungen für die Bildung von Mooren. Im Oberösterreichischen Moorkatalog werden aus dem Gosautal 17 Moore beschrieben. Insgesamt wurden im Gebiet etwa 1250 Gefäßpflanzenarten (Tracheophyta) nachgewiesen, unter anderem viele der endemischen Pflanzenarten der Nordostalpen. Als Auswahl seien erwähnt: Zierliche Feder-Nelke (Dianthus plumarius subsp. blandus) Sauters Felsenblümchen (Draba sauteri) Dunkle Glockenblume (Campanulla pulla) Clusius-Primel (Primula clusiana) Traunsee-Labkraut (Galium truniacum) Österreichische Wolfsmilch (Euphorbia austriaca) Insbesondere im hinteren Gosautal ermöglichen hohe Luftfeuchtigkeit verbunden mit niedrigen Immissionen das Vorkommen vielfältiger Flechtengesellschaften. Im Gebiet um die Gosauseen dominieren Assoziationen, die ozeanische Klimaeinflüsse sowie unberührte, möglichst naturbelassene Wälder mit alten Bäumen für ihre Entwicklung brauchen. Unter anderem gedeiht hier die Flechte Lobaria pulmonaria, die als Indikator für intakte Ökosysteme gilt. Im Gipfelbereich des Hohen Dachsteins konnten 20 Flechtenarten nachgewiesen werden. Darunter etwa Vertreter der Gattung Verrucaria. Diese endolithischen Arten zersetzen mit den gebildeten Flechtensäuren den Kalkstein. Fauna Das Dachsteingebirge ist reich an Wildarten. Das karge Karstplateau ist für Gämsen (Rupicapra rupicapra) ein Rückzugsgebiet; die Tiere treten in hohen Dichten auf. Bemerkenswert sind die Vorkommen des Alpensteinbocks (Capra ibex). Es handelt sich hierbei um den einzigen Bestand in Oberösterreich. Im Bereich der Bachlalm befinden sich auch mehrere kleinere Kolonien des Alpenmurmeltiers (Marmota marmota), die alle auf frühere Aussetzungen zurückgehen. Schneehasen (Lepus timidus) leben ebenfalls im Gebiet. Alpensalamander (Salamandra atra) und Bergmolch (Ichthyosaura alpestris) weisen im Dachsteingebirge gute Bestände auf. In den tieferen Lagen kommt auch der Feuersalamander (Salamandra salamandra) vor. Die Gelbbauchunke (Bombina variegata) ist weit verbreitet, typische Lebensräume sind etwa Almflächen mit Weidetümpeln, wo sie oft gemeinsam mit dem Bergmolch auftritt. Auch die Erdkröte (Bufo bufo) und der Grasfrosch (Rana temporaria) steigen mit größeren Beständen bis zur Waldgrenze. Von den Reptilienarten ist die Bergeidechse (Zootoca vivipara) am häufigsten vertreten, aber auch die Blindschleiche (Anguis fragilis) ist bis in die hochmontane Zone weit verbreitet. Besonders im Bereich der Almtümpel findet man oft die Ringelnatter (Natrix natrix), die vom Amphibienreichtum profitiert. Die Kreuzotter (Vipera berus) ist zwar weit verbreitet, aber nur sehr lokal häufigerer. Alpendohlen (Pyrrhocorax graculus) und Kolkraben (Corvus corax) sind häufig anzutreffen. Mit Alpenschneehuhn (Lagopus muta), Birkhuhn (Lyrurus tetrix), Haselhuhn (Tetrastes bonasia) und Auerhuhn (Tetrao urogallus) sind vier Raufußhuhnarten im Gebiet heimisch. Alpenbraunellen (Prunella collaris) und Schneefink (Montifringilla nivalis) wurden ebenfalls nachgewiesen. Das Dachsteingebirge ist auch Verbreitungsgebiet des Steinadlers (Aquila chrysaetos). 2004 wurde der Höhengrashüpfer (Chorthippus alticola rammei) erstmals für Oberösterreich, die Steiermark und die Nördlichen Kalkalpen nachgewiesen. Er besiedelt besonders die grasigen Dolinen und Zwergstrauchgesellschaften am Dachsteinplateau zwischen 1800 und 2000 m. Das eigentliche Verbreitungsgebiet dieser Art sind die slowenischen Karawanken und die Julischen Alpen. Der troglobionte Dachstein-Blindkäfer (Arctaphaenops angulipennis) wurde zu Beginn der 1920er Jahre in der Koppenbrüllerhöhle entdeckt, wobei bis heute 23 unterirdische Lebensräume im Dachsteingebiet und im nahen Toten Gebirge bekannt geworden sind. Diese endemische Art ist ein Tertiärrelikt, das in den Tiefen der Höhlen die Vergletscherung während der Eiszeiten überstand. Naturschutz Große Teile des Dachsteingebirges stehen unter Naturschutz. In Oberösterreich wurde 1963 das Gebiet um den Hohen Dachstein mit der Gletscherregion als Naturschutzgebiet verordnet. 2001 erfolgte eine maßgebliche Erweiterung auf 136 km². Das Naturschutzgebiet Dachstein in den Gemeinden Gosau, Hallstatt und Obertraun (n098) erstreckt sich vom Vorderen Gosausee im Westen bis zur steiermärkischen Landesgrenze im Osten. Die Südgrenze bildet auch die Landesgrenze. Die Nordgrenze verläuft vom Vorderen Gosausee über die Seekaralm und Grubenalm bis zum Südufer des Hallstätter Sees und bis zum Koppenwinkel. Der touristisch erschlossene Bereich um den Krippenstein und die ehemalige Militärstation am Oberfeld sind ausgenommen. Es ist das größte Naturschutzgebiet Oberösterreichs. Die Dachstein-Mammuthöhle und die Dachstein-Rieseneishöhle sind als Naturdenkmäler ausgewiesen. Das Dachsteingebirge ist Teil des oberösterreichischen Europaschutzgebiets Dachstein (AT3101000) gemäß der FFH-Richtlinie als Teil des Netzwerks Natura 2000. Das Schutzgebiet ist 145,73 km² groß. Mit Entscheidung der Europäischen Kommission vom Februar 1995 wurde das Gebiet in die Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung für die alpine geographische Region aufgenommen. Die Schutzgüter umfassen 26 Lebensraumtypen und 24 Tier- und Pflanzenarten, darunter die vier im Gebiet heimischen Raufußhuhnarten oder das Moos Dicranum viride. Mit einer Verordnung der OÖ. Landesregierung im Jahr 2005 wurde das Gebiet gemäß FFH-Richtlinie als sogenanntes Europaschutzgebiet in nationales Recht übergeführt. In der Steiermark wurde 1991 das Naturschutzgebiet Steirisches Dachsteinplateau (NSG-18a) mit 73,67 km² verordnet. Es umfasst das Koppengebirge und das Hochplateau Am Stein und erstreckt sich bis zur Landesgrenze im Westen. Das gleichnamige Europaschutzgebiet Steirisches Dachsteinplateau (AT2204000) umfasst eine Fläche von 74,55 km². Es wurde mit Verordnung der Steiermärkischen Landesregierung vom 19. April 2006 in nationales Recht überführt. Das Naturschutzgebiet Nordwestlicher Teil der Gemeinde Ramsau am Dachstein (NSG-c 2) ist 12,875 km² groß. Das Naturdenkmal Dachsteinsüdabsturz und Edelgrießgletscher (NDM Nr. 784) bildet die Nordhälfte dieses Schutzgebietes. Mit dem Großen und Kleinen Löckenmoos am Löckenmoosberg in Gosau existieren zwei Deckenmoore im Gebiet. Dieser Moortyp ist vor allem im atlantischen Europa verbreitet und benötigt gleichmäßige kühle Lufttemperaturen und hohe Niederschläge zur Ausbildung. Deckenmoore sind in Österreich sehr selten und es gibt nur fünf; drei davon in den Rätischen Alpen und zwei im Dachsteingebirge. Dementsprechend wird den beiden Mooren vom Österreichischen Moorschutzkatalog internationale Bedeutung beigemessen. Grundlage für den intensiven Schutz des Dachsteingebirges ist die hohe Zahl an seltenen und vielfach gefährdeten Tier- und Pflanzenarten. Besonders die hochalpinen Lebensräume reagieren sensibel auf Störungen und weisen ausgesprochen lange Regenerationszeiten auf, weswegen ihrem Schutz hohe naturschutzfachliche Priorität zukommt. Touristische Erschließung Wandern und Bergsteigen Einer der ersten Erschließer war Erzherzog Johann, der als Jäger und begeisterter Bergsteiger bereits 1810 das östliche Dachsteingebirge überschritt. Den Hauptkamm überquerte er über die Feisterscharte im Bereich des heutigen Guttenberghauses. Zwei Jahre später unternahm Erzherzog Karl einen Versuch, den Gipfel des Hohen Dachsteins zu erreichen, musste aber am Hallstätter Gletscher umkehren. 1819 wurde der Torstein im Auftrag von Erzherzog Johann durch Jakob Buchsteiner bestiegen. Um 1832 bestieg Peter Gappmayr im Alleingang über den Gosaugletscher den Hohen Dachstein. 1834 bestieg Peter Karl Thurwieser mit den Brüdern Gappmayer als Bergführer den Gipfel des Hohen Dachsteins erstmals touristisch. Der berühmte Dachsteinforscher Friedrich Simony kam im Jahr 1840 zum ersten Mal nach Hallstatt. Am 8. September 1842 überquerten er und der Bergführer Johann Wallner den Dachsteingipfel von Ost nach West. Simony gilt als Pionier der Erschließung des Gebiets und förderte den Bau von Wegen und Unterkünften. Im Jahr 1843 errichtete er im Wildkar, unterhalb der heutigen Simonyhütte, erstmals eine Rast- und Notunterkunft, die Hotel Simony genannt wurde. 1862 beteiligte sich Simony an der Gründung der Wiener Sektion Austria. Er gehörte jenem Komitee an, das die Statuten ausarbeitete, einreichte und den Aufruf zum Beitritt unterzeichnete. 1877 erfolgte die Eröffnung der Simonyhütte der Sektion Austria am Fuße des Hallstätter Gletschers. 1880 wurde auf der Südseite die Austriahütte eröffnet. Am Gosaukamm errichtete 1902 die Sektion Linz die Hofpürglhütte. 1908 wurde die Adamekhütte eröffnet, die ebenfalls im Besitz der Sektion Austria ist. Mit dem Bau der Dachsteinwartehütte, der heutigen Seethalerhütte, und des Wiesberghauses war die Erschließung des Gebietes 1929 weitgehend abgeschlossen. Das markierte und beschilderte Wegenetz im Dachsteingebirge wird vom Österreichischen Alpenverein gewartet. Der Weg 601 durchquert das Zentrale Massiv und den Gosaukamm und hat in der Steinerscharte seinen höchsten Punkt. Er ist Teil des Österreichischen Weitwanderwegs 01 (Nordalpenweg), des Europäischen Fernwanderwegs E4. Wegverlauf: Hallstatt – Simonyhütte – Steinerscharte – Adamekhütte – Hofpürglhütte – Gablonzer Hütte – Gosau. Der violette Weg der Via Alpina ist streckenweise identisch mit dem Weg 601. Die Etappe A33 verläuft von Gosau zur Theodor-Körner-Hütte über die Gablonzer Hütte. Die Etappe A34 verläuft von der Theodor-Körner-Hütte nach Lungötz über die Hofpürglhütte. Im Dachsteingebirge befinden sich viele Schutzhütten, die mehrheitlich vom Österreichischen Alpenverein betrieben werden. Überdies bieten Hütten der Naturfreunde und auch private Unterkünfte Übernachtungsmöglichkeiten für Wanderer. Schutzhütten des Dachsteingebirges (Auswahl): Klettern Die klettertechnische Erschließung setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Besonders in den großen Wänden der Dachsteinsüdwand und am Gosaukamm gelangen erste Durchstiege. Die beiden Brüder Georg (Irg) und Franz Steiner war die Ersten, die 1909 die Dachsteinsüdwand durchstiegen. Paul Preuß gelangen etliche Erstbegehungen am Gosaukamm. 1913 verunglückte er tödlich beim Versuch, die Nordkante des Mandlkogels zu durchsteigen. Heute gibt es, vor allem in den Klettergärten und Sportklettergebieten, viele Routen in sämtlichen Schwierigkeitsgraden. Bekannte Kletterrouten sind: Steinerweg (Hoher Dachstein, klassische Route, IV+) Pichlweg (Hoher Dachstein, klassische Route, IV) Koppenkarstein-Südwand (klassische Route, IV) Im Dachsteingebirge befinden sich mehrere Klettersteige. Bekannte Steige sind: Der Johann (Dachsteinwarte, D/E) Ramsauer Klettersteig (Scheichenspitze, C) Irg (Koppenkarstein, D) Seewand Klettersteig (Hallstatt/Obertraun, D/E) Als Besonderheit kann der Dachstein mit einem Fußgängertunnel aufwarten, der die Bergstation der Dachsteinsüdwandbahn mit dem Einstieg zum Ramsauer Klettersteig und mit der Skitourenabfahrt durch das Edelgrieß verbindet. Wintersport Im Dachsteingebirge befinden sich drei Skigebiete. Das größte Skigebiet Dachstein-West erstreckt sich zwischen den Orten Gosau, Rußbach und Annaberg. Dort stehen 70 Liftanlagen mit 160 km Piste zur Verfügung. Das Skigebiet Freesports Arena Dachstein Krippenstein ist von Obertraun aus erreichbar. Dort befinden sich 7 Liftanlagen mit 13 km Pisten. Das Skigebiet Dachsteingletscher wurde 2022 eingestellt (vormals 5 Liftanlagen mit 4 Pistenkilometern). Der Skibetrieb im Skigebiet Stoderzinken wurde 2018 eingestellt (vormals 4  Liftanlagen 8 Pistenkilometern). In Ramsau am Dachstein befindet sich ein Zentrum für den Skilanglauf. Es gibt über 200 km Loipen, die sich teilweise auch auf die benachbarten Salzburger Schieferalpen erstrecken, sowie die Höhenloipe im Gletschergebiet. Das Gebirge ist auch für Schneeschuh- und Skitouren geeignet. Wintermarkierungen verlaufen sowohl von der Gjaidalm zur Bergstation der Dachsteinsüdwandbahn als auch über die Simonyhütte zum Hohen Dachstein. Die Skiflugschanze am Kulmkogel gehört zu den größten Skiflugschanzen der Welt. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet und war die erste derartige Schanze der Welt. Dort werden Weiten bis zu 244 m gesprungen. Wirtschaft Landwirtschaft Die Landwirtschaft ist im Dachsteingebirge bis auf wenige Ausnahmen auf die Weidenutzung der Almen beschränkt. Meistens werden auf Almen keine Milchkühe mehr gehalten, sondern ausschließlich Galtvieh. Auf den höheren Plateaulagen des Dachsteins ist der Almbetrieb bereits mit der Klimaverschlechterung des 17. Jahrhunderts zum Erliegen gekommen. Am Dachstein ist der Hallstätter Gletscher ehemals bis in den Bereich der höchstgelegenen Almen vorgedrungen und beendete dort den Almbetrieb, wie etwa im Taubenkar und auf der Ochsenwies. 1805 trieben die Schladminger Bauern noch 363 Rinder und 1416 Stück Kleinvieh auf die Hochfläche Am Stein. Im 19. Jahrhundert ging die Almwirtschaft aufgrund einer weiteren Klimaverschlechterung erneut stark zurück. Flurnamen wie Krippensteinalm und Schönbergalm deuten auf die seinerzeit größere Verbreitung hin, und zahlreiche Grundmauern verfallener Hütten erinnern daran. Heute sind nur noch am Rande des Plateaus, zumeist in großen Karsthohlformen mit kleineren Vernässungen, Almflächen wie die Gjaidalm oder die Ochsenwiesalm bewirtschaftet. Zum Teil wird versucht, durch Almrevitalisierungen ehemalige Almflächen wieder nutzbar zu machen. Die meisten noch bewirtschafteten Almen im oberösterreichischen Dachsteingebiet sind im hügeligen Westteil rund um den Schwarzkogel im Gemeindegebiet von Gosau in einer Seehöhe zwischen 1000 und 1500 m anzutreffen. Forstwirtschaft Die Wälder des Dachsteingebirges sind durch jahrhundertelange intensive Bewirtschaftung geprägt. Treibende Kraft war lange Zeit die Salzgewinnung in Hallstatt. Für die Sudpfannen der Saline wurden im 16. Jahrhundert pro Jahr rund 42.700 Raummeter Holz benötigt. Um bei diesem großen Bedarf die Wälder vor Raubbau zu schützen, wurde bereits 1523 die sogenannte Auseer Hallamtsordnung niedergeschrieben. Es wurden strenge Vorschriften für die Entnahme (Menge, Art und Standort) von Holz festgelegt. Insbesondere der Gewinnung von Fichten- und Tannenholz kam hohe Priorität zu, da nur dieses das notwendige großflammige und nicht zu heiße Feuer erzeugen konnte. Die Flammen des Buchenholzes waren dafür zu heiß und konnten den Pfannenboden beschädigen. Lärchen wurden für die Röhren der Soleleitungen benötigt. Konsequenterweise wurde über Jahrhunderte in den montanen Bergmischwäldern die Rotbuche verdrängt, die Nadelhölzer wurden gefördert. Die gesamte Holzwirtschaft des Gebietes wurde auf die Brennholzerzeugung für das Sudhaus ausgerichtet. Viele Täler wurden für den Holztransport erschlossen; ein ausgeklügeltes System von Klausen wurde angelegt. Die Seeklause in Steeg am Hallstätter See wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts errichtet und existiert noch heute. Das Gosautal mit seinen immensen Holzvorräten lieferte im 16. Jahrhundert rund 96 % des benötigten Brennholzes der Hallstätter Saline. Auch Wälder jenseits der oberösterreichischen Landesgrenze wurden bewirtschaftet. Der Forstbezirk Rußbach war bis zur Neustrukturierung der Bundesforste in den 1990er Jahren Teil der Forstverwaltung Gosau. Wegen Holzmangels im Oberen Salzkammergut wurde 1595 bis 1607 im Auftrag von Kaiser Rudolf II. eine Soleleitung vom Hallstätter Salzberg über die alte Saline in Bad Ischl zur neuen Saline Ebensee (Bau ab 1604) verlegt und die Hallstätter Saline verlor an Bedeutung. 1877 ermöglichte die Inbetriebnahme der Salzkammergutbahn den Transport billiger Braunkohle aus den Revieren am Hausruck, was zur Einstellung der auf Brennholz ausgerichteten Forstwirtschaft führte. Heutzutage ist der Großteil der Dachsteingebirges im Besitz der Österreichischen Bundesforste. Der Betrieb Inneres Salzkammergut verwaltet fast das gesamte Dachsteingebirge. Im Westen befindet sich das Revier Annaberg des Betriebs Flachgau-Tennengau, im Südwesten das Revier Filzmoos, das zum Betrieb Pongau gehört. Tourismus Winter- und Sommertourismus sind wichtige Wertschöpfungsquellen für die Wirtschaft in der Region, wobei der Sommertourismus der deutlich wichtigere Wirtschaftsfaktor ist. Der Tourismusverband Inneres Salzkammergut umfasst die Gemeinden Gosau, Bad Goisern am Hallstättersee, Hallstatt und Obertraun. Im Tourismusjahr 2019 verzeichnete der Tourismusverband rund 1,05 Millionen Nächtigungen und damit mehr als die Landeshauptstadt Linz mit rund 1,03 Millionen Nächtigungen. Hiervon entfielen 62 % auf das Sommerhalbjahr (Mai bis Oktober). Gosau verzeichnete im Tourismusjahr 2019 rund 399.000, die Gemeinde Obertraun 247.000 und Hallstatt 143.000 Nächtigungen. Der Anteil der ausländischen Gäste beträgt in der Regel 50 % bis 70 %. Eine besondere touristische Attraktion ist die Dachstein-Rieseneishöhle, die jährlich über 150.000 Besucher verzeichnet. Die Region wies in den Jahren 2009 bis 2019 insgesamt etwa gleich bleibende bis leicht steigende Nächtigungszahlen auf. Sehr schneereiche Winter wie etwa 2005/2006 schlugen sich in den Wintersportgebieten wie Gosau positiv zu Buche. Im Vergleich zu den touristisch intensiven Jahren 1994 bis 1999 sind die Gästezahlen der Tourismusregionen entlang der Kalkalpen allerdings deutlich zurückgegangen. Mit der Errichtung der Aussichtsplattform Dachstein Skywalk am Hunerkogel und der 5 Fingers am Krippenstein wurde die touristische Erschließung der hochalpinen Region weiter intensiviert. 2007 wurden nahe der Bergstation der Südwandbahn Gänge und Kammern unter den Gletscher geschlagen und den Besuchern mit der Bezeichnung Eispalast zugänglich gemacht. In den Kammern werden Eiskunstwerke präsentiert. Bergbau Im Salzberg bei Hallstatt befindet sich das Salzbergwerk Hallstatt. Es ist, neben dem Salzbergwerk Altaussee und dem Sondenfeld Bad Ischl, die dritte Salzgewinnungsstätte Österreichs und wird von der Salinen Austria AG betrieben. Jährlich werden etwa 840.000 m³ Sole gewonnen, die über die Soleleitung Hallstatt – Bad Ischl – Ebensee zur Saline nach Ebensee geleitet werden. Energiewirtschaft Bedingt durch die geringe Anzahl an Oberflächengewässern und die niedrigen Höhen der Wasserquellen spielt die Stromerzeugung und -speicherung durch Wasserkraftwerke und Stauseen im Dachsteingebirge eine untergeordnete Rolle verglichen mit ähnlichen hohen Gebirgsgruppen in den Zentralen Ostalpen. Dennoch befinden sich dort an den größten Flüssen einige bedeutendere Anlagen. Die größte von ihnen ist die Kraftwerksgruppe Gosau der Energie AG am Gosaubach mit einem Regelarbeitsvermögen von 61 GWh/Jahr. Der Kraftwerksgruppe sowie den nachfolgenden Laufwasserkraftwerken an der Traun steht dabei der Vordere Gosausee (23 Mio. m³) als Jahresspeicher zur Verfügung. Ebenfalls als Jahresspeicher dient Salza-Stausee (11 Mio. m³) der Verbund AG am Salzabach, er wird von dem Speicherkraftwerk Salza (27 GWh/Jahr) und den nachfolgende Kraftwerken an der Enns genutzt. Wasserfassungen größerer Umleitungskraftwerke befinden sich am Waldbach (Kraftwerk Hallstatt, 22 GWh/Jahr) sowie am Zusammenfluss von Kalter und Warmer Mandling (Kraftwerk Mandling, 21 GWh/Jahr). Trinkwassernutzung Das Dachsteingebirge zählt zu den größten und wasserreichsten Karstmassiven Österreichs. Die umliegenden Gemeinden beziehen ihr Trinkwasser zum Teil oder zur Gänze aus den offenen und verdeckten Karstquellen oder aus den karstwassergespeisten Grundwasserkörpern der angrenzenden Talungen. Zum Schutz und zur Erhaltung dieser bedeutenden Wasservorkommen wurde in Oberösterreich ein Teil des Dachsteimassivs 2014 als Wasserschongebiet ausgewiesen. Hüttensiedlungen wie zum Beispiel auf dem Krippenstein sind über lange Abwasserleitungen ans Kanalsystem der jeweiligen Gemeinde angeschlossen. Siedlungen Die Hochlagen des Dachsteingebirge liegen großteils außerhalb des Dauersiedlungsraumes, die Besiedlung beschränkt sich daher auf wenige isolierte Berghöfe, Almen und Berghütten. In den Wintersportgebieten bilden Hütten, Hotels und andere Bauten eine Art moderne Streusiedlung im Hochgebirge. Am Oberfeld befand sich mit 5.237 ha der zweitgrößte Truppenübungsplatz des Bundesheeres. Der Truppenübungsplatz wurde von 1930 bis 2009 militärisch genutzt. 2013 wurde das Haus Oberfeld geschlossen. Namenskunde Der Name „Dachstein“ ist eine direkte Wiedergabe der Aussprache, als deren Grundlage Dorstein zu erschließen ist, wobei doren eine Form von „donnern“ ist und r vor einem Konsonanten dialektal zu ch wird. Der gleiche Lautvorgang befindet sich auch beim Sarstein, der zwar noch mit r geschrieben, aber dialektal Sochtoan gesprochen wird und sich von mittelhochdeutschen schor(re) „schroffer Felsen“ herleitet. Der Name des Dachsteins nimmt also Bezug auf die um den Berggipfel sich sammelnden sommerlichen Hitzegewitter und hat nichts mit dem germanischen Donnergott Thor zu tun. Baiern, die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in den Bereich kamen, waren bereits Christen. Volksetymologisch ist auch die Interpretation als Dach, wobei es sich um den höchsten Berg im Umkreis als „Dach der Welt“ handelt. Auf das Aussehen der Kalksteinwände bezieht sich der Krippenstein (von mittelhochdeutsch Gerippe) mit den im Umkreis gelegenen Örtlichkeiten Krippenau, Krippenbrunn und Krippeneck. Die Interpretation als Krippe ist ebenfalls volksetymologisch. Landfriedstein, das Landfriedtal, die Obertrauner und die Ausseer Landfriedalm beziehen sich auf die alte Grenze zwischen dem Herzogtum Steiermark und dem kaiserlichen Salzkammergut. Heute verläuft entlang dieser Örtlichkeiten die Grenze zwischen den Bundesländern Steiermark und Oberösterreich. Geschichte Siedlungsgeschichte Die Geschichte des Dachsteingebirges und des Inneren Salzkammerguts ist geprägt vom prähistorischen Salzbergbau in Hallstatt. Die erste Anwesenheit des Menschen ist durch einen Hirschgeweihpickel aus dem Salzberg-Hochtal, dessen Entstehung mittels der Radiokarbonmethode auf 5000 v. Chr. bestimmt wurde, belegt. Der erste Salzabbau im Hallstätter Salzberg lässt sich in der Bronzezeit um 1500 v. Chr. nachweisen. Am Dachsteingebirge wurde seit der Bronzezeit ebenfalls Almwirtschaft betrieben. Hüttenreste auf hochalpinen Weideplätzen bezeugen eine prähistorische Almwirtschaft von 1700 bis 1100 v. Chr. Die ältesten Siedlungsreste konnten mittels der Radiokarbonmethode auf 1685 v. Chr. datiert werden. Die Blütezeit dieser Almwirtschaft lag zwischen 1440 und 1260 v. Chr., was mit jener des bronzezeitlichen Salzbergbaues in Hallstatt zusammenfällt und auf einen Zusammenhang schließen lässt. Aus einem Gräberfeld im Salzberg-Hochtal stammen einzigartige Funde aus der älteren Eisenzeit, die namensgebend für die Hallstattzeit sind. Aufgrund des hohen wissenschaftlichen Wertes und der einzigartigen Schönheit wurde das Dachsteingebirge zusammen mit dem Inneren Salzkammergut im Dezember 1997 als Nr. 806 Kulturlandschaft Hallstatt–Dachstein/Salzkammergut in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Heilbronner Dachsteinunglück Das Heilbronner Dachsteinunglück war ein Ereignis im Jahr 1954, bei dem zehn Schüler und drei Lehrer aus Heilbronn in einem Schneesturm am Dachsteingebirge ums Leben kamen. Am Gründonnerstag, dem 15. April 1954, starteten zehn Schüler und drei Lehrer der Knabenmittelschule Heilbronn bei ungünstiger Wetterlage zu einer Tageswanderung rund um den Krippenstein. Nachdem die Gruppe am Abend nicht in ihre Unterkunft zurückgekehrt war, wurde noch in der Nacht eine Suchaktion gestartet. Erst am Osterdienstag fand man erste Spuren der Gruppe, am darauf folgenden Wochenende die ersten Toten und nach rund eineinhalb Monaten die letzten. Die Suchaktion war eine der größten der alpinen Geschichte mit über 400 Bergrettern, Alpin-Gendarmen und freiwilligen Helfern. Das Heilbronner Kreuz und die Krippensteinkapelle im Dachsteingebirge sowie ein Gedenkstein auf dem Heilbronner Hauptfriedhof erinnern an dieses Unglück. Das Dachsteingebirge in Kunst und Literatur Aufgrund der Klimaverschlechterung im 17. Jahrhundert und dem damit verbundenen Gletschervorstoß musste die Almwirtschaft in den höheren Lagen aufgegeben werden. Dieser Umstand findet sich in der Sage Die Rache des Dachsteinkönigs wieder. In der Sage wird von einst blühenden Almen erzählt, die wegen Geiz, aber auch Verschwendungssucht der Sennerinnen unter dem Dachsteingletscher verschwunden sind. In der Biedermeierzeit kamen Landschaftsmaler in das Salzkammergut und an den Dachstein. Ferdinand Georg Waldmüller, Jakob Alt, Rudolf von Alt, Franz Steinfeld und Friedrich Gauermann schufen Werke, die das Dachsteingebirge und dessen Umgebung zeigen. Vor allem Ansichten des Echerntals und des Vorderen Gosausees mit dem Gosaugletscher waren beliebte Motive. Im Sommer 1845 unternahm Adalbert Stifter einen Ausflug nach Hallstatt um seinen Freund Friedrich Simony zu besuchen. Seinen Ausflug ins Echerntal und Simonys Aquarell einer Eishöhle im Hallstätter Gletscher verarbeitete er in seinem Werk Bergkristall. Karten Alpenvereinskarte Blatt 14 (Dachsteingebirge), 1:25.000; Österreichischer Alpenverein 2012; ISBN 978-3-928777-27-8. Literatur Gerhard W. Mandl, Dirk van Husen, Harald Lobitzer: Erläuterungen zu Blatt 96 Bad Ischl. Geologische Bundesanstalt, Wien 2012 (geologie.ac.at [PDF]). Roman Moser: Dachsteingletscher und deren Spuren im Vorfeld. Musealverein Hallstatt (Hrsg.). Hallstatt 1997, . Friedrich Simony: Das Dachsteingebiet. E. Hölzl, Wien 1895, . Weblinks Einzelnachweise Gebirge in Europa Gebirge in Oberösterreich Gebirge in der Steiermark Gebirge im Land Salzburg Hochgebirge Kulturlandschaft Hallstatt–Dachstein/Salzkammergut Orographie des Einzugsgebiets Traun (Donau) Orographie des Einzugsgebiets Enns Gebirge in den Alpen Karstformation in Österreich
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Lopodunum
Lopodunum war eine römische Stadt, aus der das heutige Ladenburg (Rhein-Neckar-Kreis, Baden-Württemberg) hervorgegangen ist. Aus der frühesten Besetzungszeit im letzten Viertel des 1. Jahrhunderts n. Chr. sind zwei Kastelle bekannt, nach deren Aufgabe eine planmäßige Stadtgründung erfolgte. Der Beiname der zugehörigen Verwaltungskörperschaft (Civitas Ulpia Sueborum Nicrensium) legt nahe, dass dies zur Regierungszeit Kaiser Trajans (98–117 n. Chr.) stattfand, dessen ursprünglicher Name Marcus Ulpius Traianus lautete. Lopodunum war der Vorort der hier ansässigen Neckarsueben. Zeugnis dieser Vorortfunktion in römischer Zeit geben die Reste eines Forums sowie einer monumentalen Basilika. Das antike Ladenburg war einer der bedeutendsten Orte im Hinterland des Obergermanischen Limes bis zu dessen Aufgabe nach der Mitte des 3. Jahrhunderts. In der Spätantike, als der Rhein wieder die Reichsgrenze bildete, wurde von den Römern erneut eine militärische Anlage in Form eines Ländeburgus im Stadtgebiet angelegt. Geschichte Vorgeschichte Das Gebiet am Unterlauf und im Schwemmkegel des Neckar wies schon vor dem Vordringen der Römer an den Rhein eine weitgehende Besiedlung auf. Namensgebend für die römische Gründung ist das keltische Toponym Lokudunum (zu deutsch „Seeburg“). Das lateinische Lopo- stellt eine lautliche Assimilierung, beziehungsweise eine Vermischung aus lateinisch lupus (Wolf) mit dem thematischen keltischen loku dar. Neben Fundstellen in der Ebene zeugen davon besonders die Ringwallanlagen auf dem nahe gelegenen Heiligenberg. Das Fehlen von Fundmaterial seit der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. ist möglicherweise eine Folge des Gallischen Kriegs und für das rechtsrheinische Südwestdeutschland typisch („Helvetier-Einöde“). Nahe dem Rhein zwischen Neckar und Main sind einige Gräberfelder bekannt, die nach längerer wissenschaftlicher Diskussion heute als germanisch angesehen werden. Bereits Kaiser Tiberius ließ hier Jahrzehnte vor den rechtsrheinischen Eroberungen (Chattenkriege Kaiser Domitians) Sueben im Vorfeld der Reichsgrenze am Rhein ansiedeln. Im Ladenburger Stadtgebiet liegen Siedlungsfunde in den Fluren Lustgarten, Weihergärten und Ziegelscheuer vor, ferner Bestattungsplätze im Bereich der Kiesgrube Rechts des Wallstädter Wegs und am Erbsenweg (mit zugehöriger Siedlung). Im Verlauf des 1. Jahrhunderts n. Chr. begannen die Römer, die Verkehrswege am Rhein auszubauen. Bereits vor der Einrichtung des Limes wurde die rechtsrheinische Route der römischen Rheintalstraße ausgebaut. Als kürzeste Verbindung zwischen den bedeutenden Legionsstandorten an Rhenus (Rhein) und Danuvius (Donau) führte sie von Mogontiacum (Mainz) über Groß-Gerau–Gernsheim–Ladenburg nach Süden, wo sie bei Offenburg gegenüber von Argentoratum (Straßburg) die von Gnaeus Pinarius Cornelius Clemens angelegte „Kinzigtalstraße“ erreichte. Militärstandort im späten ersten Jahrhundert n. Chr. In den 70er Jahren des ersten Jahrhunderts legten die Römer im Gebiet der heutigen Ladenburger Altstadt, die sehr zentral innerhalb der Neckarebene liegt, nacheinander zwei Kastelle an. Das Lagerdorf (vicus) von Kastell I überlagert Kastell II, so dass Kastell II älter sein muss. Der bereits nach wenigen Jahren erfolgte Neubau könnte auf einen Wechsel der hier stationierten Truppe hindeuten. Beide Kastelle befanden sich auf dem vor Hochwasser geschützten Hochufer des Nicer (Neckar). Wie in vielen rückwärtigen Kastellen war hier mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Reitereinheit (ala) stationiert. Darauf deuten die Größe von Kastell I, dazugehörige Pferdeställe, charakteristische Fundstücke von Pferdegeschirr sowie der Weihestein eines decurio der Ala I Cannanefatium hin, der 1906 verbaut in der mittelalterlichen Stadtmauer gefunden wurde. Ein Ausbau des ursprünglich mit einer Rasensodenmauer errichteten Kastell I in Stein erfolgte in domitianischer Zeit um 90 n. Chr. Die Ala I Cannanefatium ist zwischen 74 und 90 n. Chr. durch Militärdiplome als Teil des obergermanischen Heeres bezeugt. Erstmals im Jahr 116 erscheint sie in Pannonien, wohin sie von Trajan zu den Dakerkriegen abkommandiert wurde. Ebenfalls in die Zeit Kaiser Trajans fällt die Aufgabe des Kastells, wobei die Mauern abgebrochen und die Spitzgräben verfüllt wurden. Die Schuttschichten enthielten Keramik aus trajanischer Zeit. Die Aufgabe des rückwärtigen Militärstandortes geht einher mit parallelen Entwicklungen im gesamten Hinterland des Limes. Unter Trajan wurden rückwärtige Garnisonen wie in Nida-Heddernheim, Wiesbaden und Groß-Gerau aufgelöst und die Einheiten an den Limes verlegt. Die Stadt in der hohen Kaiserzeit Der markante Einschnitt in die Infrastruktur der Siedlung mit der um 106 erfolgten Stadtgründung wird dadurch deutlich, dass nun in der Retentura des aufgegebenen Kastells ein städtisches Forum mit monumentaler Basilika entstand. Die Gesamtanlage findet mit einer Größe von 130 × 84 m keine Entsprechung in den größeren städtischen Siedlungen rechts des Rheins. Vermutet wird daher die Planung einer weitergehenden Funktion Ladenburgs (colonia oder municipium?), die aus unbekannten Gründen nicht zu Ende geführt wurde. Verschiedene Indizien wie das Fehlen von Funden, besonders Fußbodenteilen, aus den Bodenschichten der Basilika sprechen dafür, dass sie nicht fertiggestellt wurde. Das Forum war aber voll funktionsfähig, worauf Funde von Ziegelplattenböden und anderer Architekturteile in den Ladenlokalen hindeuten. Ungefähr um diese Zeit wurde auch ein Theater errichtet. Lopodunum erfüllte damit im 2. und 3. Jahrhundert die Funktion eines Zentralortes im unteren Neckargebiet, dem Kraichgau und der Bergstraße. Die nächsten Siedlungen dieser Art befanden sich nördlich in Dieburg (Civitas Auderiensium), östlich in Bad Wimpfen (Civitas Alisinensium) und südlich in Pforzheim. Nach Westen hin bildete der Rhein die Grenze zu den Civitates der Nemeter – mit dem Hauptort Noviomagus (Speyer) – und der Vangionen – mit dem Hauptort Borbetomagus (Worms). Die Stadt erlebte ihre Blütezeit im 2. und frühen 3. Jahrhundert. In ihrem Umland entstanden bedeutende Landgüter (villae rusticae), von denen gut ergrabene Beispiele in Hirschberg-Großsachsen und in Ladenburg selbst („Ziegelscheuer“) vorliegen. Grundlage der wirtschaftlichen Blüte dürfte die Präsenz der zahlungskräftigen römischen Grenztruppen gewesen sein. Die städtischen Privathäuser bestanden bis um die Mitte des 2. Jahrhunderts vorwiegend aus Fachwerk. Die aus dem Kastellvicus hervorgegangenen Teile der Siedlung an der Fernstraße nördlich und südlich des Kastells wiesen eine Bebauung in Form von bis zu 30 m langen Streifenhäusern auf. Erst ab der Mitte des 2. Jahrhunderts wurden Steingebäude mit durchschnittlichen Größen bis zu 2000 m² üblich, wobei gelegentlich mehrere Grundstücke zusammengelegt wurden. Ende der Stadt und Spätantike Das Ende der Stadt kam um die Mitte des 3. Jahrhunderts mit dem sogenannten Limesfall. Bereits im frühen 3. Jahrhundert wurde eine Stadtmauer errichtet, die im Norden der Siedlung aus bisher ungeklärten Gründen nicht nachweisbar ist. Nachgewiesen ist sie auf der Länge von 1,2 km, ihre Länge kann zu 2,7 km ergänzt werden. Qualitätvolle Architekturteile, die in ihrem Fundament verbaut wurden, legen nahe, dass zu dieser Zeit einige wichtige Repräsentationsgebäude nicht mehr bestanden. Mehrere Brandhorizonte in der Stadt datieren bereits in das erste Drittel des 3. Jahrhunderts und könnten mit den germanischen Einfällen von 212 oder 233 zusammenhängen. Als die kaiserlichen Truppen 260 abgezogen wurden, scheint die verbliebene römische Zivilbevölkerung ihnen gefolgt zu sein. Jedenfalls ließen sich bald darauf germanische Siedler im Stadtgebiet nieder. Alamannische Bodenfunde liegen aus der Südstadt bereits für die Zeit kurz nach 260 vor. Nachdem der Rhein wieder die Reichsgrenze bildete, blieb das Stadtgebiet aufgrund seiner strategischen Lage weiterhin im Einflussbereich der Römer. Neben einem kurzfristig belegten Kastell des 4. Jahrhunderts wird dies vor allem durch die Reste eines burgus bezeugt, der unter dem heutigen neuen Rathaus entdeckt werden konnte. Er entstand zusammen mit weiteren Befestigungsanlagen der Region unter Kaiser Valentinian I. um 370. Die Befestigung lehnte sich als Schiffslände direkt an das Neckarhochufer an; sie diente offenbar der Vorfeldüberwachung und war nur vom Fluss aus erreichbar, da sie kein Tor zur Landseite besaß. Bald nach 400 wurde der burgus aufgegeben, worauf im 5. Jahrhundert wieder Germanen im Stadtgebiet siedelten. Römische Bauten Kastelle Das ältere Kastell II wurde 1962 entdeckt. Teile der östlichen Umwehrung konnten auf 34 m Länge nachgewiesen werden. Sie bestand aus einem fünf Meter breiten und zwei Meter tiefen Spitzgraben sowie einer drei Meter breiten Rasensodenmauer. Vier massive Pfosten weisen auf einen hölzernen Turm hin. Lagerbefunde aus dem westlich liegenden Kastellbereich konnten wie die Innenbebauung nicht nachgewiesen werden, möglicherweise wurden sie vom Neckar abgeschwemmt. Das nach Südosten versetzte Kastell I wird das ältere Kastell nach wenigen Jahren abgelöst haben. Es besaß zunächst ebenfalls eine Rasensodenmauer mit einer Breite von 4,2 m sowie mehreren Zwischentürmen. Davor lagen zwei Spitzgräben mit einer Breite von sieben Metern und einer Tiefe zwischen drei und 3,6 m. Ausgerichtet war es mit der porta praetoria auf den westlich vorbeifließenden Neckar. Die Größe lässt sich mit 238 × 164 m rekonstruieren, was einer Fläche von knapp vier Hektar entspricht. Um 90 n. Chr. wurde die Rasensodenmauer durch eine 2,2 m breite Steinmauer ersetzt. Teilweise war sie noch bis zu 1,8 m hoch erhalten, die ursprüngliche Höhe dürfte bei 5,5 m gelegen haben. Teile des Haupttores sind in einem archäologischen Fenster an der Sebastianskapelle freigelegt. Dort ist die neun Meter breite doppelte Tordurchfahrt mit zwei Tortürmen zu sehen. Durch das Kastell verlief als via principalis die römische Fernstraße in Nord-Süd-Richtung. Das am Kreuzungspunkt der Straßen befindliche Stabsgebäude (principia) ist in mehreren Bauphasen nachgewiesen; zunächst handelte es sich um einen Fachwerkbau mit einer Größe von 34 × 36 m. Auch das nördlich anschließende Wohnhaus des Kommandanten bestand zunächst aus Fachwerk und weist ebenfalls mehrere Bauphasen auf. Bemerkenswert ist der gefundene Wandverputz eines über fünf Meter hohen, saalartigen Innenraumes. Er kann in einer Ausstellung zusammen mit den jüngeren Bauresten des Südforums am Fundort in der Metzgergasse besichtigt werden. Zivilsiedlung Die Bebauung der Zivilsiedlung reicht nicht mehr ähnlich weit nach Norden wie die zuvor dort befindliche Lagersiedlung. Vielleicht bestand südlich des Kastells eine zivile Siedlung neckarsuebischer Prägung, worauf vereinzelte Funde hindeuten. Generell ist nördlich des Kastells beziehungsweise von Forum und Basilika mit erheblichen Abschwemmungen durch den Neckar zu rechnen, weshalb vermutlich der Nachweis der Stadtmauer und eines Gräberfeldes an der nördlichen Ausfallstraße bisher nicht gelang. Die Stadtgröße ist mit 40 ha anzugeben. Das Stadtbild wurde dominiert durch das im Kastellbereich errichtete Forum und die Basilika. Eine großzügige Anlage südlich davon an der Straße nach Heidelberg wird als macellum oder zweites Forum gedeutet, ursprünglich hielt man es für eine mansio. Hier wurde 1973 ein Bronzeschatz gefunden, der aus 51 Bronzeobjekten bestand. Der Hort war vermutlich in der Zeit des Limesfalls niedergelegt worden. Die Stücke sind als Beschlagteile eines zweiflügeligen Prunkportals mit einer Höhe von vier Metern und einer Breite von über zwei Metern identifiziert worden. Westlich im Bereich des heutigen Carl-Benz-Gymnasiums und der Lobdengau-Halle befand sich ein mindestens 75 m langer Baukörper. Große beheizbare Räume, ein Badetrakt, symmetrischer Grundriss und apsidial gestaltete Gebäudeecken deuten auf einen Repräsentationsbau einer hochgestellten Persönlichkeit hin. Ursprünglich wurde darin ein Bad vermutet. Er ähnelt einem Gebäude in Heidenheim an der Brenz. Ein größerer Speicherbau (horreum) im Südwesten der Stadt gehörte vermutlich zu einem Flusshafen, wie er auch in Nida-Heddernheim nachgewiesen wurde. Vor dem rechten Seitentor (porta principalis dextra) des Kastells wird ein beheizbares Steingebäude mit zahlreichen Ziegelfunden als Kastellbad interpretiert. Wahrscheinlich wurden die Kastellthermen von der Zivilstadt zunächst weitergenutzt. Nördlich des Palastgebäudes wird ein weiteres Gebäude mit einer Größe von mindestens 45 × 25 m als Bad gedeutet. Lopodunum müsste von seiner Größe und Bedeutung auch über mehrere Tempel oder Heiligtümer verfügt haben, die aber nur vermutet werden können (siehe unten). Zwei Gebäude im Süden werden als Mithräum angesprochen. In einem der Gebäude fand sich ein Mithras-Sol-Relief mit einer Kultmahlszene. Im Umfeld der Stadt befanden sich Gewerbebetriebe und die Gräberfelder. Nordöstlich der Stadtmauer konnte ein großer Kalkbrennofen freigelegt werden. An der nördlichen und südlichen Ausfallstraße werden die Gräberfelder vermutet, von denen in Ladenburg aber außerordentlich wenig bekannt ist. Forum Das Forum erstreckte sich zwischen der heutigen Neugasse und der St. Gallus-Kirche im hinteren Kastellbereich (retentura). Mit einer Gesamtgröße von 130 × 84 m befand es sich in der nördlichen Siedlungshälfte östlich der Rheintalstraße, die als zentrale Siedlungsachse direkt an der Vor- und Eingangshalle des Forums vorbeiführte. Der Komplex besitzt eine klare Gliederung mit zentralem Hof (Platzgröße 41,5 × 75 m) und flankierenden Gebäudeteilen. Die Ladenlokale an den Langseiten wurden innen und außen von Säulengängen begleitet. Den östlichen Abschluss bildete die dreischiffige Basilika. Basilika Die 1911 und 1935 ergrabene Basilika gehört mit einer Größe von 73 × 47 m zu den größten römischen Monumentalbauten nördlich der Alpen. Der Grundriss weist auf eine Pfeilerbasilika mit zweigeschossigen Arkaden an den Längsseiten. An den beiden Schmalseiten befanden sich jeweils Querhallen, während in der Tribunalapsis des Mittelbaus die Curia, der erhöhte Ratssaal des Ladenburger Stadtrats, anzunehmen ist. Der Chor der heutigen Kirche St. Gallus sitzt genau auf der römischen Apsis auf. Man kann heute noch eine ungefähre Vorstellung von der Größe des Gebäudes durch den gotischen Kirchenbau erhalten, da seine Länge der Breite der römischen Basilika entspricht. Theater Vor der Südostecke der römischen Stadtmauer wurden 1967 die Reste eines Theaters entdeckt und durch Überbauung zerstört. Es konnte ein Bühnengebäude von etwa 90 m Länge sowie eine orchestra mit einer Breite von 30 m dokumentiert werden. Daran schlossen sich die Sitzreihen an, die in Ermangelung einer natürlichen Erhebung mit Erde aufgeschüttet waren, worauf man größere Steinblöcke aufgesetzt hatte. Die ersten dieser teilweise mit Inschriften versehenen Steine wurden 1867 entdeckt und nach Karlsruhe in das Badische Landesmuseum verbracht. Die Steine tragen teilweise die Namen der Stifter, die das Gebäude den vicani Lopodunenses vermacht hatten. An weiteren bedeutenden Funden ist ein Weihealtar für den Genius der Civitas der Neckarsueben zu nennen sowie ein Jupiterstandbild, wohl ehemals Teil einer im Gebäude aufgestellten Kapitolinischen Trias. Möglicherweise bestand eine Verbindung zwischen Kultbau und Theater, wie das für manche römische Theater, etwa in den Trierer Tempelbezirken Altbachtal oder am Irminenwingert, nachweisbar ist. In der nächsten Umgebung des Theaters wurde eine tönerne Schauspielermaske mit Dämonendarstellung gefunden. Tempel Der Mainzer Archäologe Johannes Lipps hat 2019 vorgeschlagen, zwei Fragmente großer Säulentrommeln aus Sandstein als Hinweise auf einen ungewöhnlich großen, monumentalen Tempelbau zu deuten. Aufgrund des Durchmessers von 107 cm rekonstruiert Lipps eine Säulenhöhe von gut 10 Metern; trifft dies zu, so muss der mutmaßliche Tempel auch die Basilika deutlich überragt haben; es hätte sich in diesem Fall um den größten bekannten römischen Tempel im heutigen Baden-Württemberg gehandelt. Die Frage, wo sich ein solches Bauwerk in Lopodunum befunden haben könnte, ist bislang ungeklärt. Spätantiker Burgus Die Befestigung aus valentinianischer Zeit (370 n. Chr.) wurde 1979 beim Abriss eines Bauernhauses für den Neubau des Ladenburger Rathauses von Berndmark Heukemes entdeckt. Vermutlich wurde sie im Zusammenhang mit den letzten Verstärkungsmaßnahmen der Römer am Rheinlimes und zur Abwehr der Alamannen errichtet. Da das Mauerwerk des mehrgeschossigen Mittelturms noch teilweise bis zu 8 m hoch erhalten war, zählt der burgus zu den besterhaltenen Gebäuden seiner Art. Teile davon konnten in die westliche Rathausfront und eine Tiefgarage integriert werden. Die Anlage war auf einer Grundfläche von 40 × 40 m konzipiert. Umschlossen wurde sie an drei Seiten von einem Spitzgraben mit einer Breite von 5,5 m und einer Tiefe von 3,3 m. Mittelpunkt der Anlage war ein quadratischer Turm (Kernwerk) mit einer Seitenlänge von 13,2–14 m und massivem Untergeschoss. Seine Dachdeckung bestand aus Blei, von der noch Teile aufgefunden werden konnten. Uferseitig waren Kasernengebäude an den Turm angelehnt, die Kernanlage wurde von einer Zangenmauer zur Landseite umschlossen, während sie zum Fluss als Schiffslände offen gehalten wurde. An den Ecken befanden sich kleine Türme mit einer Seitenlänge von 4,5 m. Die Besatzung einer solchen Kleinfestung könnte zwischen 35 und 40 Mann betragen haben. Zusammen mit dem Kastell Altrip und einer ähnlichen Anlage bei Neckarau kontrollierten die Römer den Fluss und die Neckarmündung. Um 400 n. Chr. wurde der Burgus wieder aufgegeben. Forschungsgeschichte Die Identifizierung Ladenburgs mit dem in der Mosella des Ausonius genannten Lupodunum gelang bereits vor über 400 Jahren. Sie geht auf den pfälzischen Historiographen Marquard Freher zurück. 1893 konnte der in Heidelberg tätige Epigraphiker Karl Zangemeister das in Inschriften häufig verwendete Kürzel CVSN als civitas Ulpia Sueborum Nicretum auflösen. Das Interesse an den römischen Ruinen Ladenburgs erwachte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wurde zunächst getragen vom 1859 gegründeten Mannheimer Altertumsverein. In dessen Auftrag erforschte Karl Schumacher 1898/99 die römische Stadtmauer, später widmete er sich neckarsuebischen Grabfunden. Hermann Gropengießer gelang 1912 die Entdeckung des Steinkastells, außerdem führte er Ausgrabungen in der Basilika durch. Wichtige Beobachtungen verdankt die Archäologie auch dem Ladenburger Stadtbaumeister Konrad Seel III. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die Erforschung der römischen Stadt über 40 Jahre mit dem Namen Berndmark Heukemes verbunden. 1986 veröffentlichte er eine Zusammenstellung der römischen Fundplätze in seinem Gesamtplan des römischen Ladenburg. Der römische Stadtplan wurde seitdem besonders durch die Grabungstätigkeiten des Landesamts für Denkmalpflege Baden-Württemberg ergänzt. Funde aus der römischen Stadt werden im Lobdengau-Museum ausgestellt. Literatur Dietwulf Baatz: Lopodunum, Ladenburg a. N.: die Grabungen im Frühjahr 1960 (= Badische Fundberichte. Sonderheft 1). Freiburg i. Br. 1962. Folke Damminger, Uwe Gross, Roland Prien, Christian Witschel: Große Welten – Kleine Welten. Ladenburg und der Lobdengau zwischen Antike und Mittelalter (= Ladenburger Reihe zur Stadtgeschichte. Band 2). Edition Ralf Fetzer, Edingen-Neckarhausen 2017, ISBN 978-3-940968-32-6 (zur Spätantike und dem Übergang ins Mittelalter). Berndmark Heukemes: Ladenburg HD. In: Philipp Filtzinger (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. 3. Auflage. Theiss, Stuttgart 1986, ISBN 3-8062-0287-7, S. 383–397. Klaus Kortüm: Städte und kleinstädtische Siedlungen. Zivile Strukturen im Hinterland des Limes. In: Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Esslingen 2005, ISBN 3-8062-1945-1, S. 154–164. Renate Ludwig: Unterwegs von Lopodunum nach Heidelberg. In: Vera Rupp, Heide Birley (Hrsg.): Landleben im römischen Deutschland. Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2573-0, S. 71–74. Britta Rabold: Topographie des römischen Ladenburg. Aufstieg vom Truppenstandort zur Metropole. In: Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Esslingen 2005, ISBN 3-8062-1945-1, S. 177–180. Britta Rabold: Ladenburg (HD) – Die römische Stadt. In: Dieter Planck (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. Römerstätten von Aalen bis Zwiefalten. Theiss, Stuttgart 2005, ISBN 3-8062-1555-3, S. 161–168. Britta Rabold: Ladenburg in römischer Zeit. In: Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland 36. Heidelberg, Mannheim und der Rhein-Neckar-Raum. Theiss, Stuttgart 1999, ISBN 3-8062-1407-7, S. 159–165. Britta Rabold: Zur Topographie des römischen Ladenburg. In: Ernst Künzl, Susanna Künzl: Das römische Prunkportal von Ladenburg (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 94). Konrad Theiss, Stuttgart 2003, ISBN 3-8062-1829-3, S. 107–116. C. Sebastian Sommer: Lopodunum und die Civitas Ulpia Sueborum Nicrensium. In: Hansjörg Probst (Hrsg.): Ladenburg aus 1900 Jahren Stadtgeschichte. Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 1998, S. 81–201; 806–809. Reihe „Lopodunum“: Hartmut Kaiser, C. Sebastian Sommer: Lopodunum I: Die römischen Befunde der Ausgrabungen an der Kellerei in Ladenburg 1981–1985 und 1990 (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 50). Theiss, Stuttgart 1994, ISBN 3-8062-1170-1. Rainer Wiegels: Lopodunum II: Inschriften und Kultdenkmäler aus dem römischen Ladenburg am Neckar (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg Band 59). Theiss, Stuttgart 2000, (mit Überblick zur Forschungsgeschichte und Geschichte des römischen Ladenburg auf S. 13–29). Gertrud Lenz-Bernhard: Lopodunum III: Die neckarswebische Siedlung und Villa rustica im Gewann „Ziegelscheuer“: eine Untersuchung zur Besiedlungsgeschichte der Oberrheingermanen (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 77). Theiss, Stuttgart 2003, ISBN 3-8062-1567-7. Thomas Schmidts: Lopodunum IV: Die Kleinfunde aus den römischen Häusern an der Kellerei in Ladenburg (Ausgrabungen 1981–1985 und 1990) (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 91). Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1878-1. Johannes Eingartner: Lopodunum V: Die Basilika und das Forum des römischen Ladenburg (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 124). Theiss, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-8062-2647-8. Jürgen Süß, Brigitte Gräf: Lopodunum VI: Die 3D-Rekonstruktion des römischen Forums von Ladenburg. Beschreibung und Begründung der Nachbildung (= Forschungen und Berichte zur Archäologie in Baden-Württemberg. Band 6). Dr. Ludwig Reichert, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-95490-298-9 (online). Roland Prien, Christian Witschel (Hrsg.): Lopodunum VII: Ladenburg und der Lobdengau zwischen 'Limesfall' und den Karolingern (= Forschungen und Berichte zur Archäologie in Baden-Württemberg. Band 17). Dr. Ludwig Reichert, Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-95490-481-5. Weblinks Lobdengau-Museum Einzelnachweise Archäologischer Fundplatz im Rhein-Neckar-Kreis Germania superior Römische Stadt in Germanien Römischer Vicus Geographie (Ladenburg) Geschichte (Ladenburg) Hauptort einer Civitas in Germanien Sueben Geschichte (Neckar) Archäologischer Fundplatz in Europa
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Väinö Leskinen
Väinö Olavi Leskinen (* 8. März 1917 in Helsinki; † 8. März 1972 ebenda) war ein finnischer Politiker. Während der Kriegsjahre der Sozialdemokratischen Partei Finnlands beigetreten, gehörte er in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zur Gruppe der so genannten Waffenbrudersozialisten, welche die dezidiert antikommunistische Politik der Partei lenkte. Leskinen war zwischen 1952 und 1959 Minister in vier Regierungen und entwickelte sich in dieser Zeit zum politischen Gegenspieler von Präsident Urho Kekkonen. In den Fünfzigerjahren war er einer der Protagonisten in schweren innerparteilichen Machtkämpfen, die schließlich zur Parteispaltung führten. In deren Zuge brachte er die Sozialdemokratische Partei unter seine Kontrolle, geriet aber in der Folge mitsamt der Partei in die politische Isolation, die insbesondere durch außenpolitische Spannungen im Verhältnis zur Sowjetunion begründet war. 1963 musste Leskinen aus seinen Parteiämtern weichen. Dank einer spektakulären politischen Kehrtwende und der damit verbundenen Annäherung an seine bisherigen politischen Gegner schaffte Leskinen die Rückkehr in die Politik und war 1968 bis 1971 zunächst Wirtschafts-, später Außenminister. Herkunft und frühe Jahre Väinö Leskinen wurde als Sohn einer Arbeiterfamilie in Helsinki geboren. Bald nach seiner Geburt siedelte die Familie nach Siuntio um, um den Gewalttätigkeiten in der Folge des Bürgerkrieges zu entgehen. In dieser damals noch rein schwedischsprachigen Gemeinde war Väinö zum Besuch der schwedischen Volksschule gezwungen und erwarb so Sprachkenntnisse, die seiner politischen Laufbahn später förderlich wurden. Der junge Leskinen war ein ehrgeiziger und guter Sportler. Im Jahr 1937 errang er bei der Arbeiterolympiade in Antwerpen zwei Goldmedaillen im Brustschwimmen. Anders als seine Altersgenossen ähnlicher Herkunft kam Leskinen durch seine Sportreisen früh in Kontakt mit fremden Kulturen und Sprachen. Nach kurzem Jurastudium nahm Leskinen 1939/40 als Frontsoldat am Winterkrieg mit der Sowjetunion teil. Nach dem Krieg begann seine politische Karriere mit der Wahl zum Generalsekretär des Arbeitersportbundes (Työväen Urheiluliitto, TUL). Im gleichen Sommer schloss er sich der Sozialdemokratischen Partei (SDP) sowie dem soeben gegründeten Finnischen Waffenbrüderbund (Suomen Aseveljien Liitto) an, der eine Unterstützungsorganisation für Veteranen sowie Kriegswitwen und -waisen war, aber als Sammelbecken antikommunistischer Kräfte auch politisches Gewicht hatte. Während des 1941 begonnenen finnisch-sowjetischen Fortsetzungskrieges erwarb sich Leskinen Ruhm als Kompaniekommandant des erfolgreichen Infanterieregiments 26, des so genannten Ässä-Regiments, bevor er im August 1941 verwundet wurde und nicht mehr an die Front zurückkehrte. Er wurde nun zum Generalsekretär des Waffenbrüderbundes gewählt. Die fast 4000 Mitglieder des Ässä-Regiments mit ihren Familien bildeten nach dem Krieg den Kern des politischen Rückhalts Väinö Leskinens. Leskinens charakterliche Eigenschaften brachten ihm während seiner gesamten Laufbahn viele Anhänger, aber auch Kritiker ein. Er pflegte den Lebensstil eines Bohemien, oft auch verbunden mit übermäßigem Alkoholgenuss. Er liebte Wortspiele und grobe Scherze, sei es auch auf Kosten seiner Gesprächspartner. Urho Kekkonen bezeichnete ihn als einen Bohemien auch in der Politik. Grundsätzliche und ideologische Überlegungen waren ihm nicht fremd, blieben aber oft zweitrangig hinter seinem spontanen und ungeduldigen Aktionismus. Politik verstand er immer auch als Wettbewerb und Glücksspiel: „Das Leben ist ein Spiel, ob man gewinnt oder verliert.“ Politische Tätigkeit bis 1955 Nach dem Krieg gehörte Väinö Leskinen zur einflussreichen Gruppe der so genannten Waffenbrudersozialisten, welche in den ersten Nachkriegsjahren die pointiert antikommunistische Politik der Sozialdemokratischen Partei bestimmte. In den frühen Fünfzigerjahren war Leskinen Minister in verschiedenen Regierungen Finnlands. In dieser Zeit entwickelte sich ein Konkurrenzverhältnis zum Landbund und zu dessen Führungspersönlichkeit Urho Kekkonen. Waffenbrudersozialismus In der Sozialdemokratischen Partei wurde Leskinen 1944 zum Delegierten des im November 1944 abzuhaltenden Parteitages gewählt. Der Parteitag geriet zur Konfrontation zwischen den Vertretern der bisherigen Parteilinie und der so genannten Friedensopposition. Finnland hatte im September mit der Sowjetunion einen Separatfrieden geschlossen. Die Sozialdemokratische Partei hatte während des Krieges die Politik des Landes in der Regierung mitgetragen, während die Vertreter der Friedensopposition den Separatfrieden bereits seit 1943 gefordert hatten. Letztere forderten nun eine deutliche Abkehr von der alten Politik und eine Zusammenarbeit mit den wieder erstarkenden finnischen Kommunisten. Väinö Leskinen verteidigte auf dem Parteitag energisch die bisherige Politik und deren Personifizierung Väinö Tanner, der in den Kriegsjahren Außen- und Wirtschaftsminister gewesen war. Die Mehrheit der Delegierten schloss sich schließlich dieser Linie an. Ein Teil der in der Minderheit Verbliebenen wechselte in der Folge zu der von den Kommunisten gegründeten Wahlorganisation Demokratische Union des Finnischen Volkes, während andere als parteiinterne Opposition verblieben. Der Waffenbrüderbund wurde im Januar 1945 auf Verlangen der alliierten Kontrollkommission aufgelöst. Für Väinö Leskinen blieben seine sozialdemokratischen Mitstreiter aus dem Waffenbrüderbund jedoch auf Jahre hinaus die wichtigste Bezugsgruppe in der Sozialdemokratischen Partei. In der Partei wurden die so genannten Waffenbrudersozialisten, die in den Nachkriegsjahren mit großer Geschlossenheit auftraten, zu einem bedeutenden Machtfaktor. Die Kerngruppe bildete Väinö Leskinen gemeinsam mit Unto Varjonen und Penna Tervo. Der Parteitag 1944 wählte Varjonen zum Parteisekretär. Kurz darauf wurde Leskinen zum Organisationssekretär der Partei bestimmt. Als Varjonen 1946 Chefredakteur des Parteiorgans Suomen Sosialidemokraatti wurde, bestimmte der Parteitag Leskinen zu seinem Nachfolger. Gemeinsam mit Leskinen wurden auch Varjonen und Tervo in den Parteivorstand gewählt. Antikommunistische Kampagnen Unto Varjonen und Väinö Leskinen wurden zur Personifizierung der antikommunistischen Linie der Sozialdemokratischen Partei. In der finnischen Innenpolitik herrschte zu diesem Zeitpunkt die Besorgnis, dass die Kommunisten einen Umsturzversuch unternehmen könnten. Im Herbst 1946 initiierte Leskinen die Kampagne „Kämpfende Sozialdemokratie“, in deren Rahmen die Partei den Kampf gegen die Kommunisten mit Plakaten und Reden führte. Im Jahr 1948 spitzte sich der Konflikt zu, als gleichzeitig der Wahlkampf für die Parlamentswahl und für die Wahl zur Delegiertenversammlung des Arbeitersportbundes geführt wurde. Leskinen nahm in beiden Wahlkämpfen eine prominente Stellung ein und war auch Ziel der schärfsten Kritik der Kommunisten, die ihm vor allem seine Aktivitäten während des Krieges vorhielten. Die Kampagne Leskinens wurde allerdings auf ihrem Höhepunkt unterbrochen. Am 6. April 1948 war Leskinen in einen Autounfall verwickelt, bei dem ein Kind zu Tode kam. Den Wagen fuhr der betrunkene Parlamentsabgeordnete Walter Kuusela. Leskinen lag zu diesem Zeitpunkt, ebenfalls betrunken, auf der Rückbank. Er hatte den Wagen bereits zuvor in den Graben gefahren. Leskinen wurde zu fünf Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Seine Autorität in der Partei wie auch seine persönlichen Beziehungen wurden schwer beschädigt. Nach Ableistung seiner Haftstrafe nahm Leskinen seine Tätigkeit als Parteisekretär wieder auf. In der nach den Wahlen von der Regierung seines Parteigenossen Karl-August Fagerholm eingeleiteten Zurückdrängung der Kommunisten aus zentralen staatlichen Positionen spielte er aber keine zentrale Rolle. Väinö Leskinen war in der ersten Nachkriegswahl 1945 in das finnische Parlament gewählt worden. Infolge des Skandals um seine Trunkenheitsfahrt zog er 1948 seine Kandidatur für das Parlament zurück. Erst 1951 kehrte er in das Parlament zurück, dem er sodann bis 1970 durchgehend angehören sollte. Regierungsbeteiligungen und Parteipolitik In den rasch wechselnden Regierungen der frühen Fünfzigerjahre nahm Leskinen dreimal Ministerposten ein. Vom 26. November 1952 bis zum 8. Juli 1953 war er Sozialminister in der dritten Regierung unter Urho Kekkonen. Vom 5. Mai 1954 bis zum 19. Oktober desselben Jahres gehörte er der Regierung von Ralf Törngren als Innenminister an. Dieses Ressort behielt er auch im unmittelbaren Anschluss in der fünften Regierung Kekkonen. Trotz seiner Beteiligung an Kekkonens Regierungen wurde aus Leskinen aber einer von Kekkonens schärfsten Kritikern. Zu den Streitpunkten gehörten wirtschaftspolitische Verteilungskämpfe in dieser von starker Inflation und dauernden Arbeitskämpfen geprägten Zeit. Hier stießen die von den Sozialdemokraten vertretenen Arbeiterinteressen auf die Interessen der von Kekkonens Landbund protegierten Landwirtschaft. Außenpolitisch orientierte sich die SDP in erster Linie Richtung Westen und zu ihren Schwesterparteien in den nordischen Ländern, während Kekkonen besondere Betonung auf die freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion legte. Die Differenzen zwischen Kekkonen und Leskinen gingen ins Persönliche, als im Februar 1953 ein geheimes wirtschaftliches Reformprogramm an die Öffentlichkeit drang, dessen Verwirklichung hierdurch unmöglich gemacht wurde. Kekkonen machte Innenminister Leskinen für diesen Vorgang verantwortlich. Für die Parlamentswahlen im Jahr 1954 gab Leskinen die Devise aus: „Der Landbund muss zerschlagen werden.“ Dieses Ziel wurde bereits im Ansatz verfehlt, der Landbund gewann zwei Mandate hinzu. Auf dem Parteitag 1955 wurde Kritik an der fehlgeschlagenen Negativkampagne des Parteisekretärs laut. Ebenso zum Gegenstand heftiger Kritik wurden von Leskinen in den Jahren 1954 und 1955 unternommene Versuche, die Beziehungen der Partei mit der Sowjetunion auf eine neue Grundlage zu stellen. Im Zuge seiner Reisen als Sportfunktionär hatte Leskinen nicht nur persönliche Kontakte mit sowjetischen Funktionären geknüpft, sondern mit diesen auch über offizielle Beziehungen auf Parteiebene gesprochen. Diese Vorstöße, die mit Leskinens bisheriger Politik im Widerspruch zu stehen schienen, waren mit den Parteigremien nicht abgesprochen und stießen dort auf wenig Verständnis. Protagonist der Parteispaltung Im Verlauf der Fünfzigerjahre wurde die Sozialdemokratische Partei zunehmend von inneren Streitereien und Machtkämpfen zerrissen. Am Ende des Jahrzehnts führte diese Entwicklung zur Spaltung der Partei. Diese Entwicklung war mit der Person und Politik Väinö Leskinens eng verknüpft. Die um Leskinen gruppierten Sozialdemokraten wurden daher gemeinhin als das Leskinen-Lager (leskisläiset) bezeichnet. Zerfall der Waffenbrudersozialisten Ihren Ausgangspunkt nahm der parteiinterne Zerfallsprozess in einer drastischen Verschlechterung der persönlichen Beziehungen zwischen Leskinen und seinen Mitstreitern der Nachkriegszeit. Das Verhältnis zwischen Väinö Leskinen und Unto Varjonen wurde bereits ab 1946 belastet, als Varjonen, der vielen zu bürgerlich gesinnt war, zunehmend aus der Politik verdrängt wurde. Im Jahr 1949 schlug Leskinen eine neue Besetzungsliste für den Parteivorstand vor, auf welcher der Name Varjonen fehlte, 1952 schied Varjonen dann tatsächlich aus dem Vorstand aus. Die Beziehung zwischen den beiden Waffenbrüdern brach ab. Weiter reichende Folgen hatte das Zerwürfnis mit Penna Tervo. Nach Einschätzung des Leskinen-Biografen Tuomas Keskinen war beiden Männern vor allem der Machthunger gemeinsam. Ferner sei Tervo schon seit langem durch die im privaten Bereich immer wieder vorkommenden auf seine Kosten gehenden Späße Leskinens gereizt gewesen. Den Bruch verursachte schließlich ein Vorfall im Herbst 1952, als Tervo, seinerzeit Wirtschaftsminister der dritten Regierung Kekkonen, in der Messehalle in Helsinki eine Festrede in sichtlich betrunkenem Zustand gehalten hatte. Ungeachtet seiner eigenen Vergangenheit als verurteilter Trunkenheitsfahrer verlangte Leskinen in der Folge den sofortigen Rücktritt Tervos aus der Regierung. Neben diesen persönlichen Differenzen begannen sich auch politische Unterschiede abzuzeichnen. Während Leskinen im Grunde Oppositionspolitiker blieb, begannen der seit 1946 amtierende Parteivorsitzende der SDP, Emil Skog, sowie Penna Tervo im Verlauf der Regierungszusammenarbeit mit Urho Kekkonen größeres Verständnis insbesondere für dessen außenpolitische Linie zu zeigen. Im einsetzenden Zerfallsprozess der sozialdemokratischen Bewegung spielten inhaltliche Fragen jedoch gegenüber persönlichen Differenzen eine untergeordnete Rolle. Entstehen der Fronten Der Machtkampf begann in der Sportpolitik. Diese hatte seit der Unabhängigkeit Finnlands hervorgehobene gesellschaftliche Bedeutung, da der Sport von allen politischen Richtungen zum Zwecke der ideologischen Bindung der Jugend eingesetzt wurde. Spannungsfelder bestanden einerseits zwischen dem Arbeitersportbund (TUL) und seinem bürgerlichen Gegenpol, dem Nationalen Sportbund Finnlands (SVUL), andererseits innerhalb des TUL, in dem Sozialdemokraten und Kommunisten um die Vorherrschaft rangen. Leskinen war seit 1951 Vorsitzender des TUL. In den Folgejahren versuchte er auf verschiedenen Wegen, eine Annäherung und einen möglichen Zusammenschluss mit dem SVUL zu erreichen. Seine Vorstöße wurden jedoch mehrfach im Verbandsrat abgelehnt. Leskinens ehemaliger Assistent Pekka Martin nahm schließlich 1954 mit Penna Tervo Kontakt auf und beide beschlossen, Leskinen vom Vorsitz zu verdrängen. Dies gelang ihnen nach erbitterten Streitigkeiten. Entscheidend wurde die Versammlung der Bezirksversammlung Helsinki im Februar 1955, in welcher die Anhänger Leskinens in der sozialdemokratischen Gruppe die Mehrheit bildeten, die Anhänger Tervos sich aber mit Hilfe der kommunistischen Vertreter durchsetzten. Leskinens Anhänger zogen sodann aus der Versammlung aus, und in der Folge beschuldigten sich beide Lager gegenseitig, die parteiinternen Verhaltensregeln gebrochen zu haben. Auf dem Parteitag der SDP 1955 sah sich Leskinen heftiger Kritik ausgesetzt. Die Teilung auch der Partei in zwei Lager wurde hier bereits offensichtlich, wobei dem Lager Leskinen hier in der öffentlichen Wahrnehmung das Lager Skog gegenüberstand. Auf diesem Parteitag konnte der Bruch noch einmal vermieden werden. Leskinen stimmte der Wiederwahl Skogs zum Parteivorsitzenden zu, Leskinen blieb Parteisekretär. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Mehrheit des neuen Parteivorstandes hinter Skog stand. Leskinen zog sich sodann im September aus der Regierung zurück, um sich ganz dem Machtkampf in der Partei widmen zu können. Leskinen gründete ein eigenes Korrespondenzbüro, genannt „der Bunker“, von welchem aus er begann, gezielt auf die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages hinzuarbeiten. Er konnte sich dabei auf den Großteil der Parteipresse stützen, die offen gegen die Parteiführung schrieb. Letztere sah sich genötigt, eine eigene neue Publikation ins Leben zu rufen, um den eigenen Standpunkt vertreten zu können. Dies wurde wiederum von Leskinens Anhängern propagandistisch ausgeschlachtet. Schließlich gelang es Leskinen, eine genügende Anzahl von Parteibezirken dazu zu bringen, einen außerordentlichen Parteitag zu fordern. Dieser wurde für den 21. April 1957 einberufen. Eskalation Im Vorfeld des Parteitages führten beide Lager einen erbitterten Kampf um die Mehrheit der Delegierten, der beidseitig auch umfänglich mit Scheinmitgliedern und Phantomorganisationen geführt wurde. Für das Amt des Parteivorsitzenden präsentierten beide Seiten altgediente Kompromisskandidaten. Für das Leskinen-Lager trat Väinö Tanner an, für die Anhänger Skogs, der selbst auf die Kandidatur verzichtete, Karl-August Fagerholm. Der Parteitag wählte schließlich Tanner mit 95 Stimmen bei 94 Gegenstimmen. In der nun folgenden Eskalation spielte Väinö Leskinen eine zentrale Rolle. Die Gruppe um Emil Skog verlangte eine Unterbrechung des Parteitages, damit über die Besetzung der weiteren Posten, insbesondere desjenigen des Parteisekretärs, verhandelt werden könne. Die Mehrheit um Leskinen lehnte dies ab. Daraufhin zog die in der Minderheit gebliebene Gruppe geschlossen aus dem Parteitag aus. Unmittelbar danach ergriff Leskinen das Wort, kritisierte die Skog-Gruppe scharf und schlug seinen Anhänger Kaarlo Pitsinki als Parteisekretär vor. Dieser wurde von den verbliebenen Delegierten einstimmig gewählt. Erst dann wurde eine Verhandlungspause anberaumt, um die Besetzung des Parteivorstandes zu verhandeln. In diesen Verhandlungen zeichnete sich eine Lösung ab, in welcher der Vorstand paritätisch besetzt worden wäre, wobei der Vorsitzende Tanner den Ausschlag gegeben hätte. Dieser Lösung widersetzte sich Leskinen, da so seine Mehrheit von Tanners Wohlwollen abgehangen hätte. Der Kompromiss scheiterte, und schließlich wählte der Parteitag einen Vorstand, der ausschließlich mit Leskinen-Anhängern besetzt war. Damit war die Spaltung der Partei praktisch besiegelt. Die Anhänger Skogs formierten sich bald in einer eigenen Partei, dem Sozialdemokratischen Bund der Arbeiter- und Kleinbauernschaft (TPSL). Im gleichen Zuge spalteten sich auch die Gewerkschaften Finnlands. Die Einheit der sozialdemokratischen Bewegung konnte erst in den Siebzigerjahren wiederhergestellt werden. Politischer Abstieg Nach dem Parteitag von 1957 gehörte Väinö Leskinen zu den mächtigsten Politikern in der Sozialdemokratischen Partei. Gleichzeitig nahm die Entwicklung jedoch eine Richtung, die infolge außenpolitischer Isolation zunehmend als Sackgasse erschien. Im Zusammenwirken mit persönlichen Rückschlägen brachte diese Entwicklung Leskinen 1963 ins politische Abseits. Der Leskinen-Biograf Tuomas Keskinen fasst die Geschehnisse wie folgt zusammen: Im außenpolitischen Gegenwind In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte sich Väinö Leskinen als kompromissloser Antikommunist profiliert und sich damit zwangsläufig auch in Widerstreit zur Sowjetunion gebracht. In den Fünfzigerjahren, besonders 1954 und 1955, ergriff Leskinen verschiedene Initiativen, um neue freundschaftliche Beziehungen zu den Entscheidungsträgern des östlichen Nachbarn zu knüpfen. In der Folge hatte Leskinen bis 1957 funktionierende Gesprächskontakte zu den sowjetischen Vertretern in Finnland. Die Ereignisse des Parteitags 1957 führten hier aber zu einer radikalen Änderung. Der neue Parteivorsitzende Tanner gehörte aus Sicht der Sowjetunion zu den hauptsächlichen Kriegsschuldigen und war als politischer Gesprächspartner eine Unperson. Nachdem Tanner auf Leskinens Betreiben Vorsitzender geworden war, wurden neben Tanner auch die SDP als Ganzes und Leskinen persönlich zum Gegenstand heftiger Angriffe der sowjetischen Presse. Bald stellte sich auch heraus, dass die feindselige Haltung der Sowjetunion auch konkrete politische Folgen hatte. Nach der Parlamentswahl 1958 wurde am 29. August 1958 eine parlamentarische Mehrheitsregierung unter Karl-August Fagerholm gebildet. Dieser gehörten neben der SDP alle bürgerlichen Parteien des Mitte-rechts-Spektrums an. Leskinen übernahm das Amt des Sozialministers. Bald nach dem Amtsantritt der Regierung fror die Sowjetunion praktisch alle Beziehungen zu Finnland ein. Die hochrangigen diplomatischen Vertreter in Helsinki wurden auf unbestimmte Zeit nach Moskau abberufen, die Verhandlungen über verschiedene wichtige Handelsverträge ausgesetzt. Der in dieser so genannten „Nachtfrostkrise“ entstehende massive außenpolitische Druck aus Moskau führte im Januar 1959 zum Sturz der Regierung. Das Ausmaß des Gegenwindes schien in erheblichem Maße mit Leskinens Beteiligung zusammenzuhängen. Wie Leskinen überhaupt in die Regierung gelangt war, ist bis heute nicht gänzlich geklärt. Tuomas Keskinen hebt hervor, dass die SDP die Regierungsbeteiligung anstrebte, um aus der politischen Isolation auszubrechen. Zu Leskinens Rolle führt er aus: So hatte auch der Verhandlungsführer des Landbundes, Johannes Virolainen, Präsident Kekkonen versprochen, dass er sich an keiner Regierung beteiligen werde, in der Tanner oder Leskinen Minister sind. Trotzdem erschien Leskinen auf der Vorschlagsliste des künftigen Ministerpräsidenten Fagerholm und wurde schließlich auch von Virolainen akzeptiert. Leskinen hatte offenbar selbst unbedingt in der Regierung mitwirken wollen. Über die Frage, wer für die Entscheidung die Verantwortung trug, kam es später zu wechselseitigen Schuldzuweisungen zwischen Fagerholm und der Parteiführung. Tiefpunkt Die beschriebene Entwicklung ließ Väinö Leskinen als profiliertesten Gegenpol zur Außenpolitik Urho Kekkonens erscheinen. Während diese auf eine durch die Verständigung mit der Sowjetunion ermöglichte Neutralitätspolitik zielte, stand in der öffentlichen Wahrnehmung Leskinen für eine westorientierte, von der Sowjetunion betont unabhängige Politik. In der Folge der Nachtfrostkrise und aufgrund dieser Linie gerieten die Sozialdemokratische Partei sowie Leskinen persönlich in die politische Isolation. Eine Regierungsbeteiligung schien auf absehbare Zeit nicht in Frage zu kommen. Die persönliche Laufbahn Leskinens erhielt im September 1960 erneut einen empfindlichen Schlag, als er zum zweiten Mal bei einer Trunkenheitsfahrt ertappt wurde. Es folgte eine fünfmonatige Haftstrafe, die er als Arbeitsdienst beim Flughafenbau in Mariehamn auf Åland verbüßte. Trotz Aufforderung durch den Parteivorsitzenden Tanner gab Leskinen sein Parlamentsmandat nicht auf. Jedoch führte die Haftstrafe dazu, dass Leskinen an den politischen Wirren im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1962 unbeteiligt blieb. Der Parteitag der Sozialdemokraten im Juni 1963 bedeutete das Ende der Amtszeit des nunmehr 82-jährigen Vorsitzenden Väinö Tanner. Bereits im Vorfeld zeichnete sich ab, dass der neue Parteivorsitzende Rafael Paasio heißen würde. Auf dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und prominenten Vertreter der nach parteiinterner Versöhnung strebenden so genannten „dritten Linie“ lagen die Hoffnungen auf eine Überwindung der Parteispaltung. Paasio machte allerdings zur Bedingung seiner Kandidatur, dass Väinö Leskinen nicht mehr in den Parteivorstand gewählt wird. In seiner ausführlichen Parteitagsrede legte Leskinen Rechenschaft über die Parteipolitik der vergangenen Jahre ab und erklärte, die Partei stehe nun besser da als vor ihrer Spaltung. An die Delegierten appellierte er, sich in Personalentscheidungen nicht außenpolitischem Druck zu beugen. Die Beschneidung von Positionen in der Parteiführung auf Druck von außen verglich er mit der Situation des von der Sowjetunion besetzten Estland. Leskinens Rede erzielte nicht die gewünschte Wirkung. Paasio setzte sich gegen den von Leskinens Anhängern aufgestellten Veikko Helle durch, woraufhin Leskinen auf die Kandidatur zum Parteivorstand verzichtete. Neuorientierung und Wiederaufstieg Die politische Karriere Väinö Leskinens befand sich 1963 in der Sackgasse. Aus dieser befreite er sich durch eine aufsehenerregende politische Kehrtwende, in deren Verlauf er Brücken zu seinen alten Widersachern schlug. So leitete er eine Entwicklung ein, die ihm 1968 den Weg in die Regierung öffnete. „Zeit zum Streiten, Zeit zur Versöhnung“ Im Juni 1963 fand sich der Parlamentsabgeordnete Väinö Leskinen ohne ein bedeutendes politisches Amt wieder. In dieser Situation begann er, seine Positionen zu überdenken und nach einer neuen, erfolgversprechenderen politischen Richtung zu suchen. Im Jahr 1964 vollführte er schließlich eine politische Kehrtwende. Er suchte den Kontakt zu Präsident Kekkonen wie auch zu den finnischen Kommunisten. Besondere Mühe verwandte er darauf, Beziehungen zu sowjetischen Diplomaten herzustellen. Er versicherte nun, hinter der durch Kekkonen verkörperten außenpolitischen Linie zu stehen, freundschaftliche Beziehungen mit der Sowjetunion anzustreben und eine Regierungszusammenarbeit der Sozialdemokraten mit den Kommunisten zu befürworten. An die Öffentlichkeit ging Leskinen mit seiner neuen politischen Linie in seiner Rede vor der Bezirksversammlung Helsinki der SDP am 15. Oktober 1965. In der Rede behandelte er eingehend die Beziehungen der Partei zur Sowjetunion, zum Präsidenten Finnlands sowie zu den heimischen Kommunisten. In allen drei Beziehungen hob er die Notwendigkeit der Versöhnung hervor: Bald nach der Rede kam es zur Aussprache Leskinens mit Kekkonen. In der Folge erschienen beide regelmäßig auf der gleichen Seite der politischen Debatte. Leskinen setzte sich seither dafür ein, dass die Sozialdemokraten sich bei der Präsidentschaftswahl 1968 hinter Kekkonen stellen sollten, was schließlich auch geschah. Auch die Eröffnung von Beziehungen zu den Kommunisten gelang. Gemeinsam mit Aarne Saarinen, seit Februar 1966 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Finnlands, arbeitete er ab 1966 aktiv an der Überwindung der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung. In mehreren inoffiziellen Treffen mit Sowjetvertretern, in denen diese zunächst mit Zurückhaltung auf die Kehrtwende Leskinens reagierten, hatte Leskinen Fehler in der Vergangenheit eingeräumt. Nach seiner Versöhnungsrede und dem Wahlsieg der Sozialdemokraten erhielt Leskinen im April 1966 eine offizielle Einladung nach Moskau. Bei seiner Rückkehr setzte er sich energisch für die Bildung der so genannten Volksfrontregierung aus SDP, Landbund, TPSL und Volksdemokraten unter Ministerpräsident Rafael Paasio ein. Leskinen selbst beteiligte sich an der Regierung aber nicht. Innerparteilicher Machtkampf Der schnelle Umschwung und die Aktionsfreude Leskinens fanden in seiner Partei nicht nur Freunde. Der Parteivorsitzende Paasio befand sich zwar grundsätzlich auf der gleichen Linie, wollte aber wesentlich behutsamer vorgehen. Als Paasio im November 1966 zum Staatsbesuch nach Moskau reiste, versorgte Leskinen ihn im Voraus ungefragt mit ausführlichen schriftlichen Ratschlägen, wie Paasio die Normalisierung der Beziehungen der finnischen Sozialdemokratischen Partei zu den Sowjetkommunisten vorantreiben sollte. Paasio hingegen war nicht gewillt, auf einem Staatsbesuch in seiner Rolle als Ministerpräsident über Parteibeziehungen zu sprechen. Hierüber enttäuscht griff Leskinen auf dem unmittelbar nach der Reise beginnenden Parteitag der SDP den Vorsitzenden ungewöhnlich scharf an. Bereits vor diesen Ereignissen waren die Beziehungen zwischen Leskinen und Paasio schlecht gewesen. Der politisch wieder erstarkte Leskinen strebte abermals nach hohen Parteiämtern, dabei stellte Paasio aber ein Hindernis dar. Neben der Verärgerung über die Ergebnislosigkeit der Moskaureise gehörte zu Leskinens Motiven daher auch eine Verschiebung der Machtverhältnisse in der Partei. Der Versuch schlug jedoch fehl. Die vehementen Angriffe gegen Paasio wendeten die allgemeine Stimmung gegen Leskinen selbst. Dies hatte zur Folge, dass Leskinen erneut nicht in den Parteivorstand gewählt wurde. Dies änderte nichts daran, dass weite Parteikreise mit Paasio unzufrieden waren. Als dessen Regierung nach der Präsidentschaftswahl 1968 allgemeiner politischer Übung entsprechend zurücktrat, um eine neue Regierungsbildung zu ermöglichen, beschloss der Parteirat, dass die Ämter des Regierungschefs und des Parteivorsitzenden unvereinbar seien. An diesem Beschluss hatte die Überzeugungsarbeit Leskinens und seiner Unterstützer erheblichen Anteil. Paasio blieb schließlich Vorsitzender. Das Amt des Regierungschefs ging an Mauno Koivisto. In dieser Konstellation konnte sich Leskinen ein Ministerressort sichern. Am 22. März 1968 übernahm Väinö Leskinen nach zehnjähriger Regierungsabstinenz das Amt des Wirtschaftsministers. Wirtschaftsminister und Außenminister Als Wirtschaftsminister trieb Leskinen nachdrücklich Projekte zur weiteren Industrialisierung Finnlands voran. In seine von 1968 bis 1970 dauernde Amtszeit fiel der wirtschaftspolitische Konflikt um die Anschaffung des ersten finnischen Kernkraftwerks. War dieses ursprünglich unter internationalen Anbietern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgeschrieben worden, entbrannte bald ein politisches Tauziehen, in dem auch die Glaubwürdigkeit der finnischen Neutralitätspolitik in Frage gestellt wurde. Das Ausschreibungsverfahren wurde schließlich abgebrochen, das Kraftwerk ohne Ausschreibung aus der Sowjetunion gekauft, während bestimmte sicherheitsrelevante Komponenten aus dem Westen beschafft wurden. Diese Verhandlungen führte Leskinen federführend. Das Gleiche gilt für die Gespräche über die Anschaffung von Elektrolokomotiven, welche die Sowjetunion angeboten hatte, für die es aber auch finnische Anbieter gab. Leskinen handelte schließlich die Anschaffung aus der Sowjetunion zu ungewöhnlich günstigen Bedingungen aus, wobei er sich aber in Konflikt mit der Mehrheit seiner eigenen Partei begab. Durch seine politische Wendung war Leskinen die Rückkehr an die Spitze der Politik gelungen. Gleichzeitig hatte er jedoch seine traditionelle Wählerschaft, die Veteranen des Ässä-Regiments, von sich entfremdet. Diese hatten in ihm all diejenigen Grundüberzeugungen geschätzt, die er nun über Bord geworfen hatte. In einem Wahlsystem, in dem der Einzug in das Parlament von den persönlichen Stimmen für den Kandidaten abhängt, blieb dies nicht folgenlos. In der Parlamentswahl 1970, in welcher die Regierungsparteien eine schwere Niederlage erlitten, verlor Väinö Leskinen sein Parlamentsmandat. Leskinen schien damit die Grundlage für weitere hohe politische Ämter entzogen. Präsident Urho Kekkonen kam Leskinen in dieser Situation zu Hilfe und ernannte ihn im Mai 1970 zum Außenminister der neuen Übergangsregierung unter Teuvo Aura. Traditionell stand dem Präsidenten unabhängig von der sonstigen Zusammensetzung der Regierung das Recht zur Bestimmung des Außenministers zu. Leskinen erhielt dieses Amt auch in der im Juli folgenden neuen Volksfrontregierung unter Ahti Karjalainen. Die Amtszeit Leskinens als Außenminister war außenpolitisch ereignisreich. In sie fielen zahlreiche Staatsbesuche, darunter in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten, die Verlängerung des Freundschaftsvertrages mit der Sowjetunion, der Beginn der SALT-Verhandlungen in Helsinki und das Vorantreiben des KSZE-Prozesses. Leskinens eigenständiger Beitrag in diesen Angelegenheiten war gering, da die Außenpolitik souverän von Präsident Kekkonen geleitet wurde. Die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten war aber vertrauensvoll, wenngleich dieser ihn wiederholt zur Mäßigung im Alkoholgenuss auffordern musste. Die Ministerkarriere Leskinens endete mit dem Bruch der Regierungskoalition am 29. Oktober 1971. Krankheit und Tod Der Abschied vom Außenministerium stellte gleichzeitig das Ende der politischen Laufbahn Leskinens dar. In die neue Übergangsregierung von Teuvo Aura wurde er nicht mehr benannt. Bereits während seiner Amtszeit als Minister hatte er wiederholt mit Herzrhythmusstörungen zu kämpfen. Im Juni 1971 hatte er während einer Türkeireise einen Anfall, im Juni während des Besuchs von Nicolae Ceaușescu in Helsinki einen weiteren, der ihm diesmal einige Wochen Krankenhausaufenthalt einbrachte. Im September musste Leskinen sich erneut im Krankenhaus behandeln lassen. Trotzdem entwickelte Leskinen neue Pläne für ein politisches Comeback. Zu dessen Vorbereitung begann er mit den Arbeiten an einer zweibändigen Autobiographie. Diese kamen jedoch über das Anfangsstadium nicht mehr hinaus. Am 8. März 1972, seinem 55. Geburtstag, erlitt Väinö Leskinen beim Skilanglauf einen erneuten Herzinfarkt, dem er vor seiner Ankunft im Krankenhaus erlag. Väinö Leskinen hinterließ vier Söhne: Tapio, Osmo, Jouko und Väinö. Von seiner Frau Margit (1915–2002), die er 1941 geheiratet hatte, war er 1971 geschieden worden. Schriften Asevelisosialismista kansanrintamaan. Kirjayhtymä, Helsinki 1967 (zitiert: Leskinen). Literatur Tuomas Keskinen: Aika sotia – aika sopia. Väinö Leskinen 1917–1972. Tammi, Helsinki 1978, ISBN 951-30-4454-8 (zitiert: Keskinen). Hannu Soikkanen: Väinö Leskinen. In: Matti Klinge (Hrsg.): Suomen kansallisbiografia 6. SKS, Helsinki 2005, ISBN 951-746-447-9 (S. 90–96, zitiert: Soikkanen). Juhani Suomi: Presidentti. Urho Kekkonen 1962–1968. Otava, Helsinki 1994, ISBN 951-1-13065-X (zitiert: Suomi 1994). Juhani Suomi: Taistelu puolueettomuudesta. Urho Kekkonen 1968–1972. Otava, Helsinki 1996, ISBN 951-1-13548-1 (zitiert: Suomi 1996). Weblinks Einzelnachweise Außenminister (Finnland) Innenminister (Finnland) Sozialminister (Finnland) Wirtschaftsminister (Finnland) Parteifunktionär (Sozialdemokratische Partei Finnlands) Politiker (20. Jahrhundert) Person im Zweiten Weltkrieg (Finnland) Träger des Verdienstordens der Italienischen Republik (Großkreuz) Finne Geboren 1917 Gestorben 1972 Mann Schwimmer (Finnland) Teilnehmer an der Arbeiter-Sommerolympiade 1937 Teilnehmer an der Arbeiterolympiade (Finnland) Sieger bei der Arbeiterolympiade (Schwimmen)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orgel%20von%20St.%20Martin%20%28Memmingen%29
Orgel von St. Martin (Memmingen)
Die Orgel von St. Martin befindet sich in der Stadtpfarrkirche St. Martin im oberschwäbischen Memmingen. Diese ist in ihrer heutigen Form eine um 1325 begonnene und um 1500 vollendete dreischiffige Basilika und die Hauptkirche des evangelisch-lutherischen Kirchenbezirkes Memmingen. Seit über 500 Jahren gibt es eine Orgel in der Martinskirche. Das heutige Instrument wurde 1998 von Orgelbau Goll gebaut und in Anlehnung an Orgeln der französischen Romantik disponiert. Es wird sowohl im Gottesdienst, als auch bei Konzerten und Meisterkursen gespielt, des Weiteren dient sie häufig zur Einspielung von Tonträgern. Baugeschichte Spätgotische Orgel Die erste Orgel in St. Martin wurde erstmals 1453 erwähnt, um 1400 angeschafft und frühestens 1420, nach Vollendung des Hauptschiffes, auf einer Schwalbennestempore auf der südlichen Hochschiffwand aufgebaut. Der Zugang erfolgte über ein Treppentürmchen am vorderen südlichen Vorzeichen. Die Blasebälge befanden sich vermutlich über dem Seitenschiff in einer Kammer. Die Orgel wurde wahrscheinlich als Blockwerk und mit getrennt spielbarem Prinzipal gebaut. Bei den nachfolgenden Bauarbeiten in St. Martin musste sie nicht verändert werden. Der Chronist Jakob Friederich Unold berichtet, dass die Orgel erstmals 1478 im Gottesdienst gespielt wurde. Erster Kantor war vermutlich Friedrich Rebmann aus Mainz. 1500 stellte die Stadt bis auf Widerruf den Organisten Albrecht Fischer ein, der für die Orgeln in St. Martin und in der zweiten Stadtpfarrkirche, Unser Frauen, zuständig war. Er wurde jeweils zum Quatember mit zwölf Pfund und zehn Schillingen besoldet, musste aber die Kalkanten selbst bezahlen. 1528 wurde die Orgel im Zuge der Reformation in Memmingen, die in dieser Zeit an Ulrich Zwingli und dessen reformatorischem Bildersturm orientiert war, entfernt. Die evangelischen Geistlichen von St. Martin wollten den Gottesdienst aber wieder mit Orgelmusik gestalten, weshalb 1568 man sich mit einem Positiv behalf. Dessen damaliger Standort ist nicht bekannt. Neubau durch Andreas Schneider 1598/1599 Seit dem Bildersturm in der Reformationszeit existierte in der Reichsstadt Memmingen keine repräsentative Orgel mehr. Nachdem sich die Pfarrer der beiden Stadtpfarrkirchen seit 1550 immer wieder vergeblich für die Anschaffung eines neuen, großen Instruments eingesetzt hatten, lenkte der Rat 1597, unter dessen Herrschaft die Kirchen seit der Reformation standen, ein. Er beauftragte Andreas Schneider aus der Niederlausitz, der in Ulm als Orgelbauer tätig war, mit dem Bau einer neuen Orgel. Schneider, der mit seinen Gesellen während der Bauzeit 1598/1599 in der Stadt wohnte, erhielt für seine Arbeit 5.000 Gulden. Die Orgel wurde auf dem Schwalbennest ihrer Vorgängerin aufgestellt. Das Gehäuse war reich vergoldet und mit Schnitzwerk und vielen Engelsköpfen verziert. Auf dem Mittelturm trug das Gehäuse eine Statue des Königs David, die heute auf der Brüstung der Goll-Orgel steht. Auf den Deckeln des Orgelgehäuses befanden sich Bildnisse der Bürgermeister Hartlieb, Keller und Funk, des Pfarrhofpflegers und mehrerer anderer Personen. Die Bemalungen waren vermutlich an den Brüstungsfeldern des Rückpositivs befestigt. Die Flügeltüren trugen alttestamentliche Bildnisse. Nach der Fertigstellung bezeichnete der fuggersche Hoforganist Hans Leo Haßler am 21. November 1599 die Orgel „als gelungen“. Zwei Jahre später wurden allerdings Fehler festgestellt, die von Schneider behoben werden konnten. 1681 reparierte Johannes Riegg die Orgel. In einer Prospektpfeife war folgende Inschrift zu lesen: „Johannes Riegg, Orgelmacher und Organist daselbst, das Orgelwerk zu Memmingen renov. den 1. Heumonat 1681“. Riegg nahm vermutlich keine Änderungen am Klang vor und reparierte lediglich die Technik, wobei er das Instrument allerdings mehr demolierte als reparierte. Die damalige Disposition ist nicht erhalten. Im Vergleich mit anderen Werken Rieggs, vor allem dem im Ulmer Münster und den späteren Überarbeitungen war sie vermutlich wie folgt aufgebaut: Spielhilfen: Sperrventile zum Hauptmanual und zum Rückpositiv. 1656 baute Stadtbaumeister Knoll zwischen dem Triumphbogen am Choreingang und dem ersten Pfeilerpaar eine brücken- beziehungsweise lettnerartige Empore ein, vermutlich als Ort für Sänger und Instrumentalisten, die allein oder zusammen mit der Orgel musizierten, da das Schwalbennest nicht den Platz für eine größere Anzahl von Personen bot. Auch für die Aufführungspraxis der zu dieser Zeit beliebten mehrchörigen Musik lag es nahe, Musiker auf mehrere Emporen zu verteilen. Auf dieser Empore stand bis 1827 auch eine kleine Orgel, die später in die Kinderlehrkirche gebracht und dort bis 1874 verwendet wurde. Sie war wahrscheinlich vom Orgelbaumeister Siegmund Riegg angefertigt worden. Die Disposition war: Reparatur durch Gabler 1759 Nach Rieggs mangelhafter Instandsetzung wurde 1758 Joseph Gabler beauftragt, eine erneute Reparatur durchzuführen, diese dauerte 15 Monate. Gabler überholte auch die Orgeln in der Lateinschule und im Collegium musicum. Alle drei Instandsetzungen waren insgesamt mit 400 Gulden veranschlagt worden, am Ende kosteten sie 1.500 Gulden, von denen die Stadt 1.080 bezahlte. Zwei Monate später zahlte der Rat auf Bitten Gablers weitere 30 Gulden. Bei der Instandsetzung wurde die Disposition modernisiert, indem Gabler seine typischen Klangelemente einfügte. Im Stadtarchiv ist dazu zu lesen: „Er hat die Orgel wohl repariert und in vollkommenen Stand gestellt, daß man darob ein seltsames Vergnügen gefunden.“ Johann Nepomuk Holzhey überholte die Orgel zuletzt 1778 für 433 Gulden. Nachdem Memmingen 1802 die Reichsfreiheit verloren hatte und 1803 dem Kurfürstentum Bayern einverleibt worden war, gelangte auch St. Martin kirchenrechtlich zum Kurfürstentum. 1807 untersuchten der Organist Johann Konrad Ellmer, der Orgelbauer Georg Rabus und der Musikdirektor der Stadt, Georg von Unold, die große Orgel und kamen zu dem Ergebnis, dass sie reparaturbedürftig war. Für eine notdürftige Reparatur errechneten sie einen Betrag von 18, für eine umfangreiche Instandsetzung 140 Gulden, was jedoch beides aus Kostengründen abgelehnt wurde. Nachdem das Schwalbennest immer baufälliger geworden war, entschloss sich die Kirchengemeinde 1827, es aufzugeben. Es wurde im selben Jahr zurückgebaut und die Orgel durch Meinrad Dreher aus Illereichen an die Westwand des Hauptschiffes versetzt. Dreher reparierte dabei das komplette Instrument, fügte die beiden neuen Rohrwerke Bombard 16′ und Clairon 4′ hinzu und entfernte die beiden Tremulanten, das Sperrventil und die von Gabler eingebaute Manualkoppel. Die Blasebälge wurden geflickt und ungünstig unter dem Dach des Seitenschiffs aufgestellt. Die Kosten für Versetzung und Reparatur betrugen 1.200 Gulden. Am 26. Januar 1828 wurde die Orgel erstmals wieder bespielt, hatte an ihrem neuen Standort aber nicht mehr den Klang wie im Schwalbennest. Das Gehäuse musste neu gebaut werden. Teile des alten Prospekts wurden in eine barocke Kassettendecke im Schloss Illerfeld in Volkratshofen eingebaut. Nach der Überarbeitung hatte die Orgel folgende Disposition: Koppeln: RP/HW, HW/P. Spielhilfen: Ventil des ganzen Werks, Calcanten-Glöcklein. Umbau durch Samuel Friedrich Schäfer 1845 1845 wurde die Orgel an der Westwand durch Samuel Friedrich Schäfer aus Wolfschlugen umgebaut. Zwischen dem 15. April und dem 25. Mai 1845 diente ein Positiv zum kirchlichen Gebrauch. Der neugotische Prospekt der umgebauten Orgel, die im Sommer 1847 fertiggestellt wurde, bestand aus zwei Gehäuseteilen mit je drei spitzbogigen Pfeifenfeldern, die seitlich von der Fensterwand von innen nach außen abfallend gruppiert waren. Das Instrument war allerdings unbrauchbar, da Schäfer die wiederverwendeten alten Register und die neu entwickelten Kegelladen nicht fachgerecht zusammengebaut hatte. Der Umbau kostete 4.800 Gulden für die Orgel und 400 Gulden für die Blasebalgkammer. Die Disposition war wie folgt gegliedert: Neubau durch Walcker und Spaich 1853 1853 wurde eine neue Orgel angeschafft. Das neugotische Gehäuse und die Orgel wurden von der Orgelbauwerkstatt Walcker und Spaich aus Ludwigsburg gebaut, die schon kurz vorher eine neue Orgel für die Frauenkirche angefertigt hatte. Bei der Orgelprobe am 11. Juli 1853 bezeichnete der Augsburger Kapellmeister Karl Ludwig Drobisch das Instrument als „vollkommen gelungen und meisterhaft“. Die Empore musste für die neue Orgel, die 5.700 Gulden kostete, vergrößert werden. Das alte Werk nahm Walcker in Zahlung. Mit der neuen Orgel kam die Orgelmusik in der Kirche wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Das Instrument wurde 1900 von Steinmeyer repariert und ein neues Gebläse eingebaut. Die Orgel hatte folgende Disposition: Erweiterung durch Ott 1938 Die 1924 geplante Erweiterung der Walckerorgel wurde 1938 von Paul Ott aus Göttingen umgesetzt. Hauptwerk, Schwellwerk und Pedal hatten Kegelladen, das neue Rückpositiv hatte Schleifladen. Die Steuerung erfolgte durch eine elektrische Traktur. Der Prospekt musste durch die Erweiterung verändert werden. Die neugotischen Aufbauten wurden zugunsten eines Freipfeifenprospekts aufgegeben. Auf einer Einbauempore befanden sich links und rechts je drei Pfeifenfelder, die von außen nach innen abfielen. Die Mitte wurde freigehalten, sodass die doppelten Emporenfenster sichtbar waren. Hinter den Manualwerken standen die Pedalpfeifen nach C- und Cis-Lade geteilt, der Größe nach von innen nach außen absteigend. Unter der Empore war das Rückpositiv, das drei Pfeifengruppen in Form eines W beinhaltete, mittig in die Brüstung eingelassen. Die Disposition war nach dem Umbau wie folgt gegliedert: Koppeln: Normalkoppeln. 2 freie Kombinationen, 2 freie Pedalkombinationen zu RP und SW Zimbelstern Neubau durch Walcker 1962 Nachdem sich die Kirchengemeinde ein größeres Instrument wünschte, begann man Anfang der 1960er Jahre mit Planungen für eine neue Orgel. 1962 beauftragte die Gemeinde die Firma Walcker aus Ludwigsburg eine neue Orgel an dem bisherigen Standort an der Westwand zu errichten. Die dahinterliegenden großen Fenster wurden dafür zugemauert. Die alte Orgel einschließlich Prospekt wurde entfernt und zerstört. Der neue Prospekt gliederte sich in 14 rechteckige Pfeifenfelder, die in Kästen eingeschlossen waren, und drei Lamellenfelder für den Schwellkasten. Der Prospektentwurf stammte von dem Architekten Wolfgang Gsaenger. Die Mitte war dreigeschossig, unten das Schwellwerk, darüber das dreiachsige Hauptwerk mit niedriger Mitte, ganz oben ein fünfachsiges Oberwerk. Die Klanggestalt folgte zeittypisch neobarocken Vorbildern (Abkehr von der Grundtönigkeit der Romantik, große Vielfalt an Teilton- und Mixturregistern), wobei zur Erweiterung des Spektrums auch ein Schwellwerk eingebaut wurde. Durch kleine Zwischenfelder waren die beiden unteren Ebenen mit den hohen Pedaltürmen verbunden. Weil der Klang nicht mehr befriedigte, und beim Bau der Orgel viel Sperrholz, Spanholz und Schaumstoff verwendet wurde, war es um die technische Haltbarkeit nicht gut bestellt und das Instrument musste etwa 35 Jahre später durch ein neues ersetzt werden. Die Disposition der Walcker-Orgel (opus 3984) war folgende: Anmerkungen: Schleifladen, mechanische Spiel- und elektrische Registertraktur. Neubau durch Goll 1998 Mit dem Amtsantritt von Hans-Eberhard Roß 1991 wurde in der Kirchengemeinde ein neues Orgelkonzept erarbeitet, da das bisherige Instrument nicht mehr reparierbar war. Es sollte eine große moderne Orgel am bisherigen Standort an der Westwand installiert werden. Die schwache Resonanz des 72 Meter langen und 20 Meter hohen Kirchenraumes machte es erforderlich, den Bass- und den Mitteltonbereich kraftvoll und doch variabel zu gestalten. Man entschloss sich, eine symphonische Orgel nach französischem Vorbild anzuschaffen. Die Mitglieder der Kirchengemeinde wurden in das Orgelprojekt einbezogen, indem der Kirchenvorstand Fahrten zu den in Frage kommenden fünf Orgelbauern anbot. Die neue Orgel aus dem Hause Goll wurde am 8. November 1998 eingeweiht. Sie kostete 2,2 Millionen DM; davon wurden 2 Millionen DM mit Spenden und etwa 200.000 DM mit öffentlichen Zuschüssen finanziert. Die erste Rate wurde 1994 überwiesen, die letzte mit der Einweihung der Orgel 1998. Die Orgel besitzt vier Manuale und ein Pedal mit zusammen 62 Registern und 4.285 Pfeifen. Sie nimmt die Westfassade ab der ersten Empore mit Ausnahme des Teils über dem Brauttor ein. Das Gehäuse hat eine schlichte Form, die durch das unbehandelte Eichenholz einen starken architektonischen Akzent setzt. Es ist 9,10 Meter breit, 13,9 Meter hoch und nur 2,80 Meter tief. Die ansteigenden Läufe der Prospektpfeifen erzeugen eine starke, besonders in den Positivfeldern auffällige Vertikalwirkung. Die gotische Bewegung „himmelwärts“ wird kontrapunktiert durch die Schleierbretter, die eine dachähnliche Bewegung imitieren. Dabei ist kein Feld gleich. Dazu kommen auslaufende und sich verjüngende Spitzen und kleine Turmaufsätze. Diese Stilelemente sind schlicht-moderne Übertragungen gotischer Elemente. Hauptwerk, Pedal und Positiv sind von außen erkennbar, Récit und Solowerk sind innerhalb des Gehäuses untergebracht. Das mit 18 Registern besetzte Schwellwerk steht hinter dem Ziergitter zwischen Positiv und Hauptwerk. Die drei Zungenregister des Solowerkes sind oben hinter dem Hauptwerk liegend angebracht. Sie wurden als englische Tuben gebaut, damit sie ihre Kraft vom Grundton her entwickeln und nicht durch obertonreiche Schärfe klanglich aufgesetzt wirken. Dieser Werkaufbau erlaubte es, die Trakturen einarmig und mit einem Minimum an Winkeln und Umlenkungen zu bauen. Die einfache Trakturführung mit wenig Masse und geringen Reibungsverlusten macht es möglich, dass alle Koppeln rein mechanisch gebaut werden konnten. Es gibt keine Barkerhebel oder Balanciers. Dennoch ist das Werk mit gekoppelten Manualen für das romantisch-virtuose Spiel nutzbar. Alle Werke besitzen Schleifladen. Die Elektrogebläse speisen zwei getrennte Windkreisläufe. Die Registertraktur ist mechanisch und elektrisch als Doppelregistratur angelegt. Die leicht greifbaren Registerzüge machen es möglich, drei oder vier Register auf einmal zu ziehen. Die zusätzlich eingebaute Setzeranlage mit vier mal acht Kombinationen auf 99 Ebenen verfügt über ein Diskettenlaufwerk, mit dem sich Registrierungen speichen und abrufen lassen. So war es möglich, den Spieltisch sehr schlicht zu gestalten. Neben der Setzerleiste unter dem ersten Manual gibt es nur noch die vier Pedalkoppeln und Sequenzer vorwärts und rückwärts als Fußtritte. Auf der Orgelempore ist Platz für etwa 70 Chorsänger oder ein größeres Orchester. Die Brüstung ist mit dünnen Drahtseilen abgegrenzt. Die Rückenlehnen der Bänke im vorderen Hauptschiff der Kirche sind umklappbar. So können etwa 300 Zuhörer bei Orgelkonzerten so sitzen, dass sie Instrument und Spieler sehen. Der Treppenaufgang umschließt eine Säule, auf der sich die König-David-Figur befindet, die bereits Bestandteil der Schwalbennestorgel von 1598 war. Im „Lautsprechergitter“ der Außentüren des Gehäuses befinden sich jeweils drei Figuren, die Orgelbauertätigkeiten darstellen. Nach Plänen von Jakob Schmidt (Orgelbau Goll) wurden sie von der Luzerner Kunstschnitzerin Vreni Tscholitsch geschaffen. Die Disposition wurde von den Orgelsachverständigen Thomas Rothert und Hans-Eberhard Roß zusammen mit Beat Grenacher (Orgelbau Goll) entwickelt. Verwirklicht wurde eine individuelle Disposition, wenngleich das Klangbild aufgrund der bassschwachen Akustik der Kirche an den Orgeln Cavaillé-Colls ausgerichtet wurde. Das Jahr über finden Orgelkonzerte und Sinfoniekonzerte mit Orgelbegleitung statt. Auf dem Instrument wurden auch zahlreiche Aufnahmen eingespielt. Disposition seit 1998 Koppeln: II/I, III/I, IV/I, III/II, IV/III, I/P, II/P, III/P, IV/P. Spielhilfen: Elektronische Setzeranlage mit Sequenzschalter und Diskettenlaufwerk. Technische Daten 62 Register, 82 Pfeifenreihen, 4.285 Pfeifen. Körperlänge der größten Pfeife: 4,80 Meter. Körperlänge der kleinsten Pfeife: 15 mm. Gewicht der Orgel: 16.000 kg. Gehäuse/Prospekt: Material: Eichenholz. Höhe: 13,9 m. Breite: 9,10 m. Tiefe: 3,72 m. Details der elektrischen Anlagen: Spannung: 24 V. Windversorgung: Gebläse: 2 Windmotoren. Luftleistung: 28/15 m³, Winddrücke 120/135 mmWS. Bälge: 5 Stück. Winddrücke: Hauptwerk: 80 mmWS. Positiv: 75 mmWS. Récit: 90 mmWS. Solo: 125 mmWS. Pedal: 80 mmWS. Spieltisch(e): Spielschrank. Pedal: Parallel, doppelt geschweift. Registerzüge: Zwetschgenholz mit eingelegtem Porzellanschild. Traktur: Tontraktur: Mechanisch. Registertraktur: Mechanisch und Elektrisch (Doppeltraktur). Stimmung: Höhe a1 = 440 Hz bei 14 °C. Stimmung gleichschwebend. Organisten 1950: Hermann Pauli 1958–1990: Rudolf Ellwein (1927–2008) Seit 1991: Hans-Eberhard Roß (* 1962) Literatur Aufnahmen/Tonträger Die Goll-Orgel von St. Martin in Memmingen. 1999, Organum OGM 990035, CD (Hans-Eberhard Roß spielt Gigout, Franck, Bach, Eben, Vierne, Widor). Auch erschienen als Mon orgue c’est mon orchestre. Die große Goll-Orgel von St. Martin Memmingen. 1999, IFO records 00045, CD (Hans-Eberhard Roß spielt Werke von Eben, Franck, Pierné, Vièrne und Bach). Jan Welmers – Minimal Music for Organ. 2000, Audite aud 97.474, CD (Markus Goecke). Spiritual Movement Nr. 1 an der Goll-Orgel von St. Martin in Memmingen. 2002, Bebab Records München, CD (Barbara Dennerlein). Petr Eben – Das Orgelwerk Vol. 1. 2002, Motette-Ursina 12911, CD (Gunther Rost spielt Eben: Faust, Mutationes). Romantic and Virtuoso Works for Organ Vol. 1: Janes Parker-Smith At The Goll Organ Of St. Martin Memmingen. 2003, Avie Records AV 0034, CD (Werke von Lanquetuit, Boulnois, Mulet, Jongen, Whitlock, Demessieux, Bowen und Middelschulte). César Franck: Complete Organ Works Vol. 1 – From Prodigy to Composer. 2004, Audite aud 91.518, 2 SACD (Hans-Eberhard Roß). César Franck: Complete Organ Works Vol. 2 – Unrecognised Greatness. 2004, Audite aud 91.519, 2 SACD (Hans-Eberhard Roß). César Franck: Complete Organ Works Vol. 3 – Fulfilment and Farewell. 2004, Audite aud 91.520, 2 SACD (Hans-Eberhard Roß). Phantomes – An Organ Spectacular. 2004, Oehms OC 606, SACD (Harald Feller spielt Werke von Bach, Rossini/Lemare, Vierne, Rota, Williams/Feller, Schneider). César Franck. Jean Langlais. 2007, MDG 906 1437-6, SACD (Ulfert Schmidt). Marcel Dupré: Les vèpres de la Vierge. 2008, MOT 50854, SACD (Harald Feller (Orgel), Cantando Praedicare Göttingen unter der Leitung von Johanna Grüger). Faszination Orgel 1. 2009, CD (Hans-Eberhard Roß spielt Werke von Bach, Naujalis, Eben, Albéniz und Widor). Gloria. 2009, CD (Hedwig Bilgram (Orgel) und Gábor Boldoczki (Trompete) spielen Werke von Bach, Purcell, Albinoni, Händel und Stanley, Caccini und Gounod). Memminger Orgelfeuerwerk. 2009, Sonntagsblatt, CD (Hans-Eberhard Roß spielt Werke von Bach, Widor, Boëllmann, Vierne und Langlais; Teil des Orgel-Literaturkanons des Sonntagsblatts). Sechs Sinfonien von Louis Vierne. CD, Audite-Verlag, Organist Hans-Eberhard Roß, 2014 Film Faszination Orgel – Die Goll-Orgel von St. Martin Memmingen. 1998, Video Produktion Scholz Memmingen, Spieldauer 45 Minuten, Herausgeber: Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Martin Memmingen; Filmausschnitte. Weblinks Hörprobe mit virtuellem Rundgang durch die Orgel Teil 1, Teil 2 Offizielle Seite der Goll-Orgel von St. Martin Die heutige Orgel auf der Website von Orgelbau Goll Einzelnachweise Kultur (Memmingen) Memmingen, St. Martin (Memmingen) Memmingen, St. Martin (Memmingen) Memmingen, St. Martin (Memmingen) Memmingen, St. Martin (Memmingen) Memmingen, St. Martin (Memmingen) Erbaut in den 1990er Jahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor%20W.%20Adorno
Theodor W. Adorno
Theodor W. Adorno (geboren 11. September 1903 in Frankfurt am Main; gestorben 6. August 1969 in Visp, Schweiz; eigentlich Theodor Ludwig Wiesengrund) war ein deutscher Philosoph, Soziologe, Musikphilosoph, Komponist und Pädagoge. Er zählt mit Max Horkheimer zu den Hauptvertretern der als Kritische Theorie bezeichneten Denkrichtung, die auch unter dem Namen Frankfurter Schule bekannt wurde. Mit Horkheimer, den er während seines Studiums kennengelernt hatte, verband ihn eine enge lebenslange Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft. Adorno wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen in Frankfurt auf. Als Kind erhielt er eine intensive musikalische Erziehung, und bereits als Schüler beschäftigte er sich mit der Philosophie Immanuel Kants. Nach dem Studium der Philosophie widmete er sich der Kompositionslehre im Kreis der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg und betätigte sich als Musikkritiker. Ab 1931 lehrte er zudem als Privatdozent an der Universität Frankfurt bis zum Lehrverbot 1933 durch die Nationalsozialisten. Sein Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer wurde am 20. Februar 1935 abgelehnt. Während der Zeit des Nationalsozialismus emigrierte er in die USA. Dort wurde er Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, bearbeitete einige empirische Forschungsprojekte, unter anderem über den autoritären Charakter, und schrieb mit Max Horkheimer die Dialektik der Aufklärung. Nach seiner Rückkehr war er einer der Direktoren des in Frankfurt wiedereröffneten Instituts. Wie nur wenige Vertreter der akademischen Elite wirkte er als „öffentlicher Intellektueller“ mit Reden, Rundfunkvorträgen und Publikationen auf das kulturelle und intellektuelle Leben Nachkriegsdeutschlands ein und trug – mit allgemeinverständlichen Vorträgen – gewollt und mittelbar zur demokratischen Reeducation des deutschen Volkes bei. Adornos Arbeit als Philosoph und Sozialwissenschaftler steht in der Tradition von Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Sigmund Freud. Wegen der Resonanz, die seine schonungslose Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft unter den Studenten fand, galt er bei Befürwortern und Kritikern als einer der geistigen Väter der deutschen Studentenbewegung. Obwohl er die Kritik der Studenten an den restaurativen Tendenzen der spätkapitalistischen Gesellschaft teilte, stand er dem Wirken der Studentenbewegung wegen deren Hang zu blindem Aktionismus und wegen ihrer Gewaltbereitschaft mit Befremden und Distanz gegenüber. Leben Herkunft und Name Adorno wurde 1903 in Frankfurt als Theodor Ludwig Wiesengrund geboren. Er war das einzige Kind des Weingroßhändlers Oscar Alexander Wiesengrund (1870–1946) und der Sängerin Maria Calvelli-Adorno (1865–1952). Die katholische Mutter war Tochter eines korsischen Offiziers, der sich um 1860 als mittelloser Fechtmeister in der Freien Stadt Frankfurt niedergelassen hatte. Sie trat als ausgebildete Sängerin auch am kaiserlichen Hof in Wien, an der Wiener Oper und an den Stadttheatern Köln und Riga auf. Der Vater, Oscar Alexander Wiesengrund, stammte aus einer jüdischen Familie und gehörte zur Zeit der Geburt des Sohnes noch der mosaischen (jüdischen) Religion an, erst später konvertierte er zum Protestantismus. Die von Theodor vorgenommene Ergänzung des väterlichen Nachnamens um den Namen der Mutter soll ein Wunsch der Mutter gewesen sein, er erfüllte sich jedoch erst später. Während die ersten Veröffentlichungen noch mit „Wiesengrund“ gezeichnet waren, verwendete er in seiner publizistischen Tätigkeit früh den Doppelnamen „Wiesengrund-Adorno“. Eine Verkürzung auf „W. Adorno“ nahm er bei seinen Veröffentlichungen in der US-amerikanischen Emigration vor. Nach der formellen Einbürgerung als US-Bürger Ende 1943 lautete sein amtlicher Name „Theodore Adorno“. Seine Publikationen zeichnete er indes fortan mit Theodor W. Adorno. Frühe Frankfurter Jahre (bis 1924) Als Kind wurde der Junge „Teddie“ gerufen. Er wuchs in der Schönen Aussicht, Hausnummer 9, auf, einer Straße am Mainufer. Im Nebenhaus betrieb sein Vater eine Weinhandlung, zu der ein großes Weingut im Rheingau gehörte. 1914 zog die Familie in ein neu erbautes Haus im Stadtteil Oberrad in die Seeheimer Straße 19. Adorno wurde römisch-katholisch getauft und empfing die Erstkommunion. Auf Wunsch seiner gläubigen Mutter war er geraume Zeit auch als Ministrant tätig. Anders als etwa seine Jugendfreunde Leo Löwenthal und Erich Fromm, die sich in dem – in Frankfurt einflussreichen – Freien Jüdischen Lehrhaus betätigten, hatte er zur Religion seiner väterlichen Vorfahren keine besondere Beziehung. Ein engeres Verhältnis zum Judentum gewann er erst unter dem Eindruck des Völkermords an den Juden. Die mit den Adornos befreundete Publizistin Dorothea Razumovsky brachte es auf den Punkt: Nicht sein toleranter und assimilierter Vater, sondern Hitler habe ihn zum Juden gemacht. Im Haushalt der Familie lebte auch die Sängerin und Pianistin Agathe Calvelli-Adorno, eine unverheiratete Schwester seiner Mutter, die Adorno als seine „zweite Mutter“ bezeichnete. Adornos „überaus behütete Kindheit“ war vornehmlich geprägt von den beiden „Müttern“. Von ihnen erlernte er das Klavierspiel. Die Musik bildete den kulturellen Mittelpunkt der kosmopolitisch ausgerichteten, großbürgerlichen Familie. So zog seine Mutter mit der Partie des Waldvögleins aus Richard Wagners Oper Siegfried durch Europa. Adorno wurde mit der kammermusikalischen und symphonischen Literatur durch das Vierhändigspielen vertraut gemacht und konnte somit seine musikalische Kompetenz schon früh ausbilden. Er nahm neben dem Schulunterricht bei Bernhard Sekles Privatstunden in Komposition. Die Sommer verbrachte die Familie im Odenwaldidyll Amorbach; seitdem galt ihm Amorbach „als die Wirklichkeit gewordene Utopie […], mit der Welt eins zu sein“. Nachdem er zwei Klassen übersprungen hatte, bestand der „privilegierte Hochbegabte“ 1921 am Kaiser-Wilhelms-Gymnasium (heute Freiherr-vom-Stein-Schule) in Frankfurt bereits mit 17 Jahren das Abitur als Jahrgangsbester. Als Primus erlebte er Ressentiment und Feindseligkeit, die eine solche Begabung auf sich ziehen kann. So erlitt er im Gymnasium Quälereien derjenigen, die „keinen richtigen Satz zustande brachten, aber jeden von mir zu lang fanden“ (GS 4: 219f). Philosophisch geschult wurde er durch seinen 14 Jahre älteren Freund Siegfried Kracauer, den er bei einer Freundin seiner Eltern kennengelernt hatte. Kracauer war ein bedeutender Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung. In einem Brief an Leo Löwenthal gestand er, zu seinem jüngeren Freund „eine unnatürliche Leidenschaft“ zu empfinden und sich für „geistig homosexuell“ zu halten. Gemeinsam lasen sie über Jahre hinweg regelmäßig an Samstagnachmittagen Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, eine Erfahrung, die nach Adornos Selbstzeugnis für ihn prägend war: „Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, daß ich dieser Lektüre mehr verdanke als meinen akademischen Lehrern“ (GS 11: 388). Als Abiturient las er fasziniert die gerade erschienenen Bücher Die Theorie des Romans von Georg Lukács und Geist der Utopie von Ernst Bloch. Im Gymnasium erlernte er Latein, Griechisch und Französisch; später in der Emigration kam Englisch hinzu. An der Universität Frankfurt belegte er ab 1921 Philosophie, Musikwissenschaft, Psychologie und Soziologie; zur gleichen Zeit begann er seine Tätigkeit als Musikkritiker. Philosophie hörte er bei Hans Cornelius, Soziologie bei Gottfried Salomon-Delatour und Franz Oppenheimer. In der Universität traf er 1922 in einem Seminar auf Max Horkheimer, mit dem er theoretische Anschauungen teilte und Freundschaft schloss. Auch mit Walter Benjamin, den er durch Vermittlung Kracauers als Student kennengelernt hatte, pflegte er eine enge und dauerhafte Freundschaftsbeziehung. Das Studium absolvierte er sehr zügig: Ende 1924 schloss er es mit einer Dissertation über Edmund Husserls Phänomenologie mit summa cum laude ab. Die Arbeit, die er im Geist seines Lehrers Cornelius abfasste, enthielt reine Schulphilosophie, die noch wenig von Adornos späterem Denken ahnen ließ. Aus der Geschäftsbeziehung zwischen der Frankfurter Weinhandlung Oscar Wiesengrund und der Berliner Fabrik für Lederverarbeitung Karplus & Herzberger entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Eigentümer-Familien beider Firmen. Zwischen dem temperamentvollen jungen „Teddie“ Wiesengrund und der Berlinerin Margarete (Rufname: Gretel) Karplus kam es zu einer Liebesbeziehung, die zu einer lebenslangen Bindung führen sollte. Aufenthalt in Wien (1925–1926) Im März 1925 zog Adorno nach Wien, der Geburtsstätte der Zwölftonmusik, wo er sich ein Zimmer in der Pension „Luisenheim“ im 9. Bezirk nahm. Bei Alban Berg, dem Schüler Arnold Schönbergs, begann er ein Aufbaustudium in Komposition und bei Eduard Steuermann nahm er gleichzeitig Klavierunterricht. Adorno hatte Alban Berg anlässlich der Uraufführung seiner Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester aus Wozzeck 1924 in Frankfurt kennengelernt. Der aus Polen stammende Steuermann, der die meisten Klavierwerke Schönbergs uraufgeführt hatte, war der maßgebliche Pianist der Zweiten Wiener Schule, mit deren Begründer er ebenfalls zusammentraf. Adorno schätzte Schönberg als „revolutionären Veränderer der überlieferten Kompositionsweise“. Dessen Zwölftonkompositionen würdigte er später (1949) in der Philosophie der neuen Musik. Persönlich jedoch entwickelte sich eine „wechselseitige Antipathie“ zwischen beiden. Schönberg hielt Adornos „Schreibstil für manieriert, die musiktheoretische Begriffsbildung für zu unverständlich“ und glaubte, dass dies der Neuen Musik in der öffentlichen Wirkung schade. Adornos musikästhetische Wertschätzung und persönliche Sympathie galten vor allem Alban Berg, zu dem er eine freundschaftliche Beziehung pflegte, die sich bis zu dessen frühem Tod (1935) in einem intensiven Briefwechsel niederschlug. Später veröffentlichte er über ihn die Monographie Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs (1968). Schon im ersten Jahr seines Aufenthalts in Wien verfasste er Aufsätze über Werke von Berg und Schönberg. Er setzte damit seine bereits als Student aufgenommene musikkritische Tätigkeit fort, die er 1928 mit dem Eintritt in die Redaktion der musikalischen Avantgarde-Zeitschrift Anbruch fundieren konnte. Adornos Bestreben, die Zeitschrift als musikpolitisches Machtinstrument zur Durchsetzung avancierter Musik zu nutzen, war jedoch auf Widerstand in der Redaktion gestoßen, aus der er dann 1931 offiziell ausschied. Die Jahre seines Wiener Aufenthalts waren für Adorno die kompositorisch intensivsten. Unter seinen Kompositionen machen eine Reihe von Klavierliederzyklen den umfangreichsten und auch gewichtigsten Teil aus. Daneben schrieb er Orchesterstücke, Kammermusik für Streicher und A-cappella-Chöre und bearbeitete französische Volkslieder. Zusammen mit Berg besuchte er Lesungen von Karl Kraus. Dessen spektakuläre Vortragsweise machte auf ihn anfänglich den Eindruck eines „halb priesterlichen und halb clownesken Komödianten“, erst später, vermittelt durch Lektüre, begann er ihn zu schätzen. Zu den zahlreichen Bekanntschaften, die er in Wien machte, zählte die von Georg Lukács, der hier unter schwierigen Lebensbedingungen als Emigrant lebte. Gegenüber Berg gestand er, dass Lukács ihn „geistig […] tiefer fast als jeder andere beeinflusst“ habe. Dessen Theorie des Romans hatte ihn bereits als Abiturient begeistert und dessen 1922 in Wien abgeschlossene Arbeit Geschichte und Klassenbewußtsein war für seine Marx-Rezeption (wie für die seiner engeren Freunde) eminent wichtig. Eine enge Freundschaft verband ihn in dieser Zeit auch mit dem Prager Schriftsteller und Musiker Hermann Grab. Das intellektuelle und künstlerische Milieu der Wiener Moderne um die Jahrhundertwende prägte anhaltend nicht nur Adornos Musiktheorie, sondern auch seine Kunstauffassung. Mit Alban Berg und dessen Frau Helene besuchte er nicht nur Konzerte und Opern; die Bergs führten ihn auch in exzellente Restaurants. Überhaupt genoss er die sinnliche Lebensfreude der Donaumetropole, inklusive „vorsichtig erprobter Liebschaften“. In die Wiener Zeit fällt ein knapp dreiwöchiger Aufenthalt mit Siegfried Kracauer am Golf von Neapel (September 1925), wo beide mit Walter Benjamin und Alfred Sohn-Rethel zu fruchtbarem Gedankenaustausch zusammentrafen. Martin Mittelmeier interpretiert diesen Aufenthalt als einen Wendepunkt in der intellektuellen Biographie Adornos. Hier habe er unter dem Einfluss Benjamins die für seine Texte bedeutsamste Darstellungsform, die „Konstellation“, gefunden. Mittlere Frankfurter Jahre (1926–1934) Zurück aus Wien, widmete er sich der musikpublizistischen Tätigkeit und dem Komponieren. Daneben begann Adorno die Arbeit an einer Habilitationsschrift. Die Ergebnisse einer ausführlichen Beschäftigung mit der Psychoanalyse verarbeitete er in einer umfangreichen philosophisch-psychologischen Abhandlung mit dem Titel Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre, die er seinem Doktorvater Cornelius vorlegte. Nachdem dieser Bedenken geäußert hatte, denen sich sein Assistent Horkheimer anschloss, zog Adorno 1928 das Habilitationsgesuch zurück. Cornelius hatte bemängelt, dass die Arbeit zu wenig originell sei und sein eigenes, Cornelius’ Denken paraphrasiere. Die Jahre 1928–1930 waren für Adorno Jahre der beruflichen Ungewissheit. Vergeblich bemühte er sich um eine feste Anstellung als Musikkritiker bei Ullstein in Berlin. Zahlreiche Kompositionen und musikkritische Beiträge aus dieser Zeit zeugen indessen von nicht erlahmter Produktivität. Über seine finanzielle Lage brauchte er sich keine Sorgen zu machen, sein Vater hatte ihm weitere Unterstützung zugesagt. Adorno weilte in diesen Jahren mehrfach in Berlin bei der – mit ihm inzwischen verlobten – promovierten Chemikerin und Unternehmerin Gretel Karplus. Mit ihr unternahm er auch mehrere Reisen, u. a. nach Amorbach, Italien und Frankreich. Während der Aufenthalte in Berlin traf er mit vielen zeitgenössischen Autoren und Künstlern zusammen, u. a. mit Ernst Bloch, Kurt Weill, Hanns Eisler und Bertolt Brecht. Adorno konzentrierte sich zudem auf die Abfassung einer zweiten Habilitationsschrift. Er hatte das Angebot des 1929 auf einen philosophischen Lehrstuhl neu berufenen evangelischen Theologen Paul Tillich, bei ihm zu habilitieren, angenommen. Nachdem er binnen eines Jahres die Arbeit über den dänischen Existentialphilosophen und Hegel-Kritiker Kierkegaard niedergeschrieben hatte, reichte er sie unter dem Titel Kierkegaard – Konstruktion des Ästhetischen ein und wurde damit im Februar 1931 an der Frankfurter Universität habilitiert. Die stark überarbeitete Buchausgabe (1933) trug die Widmung: „Meinem Freunde Siegfried Kracauer“. Kontakt zu linksorientierten Frankfurter Intellektuellen pflegte er in einem Kreis, „Kränzchen“ genannt, der im lockeren Turnus im Café Laumer zur Diskussion zusammentraf. Zu ihm gehörten Horkheimer, Tillich, Friedrich Pollock, der Nationalökonom Adolf Löwe und der frisch berufene Soziologe Karl Mannheim. Obwohl noch ohne Habilitation, genoss Adorno „das Privileg“, zu jenem „Kränzchen“ geladen zu werden. Nachdem Adorno die Venia legendi verliehen worden war, hielt er im Mai 1931 seine Antrittsvorlesung als Privatdozent für Philosophie; ihr Titel: Die Aktualität der Philosophie, die viele Gedanken enthielt, die in sein späteres Werk eingingen. Im Auftrag Tillichs hatte Adorno schon vor der Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität Seminare veranstaltet. Sie waren, wie die nach seiner Ernennung zum Privatdozenten selbstständig durchgeführten Kollegs, der Ästhetik gewidmet. Nach der ihm erteilten Lehrbefugnis verblieben ihm noch vier Semester an der Frankfurter Universität. Zu den angebotenen Lehrveranstaltungen gehörten – neben „Kierkegaard“ und „Erkenntnistheoretische Übungen (Husserl)“ – „Probleme der Kunstphilosophie“, eine Veranstaltung, in der er sich mit Benjamins Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels befasste, die Benjamin bereits 1925 als Habilitationsschrift bei der Frankfurter Philosophischen Fakultät eingereicht hatte und die von dieser abgelehnt worden war. Vor seiner Emigration in die USA gehörte Adorno noch nicht zu den offiziellen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung (anders als Horkheimer, Pollock, Fromm und Löwenthal), publizierte aber bereits im ersten Heft der von Horkheimer seit 1932 herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung den Aufsatz Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. Darin untersuchte er ideologiekritisch die Produktion und Konsumtion von Musik in der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft. Adornos Lehrtätigkeit endete mit dem Wintersemester 1933. Das nationalsozialistische Regime entzog ihm im Herbst die Befugnis zur akademischen Lehre wegen seiner väterlicherseits jüdischen Abstammung. Wie viele andere Intellektuelle seiner Zeit erwartete er keine lange Dauer des neuen Regimes und räumte rückblickend ein, dass er die politische Lage 1933 völlig falsch beurteilt hatte. Er machte sich anfangs sogar noch Hoffnung auf den Posten eines Musikkritikers bei der Vossischen Zeitung. In der Zeitschrift Europäische Revue glossierte er das von den Nationalsozialisten durchgesetzte Verbot des „Negerjazz“ dahingehend, dass das Dekret nachträglich bestätige, was sich musikalisch bereits vollzogen habe. Auch lobte er 1934 Männerchöre, die vertonte Gedichte von Hitlers Jugendführer Baldur von Schirach sangen. Im Wintersemester 1962/63 von der Frankfurter Studentenzeitung Diskus mit diesen Veröffentlichungen konfrontiert, bedauerte er in einem offenen Brief seine „dumm-taktischen Sätze“, die der Torheit dessen zuzuschreiben seien, „dem der Entschluß zur Emigration unendlich schwer fiel“. Wie naiv er die anfängliche Lage nach der nationalsozialistischen Machtergreifung beurteilte, zeigt ein Brief vom 15. April 1933 an den sich im Pariser Exil befindlichen Siegfried Kracauer, in dem er ihm riet, nach Deutschland zurückzukehren, denn: „Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung, ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren. [...] auch ein übereilter und kostspieliger Umzug [nach Paris] schiene mir bedenklich“. Leo Löwenthal vermerkte: „wir mußten ihn fast physisch dazu zwingen, endlich Deutschland zu verlassen“. Zwischenstation Oxford (1934–1937) Als durch die nationalsozialistische Rassengesetzgebung definiertem „Halbjuden“ blieb Adorno zunächst noch Bewegungsspielraum im nationalsozialistisch regierten Deutschland. Unter Beibehaltung seines amtlich gemeldeten Wohnsitzes in Frankfurt ging er nach Großbritannien, wo er, obwohl bereits deutscher Philosophiedozent, nur als advanced student im Fach Philosophie am Merton College in Oxford aufgenommen wurde. Er plante, mit einer Arbeit über die Philosophie Edmund Husserls den akademischen Grad Ph.D. zu erwerben. Sein Tutor war Gilbert Ryle, kompetenter Kenner der deutschen Philosophie, insbesondere Husserls und Heideggers, und später berühmter Autor von The Concept of Mind. Kontakt hatte er auch zu dem Ideengeschichtler Isaiah Berlin. Wie er Freunden mitteilte, arbeitete er „in einer unbeschreiblichen Ruhe und unter sehr angenehmen äußeren Arbeitsbedingungen“ (Brief an Ernst Krenek), wenngleich er „das Leben eines mittelalterlichen Studenten mit Cap und Gown“ zu führen gezwungen war, wie er an Walter Benjamin schrieb. Die Oxforder Jahre nutzte Adorno nicht nur für seine Husserl-Studien. Er schrieb eine kritische Abhandlung über die Wissenssoziologie Karl Mannheims und musiktheoretische Artikel für die der Avantgarde verpflichteten Wiener Musikzeitschrift 23 sowie den Aufsatz Über Jazz, der 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler erschien und bis über Adornos Tod hinaus heftigste Reaktionen hervorrief. Da die damaligen Devisenbestimmungen nur die Ausfuhr geringer Beträge erlaubten, kehrte Adorno, um sein Leben in Oxford finanzieren zu können, regelmäßig nach den Semestern zu längeren Aufenthalten nach Deutschland zurück – in ein Land, das ihm zur „Hölle“ geworden war, wie er dem in die USA emigrierten Horkheimer schrieb. Er traf dort neben Freunden seine Eltern und seine Verlobte, für die, als Jüdin, das Leben in Deutschland immer prekärer wurde und die daher im August 1937 nach London übersiedelte, wo beide am 8. September 1937 im Standesamt des Districts Paddington heirateten. Einer der Trauzeugen war Horkheimer, der zu dieser Zeit, aus den USA kommend, die Zweigstellen des Instituts für Sozialforschung in Europa (Genf, Paris, London) bereiste. Adorno bestand auf einer traditionellen Arbeitsteilung mit seiner Frau: „er dachte nicht im entferntesten daran, sich an der Organisation und Führung des Haushaltes zu beteiligen“. Während dieser Zeit unterhielt Adorno einen intensiven Briefwechsel mit dem bereits im amerikanischen Exil lebenden Max Horkheimer, den er im Dezember 1935 in Paris getroffen und im Juni 1937 für zwei Wochen in New York besucht hatte. Horkheimer machte ihm schließlich das Angebot, in den USA eine existenzsichernde wissenschaftliche Tätigkeit aufzunehmen und offizieller Mitarbeiter in seinem Institut für Sozialforschung zu werden. Mitte Dezember 1937 verbrachten die Adornos noch einen Urlaub an der Ligurischen Küste, wo sie sich mit Walter Benjamin trafen, und in Brüssel verabschiedete sich Adorno von den Eltern, die später nachkommen sollten. Emigrant in den USA (1938–1953) Horkheimers Einladung folgend, siedelte Adorno mit seiner Frau im Februar 1938 in die USA über und emigrierte damit aus dem Dritten Reich. Seinen Eltern, die bei den antijüdischen Ausschreitungen während der Novemberpogrome 1938 misshandelt und verhaftet worden waren, gelang im Jahr darauf die Ausreise nach Havanna. Nachdem die Adornos in den ersten Wochen eine provisorische Wohnung in Greenwich Village (New York City) bezogen hatten, mieteten sie ein Apartment unweit der Columbia University, die dem Institut für Sozialforschung (nunmehr unter dem Namen Institute of Social Research) ein Gebäude zur Verfügung gestellt hatte. Das Paar richtete sich hier mit den aus Deutschland verschifften Möbeln ein und hatte von Anfang an keinen Mangel an privaten Kontakten und Beziehungen. Gleich nach seiner Ankunft wurde Adorno Mitarbeiter des Princeton Radio Research Projects, eines von dem österreichischen Soziologen Paul Lazarsfeld geleiteten größeren Forschungsvorhabens. Adorno wurde die Durchführung eines Teilprojekts für den Bereich der Musik übertragen, die für ihn eine gänzlich ungewohnte und aufreibende Tätigkeit bedeutete. Während er seine Arbeit zur Hälfte dem empirischen Projekt widmete, war er zur anderen Hälfte als nunmehr offizieller Mitarbeiter an Horkheimers Institute of Social Research tätig (GS 10/2: 705) und neben Leo Löwenthal für die redaktionelle Arbeit an der Zeitschrift für Sozialforschung verantwortlich. Überdies beteiligte er sich an den Seminaren, Vorträgen und internen Diskussionen über den Charakter des Nationalsozialismus. Da Adorno auf seiner kritischen Einstellung gegenüber dem administrative research beharrte, kam es zu einem „anhaltenden Disput zwischen dem Musiktheoretiker und dem Sozialforscher“, der schließlich dazu führte, dass Lazarsfeld die Zusammenarbeit nach zwei Jahren beendete. Horkheimer, der Adorno nach seinem Ausscheiden aus dem Radio-Projekt eine volle Institutsstelle zugesagt hatte, suchte in dieser Zeit die engere Zusammenarbeit mit ihm. Er hatte ihn als Mitarbeiter an dem schon länger geplanten Buch über „dialektische Logik“, das die Selbstzerstörung der Vernunft zum Thema haben sollte, vorgesehen. Ab Herbst 1939 fanden zwischen beiden Gespräche statt, die Gretel Adorno teilweise protokollierte. Zeitweilig war auch Herbert Marcuse, der damalige „hauptamtliche Philosoph des Instituts“, mit dem Horkheimer in New York an einer materialistischen Kritik des Idealismus arbeitete, ebenfalls für die Mitarbeit vorgesehen. Da Horkheimer keineswegs mit letzter Deutlichkeit ausgeschlossen hatte, ihn an dem Dialektik-Buch zu beteiligen, war Adorno, „nicht frei von Eifersucht, […] alles dran gelegen, mit Horkheimer exklusiv das Buch zu schreiben“. Bereits im Mai 1935 hatte Adorno aus Oxford an Horkheimer über Marcuse geschrieben, es mache ihn traurig, dass „Sie philosophisch unmittelbar mit einem Mann arbeiten, den ich schließlich für einen durch Judentum verhinderten Faszisten halte“. Horkheimer und seine Frau Maidon siedelten 1940, vorwiegend aus gesundheitlichen Gründen – vor allem Maidon litt unter dem New Yorker Klima –, nach Los Angeles über und bezogen in Pacific Palisades einen eigens für sie gebauten Bungalow. Die Adornos zogen im November 1941 nach und dort in ein gemietetes Haus ein. Beide wohnten in unmittelbarer Nähe und zudem in Nachbarschaft einer Kolonie deutscher und österreichischer Emigranten, wie Berthold und Salka Viertel, Thomas und Katia Mann, Hanns Eisler, Bertolt Brecht und Helene Weigel, Max Reinhardt, Arnold Schönberg und vielen anderen. Die meisten von ihnen waren gekommen, weil sie sich Aufträge von der Filmindustrie in Hollywood erhofften. Anfang 1942 begannen Adorno und Horkheimer mit der Arbeit an dem Buch, das später den Titel Dialektik der Aufklärung tragen sollte. Mit ihm entstand als Gemeinschaftsarbeit beider, unter Mithilfe von Adornos Frau Gretel, das Hauptwerk der Kritischen Theorie, das erstmals 1944 im Herstellungsverfahren der Mimeographie unter dem Titel Philosophische Fragmente mit der Widmung „Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag“ im Verlag des New York Institute of Social Research erschien und in seiner endgültigen Form 1947 im Amsterdamer Querido Verlag veröffentlicht wurde. Angesichts des an den Juden und anderen Bevölkerungsgruppen verübten Massenmords legten die beiden Autoren eine Geschichtsphilosophie der Gesellschaft nach Auschwitz vor, die eine grundsätzliche Kritik der Aufklärung darstellte, deren Fortschrittsoptimismus obsolet geworden sei. Programmatisch heißt es gleich auf der ersten Seite, es gehe um „die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (GS 3: 11). Dies zu erklären, setzte das Buch mit der dialektischen These einer Verschränkung von Vernunft und Mythos, von Natur und Rationalität ein. Die Vernunftkritik erfolgte aus einer katastrophischen Perspektive. Über das Ende des nationalsozialistischen Regimes und Hitlers Tod äußerte Adorno sich in privaten Briefen an seine Eltern (1. Mai 1945) und an Horkheimer (9. Mai 1945) mit einer Mischung aus Gefühlen von Freude, Trauer und Sarkasmus. Hartmut Scheible bezeichnet die Jahre in Kalifornien als die fruchtbarsten in Adornos Leben. Hier entstanden neben der Dialektik der Aufklärung die Minima Moralia und die Philosophie der neuen Musik. Für Rolf Wiggershaus stellten die Minima Moralia „so etwas wie die aphoristische Fortsetzung“ der Dialektik der Aufklärung dar. In diese Jahre fällt auch die Zusammenarbeit mit Thomas Mann, der für seinen Roman Doktor Faustus zahlreiche Anregungen aus Adornos Manuskript zur Philosophie der neuen Musik bezog, insbesondere aus dem ersten Teil über Schönberg. Im September 1943 hatte Thomas Mann Adorno in sein Haus am San Remo Drive eingeladen und aus dem achten Kapitel vorgelesen. Adornos Einwände und Ergänzungsvorschläge, die er „zunächst spontan, dann in schriftlicher Form machte, hat der Autor für die ersten Kapitel seines Romans […] weitgehend berücksichtigt“. Er verdankte Adorno als dem intimen Kenner der Musik-Avantgarde wichtige Auskünfte zu musikphilosophischen und kompositionstechnischen Fragen. Bis ins kleinste musikalische Detail profitierte Thomas Mann sowohl in Gesprächen anlässlich mehrerer wechselseitiger Einladungen beider Familien, als auch durch die Korrespondenz von der Expertise eines „so erstaunlichen Kenners“ (Mann über Adorno). Mann bedankte sich für diese Zusammenarbeit mit einer Anspielung auf Adorno im Roman. Dort wird das „d-g-g-“-Thema des zweiten Satzes von Beethovens Sonate op. 111 (Arietta) u. a. mit dem Wort „Wiesengrund“ unterlegt. Die Ähnlichkeit, die laut Hans Mayer der als Musikkritiker figurierende Teufel mit Adorno haben soll, nennt Thomas Mann „ganz absurd“. Hanns Eisler, mit dem Adorno seit 1925 befreundet war und der nur ein paar Straßen weiter wohnte, trat im Dezember 1942 an Adorno mit dem Vorschlag heran, zusammen ein Buch über Filmmusik zu schreiben. Das 1944 auf Deutsch abgeschlossene Buch erschien erst 1949 unter dem Titel Composing for the Films auf Englisch, mit Eisler als alleinigem Autor. Adorno, der in einem Brief an seine Mutter beanspruchte, 90 Prozent des Textes verfasst zu haben, war als Co-Autor zurückgetreten, weil Eisler, ein Anhänger des Sowjetmarxismus, vor das Committee of Un-American Activities zitiert worden war und Adorno nicht „Märtyrer einer Sache“ werden wollte, „die nicht die meine war und nicht die meine ist“ (GS 15: 144), wie er 1969 im Nachwort zum Erstdruck der Originalfassung rückblickend sich rechtfertigte. Nachdem Anfang 1944 das Manuskript des Dialektik-Buchs – zunächst noch mit Philosophische Fragmente betitelt – abgeschlossen worden war, begann Adorno, an dem gemeinsam von der University of Berkeley und dem Institute of Social Research betriebenen, großangelegten Forschungsprojekt zum Thema Antisemitismus mitzuwirken. Seine letzte Tätigkeit in den USA trat er im Oktober 1952 als Forschungsdirektor der Hacker Psychiatric Foundation an und befasste sich in dieser Eigenschaft mit inhaltsanalytischen Untersuchungen über Zeitungshoroskope und Fernsehserien. Nachdem er mit dem Aggressionsforscher Friedrich Hacker in konfliktreiche Auseinandersetzungen geraten war, kündigte er seine Stellung und kehrte im August 1953 nach Deutschland zurück. So kritisch der Emigrant Adorno auch die in den USA beobachtete konformistische Gleichschaltung, die konsequente „Hereinziehung der Kulturprodukte in die Warensphäre“ beurteilte, ja, das Schreckbild einer möglichen Konvergenz des „europäischen Faschismus und der amerikanischen Unterhaltungsindustrie“ heraufziehen sah, behielt er als „existentielle Dankespflicht“ im Gedächtnis, dass er den USA seine „Rettung vor der nationalsozialistischen Verfolgung“ zu verdanken hatte. Späte Frankfurter Jahre (1949–1969) Im Oktober 1949 kehrte Adorno erstmals aus den USA wieder nach Deutschland zurück. Unmittelbarer Grund war die Vertretung Horkheimers an der Frankfurter Universität, die Horkheimer bereits 1949 wieder zum ordentlichen Professor, diesmal für Philosophie und Soziologie, berufen hatte. Nach wechselnden Aufenthalten in Deutschland und den USA kehrte Adorno im August 1953 endgültig nach Deutschland zurück, wo ihn die Frankfurter Universität vom außerplanmäßigen (1950) zum planmäßigen außerordentlichen Professor (1953) und schließlich 1956 zum ordentlichen Professor für Philosophie und Soziologie ernannte. Adornos Motivation zur Rückkehr nach Deutschland war nach eigener Aussage subjektiv durch Heimweh und objektiv durch die Sprache bestimmt. Er war auf die deutsche Sprache angewiesen, die für ihn eine „besondere Verwandtschaft zur Philosophie“ habe. Sein Denken „ließ sich nicht von der deutschen Sprache lösen“. Als Wissenschaftler war er zurückgekommen, um an seiner Heimatuniversität an die ihm 1933 entzogene Privatdozentur für Philosophie anzuknüpfen. Er wurde aber bald als Repräsentant einer anderen Disziplin, der Soziologie, bekannt, für die er während seiner Emigrationsjahre vielfältige Qualifikationen erworben hatte. Über die frühen Erfahrungen, die Adorno im besiegten Deutschland machte, äußerte er sich einerseits sehr kritisch: Man treffe so gut wie keine Nationalsozialisten, keiner wolle es gewesen sein und man habe von allem nichts gewusst, andererseits lobte er an den Studenten eine „leidenschaftliche Teilnahme“. Mit der Dichterin Marie Luise Kaschnitz schloss er Freundschaft; eine enge Zusammenarbeit entstand mit den beiden Herausgebern der Frankfurter Hefte, Walter Dirks und Eugen Kogon. Von den alten Institutsmitarbeitern war außer Horkheimer und Adorno nur noch Friedrich Pollock nach Frankfurt zurückgekehrt; Fromm, Löwenthal, Marcuse, Franz Neumann und Karl August Wittfogel zogen es vor, in den USA ihre akademische Karrieren fortzusetzen. Für das am 14. November 1951 in einem neuen Gebäude wiedereröffnete Institut für Sozialforschung war Adorno von Anfang an als stellvertretender Direktor mitverantwortlich. Das Institut war die erste akademische Einrichtung, die ein Soziologiestudium im Deutschland der Nachkriegszeit ermöglichte. Nach dem Rückzug Horkheimers nach Montagnola in der Schweiz ruhte die Hauptarbeit faktisch auf Adornos Schultern. 1958 übernahm er offiziell die Leitung des Instituts. In seiner Frau Margarete fand er eine „wesentliche Stütze seines Schaffens“ und eine aktive Mitarbeiterin. Gemeinsam mit ihm betrat sie morgens das Institut und verließ es abends mit ihm. In ihrem eigenen Büro redigierte sie penibel alle Texte Adornos vor der Drucklegung. Selten verpasste sie eine seiner Vorlesungen. Den Studenten stand sie als „Beichtmutter“ und Vermittlerin zum „Übervater“ bei. Dass ihre Ehe kinderlos blieb, war eine von beiden bewusst getroffene Entscheidung, die sie den ungewissen Zeitumständen und Zukunftsperspektiven zuschrieben. Die wissenschaftliche Produktivität, die Adorno in den USA auf dem Gebiet der Sozialforschung entfaltet hatte, trug dazu bei, dass er in Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren als einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Soziologie anerkannt wurde. Nachdem 1955 Ludwig von Friedeburg als der für die empirischen Forschungsprojekte verantwortliche neue Abteilungsleiter des Instituts eingestellt worden war, zog sich Adorno allmählich aus der empirischen Forschung zurück, wiewohl er sich in der Folgezeit weiterhin zum Verhältnis von theoretischer Reflexion und empirischer Forschung zu Wort meldete. Seine Skepsis steigerte sich zur Polarisierung im sogenannten Positivismusstreit, der 1961 mit einem Referat von Karl Popper und dem Koreferat Adornos zur „Logik der Sozialwissenschaften“ auf einer Tübinger Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie begonnen hatte und an dessen weiterem Verlauf sich Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas und Hans Albert beteiligten. Von 1962 bis 1969 hatte Adorno eine Affäre mit der Münchnerin Arlette Pielmann, die ihn regelmäßig in Frankfurt besuchte. Adornos Ehefrau Gretel wusste darüber Bescheid und duldete dies, ohne es zu billigen. Von 1963 bis 1967 amtierte Adorno als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und zeichnete für den 16. Deutschen Soziologentag verantwortlich, der unter dem Titel Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft 1968 in Frankfurt am Main veranstaltet wurde. Der Zeitpunkt fiel mit dem Höhepunkt der Studentenbewegung zusammen. Die Vortragenden und Diskutanten auf den Podien reagierten meist gelassen auf wiederholte Störungen, Unterbrechungen und andere Regelverletzungen der Studenten. Neben seiner Tätigkeit als Universitätslehrer und als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung verfasste Adorno bedeutende philosophische Schriften. Bereits 1951 war die aus der Emigration mitgebrachte und erweiterte Sammlung von Aphorismen: Minima Moralia erschienen, die er Max Horkheimer gewidmet hatte. Das mehr als 100.000-mal verkaufte Buch enthält die berühmt gewordene Sentenz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (GS 4: 43). Das 1956 publizierte Werk über Husserl, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, ging in Teilen noch auf die Oxforder Studien zurück. Sein philosophisches Hauptwerk ist die Negative Dialektik, die Adorno selbst als „Antisystem“ (GS 6: 10) charakterisierte (erschienen erstmals 1966). Am westdeutschen Musikleben der Nachkriegszeit nahm Adorno durch seine musikphilosophischen und musiksoziologischen Veröffentlichungen teil, wie mit der schon in der Emigration entstandenen Philosophie der neuen Musik (1949), den Monographien über Richard Wagner (1952), Gustav Mahler (1960) und Alban Berg (1968) sowie der Einleitung in die Musiksoziologie (1962), aber auch als Musiklehrer im Rahmen der bis in die späten 1960er Jahre im jährlichen Turnus stattfindenden Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, an denen er zwischen 1950 und 1966 als Referent und Kursleiter nahezu regelmäßig teilnahm. Außer der Musik war es die Literatur, die Adornos ästhetisches Denken beflügelte; seine philosophischen Ansichten zu dieser Kunstgattung legte er in zahlreichen Aufsätzen nieder, die in den vier Bänden der Noten zur Literatur zusammengefasst sind (GS 11). Mit Schriftstellern wie Ingeborg Bachmann, Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger pflegte er freundschaftliche Beziehungen. Er entwickelte eine starke Präsenz in den Medien, die ihn zum gefragten Kenner und Diskutanten nicht nur auf den Gebieten der Philosophie und Soziologie, sondern auch der Musiktheorie und Literaturkritik machte. In den letzten Lebensjahren arbeitete er an seiner posthum erschienenen Ästhetik. Adorno war ein geschätzter Hochschullehrer. Seit dem Ende der 1950er Jahre strömten Studenten aller Fachrichtungen in seine Vorlesungen, welche im größten Hörsaal der Universität stattfanden. Sein sich auf wenige Notizen stützender, in nuancierter Diktion frei formulierter Vortrag schlug viele in seinen Bann. Die letzten Jahre Adornos standen ganz im Zeichen von Konflikten mit seinen Studenten. Als sich aus der außerparlamentarischen Opposition (APO) gegen die von der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD gebildete Regierung und deren geplante Notstandsgesetze wie auch gegen den Vietnamkrieg eine neuartige Studentenbewegung mit dem SDS an der Spitze bildete, verschärften sich die Spannungen. Während Adorno sich den entschiedenen Kritikern dieser Gesetze anschloss und mit ihnen öffentlich auf einer Veranstaltung des Aktionskomitees Demokratie im Notstand am 28. Mai 1968 Stellung bezog, hielt er Distanz zum studentischen Aktionismus. Es waren Schüler Adornos, die den Geist der Revolte repräsentierten und „praktische Konsequenzen“ aus der Kritischen Theorie zu ziehen versuchten. Als der Polizist Karl-Heinz Kurras bei der Demonstration am 2. Juni 1967 in West-Berlin gegen den Schah den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, begann sich die APO zu radikalisieren. Unmittelbar nach dem Tod Ohnesorgs hatte Adorno vor Beginn seiner Ästhetik-Vorlesung seine „Sympathie für den Studenten“ ausgesprochen, „dessen Schicksal […] in gar keinem Verhältnis zu seiner Teilnahme an einer politischen Demonstration steht“. Die Köpfe der Frankfurter Schule hatten zwar Sympathie mit den studentischen Kritikern und deren Protesten gegen restaurative Tendenzen und „technokratische Hochschulreform“, waren aber nicht bereit, deren aktionistisches Vorgehen zu unterstützen; als „Pseudo-Aktivität“ und „Ungeduld gegenüber der Theorie“ bezeichnete Adorno es 1969 in seinem Rundfunkvortrag Resignation (GS 10/2 756 f.). Zum Verhältnis von Theorie und Praxis äußerte sich Adorno in einem längeren Spiegel-Interview im Mai 1969: „Ich habe neulich in einem Fernsehinterview gesagt, ich hätte zwar ein theoretisches Modell aufgestellt, hätte aber nicht ahnen können, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen. […] Seitdem es in Berlin 1967 zum erstenmal zu einem Zirkus gegen mich gekommen ist, haben bestimmte Gruppen von Studenten immer wieder versucht, mich zur Solidarität zu zwingen, und praktische Aktionen von mir verlangt. Das habe ich verweigert.“ Die Studenten agierten zunehmend gegen ihre einstigen Vorbilder, beschimpften sie in einem Flugblatt gar als „Büttel des autoritären Staates“. Adornos Vorlesungen wurden wiederholt von studentischen Aktivisten gesprengt, besonders spektakulär war eine Aktion (in den Medien zum sogenannten Busenattentat stilisiert) im April 1969, als Hannah Weitemeier und zwei andere Studentinnen Adorno mit entblößten Brüsten auf dem Podium bedrängten und ihn mit Rosen- und Tulpenblüten bestreuten. „Das Gefühl, mit einem Mal als Reaktionär angegriffen zu werden, hat immerhin etwas Überraschendes“, schrieb Adorno an Samuel Beckett. Andererseits wurden Adorno und Horkheimer von der politischen Rechten vorgeworfen, sie seien die geistigen Urheber der studentischen Gewalt. 1969 sah Adorno sich gezwungen, seine Vorlesungen einzustellen. Als am 31. Januar 1969 Studenten in das Institut für Sozialforschung eingedrungen waren, um kategorisch eine sofortige Diskussion über die politische Situation durchzusetzen, riefen die Institutsdirektoren – Adorno und Ludwig von Friedeburg – die Polizei und zeigten die Besetzer an. Adorno, der immer ein Gegner des Polizei- und Überwachungsstaats gewesen war, litt unter diesem Bruch seines Selbstverständnisses. Er musste als Zeuge vor dem Frankfurter Landgericht gegen Hans-Jürgen Krahl, einen seiner begabtesten Schüler, aussagen. Adorno äußerte sich dazu in einem Brief an Alexander Kluge: „Ich sehe nicht ein, warum ich mich zum Märtyrer des Herrn Krahl machen soll, von dem ich mir doch ausdachte, daß er mir ein Messer an die Kehle setzt, um mir diese durchzuschneiden, und auf meinen gelinden Protest erwidert: Aber Herr Professor, das dürfen Sie doch nicht personalisieren“. Ab Februar 1969 bis zu Adornos Tod trugen Adorno und Herbert Marcuse in einem intensiven Briefwechsel einen Dissens aus, von dem Adorno in einem Brief an Horkheimer bereits befürchtete, er könnte einen „Bruch zwischen ihm und uns“ herbeiführen. Marcuse kritisierte Adornos Praxis-Abstinenz ebenso wie Habermas’ Vorwurf des „linken Faschismus“ gegenüber den rebellierenden Studenten sowie die polizeiliche Räumung des besetzten Instituts. Adorno verteidigte Habermas’ Vorwurf. Auch er sah jetzt Tendenzen, die „mit dem Faschismus unmittelbar konvergieren“, und nahm, wie er Marcuse schrieb, „die Gefahr des Umschlags der Studentenbewegung in Faschismus viel schwerer als Du“. Am Tag nach der Gerichtsverhandlung gegen Krahl fuhr er mit seiner Frau in den üblichen Sommerurlaub in die Schweizer Berge. Statt des gewohnten Urlaubs in Sils Maria fuhren sie erstmals nach Zermatt (1600 m. ü. M.). Ungenügend akklimatisiert, fuhr er mit einer Seilbahn auf fast 3000 m. ü. M. und wanderte dann zur Gandegghütte (3030 m.ü.M.). Weil er Probleme mit seinem Bergschuh hatte, ließ er sich anschließend nach Visp (660 M. ü. M.) zu einem Schuhmacher fahren. Als er Herzbeschwerden bekam, wurde er ins Visper Krankenhaus St. Maria gebracht. Dort erlag er am Morgen des 6. Augusts 1969 einem Herzinfarkt. Adornos Grab befindet sich auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Einflüsse auf das Werk Als besonders bedeutsame Einflüsse für das Denken Adornos lassen sich Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Sigmund Freud anführen. Die „Großtheorien“ von Hegel, Marx und Freud übten auf viele linke Intellektuelle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie auch auf einen Großteil der Theoretiker der Frankfurter Schule, eine große Faszination aus. Mit kritischem Unterton spricht Lorenz Jäger in seiner „politischen Biographie“ dabei von Adornos „Achillesferse“, das heißt dessen „fast unbegrenzte[m] Vertrauen auf fertige Lehren, auf den Marxismus, die Psychoanalyse, die Lehren der Zweiten Wiener Schule“. Indessen vertraute Adorno dem Marxismus ebenso wenig unverändert wie der Hegel’schen spekulativen Dialektik. Die Zweite Wiener Schule freilich blieb in seinem Wirken als Musikkritiker und Komponist der Leitstern. Hegel Adornos Aneignung der Hegel’schen Philosophie lässt sich mindestens bis zu seiner Antrittsvorlesung von 1931 zurückverfolgen; in ihr postulierte er: „Einzig dialektisch scheint mir philosophische Deutung möglich“ (GS 1: 338). Hegel lehne es ab, die philosophische Methode von ihrem Inhalt, den Gegenständen, zu trennen, da Denken immer schon Denken von etwas ist, so dass Dialektik „die begriffene Bewegung des Gegenstands selbst“ ist. Der Argumentation der Phänomenologie des Geistes folgend, könne der wissenschaftliche Standpunkt weder als selbstverständlich vorausgesetzt, noch als losgelöst von den Gegenständen betrachtet werden. Eine wichtige Rolle für Adornos Philosophie und Gesellschaftskritik nimmt dabei eine der Hegel’schen Grundkategorien ein – die bestimmte Negation. Allerdings erhält diese Kategorie bei Adorno nun eine neue, kritische Funktion: Hatte Hegel als bestimmte Negation das Charakteristikum der Entwicklung und des Fortschreitens des Bewusstseins beschrieben, wobei dem Philosophen selbst nichts als „das reine Zusehen“ bleibe, so wird die bestimmte Negation bei Adorno zu einer Form der immanenten Kritik umgedeutet, die ihm nicht nur zur radikalen Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse dient, sondern für Adorno letztlich sogar ein Festhalten an Metaphysik als „Konstellation“ beinhaltet. (GS 6: 399) Die Vorgehensweise der bestimmten Negation durchzieht nicht zuletzt einen Großteil der materialen Arbeiten Adornos, so etwa die Dialektik der Aufklärung und die Minima Moralia. Seine Drei Studien zu Hegel verstand Adorno als „Vorbereitung eines veränderten Begriffs von Dialektik“; sie hören dort auf, „wo erst zu beginnen wäre“ (GS 5: 249 f.). Dieser Aufgabe widmete sich Adorno in einem seiner späteren Hauptwerke, der Negativen Dialektik (1966). Der Titel dieses ‚Programms‘ bringt, wie Tilo Wesche es ausdrückt, „Tradition und Rebellion gleichermaßen zum Ausdruck“. Tradition einerseits, da Adorno Dialektik, wie diese von Hegel als werdender Vermittlungsprozess neu gedacht und entfaltet wurde, aufgreift. Rebellion andererseits, insofern Adorno unter dem Vorbehalt des Negativen (auch: des „Nichtidentischen“) Hegels spekulative Dialektik angreift (siehe dazu weiter unten). Speziell kritisiert Adorno an Hegel dessen Übergang von der Dialektik zur spekulativen Vernunft. Als Bedingung für das Funktionieren von Hegels geschichtlichem System werde dabei das Moment „des Nichtaufgehenden“ mithilfe eines „Münchhausenkunststücks“ der Vernunft weggeschafft. (GS 5: 375) Dafür müsse sich das „zum absoluten [Geist, d. V.] sich stilisierende Subjekt“ (GS 6: 187) jedoch selbst betrügen, d. h. letztlich Realitätsverleugnung betreiben. Denn: „Vermittlung des Subjekts [bedeutet], daß es ohne das Moment der Objektivität buchstäblich nichts wäre.“ (GS 6: 187) Insofern verfolgt Adorno die Absicht, Dialektik – welche bei Hegel zwar mehr als der Verstand, jedoch weniger als die spekulative Vernunft geleistet habe – als Schlüsselmoment für Philosophie wiederzugewinnen. Karl Marx Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie gehört zum Hintergrundverständnis des Adorno’schen Denkens, freilich – nach Jürgen Habermas – als „verschwiegene Orthodoxie, deren Kategorien […] sich in der kulturkritischen Anwendung [verraten], ohne als solche ausgewiesen zu werden“. Seine Marx-Rezeption erfolgte zunächst vermittelt durch Georg Lukács’ einflussreiche Schrift Geschichte und Klassenbewußtsein; von ihm übernahm Adorno die marxistischen Kategorien des Warenfetischs und der Verdinglichung. Sie stehen in enger Verbindung zum Begriff des Tauschs, der wiederum im Zentrum von Adornos Philosophie steht und erkenntnistheoretisch weit über die Ökonomie hinausweist. Unschwer ist die entfaltete „Tauschgesellschaft“ mit ihrem „unersättlichen und destruktiven Expansionsprinzip“ (GS 5: 274) als die kapitalistische zu dechiffrieren. Neben dem Tauschwert nimmt der Marx’sche Ideologiebegriff in seinem gesamten Werk einen prominenten Stellenwert ein. Auch der Klassenbegriff, den Adorno eher selten benutzte, hat seinen Ursprung in der Marx’schen Theorie. Zwei Texte Adornos beziehen sich explizit auf den Klassenbegriff: Der eine ist das Unterkapitel Klassen und Schichten aus der Einleitung in die Musiksoziologie, der andere ein unveröffentlichter Aufsatz aus dem Jahre 1942 mit dem Titel Reflexionen zur Klassentheorie, der erstmals posthum in den Gesammelten Schriften veröffentlicht wurde (GS 8: 373–391). Sigmund Freud Die Psychoanalyse ist ein konstitutives Element der Kritischen Theorie. Zwar hat Adorno, im Gegensatz zu Horkheimer, sich nie der praktischen Erfahrung einer Psychoanalyse unterzogen, aber schon früh das Werk Sigmund Freuds rezipiert. Seine Freud-Lektüre reicht in die Zeit seiner Arbeit an der ersten (zurückgezogenen) Habilitationsschrift – Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre – von 1927 zurück. Darin vertrat Adorno die These, „daß die Heilung aller Neurosen gleichbedeutend ist mit der vollständigen Erkenntnis des Sinns ihrer Symptome durch den Kranken“ (GS 1: 236). In dem Aufsatz Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie (1955) begründete er als Notwendigkeit, „angesichts des Faschismus“ die „Theorie der Gesellschaft durch Psychologie, zumal analytisch orientierte Sozialpsychologie zu ergänzen“. Um den Zusammenhalt der repressiven, gegen die Interessen der Menschen gerichteten Gesellschaft erklären zu können, bedürfe es der Erforschung der in den Massen vorherrschenden Triebstrukturen (GS 8: 42). Adorno blieb immer Anhänger und Verteidiger der orthodoxen Freud’schen Lehre, der „Psychoanalyse in ihrer strengen Gestalt“. Aus dieser Position heraus hat er schon früh Erich Fromm und später Karen Horney wegen ihres Revisionismus angegriffen (GS 8: 20 ff.). Vorbehalte äußerte er sowohl gegen eine Soziologisierung der Psychoanalyse als auch gegen ihre Reduzierung auf ein therapeutisches Verfahren. Der Freud-Rezeption verdankte Adorno zentrale analytische Begriffe wie Narzissmus, Ich-Schwäche, Lust- und Realitätsprinzip. Freuds Schriften Das Unbehagen in der Kultur und Massenpsychologie und Ich-Analyse waren ihm wichtige Referenzquellen. Der „genialen und viel zu wenig bekannten Spätschrift über das Unbehagen in der Kultur“ (GS 20/1: 144) wünschte er „die allerweiteste Verbreitung gerade im Zusammenhang mit Auschwitz“; zeige sie doch, dass mit der permanenten Versagung, welche die Zivilisation auferlege, „im Zivilisationsprinzip selbst die Barbarei angelegt ist“ (GS 10/2: 674). Rezeption weiterer Autoren Am dänischen Philosophen und Vorläufer der Existenzphilosophie Søren Kierkegaard schätzte Adorno dessen Kritik an Hegels Geringschätzung des Individuums, das hinter dem objektiven Geist verschwindet. Sie hat Adornos Blick auf Hegels Dialektik geschärft und nachhaltig beeinflusst. Viele später ausformulierte philosophische Motive Adornos finden sich in seiner Kierkegaard-Schrift bereits angedeutet. Horkheimer charakterisierte sie als „unerhört schwierig“. Adornos Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Phänomenologie fand ihren Niederschlag in der Schrift Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Adorno hatte an dem Manuskript von 1934 bis Herbst 1937 in Oxford gearbeitet, ohne es abzuschließen. Nachdem in den folgenden Jahren einzelne Kapitel veröffentlicht worden waren, erschien das Werk erst 1956 als Monographie mit der Widmung „Für Max“. Das Buch gilt als „Solitär“, das keine größere Resonanz in der philosophischen Literatur fand, obwohl Adorno 1968 die Arbeit als das ihm nächst der Negativen Dialektik wichtigste seiner Bücher bezeichnete (GS 5: 386). Als Antipode Heideggers, des führenden Vertreters der Fundamentalontologie, unterzog er im Jargon der Eigentlichkeit dessen Begrifflichkeit einer „ideologiekritischen Sprachanalyse“. Doch wusste er zu unterscheiden zwischen der substantiellen Philosophie Heideggers und der Plumpheit der „Imitatoren des existentiell-philosophischen Sprachgestus“. Auf die Nähe des Denkens Adornos, seine Überschneidungen mit der Philosophie Heideggers, wurde häufig verwiesen. Werk Jan Philipp Reemtsma hat Adornos Publikationen zu den verschiedenen Themengebieten nach quantitativen Anteilen an seinen Gesammelten Schriften erfasst: Demnach entfallen auf im weitesten Sinne philosophische Fragen 2.600 Seiten, auf soziologische Themen 1.500 Seiten, auf literaturtheoretische bzw. -kritische rund 800 Seiten, auf die musikalischen Schriften hingegen mehr als 4.000 Seiten. Philosophie Als Adornos philosophische Hauptwerke gelten heute vier sehr unterschiedliche Werke. Die in der Emigration gemeinsam mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947) wird als zentraler Text der Frankfurter Schule angesehen und prägte den Begriff der Kulturindustrie. Ebenfalls in der Emigration entstanden die Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), eine aphoristische „Diagnose einer global organisierten Unmündigkeit“. Selbst betrachtete Adorno die Negative Dialektik (1966) als sein Hauptwerk, eine philosophische Kritik des „identifizierenden Denkens“; der Titel war für ihn gleichbedeutend mit dem Konzept der Kritischen Theorie. Posthum erschien 1970 Adornos Ästhetische Theorie, die seine Philosophie der Kunst darstellt. Albrecht Wellmer verweist auf die hohe Kontinuität des philosophischen Denkens Adornos von seiner frühen Frankfurter Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie (1931), in der er sein Konzept der Philosophie als „Deutungswissenschaft“ (GS 1: 334) begründete, bis hin zu seinen Spätwerken. Mit 28 Jahren hätten sich bei ihm bereits „alle entscheidenden Motive seines Denkens, gleichsam dessen Grundkonstellationen“ herausgebildet. Seine spätere reiche Produktion, auch die in der Musikphilosophie und Musiksoziologie, beruhe auf der Entfaltung dieser Grundkonstellationen. Anders als Horkheimer, der wenige Monate zuvor in seiner programmatischen Antrittsrede bei der Übernahme des Direktorats des Instituts für Sozialforschung allein im interdisziplinären Zusammenwirken der Einzelwissenschaften das Ziel einer „Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft als ganzer“ erreichbar sah, wies Adorno in der „dialektischen Kommunikation“ von Soziologie und Philosophie jener die Aufgabe zu, das empirische Material zu liefern, der Philosophie die Deutungsmuster zu generieren; Letzteres fasste er in das Bild: „Schlüssel zu konstruieren, vor denen die Wirklichkeit aufspringt“ (GS 1: 340). Erstmals wurde in der Antrittsvorlesung der Begriff der Totalität in Frage gestellt, die das Denken nicht zu begreifen vermöge; Philosophie müsse lernen, auf die Totalitätsfrage zu verzichten. Zeitgenössischen Philosophierichtungen wie der Phänomenologie und der Seinslehre Heideggers sprach er ab, „die philosophischen Kardinalfragen“ zu beantworten. Einer Liquidation der Philosophie käme die These gleich, dass diese Fragen prinzipiell unbeantwortbar seien, wie sie der Positivismus des Wiener Kreises vertrete, der die Philosophie in Wissenschaft aufzulösen vorschlage. Dem hielt Adorno entgegen: „die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung“ (GS 1: 334). Der philosophische Gehalt der Texte Adornos lässt sich nur selten leicht erschließen. Philosophie ist ihm „der Musik verschwistert“; ihr Schwebendes sei „kaum […] recht in Worte zu bringen“ (GS 6: 115). Seine Kategorien sind janusköpfig: je nach Kontext verwendet er sie mit positiver oder negativer Konnotation. Meistens ist Adorno der Analyse des Konkreten verpflichtet, in deren Mittelpunkt das Individuum in der zeitgenössischen Gesellschaft steht. Den philosophischen Systemen wie der klassischen Erkenntnistheorie, die das Individuelle und Nichtidentische verstümmelten, statt es zu begreifen, stellt er seine negative Dialektik als „Antisystem“ entgegen. Dennoch hat Adorno an der Philosophie, sogar an Metaphysik im Sinn der Spekulation, die das Gegebene transzendiert, festgehalten. Nur als bestimmte Negation des Faktischen, so seine Lehre, lasse sich über das Bestehende hinausdenken. Wenn man nicht hinter Kant und Hegel zurückfallen wolle, müsse Philosophie Kritik sein: Sprachkritik, Gesellschaftskritik, Kunstkritik, die zudem die Übertreibung als Erkenntnismethode benutzt. Negative Dialektik: Adornos „Philosophie des Nichtidentischen“ Ausgangspunkt der Adorno’schen Philosophie, seiner negativen Dialektik, ist Hegels dialektische Implikation, die besagt, dass Subjekt und Objekt als vermittelt zu begreifen sind. Damit hatte Hegel Kants Bestimmung des transzendentalen Ichs kritisiert, welches dem zu erkennenden Objekt (dem Ding an sich bei Kant) verbindungslos gegenüberstehe. Adorno knüpft nun an das Konzept der Vermittlung der Hegel’schen Dialektik an, kritisiert diesen jedoch zugleich, indem er die „Ungleichheit im Begriff der Vermittlung“ (GS 6: 184) hervorhebt. Diese Ungleichheit besage, dass „das Subjekt ganz anders ins Objekt“ (GS 6: 184) falle als das Objekt ins Subjekt. Subjektivität sei, der eigenen Beschaffenheit nach, vorweg immer auch Objekt, ohne ein Moment der Objektivität könne es damit aber nicht einmal existieren. Ganz anders das Objekt, dieses könne zwar auch nur durch Subjektivität hindurch gedacht werden, erhalte sich dem Subjekt gegenüber aber immer als Anderes, d. h. als ein mit dem Subjekt nicht Identisches. Wer dies nicht anerkenne, betrüge sich nicht nur selbst, sondern bestätige überhaupt „die Ohnmacht des Geistes in all seinen Urteilen wie bis heute in der Einrichtung der Realität.“ (GS 6: 187) Rolf Wiggershaus, der Chronist der Frankfurter Schule, bezeichnet in seiner Einführung zu Adornos Denken dessen „Philosophie des Nichtidentischen“ daher auch als den Horizont seiner kritischen Gesellschaftstheorie. Als Nichtidentisches versteht Adorno das „Begriffslose, Einzelne und Besondere“, für das Hegel sein Desinteressement bekundet und worauf dieser „das Etikett der faulen Existenz“ geklebt habe (GS 6: 20). Auch Albrecht Wellmer nennt Adorno einen „Anwalt des Nicht-Identischen“. Als Kritiker des „identifizierenden Denkens“ misstraut Adorno dem Denken in – vom Konkreten abstrahierenden – Begriffen: Dialektisches Denken erhebe Einspruch dagegen, dass der Begriff einen „Sachverhalt an sich“ als etwas Festes, Unveränderliches und sich Gleichbleibendes darstellt (GS 6: 156). Zugleich bleibt auch die (negative) Dialektik Adornos auf den Begriff angewiesen, sie ist selbst noch begriffliches Denken. Insofern weckt ein „solcher Begriff von Dialektik […] Zweifel an seiner Möglichkeit.“ (GS 6: 21) Eine Philosophie des Nichtidentischen müsse dennoch an der utopischen Idee, sei diese auch zweifelhaft und paradox, festhalten: Dies gipfelt in der – nicht minder paradoxen – Forderung, „das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ (GS 6: 21) Dabei wendet sich die Philosophie des Nichtidentischen sowohl gegen Ursprungsphilosophie (die ein Erstes – Geist oder Materie – voraussetzt) als auch gegen Subjektphilosophie (die das Objekt als ein dem Subjekt Unterworfenes oder Nachgeordnetes denkt). „Objekt“ hat bei Adorno verschiedene Bedeutungen: andere Subjekte, Natur, Dinge, Verdinglichtes. Das Subjekt ist als bewusstes Wesen für Adorno zugleich Teil des ihm gegenüberstehenden Naturzusammenhangs, den es im eigenen Bewusstsein hat, aber als etwas anderes erkennt. Mit dem Verweis auf das mit dem Subjekt nicht Identische plädiert Adorno für ein anderes Verhältnis zur eigenen und äußeren Natur, das nicht mehr durch Verfügung und Herrschaft bestimmt ist, sondern durch Versöhnung und Anverwandlung. Für letzteres bemüht Adorno häufig den Begriff Mimesis. Zentral für Adornos Philosophie ist der Begriff der „Versöhnung“. Annäherungsweise lässt er sich mit der „gewaltlosen Integration des Divergierenden“ (GS 7: 283) übersetzen. Im Horizont des Adorno’schen Denkens kann Versöhnung so Vielfältiges heißen wie: Versöhnung von Geist und Natur, von Subjekt und Objekt, von Allgemeinem und Besonderem, von Individuum und Gesellschaft, von Moral und Natur. Vornehmlich die unterdrückte Natur, das bedrohte Individuum und das unbegriffene Vereinzelte steht im unversöhnten Verhältnis zu seinem Gegenpart. Versöhnung „gäbe das Nichtidentische frei, […] eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen“ (GS 6: 18). Kritik der Erkenntnistheorie Zwar steht die philosophische Erkenntnistheorie nicht im Zentrum von Adornos philosophischen Vorlesungen und Schriften, aber die frühe, durch Kracauer vermittelte Kant-Lektüre und seine Dissertation über Husserls Phänomenologie brachte ihn bereits in den frühen Phasen seiner intellektuellen Entwicklung mit dieser philosophischen Disziplin in Kontakt. Er ist Erkenntnistheoretiker insoweit, als er „das Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit als den Prüfstein und die Vorbedingung zuverlässiger Erkenntnis diskutiert.“ Wie nahezu alle philosophischen Fragen hat Adorno auch die der Erkenntnistheorie unter Aspekten der Kritik behandelt. Seine Studien über Husserls Phänomenologie hat er mit Metakritik der Erkenntnistheorie überschrieben. In dem nur dürftig rezipierten Werk erörtert er das Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt. Husserls Idee der Objektivität der Wahrheit und die Idee des denkenden Vollzugs wahrer Erkenntnis lagen auch Adorno am Herzen. Doch Husserls Vorstellung, mit einer vorurteilsfreien Philosophie, die sich mit der Methode der „phänomenologischen Reduktion“ auf „die Sachen selbst“ beziehe, kritisiert er als „logischen Widersinn“, der mit Hegels „Lehre von der Vermitteltheit“ unvereinbar sei (GS 5: 13). Mit diesem teilt Adorno die Skepsis gegenüber einem „absolut Ersten als des zweifelfrei gewissen Ausgangspunktes der Philosophie“ (GS 5: 13) und insistiert auf der „Vermitteltheit eines jeglichen Unmittelbaren“ (GS 5: 160). Selbst wenn Adorno in materialistischer Denkweise häufig vom „Vorrang des Objekts“ (GS 6: 186) spricht und auf einer „dem Subjekt gegenübertretenden Alterität [= Andersheit, Andersartigkeit] beharrt“, geschieht dies nicht ohne die Überzeugung, dass „die Beschaffenheiten der Erkenntnisobjekte immer nur durch das reflektierende Subjekt hindurch zu haben sind“. Da Adornos „Erkenntnisutopie“ auf die unverkürzte Erfahrung des Nichtidentischen zielt, erwartet er von der Kunst „als ein[em] genuin andere[n] Medium der Erkenntnis […] Unterstützung“. Rüdiger Bubner sieht hier eine „Konvergenz von Erkenntnis und Kunst“, während Habermas gar von der „Abtretung der Erkenntnis-Kompetenzen an die Kunst“ spricht. Negative Moralphilosophie Der bekannte Ausspruch aus den Minima Moralia: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (GS 4: 43) wurde in der Sekundärliteratur oft als eine Absage Adornos an die Moralphilosophie interpretiert. Entgegen dieser Auffassung hat Gerhard Schweppenhäuser Adornos untergründig präsente Moralphilosophie herausgearbeitet und sie als eine „negative Moralphilosophie“, eine „Ethik nach Auschwitz“ bezeichnet, wobei Auschwitz als Chiffre für den Holocaust steht. Dagegen spricht auch, dass Adorno immerhin zwei Vorlesungen zur Moralphilosophie gehalten hat (Wintersemester 1956/57, Sommersemester 1963) und seine Minima Moralia das Thema falsches versus richtiges Leben ständig umkreisen. Adorno selbst bezeichnete die Minima Moralia als „ein Buch über das richtige oder vielmehr das falsche Leben“. Eine zentrale Rolle in Adornos Moralkritik nimmt die bestimmte Negation Hegels ein (s. oben zu Adornos Hegel-Rezeption). Diese impliziert für Adorno, dass man als Kritiker der Moral weder auf eine affirmative Gegenmoral noch auf eine abstrakte Negation jeder Moral hinsteuern dürfe. Statt, wie Nietzsche, die Moral abstrakt zu negieren, müsse der Weg der bestimmten Negation erst beschritten werden, um so, wie Marx einmal sagt, „aus der Kritik der alten Welt die neue [zu] finden“. In seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie greift Adorno diese Vorgehensweise auf, indem er sich auf den Widerstand als „die eigentliche Substanz des Moralischen“ beruft. Dabei hat Adorno, ähnlich wie zur Metaphysik, auch zur Moralphilosophie ein ambivalentes Verhältnis. Er kritisiert, dass die christlich-abendländische Moral den Individuen eine Verantwortung für ihre Handlungen abverlange und dabei eine Handlungsfreiheit unterstelle, die sie als soziale Wesen gar nicht haben. Zugleich sieht er in der Moral aber die „Repräsentantin einer kommenden Freiheit“. Moral sei in sich widersprüchlich; sie meine „gleichzeitig immer Freiheit und Unterdrückung“. Ausgangspunkt Adornos ist Kants Moralphilosophie, die moralisches Handeln als Selbstbestimmung in Freiheit definiert. Aber solange der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang hinter den Maßstab eines gerechten Lebens zurückfalle, sei es für die Menschen gar nicht möglich, moralisch richtig zu handeln. Ethische Erwägungen bedürfen daher der Ergänzung durch gesellschaftliche Analyse und Kritik. Das moralische Prinzip vom gesellschaftlichen abzutrennen und in die private Gesinnung zu verlegen, bedeute „auf die Verwirklichung des im moralischen Prinzip mitgesetzten menschenwürdigen Zustands“ (GS 4: 103) zu verzichten. Die Frage, was das „richtige Leben“ ausmache, beantwortet Adorno durchgehend in negativer Weise, als bestimmte Negation. „Er setzt bei dem an, ‚was nicht sein soll‘, bzw. am Leben in seiner ‚verkehrten‘ oder ‚entfremdeten Gestalt‘.“ Adornos Lehre vom richtigen Leben finde sich nach Albrecht Wellmer „wie in Spiegelschrift“ in seinen Minima Moralia. Statt Inhalt und Ziel einer mündigen, emanzipierten Gesellschaft auf positive Weise zu bestimmen, formuliert Adorno negative Minimalbedingungen an den moralisch richtigen Zustand. Zentral ist in diesem Zusammenhang seine Forderung, „daß Auschwitz nicht noch einmal sei“ (GS 10/2: 674). Dieser durch Hitler aufgezwungene Kategorische Imperativ (GS 6: 358) richtet sich dabei jedoch nicht an ein reines Vernunftsubjekt im Sinne Kants: Wie Alfred Schäfer in seinem „pädagogischen Porträt“ betont, unterscheidet sich Adornos Version des Kategorischen Imperativs von der kantischen vor allem dadurch, dass in ihr (der Adorno’schen) ein „Moment des Hinzutretenden am Sittlichen“ (GS 6: 358) sich fühlen lässt: Für Adorno ist es der unmittelbare, leiblich erfahrbare Abscheu angesichts der nationalsozialistischen Gräueltaten, der die „in sich problematische“ Vernunft komplementiert. Erst durch den impulsiv sich einstellenden Abscheu, also durch ihr Gegenteil, hindurch, werde die vernünftige moralische Reflexion demnach „praktisch“. In der Achtung vor dem Individuellen sieht Martin Seel Adornos Kerngedanken eines guten menschlichen Lebens. Ethik müsse daher politische Philosophie werden, die Frage nach dem richtigen Leben müsse in die Frage nach der richtigen Politik übergehen, heißt es zum Schluss von Adornos moralphilosophischer Vorlesung. Metaphysik und Metaphysikkritik Adornos Verhältnis zur Metaphysik ist ambivalent. Seine Kritik gilt sowohl der klassischen Metaphysik als auch der Metaphysikkritik. Überlegungen zur Metaphysik ziehen sich durch sein ganzes Werk. Besonders ausgearbeitet hat er sie in der Negativen Dialektik, als deren zentrale Intention er gegenüber Gershom Scholem „die Rettung der Metaphysik“ nennt. Adornos Verständnis der Metaphysik hängt eng mit seinem Verständnis abendländischer Rationalität zusammen. Diese gilt ihm als ein Projekt der Selbst- und der Naturbeherrschung (GS 3: 19). Das Ziel dieses Projektes ist es, dass der Mensch sich mittels seiner Rationalität, dem „identifizierenden Denken“, von der Kontingenz natürlicher Geschehnisse zu befreien versucht, um Herrschaft über sich und seine Umgebung zu erlangen. Innerhalb dieses Projektes spielt die Metaphysik als die „Lehre vom geschichtslos Unveränderlichen“ (GS 2: 261) eine wichtige Rolle. Indem sie der Kontingenz des empirischen Lebens ein System von begrifflichen Zusammenhängen entgegenstellt, die als unveränderlich aufgefasst werden, leitet die Metaphysik ein „Denken der Identität“ ein. Das identifizierende Denken richtet sich dabei nicht nur gegen das, was dem Subjekt äußerlich begegnet, sondern auch gegen seine eigene leibliche Natur. Auch sie soll durch Identifikation beherrschbar und überwunden werden, was Adorno auch als „Anpassung ans Tote“ bezeichnet (GS 3: 79, 206). Das metaphysische Denken richtet sich so gegen sein eigentliches Ziel, die rationale Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen. Die Identitäten, die das Kontingente bewältigen sollen, beherrschen den, um dessen Freiheit willen sie gesucht worden sind. Adorno gilt dies als das Skandalon der Metaphysik, aber auch von Rationalität und Aufklärung (GS 6: 361). Auch die Metaphysikkritik, deren Grundprogramm eigentlich die Befreiung des Subjekts von der Metaphysik ist, führt für Adorno letztlich nur zu dessen Unfreiheit. Er setzt sich dabei vor allem mit der Philosophie Kants und dem Positivismus auseinander. Kants Philosophie wird von Adorno als Versuch interpretiert, aus der Metaphysikkritik heraus für die Freiheit des Menschen zu argumentieren. Für Kant ist der Mensch dabei ein Wesen, das nur unter Einbeziehung seiner Sinne und seines Verstandes zu Erkenntnissen zu kommen vermag. Wenn die Erkenntnisse demnach immer unter den feststehenden Anschauungsformen und Verstandesbegriffen stehen, so ist für Adorno damit die Unfreiheit des Subjekts besiegelt: Das menschliche Bewusstsein wird „gleichsam zu ewiger Haft in den ihm nun einmal gegebenen Formen der Erkenntnis verurteilt“ (GS 6: 378). Der Mensch wird so in seinen Erkenntnismöglichkeiten als ein vollkommen festgelegtes und unfreies Wesen begriffen. Diese Festlegung des Menschen auf das Tatsächliche findet nach Adorno ihre Fortsetzung im Positivismus. Gegen die traditionelle Metaphysik und Metaphysikkritik will Adorno eine Metaphysik der Transzendenz rehabilitieren. Metaphysik ist ein Denken des Absoluten, ein Denken dessen, was das Gegebene überschreitet: „Denken über sich selbst hinaus, ins Offene, genau das ist Metaphysik“. Wesentlich für das Denken des Absoluten ist es dabei, dass es jenseits der Verfügungsgewalt eines Subjekts steht. Es darf nicht mit dem Begriff des Unveränderlichen charakterisiert werden, sondern muss als das Nichtidentische gedacht werden: „Das Absolute jedoch, wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre das Nichtidentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging“ (GS 6: 398). Da die Erkenntnis immer auf das Identische gerichtet ist, kann es vom Absoluten als Nichtidentischem keine Erkenntnis geben. Das Nichtidentische kann aber den Subjekten gegenüber als „metaphysische Erfahrung“ (GS 6: 364) in Erscheinung treten. Sie ist die Erfahrung einer Unverfügbarkeit, Adorno spricht auch von „Unverlässlichkeit“ (GS 6: 364). Die metaphysische Erfahrung ist außerdem eine Erfahrung von Negativität. Das Subjekt erfährt seine eigene Ohnmacht, den Gegenstand der Erfahrung zu fassen zu bekommen. Metaphysische Erfahrungen sind für Adorno vor allem in der Kunst möglich. Er spricht ausdrücklich vom „metaphysischen Gehalt von Kunst“ (GS 7: 122). Kunstwerke deuten auf Nichtidentisches hin, indem sie ihre Rezipienten zu einer bestimmten Verhaltensweise nötigen. Da ein Kunstwerk sich nicht einfach entziffern lässt, sind Rezipienten gezwungen, sich von den Strukturen des Kunstwerks leiten zu lassen. Sie werden dadurch zu einer Praxis der Anverwandlung gedrängt, die Adorno Mimesis nennt. Die damit von den Kunstwerken eröffnete Erfahrung deutet auf etwas hin, das sich nicht identifizierend fassen lässt. Den Okkultismus beurteilt er dagegen in Minima Moralia Nr. 151 als Rückfall hinter die Rationalität der Moderne, nicht deren Überwindung, indem er von einer „Metaphysik der dummen Kerle“ spricht. Okkultismus sei einerseits Reaktion auf Verdinglichung: „Wenn die objektive Realität den Lebendigen taub erscheint wie nie zuvor, so suchen sie ihr mit Abrakadabra Sinn zu entlocken.“ Andererseits werde „Arbeitsteilung und Verdinglichung […] auf die Spitze getrieben: Leib und Seele in gleichsam perennierender Vivisektion auseinandergeschnitten.“ Geist und Sinn werde als Faktum, als unmittelbare Erfahrung behauptet, die Vermittlung durch aufklärerisches Denken ignoriert. Positivismuskritik Adorno bestand darauf, dass in einer widersprüchlichen Welt auch das Denken widersprüchlich sein müsse und somit das Postulat der Widerspruchsfreiheit wie auch das „falsche Ideal“ der Systembildung, an dem sich die „große Philosophie“ orientiere, abzulehnen seien. „Das Ganze ist das Unwahre“, heißt ein zentraler Satz in den Minima Moralia (GS 4: 55). Er beschäftigte sich mit den Einzelwissenschaften, übte gleichwohl immanente Kritik an der Arbeitsteiligkeit, die immer mehr einzelne wissenschaftliche Disziplinen von der Philosophie abgespalten und zu gegeneinander abgegrenzten Fächern im Wissenschaftsbetrieb gemacht habe. Reflexion über die gesellschaftlichen Bedingungen der wissenschaftlichen Arbeitsteilung machte ihn zum Kritiker des Positivismus, den er weiter fasste als allgemein üblich. Neben dem Logischen Positivismus des „Wiener Kreises“ und der Analytischen Philosophie zählte er dazu auch Autoren wie Karl Popper und Hans Albert, die sich selbst als Positivismus-Kritiker verstanden, und Ludwig Wittgenstein, den „reflektiertesten Positivisten“ (GS 8: 282). Seine Grundthese im Tractatus, „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, ist für Adorno ein Gedanke, der die Unfreiheit des Menschen besiegelt und ihn auf das Bestehende verpflichtet. Im so genannten Positivismusstreit zwischen den Kritischen Rationalisten Popper und Albert auf der einen Seite und Vertretern der Frankfurter Schule auf der anderen Seite, der in den 1960er Jahren um Methoden und Werturteile in den Sozialwissenschaften geführt wurde, war Adorno einer der Protagonisten. Von ihm stammte der Begriff Positivismusstreit, der von den Kontrahenten zunächst abgelehnt wurde, sich aber schließlich durchgesetzt hat. Soziologie Gesellschaftskritik Adornos Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Ideologie richtet sich gegen die „verwaltete Welt“ (ein Synonym für den nachliberalen Spätkapitalismus) und die „Kulturindustrie“. Beiden wohne die Tendenz zur Liquidation des Individuums und alles Abweichenden inne, mit anderen Worten: die Beseitigung oder Unterwerfung des Nichtidentischen und Nichtverfügbaren. Im Rahmen des verordneten Konsums und der organisierten Ausfüllung der arbeitsfreien Zeit „durch Kulturindustrie, Technikbegeisterung und Sport“ erfolge eine „restlose Erfassung der Menschen bis in ihr Innenleben hinein“. Durchgängig ist Adornos negativer Bezug auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Thomas Mann kritisierte 1952 diesen Aspekt der Negativität des Adorno’schen Denkens: „Gäbe es nur je ein positives Wort bei Ihnen, Verehrter, das eine auch nur ungefähre Vision der wahren, der zu postulierenden Gesellschaft gewährte! Die Reflexionen aus dem beschädigten Leben ließen es daran, nur daran, auch schon fehlen. Was ist, was wäre das Rechte?“ Diese Kritik Thomas Manns verfehlt nun aber den moralphilosophischen Kern der Sozialkritik Adornos – dessen bestimmte Negation: Denn Ziel Adornos soziologischer Bemühungen ist es, Gesellschaft als „universellen Verblendungszusammenhang“, als ausweglose Totalität, zu inszenieren. Das moralisch Rechte (wie etwa Mann es forderte) anzugeben bedürfte dabei eines moralischen Standpunktes jenseits gesellschaftlicher Vermittlung – ein solcher Standpunkt stellt für den Hegelianer Adorno jedoch selbst ein Problem dar, da sich das Moralische nicht einfach der eigenen gesellschaftlichen Vermitteltheit entziehen zu vermag. Wenn man nicht hinter Hegel zurückfallen wolle, damit aber die positive Angabe des moralisch Richtigen in sich problematisch erscheine, bleibe für den Kritiker nur noch der Weg der bestimmten Negation: Indem Gesellschaft provokativ „als Ding an sich, mit aller Schuld von Verdinglichung“ (GS 8: 292) dargestellt wird, soll folglich das moralisch Richtige gebildet werden. Das soziologische und sozialpsychologische Werk Adornos steht zudem in der Tradition von Karl Marx, Émile Durkheim, Max Weber, Georg Lukács und Sigmund Freud. Ihnen verdankte er Einsichten, an die er häufig anknüpfte. Der Warencharakter und die Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen, generell der Tausch bilden den Resonanzboden seiner marxistisch geprägten Gesellschaftsanalysen, die Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein zentrale Anregungen verdanken. Das Thema der instrumentellen Vernunft finden Horkheimer und er in Max Webers Begriff der „Zweckrationalität“ vorgebildet. Der Begriff der „verwalteten Welt“ bleibt dem Weber’schen Idealtypus der Bürokratie mit ihrer Tendenz zur Ausdehnung und Verselbständigung verwandt; wiederholt verweist er darauf in seinen Vorträgen Kultur und Verwaltung von 1960 (GS 8: 124) und Individuum und Organisation von 1954 (GS 8: 442). Wie Durkheim begreift er die Objektivität der gesellschaftlichen Tatsachen (faits sociaux), „die These von der Eigenständigkeit gesellschaftlicher Tendenzen gegenüber individuell-psychologischen“ (GS 8: 246) als eine grundlegende soziologische Einsicht, die er in seiner Terminologie als „Vorrang des Objekts“ fasst (exemplarisch dazu in der Negativen Dialektik, GS 6: 184 ff.). Zwar spricht er sich gegen eine unvermittelte Zusammenführung von Erkenntnissen der Psychologie und Soziologie dezidiert aus – so in seinem Aufsatz Zum Verhältnis von Psychologie und Soziologie (GS 8: 42–92) –, weil angesichts „der gegenwärtigen Ohnmacht des Individuums“ Ökonomie und Soziologie mehr zur Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge und Tendenzen beitragen könnten. Gleichwohl sei die Psychologie, insbesondere die Psychoanalyse, ein adäquates Medium zur Erklärung irrationaler Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen (GS 8: 86). Wiederholt zog er Freuds Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse zur triebdynamischen Erklärung des autoritären Charakters wie der Massengefolgschaft faschistischer Führer heran. Mit seinem Vortrag Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft eröffnete Adorno 1968 den 16. Deutschen Soziologentag, der im Zeichen der Studentenbewegung und des 150. Geburtstags von Karl Marx stand. Anknüpfend an die Marx’sche Orthodoxie beantwortet er die Titelfrage dahingehend, dass die gegenwärtige Gesellschaft Industriegesellschaft „nach dem Stand ihrer Produktivkräfte“, jedoch „Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen“ (GS 8: 361) sei. Empirische Sozialforschung Erst während seiner Emigration in den USA sammelte Adorno Erfahrungen in der empirischen Sozialforschung. Auf Vermittlung von Horkheimer wurde er Mitarbeiter am Princeton Radio Research Project, einem von dem österreichischen Soziologen Paul Lazarsfeld geleiteten größeren Forschungsvorhaben mit dem Titel The Essential Value of Radio to all Types of Listeners. Adorno wurde die Durchführung eines Teilprojekts für den musikalischen Bereich übertragen. In seinem Rückblick auf Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika berichtete er, dass das Radio-Projekt „für kritische Sozialforschung wenig Raum“ ließ (GS 10/2: 707). So schien ihm die Technik, dass Probanden per Knopfdruck über Gefallen oder Nichtgefallen von Musikstücken abstimmten, „gegenüber der Komplexität des zu Erkennenden höchst unzulänglich“ (GS 10/2: 708). Da sich die Untersuchungen im Rahmen des etablierten kommerziellen Radiosystems vollzogen und „verwertbare Informationen“ erwartet wurden (GS 10/2: 709), war auf diese Weise kaum etwas für die Musiksoziologie zu ermitteln. Sein erster in den USA geschriebener Aufsatz – Über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens –, der 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien, war, nach des Autors eigenem Bekunden, der „erste Niederschlag“ seiner Arbeit am Radio Research Project (GS 14: 9). Adorno bewertete seine Erfahrungen als lehrreiche Auseinandersetzungen mit Sinn und Methoden der Sozialforschung sowie mit Radiomusik und Radiohörern. Aus dieser Tätigkeit resultierte schließlich eine umfangreiche Untersuchung in englischer Sprache: die unter dem Titel Current of Music zusammengefassten Studien, die Robert Hullot-Kentor rekonstruiert und herausgegeben hat. Insgesamt betrachtet, fand Adorno in den New Yorker wie in den späteren kalifornischen Emigrationsjahren durch praktische Erfahrungen und Auseinandersetzungen einen Zugang zur empirischen Sozialforschung (GS 10/2: 703–738). Nachdem er mit Horkheimer 1944 die Dialektik der Aufklärung abgeschlossen hatte, wurde er Mitarbeiter an dem vom Institute of Social Research und von der University of Berkeley gemeinsam bearbeiteten großangelegten Forschungsprojekt zum Thema Antisemitismus. Darauf geht die 1950 veröffentlichte soziologische Studie The Authoritarian Personality (Die autoritäre Persönlichkeit) zurück, die Vorurteilsstrukturen und den Zusammenhang von Autoritätsgläubigkeit und Faschismus untersucht. In einem Brief vom 19. Juli 1947 an Horkheimer äußerte sich Lazarsfeld geradezu begeistert über die gelungene Kombination von kritischer und empirischer Sozialforschung. Die von Adorno verfassten Teile sowie die von ihm und den beteiligten Autoren (Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford) gemeinsam verfasste Einleitung, ferner das Kapitel über die F-Skala (engl. Fassung in GS 9/1: 143–508) ließ er von Milli Weinbrenner, einer Mitarbeiterin des Instituts, übersetzen; erst posthum erschienen diese Texte unter dem Titel Studien zum autoritären Charakter (1973) auf Deutsch in der Bundesrepublik Deutschland. 2019 wurde erstmals sein 1947 geschriebener Entwurf eines Schlusskapitels für The Authoritarian Personality in dem Band Bemerkungen zu „The Authoritarian Personality“ publiziert. Die von Adorno in den USA gemachten Erfahrungen mit der dort anders betriebenen Soziologie und Sozialforschung, vor allem seine Mitautorschaft an der Authoritarian Personality, bildeten die Grundlage dafür, dass er in Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren als einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Soziologie anerkannt wurde. Beigetragen haben dazu auch seine Beiträge zu dem bedeutendsten empirischen Nachkriegsprojekt des Instituts für Sozialforschung: das an die Fragestellungen der Authoritarian Personality anknüpfende Gruppenexperiment. Adorno hatte zu dem abschließenden Forschungsbericht das Kapitel Schuld und Abwehr und gemeinsam mit Horkheimer das Vorwort verfasst (GS 9/2: 121–324). Unbeschadet dessen hielt er sich nicht zurück mit kritischen Erörterungen über die empirische Sozialforschung. 1952 hielt er die Rede Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland, in der er deren Bedeutung in modifizierter Form für die Kritische Theorie betonte (GS 8: 478–531), und in dem erstmals 1957 veröffentlichten Vortrag Soziologie und empirische Forschung stellte Adorno seine Kritik an der zeitgenössischen Soziologie und empirischen Sozialforschung dar (GS 8: 196–216). Er hatte zunächst, unter Einbeziehung der aus den USA stammenden Methoden, für den Ausbau der empirischen Sozialforschung in Deutschland und die Verbindung von quantitativen mit qualitativen Verfahren (wie Inhaltsanalyse und Gruppendiskussion) votiert. Hatte er dabei noch die Möglichkeit einer Verknüpfung von Empirie mit Theorie betont, äußerte er sich später zunehmend skeptischer hinsichtlich einer derartigen Vermittlung. Unverhohlen artikulierte er diese Skepsis im sogenannten Positivismusstreit. Ästhetik und Kulturkritik Adornos Schriften zur Ästhetik und Kulturkritik sind von den Schriften Walter Benjamins, mit dem er in regem Austausch stand, stark beeinflusst. Angefangen vom Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) bis zum Passagen-Werk dienten sie Adorno als wichtige Inspirationsquellen. Der erkenntniskritischen Vorrede der Trauerspiel-Schrift entnahm Adorno die Anregung, eine spezifische Form des philosophischen Umgangs mit der Kunst zu entwickeln: Nicht begrifflich-deduktiv noch induktiv, sondern konfigurativ durch Anordnung der Phänomene in Konstellationen. Auf Benjamins berühmte Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit reagierte Adorno jedoch kritisch und verärgert. So hatte Benjamin Film und Kino als avantgardistische Medien bezeichnet und sich für sie begeistert, während Adorno darin Auswüchse der Kulturindustrie sah. Ausgangspunkt der kunstphilosophischen Überlegungen Adornos ist die Annahme einer „fundamentalen Differenz von Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit“. Geschichte und Sein der Kunst rekonstruiert er „unter dem Vorzeichen der Negativität“. Sie ist „das konkrete Negative des allgemeinen Negativen“. Eine überhistorische Definition der Kunst kann es für ihn nicht geben; alle Vorstellungen und Theoreme der Kunstphilosophie werden radikal historisiert. Da das Kunstwerk noch nicht vollständig in die gesellschaftliche Totalität integriert ist, bildet es den archimedischen Punkt, von dem aus historische Erkenntnisse möglich werden. Ästhetische Theorie Der Philosoph Günter Figal sieht in der posthum erschienenen, vom Autor selbst nicht abgeschlossenen Ästhetischen Theorie Adornos Hauptwerk und Vermächtnis. Sie sei der Versuch, auf die Erfahrung des unverfügbaren „Individuellen und Nichtidentischen in der Kunst aufmerksam zu machen“. Konsequenter als in seinen anderen Schriften setze Adorno hier seine Leitbegriffe als eine Vielzahl von Zentren ein, um die sich seine Reflexionen bildeten und die erst in der Konstellation zueinander ein Ganzes ergäben. Der Germanist Gerhard Kaiser versteht Adornos Kritische Theorie im Wesentlichen als „ästhetische Theorie“: In ihr würden „alle Motive seines Denkens enggeführt“. Die zentrale These des Werks lautet für Günter Figal, dass Kunst das „Ergebnis einer rationalen Konstruktion“ ist, die das vielfältige „Material“ (Klänge, Worte, Farben, Holz, Metall etc.) zu einer Einheit stimmig zusammenfügt. Im Kunstwerk würde „das Material in seiner Individualität freigesetzt“ und dadurch das „Nichtidentische“ gerettet. Obwohl zweckmäßig gestaltet, erscheine das Kunstwerk im Resultat, als sei es naturhaft erzeugt, weil das vermögende Gestalten selbst der „Natur im Subjekt“ (Immanuel Kant) zugehört – sei es als vorgeistige Sinnlichkeit oder als kreatürlicher Reflex. Adorno versteht Kunst nicht als Nachahmung der Natur, sondern des Naturschönen, das für Menschen etwas Überwältigendes habe, aber in seiner „Nichtgemachtheit“ sich menschlicher Verständlichkeit gleichzeitig entziehe. Bereits im einleitenden Abschnitt der Ästhetischen Theorie spricht Adorno vom „Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social“ (GS 7: 16). Der von Émile Durkheim übernommene Begriff des fait social bezeichnet einen gesellschaftlich erzeugten Tatbestand (weiter Sinn). Kunstwerke sind in die herrschenden Produktionsverhältnisse eingebunden und als Produkte gesellschaftlicher Arbeit (GS 7: 337) auch verkäufliche Waren. Ihre Autonomie ist eine sozial determinierte (GS 7: 313); sie wurde „mühsam der Gesellschaft abgezwungen“ (GS 7: 353). Autonomie verkörpere das Kunstwerk darin, dass es allein seinem eigenen Formgesetz gehorche. Aus ihrer Autonomie folge, dass Kunstwerke funktionslos sind: „Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren lässt, ist es ihre Funktionslosigkeit“ (GS 7: 337). In ihrer unversöhnlichen Gegenposition zur Gesellschaft behauptet die Kunst ihre Autonomie: „Indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, statt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ‚gesellschaftlich nützlich‘ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein“ (GS 7: 337). Als Utopie repräsentiere Kunst das schwarz verhängte „noch nicht Seiende“, die „imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte“ (GS 7: 204). Adornos Satz – „In jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas, was es nicht gibt“ (GS 7: 127) – verweist auf ein Glücksversprechen (Stendhals promesse du bonheur), das als „Totalnegation der gegebenen Wirklichkeit“ gelesen werden kann. Glück gibt es nur „als Erscheinung, die eschatologisch der Erfüllung harrt“. Literatur: Interpretation und Kritik Der philosophischen Dechiffrierung von Dichtung sind Adornos unter dem Titel Noten zur Literatur zusammengefassten Essays gewidmet (GS 11). Neben dem für die Schreib- und Gestaltungsweise Adornos programmatischen Eröffnungsessay Der Essay als Form enthalten sie die in der Fachwelt mit großer Resonanz aufgenommenen Essays über Eichendorff und Hölderlin sowie über Goethes Iphigenie auf Tauris und Samuel Becketts Endspiel. In den beiden Essays, die einem einzelnen Werk gewidmet sind, gelinge Adorno, Jan Philipp Reemtsma zufolge, „die Synthese von Deutung eines Fremden und Explikation eigenster Intentionen“. In polemischer Auseinandersetzung mit Georg Lukács’ Theorie des literarischen Realismus (Erpreßte Versöhnung) und mit einem Essay, der Jean-Paul Sartres Schrift Was ist Literatur? zum Anlass für die kritische Abfertigung der engagierten Literatur nimmt, expliziert er in bestimmter Negation seine eigene normative Literaturtheorie. Danach sollten literarische Kunstwerke weder durch kritische Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit noch durch Aufzeigen von Alternativen zu ihr, sondern „durch nichts anderes als ihre Gestalt dem Weltlauf widerstehen“ (GS 11: 413). Allein die rücksichtslos autonome Literatur, „die jedes Engagement für die Welt […] gekündigt“ hat (GS 11: 425), dünkt Adorno, neben der avancierten Musik, ein „letzte[r] Ort für den ‚Vor-Schein‘ des Utopischen als eines möglichen Anderen“. So erklärt er auch den „Künstler, der das Kunstwerk trägt“, zum „Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“ (GS 11: 126). Kulturkritische Schriften Die kulturkritischen Schriften Adornos umfassen zwei umfangreiche Bände (GS 10/1 und 10/2), beginnend mit der frühen Aufsatzsammlung Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, die verstreut publizierte Arbeiten aus den Jahren 1950 bis 1953 versammelt und 1955 erstmals im Suhrkamp Verlag erschien. Sie enthalten die Essays Charakteristik Benjamins und Aufzeichnungen zu Kafka. In einer neuerlichen polemischen Auseinandersetzung mit dem Jazz: Zeitlose Mode. Zum Jazz wiederholt er die pejorativen Urteile des frühen Aufsatzes Über Jazz von 1936, den er als Bestandteil der kommerziellen Popularmusik und als „falsche Liquidation der Kunst“ (GS 10/1: 127) abwertet. In dem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft formuliert Adorno eine seiner umstrittensten Aussagen: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Das apodiktisch formulierte Verdikt erlangte wie kaum eine andere Aussage zur Gegenwartsliteratur eine solche Bekanntheit, dass sie über Jahrzehnte hinweg kontrovers diskutiert wurde und Adorno zu mehrfachen Erklärungen und Modifikationen motivierte, ohne dass er die zentrale Botschaft über das schmähliche Versagen der Kultur angesichts Auschwitz zurücknahm. „Ihr Missverhältnis zum geschehenen und drohenden Grauen verdammt sie zum Zynismus“, heißt es in der Ästhetischen Theorie von der „nach der Katastrophe auferstandenen Kultur“ (GS 7: 348). Neben ideologiekritischen Essays über Karl Mannheim, Oswald Spengler, Thorstein Veblen und Aldous Huxley enthalten die Bände Beiträge, die, als Kritische Modelle ausgewiesen, für Adornos Texte ein bis dato ungewohntes Interesse an praktischem Eingreifen in gesellschaftliche und politische Prozesse bekunden. Dazu gehören, neben seinen weit über die Kreise der kritischen Pädagogik hinaus aufgenommenen Vorträgen Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959) und Erziehung nach Auschwitz (1966), Fragen zu Sexualtabus heute, Fernsehkonsum, Lehrerausbildung etc., allerdings auch die dezidierte Absage an die ihm von aufbegehrenden Studenten abgeforderte Solidarisierung mit ihren Protestaktionen (Marginalien zu Theorie und Praxis sowie Resignation in GS 10/2). Kulturindustrie Das Kulturindustrie-Kapitel in der Dialektik der Aufklärung lässt deutlicher als andere Partien des Buches die Handschrift Adornos erkennen. Sein Thema ist die „ästhetische Barbarei heute“ (GS 3: 152). Im Gegensatz zur authentischen Kunst, die die Widersprüche des gesellschaftlichen Systems wenigstens zum Sprechen bringe und ein Bewusstsein radikaler Veränderung aufrechterhalte, würden die Produkte der Kulturindustrie den Menschen das Verlangen nach Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung austreiben. Kino, Radio, Fernsehen, Jazz, Magazine und der organisierte Sport werden als die Medien benannt, die eine zunehmende „Uniformierung des individuellen Handelns, Denkens und Fühlens“ bewerkstelligen. Der These, Adorno habe den Film grundsätzlich als Kunstform verachtet, widerspricht Detlev Clausen mit dem Hinweis auf Adornos Wertschätzung von Chaplin und Fritz Lang, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Der Begriff „Industrie“ bezieht sich auf die Standardisierung der Produkte und die Rationalisierung der Verbreitungstechniken (GS 10/1: 339). Pädagogik Adorno hat sich an verschiedenen Stellen mit pädagogischen Fragen der moralisch richtigen Form von Bildung und Erziehung auseinandergesetzt. Einen Großteil seiner – doch eher überschaubar gehaltenen – Auslassungen zur Pädagogik stellen die in den Gesammelten Schriften verstreuten und 1970 unter dem Titel Erziehung zur Mündigkeit gesondert publizierten Arbeiten und Rundfunkbeiträge der 1960er-Jahre dar. Entgegen der Auffassung Jürgen Habermas’, der von einer Kluft „zwischen dem reformistischen, geradezu sozialdemokratischen Volkspädagogen und dem rabenschwarzen Totalitätsdenken des Philosophen“ sprach, ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich auch in Adornos pädagogischen Ausführungen eine bemerkenswerte Kontinuität zum moralphilosophischen Gehalt der Philosophie einer Negativen Dialektik feststellen lässt. Erziehung zur Mündigkeit Jürgen Habermas hat in einem Vortrag über jüdische Remigranten auf eine andere Seite des Gesellschaftskritikers Adorno aufmerksam gemacht. In zahlreichen öffentlichen Auftritten und Vorträgen habe sich der vermeintlich pessimistische Sozialphilosoph und resignative Intellektuelle als „reformistischer, geradezu sozialdemokratischer […] Volkspädagoge“ gezeigt, der das Programm der amerikanischen Besatzungsmächte zur demokratischen Umerziehung (Reeducation) der Deutschen ernst nahm. Bei allem in der akademischen Lehre vertretenen Negativismus und aller theoretischen Aufklärungskritik habe Adorno in der Öffentlichkeit „eine kantische Erziehung zur Mündigkeit“ praktiziert. Emil Walter-Busch argumentiert, dass aus der Erkenntnis der Unmöglichkeit umwälzender Praxis in der Gegenwart Adorno mit bescheidenen Mitteln versucht habe, dem gesellschaftlichen Unheil entgegenzuarbeiten. Er tat dies insbesondere mit drei allgemeinverständlichen Vorträgen: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit (1959; GS 10/2: 555–575), Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute (1962; GS 20/1: 360–383) und, als einer seiner bekanntesten pädagogischen Texte, Erziehung nach Auschwitz (1966; GS 10/2: 674–690). Der Kulturwissenschaftler Volker Heins hat nach der ersten Durchsicht der im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung anstehenden Publikationen Adornos mit „improvisierten Vorträgen“ (2 Bände) und mit „Gesprächen, Diskussionen und Interviews“ (3 Bände) bei ihm eine „aufklärerische Prämisse der Einsichtsfähigkeit und Erziehbarkeit des Publikums“ entdeckt, die deutliche Spannungen „zwischen seiner Kritischen Theorie und der Rhetorik seiner öffentlichen Vorträge“ erkennen lasse. Die vorgesehene zweibändige Publikation kam nicht zustande. Aus diesem Fundus stammt die Einzelveröffentlichung Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, die einen im April 1967 auf Einladung des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs an der Wiener Universität gehaltenen Vortrag enthält. In ihm setzte sich Adorno mit dem damaligen Aufstieg der NPD auseinander. Im Herbst 2019 erschien ein von Michael Schwarz herausgegebener Sammelband mit nach Tonbandaufnahmen und Abschriften rekonstruierten Vorträgen 1949–1968, der jedoch neben bildungspolitischen auch kultur- und musikkritische Vorträge enthält. Halbbildung Eine für die Pädagogik im Rahmen der Bildungstheorie bedeutsam gewordene Schrift ist Adornos Theorie der Halbbildung (1959). In diesem kurzen, aber programmatischen Essay übt Adorno eine radikale Kritik am Bildungsbegriff. Bildung ist für ihn Dies ist nun so zu verstehen, dass Adorno die Aufgabe von Bildung gerade darin sieht, sie als in sich gespalten zu begreifen: Bildung oszilliert für ihn zwischen denkbaren, aber gesellschaftlich niemals einholbaren Bezugspunkten wie „Autonomie und Freiheit“ (GS 8: 104) und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in die die Menschen verstrickt sind – damit zwischen einer vorgestellten Idee von Bildung und der gesellschaftlichen Vereinnahmung dieser Idee – Halbbildung. Für Adorno bedeutet diese Gegensätzlichkeit von Bildung und Halbbildung als ihrer sozialisierten Form aber zunächst nichts „Schlechtes“, im Gegenteil, Zweck seiner bildungstheoretischen Bemühungen ist die Offenhaltung des „Kraftfeld[es], das Bildung hieß“ (GS 8: 96). Die Strategie, die er verwendet, um dies einsichtig zu machen, ist die der bestimmten Negation: Diese an Hegel angelehnte Vorgehensweise stellt nicht nur den moralphilosophischen Kern seiner Gesellschaftskritik dar (s. dazu an mehreren Stellen weiter oben), sondern liegt auch seinen pädagogischen Überlegungen zugrunde. Die Inszenierung der Bildung als Halbbildung, als „der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist“ (GS 8: 108), ist, folgt man der Vorgehensweise der bestimmten Negation, nicht als Destruktion und Auflösung von Bildung zu verstehen. Ziel der als ausweglos dargestellten Situation (in der Bildung unmöglich erscheint) ist vielmehr die Erzeugung einer Einsicht in die unauflösliche Spannung der Bildung, einer Einsicht dessen, dass, wer vorgibt, Bildung zu besitzen, diese im selben Moment „eigentlich schon nicht mehr“ (GS 8: 104) besitzt. Wird also versucht, Bildung „dingfest“, d. h. am Einzelnen mess- und überprüfbar zu machen, so ist dies keine Bildung mehr, sondern Halbbildung. Daher gibt es in dem Augenblick, in dem davon geredet wird, gebildet zu sein, Kompetenzen zu besitzen usw. Bildung in Wirklichkeit schon nicht mehr. Im Eingestehen dessen, dass der vermeintliche Besitz von Bildung selbst bereits die Auflösung der Bildung darstellt, läge für Adorno die Hoffnung und das bildende Moment. Insofern ist, so könnte man vielleicht abschließend sagen, Bildung für Adorno kein starres Sein, sondern sie ist im ständigen Werden zu begreifen. Musikalische Schriften Rolf Wiggershaus sieht in der Musikphilosophie den „Ausgangs- und Endpunkt“ des Adorno’schen Denkens. Für Heinz-Klaus Metzger ist er „der erste wahrhaft geschulte Musiker unter den Philosophen“. Seine ersten musikphilosophischen und -soziologischen Aufsätze veröffentlichte er in der Zeitschrift für Sozialforschung (1932: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik; 1936: Über Jazz, unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler; 1938: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens; 1939: Fragmente über Wagner; 1941: On Popular Music). In der 20-bändigen Ausgabe seiner Gesammelten Schriften sind allein acht Bände den musikalischen Schriften Adornos vorbehalten (Bände 12 bis 19), beginnend mit der Philosophie der neuen Musik (Erstausgabe 1949), über die musikalischen Monographien zu Richard Wagner, Gustav Mahler und Alban Berg (GS 13) und endend mit der Sammlung seiner Opern- und Konzertkritiken. Dass die musikalischen mit den philosophischen Schriften Adornos eng verzahnt sind, bringt der Autor bereits in seiner ersten Buchveröffentlichung nach dem Zweiten Weltkrieg, der Philosophie der neuen Musik, zum Ausdruck. In der „Vorrede“ bezeichnet er sie als einen „ausgeführten Exkurs zur Dialektik der Aufklärung“ (GS 12: 11). Adorno spricht von der Affinität zwischen Musik und Philosophie: „Die Philosophie sehnt sich nach der Unmittelbarkeit der Musik, wie sich die Musik nach der ausdrücklichen Bedeutung der Philosophie sehnt.“ Zum Verständnis von Musik tragen nach Adorno sowohl sinnliches Erleben – in seinem Verständnis: mimetischer Nachvollzug durch Hören, Darstellen und Aufführen – als auch die begriffliche Reflexion bei. „Ästhetische Reflexion von Musik ohne mimetischen Nachvollzug ist leer, ästhetische Erfahrung von Musik ohne begrifflichen Nachvollzug ist taub.“ In seinem frühen Aufsatz von 1932 – Zur gesellschaftlichen Lage der Musik – befindet er, dass alle Musik das Zeichen der Entfremdung trage und als Ware fungiere. Über ihre Authentizität entscheide, ob sie sich Marktbedingungen widersetze oder unterwerfe. Ihre gesellschaftliche Funktion erfülle sie, wenn „sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung“ bringe (GS 18: 731). Unter den Formen der Neuen Musik billigt er Authentizität vornehmlich der atonalen Musik der Schönberg-Schule zu. Nach Aussage des Komponisten und Musikwissenschaftlers Dieter Schnebel hatte er „große Schwierigkeiten mit Musik, die anders strukturiert war als die der Wiener Schule“. So galten ihm Strawinski als „technisch reaktionär“ (GS 12: 57) und Paul Hindemith als dessen neoklassizistisches Pendant; und so begegnete er dem Werk von John Cage reserviert. Zu den umstrittensten Themen seiner musikalischen Schriften zählen sein Verdikt über den Jazz und seine These vom Materialfortschritt in der Musik. Mit der These „Der Jazz ist Ware im strikten Sinn“ (GS 17: 77) formulierte Adorno seine erste prinzipielle Polemik gegen die aufkommende Unterhaltungsindustrie, die später in der Dialektik der Aufklärung die Bezeichnung Kulturindustrie erhalten sollte. Martin Jay verweist darauf, dass Adorno den Jazz noch nicht aus erster Hand kannte. Richard Klein, Mitbegründer des Projekts und der Zeitschrift Musik & Ästhetik und Mitherausgeber des Adorno-Handbuchs, spricht von Adornos „notorisch verständnislosen Äußerungen zum Jazz“. Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen räumt hingegen ein, dass Adorno die musikalischen Phänomene im Jazz genau beschrieben, aber daraus die falschen Konsequenzen gezogen habe. Adorno hat seine Auffassung vom Jazz auch in späteren Veröffentlichungen nie mehr grundsätzlich verändert. Zentral für die Musikphilosophie Adornos ist das Theorem vom unilinearen Fortschritt des musikalischen Materials, der sich in der „Verbrauchtheit und dem Neuwerden von Klängen, Techniken und Formen“ manifestiere. Die Vorgeformtheit des musikalischen Materials verleihe ihm einen Eigensinn und stelle Anforderungen an die kompositorische Arbeit, die gleichwohl die Spontaneität des Subjekts verlange. „Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren davon her, daß das ‚Material‘ selber sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbstvergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze.“ (GS 12: 39) Der Materialbegriff sei gleichsam die „Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft“. Als „Objektivation künstlerischer, geistiger Arbeit“ berge es – vermittelt durch das in der Gesellschaft seiner Zeit verankerte Bewusstsein des Künstlers – „Spuren der jeweils herrschenden Gesellschaft“. Als ein Schüler der Schönberg-Schule sieht Adorno im Übergang von der Tonalität zur Atonalität der Zwölftontechnik einen geschichtlich unausweichlichen Schritt, analog demjenigen von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion in der Malerei (GS 12: 15). Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus beurteilt Adornos Stellung zum Zwölftonsystem wie folgt: Einerseits hielt er es „für die notwendige Konsequenz aus der fortschreitenden Verdichtung der thematischen Arbeit von Beethoven über Brahms bis zu Schönberg, andererseits sah er in ihr einen Systemzwang, der die Musik gleichsam aushöhlte. Das blieb bei ihm als offene Dialektik stehen.“ In seinem Kranichsteiner Vortrag von 1961 Vers une musique informelle betrachtet Adorno die Zwölftontechnik als notwendiges Durchgangsstadium „zur Überwindung der Tonalität und hin zu einer befreiten, nachtonalen Musik“ – einer musique informelle. Zu ihrer Charakterisierung verwendet Adorno starke Bilder: Sie sei „in allen Dimensionen […] ein Bild der Freiheit“ und „ein wenig wie Kants ewiger Frieden“ (GS 16: 540). In den 1960er Jahren veröffentlichte er, nach Eislers Tod, die gemeinsam mit ihm in den USA geschriebene Arbeit Komposition für den Film unter beider Namen. Kompositionen Adorno verstand sich in seiner Selbsteinschätzung als „Musiker der zweiten Wiener Schule“. Als Komponist hat er jedoch nur ein schmales Werk hinterlassen, darunter Klavierstücke, meistens Miniaturen, Lieder, Orchesterstücke und zwei Fragmente aus einer geplanten Oper. Nach 1945 hat er das Komponieren ganz aufgegeben. Der französische Dirigent und Komponist René Leibowitz rechnet Adornos Kompositionen der freien Atonalität zu. Sie seien völlig von den klassischen tonalen Funktionen emanzipiert, ohne sich – bis auf wenige Ausnahmen – „den genauen Prinzipien der Reihen- oder Zwölftonkompositionen zu unterwerfen“. Der Komponist Dieter Schnebel verortet sie zwischen den Kompositionen Anton Weberns und Alban Bergs. Adornos „authentische kompositorische Aktivität“ ist Leibowitz zufolge dem hohen Niveau seiner musiktheoretischen Schriften zugutegekommen. Dem Komponisten Hans Werner Henze, klangen Adorno Lieder, die er ihm am Klavier vorgespielt und vorgesungen hatte, „wie eine intelligente Fälschung“. Von Adornos Kompositionen wurden zu seinen Lebzeiten nur die Sechs kurzen Orchesterstücke. op. 4, gedruckt; die Partitur erschien 1968 bei Ricordi in Mailand. Heinz-Klaus Metzger, ein Freund Adornos, gab gemeinsam mit dem Komponisten Rainer Riehn Adornos Kompositionen in zwei Bänden in der Münchner edition text + kritik heraus (1981). 2007 erschien, herausgegeben von Maria Luisa Lopez-Vito und Ulrich Krämer, ein abschließender dritter Band von Adornos Kompositionen, der neben den Klavierstücken im Nachlass vorhandene, vom Komponisten jedoch verworfene Kompositionen enthält. Gespielt wurde der Komponist Adorno vor 1933 gelegentlich, erst seit den fünfziger Jahren etwas häufiger. 1923 wurde ein Streichquartett des jungen Komponisten als Teil eines Konzerts des Lange-Quartetts aufgeführt, das ihm die Anerkennung eines Kritikers eintrug, „fast gleichberechtigt neben seinem Lehrer Bernhard Sekles und seinem Rivalen Paul Hindemith genannt“ zu werden. Im Dezember 1926 wurden seine unter der Ägide Bergs entstandenen Zwei Stücke für Streichquartett. op. 2, im Rahmen des Programms der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik vom Kolisch-Quartett uraufgeführt, 1928 seine Sechs kurzen Orchesterstücke. op. 4, in Berlin unter Leitung von Walter Herbert. Die Dirigenten Gary Bertini, Michael Gielen, Giuseppe Sinopoli und Hans Zender sowie der Violinist Walter Levin mit dem LaSalle String Quartet setzten sich für den Komponisten Adorno ein. Die Sängerin Carla Henius hat sich sehr für sein Schaffen eingesetzt; mit ihr trat er manchmal auch gemeinsam auf. Die Pianistin Maria Luisa Lopez-Vito hat seit 1981 die Klavierstücke Adornos nach und nach bei Konzerten in Palermo, Bozen, Berlin, Hamburg und an anderen Orten uraufgeführt. Frühe Streichquartette wurden vom Neuen Leipziger Streichquartett, Streichtrios vom Freiburger trio recherche uraufgeführt. Unter dem schwachen Echo, das seine Kompositionen fanden, hat Adorno gelitten. Sprache und Darstellungsformen Kenner und Analytiker von Adornos Arbeiten haben auf deren Verwandtschaft mit literarischen Texten, musikalischen Kompositionen und den „porösen“ Denkbildern Walter Benjamins hingewiesen. Nach Albrecht Wellmer gleichen seine Texte „komplexen und in jeder Nuance durchgehörten Musikstücken“. Der Komponist und Musikwissenschaftler Dieter Schnebel deutet auf Adornos „Komposition in Sprache“ hin. Während die übliche Sprachgestaltung von Satz zu Satz fortschreitet, gleichen Kompositionen Beziehungsmodellen, die auf Zukünftiges verweisen und an Zurückliegendes erinnern sowie mit Variationen und Kontrasten, Verkürzungen und Erweiterungen arbeiten. Die von ihm häufig gesetzten Paradoxa gleichen Synkopen, die den Text zugleich aufhalten und beschleunigen. Ruth Sonderegger spricht von einer „rhizomartigen Struktur“ der Texte. Adornos Art zu schreiben ist ohne Benjamins Vorbild undenkbar; Adorno verdankt ihm den Hinweis auf das enge Verhältnis von Inhalt und Gestaltung. Seit seinen frühen Schriften betont Adorno ein komplementäres Verhältnis von Form und Inhalt philosophischer Texte. Insbesondere die von Adorno bevorzugten „kleinen Formen“ der philosophischen Darstellung – der Essay, der Traktat, der Aphorismus, das Fragment – sind Musterbeispiele seiner sprachlichen Ausbruchsversuche aus dem überkommenen philosophischen Systemdenken. Der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker weist auf Adornos teils verdeckte Aneignung von Benjamins Motiven hin. Hierzu trägt auch Adornos Abneigung gegen Definitionen und die parataktische Struktur seiner Texte bei, das heißt: Aussagesätze werden nebeneinandergestellt, unter Vermeidung einer hierarchischen Ordnung der Subsumtion, weil in dieser – wie Habermas Adorno interpretiert – „die Allgemeinheit der logischen Form dem Individuellen unrecht tut“. In den Minima Moralia fordert er: „In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen“ (GS 4: 78). Das zugrundeliegende Gestaltungsprinzip, auf das Adorno immer wieder zurückgreift, bezeichnet er mit Konstellation oder Konfiguration. Als Merkmale dieses Verfahrens notiert Martin Mittelmeier die „möglichst differenzierte Aufsplitterung der Phänomene, das Herauslösen aus ihren angestammten Zusammenhängen und Neuzusammensetzung zu ungewohnten Kombinationen“. Das paradoxe Vorhaben, „einen linearen Text nach einem räumlichen Muster zu organisieren“, hat die wechselseitige Erhellung der Begriffe, bei der die Dominanz eines einzelnen Konzepts durch die Gegenüberstellung mit anderen gebrochen wird, zum Ziel. Für einen philosophischen Text wie etwa die Ästhetische Theorie betrachtet Adorno eine stufenweise Argumentation vom Allgemeinen zum Besonderen oder umgekehrt und die „unabdingbare Folge des Erst-Nachher“ als der Sache inadäquat. Programmatischen Charakter für Adornos Schreiben wird seinem Aufsatz Der Essay als Form zugeschrieben. Er ist einer der wenigen Texte, in denen Adorno „Einblicke in seine Werkstatt“ gewährt und metatheoretische Auskunft über die Formen der Darstellung in der Philosophie gibt. In seiner anti-systematischen, parataktischen und von Montagen durchschnittenen Form, seinem „methodisch unmethodischen“ Verfahren (GS 11: 21) bildet der Essay „die Makrostruktur dessen, was auf einer Mikroebene Konstellation und Konfiguration heißt“. Als Darstellungsform will der Essay „mit Begriffen aufsprengen, was in Begriffe nicht eingeht“; er lässt sich weder in die Welt der „organisierten Wissenschaft“ einsperren noch von einer Philosophie vereinnahmen, die mit dem „leeren und abstrakten Rest vorlieb nimmt, was der Wissenschaftsbetrieb noch nicht besetzte“; ihr „innerstes Formgesetz […] ist die Ketzerei“ (GS 11: 32 f.). Britta Scholze zufolge wurden auch die großen Werke – Negative Dialektik und Ästhetische Theorie – nach dem essayistischen Darstellungsmodus verfasst und stellen gewissermaßen „essayistische Mosaike“ dar. Wirkungsgeschichte Adorno hat zumindest im institutionellen Sinn keine „Schule“ gebildet, obwohl es ihm an Schülern nicht mangelte. Das hatte Auswirkungen: Sein Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie wurde nach seinem Tod aufgeteilt und mit Wissenschaftlern besetzt, die teils entgegengesetzte Positionen vertraten. Das Institut für Sozialforschung wurde damit zu einem vorwiegend empirisch ausgerichteten Forschungsinstitut unter der Geschäftsführung Ludwig von Friedeburgs und Gerhard Brandts. Das schriftstellerische Werk Adornos wurde von seinem Schüler Rolf Tiedemann bald in umfangreichen Ausgaben herausgegeben: Gesammelte Schriften (1970 ff.) und Nachgelassene Schriften (1993 ff.), die im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienen. Tiedemann schildert in einem editorischen Nachwort Adornos Desinteresse an der Gesamtdarstellung seines Werkes: „Ihr macht das dann schon“, sei stets die ausweichende Antwort gewesen. Adorno habe es abgelehnt, zum „Museumswärter seines eigenen Denkens“ zu werden. Dies und der Rundfunkvortrag Erziehung zur Mündigkeit sowie Kritik an Denkschulen (Jargon der Eigentlichkeit) lassen den Schluss zu, dass Adorno kein Meister für seine Schüler sein, sondern eher das selbstständige, kritische Denken befördern wollte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass er bestimmte Texte als „Flaschenpost“ bezeichnete, also als eine Botschaft, deren Dechiffrierung zeitlich, räumlich und in der Person des Finders äußerst unbestimmt in der Zukunft liegt. Gegenpositionen Axel Honneth warf Adorno in Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie einen „gesellschaftstheoretischen Reduktionismus“ vor. Seine auf den zivilisatorischen Prozess der Naturbeherrschung fixierte Gesellschaftstheorie lasse eine eigenständige „Sphäre sozialen Handelns“ analytisch nicht mehr zu, worin Honneth eine „Verabschiedung der Soziologie“ sieht. Jürgen Habermas verwies in seinem Philosophischen Diskurs der Moderne auf den „performativen Widerspruch“ in Adornos totalisierender Kritik von Vernunft, Geschichte, Kultur und Gesellschaft. Wenn jegliche Vernunft als korrumpierte kritisiert werde, stelle sich die Frage nach dem Ort dieser Vernunftkritik. Adorno sei zwar die paradoxe Struktur seines Denkens bewusst gewesen, er habe sich aber ad hoc auf die „bestimmte Negation“ Hegels zurückgezogen. In seiner „hemmungslosen Vernunftskepsis“ habe Adorno den vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne unterschätzt und gegenüber den „Errungenschaften des okzidentalen Rationalismus“ eine gewisse Unbekümmertheit gezeigt. Mit Georg Lukács, dessen Frühwerke (Die Theorie des Romans, Geschichte und Klassenbewußtsein) Adorno überaus schätzte und die aus seinem Bildungsweg „schlechterdings nicht wegzudenken sind“, geriet er in den 1950er und späteren Jahren in eine scharfe Kontroverse, die sich an ästhetischen Fragen entzündete, aber schließlich auch die wechselseitige Kritik an den politischen Optionen beider einbezog. Mit Lukács stimmte Adorno darin überein, dass Kunst ein Medium der Erkenntnis sei (Erpreßte Versöhnung. GS 11: 264), er lehnte aber vehement die von Lukács vertretene „Widerspiegelungstheorie“ ab, der zufolge ein Kunstwerk die objektive und gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegeln solle (Erpreßte Versöhnung, GS 11: 253). In dieser Frage wirft Adorno Lukács „verbissenen Vulgärmaterialismus“ vor. Das Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit sieht Adorno vielmehr darin, dass Kunst „in ihrer autonomen Konstitution ausspricht, was von der empirischen Gestalt der Wirklichkeit verschleiert wird“ (Erpreßte Versöhnung, GS 11: 264). Politisch wirft Adorno Lukács vor, sich dem „trostlosen Niveau“ bornierter Parteifunktionäre anzupassen, im Wahn, in einer nichtantagonistischen Gesellschaft zu leben (Erpreßte Versöhnung, GS 11: 279). Lukács hingegen bezeichnet Adorno als einen im „nonkonformistisch maskierten Konformismus“ Befangenen, der das „Grand Hotel Abgrund“ bezogen habe, wo er mit anderen westlichen Intellektuellen den raffinierten Komfort genieße. Kritik an Adornos Negativer Dialektik übte Jean Améry 1967 in einem Aufsatz, den er in ironischer Abwandlung des Titels der von Adorno gegen Martin Heidegger gerichteten Schrift, Jargon der Eigentlichkeit, mit Jargon der Dialektik überschrieb. Als Überlebender von Auschwitz kritisierte er, dass unter der Formel „absolute Negativität“ Auschwitz zur dialektischen Selbsterhöhung des philosophischen Gedankens herhalten muss – in einer „von sich selber bis zur Selbstblendung entzückten Sprache“. Konträre Positionen zu Adornos Wissenschaftsverständnis bezogen die Vertreter des Kritischen Rationalismus wie Karl Raimund Popper und Hans Albert sowie zahlreiche Vertreter der Mainstream-Soziologie, die sich als Erfahrungswissenschaftler verstanden oder der quantitativ orientierten empirischen Sozialforschung zurechneten. Ralf Dahrendorf vertrat im so genannten Positivismusstreit eine zwar eigene Position zwischen den Kontrahenten, die aber dem Denken Poppers näher stand als dem der Frankfurter Schule. In Alphons Silbermann hatte Adorno einen streitbaren Kontrahenten der empirischen Kunst- und Kultursoziologie. Die musiktheoretische Position Adornos wurde bereits vor der Postmoderne in Frage gestellt. In einer resümierenden Kritik monierte der Habermas-Schüler Albrecht Wellmer, dass Adorno mit seiner These eines unilateralen Fortschritts und eines eindeutig bestimmbaren Entwicklungsstandes des musikalischen Materials Debussy, Varèse, Bartók, Strawinsky und Ives beiseite geschoben oder offen als Irrwege diffamiert habe. Eine „eigentümliche Blickverengung“ und die „Fixierung auf die deutsch-österreichische Musiktradition“ hätten ihn den „produktiven Pluralismus von Wegen zur Neuen Musik im 20. Jahrhundert“ verkennen lassen. Hans Robert Jauß, prominenter Vertreter der Rezeptionsästhetik, führt gegen Adornos „Ästhetik der Negativität“ ins Feld, dass er die „gesamte vorautonome Kunst“, die beachtliche affirmative Kunstwerke aufweise, „nicht auf den Generalnenner der Negativität zu bringen“ vermöge, dass er ästhetische Erfahrung und Wechselwirkung von Kunstwerk und Publikum ignoriere und den Kunstgenuss als banausenhaft missbillige. Unverständlichkeitsvorwurf Adorno gilt gemeinhin als besonders schwer zu lesender oder zu verstehender Autor. Dem entgegnete Adorno häufig, dass er, „wenn es die Sache nur zulassen würde, gern einfacher schriebe.“ Henning Ritter hielt den Vorwurf der Unverständlichkeit Adornos für eine Legende, welche sich einerseits aus der Häufung von Fremdwörtern, aber mehr noch aus einer im philosophischen Zusammenhang überraschenden Simplizität erkläre: „Worte der Umgangssprache werden gleichrangig behandelt wie Begriffe“. Indem er Worte aus unterschiedlichen Sprachdimensionen verwendet, fügt er ihnen Assoziationen und Motive eines bestimmten Materials hinzu, „ob es nun ‚tough baby‘ oder ‚ecriture‘ oder ‚dejavu‘ ist“. Adorno benutze Alltagsworte als banale Einsprengsel, „um dann doch Dinge zu sagen, die jenseits jeder Banalität liegen – so wie Kunst aus irgendwo gefundenen Dingen gemacht wird“. Erinnerungen Theodor-W.-Adorno-Preis Die Stadt Frankfurt stiftete 1976 den Theodor-W.-Adorno-Preis. Ebendort wurde 1985 von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur das Theodor W. Adorno Archiv gegründet, in dem der wissenschaftliche und künstlerische Nachlass Adornos mit dem Nachlass Walter Benjamins vereinigt werden konnte. Das Archiv wurde von 1985 bis 2002 von Rolf Tiedemann aufgebaut und geleitet, der auch die Reihe Frankfurter Adorno Blätter, die Erstdrucke Adorno’scher Texte mit Diskussionsbeiträgen zu seinem Denken vereinigte und die Dialektischen Studien herausgab, in denen unzugängliche und neuere Arbeiten aus der Schule oder dem Geist Adornos publiziert wurden. 2004 wurde der Benjamin-Nachlass aus dem Theodor W. Adorno Archiv wieder ausgegliedert und in der Archivabteilung der Berliner Akademie der Künste deponiert; der Adorno-Nachlass befindet sich inzwischen im Frankfurter Institut für Sozialforschung. Zum 100. Geburtstag Adornos im Jahr 2003 rief die Stadt Frankfurt ein Adorno-Jahr aus. Denkmal und Platznamen In unmittelbarer Nähe zur Frankfurter Universität am Campus Bockenheim wurde ein Platz in Theodor-W.-Adorno-Platz (jetzt: Tilly-Edinger-Platz) umbenannt und 2003 das Adorno-Denkmal für den Philosophen eingeweiht: ein Glaskasten mit Stuhl, Schreibtisch und einem darauf befindlichen Metronom. An seinem vormaligen Wohnhaus im Kettenhofweg im Frankfurter Westend, in dem Adorno von 1949 bis 1969 lebte, erinnert eine Gedenktafel an sein Wirken. Das Denkmal wurde 2016, der Platzname bereits 2015 an den Campus Westend verlegt. Fußgängerampel Die Adorno-Ampel, eine 1987 errichtete Fußgängerampel, neben dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Biographien Im Adorno-Jahr erschienen neben mehreren Einführungen und Text-Ausgaben auch drei umfangreiche Biographien Adornos: Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie Frankfurt am Main, Suhrkamp 2003, Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Fischer, Frankfurt am Main 2003, Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie. DVA, München 2003. Ehrungen 1954 Arnold-Schönberg-Medaille 1959 Deutscher Kritikerpreis für Literatur 1963 Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main 1987 Adorno forderte 1962 nach einem tödlichen Verkehrsunfall in der Senckenberganlage Ampelanlagen, diese wurde 25 Jahre später errichtet und trägt seinen Namen 2013 Ein Asteroid des äußeren Hauptgürtels wird nach ihm benannt: (21029) Adorno 2015 Ein zentraler Platz in Frankfurt am Main auf dem Campus Westend der Goethe-Universität nach ihm „Theodor-W.-Adorno-Platz“ benannt. Ein 2015 gegründetes Gymnasium in Frankfurt trägt seit Januar 2018 den Namen Adorno-Gymnasium. Es soll im Sommer 2019 einen provisorischen Standort auf dem Campus Westend erhalten und langfristig einen Neubau an der Miquelallee beziehen. Am 27. Juni 2021 wurden für Theodor W. Adorno und seine Eltern, Maria Calvelli-Adorno und Oskar Wiesengrund in Frankfurt am Main Stolpersteine verlegt. Die Zeremonie fand vor dem Haus, das die Familie Wiesengrund-Adorno 1914 bezog, statt. Seit Dezember 2022 erinnert ein Informationstafel am Standort des früheren Geburtshauses Schöne Aussicht Nr. 9 in Frankfurt am Main mit einem historischen Foto an das Geburtshaus und die benachbarte Weinhandlung des Vaters. Bekannte Schüler Regina Becker-Schmidt (* 1937), Soziologin Heide Berndt (1938–2003), Stadtsoziologin Silvia Bovenschen (1946–2017), Schriftstellerin Bazon Brock (* 1936), Professor für Ästhetik Peter Bulthaup (1934–2004), Philosoph und Chemiker Detlev Claussen (* 1948), Soziologe Michaela von Freyhold (1940–2010), Entwicklungssoziologin Peter Furth (1930–2019), Sozialphilosoph Peter Gorsen (1933–2017), Kunstwissenschaftler Karl Heinz Haag (1924–2011), Philosoph Jürgen Habermas (* 1929), Politologe und Sozialphilosoph Peter von Haselberg (1908–1994), Journalist Hans Imhoff (* 1939), Aktionskünstler und Schriftsteller Joachim Kaiser (1928–2017), Musik- und Literaturkritiker Alexander Kluge (* 1932), Jurist, Autor und Filmer Hans-Jürgen Krahl (1943–1970), Studentenaktivist in 68er-Bewegung und SDS Elisabeth Lenk (1937–2022), Soziologin Kurt Lenk (1929–2022), Politologe Rudolf zur Lippe (1937–2019), Philosoph Werner Mangold (1927–2020), Soziologe Otwin Massing (1934–2019), Politikwissenschaftler und Soziologe Günther Mensching (* 1942), Philosoph Heinz-Klaus Metzger (1932–2009), Musiktheoretiker Karl Markus Michel (1929–2000), Schriftsteller und Publizist Ivan Nagel (1931–2012), Theaterwissenschaftler, Publizist und Intendant Oskar Negt (* 1934), Sozialphilosoph Dieter Prokop (* 1941), Soziologe Ulrike Prokop (* 1945), Sozialwissenschaftlerin Helmut Reichelt (* 1939), Soziologe Alfred Schmidt (1931–2012), Philosoph Hermann Schweppenhäuser (1928–2015), Philosoph und Publizist Monika Seifert (1932–2002), Soziologin und Pädagogin Bassam Tibi (* 1944), Politikwissenschaftler Rolf Tiedemann (1932–2018), Philosoph und Philologe Albrecht Wellmer (1933–2018), Philosoph Rolf Wiggershaus (* 1944), Publizist Gisela von Wysocki (* 1940), Schriftstellerin Schriften Buchausgaben zu Lebzeiten: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Tübingen 1933. Willi Reich (Hrsg.): Alban Berg. Mit Bergs eigenen Schriften und Beiträgen von Theodor Wiesengrund-Adorno und Ernst Krenek. Wien, Leipzig, Zürich 1937. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947 Philosophie der neuen Musik. Tübingen 1949. Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford: The Authoritarian Personality. New York 1950, in Deutschland posthum erschienen unter dem Titel Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main 1973 (vgl. auch Autoritäre Persönlichkeit) Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin, Frankfurt am Main 1951 Versuch über Wagner. Berlin, Frankfurt am Main 1952. Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Berlin, Frankfurt am Main 1955. Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Stuttgart 1956. Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen 1956. Aspekte der Hegelschen Philosophie. Berlin, Frankfurt am Main. 1957. Noten zur Literatur I. Berlin, Frankfurt am Main 1958. Klangfiguren. Musikalische Schriften I. Berlin, Frankfurt am Main 1959. Mahler. Eine musikalische Physiognomik. Frankfurt am Main 1960. Noten zur Literatur II. Frankfurt am Main 1961. Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt am Main 1962. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Sociologica II. Reden und Vorträge. Frankfurt am Main 1962. Drei Studien zu Hegel. Frankfurt am Main 1963. Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt am Main 1963. Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis. Frankfurt am Main 1963. Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II. Frankfurt am Main 1963. Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928–1962. Frankfurt am Main 1964. Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt am Main 1964 Noten zur Literatur III. Frankfurt am Main 1965. Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966 Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt am Main 1967. Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs. Wien 1968. Impromptus. Zweite Folge neu gedruckter musikalischer Aufsätze. Frankfurt am Main 1968. Sechs kurze Orchesterstücke op. 4 <1929>. Milano 1968. Theodor W. Adorno, Hanns Eisler: Komposition für den Film. München 1969. Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt am Main 1969. Sammelausgaben: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bde. 1–20 (in 23 Bdn. geb.). 1. Auflage. Frankfurt am Main 1970–1980. – [Rev. Taschenbuch-Ausg.] Frankfurt am Main 1997. – Lizenzausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1998. – [Revidierte und erweiterte elektronische Ausg. auf CD-ROM:] Digitale Bibliothek Band 97, Directmedia Publishing Berlin 2003, ISBN 3-89853-497-9. Nachgelassene Schriften. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1993 ff. [Bisher erschienen: 12 Bde.] Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften: Band 1: Beethoven. Philosophie der Musik Band 2: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion Band 3: Current of Music. Elements of a Radio Theory Abteilung IV: Vorlesungen: Band I: Erkenntnistheorie (1957/58) Band 4: Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1959) Band 6: Philosophie und Soziologie (1960) Band 9: Philosophische Terminologie Band 10: Probleme der Moralphilosophie (1963) Band 11: Fragen der Dialektik (1963/64) Band 12: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964) Band 15: Einleitung in die Soziologie (1968) Band 17: Kranichsteiner Vorlesungen Eine Auswahl. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1971. – Lizenzausg. des Deutschen Bücherbundes, Stuttgart 1971. Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1971. Philosophie und Gesellschaft. Fünf Essays. Auswahl und Nachwort Rolf Tiedemann. Stuttgart 1984. „Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse.“ Ein philosophisches Lesebuch. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997. Aufarbeitung der Vergangenheit. Reden und Gespräche. Auswahl und Begleittext von Rolf Tiedemann. München 1999, DerHörVerlag. (AUDIO BOOKS. Stimmen der Philosophie.) 5 CD: ISBN 3-89584-730-5; 2 MC: ISBN 3-89584-630-9. Kompositionen. Hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. 2 Bde., München 1980 Kompositionen. Band 3: Kompositionen aus dem Nachlass. Hrsg. von Maria Luisa Lopez-Vito und Ulrich Krämer. München 2007 Klavierstücke. Hrsg. von Maria Luisa Lopez-Vito, Nachwort von Rolf Tiedemann. München 2001 Wichtige postume Einzelausgaben: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1970; 13. Auflage. 1995. Über Walter Benjamin. Hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1970. – [Revidierte und erweiterte Ausg.:] Frankfurt am Main 1990. Noten zur Literatur IV. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1974. Der Schatz des Indianer-Joe. Singspiel nach Mark Twain. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1979. Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hrsg. von Rolf Tiedemann. (Nachgelassene Schriften. Hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv. Abt. I, Band 1.) Frankfurt am Main 1993. – 2. Auflage. 1994. – [Taschenbuch-Ausg.] Frankfurt am Main 2004. Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata. Hrsg. von Henri Lonitz. Frankfurt am Main 2001. (Nachgel. Schr., Abt. I, Band 2.) Ästhetik (1958/59). Hrsg. von Eberhard Ortland. Frankfurt am Main 2009. (Nachgel. Schr., Abt. IV, Band 3.) – [Taschenbuch-Ausg.] Berlin 2017. Ontologie und Dialektik <1960/61>. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2002. (Nachgel. Schr., Abt. IV, Band 7.) Probleme der Moralphilosophie <1963>. Hrsg. von Thomas Schröder. Frankfurt am Main 1996. (Nachgel. Schr., Abt. IV, Band 10.) Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit <1964/65>. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2001. (Nachgel. Schr., Abt. IV, Band 13.) Metaphysik. Begriff und Probleme <1965>. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1998. (Nachgel. Schr., Abt. IV, Band 14.) Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003. (Nachgel. Schr., Abt. IV, Band 16.) Traumprotokolle. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Frankfurt am Main 2005. Hörspielbearbeitung Current of Music. Elements of a Radio Theory, hrsg. von Robert Hullot-Kentor. Frankfurt am Main 2006. Komposition für den Film. Text der Edition in Band 15 der Gesammelten Schriften, durchgesehen, korrigiert und ergänzt von Johannes C. Gall. Mit einem Nachwort von Johannes C. Gall und einer DVD „Hanns Eislers Rockefeller-Filmmusik-Projekt“, im Auftrag der Internationalen Hanns Eisler Gesellschaft hrsg. von Johannes C. Gall. Frankfurt am Main 2006. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag. Berlin 2019, ISBN 978-3-518-58737-9. Bemerkungen zu ›The Authoritarian Personality‹ und weitere Texte., hrsg. v. Eva-Maria Ziege, Suhrkamp, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-29900-5. Vorträge 1949–1968. Hrsg. von Michael Schwarz. Suhrkamp, Berlin 2019. Briefwechsel Theodor W. Adorno – Walter Benjamin: Briefwechsel 1928–1940. Suhrkamp, Frankfurt am Main Theodor W. Adorno – Alban Berg: Briefwechsel 1925–1935. Suhrkamp, Frankfurt am Main Theodor W. Adorno – Max Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937. Suhrkamp, Frankfurt am Main Theodor W. Adorno – Max Horkheimer: Briefwechsel 1938–1944. Suhrkamp, Frankfurt am Main Theodor W. Adorno – Max Horkheimer: Briefwechsel 1945–1949. Suhrkamp, Frankfurt am Main Theodor W. Adorno – Max Horkheimer: Briefwechsel 1950–1969. Suhrkamp, Frankfurt am Main Theodor W. Adorno – Thomas Mann: Briefwechsel 1943–1955. Suhrkamp, Frankfurt am Main Theodor W. Adorno – Rudolf Kolisch: Briefwechsel 1926–1969, Suhrkamp, Berlin Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Theodor W. Adorno – Ernst Krenek: Briefwechsel 1929–1964. Suhrkamp, Berlin 2020 (zuerst Frankfurt am Main 1974). Theodor W. Adorno – Heinz-Klaus Metzger: Briefwechsel 1954–1967. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Asaf Angermann (Hrsg.): Theodor W. Adorno – Gershom Scholem: Der liebe Gott wohnt im Detail. Briefwechsel 1939–1969. Suhrkamp, Berlin 2015, ISBN 978-3-518-58617-4. Wolfgang Schopf (Hrsg.): „So müßte ich ein Engel und kein Autor sein“. – Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003 Theodor W. Adorno – Lotte Tobisch: Der private Briefwechsel (1962–1969). Herausgegeben von Bernhard Kraller und Heinz Steinert. Droschl, Graz 2003 Theodor W. Adorno – Paul Celan: Briefwechsel 1960–1968. Hrsg. v. Joachim Seng. In: Frankfurter Adorno Blätter VIII. edition text + kritik 2003, S. 177–202. Theodor W. Adorno und Elisabeth Lenk: Briefwechsel 1962–1969. Herausgegeben von Elisabeth Lenk. edition text + kritik, München 2001 Theodor W. Adorno – Harald Kaufmann: Briefwechsel 1967–1969. In: Harald Kaufmann: Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik Hg. v. Werner Grünzweig und Gottfried Krieger. Wolke, Hofheim 1993, S. 261–300. Theodor W. Adorno und Alfred Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936–1969. Herausgegeben von Christoph Gödde. edition text + kritik, München 1991. Theodor W. Adorno und Ulrich Sonnemann: Briefwechsel 1957–1969. Herausgegeben und kommentiert von Martin Mettin und Tobias Heinze. In: Zeitschrift für kritische Theorie. Band 25, Nr. 48/49, 2019, S. 167–222. Theodor W. Adorno: Briefe an die Eltern. 1939–1951. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003. Günther Anders: Briefwechsel mit Theodor W. Adorno. In: Günther Anders: Gut, dass wir einmal die hot potatos ausgraben. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Helmuth Plessner. Beck, München 2022, S. 45-95 und 264-292. Kompositionen Vier Gedichte von Stefan George für Singstimme und Klavier, op. 1 (1925–1928) Zwei Stücke für Streichquartett, op. 2 (1925–1926) Vier Lieder für eine mittlere Stimme und Klavier, op. 3 (1928) Sechs kurze Orchesterstücke, op. 4 (1929) Klage. Sechs Lieder für Singstimme und Klavier, op. 5 (1938–1941) Sechs Bagatellen für Singstimme und Klavier, op. 6 (1923–1942) Vier Lieder nach Gedichten von Stefan George für Singstimme und Klavier, op. 7 (1944) Drei Gedichte von Theodor Däubler für vierstimmigen Frauenchor a cappella, op. 8 (1923–1945) Zwei Propagandagedichte für Singstimme und Klavier, o. O. (1943) Sept chansons populaires francaises, arrangées pour une voix et piano, o. O. (1925–1939) Zwei Lieder mit Orchester aus dem geplanten Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe nach Mark Twain, o. O. (1932/33) Kinderjahr. Sechs Stücke aus op. 68 von Robert Schumann, für kleines Orchester gesetzt, o. O. (1941) Kompositionen aus dem Nachlaß (Klavierstücke, Klavierlieder, Streichquartette, Streichtrios u. a.), vgl. Theodor W. Adorno: Kompositionen Band 3. hg. von Maria Luisa Lopez-Vito und Ulrich Krämer, München 2007. Literatur Einführungen Deborah Cook (Hrsg.): Theodor Adorno: Key Concepts. Acumen, Stocksfield 2008, ISBN 978-1-84465-120-7. Richard Klein, Johann Kreuzer, Stefan Müller-Doohm (Hrsg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-476-02626-2 (zuerst 2011). Stefan Müller-Doohm: Die Soziologie Theodor W. Adornos. Eine Einführung. Campus, Frankfurt am Main 1996. Hartmut Scheible: Theodor W. Adorno mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek 1989. Gerhard Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno zur Einführung. 7. ergänzte Auflage. Junius, Hamburg 2019, ISBN 978-3-88506-671-2. Tilo Wesche: Adorno. Eine Einführung. Reclam, Ditzingen 2018. Rolf Wiggershaus: Theodor W. Adorno. C. H. Beck, München 1987. Über Theodor W. Adorno. Mit Beiträgen von Kurt Oppens, Hans Kudszus, Jürgen Habermas, Bernard Willms, Hermann Schweppenhäuser und Ulrich Sonnemann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968. Biographien Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-10-010813-2. Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie. 2. Auflage. DVA, München 2003, ISBN 3-421-05493-2. Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-58378-6. Biographische Orte Martin Mittelmeier: Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt. Siedler, München 2013. Claus Offe: Kulturindustrie und andere Ansichten des amerikanischen Jahrhunderts. In: Ders.: Selbstbetrachtung aus der Ferne: Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, S. 91–120. Reinhard Pabst (Hrsg.): Theodor W. Adorno. Kindheit in Amorbach. Bilder und Erinnerungen. Insel, Frankfurt am Main 2003. Wolfram Schütte (Hrsg.): Adorno in Frankfurt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003 Heinz Steinert: Adorno in Wien. Über die (Un-)Möglichkeit von Kunst, Kultur und Befreiung. Fischer, Frankfurt am Main 1989 Viktor Žmegač: Adorno und die Wiener Moderne der Jahrhundertwende. In: Axel Honneth / Albrecht Wellmer (Hrsg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10.–15. Dezember 1984 in Ludwigsburg. Walter de Gruyter, Berlin, New York 1986, S. 321–338. Adorno Blätter Rolf Tiedemann (Hrsg.): Frankfurter Adorno Blätter. Band I–VIII. edition text + kritik, 2003, ISBN 3-88377-752-8. Adorno-Konferenzen Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hrsg.): Adorno-Konferenz 1983. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983. Michael Löbig, Gerhard Schweppenhäuser (Hrsg.): Hamburger Adorno-Symposion. Lüneburg 1984, ISBN 3-924245-01-0. Frithjof Hager, Hermann Pfütze (Hrsg.): Das unerhört Moderne. Berliner Adorno-Tagung. zu Klampen, Lüneburg 1990, ISBN 3-924245-17-7. Axel Honneth (Hrsg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005. Andreas Gruschka, Ulrich Oevermann (Hrsg.): Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno. Wetzlar 2004, ISBN 3-88178-324-5. Frankfurter Seminare Frankfurter Seminare. Gesammelte Sitzungsprotokolle 1949–1969, Band 1 bis 4, hrsg. v. Dirk Braunstein, De Gruyter, Berlin, Boston 2021. Weiterführende Studien Alex Demirovic: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-29040-1. Wolfram Ette, Günter Figal, Richard Klein, Günter Peters (Hrsg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Alber, Freiburg/ München 2004. Gillian Rose: The Melancholy Science. An Introduction to the Thought of Theodor W. Adorno. Macmillan, London 1978, ISBN 0-333-23214-3. Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.): Theodor W. Adorno zum Gedächtnis. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971 Rolf Tiedemann: Niemandsland. Studien mit und über Theodor W. Adorno. München 2007, ISBN 978-3-88377-872-3. Zeitschrift für Ideengeschichte: Adorno. Heft XIII/1 – Frühjahr 2019. Philosophie Dirk Auer, Lars Rensmann, Julia Schulze Wessel (Hrsg.): Arendt und Adorno. 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-29235-8. Jürgen Habermas: „Ich selber bin ja ein Stück Natur“ – Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. In: Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-58448-0, S. 187–215. Fredric Jameson: Spätmarxismus. 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Dokumentarfilm, Deutschland, 2003, 58:50 Min., Buch und Regie: Meinhard Prill und Kurt Schneider, Produktion: arte, SWR, Erstsendung: 8. August 2003 bei arte, Inhaltsangabe von ARD. Hörspiel Traumprotokolle. Mit Andreas Dorau. Komposition und Realisation: zeitblom. BR-Hörspiel und Medienkunst 2016. Als Podcast/Download im BR Hörspiel Pool. Frankfurter Adorno-Vorlesungen Seit 2002 werden vom Frankfurter Institut für Sozialforschung und dem Suhrkamp Verlag jährlich stattfindenden Adorno-Vorlesungen an der Frankfurter Universität veranstaltet. Die Preisträger widmen sich heutigen Möglichkeiten kritischer Gesellschaftstheorie als Philosophen, Soziologen, Historiker, Kunsthistoriker, Politologen und Literaturwissenschaftler von internationalem Rang. Siehe Adorno-Vorlesungen Weblinks Audioaufnahmen mit Theodor Adorno in den Onlinebeständen der Österreichischen Mediathek (Vorträge, Interviews) Audiodokumente von Theodor W. Adorno: Radiosendungen, Vorträge, Kompositionen Konzertmitschnitte und Videos zu Musik von Theodor W. Adorno auf Youtube wikibooks Theodor W. Adorno Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis (PDF; 208 kB) Reinhard Pabst: Ein Sohn aus gutem Hause. Theodor W. Adornos Kindheit in Frankfurt – PDF (742,7 kB) Videostream: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen Videostream: Adorno – Wer denkt, ist nicht wütend Videostream: Der Weg Zur Kritischen Theorie – Adorno Horkheimer Fromm Habermas Audiomitschnitt: Gesprächsrunde zu „50 Jahre Minima Moralia“ mit Katharina Hacker, Thomas Lehr und Wilhelm Schmid (2002) Michael Schwarz: „Er redet leicht, schreibt schwer“. Theodor W. Adorno am Mikrophon, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 286–294. Audiomitschnitt des Essays „Was ist deutsch?“ im Deutschlandfunk Nova Hörsaal mit Einordnungen von Dirk Braunstein, Institut für Sozialforschung, Goethe-Universität Frankfurt Theodor W. Adorno Archiv im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Anmerkungen und Einzelnachweise Die von Rolf Tiedemann hrsgg. Gesammelten Schriften werden im Artikel mit dem Kürzel GS und der Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert. Band 1: Philosophische Frühschriften. Frankfurt am Main 1973. Band 2: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt am Main 1979. Band 3: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1987. Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 1980. Band 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel. Frankfurt am Main 1970. Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt am Main 1973. Band 7: Ästhetische Theorie. Hrsg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1970. Band 8: Soziologische Schriften I. Frankfurt am Main 1972. Band 9/1: Soziologische Schriften II. Erste Hälfte. Frankfurt am Main 1971. Band 9/2: Soziologische Schriften II. Zweite Hälfte. Frankfurt am Main 1971. Band 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt am Main 1977. Band 10/2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe. Stichworte. Frankfurt am Main 1977. Band 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1974. Band 12: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt am Main 1975. Band 13: Die musikalischen Monographien. Frankfurt am Main 1971. Band 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt am Main 1973. Band 15: Theodor W. Adorno und Hanns Eisler: Komposition für den Film. Theodor W. Adorno: Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis. Frankfurt am Main 1976. Band 16: Musikalische Schriften I-III: Klangfiguren (I). Quasi una fantasia (II). Musikalische Schriften III. Frankfurt am Main 1978. Band 19: Musikalische Schriften VI. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Klaus Schultz. Frankfurt am Main 1984. Band 20/1: Vermischte Schriften I. Frankfurt am Main 1986. Philosoph (20. Jahrhundert) Kulturphilosoph Soziologe (20. Jahrhundert) Aphoristiker Vertreter der Kritischen Theorie Person (christlich-jüdischer Dialog) Hochschullehrer (Goethe-Universität Frankfurt am Main) Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Komponist klassischer Musik (20. Jahrhundert) Komponist (Deutschland) US-Amerikaner Musikwissenschaftler Musiktheoretiker Musikkritiker Ästhetiker Pädagoge (20. Jahrhundert) Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus NS-Opfer Antisemitismusforscher Frankfurt-Westend Person als Namensgeber für einen Asteroiden Deutscher Geboren 1903 Gestorben 1969 Mann Person, für die in Frankfurt am Main ein Stolperstein verlegt wurde
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https://de.wikipedia.org/wiki/Marshallsche%20Nachfragefunktion
Marshallsche Nachfragefunktion
Als marshallsche Nachfragefunktion (auch walrasianische Nachfragefunktion), benannt nach dem Ökonomen Alfred Marshall (bzw. Léon Walras), bezeichnet man in der Mikroökonomik und dort speziell in der Haushaltstheorie eine mathematische Funktion, die für gegebene Güterpreise und ein gegebenes Einkommen angibt, welche Menge von jedem einzelnen Gut konsumiert werden sollte, wenn man den größtmöglichen Nutzen realisieren möchte. Ausgangspunkt der Überlegungen, die zur marshallschen Nachfragefunktion führen, ist das Prinzip der Nutzenmaximierung: Ein Konsument (typischerweise ein Haushalt) entscheidet selbständig über die Aufteilung seines Vermögens auf den Konsum unterschiedlicher Güter, die zu bestimmten Preisen angeboten werden. Je nachdem, wie er sein Vermögen aufteilt, unterscheidet sich sein Ausgabenplan. Grundidee der marshallschen Nachfrage ist, dass der Konsument immer genau jenen Ausgabenplan wählt, den er allen anderen leistbaren Ausgabenplänen gegenüber vorzieht. Die marshallsche Nachfrage beschreibt genau diesen – optimalen – Ausgabenplan, indem sie angibt, wie viel unter diesem von jedem einzelnen existierenden Gut konsumiert werden soll. Weil es sich um eine Funktion handelt, beschreibt die marshallsche Nachfrage diesen Ausgabenplan nicht nur für irgendeine spezielle Vermögenshöhe und irgendwelche speziellen Güterpreise, sondern für alle möglichen Vermögenshöhen und Güterpreise. Das Konzept der marshallschen Nachfragefunktion lässt sich verallgemeinern. Allgemeiner spricht man dann von einer marshallschen Nachfragekorrespondenz (auch walrasianischen Nachfragekorrespondenz). Dabei wird das mathematische Konzept der Funktion gegen das einer Korrespondenz ausgetauscht, wodurch es möglich wird, dass ein Konsument mit einem gewissen Vermögen und bei gewissen Güterpreisen in der Ökonomie auch mitunter nicht nur einen, sondern mehrere optimale Ausgabenpläne haben kann. Nichttechnische Einführung Idee der Nutzenfunktion Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Nachfrage von Konsumenten nach einem Gut zu modellieren. Welche angemessen ist, hängt davon ab, welche Annahme man über das Zustandekommen der Konsumentscheidung macht. Man könnte etwa davon ausgehen, dass Konsumenten zufällig irgendeine Kombination von Güterbündeln wählen, ungeachtet dessen, wie viel ihnen die entsprechenden Güter überhaupt wert sind; oder man könnte sich vorstellen, dass ein sozialer Planer sämtliches Vermögen der Konsumenten an sich nimmt und ihnen nach eigenen Kriterien bestimmte Warenkörbe zuteilt. Grundgedanke der modernen Nutzentheorie ist indes, dass Konsumenten ihre Entscheidung über den Konsum der Menge an einem bestimmten Gut aufgrund ihrer Präferenzen treffen. Konsumenten verfügen über individuelle Präferenzordnungen; eine solche Präferenzordnung schließt über alle möglichen Kombinationen sämtlicher Güter hinweg die Information ein, ob das eine Güterbündel als mindestens so begehrenswert, als ebenso begehrenswert oder als höchstens so begehrenswert wie das andere Güterbündel empfunden wird (ein Beispiel für ein Güterbündel wäre etwa „1 Apfel, 1 Banane, 0 Orangen und 2 Mangos“ und die individuelle Präferenzordnung mag die Information enthalten, wie sich das Güterbündel „2 Äpfel, 0 Bananen, 1 Orange und 2 Mangos“ für den betrachteten Konsumenten dazu verhält). Eine einfachere Möglichkeit, diese Information auszudrücken, besteht darin, statt komplexer Ordnungen eine einfache Funktion zu betrachten. Unter bestimmten Voraussetzungen lässt sich eine Nutzenfunktion konstruieren, die für ein gegebenes Güterbündel irgendeine Zahl ausgibt. Diese Zahl ist für sich bedeutungslos; ihre Bedeutung ergibt sich erst aus dem Vergleich mit den Nutzenwerten anderer Güterbündel. Daraus wird nämlich offensichtlich, welches Güterbündel der Konsument lieber mag: Vergleicht man irgendwelche zwei Güterbündel, dann ist der Nutzenwert eines Bündels genau dann strikt größer als der eines Bündels , wenn der Konsument, dessen Nutzenfunktion wir betrachten, das Bündel gegenüber bevorzugt. Marshallsche Nachfrage Die marshallsche Nachfrage verbindet diesen Gedanken mit einem verwandten: Ein vernünftiger Konsument wird ein „möglichst bevorzugtes“ Güterbündel konsumieren, was mit vorstehender Überlegung gleichbedeutend dazu ist, dass es ihm einen möglichst hohen Nutzen verschafft. Allerdings kann nicht in uferlosem Ausmaß konsumiert werden. Jeder Konsument unterliegt einer so genannten Budgetrestriktion, das heißt, er kann keine Güterbündel konsumieren, die er sich bei den herrschenden Güterpreisen gar nicht leisten könnte. Unter denjenigen Güterbündeln, die er sich leisten kann, wählt er dann erwähntermaßen genau das, das ihm den größten Nutzen verschafft. Man stelle sich nun vor, dass es nur zwei Güter gibt, die wir möglichst einfach als „Gut 1“ und „Gut 2“ bezeichnen wollen und die zu Preisen bzw. auf dem Markt verfügbar sind. Dann beschreibt das folgende Problem das Nutzenmaximierungsproblem des Konsumenten:     unter den Nebenbedingungen         und     mit dem verfügbaren Vermögen , der nachgefragten Menge von Gut 1 bzw. 2 und der Nutzenfunktion des Konsumenten. Um das Problem handhabbarer zu machen, setzt man zunächst voraus, dass die Nutzenfunktion stetig ist. Damit ist sichergestellt, dass es bei einer geringfügigen Änderung der Menge eines oder mehrerer Güter in einem Güterbündel keinen plötzlichen sprunghaften Anstieg des resultierenden Nutzens gibt. Eine Bemerkung erscheint angebracht: Weil die Preise und das Einkommen in dem obigen Maximierungsproblem Variablen sind, wird die Lösung des Problems kein konkretes Güterbündel sein; welches Güterbündel den Ausdruck maximiert, kommt im Konkreten auf die genauen Güterpreise und das verfügbare Vermögen an, sodass die Lösung von diesen Variablen (den Preisen und dem verfügbaren Vermögen) abhängig sein wird. Die optimale Nachfrage nach Gut 1 beträgt und sie ist abhängig vom Preis dieses Gutes, dem Einkommen , das dem Individuum zur Verfügung steht, sowie vom Preis von Gut 2. Intuitiv kann Letzteres zum Beispiel daran eingesehen werden, dass die nutzenmaximierende Nachfrage nach Autos sicherlich auch davon abhängig ist, ob ein Zugticket 500 Euro oder 5 Euro kostet (das schließt nicht aus, dass der Preis im Einzelfall einmal unabhängig davon sein kann). Folglich ergeben sich aus dem Optimierungsproblem optimale Werte für die beiden Güter: (die marshallsche Nachfrage nach Gut 1) und analog (die marshallsche Nachfrage nach Gut 2). Formale Definition Bezeichne mit die von einem bestimmten Konsumenten nachgefragte Menge von Gut , , und fasse der Vektor die Nachfrage bezüglich aller Güter zusammen. Der Preis jedes Gutes sei strikt positiv, für alle , und man vereinbare als Preisvektor der Ökonomie. Der Nutzen des Konsumenten folge einer stetigen Nutzenfunktion . Der Konsument verfüge über ein Budget in Höhe von . Betrachte nun das Nutzenmaximierungsproblem des Konsumenten unter Berücksichtigung der Budgetrestriktion:     unter der Nebenbedingung     Eine Korrespondenz ist eine mengenwertige Funktion. Während eine Funktion im engeren Sinne jedem Element aus dem Definitionsbereich ein einziges Element aus der Zielmenge (hier also der Menge der Güterbündel) zuordnet, weist eine Korrespondenz jedem Element aus dem Definitionsbereich eine Teilmenge der Zielmenge zu. Die marshallsche Nachfragefunktion kann man also als einen Spezialfall der Nachfragekorrespondenz auffassen, bei dem jedem Tupel eine genau einelementige Teilmenge der Zielmenge zugeordnet wird. Andere Schreibweisen für die Definition der marshallschen Nachfragekorrespondenz sind ebenfalls gebräuchlich. Es ist trivialerweise etwa mit der zulässigen Menge (Budgetmenge). In Worten: Die marshallsche Nachfrage bei einem gegebenen Preissystem und einem gegebenen Haushaltsvermögen entspricht genau der Menge jener zulässigen Güterbündel, die die Eigenschaft haben, dass sämtliche Güterbündel mit strikt größerem Nutzen derart teuer wären, dass ihr Konsum die Budgetrestriktion verletzen würde. Allgemeine Eigenschaften Existenz und Kompaktheit Die marshallsche Nachfragekorrespondenz ist nichtleer und kompaktwertig. Um einzusehen, dass die Nachfragekorrespondenz nichtleer ist, genügt es zu zeigen, dass die Budgetmenge kompakt ist. Denn nach dem Extremwertsatz von Weierstraß nimmt eine stetige Funktion über einer kompakten Menge stets einen Minimal- und einen Maximalwert ein, das heißt, das obige Nutzenmaximierungsproblem hat für alle auch mindestens eine Lösung. Als Teilmenge des ist die (nichtleere) Budgetmenge nun kompakt genau dann, wenn sie beschränkt und abgeschlossen ist (Satz von Heine-Borel). Das ist der Fall: beschränkt ist sie, weil bei der vorausgesetzten strikten Positivität der Preise stets sowie zugleich für alle und für alle ; und abgeschlossen ist sie, weil sie über schwache Ungleichungen definiert ist.Beide Eigenschaften folgen zudem unmittelbar aus dem Maximumsatz von Berge, auf den weiter unten unter „Stetigkeitseigenschaften“ näher eingegangen wird. Konvexität und Funktionseigenschaft 1. Sei die Nutzenfunktion quasikonkav. Dann ist die marshallsche Nachfragekorrespondenz konvexwertig.2. Sei die Nutzenfunktion strikt quasikonkav. Dann ist die marshallsche Nachfragekorrespondenz einelementig für alle , mit anderen Worten: ist eine Funktion. Zu diesen beiden Eigenschaften sei bemerkt, dass die einer quasikonkaven Nutzenfunktion zugrunde liegende Präferenzordnung konvex ist; zu (2.), dass die einer strikt quasikonkaven Nutzenfunktion zugrunde liegende Präferenzordnung strikt konvex ist. Man beachte, dass es für (1.) und (2.) aber nicht genügt, die Konvexität (bzw. strikte Konvexität) der Präferenzordnung vorauszusetzen. Zwar impliziert in der Tat auch umgekehrt die (strikte) Konvexität von , dass jede repräsentierende Nutzenfunktion (strikt) quasikonkav ist. Allerdings existiert nicht für jede (strikt) konvexe Präferenzordnung eine reellwertige Repräsentation. So sind etwa, um das berühmte Beispiel von Debreu (1959) aufzugreifen, lexikographische Präferenzordnungen strikt konvex, aber nicht durch eine Nutzenfunktion repräsentierbar. Es ist jedoch möglich, die hier eingeführten Konzepte auch auf Grundlage von Präferenzordnungen einzuführen, sodass es nicht mehr auf eine Repräsentationsfunktion ankommt.Der Beweis von (1.) beruht auf der Betrachtung zweier Güterbündel , . Aus der Definition der marshallschen Nachfrage folgt zunächst, dass . Bezeichne man dieses Nutzenniveau mit . Für eine quasikonkave Nutzenfunktion gilt definitionsgemäß, dass mit auch für alle . Zudem ist , weil und nach Definition der marshallschen Nachfrage. Folglich ist . Daraus und mit folgt schließlich, dass . Also ist konvex.Zu (2.): (Beweis durch Widerspruch:) Betrachte wiederum zwei Güterbündel , . Abermals gilt definitionsgemäß . Strikte Quasikonkavität impliziert aber für alle – ein Widerspruch. Homogenität Die marshallsche Nachfragekorrespondenz ist homogen vom Grad null in , das heißt für alle und für alle . Es macht für die Konsumentscheidung demnach keinen Unterschied, wenn sowohl das Vermögen als auch alle Güterpreise um denselben Faktor ansteigen bzw. fallen. Dies schließt etwa auch aus, dass es eine Rolle spielt, in welcher Währung Vermögen und Preise fakturiert sind. Die Eigenschaft folgt wegen , das heißt, die Budgetmenge bleibt bei der Modifikation um identisch. Damit bleibt freilich auch die Lösung des Maximierungsproblems von der simultanen Vermögens- und Preisänderung unberührt. Stetigkeitseigenschaften 1. Die marshallsche Nachfragekorrespondenz ist oberhemistetig.2. Falls die marshallsche Nachfragekorrespondenz für alle einelementig und folglich eine Funktion ist, dann ist diese stetig. Die Eigenschaften folgen unmittelbar aus dem Maximum-Satz (Satz von Berge), für den auf eine Fußnote verwiesen wird. Zentrale Voraussetzung für dessen Anwendbarkeit ist die Stetigkeit der durch gegebenen Budgetkorrespondenz, wobei man eine Korrespondenz genau dann als stetig bezeichnet, wenn sie sowohl ober- als auch unterhemistetig (zur Definition siehe Fußnote) ist. Diese beiden Eigenschaften wiederum kann man für die Budgetkorrespondenz nacheinander zeigen. Abgeschlossenheitseigenschaften Die marshallsche Nachfragekorrespondenz ist abgeschlossenwertig und verfügt darüber hinaus sogar über einen abgeschlossenen Graphen. Es würde grundsätzlich genügen, die Abgeschlossenwertigkeit zu zeigen, denn jede oberhemistetige und abgeschlossenwertige Korrespondenz verfügt auch über einen abgeschlossenen Graphen. Die Abgeschlossenwertigkeit ergibt sich wiederum (wie weiter oben schon skizziert) aus dem Satz von Berge (siehe Fußnote). Nachfolgend wird ein „direkter“ Beweis für die Existenz eines abgeschlossenen Graphen skizziert. Betrachte eine Folge im mit dem Grenzwert sowie eine Folge im mit dem Grenzwert . Sei ferner für alle . Zu zeigen: .Nach Definition der marshallschen Nachfrage ist für alle und wegen für alle daher im Grenzwert auch . Also ist .(Beweis durch Widerspruch:) Man nehme an, dass . Dann gäbe es definitionsgemäß ein , mit dem . Also gäbe es auch eine geeignete Umgebung um sowie eine geeignete Umgebung um so, dass für alle . Und wegen gäbe es ferner ein mit (Stetigkeit und strikte Positivität der Preise). Aus folgt dann, dass für hinreichend großes , sodass . Zugleich folgt aus , dass für hinreichend großes . Zusammengefasst: für hinreichend großes . Das widerspricht aber der Annahme, dass . Also ist , was zu zeigen war. Walras-Gesetz Sei die der Nutzenfunktion zugrunde liegende Präferenzordnung lokal nicht gesättigt. Dann genügt die marshallsche Nachfrage dem Walras-Gesetz, das heißt, es gilt . Die Eigenschaft der lokalen Nichtsättigung ist eine gängige Forderung, die an Präferenzordnungen gestellt wird. Sie besagt salopp gesagt, dass man jedes Güterbündel stets minimal so modifizieren kann, dass das resultierende Güterbündel strikt gegenüber dem Ausgangsbündel bevorzugt wird. Für die formale Definition wird auf eine Fußnote verwiesen. (Beweis durch Widerspruch:) Falls in der Tat für irgendein , dann folgt aus der Nichtsättigungsanforderung, dass es in der Nähe von ein anderes Güterbündel geben muss, mit dem ebenfalls und zugleich . Aber dann kann keine Lösung des Nutzenmaximierungsproblems gewesen sein, im Widerspruch zur Annahme. Lokale Nichtsättigung ist offensichtlich eine schwächere Anforderung an die Präferenzordnung als strenge Monotonie. Weil jede streng monoton steigende Nutzenfunktion auf einer streng monotonen Präferenzordnung gründet, ist die obige Voraussetzung für die Gültigkeit des Walras-Gesetzes also trivialerweise bei einer streng monoton steigenden Nutzenfunktion erfüllt. Analytische Bestimmung Notwendige und hinreichende Optimalitätsbedingungen Unter der Annahme, dass die Nutzenfunktion stetig differenzierbar ist, liefert das Karush-Kuhn-Tucker-Verfahren (KKT-Verfahren) notwendige Bedingungen für das obige Nutzenmaximierungsproblem. Bezeichne man . als Lagrangefunktion des Nutzenmaximierungsproblems. Bemerkungen: Vergleicht man (1) mit der gängigen Formulierung eines nichtlinearen Programms, fällt auf, dass explizit keine so genannte constrained qualification (im deutschen Sprachgebrauch häufig unter dem Begriff der „Regularitätsbedingung“ rubriziert) gefordert ist. Der Grund besteht darin, dass diese im Nutzenmaximierungsproblem stets erfüllt ist. Überführt man das vollständige Nutzenmaximierungsproblem in Standardform, lautet es unter den Nebenbedingungen und für . Sämtliche Nebenbedingungen sind also linear. Damit liegen unter Ausnutzung eines gängigen Korollars des KKT-Theorems die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der KKT-Bedingungen (1)(i)–(iii) vor. Es wurde bereits weiter oben gezeigt, dass die marshallsche Nachfrage nichtleer ist (siehe der Abschnitt Allgemeine Eigenschaften). Folglich existiert stets ein , das die KKT-Bedingungen (1)(i)–(iii) erfüllt. Die Gradienten-Bedingung unter (2) ist sehr niederschwellig; gefordert ist lediglich, dass irgendein Gut einen strikt positiven Grenznutzen liefert. Interpretation der Optimalitätsbedingungen Innere Lösung Falls ein inneres Optimum vorliegt, das heißt für alle , gilt in diesem nach (1)(ii) die Optimalitätsbedingung erster Ordnung für alle . Betrachtet man den Fall (Zwei-Güter-Fall), dann impliziert dies . Die linke Seite dieser Gleichung ist die Grenzrate der Substitution (GRS) von Gut 1 bezüglich Gut 2 (auf einer Indifferenzkurve), die rechte Seite ist das Preisverhältnis der beiden Güter. illustriert diese Bedingung: Die marshallsche Nachfrage für gegebene Güterpreise und gegebenes Einkommen entspricht genau dem Güterbündel , an dem die höchstmögliche erreichbare Indifferenzkurve (hier: ) die Budgetgerade eben noch so tangiert. In diesem Tangentialpunkt entspricht die Steigung der Indifferenzkurve – also die negative Grenzrate der Substitution von Gut 1 bezüglich Gut 2 – genau der Steigung der Budgetgerade, die beträgt. Würde diese Bedingung nicht gelten, so könnte sich der Konsument besserstellen, indem er seinen Konsum marginal ändert. Wäre beispielsweise , dann wäre es im Rahmen der Budgetbeschränkung möglich, den Konsum vom Gut 1 um zu erhöhen und zugleich den Konsum von Gut 2 um zu verringern. Dadurch würde sich der Nutzen um vergrößern. Dann aber kann das ursprünglich betrachtete Güterbündel nicht nutzenmaximierend gewesen sein. Randlösung Das Optimum kann – wie in für den Zwei-Güter-Fall illustriert – auch eine Randlösung sein; hier befindet man sich am „Rand“ der Budgetmenge, im Beispiel an der Stelle . Dort gilt die obige Gleichheitsbedingung in der Regel nicht, wie sich aus den notwendigen Bedingungen (1)(ii) ergibt. In der Tat zeigt sich dies auch in : Im gefundenen Optimalpunkt gilt . In einer Randlösung ist dies möglich, weil dem Konsumenten nicht mehr möglich ist, seinen Konsum von Gut 2 zu verringern, um das dadurch frei werdende Vermögen auf Gut 1 zu verwenden. Konstruktion illustriert die graphische Konstruktion der marshallschen Nachfrage im Zwei-Güter-Fall und unter der Annahme, dass eine innere Lösung des Nutzenmaximierungsproblems vorliegt. Um das Problem graphisch handhabbar zu machen, fixiert man zunächst und . Anschließend spielt man die Nachfrageauswirkungen durch, die sich durch unterschiedliche Preise für Gut 1 ergeben. Im Beispiel wird eine Preissenkung von auf betrachtet. Dadurch verändert sich zunächst die Steigung der Budgetgerade, sodass sich ein neues optimales Güterbündel ergibt. Dieses kann anschließend zum veränderten Preis in das untere Schaubild übertragen werden. Führt man dies für alle möglichen Preise durch, ergibt sich die marshallsche Nachfragefunktion (für fixiertes und ), . Beispiel im Zwei-Güter-Fall Sei . Man betrachte einen Markt für Äpfel (Gut 1) und Bananen (Gut 2), deren nachgefragte Mengen man mit bzw. bezeichnet. Der Preis eines Apfels betrage , der einer Banane . Das Budget des Haushalts betrage und er konsumiere ausschließlich Äpfel und Bananen. Der Nutzen des Haushalts folgt einer Cobb-Douglas-Nutzenfunktion . Das Nutzenmaximierungsproblem ist unter der Nebenbedingung . Die Lagrangefunktion lautet also . Notwendige Bedingungen für das Nutzenoptimum sind (siehe der Abschnitt „Notwendige und hinreichende Optimalitätsbedingungen“): (mit Gleichheit, falls ) (mit Gleichheit, falls ) und . Beachte, dass diese Optimalitätsbedingungen aufgrund der Konkavität der Nutzenfunktion auch hinreichend sind. Die Budgetbeschränkung wird im Optimum binden, da die Nutzenfunktion streng monoton steigend ist und folglich das Walras-Gesetz gilt. Aus Bedingung 1 und 2 folgt sodann durch Division zunächst . Setzt man dies in die umgestellte Budgetbedingung ein, ergibt sich , womit dann wiederum Die beiden letzten Ausdrücke für und sind nichts anderes als die jeweiligen marshallschen Nachfragefunktionen nach Gut 1 bzw. Gut 2. Bemerkungen: Im Beispiel handelt es sich um einen Spezialfall, in dem die Nachfrage nach Bananen und Äpfeln nur vom Preis des jeweils betrachteten Gutes, nicht aber vom Preis des jeweils anderen Gutes abhängt; die Nachfrage nach Bananen ist also beispielsweise unabhängig vom Preis für Äpfel. Dies ist im Allgemeinen nicht der Fall. Es fällt auf, dass die multiplikativen Terme in den marshallschen Nachfragen gerade dem jeweiligen Exponenten in der Nutzenfunktion entsprechen. Dies ist kein Zufall, wie der nachfolgende Abschnitt zeigt. Einsetzen der Preise und des Einkommens in diese Funktionen ergibt, dass im Haushaltsoptimum 8 Äpfel und 6 Bananen nachgefragt werden. Marshallsche Nachfragefunktionen für gängige Nutzenfunktionen Zusammenhang zu verwandten Konzepten Indirekte Nutzenfunktion Setzt man die erhaltene marshallsche Nachfrage wieder in die ursprüngliche Nutzenfunktion ein, so erhält man eine Nutzenfunktion , die abhängig von den Güterpreisen und dem Einkommen ist. Man bezeichnet sie als indirekte Nutzenfunktion . Die indirekte Nutzenfunktion gibt für eine gegebene Preis-Einkommens-Konfiguration das konkrete Nutzenniveau an, das der nutzenmaximierende Haushalt durch seine Nachfrage erreicht. Hicks’sche Nachfragefunktion Während die marshallsche Nachfrage wie gezeigt aus dem Nutzenmaximierungsproblem des Haushalts resultiert und die Gütermenge – in Abhängigkeit von den Güterpreisen – angibt, die erforderlich ist, um mit einem gegebenen Einkommen ein möglichst hohes Nutzenniveau zu erreichen, resultiert die Hicks’sche Nachfrage aus dem Ausgabenminimierungsproblem des Haushalts und gibt die Gütermenge – in Abhängigkeit von den Güterpreisen – an, die erforderlich ist, um möglichst kostengünstig ein vorgegebenes Nutzenniveau zu erlangen. Zwischen marshallscher und Hicks’scher Nachfrage besteht allerdings trotz des konzeptionellen Unterschiedes ein enger funktionaler Zusammenhang, für den auf den überstehend genannten Hauptartikel verwiesen wird. Beispiel im Zwei-Güter-Fall (Fortführung) (Fortführung des obigen Beispiels.) Indirekte Nutzenfunktion Die indirekte Nutzenfunktion lautet Einsetzen der erhaltenen marshallschen Nachfragen führt auf Die indirekte Nutzenfunktion gibt, gegeben die Güterpreise und das Einkommen, das maximal mögliche Nutzenniveau an. Man kann entsprechend überprüfen, welches Ergebnis sie mit den oben vereinbarten Werten für , und liefert. Dies ergibt . Und in der Tat ist mit den oben erhaltenen optimalen Gütermengen und : . Hicks’sche Nachfragefunktion Um aus den marshallschen Nachfragefunktionen und die jeweiligen Hicks’schen Nachfragefunktionen zu erhalten, setzt man die indirekte Nutzenfunktion auf irgendein Nutzenniveau fest und stellt die Funktionen dann nach dem Einkommen um: Dies ist die Ausgabenfunktion . Mittels Shephards Lemma folgt sofort bzw. . Differenzierbarkeit Matrixgleichung der Konsumnachfrage Weil es für die nachfolgende Betrachtung erheblich ist, wird die verkürzte Darstellung der (Matrix-)Vektorprodukte kurzzeitig aufgegeben und explizit formuliert, ob es sich um einen Spalten- oder einen Zeilenvektor handelt. und seien beide Spaltenvektoren. Betrachte die Bedingungen erster Ordnung für alle (mit dem Gradienten der Nutzenfunktion) sowie die Nebenbedingung Man bildet von diesen Bedingungen jeweils das totale Differential: mit der -Hessematrix der Nutzenfunktion, deren -tes Element durch gegeben ist, und überführt dieses System in Matrixschreibweise: Man bezeichnet diese Gleichung im Anschluss an Barten (1966) bisweilen als „Hauptmatrixgleichung der Konsumnachfrage“ (fundamental matrix equation of consumer demand). Bezeichne diesen Ausdruck mit (a). Betrachte ferner das Nachfragesystem für alle . Bilde man auch hiervon das totale Differential: mit , , und einer -Matrix mit -tem Element . Bezeichne diesen Ausdruck mit (b). (b) in (a) liefert oder – Regularität von vorausgesetzt – anders formuliert Differenzierbarkeitseigenschaft Ideengeschichtliche Einordnung Die der marshallschen Nachfrage zugrunde liegende ordinale Nutzenkonzeption geht zurück auf die „moderne“ ökonomische Vorstellung des Nutzens in der Nachfolge von Vilfredo Pareto. Pareto (1906) konstruiert, ein Konzept von Edgeworth (1881) aufgreifend und weiterführend, Indifferenzkurven für unterschiedliche Güter, wobei er – was eigentlich nicht mehr erforderlich wäre – bisweilen noch eine kardinale Bestimmbarkeit des Nutzens voraussetzt; dennoch macht er die strikte Unterscheidung der (grundlegenden) Präferenzen vom (lediglich repräsentierenden) Nutzen deutlich. Anders als noch Edgeworth will er die Indifferenzkurven nicht als graphische Repräsentation einer kardinalen Nutzenfunktion konstruiert wissen, sondern entwickelt, im Gegenteil, seine Nutzentheorie erst auf der Grundlage von (auf Beobachtbarkeit fußenden) Indifferenzkurven. Bereits Pareto (1896) zeigt – wie wohl unabhängig auch Fisher (1892) – auf, dass die Messbarkeit des Nutzens zur Konstruktion von Nachfragefunktionen nicht erforderlich ist. Der andere konzeptionelle Baustein der marshallschen Nachfrage – die Konstruktion der Nachfragefunktion auf Grundlage der Nutzentheorie – geht im Ursprung bereits auf Léon Walras zurück. Walras entwickelte bereits um 1872 ein Modell, in dem Händler ihren Nutzen zu maximieren versuchen, wobei die individuellen Nutzenfunktionen untereinander unabhängig und additiv sind. Auf seine Bitte hin lieferte schließlich Antoine Paul Piccard (1844–1920), der wie Walras als Professor an der Universität Lausanne tätig war, einen Weg, über ein beschränktes Maximierungsproblem eine Gleichgewichtsfunktion zu konstruieren. Ausgehend von zwei Grenznutzenkurven für zwei Güter und und einer bestimmten positiven Anfangsausstattung von bei gegebenen Preisen konstruiert Piccard eine Optimalitätsbedingung für den Konsum von und , die sich in einer Art Nachfragekurve ausdrücken lässt, welche zwar noch nicht der modernen Konzeption einer Nachfragekurve folgt, mit ihr im betrachteten Zwei-Güter-Fall jedoch verwandt ist. Diesem erweiterten Modell entsprang insbesondere auch Walras’ Erkenntnis der Proportionalität von Grenznutzen (in Walras’ Terminologie: rereté) und Güterpreisen, das die moderne Nachfragekonzeption durchzieht. Marshall (1890) liefert eine deutlich einfachere und direktere Möglichkeit der Gewinnung einer Nachfragekurve aus der Nachfragefunktion. Wie auch bei Walras wird dabei Unabhängigkeit und Additivität der Nutzenfunktion sowie ein abnehmender Grenznutzen unterstellt. Marshall kann darauf gründend zwar in der Tat die moderne Formulierung der Nachfragekurve als Funktion der Güterpreise und des Einkommens konstruieren; dies gelingt ihm allerdings nur unter der Annahme eines „konstanten“ Grenznutzens des Einkommens. Diese Annahme stieß bereits bei Veröffentlichung der Principles auf Kritik, unter anderem von Pareto. Mit Walras teilte Marshall zudem die Basis einer kardinalen Nutzenkonzeption, deren Verzichtbarkeit Pareto später zeigen konnte. Die methodischen Komponenten zusammengefügt hat maßgeblich Jewgeni Slutsky. Er (1915) skizziert bereits weitgehend das moderne Konzept der marshallsche Nachfragefunktion. Eine leicht allgemeinere Version liefern (in Unkenntnis von Slutskys Beitrag) John Hicks und R. G. D. Allen (1934a, 1934b). Literatur Anton Barten und Volker Böhm: Consumer Theory. In: Kenneth J. Arrow and Michael D. Intrilligator (Hrsg.): Handbook of Mathematical Economics. Bd. 2. North Holland, Amsterdam 1982, ISBN 978-0-444-86127-6, S. 382–429 (auch online: ). Friedrich Breyer: Mikroökonomik. Eine Einführung. 5. Aufl. Springer, Heidelberg u. a. 2011, ISBN 978-3-642-22150-7 (auch online: ). [Kapitel 4] Arthur S. Goldberger: Functional form and utility. A review of consumer demand theory. Westview Press, Boulder 1987, ISBN 0-8133-7489-8. Donald W. Katzner: Static Demand Theory. Macmillan, New York 1970. David M. Kreps: Microeconomic Foundations I. Choice and Competitive Markets. Princeton University Press, Princeton 2012, ISBN 978-0-691-15583-8. Andreu Mas-Colell, Michael Whinston und Jerry Green: Microeconomic Theory. Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-195-07340-1. [Kapitel 3] Efe A. Ok: Real Analysis with Economic Applications. Princeton University Press, Princeton 2007, ISBN 978-0-691-11768-3. Eugene Silberberg: Hicksian and Marshallian demands. In: Steven N. Durlauf und Lawrence E. Blume (Hrsg.): The New Palgrave Dictionary of Economics. 2. Auflage. Palgrave Macmillan 2008, (Online-Ausgabe). Mark Voorneveld: Mathematical foundations for microeconomic theory: Preference, utility and choice. Skriptum, Stockholm School of Economics, 2009, Internet https://studentweb.hhs.se/courseweb/CourseWeb/Public/PhD501/0701/notes2.pdf, abgerufen am 5. Mai 2014. Anmerkungen Haushaltstheorie Mikroökonomie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Erna%20Wazinski
Erna Wazinski
Erna Gertrude Wazinski (* 7. September 1925 in Ihlow (Oberbarnim); † 23. November 1944 in Wolfenbüttel) war eine deutsche Rüstungsarbeiterin. Sie wurde im Alter von 19 Jahren wegen angeblicher Plünderung nach dem Bombenangriff vom 15. Oktober auf Braunschweig von einer Nachbarin denunziert und vom Sondergericht Braunschweig auf Grundlage der am 5. September 1939 erlassenen Verordnung gegen Volksschädlinge (VVO) als „Volksschädling“ zum Tode verurteilt. Erna Wazinski, die erst nach Misshandlungen durch Kriminalbeamte ein Geständnis abgelegt hatte und für die zuvor zwei Gnadengesuche gestellt worden waren, starb im Strafgefängnis Wolfenbüttel unter dem Fallbeil. Der Fall kam nach dem Krieg über einen Zeitraum von 40 Jahren mehrmals wieder vor deutsche Gerichte. 1952 milderte ein Gericht das alte Strafmaß; 1991 erging aufgrund einer neuen Zeugenaussage ein Freispruch. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege am 1. September 1998 wurden alle Urteile nach der Verordnung gegen Volksschädlinge pauschal aufgehoben. Die fast vollständig erhaltenen Prozessakten liegen heute im Staatsarchiv Wolfenbüttel. Leben Erna war das einzige Kind von Wilhelmine Wazinski, geb. Chmielewski beziehungsweise Schmielewski, und deren späterem Ehemann, dem Invaliden Rudolph Wazinski. Ihre Eltern waren beide in Ostpreußen geboren und arbeiteten um 1925 als Landarbeiter auf brandenburgischen Gütern. Ihr Vater, 24 Jahre älter als die Mutter, ehelichte sie erst nach dem Umzug der Familie nach Essen im Ruhrgebiet im Jahre 1930. 1931 zog die Familie nach Braunschweig um, wo sie in sehr bescheidenen Verhältnissen in der Langen Straße, in einem Armeleuteviertel in der Neustadt, wohnte. Bei der Sanierung dieser alten Wohngegend ab 1936 wurden viele der kleinen und verwinkelten Fachwerkhäuser abgerissen. Die Familie zog daraufhin in das Magniviertel. Die neue Wohnung war in der Langedammstraße 14, wiederum in einem alten Fachwerkhaus. Nur wenig später verstarb am 16. Februar 1938 Rudolph Wazinski, als Erna noch keine 13 Jahre alt war. Von ihrem 12. Lebensjahr an war Erna Wazinski Mitglied im Jungmädelbund, trat aber anschließend nicht dem BDM bei. Ostern 1940 wurde sie in der Petrikirche konfirmiert. Sie besuchte zunächst wohl die Mädchenschule am Südklint nahe der Langen Straße und später, nach dem Umzug in das Magniviertel, die Axel-Schaffeld-Schule (heute Georg-Eckert-Schule), bis zum regulären Ende ihrer Schulzeit 1939. Anschließend blieb sie einige Zeit zu Hause und hatte dann verschiedene Anstellungen. Unter anderem arbeitete sie ab 1942 einige Zeit bei Otto Block, der im Erdgeschoss des Wohnhauses Langedammstraße 14 einen Mittagstisch unterhielt. Block war mehrfach vorbestraft, was das Jugendamt der Stadt Braunschweig zum Anlass nahm, Erna Wazinski im Alter von 17 Jahren der Jugendfürsorgeerziehung durch Einweisung in ein Heim zuzuführen. Im August 1942 wurde sie nach Wunstorf geschickt, wo gerade ein neu eingerichtetes Aufnahme- und Beobachtungsheim eröffnet worden war. Nachdem Erna Wazinski dort von Psychiatern als „normal gefährdet“ eingestuft worden war, wurde sie in den Birkenhof überwiesen, ein evangelisches Heim in Hannover für schulentlassene Mädchen, wo sie etwa ein Jahr bleiben musste. Nach ihrer Rückkehr nach Braunschweig im November 1943 vermittelte das Arbeitsamt Erna eine Anstellung als Hausgehilfin. Im Juli 1944 wurde ihr dann eine Stelle bei der Rüstungsfirma VIGA zugewiesen. Der in der Hamburger Straße 250 angesiedelte Tochterbetrieb der Brunsviga-Werke produzierte feinmechanische Teile für Waffen und war als kriegswichtig eingestuft. Hier arbeitete Erna Wazinski bis zu ihrer Verhaftung am 20. Oktober 1944. Die Tat In der Nacht auf Sonntag, den 15. Oktober 1944 hatte Erna Wazinski Nachtschicht. Gegen 1:50 Uhr gab es Fliegeralarm und kurz darauf flog die Royal Air Force einen schweren Luftangriff auf Braunschweig, der einen Feuersturm verursachte und 90 % der Innenstadt zerstörte, darunter auch das Magniviertel. Innerhalb von knapp 40 Minuten wurden etwa 12.000 Sprengbomben, 200.000 Phosphor- und Brandbomben abgeworfen. Die Brände erloschen erst nach zweieinhalb Tagen. Zusammen mit ihrer Arbeitskollegin und Freundin Gerda Körner ging Erna Wazinski, während die Innenstadt niederbrannte, mehrere Kilometer zu Fuß von der Hamburger Straße ins Magniviertel, um ihre Mutter zu suchen. Gegen 4 Uhr kamen sie bei dem zerstörten Haus an. Es war bereits das vierte Mal, dass Mutter und Tochter Wazinski ausgebombt wurden und dabei den größten Teil ihrer Habe verloren. Sie konnte ihre Mutter nicht finden, nahm aber an, sie sei bei Nachbarn in Sicherheit. Später stellte sich heraus, dass Wilhelmine Wazinski im Keller des schräg gegenüber gelegenen Hauses Langedammstraße 8 überlebt hatte. Die Nacht verbrachte Erna Wazinski bei ihrer Freundin, die in der Friedrich-Wilhelm-Straße 1 wohnte. Am Morgen des 16. Oktober, die Stadt brannte noch immer, ging sie zusammen mit ihrem Freund, dem Soldaten auf Fronturlaub Günter Wiedehöft, in die Ruine des Wohnhauses, um sofern möglich noch persönliche Gegenstände zu finden. Nachdem sie etwa zwei Stunden lang Trümmer aus dem Weg geräumt hatten, barg Erna zwei Koffer, einen Rucksack und einige Kleidungsstücke, von denen nicht klar war, wem sie gehörten. Der Gesamtwert der Fundsachen belief sich auf etwa 200 Reichsmark. Erna nahm an, es handele sich um Eigentum ihrer Mutter, wie sie gegenüber ihrem Freund angab; ein Irrtum, wie sich später herausstellte. Martha F. beziehungsweise Marina Fränke, eine Nachbarin aus dem Haus Langedammstraße 8, erstattete am 18. Oktober Anzeige gegen Unbekannt, da ihr einige Gegenstände gestohlen worden seien. Als Verdächtige gab sie Erna Wazinski an. Nach den Historikern Ludewig/Kuessner lag der Grund für die Bezichtigung darin, dass der SS-Angehörige F., ein Bekannter der Nachbarin, Erna Wazinski nachgestellt habe, weswegen die Nachbarin auf die Beschuldigte „nicht gut zu sprechen“ gewesen sei. Verhaftung Am Freitag, dem 20. Oktober, wollte Ernas Freund sie in ihrer Notunterkunft bei Familie Körner in der Friedrich-Wilhelm-Straße 1 besuchen, traf sie jedoch nicht an, da sie noch bei der Arbeit war. Während er wartete, erschienen zwei Kriminalbeamte, die wegen der „Anzeige gegen Unbekannt“ vom 18. Oktober ebenfalls Erna Wazinski aufsuchen wollten. Während man gemeinsam wartete, wurde Günter Wiedehöft formlos über seine Freundin verhört, wobei er detailliert das Vorgefallene, inkl. der gemeinsamen Bergungsaktion, schilderte. Als Erna eintraf, musste er den Raum verlassen und vor der Tür auf dem Flur warten, während die Polizisten mit ihr sprachen. Nach kurzer Zeit hörte Wiedehöft die lauten Stimmen der Polizisten, darunter mehrfach das Wort „Volksverräterin“, sowie lautes Klatschen von Schlägen. Als alle drei den Raum verließen und Erna abgeführt wurde, sah Wiedehöft, dass sie anscheinend Schläge ins Gesicht bekommen hatte; ihre Lippen waren geschwollen, und ihre Nase blutete. Einer der Beamten sagte im Hinausgehen zu Wiedehöft, er solle so schnell wie möglich an die Front „verduften“. Da sich der 20-jährige Soldat nun selbst ebenfalls bedroht fühlte, wandte er sich an den Vater eines Bekannten, der bei der Gestapo tätig war, und bat um Hilfe. Dieser versprach, ihn „da raus zu halten“, doch könne er „für die Verbrecherin“ nichts unternehmen. Daraufhin meldete sich Wiedehöft am 23. Oktober bei seiner Einheit zurück und kam an die Ostfront. Er kehrte erst am 20. September 1949 aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Geständnis Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Erna Wazinski während der Zeit, als sie mit den zwei Polizisten allein im Raum war, ein Geständnis abgelegt hatte, auf das sich die Anklageschrift am folgenden Tag gründete. Der Inhalt dieses erzwungenen „Geständnisses“ wich in wesentlichen Punkten vom tatsächlichen Geschehen am 16. Oktober 1944 ab und stimmte fast mit der Anzeige der Nachbarin überein. Danach habe die Beschuldigte zugegeben, in einem unzerstörten Nebengebäude, in das die Nachbarin einige Gegenstände aus ihrem Eigentum in Sicherheit gebracht habe, einen Koffer geöffnet und diesem die beschriebenen Teile entnommen zu haben. Dass ihr Freund bei der Bergung dabei gewesen war, verschwieg Erna Wazinski. Auch wurden seine Anwesenheit in der Friedrich-Wilhelm-Straße während des Verhörs der Kriminalbeamten sowie die zuvor von ihm gemachten Angaben zur Sache nicht im Polizeiprotokoll erwähnt. Anklage Wenige Stunden später, am Samstag, dem 21. Oktober, setzte Oberstaatsanwalt Wilhelm Hirte eine knappe Anklageschrift auf, die sich auf das „Geständnis“ vom Vortag stützte. Erna Wazinski wurde darin gemäß § 1 VVO der Plünderung angeklagt und die Todesstrafe beantragt. Der Vorsitzende Richter des Sondergerichts Walter Lerche berief noch für denselben Tag die Verhandlung ein, obgleich noch ältere unverhandelte Fälle vorlagen; der Grund für die beschleunigte Verhandlung ihres Falles ist unbekannt. Auf der Richterbank saßen auch Walter Ahrens und Ernst von Griesbach. Christian von Campe war Pflichtverteidiger der Beschuldigten Erna Wazinski. Prozess und Verurteilung Da das Sondergerichtsgebäude in der Münzstraße durch den Bombenangriff vom 15. Oktober stark beschädigt war, fand die Verhandlung im Gefängnis Rennelberg statt, wo Erna Wazinski einsaß. Weniger als 19 Stunden nach ihrer Verhaftung wurde die Verhandlung gegen die nicht vorbestrafte Angeklagte eröffnet. Der Vertreter der Anklage, Staatsanwalt Horst Magnus, forderte auf Grundlage der Klageschrift die Todesstrafe. Die Richter des Sondergerichts Braunschweig hatten verschiedene Möglichkeiten, die vermeintliche Tat Erna Wazinskis rechtlich zu bewerten: Nach normalem Strafrecht hätte sie als einfacher Diebstahl bewertet und in Anbetracht des geringfügigen Wertes der entwendeten Gegenstände mit einer Geld- oder geringen Gefängnisstrafe geahndet werden können. Sie entschieden jedoch, auf den viel härteren Straftatbestand des Plünderns, gemäß § 1 der Verordnung gegen Volksschädlinge (VVO), zu erkennen, der nach VVO aufgrund der Schwere der Tat mit der Todesstrafe zu ahnden war. Voraussetzung für die Verurteilung zum Tode war der zweifelsfreie Nachweis, dass sowohl die Tat selbst ausreichend schwerwiegend, als auch, dass der Täter seiner Persönlichkeit nach als „Volksschädling“ einzustufen war. Selbst das Reichsgericht hatte Richtern nahegelegt, ganz besonders zurückhaltend bei der Anwendung der VVO gegenüber Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sein. Trotz der Anklage, die die junge Frau als „Volksschädling“ darstellte, zeigte sich der Vorsitzende Lerche von der Angeklagten positiv überrascht und notierte, dass sie den „Eindruck eines harmlosen, ordentlichen, jungen Mädchens“ mache. Das äußere Erscheinungsbild Erna Wazinskis schien also so gar nicht zur Anklage und der Forderung nach der Todesstrafe zu passen. Der während der Verhandlung im Gerichtssaal anwesende Landgerichtspräsident Hugo Kalweit äußerte vor der Urteilsverkündung in einer Verhandlungspause gegenüber Verteidiger von Campe, dass dies kein Fall sei, in dem die Todesstrafe verhängt werden müsse. Er fügte sofort hinzu, dass dennoch wohl ein anderes als ein Todesurteil nicht zu erwarten sei. Obwohl es Entlastungszeugen gab, rief der Verteidiger sie nicht auf. Er stellte keine Anträge und anstatt angesichts der Sachlage auf ein mildes Urteil zu plädieren, stellte er das Urteil in das „Ermessen des Gerichts“. Aufgrund des „Geständnisses“, das von keiner Prozessseite angezweifelt wurde, erging schließlich das Todesurteil. Das Gericht sah die Tat als besonders verwerflich an und begründete dies folgendermaßen: Erna Wazinskis Verteidiger zeigte unmittelbar nach Urteilsverkündung keinerlei Reaktion im Interesse seiner Mandantin. Diese wiederum reagierte mit Verblüffung auf ihr Todesurteil. Auf die Frage des Vorsitzenden Walter Lerche, ob sie noch etwas zu sagen habe, antwortete sie: „Was mache ich denn mit meiner Mutter? Ich muss doch meine Mutter ernähren.“ Kein Sondergerichtsurteil hat die Braunschweiger Justiz in der Nachkriegszeit mehr und länger beschäftigt als das Todesurteil gegen Erna Wazinski, das selbst nach damaliger Rechtsprechung außergewöhnlich hart war und vom Sondergericht augenscheinlich dazu genutzt wurde, ein Exempel zu statuieren. Von 56 Anzeigen, die nach dem Bombenangriff vom 15. Oktober 1944 beim Sondergericht Braunschweig erstattet wurden, darunter allein 28 Fälle von Plünderung, die zum Teil erheblich schwerwiegender waren, kam es nur in 16 Fällen zur Anklage, darunter aber nur im Fall Wazinski wegen Plünderns. Es erging insgesamt auch nur ein einziges Todesurteil – das gegen Erna Wazinski. Ermittlungen nach ergangenem Todesurteil Nachdem am Samstag das Todesurteil ergangen war, forderte der Vorsitzende Richter Lerche überraschend am Wochenanfang von der Staatsanwaltschaft, nachträglich Ermittlungen zu Erna Wazinskis persönlichem Umfeld sowie ihren Lebensumständen anzustellen – eine Maßnahme, die normalerweise vor einer Verurteilung stattfindet. Der mit den „Gnadenermittlungen“ beauftragte Staatsanwalt Magnus, der am Samstag zuvor noch die Todesstrafe gefordert hatte, stieß bei seinen Untersuchungen auf positive Aussagen zur Person der Verurteilten, die aber von Oberstaatsanwalt Hirte zu deren Nachteil ausgelegt wurden, da sie mit zwei Frauen bekannt sei, die wegen Abtreibungen vorbestraft seien. Magnus schloss seine Ermittlungen zwei Tage später ab und behauptete noch 1989 in einem Interview, er habe nichts Entlastendes finden können. Befragte Arbeitskollegen im Rüstungsunternehmen VIGA betrachteten das Urteil als „zu hart“. Die Unternehmensleitung zeichnete indessen ein negatives Bild und schrieb, sie sei des Öfteren unentschuldigt dem Arbeitsplatz ferngeblieben. Das mit Abstand negativste Zeugnis stellte ihr jedoch am 26. Oktober der Direktor des Braunschweiger Jugendamtes, Evers, aus. Er schrieb unter anderem, sie „… erweckte schon als Schulkind den Eindruck einer gewissen Frühreife …“, „… Bemühungen, sie in ein geregeltes Arbeitsverhältnis zu vermitteln, setzte sie Widerstand entgegen …“, schließlich habe sie bei Herrn B. (dem Betreiber des Mittagstisches) zu arbeiten begonnen, der „im Ruf eines Zuhälters und Hochstaplers“ stehe. Evers fuhr fort, „Erna […] wurde immer dirnenhafter im Aussehen …“. Evers verwies auch auf ein psychiatrisches Gutachten aus dem Jahre 1943, wonach Erna Wazinski „im ganzen noch unreif mit erheblichen psychopathischen Zügen“ sei. Trotz dieses Gutachtens bejahte Evers in vollem Umfang ihre Einsichtsfähigkeit in ihre Handlungen. Den Abschluss bildete die Passage: „Es handelte sich bei Erna Wazinski um ein willensschwaches, triebhaftes, leichtfertiges Mädchen, das auch die jetzige Notzeit zu keinem stärkeren Verantwortungsgefühl gebracht zu haben scheint.“ Erna Wazinski selbst wurde nochmals am 25. Oktober vernommen, wobei sie erstmals erwähnte, dass sie verlobt sei. Sie weigerte sich jedoch, den Namen ihres Verlobten zu nennen, und Magnus fragte weder danach noch stellte er sonstige Fragen zu diesem Thema. Auch die Mutter wurde befragt, machte jedoch angesichts der Lage ihrer Tochter unvorteilhafte Angaben, die vom Sondergericht zum Nachteil der Verurteilten ausgelegt wurden. Gnadengesuche Nach dem Urteil stellte Erna Wazinskis Anwalt am Dienstag, dem 24. Oktober ein Gnadengesuch, in dem er unter anderem schrieb: Auch die Verurteilte selbst schickte an diesem Tag ein Gnadengesuch an das Sondergericht. Sie schrieb u. a.: Oberstaatsanwalt Hirte lehnte zwei Tage später die Begnadigung mit der Begründung ab: Hinrichtung Wenige Tage später, Anfang November 1944, ordnete der Reichsjustizminister die Hinrichtung für den 23. November, 12:00 Uhr, im Strafgefängnis Wolfenbüttel an. Für die Vollstreckung durch Scharfrichter Friedrich Hehr wurde Erna Wazinski vom Gefängnis Rennelberg in Braunschweig in die Hinrichtungsstätte nach Wolfenbüttel überführt. Dort durfte sie kurz vor ihrer Hinrichtung einen letzten Brief an ihre Mutter schreiben (s. Bild). Staatsanwalt Magnus, der bei der Hinrichtung anwesend war, führte auch Protokoll: Noch am Tag der Vollstreckung wurde in Braunschweig plakatiert, dass Erna Wazinski als Volksschädling hingerichtet worden sei. Wilhelmine Wazinski erhielt einige Tage später von Oberstaatsanwalt Hirte die Mitteilung, dass das Todesurteil an ihrer Tochter vollstreckt worden sei. Der Leichnam Erna Wazinskis wurde auf schriftliche Anweisung Hirtes von der örtlichen Polizeibehörde beigesetzt. Zwei Jahre später wurden die sterblichen Überreste Erna Wazinskis nach Braunschweig überführt und dort erneut bestattet. Die Grabstelle ist heute nicht mehr vorhanden. Juristische Nachspiele 1952–1991 Wiederaufnahmeverfahren 1952 Wilhelmine Wazinski, Ernas Mutter, hatte 1946 wieder geheiratet und lebte in Hamburg. Sie bevollmächtigte ihren Bekannten Otto Block, beim Landgericht Braunschweig die Überprüfung des Sondergerichtsurteils im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken. Am 5. April 1952 wurde der Fall vor der 3. Strafkammer auf Grundlage einer Verordnung aus dem Jahre 1947, nach der NS-Urteile bei grausamen oder übermäßig hohen Strafen auf ein gerechtes Strafmaß gemildert werden sollten, neu verhandelt. Während der Verhandlung wurde weder die Rechtsstaatlichkeit eines NS-Sondergerichts in Frage gestellt noch die Details der Prozessführung gegen Erna Wazinski. Wiederum ohne (vorhandene) Zeugen wie die Mutter oder den ehemaligen Freund Erna Wazinskis zu befragen und allein gestützt auf die Prozessakten des Sondergerichts, wurde das einstige Todesurteil schließlich in eine Freiheitsstrafe von neun Monaten wegen Diebstahls umgewandelt. Das bedeutete, dass Erna Wazinski erneut schuldig gesprochen war, lediglich ihre Strafe – postum – gemildert wurde. Versuchtes Wiederaufnahmeverfahren 1959 1959 beantragte Block die Aufhebung des Urteils vom 5. April 1952, da sich die Kammer damals die Begründung des Todesurteils von 1944 zu eigen gemacht habe. Gleichzeitig stellte Block Strafanträge gegen die Eigentümerin der angeblich gestohlenen Gegenstände, die 1944 die Anzeige gegen Unbekannt erstattet und Erna Wazinski als Verdächtige angegeben hatte, sowie gegen alle beteiligten Kriminalbeamten, Richter und Staatsanwälte. Die Verfahrenseröffnung wegen Aussageerpressung und Rechtsbeugung wurde vom Oberstaatsanwalt mit dem Hinweis abgelehnt, dass derlei seit dem 7. Mai 1955 verjährt sei. Versuchtes Wiederaufnahmeverfahren 1960/61 Am 1. Dezember 1960 beantragte Block erneut die Wiederaufnahme des Verfahrens. Nach umfangreichen Ermittlungen und Aussagen von Zeugen wurde der Antrag vom Landgericht mit Beschluss vom 11. Juni 1961 verworfen. Auch die Beschwerde Blocks wies der Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig (OLG) am 28. Juni 1962 mit der Begründung zurück, dass das Geständnis Erna Wazinskis gegenüber der Polizei nicht angezweifelt werden dürfe. Eine zweite Beschwerde wurde im Oktober 1962 vom 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs verworfen. Wiederaufnahmeverfahren 1964 1964 erhob Otto Block Amtshaftungsklage beim Landgericht Braunschweig. Die 3. Zivilkammer betrachtete das Entschädigungsbegehren für gerechtfertigt und erklärte daraufhin am 29. Juli 1964, dass das Todesurteil auch aus Sicht des „nationalsozialistischen Rechts“ ein rechtswidriges Fehlurteil gewesen sei, „… eines der grausamsten Urteile […] unverantwortlich und unmenschlich.“ Gegen diesen Beschluss legte das Land Niedersachsen Berufung ein, wobei es, nach der Schilderung des ehemaligen Richters am Oberlandesgericht Braunschweig, Helmut Kramer, mit „ungeheurem juristischen Aufwand“ eine Entschädigungsleistung verweigerte und einen Vergleich ablehnte. Der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts entschied daraufhin im April 1965, dass für eine Entschädigung eine Wiederaufnahme des Verfahrens notwendig sei. Diese wiederum wurde aber am 7. Oktober 1965 von der 3. Strafkammer des Landgerichts abgelehnt. Damit befand sich Wilhelmine Wazinski juristisch betrachtet nach 13 Jahren wieder dort, wo sie mit ihrem Begehren 1952 angefangen hatte. Rechtfertigung des Todesurteils durch das Landgericht Braunschweig 1965 Die 3. Strafkammer rechtfertigte das 1944 ergangene Todesurteil (Aktenzeichen 12 AR 99/65 [1 Sond. KLs 231/44]). Grundlage für die 57 Seiten umfassende Entscheidung war der Umstand, dass sich die 3. Strafkammer ausschließlich an der 1944 zum Zeitpunkt der Verurteilung geltenden Gesetzeslage orientierte. Darüber hinaus stellte sie fest, dass die Verordnung gegen Volksschädlinge im Jahre 1944 bindendes Recht gewesen sei. In der Urteilsbegründung, die inhaltlich NS-Terminologie verwendete, wies der berichterstattende Richter Henning Piper (späterer Richter beim Bundesgerichtshof) auf Folgendes hin: „…Inhaltlich konnte die Volksschädlingsverordnung nicht als schlechthin unverbindliches, weil unsittliches, die Richter des Jahres 1944 nicht bindendes Gesetzesrecht angesehen werden. […] So hart der Strafausspruch […] erscheint, hatte das [Sonder]Gericht aus damaliger Schau, […], bei Vorliegen des Plündereitatbestandes keine andere Wahl, als auf die in § 1 Volksschädlingsverordnung ausschließlich vorgesehene Strafe zu erkennen.“ Versuchtes Wiederaufnahmeverfahren 1966 Die nachfolgende Beschwerde gegen das Urteil vom 7. Oktober 1965 wurde vom Strafsenat des OLG, dem unter anderen Hans Meier-Branecke und Gerhard Eckels angehörten, im Januar 1966 abgewiesen. Auch ein weiterer Wiederaufnahmeantrag vom Sommer 1966 wurde – nachdem er sämtliche Instanzen durchlaufen hatte – am 27. Februar 1967 endgültig abgelehnt. Otto Block, der im Auftrag der kränklichen Mutter Erna Wazinskis bis zu diesem Zeitpunkt sämtliche Verfahren betrieben hatte, verzweifelte angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen und hatte zunehmend Schwierigkeiten zwischen NS- und Nachkriegsrichtern zu unterscheiden, was schließlich zu einer Verurteilung wegen Beleidigung führte. In einem weiteren Strafverfahren gegen Block wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz (vom 13. Dezember 1935) erging zunächst ein Strafbefehl, welcher jedoch in der Revisionsverhandlung wieder verworfen wurde. Braunschweig unterm Hakenkreuz Sämtliche Rechtsmittel schienen ausgeschöpft zu sein und der Fall Erna Wazinski endgültig zu den Akten gelegt. Im Frühjahr 1980 fand jedoch die von Helmut Kramer, Pfarrer Dietrich Kuessner, Historiker Ernst-August Roloff und anderen organisierte Vortragsreihe Braunschweig unterm Hakenkreuz im Städtischen Museum statt. Ziel der Vorträge und anschließenden Diskussionen war, die unbewältigte NS-Vergangenheit in Bürgertum, Justiz und Kirche und deren Nachwirkungen in Braunschweig zu thematisieren. Eines der behandelten Themen war das Schicksal Erna Wazinskis und die juristischen Nachspiele im Nachkriegsdeutschland. Angesichts des großen Interesses an der Veranstaltung und der kontrovers geführten Diskussionen veröffentlichte Kramer 1981 die Dokumentation der Vortragsreihe sowie Zuschriften, Zeitungsartikel etc. Die Dokumentation Braunschweig unterm Hakenkreuz. Bürgertum, Justiz und Kirche – Eine Vortragsreihe und ihr Echo war eine der ersten lokalhistorischen Studien zur NS-Zeit und NS-Justizgeschichte. Eröffnung Gedenk- und Dokumentationsstätte 1990 1990 wurde in dem ehemaligen Hinrichtungsgebäude der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, in der auch Erna Wazinski getötet wurde, eine Gedenk- und Dokumentationsstätte eröffnet. In dem Gebäude waren von 1937 bis März 1945 mindestens 750 Menschen mit dem Fallbeil hingerichtet worden, unter ihnen zahlreiche Menschen aus dem französischen und belgischen Widerstand. Wiederaufnahmeverfahren 1991 Ende der 1980er Jahre recherchierte der Journalist Johannes Unger über den Fall, wozu er den bei der Hinrichtung anwesenden Staatsanwalt Horst Magnus interviewte. Seine Rechercheergebnisse flossen in das NDR-4-Radio-Feature „Gnade kann nicht gewährt werden“ – Der Fall Erna Wazinski ein, das am 19. Oktober 1989 gesendet wurde. Dadurch sowie durch die Berichterstattung in der Braunschweiger Zeitung, aufmerksam geworden, meldeten sich mehrere Zeitzeugen, darunter Günter Wiedehöft, der damalige Freund Erna Wazinskis. Erstmals sagte Wiedehöft öffentlich aus, dass er gemeinsam mit Erna Wazinski in den Trümmern des Wohnhauses nach Habseligkeiten gesucht habe und dass Erna Wazinski das Gefundene und Geborgene für ihr Eigentum beziehungsweise das ihrer Mutter gehalten habe. Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse beantragte Helmut Kramer erneut ein Wiederaufnahmeverfahren, das am 20. März 1991 mit einem Freispruch endete – allerdings nur aufgrund der neuen Zeugenaussagen, da, so die Argumentation von 1991, dem Sondergericht die jetzt geschilderten Sachverhalte 1944 unbekannt waren. Es kam zu keiner Wertung oder Verurteilung der Arbeit der Juristen des Sondergerichts. Der Fall Erna Wazinski und die Evangelisch-lutherische Landeskirche Braunschweig Für die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig bekam der Fall Erna Wazinski durch die Aufhebung des gegen sie ergangenen Todesurteils – und die Veröffentlichung des Ergebnisses des Wiederaufnahmeverfahrens – eine besondere Bedeutung, da Walter Lerche, 1944 Vorsitzender Richter des Sondergerichts Braunschweig und für das Todesurteil im Fall Wazinski mitverantwortlich, nach seiner 1950 erfolgten Entnazifizierung zunächst Mitglied des Rechtsausschusses der Landeskirche, 1951 zum Oberlandeskirchenrat befördert und später in der Amtszeit der 1. Generalsynode von 1949 bis 1954 zum 2. Vizepräsidenten der Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands wurde. Obwohl Lerche – wie die Öffentlichkeit erst Jahrzehnte nach seinem Tod erfuhr – als Richter am Sondergericht nachweislich an 59 Todesurteilen beteiligt war, war es ihm in der Landeskirche gelungen, bis zum hoch geachteten Amt des Präsidenten der Generalsynode aufzusteigen, ohne dass seine Sondergerichtsvergangenheit jemals von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Der Vorsitzende Richter der 9. Strafkammer des Oberlandesgerichts Braunschweig, Gerhard Eckels, gleichzeitig Präsident der Landessynode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, teilte nach dem Freispruch Wazinskis, den seine Kammer gefällt hatte, mit, dass angesichts der bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannten Verstrickungen Lerches in die Braunschweiger Sondergerichtsbarkeit eine von der Kirchenregierung eingesetzte Historische Kommission unter Leitung des Historikers Klaus Erich Pollmann die Tätigkeit Lerches am Sondergericht Braunschweig prüfen werde. Wesentliche Frage sollte dabei sein zu ergründen, wie es möglich war, dass Lerche, der in der Nachkriegszeit von der weiteren Ausübung des Richteramtes suspendiert war, eine so hohe Position in der Landeskirche erreichen konnte. Erste Ergebnisse der historischen Kommission wurden im Juli 1993 während eines Kolloquiums zur Diskussion vorgestellt. 1994 erschien der Abschlussbericht unter dem Titel Der Schwierige Weg in die Nachkriegszeit. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig 1945–1950. Der Fall Erna Wazinski fand im Bericht jedoch nur ganz am Rande Erwähnung, ohne dass auch nur ein Bezug zu Lerche und zu der Tatsache, dass der Fall der Auslöser für die Untersuchung war, angedeutet wurde. Lerches Tätigkeit als Sonderrichter bewertete die Kommission zum einen als „nicht in besonderer Weise negativ …, jedenfalls nicht mehr als alle Richter, die damals nach den Kriegsdienstverordnungen Urteile verhängten …“ Das sei laut Kommissionsbericht „… ein Indiz dafür, daß Lerche nicht als Einzelfall zu betrachten ist, auch wenn die Justiz-Spruchkammer 1946 sich in dieser Weise geäußert hat.“ Zum anderen stellt die Kommission fest: „… unter dem Vorsitz von Dr. Walter Lerche hat das Sondergericht etwa 54 Todesurteile … gefällt – Todesurteile, die größtenteils nach rechtsstaatlichen Maßstäben als Justizmorde bezeichnet werden müssen. Die Verantwortung dafür trugen Lerche und die an diesen Prozessen beteiligten Sonderrichter … Das relativiert zwar nicht die Schuld der Sonderrichter, begründet aber eine Mitschuld aller derjenigen Instanzen, die bei der Entstehung und Durchsetzung dieser Verordnung [VVO] beteiligt waren, und aller weiteren, die gegen solche inhumanen Verschärfungen des Strafrechts nicht protestiert haben.“ Die braunschweigische Johanna. Ein deutsches Requiem Nachdem der Fall Erna Wazinski erstmals 1980 einer breiten Öffentlichkeit durch die Vortragsreihe Braunschweig unterm Hakenkreuz bekannt worden war, wuchs das Interesse an der (lokal-)historischen Aufarbeitung der NS-Zeit und -Justizgeschichte in Braunschweig. Das Wiederaufnahmeverfahren und dessen Begleitumstände sowie die Einsetzung der Historikerkommission bei der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig führten schließlich dazu, dass das Schicksal Erna Wazinskis auch von Journalisten, Schriftstellern und Theatermachern aufgegriffen wurde: Adam Seide verarbeitete ihre Lebensgeschichte in seinem 1986 veröffentlichten Roman Die braunschweigische Johanna. Ein deutsches Requiem. Die Theaterfassung des Werkes wurde am 20. Februar 1999 im Staatstheater Braunschweig uraufgeführt. 1989, zum 45. Todestag Erna Wazinskis, wurde auf NDR-4 das Feature „Gnade kann nicht gewährt werden“ – Der Fall Erna Wazinski gesendet, das auf den Recherchen eines Journalisten beruht. Im Jahr darauf wurde das Feature in einer aktualisierten Fassung nochmals ausgestrahlt. Literatur Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, ISBN 3-10-039309-0. Wilfried Knauer, Niedersächsisches Justizministerium. In Zusammenarbeit mit der Presse- und Informationsstelle der Niedersächsischen Landesregierung (Hrsg.): Nationalsozialistische Justiz und Todesstrafe. Eine Dokumentation zur Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel. Steinweg, Braunschweig 1991, ISBN 3-925151-47-8. Helmut Kramer (Hrsg.): Braunschweig unterm Hakenkreuz. Bürgertum, Justiz und Kirche – Eine Vortragsreihe und ihr Echo, Magni-Buchladen, Braunschweig 1981, ISBN 3-922571-03-4. Helmut Kramer (Hrsg.): „Die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5.9.1939 war geltendes Gesetz …“, Reader zum Fall Erna Wazinski, ohne Ort und Jahr. Hans-Ulrich Ludewig, Dietrich Kuessner: „Es sei also jeder gewarnt“ – Das Sondergericht Braunschweig 1933–1945, In: Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Landesgeschichte, Band 36, Selbstverlag des Braunschweigischen Geschichtsvereins, Langenhagen 2000, ISBN 3-928009-17-6. Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Justiz im Nationalsozialismus. Verbrechen im Namen des Volkes. Katalog zur Ausstellung. Nomos Verlag, Baden-Baden 2002, ISBN 3-7890-8178-7. Adam Seide: Die braunschweigische Johanna. Ein deutsches Requiem. Roman. Syndikat, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-8108-0243-3, Neuauflage anlässlich der Uraufführung der Theaterfassung im Staatstheater Braunschweig am 20. November 1999: Revonnah, Hannover 1999, ISBN 3-934818-25-0 (2., erweiterte Auflage: 2002). Bernhild Vögel: Ein kurzer Lebensweg – Der Fall Erna Wazinski. Arbeitsmaterialien für die Bildungsarbeit mit Begleitheft, hrsg. v. Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, Braunschweig 2003. ISBN 3-932082-06-0. Weblinks Einzelnachweise Hingerichtete Person (NS-Opfer) Braunschweigische Geschichte (Zeit des Nationalsozialismus) Person, für die in Braunschweig ein Stolperstein verlegt wurde Person (Braunschweig) Deutscher Geboren 1925 Gestorben 1944 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich%20Wolters
Friedrich Wolters
Friedrich Wilhelm Wolters (* 2. September 1876 in Uerdingen; † 14. April 1930 in München) war ein deutscher Historiker, Lyriker und Übersetzer. Er gehörte zu den zentralen Figuren des George-Kreises. Nachdem Wolters 1904 mit Stefan George in Kontakt getreten war, wurde er 1909/1910 in den Kreis aufgenommen und avancierte in den 1920er Jahren zu einem der wichtigsten Jünger des Dichters. Schon 1909 hatte er mit Herrschaft und Dienst eine grundlegende programmatische Schrift vorgelegt, wenig später wurde er gemeinsam mit Friedrich Gundolf mit der Herausgeberschaft des Jahrbuchs für die geistige Bewegung betraut und trieb das Projekt einer gemeinsamen Weltanschauung des George-Kreises voran. An seinem Hauptwerk Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 (erschienen 1929), einer monumentalen Geschichte des Kreises, arbeitete er seit 1913. Als Historiker beschäftigte sich Wolters unter anderem mit dem französischen 18. Jahrhundert und erhielt zunächst eine außerordentliche Professur an der Universität Marburg, 1923 dann ein Ordinariat in Kiel. Er bemühte sich sowohl als Hochschullehrer als auch als Herausgeber des fünfbändigen Lesebuchs Der Deutsche besonders um eine Wirkung auf die Jugend, die er im Georgeschen und nationalen Sinne erziehen wollte. Außerdem übertrug Wolters christliche Dichtungen aus dem Lateinischen, Griechischen und Mittelhochdeutschen und schrieb selbst Gedichte, die in Georges Blättern für die Kunst und in eigenen Gedichtbänden veröffentlicht wurden. In den 1920er Jahren trat er zudem als nationaler Redner hervor. Leben und Werk Werdegang Wolters, geboren 1876 als Sohn des Kaufmanns Friedrich Wolters, wuchs im katholischen Rheinland auf und besuchte ab 1889 das Realgymnasium in Rheydt. Sein Abitur legte er 1898 am Gymnasium in München-Gladbach ab, das er seit 1891 besuchte. Im Sommer desselben Jahres begann Wolters ein Studium der Geschichte, Sprachwissenschaft und Philosophie an der Universität Freiburg im Breisgau, nach einem Semester wechselte er aber nach München. Ab 1899 studierte er an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin Geschichte, Nationalökonomie und Germanistik. Seine wichtigsten akademischen Lehrer waren Kurt Breysig und Gustav von Schmoller. Im Sommer 1900 und noch einmal im Winter 1901 ging er nach Paris, wo er Vorlesungen an der Sorbonne besuchte und in der Nationalbibliothek zur (Vor-)Geschichte der Französischen Revolution forschte. Wolters wurde im Oktober 1903 bei Gustav Schmoller mit Studien über das Eigentum an Grund und Boden in Frankreich vor der Revolution promoviert. Angeblich äußerte Schmoller, Wolters’ Doktorarbeit sei die „schönst[e] [ihm] je vorgelegen[e] Dissertation“. Danach edierte er gemeinsam mit Breysig im Rahmen der von Schmoller herausgegebenen Acta Borussica die Akten zur Geschichte Preußens unter Kurfürst Friedrich Wilhelm. 1905 veröffentlichte er eine erweiterte Fassung seiner Dissertation und bearbeitete danach, wiederum für Schmollers Acta Borussica, die Geschichte der Zentralverwaltung des Heeres und der Steuern, im Besonderen in der Kurmark. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit verfasste er 1908 für eine Festschrift zum 70. Geburtstag seines Lehrers Schmoller einen Aufsatz Über die theoretische Begründung des Absolutismus im 17. Jahrhundert. 1907/1908 war Wolters Privatlehrer des Prinzen August Wilhelm von Preußen, den er vor allem in Geschichte unterrichtete. Da der Sohn Kaiser Wilhelms II. gerade promovierte, jedoch keine Begabung für wissenschaftliche Arbeit hatte, schrieb Wolters dessen Dissertation größtenteils selbst. Unterstützt wurde die Mauschelei von Gustav Schmoller, dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter Wolters zu dieser Zeit war. Die Promotion über Die Entwicklung der Kommissariats-Behörden in Brandenburg-Preussen wurde im Juli 1908 mit summa cum laude angenommen, d. h. mit der höchsten Auszeichnung. Wolters erhielt als Lohn einige hundert Reichsmark und den Kronenorden 4. Klasse. Anschließend verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Lehrer: Er unterrichtete Geschichte, Deutsch und Kunstgeschichte an Mädchen- und Frauenschulen. Gleichzeitig arbeitete er weiter in der Schmollerschen Kommission zur Geschichte Preußens, sodass er 1913 seine Habilitationsschrift über Die Geschichte der Zentralverwaltung des Heeres und der Steuern in Brandenburg-Preussen 1630–1697 einreichen konnte. Um die Jahrhundertwende gehörte Wolters zu einem intellektuellen Kreis, der sich in Niederschönhausen bei Berlin um den Universalhistoriker Kurt Breysig sammelte. In Niederschönhausen lebte er in einer Wohngemeinschaft mit seinen Freunden Friedrich Andreae und Rudolf von Heckel, die zusammen mit Berthold und Diana Vallentin, Kurt Hildebrandt, Wilhelm Andreae und anderen den Kreis um Breysig bildeten. Im Juni 1907 zog die Wohngemeinschaft um Wolters (nunmehr mit Berthold Vallentin und den Brüdern Andreae) und damit der Kreis vom Nordosten in den Südwesten Berlins, nach Lichterfelde. Hier stießen auch Carl Petersen, der Bildhauer Ludwig Thormaehlen und der Architekt Paul Thiersch hinzu; Wolters lernte hier auch Erika Schwartzkopff kennen, die er 1915 heiratete. Man diskutierte historische, philosophische und literarische Fragen, las Gedichte und veranstaltete Feste. Über den Kreis um Breysig kam Wolters in Kontakt mit bedeutenden Dichtern seiner Zeit. 1904 kam der Dramatiker Georg Kaiser zu Besuch, im November 1905 hielt sich Rudolf Borchardt für zwei Wochen bei Wolters und Vallentin in Niederschönhausen auf. Wolters machte einen starken Eindruck auf Borchardt, der ihn für „leicht, ritterlich, rasch und gewandt“ hielt, „den Schalk in den blitzenden fast all zu blauen Augen, vollendet dichterisch ohne ein Dichter zu sein […]. Er hatte die Charis und schien den Genius zu haben, er war ein Vollbild des schönsten deutschen und des schönsten der Jugend eigenen Vorzuges“. Noch Jahre später bemerkte Borchardt, Wolters sei „als Mensch unmittelbar überzeugend und sofort gewinnend“ gewesen. Zusammenfassend charakterisierte er ihn als „manischen Enthusiasten“. Herrschaft und Dienst und Aufnahme in den George-Kreis Kurz darauf besuchte Stefan George Breysigs Runde in Niederschönhausen. Wolters war zutiefst beeindruckt von dem berühmten Dichter. Schon 1904 hatte er ihn über Breysig und Vallentin kennengelernt, und nun versuchte er verstärkt, George näher zu kommen. Dieser war aber zunächst kaum interessiert. Wolters war nicht, wie sonst üblich, bereits als Jugendlicher zu George gestoßen; außerdem missfiel George wohl das schrankenlose Pathos seiner Niederschönhausener Gruppe. Wolters gab nicht auf und nahm Kontakt zu dem Künstler Melchior Lechter auf, einem Freund und Mitarbeiter Georges, über den er später eine kleine Monographie verfasste. 1908/1909 gelang es ihm schließlich, die Aufmerksamkeit des Dichters auf sich zu ziehen. Wolters schrieb eine Schrift mit dem Titel Herrschaft und Dienst, für die sich George, der einen ihm ergebenen Kreis um sich scharte, besonders interessierte. Das Werk, das auf seiner Arbeit über die Theorie des Absolutismus basierte, wurde im Februar 1909 in der 8. Folge von Georges Zeitschrift Blätter für die Kunst in Auszügen und wenig später komplett als von Melchior Lechter ausgestattete Prachtausgabe veröffentlicht. In dieser programmatischen Schrift entwirft Wolters ein umfassendes Gesellschaftsmodell. Er nutzt dabei nicht zufällig das Bild eines Kreises, der sein Zentrum in einem „Herrscher“ habe, der zwar nicht explizit benannt, aber indirekt durch Zitate aus Gedichten als Stefan George kenntlich wird. Um diesen „Herrscher“ zeichnet Wolters konzentrische Personenkreise: Am nächsten steht ihm eine Schar von „Fühlern des Geistes“ – wohl als die Mitglieder des George-Kreises zu identifizieren –, die das „licht aus der lebendigen mitte“ unmittelbar empfangen und dem „Herrscher“ mit Ehrfurcht, Verehrung und Selbsthingabe zu dienen haben. Die naturgegebene Hierarchie findet ihre rangniedrigsten Mitglieder in den „Grob-Tastenden“ der „äusseren Höfe“, die wohl mit der – von George generell befehdeten – zeitgenössischen Gesellschaft gleichzusetzen sind. Im Frühjahr 1909 wohnte George für einige Wochen bei Wolters in Berlin, ein Treffen, das den Durchbruch in ihrer Beziehung bedeutete – sowohl für George, der Wolters nun zu schätzen begann, als auch in noch stärkerem Maße für Wolters. Sein Freund Kurt Hildebrandt sprach später davon, Wolters habe bei diesem Treffen eine „Erfüllung mit der Gedankenwelt des Dichters“ erlebt. Im März 1910 traf er den „Meister“ schließlich in der Wohnung seines Freundes Karl Wolfskehl in München, wo ihn George im „Kugelzimmer“ (Kreis-Bezeichnung) empfing. Der Dichter führte ihn in den Maximin-Mythos ein, die Geschichte eines Jungen, den er postum zum Gott erhoben hatte. Wolters war „Sprachlos erschüttert“ und „Im kern ergriffen“, wie George im Stern des Bundes dichtete. Schon mit seinem ersten Kreis-Aufsatz hatte Wolters einen der wichtigsten Texte des sich konstituierenden George-Kreises vorgelegt. Herrschaft und Dienst besiegelte den Wandel von einem Freundeskreis mit gemeinsamen ästhetischen Überzeugungen hin zu einem „Staat“ mit eigener Weltanschauung, dem bald auch so bezeichneten „geheimen Deutschland“. Robert Boehringer stellte im Rückblick fest: „aus seiner [Wolters’] Denkweise ist die platonische Bezeichnung des Freundeskreises als ‚Der Staat‘ in Gebrauch gekommen“ (vgl. Platons Politeia), Ernst Morwitz erregte sich später, alles Unglück im Kreis habe damit angefangen, „dass Wolters diesen dummen ‚Staat‘ erfunden hat“. Wolters’ Konzept war jedoch trotz seines Einflusses nicht unumstritten. Friedrich Gundolf, der erste und lange Zeit wichtigste Jünger Georges, verfasste für dieselbe Ausgabe der Blätter für die Kunst, in der auch Wolters’ Aufsatz erschien, eine Abhandlung mit dem Titel Gefolgschaft und Jüngertum, in der er ein alternatives Konzept entwarf. Die Vorstellungen der beiden unterschieden sich sowohl in der George zugedachten Rolle für die Jünger, als auch in der dem Kreis zugedachten Rolle in der Gesellschaft. Für Gundolf verkörperte George eine über ihn selbst hinausreichende Idee – der Jünger ordnete sich dieser Idee und nur deshalb dem Meister unter, den er als Mittler des Ideals verehrte und liebte. Für Wolters war George diese Ideenwelt, die Kreismitglieder hatten ihn als Person zu verehren. Für Gundolf war der Kreis ein Hort höherer Bildung innerhalb der Gesellschaft, eine Elite – Wolters dagegen tendierte zu der Vorstellung, dass die Bewegung die Gesamtgesellschaft erfassen sollte. Auch mit der Persönlichkeit des „manischen Enthusiasten“ konnte Gundolf zunächst wenig anfangen. In einem Brief bemerkte er über Wolters: „Pathos allein genügt nicht, man muss auch Ironie (romantische!) haben“. In Gefolgschaft und Jüngertum kritisierte Gundolf außerdem vehement diejenigen, die er „Pfaffen“ nannte und deren Verehrung für den „Meister“ er für falsch und unecht hielt – eine Kritik, die er allerdings erst sehr viel später unmittelbar auf Wolters bezog. Das Jahrbuch für die geistige Bewegung George konnte den Propagandisten Wolters gerade in einer Phase, in der er auf eine breitere Außenwirkung vor allem in der deutschen Jugend hoffte, gut gebrauchen. Zu diesem Zweck ließ er ihn gemeinsam mit Gundolf von 1910 bis 1912 seine neue Zeitschrift herausgeben, das Jahrbuch für die geistige Bewegung. Die drei Jahrgänge des Jahrbuchs enthielten verschiedene Aufsätze von Kreismitgliedern, die eine gemeinsame Weltanschauung konstituieren und diese der Gesellschaft, vor allem der akademischen Jugend, präsentieren sollten. Wolters steuerte hierzu wichtige Beiträge bei. Für das erste Jahrbuch schrieb er die Abhandlung Richtlinien, in der er den menschlichen Geist in eine „schaffende“ und eine „ordnende“ Kraft einteilte. Die schaffende versteht er als die schöpferische Kraft, die neues „Leben“ verströmt, während die ordnende nur ordnet und zerlegt und dadurch Leben verbraucht. Wolters lässt daher nur diejenigen Werke etwas gelten, die der schöpfenden Kraft entsprungen seien, die ihren Gegenstand nicht bloß „ordnen“, sondern mittels der drei Kategorien „Tat“, „Werk“ und „Verkündung“ neu „schaffen“. Daran anknüpfend entwickelte er im nächsten Jahrbuch den „Gestalt“-Begriff, der für die wissenschaftliche Arbeit des Kreises in der Folgezeit prägend wurde. Im gleichnamigen Aufsatz entwarf Wolters das Programm einer „Gestalt“-Biographik, die die ganzheitliche Einheit von Werk und Person eines Künstlers intuitiv erfassen und zugleich mit „einem schicksalhaft erfüllten biographischen Plan zum Maßstab gelungenen Lebens“ verknüpfen sollte. Das Konzept wurde später etwa von Heinrich Friedemann und Friedrich Gundolf umgesetzt, die „Gestalt“-Biographik wurde zu einem der einflussreichsten geistesgeschichtlichen Konzepte der 1910er und 1920er Jahre. In der Abhandlung Mensch und Gattung im dritten Jahrbuch übertrug Wolters seine Konzepte schließlich auch auf den „äußeren Staat“, auf die Gesamtgesellschaft. In Anknüpfung an ein idealisiertes Bild der griechischen Antike wurde die Jugend dazu aufgerufen, für die Erneuerung der Gesellschaft zu sorgen. Diese neue Gesellschaft sollte die liberalen Gleichheitsideen verwerfen und zu einem hierarchischen Gesellschaftsmodell zurückkehren: „Nicht die allgemeine gleichheit sondern der natürliche unterschied soll wieder zum menschenrechte werden, damit endlich dieser wahn von den augen fällt, der unsre kräfte lähmt und unser volk zu einem ängstlichen krämer, zu einem feigen knechte der humanität macht.“ Durch die Unterordnung unter einen charismatischen Führer sollte die von Wolters schmerzlich empfundene Aufspaltung der Menschen in verschiedene Interessengruppen mit unterschiedlichen Überzeugungen aufgehoben werden. Wolters’ Beziehung zu George entwickelte sich zunächst schwierig, wie aus dem Briefwechsel deutlich wird, in dem George seinen Jünger oft kurz angebunden abfertigt, wohl vor allem ein Indiz dafür, dass er Wolters zwar als nützlich betrachtete, aber keine tiefere persönliche Beziehung zu ihm aufbauen wollte oder konnte. Grund dafür scheint vor allem die Tatsache gewesen zu sein, dass Wolters die homoerotische Ader fehlte. Wohl deshalb bezeichnete George seinen Jünger in einem Gedicht als „erste[n] ganz Gewandelten vom geiste“: Wolters war durch den Verstand, nicht durch den Eros zu ihm gekommen. Auch Wolters bemerkte die Distanz: In einem Gedicht bezeichnete er sich als Georges „fernstes Du“ und in einem Brief an den „Meister“ stellte er fest: „Wenn ich am anfang ‚ein wenig zu spät gekommen‘ bin, so hindert mich das wohl Euerm herzen so nahe zu sein, als ich ersehne, aber nicht im kampfe so vorn zu stehen, als ich begehre und ich vermag“. Wolters schrieb sein Leben lang Gedichte, die oft seine Verehrung für George thematisierten. Besonders wichtig waren für ihn seine Gedichtbände Wandel und Glaube (1911) und Der Wandrer (1924). Stefan George schätzte Wolters’ Gedichte offenbar und veröffentlichte sie in seinen Blättern für die Kunst. Den Band Wandel und Glaube ließ er in seinem eigenen Verlag erscheinen. Ein Werk von Wolters, das 1918/1919 entstandene Gedicht Balduin, publizierte er sogar unter seinem eigenen Namen. Es thematisiert den Wahnsinn des infolge einer Kriegsverletzung erkrankten Freundes Balduin von Waldhausen, den Wolters zum Kreis und zu George geführt hatte. Seine Übersetzungen christlicher Lieder und Hymnen allerdings stießen innerhalb des Kreises auf wenig Interesse. Eine Lesung der Übertragungen kommentierte George nur ironisch mit den Worten: „Das war mal ein frommer Abend.“ Außerhalb des Kreises wurde Wolters als Dichter kaum wahrgenommen, eine eigene lyrische Sprache entwickelte er nicht. Der „Paulus“ des George-Kreises Im „Staat“ Georges hatte Wolters schon bald einen festen Platz eingenommen. Er verschrieb sich George bedingungslos. Für jede seiner Handlungen bat er um die Erlaubnis des „Meisters“; wenn dieser einen Widerwillen bekundete, ließ er Pläne oft fallen. Wolters legte eine selbst für ein Kreismitglied ungewöhnliche religiöse Verklärung Georges an den Tag. Sein „Meister“ war für ihn nicht einfach ein geliebter und verehrter Mensch, sondern der Heilsbringer in Person. Norbert von Hellingrath, ebenfalls ein Mitglied des George-Kreises, bezeichnete ihn schon bald – wohl wegen seines Sendungsbewusstseins nach außen – als „Paulus“. Rudolf Borchardt, dem Wolters bei ihrem Zusammentreffen so gut gefallen hatte, sah den Jünger durch George „in den wol scheusslichsten Fratzen einer fratzenhaften Greuelreligion“ verwandelt. Weil einige der älteren Freunde Georges seine Religiosität nicht in diesem Maße teilen wollten, sammelte Wolters – zunächst in Berlin, später in Marburg und Kiel – eigene Kreise zur Verehrung Georges um sich. Einige George-Freunde gingen jedoch zunehmend auf Distanz. Ernst Morwitz und Robert Boehringer fühlten sich durch das dogmatische Pathos in der George-Verehrung des Wolters-Kreises provoziert, Boehringer wurde einmal sogar fast handgreiflich. Friedrich Gundolf schickte in den 1920er Jahren einen George-Verehrer mit den Worten zu Wolters: „Da Sie nun einmal beschlossen haben, in dieser Luft zu atmen, ich selbst tauge nicht für eine ‚Kirche‘“. Nachdem Wolters im Juni 1913 seine Habilitationsschrift eingereicht hatte, machte er sich daran, eine Geschichte Stefan Georges und der Blätter für die Kunst zu schreiben. Der George-Forscher Thomas Karlauf kommentiert: „Für die Rolle des George-Hagiographen war Wolters wie geschaffen. Kein anderer dachte so streng hierarchisch, keiner verfolgte so rigoros wie er die Idee des Freundeskreises als Kampfgemeinschaft“. Am 5. März 1914 habilitierte sich Wolters bei Gustav von Schmoller und wurde nun Privatdozent an der Berliner Universität. Kaum hatte er seine Stelle angetreten, brach der Erste Weltkrieg aus, der für Wolters zu einem wichtigen Erlebnis wurde. Er wurde als Fahrer und Kurier in Frankreich, Serbien, Mazedonien und in den Karpaten eingesetzt, musste aber kein unmittelbares Fronterlebnis durchstehen. In Briefen in die Heimat verherrlichte er das Kriegsgeschehen und sprach beispielsweise von der „durchgeistigung der materialschlacht“. Seit dem Frühjahr 1917 musste er wegen eines schweren Rheumas in den Gelenken behandelt werden, kam aber ab Februar 1918 noch einmal nach Frankreich. In einem Buch beschrieb er später minutiös den Angriff der Mittelmächte auf Serbien an der Donau im Herbst 1915, an dem er selbst teilgenommen hatte. 1920 wurde Wolters schließlich auf eine außerordentliche Professur für mittlere und neuere Geschichte an der Philipps-Universität Marburg berufen. In Marburg sammelte er begabte junge Männer um sich, die er für den George-Kreis gewinnen wollte. Auf manche jungen Studenten machte er enormen Eindruck. Max Kommerell etwa notierte sich über seinen Lehrer, Wolters sei ein „wahrer König und Vater der Menschen“, ein „starke[r] Weise[r] und milde[r] Führer“. Über Wolters kam auch Johann Anton, der 1925 bei ihm promovierte und gemeinsam mit Kommerell in den 1920er Jahren zu den engsten Vertrauten des Meisters gehörte, 1922 zu George. Andere Wolters-Schüler lehnte George, der Wolters’ Vorschlägen für den Kreis insgesamt eher skeptisch gegenüberstand, allerdings für sich selbst oft ab. Zum weiteren George-Kreis kamen über Wolters auch Walter Anton, Walter Elze, Ewald Volhard und Rudolf Fahrner. Zu Wolters’ Schülern zählten zudem Hans-Georg Gadamer, Herman Schmalenbach, Wolfram von den Steinen, Fritz Cronheim, Roland Hampe, Adolf Reichwein und Georg Rohde. Öffentliche Agitation für Nation und Meister In den 1920er Jahren intensivierte sich Wolters’ Beziehung zu George, der jedes Jahr mehrere Wochen oder Monate in Marburg bei ihm wohnte. Zum Wintersemester 1923/1924 erhielt Wolters eine ordentliche Professur für mittlere und neue Geschichte an der Universität Kiel. Die Berufung hatte er Carl Heinrich Becker zu verdanken, dem Staatssekretär im preußischen Kultusministerium, der seine Stellung nutzte, um Mitglieder des George-Kreises zu fördern und bei Wolters’ Berufung im Hintergrund wirkte. Auch in Kiel besuchte ihn George seit 1925 jedes Jahr. Die Wertschätzung des Dichters für seinen Propagandisten wird in einem Widmungsgedicht greifbar, das er nach dem Krieg auf Wolters verfasste: Lass völker brechen unterm schicksalsdrucke Gefeite beben nicht beim jähsten rucke.. Vorm Herrn gilt gleich der in- und aussen-krieg Wo solche sind wie du – da ist der sieg. Mit der immer stärkeren Konzentration auf seine Arbeit für den Kreis – das Anwerben neuer Jünger, die Verkündung des Georgeschen Reiches – kehrte Wolters der historischen Wissenschaft, die er ohnehin eher ablehnte, zunehmend den Rücken: Nach seiner Habilitation finden sich nur noch vier Veröffentlichungen, die mehr oder weniger in sein eigentliches historisches Fachgebiet als Wirtschaftshistoriker fallen. Insgesamt orientieren sich seine – oft durchaus innovativen und gedankenreichen – historischen Studien methodisch an den Vorgaben von Schmollers Historischer Schule der Nationalökonomie, nehmen aber auch Tendenzen des George-Kreises auf. So spielen bei Wolters philosophische Ideen eine große Rolle für die Darstellung und Erklärung historischer Gegebenheiten. Auch seine Tendenz zu einer Geschichtsschreibung, die „große Männer“ bewundernd in den Vordergrund stellt, trifft sich mit Theorie und Praxis der georgianischen Wissenschaft. So trug er etwa zu einer Neubewertung des französischen Staatsmanns Colbert bei. Als Professor in Kiel agierte er außerdem als Leiter des Historischen Seminars und als Geschäftsführer der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft. Während des Krieges und vor allem mit der deutschen Niederlage hatten sich Wolters’ nationalistische Ansichten verstärkt. George, der eine eher ambivalente Haltung sowohl zum Krieg als auch zur Nation hatte und die Niederungen der Politik im Allgemeinen meiden wollte, sah die Überzeugungen seines Jüngers skeptisch. In den 1920er Jahren publizierte Wolters vor allem Schriften, in denen er seinen Nationalismus mit seiner Interpretation der Georgeschen Sendung verband. Bei verschiedenen Anlässen hielt er nationale Reden, z. B. über den Sinn des Opfertodes für das Vaterland. 1925–1927 gab er das für Schüler der höheren Schulen gedachte „Lesewerk“ Der Deutsche heraus, in dem er Texte aus der Kulturgeschichte mit dem Ziel zusammenstellte, den Schülern eine nationale, „ganzheitliche“ Bildung angedeihen zu lassen: In Anlehnung an das Bildungskonzept des George-Kreises sollte das Augenmerk nicht auf die „‚wissenschaftliche Einstellung auf Sachlichkeit‘“, wie Wolters sie nannte, sondern auf die Formung des ganzen Menschen gelegt werden. Auch im Umkreis der Konservativen Revolution, mit dem er zwar einige wichtige Überzeugungen teilte, aber nicht persönlich in Verbindung stand, waren einige seiner Werke nicht unbekannt. Den Friedensvertrag von Versailles lehnte er – wie die meisten Deutschen – vehement ab. 1923 gab er gemeinsam mit seinem Schüler Walter Elze die Anthologie Stimmen des Rheines heraus, die den nationalen Mythos vom deutschen Rhein wiederbeleben sollte. In einer Rede, die er aus diesem Anlass gehalten hatte und die in erweiterter Fassung als Einleitung des Bands erschien, richtete er sich scharf gegen die französische Rheinland- und Ruhrbesetzung. Er geißelte die „hemmungslos[e] Rachsucht“ der Franzosen, denen er vorwarf, sie hätten die deutsche „Liebe seit fünfhundert Jahren mit Mord und Brand gelohnt“, und ließ es auch am rassistischen Vorwurf der „Schwarzen Schmach“ nicht fehlen: „es [d. i. Frankreich] hat Blutschande begangen, sein Blut mit dem Safte schwarzer und brauner Fremdvölker gemischt, das Gift afrikanischer Gluträume in sich aufgenommen, fremdstämmige Sklaven gegen freie blutsverwandte Völker gehetzt und um diesen Preis den letzten Scheinsieg an seine befleckte Fahne geknüpft“. Seine politische Position lässt sich insgesamt zwischen der Deutschnationalen Volkspartei und dem rechten Flügel der Deutschen Volkspartei einordnen. 1924 nahm Wolters gar an einer völkischen Gedenkfeier für den in rechten Kreisen als Märtyrer verehrten Albert Leo Schlageter teil, wofür ihn einige Kreisangehörige kritisierten. Auch Julius Landmann, in seiner Kieler Zeit gut mit Wolters befreundet, lehnte bestimmte Wesenszüge wie seinen Nationalismus entschieden ab. Anfang November 1929 erschien schließlich Wolters’ Monumentalwerk Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 im Georg Bondi Verlag. Auf über 600 Seiten schilderte er die Lebensgeschichte Georges, der die Entstehung des Buches eng begleitet hatte, seines Werks und des Kreises. Das Buch stellte zunächst das Leben und Schaffen Georges anhand der einzelnen Ausgaben der Blätter für die Kunst dar und positionierte George noch einmal in und vor allem gegen seine Zeit. Dabei betont Wolters vor allem die religiöse und nationale Dimension, die er in Georges Werk und Person zu finden meinte. Unter die positiven Reaktionen vieler Freunde und Verehrer Georges mischten sich auch überaus kritische Stimmen: Franz Blei bezeichnete das Werk im Querschnitt als „eine zweipfündige Grabschrift auf ein Scheingelebtes“. Sogar unter manchen Bekannten und Freunden Georges löste die „Blättergeschichte“, wie sie dort meist genannt wurde, Befremden aus. Max Kommerell gibt das Buch als einen der wesentlichen Gründe für seinen Abfall von George an; Friedrich Gundolf, dessen Entfremdung von George schon abgeschlossen war, ärgerte sich über „das heillos schlechte, durch und durch verlogene Buch“. Auch die antisemitischen Untertöne führten bei jüdischen Kreismitgliedern wie Ernst Gundolf und Karl Wolfskehl, einem der ältesten Freunde Georges, zu Verstimmungen. Nach dem frühen Tod seiner ersten Ehefrau Erika im Jahr 1925 hatte Friedrich Wolters 1927 Gemma Thiersch geheiratet, die Tochter seines Freundes Paul Thiersch. Wolters, bereits seit dem Krieg an Herzproblemen leidend, wurde auf einer Reise im März 1930 in München mit der Diagnose einer „Coronartrombose“ ins Krankenhaus eingeliefert. Nachdem zunächst eine Besserung eingetreten war, starb er am 14. April 1930. Er wurde auf dem Waldfriedhof in München beigesetzt. Stefan George, für den Wolters in den letzten Jahren nicht nur als Propagandist besonders wichtig geworden war, plante sogar, ein Wolters-Gedenkbuch herauszugeben. 1931 gründeten seine Freunde Julius Landmann und Carl Petersen die Friedrich Wolters Stiftung, die, unterstützt durch Gelder der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft, Preise für geistesgeschichtliche Forschungen vergab. Nach 1933 näherte sich die Stiftung unter der Führung von Carl Petersen stark dem Nationalsozialismus an, woraufhin die Jüdin Edith Landmann die Auflösung forderte. 1937 musste die Stiftung schließlich tatsächlich aufgelöst werden, als die Universitätsgesellschaft ihre Gelder zurückzog. Schriften Eine ausführliche Bibliographie findet sich im Artikel Friedrich Wolters auf Wikisource. Historische Schriften Studien über Agrarzustände und Agrarprobleme in Frankreich 1700 bis 1790 (= Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Band 22, Heft 5). Duncker & Humblot, Leipzig 1905. mit Kurt Breysig, Berthold Vallentin, Friedrich Andreae: Grundrisse und Bausteine zur Staats- und zur Geschichtslehre. Zusammengetragen zu den Ehren Gustav Schmollers und zum Gedächtnis des 24. Juni 1908, seines siebenzigsten Geburtstages. Georg Bondi, Berlin 1908 (Digitalisat). Geschichte der brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640–1697. Darstellung und Akten (= Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1. Teil). Band 2: Die Zentralverwaltung des Heeres und der Steuern. Duncker & Humblot, München/Leipzig 1915 (Habilitationsschrift; Digitalisat). Literarisches mit Friedrich Andreae: Arkadische Launen. S. Calvary, Berlin 1908 (Verlaine-Übersetzungen und Eigenes; Digitalisat). Wandel und Glaube. Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1911 (Digitalisat). Der Wandrer. Zwölf Gespräche. Georg Bondi, Berlin 1924 (Digitalisat). Märchen und Geschichten unserer Seele. Druck der Werkstätten der Stadt Halle in der Burg Giebichenstein, Halle 1926 (Digitalisat). George-Kreis Herrschaft und Dienst (= Opus 1 der Einhorn-Presse). Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1909 (2. Auflage Georg Bondi, Berlin 1920; 3. Auflage 1923: Digitalisat). Melchior Lechter. Hanfstaengel, München 1911 (Digitalisat). Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Georg Bondi, Berlin 1930 (Digitalisat). Nationales mit Carl Petersen: Die Heldensagen der germanischen Frühzeit. 2. Auflage. Ferdinand Hirt, Breslau 1922 (Digitalisat). mit Walter Elze: Stimmen des Rheines. Ein Lesebuch für die Deutschen. Ferdinand Hirt, Breslau 1923. Der Donauübergang und der Einbruch in Serbien durch das IV. Reservekorps im Herbst 1915. Ferdinand Hirt, Breslau 1925. Der Deutsche. Ein Lesewerk. 5 Bände, Ferdinand Hirt, Breslau 1925–1927. Vier Reden über das Vaterland. Ferdinand Hirt, Breslau 1927 (Digitalisat). Übertragungen Minnelieder und Sprüche. Übertragungen aus deutschen Minnesängern des XII.–XIV. Jahrhundert. Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1909 (2. Auflage, Berlin 1922 als Band 3 der Hymnen und Lieder der christlichen Zeit; Digitalisat). Hymnen und Sequenzen aus den lateinischen Dichtern des IV. bis XV. Jahrhunderts. Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1914 (2. Auflage, Berlin 1922 als Band 2 der Hymnen und Lieder der christlichen Zeit; Digitalisat). Lobgesänge und Psalmen. Übertragungen der griechisch-katholischen Dichter des I. bis V. Jahrhunderts (= Hymnen und Lieder der christlichen Zeit, Band 1). Verlag der Blätter für die Kunst, Berlin 1923 (Digitalisat). Quellen Friedrich Wolters’ Nachlass befindet sich im Stefan George-Archiv, Stuttgart. Publizierte Dokumente: Michael Landmann: Friedrich Wolters. 1876–1930. In: Michael Landmann: Figuren um George. Band 2, Castrum Peregrini Presse, Amsterdam 1988, ISBN 90-6034-067-1, S. 23–36 (Bericht von Julius Landmanns Sohn, der vor allem Wolters’ Persönlichkeit beleuchtet). Friedrich Wolters: Frühe Aufzeichnungen nach Gesprächen mit Stefan George zur »Blättergeschichte«. Herausgegeben von Michael Philipp. In: Castrum Peregrini 225, 1996, S. 5–61 (Digitalisat). Briefwechsel Stefan George, Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904–1930 (= Castrum Peregrini 233–235). Herausgegeben von Michael Philipp. Castrum Peregrini Presse, Amsterdam 1998 (Digitalisat). Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters: Ein Briefwechsel aus dem Kreis um Stefan George. Herausgegeben von Christophe Fricker. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2009, ISBN 978-3-412-20299-6. Wolters wird außerdem in den zahlreichen Memoiren der Kreismitglieder geschildert. Dabei ist die jeweilige persönliche und intellektuelle Stellung des Autors zu Wolters und seinen Werken zu beachten. Der Schlüssel zur Bewertung von Wolters ist dabei immer Georges Stellung zu ihm, die unterschiedlich dargestellt wird. Der erste nach dem Krieg erschienene Erinnerungsband stammt von Edgar Salin, einem Freund Gundolfs, der Wolters eher negativ zeichnet und Georges Skepsis Wolters und seinen Werken gegenüber betont. Kurt Hildebrandt, Freund und Schüler von Wolters, nahm ihn 1965 gegen Angriffe in Schutz und trug Zeugnisse dafür zusammen, dass George Wolters hochschätzte und an den von Salin teilweise kritisierten Werken regen Anteil hatte. Robert Boehringer, der Wolters’ Schaffen persönlich eher distanziert gegenüberstand, bemühte sich gleichwohl um einen ausgeglichenen Bericht. Literatur Davide Di Maio: Form, Gestalt and 'dominion': echoes from the George-Kreis. Friedrich Wolters’ case. (Herrschaft und Dienst, Richtlinien, Gestalt). In: Luigi Russo (Hrsg.): Evolutions of Form. Logos, Berlin 2011, S. 145–162 (noch nicht eingesehen). Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 1997, ISBN 3-412-03397-9, insbesondere S. 213–289. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Blessing, München 2007, ISBN 978-3-89667-151-6. Michael Philipp: Einleitung. In: Stefan George, Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904–1930. Herausgegeben von Michael Philipp. Castrum Peregrini Presse, Amsterdam 1998, S. 1–61. Michael Philipp: Wandel und Glaube. Friedrich Wolters – Der Paulus des George-Kreises. In: Wolfgang Braungart, Ute Oelmann, Bernhard Böschenstein (Hrsg.): Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Niemeyer, Tübingen 2001, ISBN 3-484-10834-7, S. 283–299. Bastian Schlüter: Friedrich Wolters. In: Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer, Ute Oelmann (Hrsg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Band 3, de Gruyter, Berlin/New York 2012, S. 1774–1779. Wolfgang Christian Schneider: Staat und Kreis, Dienst und Glaube. Friedrich Wolters und Robert Boehringer in ihren Vorstellungen von Gesellschaft. In: Roman Köster, Werner Plumpe, Bertram Schefold, Korinna Schönhärl (Hrsg.): Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis. Akademie Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-05-004577-1, S. 97–122. Weblinks Anmerkungen Autor Übersetzer aus dem Altgriechischen Übersetzer aus dem Latein Übersetzer aus dem Mittelhochdeutschen Übersetzer ins Deutsche Neuzeithistoriker Lyrik Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) George-Kreis Hochschullehrer (Philipps-Universität Marburg) Hochschullehrer (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Deutscher Geboren 1876 Gestorben 1930 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dagobert%20Duck
Dagobert Duck
Dagobert Duck (häufig auch Onkel Dagobert, Kosename Bertel, im englischen Original Scrooge McDuck oder Uncle Scrooge bzw. $crooge McDuck, Uncle $crooge; Kosename Scroogey) ist eine ursprünglich US-amerikanische Comicfigur in Entengestalt. Carl Barks, der einflussreichste Disney-Zeichner von Geschichten rund um die Familie Duck, erfand die Figur 1947; sie gilt als seine wichtigste Schöpfung. Nachdem Dagobert dabei zunächst nur gelegentlich als Nebenfigur in den Geschichten um seinen Neffen Donald Duck aufgetreten war, schrieb Barks in den 1950er Jahren immer mehr Geschichten mit Dagobert in der Hauptrolle und widmete ihm schließlich eine eigene Heftreihe. Neben Barks hat der Comiczeichner Don Rosa entscheidend zur Fortentwicklung der Figur beigetragen, indem er sie immer wieder zum Protagonisten seiner umfangreichen Geschichten machte und ihr in den Jahren 1991 bis 1994 eine zwölfteilige Biografie mit dem Titel Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden widmete. Heute wird die Figur von zahlreichen Zeichnern des Disneykonzerns verwendet und ist als „reichste Ente der Welt“ berühmt für ihren extremen Geiz sowie ihr riesiges Vermögen, das sie in einem Geldspeicher lagert. In einer Barks-Geschichte stellt sie sich als „Großbankier, Großindustrieller, Großhändler“ mit dem folgenden Slogan vor: Entwicklung der Figur Entstehung Sein Erfinder Carl Barks ließ Dagobert Duck zum ersten Mal in der Weihnachten 1947 erschienenen Geschichte Christmas on Bear Mountain (dt.: Die Mutprobe) auftreten – möglicherweise in Anlehnung an eine namenlose schottische Figur aus dem Disney-Kurzfilm The Spirit of ’43, die Donald daran hindern will, sein Geld zu verprassen. Vorlage war neben Ebenezer Scrooge – Hauptfigur aus Charles Dickens A Christmas Carol (dt.: Eine Weihnachtsgeschichte) – auch Uncle Bims aus der Comicreihe The Gumps. Sein Name im englischen Original, Scrooge McDuck, setzt sich dementsprechend aus einer „schottischen“ Variante des Nachnamens Duck (in Anspielung an das Klischee vom geizigen Schotten) und einem Namensteil von Ebenezer Scrooge zusammen. Seinen deutschen Vornamen entlehnte die Übersetzerin Erika Fuchs den gleichnamigen Mitgliedern des fränkischen Königsgeschlechts der Merowinger. Dagobert bei Carl Barks In Christmas on Bear Mountain war Dagobert noch eine Nebenfigur, „auf die Barks nicht allzu viele Gedanken verschwendet hatte“. Sein erster Auftritt beginnt mit den Worten: Dagobert war eine Klischeefigur: „Ein grämlicher Menschenfeind“, „ein reicher, unfreundlicher älterer Verwandter“, der „zum Fest geläutert werden [sollte].“ Barks selbst bekannte später: Dennoch behielt Dagobert zunächst die Rolle des „skrupellosen, menschenverachtenden Großkapitalisten“, des „Fiesling[s] und Bösewicht[s], der vor illegaler Geldbeschaffung nicht zurückschreckt.“ Bereits seit seinem dritten Auftritt als reichste Ente der Welt bekannt, trat er bis 1950 lediglich in 15 Geschichten als Nebenfigur auf; erst danach begann Barks, die Figur häufiger einzusetzen. Nachdem Barks 1952 mit der Geschichte Only A Poor Old Man (dt.: Der arme reiche Mann), die Dagobert in kürzester Zeit zum Mythos werden ließ, erfolgreich getestet hatte, ob die Leser Dagobert auch als Hauptfigur annahmen, machte er ihn 1953 schließlich zum Protagonisten der nach ihm benannten Heftreihe Uncle Scrooge – und „erfand“ ihn dabei laut Don Rosa neu. Mit der starken Zunahme der Auftritte der Figur gingen zwei bedeutsame Weiterentwicklungen einher. Zum einen schien Dagobert im Laufe der Zeit immer jünger zu werden – und immer freundlicher. Er mutierte so „allmählich zum lustigen Onkel und schließlich zum schrulligen, fast bemitleidenswerten Alten“, der am Ende sogar bereit war, sein eigenes Geld für seine Neffen zu opfern (etwa in Oddball Odyssey (dt.: Die Irrfahrten des Dagobert Duck)). Zum anderen verlieh Barks Dagobert häppchenweise eine eigene Biografie, indem er (wie schon zuvor in The Old Castle’s Secret (dt.: Das Gespenst von Duckenburgh) und Voodoo Hoodoo (dt.: Wudu-Hudu-Zauber oder ein Zombie geht durch die Stadt)) immer wieder Rückblenden auf Dagoberts Vergangenheit in seine Geschichten einbaute. Zudem ließ Barks Dagobert nun regelmäßig seinen wohl berühmtesten Ausspruch wiederholen: Dagobert bei Don Rosa Auf Grundlage dieser Aussage, die er Dagobert ebenfalls regelmäßig wiederholen ließ, sowie der vielen Rückblenden in den Comics Carl Barks’ fertigte Don Rosa die zwölfteilige Biografie Dagoberts The Life and Times of Scrooge McDuck (dt.: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden) an, der er später noch insgesamt fünf Zusatzkapitel hinzufügte. Schon zuvor hatte Rosa, der mit Barks’ Geschichten um Dagobert aufgewachsen war und ihn für „die größte Figur der Weltliteratur“ hält, zahlreiche Comics mit Dagobert Duck als Hauptfigur gezeichnet. In Sein Leben, seine Milliarden – nach Rosas eigenem Verständnis keine „offizielle“ Biografie Dagoberts, sondern seine ganz persönliche Fassung von Dagoberts Lebensgeschichte – zeigt er den jugendlichen Dagobert als Abenteurer und Selfmademan, der großen Wert darauf legt, sein Geld auf ehrliche Weise zu verdienen. Nach einer Rezension auf Spiegel Online handelt es sich um „eine Liebeserklärung an die Figur Dagobert und eine Hommage an deren Schöpfer.“ Um auch die frühe Barks-Geschichte Voodoo Hoodoo zu berücksichtigen, der zufolge Dagobert einmal ein skrupelloser Räuberbaron gewesen sein soll, zeigt Rosa aber auch, wie Dagobert „im Rausch seiner wachsenden Gier und seines wachsenden Zynismus den schmalen Grat zwischen Gut und Böse überschreitet und für einen kurzen Moment seines Lebens zu einer Art Mac Moneysac wird.“ Gleichzeitig schließt er damit den Kreis zu Dagoberts erstem Auftritt bei Barks. Dessen ungeachtet zeichnet Rosa sowohl in Sein Leben, seine Milliarden als auch in seinen übrigen Geschichten ein äußerst positives Bild von Dagobert, das er damit erklärt, es nicht ertragen zu können, „Geschichten zu schreiben über einen Typen, der ewig gierig ist.“ Für ihn ist Dagobert „ein Abenteurer, und Geld ist seine Trophäe.“ Dagobert bei anderen Zeichnern Die ersten Zeichner nach Carl Barks, die Geschichten mit Dagobert Duck zeichneten, waren (in dieser Reihenfolge) Riley Thomson, Bob Moore, Paul Murry und Al Taliaferro. Stark geprägt haben die Figur ferner Daniel Branca (der Dagobert einst als seine Lieblingsfigur bezeichnete), José Colomer, William Van Horn und Vicar sowie zahlreiche italienische Künstler, darunter Giorgio Cavazzano, Massimo De Vita und Romano Scarpa (der Erfinder von Gitta Gans). Einer der ersten Zeichner, die stilistisch und inhaltlich (etwa mit den Geschichten The Return Of The Micro-Ducks From Outer Space und Klondike Pipeline, zwei Fortsetzungen berühmter Barks-Comics) direkt an das Werk Barks’ anknüpften, war dabei Vicar. Aber auch zahlreiche andere Zeichner haben in ihrem Werk Bezug auf die Arbeit Carl Barks’ und nicht zuletzt auf seine wichtigste Schöpfung, Dagobert Duck, genommen. Giorgio Cavazzano zeichnete gar eine Geschichte, in der Barks in einem ausführlichen Interview erklärt, wie er all seine Geschichten in persönlicher Zusammenarbeit mit Dagobert Duck entwickelt habe, der inzwischen sein enger Freund sei und selbst durch Lizenzeinnahmen an Barks’ Comics verdiene. Dagobert als Trickfilmfigur Seinen ersten Filmauftritt hatte Dagobert Duck in dem 15-minütigen Disney-Kurzfilm Scrooge McDuck and Money von 1967, in dem er Tick, Trick und Track musikalisch die Entstehungsgeschichte des Geldes vorträgt und den richtigen Umgang damit erklärt; gesprochen wurde Dagobert dabei von Bill Thompson. Es folgten ein Auftritt als Ebenezer Scrooge in Mickey’s Christmas Carol (dt.: Mickys Weihnachtserzählung), einer 1983 entstandenen 25-minütigen Zeichentrickversion von Charles Dickens’ A Christmas Carol, und im Fernseh-Kurzfilm Sport Goofy in Soccermania von 1987. Ab diesem Jahr war Dagobert auch erstmals regelmäßig im Fernsehen zu sehen – als Hauptfigur an der Seite von Tick, Trick und Track in der amerikanischen Zeichentrickserie DuckTales, gesprochen dabei von Alan Young (in der deutschen Übersetzung von Hermann Ebeling bzw. Joscha Fischer-Antze). Seine wesentlichen Eigenschaften, insbesondere seine Sparsamkeit und sein großer Reichtum, entsprechen der Comic-Vorlage, im Laufe der Serie entwickelt er jedoch eine größere Nähe zu seiner Familie. Weitere Unterschiede bestehen im Bereich der Schauplätze (wie der Villa, die Dagobert bewohnt) und der Nebenfiguren (die teilweise, wie Quack, der Bruchpilot, speziell für die Serie erfunden wurden). Dagobert ist ferner Hauptfigur in dem auf der Serie basierenden Kinofilm DuckTales: Der Film – Jäger der verlorenen Lampe und den Videospielen DuckTales, DuckTales 2 und DuckTales: The Quest for Gold. Daneben wird die Figur immer wieder in Trickfilmserien (wie Neue Micky Maus Geschichten, Raw Toonage – Kunterbuntes aus der Trickkiste und Mickys Clubhaus), Direct-to-Video-Produktionen (wie Mickys fröhliche Weihnachten) und Videospielen (wie Kingdom Hearts: Birth by Sleep) verwendet. 2017–2021 trat Dagobert Duck auch in der Neuauflage von DuckTales wieder auf. In dieser Version wurde er von David Tennant gesprochen (in der deutschen Übersetzung von Thomas Nero Wolff). Biografie Als Dagobert Anfang der 1950er Jahre immer häufiger die Hauptfigur seiner Geschichten wurde, begann Carl Barks damit, ihm durch umfangreiche Rückblenden eine Biografie auf den Leib zu schneidern, „die jeden Kreuzer des gewaltigen Vermögens durch harte Arbeit rechtfertigte.“ Don Rosa, den der dänische Verlag Egmont 1991 aufgefordert hatte, eine zwölfteilige Biografie Dagobert Ducks zu erstellen, sammelte die vielen Fakten, die Barks so im Laufe der Jahre in seine Geschichten eingefügt hatte, reicherte sie mit historischen Ereignissen und Figuren an und fügte sie zu einer möglichen Lebensgeschichte der Figur mit dem Titel The Life and Times of Scrooge McDuck (dt.: Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden) zusammen. Zwar sind schon unter Barks-Experten einige der von Rosa verwendeten Details umstritten, dennoch haben sich die zentralen Elemente der von Rosa zusammengetragenen und ergänzten Biografie in der allgemeinen Rezeption der Figur inzwischen durchgesetzt. Dagobert wurde ihr zufolge im Jahre 1867 als erstes Kind seiner Eltern Dietbert und Dankrade in eine verarmte schottische Adelsfamilie geboren, die ihren Stammsitz, die Duckenburgh, wegen Geldmangels in Richtung Glasgow verlassen hatte. 1948 erschien die Geschichte Das Gespenst von Duckenburgh, in der die Ansiedlung der Familie Duck in die Hochmoore Schottlands bekanntgegeben wurde. Dagobert wuchs dort zusammen mit seinen jüngeren Schwestern Mathilda und Dortel auf. Zu seinem zehnten Geburtstag schenkte sein Vater ihm einen Schuhputzkasten, mit dem er sein erstes Geld verdiente; die erste Münze, die er auf diese Weise erwarb und seitdem wie seinen Augapfel hütet, spielt in vielen späteren Geschichten als sogenannter „Glückszehner“ eine wichtige Rolle (siehe dort). Mit 13 Jahren folgte Dagobert seinem Onkel Diethelm in die Vereinigten Staaten, wo er zunächst als Kapitän auf dem Mississippi, Cowboy und Kupferschürfer arbeitete. Anschließend suchte er glücklos in Transvaal, im Wilden Westen und in Australien nach Gold, bis er schließlich während des Klondike-Goldrauschs in Alaska ein Goldnugget von der Größe eines Gänseeis fand und im Dezember 1899 seine erste Million verdiente. Nachdem er mit verschiedensten anderen Geschäften am Yukon Milliardär geworden war, zog er 1902 mit seinen Schwestern nach Entenhausen, wo er auf dem Hügel des ehemaligen Fort Entenhausen, den er dem Enkel des Stadtgründers Emil Erpel abgekauft hatte, seinen Geldspeicher errichtete. Dort lagerte Dagobert fortan sein Vermögen und wurde 1930 zum reichsten Mann der Welt, als der er in nahezu allen Comics außerhalb Rosas Biografie auftritt. Wie bereits erwähnt ist diese Biographie zwar die am weitesten verbreitete, sicher aber nicht die einzige Version zu Dagoberts Jugend. Ein weiteres Beispiel ist die Reihe Glanz und Gloria derer von Duck von Guido Martina und Romano Scarpa, laut der Dagobert lediglich schottische Vorfahren hatte, selber aber direkt am Klondike geboren ist und einen schnelleren Weg zum Reichtum hatte. Zum quasi 75. Geburtstag im Jahre 2022 berichteten auch die Medien über Dagoberts Leben. Charakteristika Äußeres Anlässlich seines ersten Auftritts (in Christmas on Bear Mountain) beschrieb Michael Barrier Dagobert als „eine ältere Ente, die wie Donald mit Backenbart und Brille aussieht.“ Schon in den ersten Jahren ließ Barks die Figur zwar zunehmend jünger erscheinen, der Backenbart blieb gleichwohl das wichtigste körperliche Merkmal Dagoberts. Bekannt sind daneben die Dollarzeichen (In selteneren Fällen auch Registrierkassen), die in Dagoberts Augen treten, wenn er an zukünftige Gewinne denkt, und die heute auch in vielen anderen Comics verwendet werden. Entsprechend seiner Sparsamkeit trägt Dagobert stets die gleiche Kleidung: einen roten, seltener blauen, Gehrock und einen schwarzen Zylinder, dazu Gamaschen und einen Gehstock; nach Barks hat er den Gehrock 1902 gebraucht in Schottland erworben und Zylinder und Stock 1910 für zwei Dollar in Russland gekauft. Auffällig ist zudem sein Zwicker, den er selbst beim Bergsteigen und Tiefseetauchen nicht absetzt und den er 1885 für einen Dollar in Schottland gekauft haben soll. Sparsamkeit und Geiz Ein wichtiger Topos in fast allen Geschichten ist Dagoberts Sparsamkeit. Sie wird regelmäßig als „konstituierender Faktor seines Reichtums stilisiert“ und manifestiert sich einerseits in seinem Verzicht auf unnötige Ausgaben. So geht Dagobert lieber zu Fuß durch den Dschungel als einen teuren Helikopter zu mieten, informiert sich aus auf den Müll geworfenen Zeitungen, kämpft mit einem Bären um ein Glas Honig im Wert von zwei Dollar und reist in der Zeit zurück, um einen abgelaufenen Gutschein einzulösen. Andreas Platthaus beschreibt folgendes Beispiel aus Micro-Ducks from Outer Space: „Durch ein zerbrochenes Fenster dringen papier- und somit banknotenfressende Insekten ein. Der Bankier stapelt deshalb seine Geldsäcke hoch aufeinander, um die Fensteröffnung bedecken zu können; doch dafür fehlen ihm noch hundert Säcke. Auf die Frage eines Großneffen, warum er nicht einfach für einen Taler eine neue Scheibe einsetzen lässt, sagt er: ‚Dann wäre ich um einen Taler ärmer. Das liegt mir nicht. Da verdiene ich lieber hundert Säcke Silber und bin um eine Million reicher.‘“ Andererseits zeigt sich sein Geiz im Umgang mit seinen Angestellten und Neffen. Obwohl letztere meist die einzigen sind, die Dagobert bei der Rettung und Mehrung seines Vermögens zur Seite stehen, sieht er in ihnen zumeist nur „jederzeit verfügbare und für beliebige Aufgaben einsetzbare Arbeitskräfte“ und bringt es stets nur mit Schwierigkeiten übers Herz, ihnen ihren (ohnehin mageren) Lohn auszuzahlen, wobei er häufig seinen immensen Reichtum herunterspielt: „What did you think I am – a billionaire?“ („Was hast du gedacht, was ich bin - ein Milliardär?“) Freunde und Feinde Neben seinem Neffen Donald und seinen Großneffen Tick, Trick und Track, die Dagobert in fast jeder Geschichte helfen und unterstützen, sind die wichtigsten Verbündeten Dagoberts der Erfinder Daniel Düsentrieb und dessen Helferlein. Barks hatte das „verrückte Genie“ 1952 in Gladstone’s Terrible Secret eingeführt und später unter anderem beschrieben, wie Dagobert schon in seiner Jugend gemeinsam mit Daniel Düsentriebs Großvater einen Dampfer auf dem Mississippi gesteuert hatte. Auch Düsentrieb bezahlt Dagobert indes nur selten für seine Dienste. Ferner lässt sich Dagobert gelegentlich von Primus von Quack und Phantomias helfen, ohne allerdings dessen Identität zu kennen. Regelmäßig unterstützen ihn zudem seine Sekretärin Fräulein Rührig, eine Erfindung Barks’, die insbesondere von Don Rosa häufig verwendet wird und sein Butler Baptist, eine Erfindung der italienischen Zeichner Rodolfo Cimino und Massimo De Vita. Von den übrigen Mitgliedern der Familie Duck tritt lediglich Dorette „Oma“ Duck regelmäßig auf, die in europäischen Comics, insbesondere solchen aus Italien und Dänemark, als Dagoberts Schwester und Donalds Großmutter dargestellt wird; in amerikanischen Comics, wie denen von Barks und Rosa, jedoch nicht mit ihm verwandt ist. In Barks’ Back to the Klondike (dt.: Wiedersehen mit Klondyke) erzählt Dagobert erstmals von Nelly, „dem Stern des Nordens“, in die er sich in seiner Zeit am Klondike heimlich verliebt hatte und die er einen Monat lang auf seinem Claim arbeiten ließ, um ihr das schwere Leben eines Goldgräbers vor Augen zu führen. Don Rosa baute diese Geschichte in seiner Biografie stark aus und verwendete die Figur in einigen weiteren Comics; auch in der Fernsehserie DuckTales tritt die Figur auf. Andere Zeichner, insbesondere ihr Erfinder Romano Scarpa, verwenden stattdessen die Figur der Gitta Gans, die in Dagobert verliebt ist, für die er jedoch zumeist keine Gefühle empfindet. Die größten Widersacher Dagoberts sind schon bei Barks die Panzerknacker, eine Einbrecherbande, die mit immer neuen Methoden erfolglos versucht, in Dagoberts Geldspeicher einzudringen und ihn auszurauben. Barks zeigte zunächst nur drei Mitglieder der Bande, erhöhte die Zahl aber schnell auf sieben, später auf eine offenbar unbestimmte höhere Zahl; Rosa ging dagegen von sieben Mitgliedern aus, obgleich er stets nur sechs verschiedene Häftlingsnummern verwendete. Ferner muss Dagobert häufig seinen „Glückszehner“ gegen die Hexe Gundel Gaukeley verteidigen, eine von Barks erfundene Figur, die daraus ein magisches Amulett schmelzen möchte. Während Gundel bei Barks und Rosa „eine gewöhnliche Person, die nach Macht oder Reichtum strebt und zu diesem Zweck mystische Kräfte mithilfe antiker Zaubersprüche und Zauberstäbe heraufbeschwört“ ist, wird sie von vielen europäischen Zeichnern als echte Hexe dargestellt, die über eigene magische Kräfte verfügt. Ebenso wie die Panzerknacker spricht auch Gundel Gaukeley Dagobert meist mit Bertel (engl.: Scroogey) an. Ebenfalls in krimineller Weise versuchen schließlich die Gebrüder Brantewien regelmäßig, an Dagoberts Geld zu gelangen. Daneben streitet Dagobert in vielen Geschichten mit seinen Konkurrenten um den Rang des reichsten Mannes der Welt, den ihm sowohl Mac Moneysac, als auch der vor allem in italienischen Comics auftretende Klaas Klever regelmäßig und oft mit unfairen Mitteln streitig machen. Obwohl Barks beide Figuren erfunden hatte, setzte er nur Mac Moneysac regelmäßig als „zweitreichsten Mann der Welt“ ein. Der deutlich verschwenderische Klever, schon dank seines Originalnamens John D. Rockerduck ursprünglich erkennbar eine Anspielung auf John D. Rockefeller, wurde indes von vielen italienischen Zeichnern aufgegriffen und tritt meist ebenfalls als „zweitreichster Mann der Welt“ auf. Seine Zusammentreffen mit Dagobert Duck eskalieren häufig zu handgreiflichem Streit, am Ende einer Geschichte verspeist der unterlegene Klever meist seinen Hut. In Rosas Biografie begegnet Dagobert sowohl Klever als auch Mac Moneysac bereits, bevor er sein Vermögen erwirtschaftet; auch anderen Zeichnern zufolge besteht die Rivalität bereits seit Dagoberts Jugend. Außerdem hat Dagobert noch eine Vielzahl anderer Feinde, von Banditen bis zu Konkurrenten, die jedoch nicht regelmäßig verwendet werden. Zwar spielt in den meisten Geschichten nur einer der Widersacher Dagoberts eine Rolle, gelegentlich kommt es jedoch zu gemeinsamen Auftritten seiner Rivalen oder gar zum Bündnis zwischen ihnen. Weitere Charakteristika Geldspeicher Dagobert bewahrt sein gesamtes Vermögen in seinem Geldspeicher auf, den Barks erstmals in The Big Bin on Killmotor Hill zeigte und der auf dem Killmotor Hill (dt.: Glatzenkogel), dem höchsten Punkt der Stadt, über Entenhausen thront. In den deutschen Comics prangen auf dem würfelförmigen Speicher in großen Buchstaben die Initialen Dagoberts (DD), im amerikanischen Original schmückt dagegen ein riesiges Dollar-Symbol ($) die Fassade. Bezüglich des Erbauungszeitpunkts finden sich bei Barks widersprüchliche Angaben: Während Dagobert den Geldspeicher bei dessen erster Erwähnung als „neu“ präsentiert, erzählt er in Migrating Millions, dass der Geldspeicher sich wie er selbst schon seit 70 Jahren auf dem Glatzenkogel befänden. Da Dagobert in späteren Geschichten stets davon auszugehen scheint, dass der Geldspeicher schon immer da war, interpretierte Rosa in seiner Biografie letztere Textstelle als Beleg dafür, dass Dagobert den Geldspeicher direkt nach seiner Ankunft in Entenhausen, ergo im Jahre 1902, errichtete. Während der Speicher bei Barks noch vorwiegend Kleingeld enthielt (was Dagoberts Geiz unterstreichen sollte), füllten ihn europäische Zeichner fast immer mit reinem Gold. Oft wurde jedoch nicht von den Zeichnern, sondern von den Coloristen bestimmt, ob die Münzen im Speicher golden oder nicht sind. Auch bei Barks wurde der Geldspeicher indes seit seiner Einführung regelmäßig als Wohnsitz Dagoberts gezeigt. Häufig befindet sich dort neben seinem Schreibtisch (an dem er meist mit dem Zählen von Geld beschäftigt ist) ein großer Hebel, mit dem er Vertreter und anderen ungebetenen Besuch – mitunter auch seine Neffen – auf die Straße befördert. Nur in den wenigen Geschichten, die vor der Einführung des Geldspeichers im Jahre 1951 entstanden, sowie in der Zeichentrickserie DuckTales wohnt Dagobert in einer Villa, allerdings existiert der Geldspeicher dort auch. Im Geldspeicher selbst geht Dagobert häufig seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Bad in seinen Talern, nach, einer (Dagoberts fetischistisches Verhältnis zum Geld widerspiegelnden) „heiligen Handlung“, die er regelmäßig mit folgenden Worten beschreibt: Vermögen Über Größe und Form von Dagoberts Vermögen finden sich schon bei Barks widersprüchliche Aussagen: Neben realen Werten wie 788.423.000.017,16 Talern oder gar 5·1077 Talern und 16 Kreuzern finden sich zahlreiche Fantasiewerte wie nine Fantasticatillion, four Billion Jillion Centrifugalillion Dollars and sixteen cents oder Five Hundred Tripicatillion Multipludillion Quadruplicatillion Centrifugalillion Dollars and sixteen cents; einzige Konstante sind die 16 Kreuzer. Meist wird der Inhalt des Geldspeichers allerdings mit „Drei Kubikhektar Geld“ (three cubic acres of money) angegeben, was nach Henner Löffler etwa 772–800 Milliarden Taler ergäbe. Auch bei anderen Zeichnern finden sich diesbezüglich höchst unterschiedliche Angaben. In der Fernsehserie DuckTales ist von 607 tillion 386 zillion 947 trillion 522 billion dollars and 36 cents die Rede. Widersprüchlich sind ferner die Aussagen zur Form von Dagoberts Vermögen: Häufig wird Dagoberts Bargeld (das vor allem aus Münzen zu bestehen scheint) als sein einziger Reichtum dargestellt, oft wird aber auch ein gigantisches Wirtschaftsimperium mit etlichen Geschäftszweigen gezeigt oder von Dagobert beschrieben. Glückszehner Dagoberts erste selbstverdiente Münze, ein Zehn-Kreuzer-Stück, das meist „Glückszehner“, „Glückstaler“, „Nummer eins“ oder „Kreuzer Nummer Eins“ genannt wird, spielt in vielen Comics eine wichtige Rolle. Einerseits, weil die Hexe Gundel Gaukeley immer wieder versucht, ihn zu stehlen, um ihn in einem magischen Amulett zu verschmelzen, andererseits, weil er für Dagobert, der ihn meist unter einer gesicherten Glasglocke aufbewahrt, von besonderer Bedeutung ist. In manchen Geschichten hat er sogar magische Eigenschaften und ist der Grund für Dagoberts Reichtum. Don Rosa hingegen hält die Münze für den Beweis, dass Dagobert jeden Kreuzer seines Vermögens selbst mit harter Arbeit verdient habe, und lässt diesen entsprechend aufgebracht auf die Bezeichnung als Glückszehner reagieren: „Glückszehner? Welcher unsägliche Ignorant hat diesen hanebüchenen Blödsinn ausgebrütet?“ Den Umstand, dass es sich um eine amerikanische Münze handelt, erklärt er in seiner Biografie damit, dass Dagoberts Vater damals einen Freund gebeten hatte, Dagobert mit der für ihn wertlosen Münze zu bezahlen und ihm so eine Lektion über harte Arbeit und Vertrauen zu erteilen. Die Münze inspirierte Dagobert zudem dazu, schon als Kind nach Amerika auszuwandern. Rezeption Politische Einordnung Einordnung als skrupelloser Kapitalist In den ersten Jahrzehnten nach seiner Einführung wurde in Dagobert Duck meist der „Inbegriff des Kapitalisten“ gesehen. Die Schülermitverwaltungs-Zeitung Wir machen mit hielt Dagobert 1969 gar für den „Prototyp des Monopolkapitalisten“, der von der Produktivität der Werktätigen lebe und „den Rahm“ abschöpfe; „im Konkurrenzkampf übertrifft er andere Spekulanten und Monopolkapitalisten (nach Marx: ‚Konzentration des Kapitals‘).“ Besonders prägend für dieses Verständnis – insbesondere der von Barks geschaffenen Geschichten – war der erste umfassende Versuch einer Interpretation der Figur durch die marxistischen Soziologen Ariel Dorfman und Armand Mattelart. In ihrem 1972 zunächst in Chile erschienenen Werk Para leer al Pato Donald, das 1975 ins Englische (How to read Donald Duck: imperialist ideology in the Disney comic) und 1977 ins Deutsche (Walt Disneys ‚Dritte Welt‘. Massenkommunikation und Kolonialismus bei Micky Maus und Donald Duck) übersetzt wurde und seitdem als eines der wichtigsten Werke der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Comics gilt, diskutieren sie besorgt die Gefahren einer Lektüre von Disney-Comics durch Kinder. Auf der Grundlage von 100 untersuchten Geschichten stellten die Soziologen die „den Comics inhärente Ideologie […] einer bourgeoisen Fantasiewelt, in der alle Spuren von Produktion […] entfernt worden seien“ heraus: So werde durch das Fehlen von Eltern (an deren Stelle Onkel und Tanten treten), eine „verfälschte, sexfreie Welt gezeigt“, nie sehe der Leser Industriearbeiter oder Produktionsstätten (die Tatsache, dass Donald in vielen Geschichten schlecht bezahlten Beschäftigungen nachgeht, ändere daran nichts, da er nie arbeiten müsse, um zu überleben) und die Schätze, die Familie Duck regelmäßig finde, seien kein Produkt lebender Personen, sondern stets die Überbleibsel längst vergessener Zivilisationen. Der Anspruch der Ducks auf diese Schätze gründe sich zudem allein auf ihre Suche nach ihnen und werde lediglich durch Diebe, nie aber durch die häufig als Edle Wilde dargestellten Eingeborenen in Frage gestellt; die wahren Herausforderer der Legitimität Dagoberts monopolisierten Reichtums, die arbeitende Klasse, werde dem Leser verschwiegen. Durch seinen immer wieder geäußerten Wunsch einer Rückkehr zur Natur drücke Dagobert allerdings seine Geringschätzung und Angst gegenüber dem in der Stadt lebenden Industriearbeiter aus. Verfeinert wurde das Bild von Dagobert als skrupellosen Kapitalisten Anfang der 90er Jahre durch den amerikanischen Kunsthistoriker David Kunzle, der das Werk Dorfmans und Mattelarts ins Englische übersetzt hatte und mit seinem 1990 auf deutsch erschienenen Buch Carl Barks Dagobert und Donald Duck – Welteroberung aus Entenperspektive den Versuch unternahm, das von diesen Autoren entwickelte „Modell zur Demaskierung der Ideologie, die in den scheinbar so unschuldigen Produkten der Kinder-Comics versteckt ist“ auf die Duck-Comics anzuwenden. Nach eigenem Verständnis stellt er Dagobert darin „als eine verachtungswürdige, wenn auch komische Gestalt, welche die unersättliche Gier amerikanischer Konzerne anklagt und sich selbst lächerlich macht“, dar; „in seinem zwanghaften Streben nach Aneignung von Rohstoffen, Arbeitskraft, Geschichte und Kunstschätzen könnte er ein Vorbild für amerikanische Wirtschaftsmagnaten, Pentagon-Beamte und Museumsdirektoren sein“. Auch Kunzle warnt davor, dass „die Politik der wirtschaftlichen Eroberung anderer Länder […], indem sie in spannende, witziger Abenteuer umgesetzt wird, attraktiv und leichter verdaulich gemacht [wird].“ In seinem ebenfalls 1990 erschienenen Aufsatz Dispossession by Ducks: The Imperialist Treasure Hunt in Southeast Asia geht er spezifisch auf einige Geschichten ein, in denen die den Comics zugrunde liegende imperialistische Ideologie besonders klar erkennbar sei, und stellt fest: Auch heute ist das Bild von Dagobert Duck als Kapitalist nach amerikanischem Vorbild weit verbreitet; so beschreibt die Westdeutsche Allgemeine Zeitung Dagobert als „Heuschrecke in Entengestalt“, der Tagesspiegel fragt: „Hat uns irgendjemand, die Marx-Engels-Gesamtausgabe eingeschlossen, derart das Auge für das Wolfsgesetz des Kapitalismus geschärft?“ Gegenansichten Anderen Autoren zufolge wird Dagobert schon bei Barks nicht allein als skrupelloser Kapitalist gezeigt; auch für ihn gebe es „tiefergehende Bindungen als die zwischen Käufer und Verkäufer.“ Dagobert sei trotz seines Reichtums ein liebenswerter Charakter, weil er sein Vermögen durch Intelligenz und eigene harte Arbeit erlangt habe; die Figur verkörpere damit zwar konservative Werte und eine protestantische Ethik, die Komplexität der Geschichten transportiere jedoch stets einen zweischneidigen Blick auf materiellen Reichtum. In einer Analyse von 60 Comics findet sich nach Russel W. Belk denn auch nur in sieben Prozent eine uneingeschränkt positive Darstellung solchen Reichtums. Der These vom Monopolkapitalisten wird in der neueren Literatur zudem entgegengehalten, dass Dagobert sein Geld – für einen Kapitalisten großen Stils unvorstellbar – in erster Linie sammelt und nur ausnahmsweise in waghalsige Expeditionen investiert; auch Entlassungen spielten bei ihm nie eine Rolle. Nichts vom Unternehmer, der keine Rücksicht nehmen müsse, weil er ruhig aus purem Eigennutz handeln dürfe und gerade deshalb den Wohlstand der ganzen Gesellschaft fördere (wie es Adam Smith formuliert habe), der nur durch immer neue schöpferische Zerstörung dafür sorge, dass die Wirtschaft weitergebracht werde (wie es Joseph Schumpeter gesehen habe), sei bei jenem Dagobert Duck zu finden, den Barks seinen Nachfolgern hinterlassen habe. Auch seine emotionale Struktur, geprägt von Leidenschaft und theatralischen Wutausbrüchen, passe nicht zum Bild vom ausbeuterischen Kapitalisten; „verglichen mit diesen Vertretern des Kalte-Fische-Kapitalismus ist der temperamentvolle Onkel Dagobert ein wandelnder kleiner Heizofen, der nach allen Seiten weihnachtliche Wärme ausstrahlt.“ Matthias Heine bezeichnet Dagobert denn auch als „Anti-Heuschrecke“. An der Analyse Dorfmanns und Mattelarts wird dabei außerdem kritisiert, dass sie die Beziehungen zwischen den Charakteren der Comics auf reine Klassenunterschiede reduziere und auf ihre psychologische Betrachtung verzichte; ferner, dass sie die Produktionsweise der Comics (und damit etwa das Verhältnis von Carl Barks als Zeichner und Walt Disney Productions als Herausgeber der Geschichten) unberücksichtigt lasse. Ernst Horst bezeichnet den Text insgesamt als „vulgärmarxistische Verschwörungstheorie“. Zwar bezeichnet sich Dagobert in einer von Barks’ letzten Geschichten selbst indirekt als Kapitalisten, dennoch hielt Barks seine Comics stets für unpolitisch-ironisch. Dagobert sei in erster Linie das Symbol für einen unerreichbaren Traum der Menschheit: unerschöpflichen Reichtum. Die unterschiedliche Wahrnehmung und Einordnung der Figur schon in ihrer von Barks entwickelten Gestalt kann dabei zum Teil auch auf die sprachlichen Unterschiede zwischen dem englischsprachigen Original und den verschiedenen Übersetzungen zurückgeführt werden. So meint David Kunzle: „Jedes Land entwickelt seine eigenen Disney-Bildgeschichten.“ Die deutschen Übersetzungen von Erika Fuchs etwa seien von einer erkennbaren Entamerikanisierung und Entaktualisierung geprägt, gerade die „wörtliche Aufnahme schmerzlicher Realitäten, die ein Gütesiegel Barks’ sind [sic]“, werde getilgt. Besonders auffällig sei die Veränderung einzelner Namen: „[Der allmächtige Dollar] wird in der deutschen Fassung zu einer archaischen, deshalb recht harmlosen und unwirklichen Währung: dem Taler. 'Uncle Scrooge' selbst, nach Dickens' berühmtem Geizhals benannt, verliert jede moralische Bewertung und Aktualität, wenn er Onkel Dagobert genannt wird. Dieser Name weckt Assoziationen an Überholtes und längst Vergangenes.“ Gleichwohl beklagte der Bayernkurier, die Parteizeitung der Christlich-Sozialen Union, 1969 mit Blick auf die Fuchs-Übersetzung der Geschichte The Yacht Plot sogar, dass die Figuren in der Micky Maus das „Soziologen-Chinesisch der neuen Linken“ sprächen und den jugendlichen Lesern so eine linke „Phraseologie eingeimpft“ werde; „eine Nomenklatur die sich – wenn sie nicht sinnvoll später interpretiert wird – rasch mit Schlag-Inhalten füttern lässt.“ Eine weitere Relativierung erfährt die politische Einordnung der Figur durch die vielen Zeichner, die Barks’ Figur inzwischen übernommen und weiterentwickelt haben. Sie lassen die von Barks’ Dagobert verkörperten amerikanisch-konservativen Werte insgesamt in den Hintergrund rücken. Don Rosa etwa zeige in der Geschichte The Treasure of the Ten Avatars „einen vorbildlichen Unternehmer […], dem vor allem daran gelegen ist, andere Menschen in Lohn und Brot zu setzen.“ Seine Dagobert-Biografie Sein Leben, seine Milliarden sei eine „dringend notwendige Imagekampagne für den Milliardär und Bankier an sich“. Ohnehin sei die Diskussion darüber, ob durch Dagobert der Kapitalismus nicht allzu sympathisch erscheine, mittlerweile verstummt: „Comics werden, anders als in den siebziger Jahren, nicht mehr ideologiekritisch abgeklopft.“ Rezeption im Übrigen Dagobert gilt heute als bedeutendste Figur seines Erfinders Carl Barks, der ihm seine gesamte zweite Lebenshälfte gewidmet hat. Andreas Platthaus bezeichnet ihn zudem als „beliebtesten Plutokraten der Welt“; „eine Figur wie ihn hat die Weltliteratur in den zweieinhalbtausend Jahren seit Homer nicht hervorgebracht.“ Entsprechend ernst wird ihre wissenschaftliche Aufarbeitung inzwischen genommen. Berühmt ist die Figur für ihre Sparsamkeit und ihr gigantisches Vermögen. Die Zeitung Welt am Sonntag leitete 2011 eine Ausgabe der Rubrik Kinderleicht zum Thema Sparen mit einem riesigen Bild der Comicfigur und der Frage ein: „Wie wurde Dagobert nur so reich?“ Im Text wird er als „größter Sparer der Welt“ bezeichnet. Dagobert führte 2007 die Forbes-Liste der 15 reichsten fiktiven Personen an, in den Jahren 2008 und 2010 belegte er Platz Zwei (hinter Uncle Sam bzw. Carlisle Cullen). Im Jahr 2011 rückte er wegen des stark gestiegenen Goldpreises wieder auf den ersten Platz vor, den er 2012 wegen einer angeblichen Wette mit Mac Moneysac wieder verlor, 2013 aber zurückeroberte. Häufig aufgegriffen und zitiert wird daneben die Eigenart Dagoberts, in seinem gesammelten Geld zu baden. In den Jahren 1992 bis 1994 erlangte der Kaufhauserpresser Arno Funke in Deutschland unter dem Pseudonym Dagobert Berühmtheit, das er offenbar in Anspielung an den Reichtum der Comic-Figur verwendet hatte; Donaldisten zufolge waren sogar die Tricks, mit denen er die Polizei mehrfach in die Irre führte, von Carl Barks’ Comics inspiriert. 2007 nahm Dagoberts fiktive Geburtsstadt Glasgow ihn in die offizielle Liste ihrer berühmtesten Töchter und Söhne auf. 2014 vertonte der finnische Musiker Tuomas Holopainen die Dagobert-Biographie The Life and Times of Scrooge McDuck und belegte mit dem Album The Life and Times of Scrooge neun Wochen lang Platz 1 der finnischen Charts. Sammelbände Comics von Carl Barks Barks Onkel Dagobert 1, Ehapa Comic Collection, Köln 2009, ISBN 978-3-7704-3272-1 Barks Onkel Dagobert 2, Ehapa Comic Collection, Köln 2009, ISBN 978-3-7704-3273-8 Barks Onkel Dagobert 3, Ehapa Comic Collection, Köln 2009, ISBN 978-3-7704-3319-3 Barks Onkel Dagobert 4, Ehapa Comic Collection, Köln 2010, ISBN 978-3-7704-3320-9 Barks Onkel Dagobert 5, Ehapa Comic Collection, Köln 2010, ISBN 978-3-7704-3356-8 Barks Onkel Dagobert 6, Ehapa Comic Collection, Köln 2010, ISBN 978-3-7704-3357-5 Barks Onkel Dagobert 7, Ehapa Comic Collection, Köln 2010, ISBN 978-3-7704-3397-1 Barks Onkel Dagobert 8, Ehapa Comic Collection, Köln 2011, ISBN 978-3-7704-3398-8 Barks Onkel Dagobert 9, Ehapa Comic Collection, Köln 2011, ISBN 978-3-7704-3476-3 Barks Onkel Dagobert 10, Ehapa Comic Collection, Köln 2011, ISBN 978-3-7704-3477-0 Barks Onkel Dagobert 11, Ehapa Comic Collection, Köln 2011, ISBN 978-3-7704-3520-3 Onkel Dagobert – Aus dem Leben eines Fantastilliardärs, Ehapa Comic Collection, Köln 2010, ISBN 978-3-7704-3384-1 Sämtliche Barks-Comics mit Dagobert Duck sind zudem zwischen 1992 und 2003 in der 51-bändigen Reihe Barks Library – Walt Disney Comics und der 38-bändigen Reihe Barks Library Special: Onkel Dagobert bei Egmont/Ehapa erschienen. Comics von Don Rosa Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden, Ehapa Comic Collection, Köln 2003, ISBN 3-7704-0389-4 Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden / Die Biografie von Don Rosa, Ehapa Comic Collection, Köln 2008, ISBN 978-3-7704-3245-5 Das Gesamtwerk Don Rosas, das fast ausschließlich aus Geschichten mit Dagobert Duck besteht, findet sich in den Bänden 1, 6, 9, 14, 16 und 18, 19 und 20 der seit 2004 von Egmont/Ehapa veröffentlichten Reihe Disney’s Hall of Fame. Comics verschiedener Zeichner Happy Birthday, Onkel Dagobert!: 70 Goldene Jahre, Köln 2017, ISBN 978-3-7704-3970-6 Onkel Dagobert – Der Dax der Ducks: Gold Edition, Köln 2015, ISBN 978-3-7704-3790-0 60 Jahre Onkel Dagobert, Ehapa Comic Collection, Köln 2007, ISBN 978-3-7704-3134-2 Die Ducks – Eine Familienchronik, Ehapa Comic Collection, Köln 2010, ISBN 978-3-7704-3379-7 Heimliche Helden 05: Dagobert Ducks Geldspeicher, Ehapa Comic Collection, Köln 2007, ISBN 978-3-7704-3061-1 Ich, Onkel Dagobert, Melzer Verlag, Darmstadt 1974, ISBN 3-7874-0100-8 Ich, Onkel Dagobert – Band 2, Melzer Verlag, Darmstadt 1974, ISBN 3-7874-0101-6 Ich, Onkel Dagobert. Egmont, Köln 2015, ISBN 978-3-7704-3793-1. (Vorwort und Zusammenstellung der zehn Geschichten aus dem Zeitraum 1970 bis 2013 von Jano Rohleder) Lustiges Taschenbuch – Enten-Edition, Band 2: Aus dem Leben eines Milliardärs, Ehapa Comic Collection, Köln 2001 Lustiges Taschenbuch – Enten-Edition, Band 7: Rivalen fürs Leben, Ehapa Comic Collection, Köln 2003 Lustiges Taschenbuch – Enten-Edition, Band 14: Der Glückstaler, Ehapa Comic Collection, Köln 2005 Lustiges Taschenbuch – Enten-Edition, Band 20: 60 Jahre Onkel Dagobert, Ehapa Comic Collection, Köln 2007 Lustiges Taschenbuch – Enten-Edition, Band 30: der Boss von Entenhausen, Ehapa Comic Collection, Köln 2011 Lustiges Taschenbuch Sonderedition: 65 Jahre Dagobert Duck – Aus dem Leben eines Milliardärs, Ehapa Comic Collection, Köln 2012, ISBN 978-3-8413-4026-9 Onkel Dagobert – Milliardenraub in Entenhausen, Ehapa Comic Collection, Köln 2011, ISBN 978-3-7704-3528-9 Onkel Dagobert. Der Dax der Ducks. Gold Edition. Egmont, Köln 2015, ISBN 978-3-7704-3790-0. (Mit elf Geschichten von 1966 bis 1995 und einem Vorwort von Dirk Müller) Die beiden Bände Ich, Onkel Dagobert sind mit einer neuen Übersetzung erschienen, deren Entfernung zum englischen Original teilweise stark kritisiert wird. Literatur Monografien Lidia Cannatella et al.: Carl Barks – Der Vater der Ducks. Egmont Ehapa, Berlin 2002, ISBN 3-7704-2792-0. Grobian Gans: Die Ducks. Psychogramm einer Sippe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1972, ISBN 3-499-11481-X. (Taschenbuchausgabe). Johnny A. Grote: Der Stammbaum der Ducks. Ehapa Comic Collection, Stuttgart 1999, ISBN 3-7704-0300-2. Johnny A. Grote: Carl Barks. Werkverzeichnis der Comics. Ehapa Comic Collection, Stuttgart 1995, ISBN 3-7704-1898-0. David Kunzle: Carl Barks. Dagobert und Donald Duck – Welteroberung aus Entenperspektive. Fischer, Frankfurt a. M. 1990, ISBN 3-596-23949-4. Henner Löffler: Wie Enten hausen – Die Ducks von A bis Z. C.H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51608-4. 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